Schlüsseljahre: Zentrale Konstellationen der mittel- und osteuropäischen Geschichte. Festschrift für Helmut Altrichter zum 65. Geb. 3515098135, 9783515098137

Helmut Altrichter, Ordinarius für Osteuropäische Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg, zählt zu den eminenten

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German Pages 520 [526] Year 2011

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
HELMUT ALTRICHTER ZUM 65. GEBURTSTAG
866 – BULGARIEN ZWISCHEN OST- UND WESTKIRCHE
DIE GOLDENE BULLE VON 1356 IN DER FRÜHEN NEUZEIT
1478 – DAS ENDE EINER HISTORISCHEN ALTERNATIVE FÜR RUSSLAND
1555 – MITTELEUROPA FINDET SEINEN RELIGIONSFRIEDEN
ENDE UND AUFBRUCH: FRANKEN 1802
1806 UND DAS ENDE DES ALTEN REICHES –EIN SCHICKSALS- UND WENDEJAHR IN REGIONALER PERSPEKTIVE?
RUSSLAND 1812 UND 1825. PATRIOTISMUS – RELIGION – REVOLUTION
AUFBRUCH IN DEN VERFASSUNGSSTAAT?DAS JAHR 1859 ALS SCHLÜSSELJAHR DER HABSBURGERMONARCHIE
1863: „WAS TUN? AUS ERZÄHLUNGEN VON NEUEN MENSCHEN“ VON NIKOLAJ GAVRILOVI􀃽 􀃽ERNYŠEVSKIJ
„AUFSTAND DER VIERZEHN“. 1863 ALS SCHLÜSSELJAHR FÜR DIE BILDENDE KUNST IN RUSSLAND
„DIE EINLADUNG DER GESELLSCHAFT“UND IHRE AUSLADUNG. 1881 ALS SCHICKSALSJAHR IN RUSSLANDS POLITISCHER GESCHICHTE
DAS JAHR 1905 UND DAS ZARENREICH: IMPERIAL UND GLOBAL
REVOLUTION, REPRESSION UND REFORM: 1905 IM KÖNIGREICH POLEN
DISTANZ UND SELBSTBEHAUPTUNG: DIE PATRIOTISCHEN JUBILÄEN DES STUDIENJAHRES 1912/13 ALS BRENNSPIEGEL DER GESELLSCHAFTSGESCHICHTE RUSSISCHER UNIVERSITÄTEN
ZEHN PHÄNOMENE, DIE RUSSLAND 1917 ERSCHÜTTERTEN
1918 – DIE NEUERFINDUNG DER DIPLOMATIE UND DIE FRIEDENSVERHANDLUNGEN IN BREST-LITOVSK
DER WAHLSIEG DER SUDETENDEUTSCHEN PARTEI 1935 UND DIE MACHT DER DISKURSE
DAS BEIL ÜBERLEBT SEINEN HERRN. DAS JAHR 1937 UND DIE ERINNERUNG AN DIE STALINISTISCHE DIKTATUR
DIE SOWJETUNION ANNO 1940: ERSTE SYMPTOME DER ERNÜCHTERUNG ODER „WECHSEL DER WEGZEICHEN“ IN THEORIE, IDEOLOGIE UND PROPAGANDA
DIE UDSSR, DEUTSCHLAND UND DER WESTEN IM SCHICKSALSJAHR 1941
KRIEGSWENDE UND FRIEDENSVISIONEN 1943: ANTIFASCHISMUS UND FÖDERALE IDEEN FÜR EUROPA UND JUGOSLAWIEN
A FROZEN „TURNING POINT“ 1945/46? DIE UDSSR, DER NÜRNBERGER HAUPTKRIEGSVERBRECHERPROZESS UND DER HOLOCAUST
DIE ABSCHOTTUNG DER STÄDTE IM JAHRE 1956: SOWJETISCHE GESCHICHTE ALS URBANISIERUNGSGESCHICHTE
JANUAR 1986: SPANIENS BEITRITT ZU DEN EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN
SICHERHEIT IN DER SOWJETUNION 1988/89. PERESTROJKA ALS MISSGLÜCKTER TANZ AUF DEM ZIVILISATORISCHEN VULKAN
EPOCHENWECHSEL 1989/91
DIGITALES ARCHIVGUT ALS RESSOURCE FÜR FORSCHUNG UND LEHRE
KURZBIOGRAPHIENDER AUTORINNEN UND AUTOREN
VERZEICHNIS AUSGEWÄHLTER SCHRIFTEN DES JUBILARS
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Schlüsseljahre: Zentrale Konstellationen der mittel- und osteuropäischen Geschichte. Festschrift für Helmut Altrichter zum 65. Geb.
 3515098135, 9783515098137

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Schlüsseljahre Herausgegeben von Matthias Stadelmann und Lilia Antipow

quellen und studien zur geschichte des östlichen europa Begründet von Manfred Hellmann, weitergeführt von Erwin Oberländer, Helmut Altrichter, Dittmar Dahlmann und Ludwig Steindorff, in Verbindung mit dem Vorstand des Verbandes der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e.V. herausgegeben von Jan Kusber

Band 77

Schlüsseljahre Zentrale Konstellationen der mittelund osteuropäischen Geschichte Festschrift für Helmut Altrichter zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von Matthias Stadelmann und Lilia Antipow

Unter Mitarbeit von Matthias Dornhuber

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf, der Freunde und Förderer der Geschichtswissenschaft an der Universität Erlangen e.V. und der Fritz und Maria Hofmann-Stiftung, Erlangen. Umschlagabbildung: Two gods together istockphoto © Andrey Stepanov

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © 2011 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-09813-7

FESTSCHRIFT FÜR HELMUT ALTRICHTER ZUM 65. GEBURTSTAG

TABULA GRATULATORIA

Klaus Bade, Berlin Philipp Balsiger, Erlangen Anna Baum, Uttenreuth Winfried Baumgart, Mainz Ingrid Baumgärtner, Kassel Ludwig Biewer, Berlin Marianne Birthler, Berlin Katrin Boeckh, Regensburg Nada Boškovska, Zürich Karsten Brüggemann, Tallin Stefanie Buchhold, Braunschweig Dittmar Dahlmann, Bonn Gunter Dehnert, Eichstätt Boris Dreyer, Erlangen Karl-Heinz Duchhardt, Mainz Winfried Eberhard, Leipzig Rainer Eckert, Leipzig Birgit Emich, Erlangen Elisabeth Erdmann, Bubenreuth Elisabeth von Erdmann, Bamberg Bernd Faulenbach, Bochum Florian Filler, Erlangen Patricia Flor, Berlin Maximilian Forschner, Erlangen Freunde und Förderer der Geschichtswissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg e.V. Lothar Gall, Wiesbaden Jörg Ganzenmüller, Jena Erika Greber, Erlangen

Rolf Griebel, München Karl-Dieter Grüske, Erlangen Tanja Hackenberg, Erlangen Gerhard Hammer, Erlangen Hermann Hanschel, Neunkirchen am Brand Heiko Haumann, Basel Wolfgang Heubisch, München Günter Heydemann, Leipzig Klaus Hildebrand, Bonn Manfred Hildermeier, Göttingen Christian Hillgruber, Bonn Hans Günter Hockerts, München Peter Högemann, Erlangen Edgar Hösch, München Hubertus Jahn, Cambridge Gotthard Jasper, Erlangen Stuart Jenks, Erlangen Andreas Kappeler, Wien Walter Koschmal, Regensburg Ilse Krauß, Erlangen Bernhard Kremer, Erlangen Frank-Lothar Kroll, Chemnitz Eberhard Kuhrt, Berlin Jens Kulenkampff, Erlangen Joachim Leisgang, Nürnberg Hermann Adalbert Leskien, München Otto Luchterhandt, Lüneburg Peter März, München Matthias Maser, Erlangen

Tabula Gratulatoria

Gilbert Merlio, Paris Rudolf Morsey, Neustadt/Weinstraße Eduard Mühle, Warschau Michael Müller, Halle Thomas Nicklas, Reims Dirk Niefanger, Erlangen Norbert Oettinger, Erlangen Angela Pabst, Erlangen Jörn Petrick, Erlangen Bianka Pietrow-Ennker, Konstanz Harald Popp, Erlangen Joachim von Puttkamer, Jena Marie-Luise Recker, Frankfurt am Main Wolfgang Reinhard, Freiburg Rex Rexheuser, Lüneburg Gerhard A. Ritter, Berlin Friedrich-Wilhelm Rothenpieler, München Hartmut Rüß, Versmold Yuliya von Saal, München Klaus G. Saur, Berlin Rudolf Schlögl, Konstanz

Alois Schmidt, München Thomas Schöck, Erlangen Günter Schödl, Berlin Auguste Schönlein, Erlangen Gerhard Simon, Köln Georges-Henri Soutou, Paris Svitlana Stadelmann, Sulzbach-Rosenberg Heidrun Stein-Kecks, Erlangen Ludwig Steindorff, Kiel Michael Stürmer, Ebenhausen Hans-Ulrich Thamer, Havixbeck Ralf Urban, Forchheim Ernst Wawra, Erlangen Stefan Weinfurter, Heidelberg Alfred Wendehorst, Erlangen Udo Wengst, München Dietmar Willoweit, Würzburg Andreas Wirsching, Augsburg Renate Wittern-Sterzel, Erlangen Thomas Wünsch, Passau Jürgen Zarusky, München Claudia Zrenner, Erlangen

INHALTSVERZEICHNIS

MATTHIAS STADELMANN Helmut Altrichter zum 65. Geburtstag .................................................................... 5 KLAUS HERBERS 866 – Bulgarien zwischen Ost- und Westkirche .................................................... 15 HELMUT NEUHAUS Die Goldene Bulle von 1356 in der Frühen Neuzeit ............................................. 27 CARSTEN GOEHRKE 1478 – Das Ende einer historischen Alternative für Russland .............................. 45 AXEL GOTTHARD 1555 – Mitteleuropa findet seinen Religionsfrieden.............................................. 65 WERNER K. BLESSING Ende und Aufbruch: Franken 1802 ........................................................................ 79 WOLFGANG WÜST 1806 und das Ende des Alten Reiches – ein Schicksals- und Wendejahr in regionaler Perspektive? ................................. 101 NIKOLAUS KATZER Russland 1812 und 1825. Patriotismus – Religion – Revolution ........................ 117 GEORG SEIDERER Aufbruch in den Verfassungsstaat? Das Jahr 1859 als Schlüsseljahr der Habsburgermonarchie ................................ 141 BEATE FIESELER 1863: „Was tun? Aus Erzählungen von neuen Menschen“ von Nikolaj Gavriloviþ ýernyševskij .................................................................. 155

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Inhaltsverzeichnis

GERTRUD PICKHAN „Aufstand der Vierzehn“. 1863 als Schlüsseljahr für die bildende Kunst in Russland ................................. 171 MATTHIAS STADELMANN „Die Einladung der Gesellschaft“ und ihre Ausladung. 1881 als Schicksalsjahr in Russlands politischer Geschichte .............................. 185 JAN KUSBER Das Jahr 1905 und das Zarenreich: Imperial und global ..................................... 203 MALTE ROLF Revolution, Repression und Reform: 1905 im Königreich Polen ....................... 219 TRUDE MAURER Distanz und Selbstbehauptung: Die patriotischen Jubiläen des Studienjahres 1912/13 als Brennspiegel der Gesellschaftsgeschichte russischer Universitäten ....................................................................................... 233 IGOR’ NARSKIJ Zehn Phänomene, die Russland 1917 erschütterten ............................................ 255 SUSANNE SCHATTENBERG 1918 – Die Neuerfindung der Diplomatie und die Friedensverhandlungen in Brest-Litovsk ................................................ 273 DIETMAR NEUTATZ Der Wahlsieg der Sudetendeutschen Partei 1935 und die Macht der Diskurse ................................................................................. 293 JÖRG BABEROWSKI Das Beil überlebt seinen Herrn. Das Jahr 1937 und die Erinnerung an die stalinistische Diktatur. ....................... 313 ALEKSANDR ýUBAR’JAN Die Sowjetunion anno 1940: Erste Symptome der Ernüchterung oder „Wechsel der Wegzeichen“ in Theorie, Ideologie und Propaganda............ 329 LEONID LUKS Die UdSSR, Deutschland und der Westen im Schicksalsjahr 1941 .................... 351

EDUARD WINKLER Kriegswende und Friedensvisionen 1943: Antifaschismus und föderale Ideen für Europa und Jugoslawien........................ 373 LILIA ANTIPOW A frozen „turning point“ 1945/46? Die UdSSR, der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und der Holocaust ..................... 387 THOMAS M. BOHN Die Abschottung der Städte im Jahre 1956: Sowjetische Geschichte als Urbanisierungsgeschichte........................................ 413 WALTHER L. BERNECKER Januar 1986: Spaniens Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften ................ 423 KLAUS GESTWA Sicherheit in der Sowjetunion 1988/89. Perestrojka als missglückter Tanz auf dem zivilisatorischen Vulkan.................. 449 HORST MÖLLER Epochenwechsel 1989/91 .................................................................................... 469 HARTMUT WEBER Digitales Archivgut als Ressource für Forschung und Lehre .............................. 481 Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren .................................................... 499 Verzeichnis ausgewählter Schriften des Jubilars ................................................. 505

HELMUT ALTRICHTER ZUM 65. GEBURTSTAG Matthias Stadelmann Es war im Frühjahr 1991 in Erlangen. Nach zwei Semestern Musik-, Literaturund Theaterwissenschaften hatte ein Student aus seinem latenten Bedauern, nicht das Fach Geschichte zum Gegenstand seines Studiums gemacht zu haben, Konsequenzen gezogen: Frisch prangte im Studienbuch der Stempel „Neuere und Neueste Geschichte“ als dasjenige Teilgebiet des alten „Dreifachmagisters“, zu dem sich der Student hingezogen fühlte. Fasziniert hatte er das mittels Kopierer „handgemachte“ kommentierte Vorlesungsverzeichnis durchgeblättert – und sich kaum entscheiden können zwischen den großen Themen der europäischen Neuzeit. Am Ende der Rubrik „Proseminare“ war er auf eine Veranstaltung gestoßen, die terminlich gut passte (bekanntermaßen ein nicht zu unterschätzendes Argument für studentische Entscheidungen), von deren Thema jedoch auch eine seltsame Faszination für den bis dato gedanklich zwischen Bismarck und Adenauer weilenden geschichtswissenschaftlichen Neuling ausging: „Die Kommunistische Internationale“. Dass der Student mit seiner Entscheidung für dieses Proseminar etwas vom Mainstream abgewichen war, wurde ihm sogleich deutlich, als man ihm erklärte, er könne sich dafür nicht im Institut für Geschichte (der „Kochstraße“ im studentischen Jargon) anmelden, sondern müsse einige Häuser weiter gehen, in die Bismarckstraße 12, an den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte. Aus den intimen Verhältnissen seines quantitativ überschaubaren Hauptstudienfachs, der Musikwissenschaft, war der Student es gewohnt, sich vorab persönlich für Lehrveranstaltungen anzumelden, so dass er beschloss, den Dozenten der „Kommunistischen Internationale“ in dessen Sprechstunde aufzusuchen, sich vorzustellen und einen ersten Eindruck zu gewinnen. Im ersten Stock der Bismarckstraße 12, in Räumlichkeiten eines sich wohltuend von manchem Betonkasten unterscheidenden Altbaus, traf der Student auf einen ernst und korrekt, durchaus „streng“ wirkenden Mann Anfang 50, mit modischer Brille, elegant gekleidet, der ihn mit einer offenen, zupackenden, auch bestimmten Art in sein geschmackvoll eingerichtetes Büro bat. So also sehen Historiker aus, dachte der Student, schließlich schien ihm der äußerlich-habituelle Unterschied zu Kapazitäten seiner anderen Studienfächer frappant. Schnell begriff der Student zudem, dass es im Fach Geschichte offensichtlich nicht üblich war, sich vor Proseminaren persönlich vorzustellen oder gar gleich ein bestimmtes Thema zu übernehmen – und dennoch verließ er das Dienstzimmer des Erlanger Ordinarius für Osteuropäische Geschichte mit dem guten Gefühl, nicht umsonst gekommen zu sein. Der Professor hatte dem Studenten einiges zu Seminar und Thema gesagt, zu den Erkenntniszielen und Fragestellungen, und dazu, welche Leistungen er sich von den

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Matthias Stadelmann

Teilnehmern vorstellte, wobei sehr deutlich wurde, dass man sich an den Freitagvormittagen im Seminar nicht zu kreativen Plauderstündchen treffen würde. Mehr als alles andere aber beeindruckte den Studenten wohl die Souveränität, mit der sein Gesprächspartner in jener kurzen ersten Begegnung aufgetreten war, die rhetorische Gewandtheit, die gedankliche Zielgerichtetheit und fachliche Strenge, die er an den Tag legte – Qualitäten, von denen sich die Teilnehmer des Proseminars im Sommersemester 1991 Woche für Woche und viele andere Studierende Semester für Semester überzeugen konnten oder – je nachdem – mussten. Im Falle des erwähnten Studenten, der sich nun erlaubt, die Erzählperspektive zu wechseln, blieb es nicht bei jenem Proseminar zur Komintern. Helmut Altrichter wurde mein akademischer Lehrer, seine Veranstaltungen führten mich durch Grund- und Hauptstudium der Geschichte und brachten mich zur Entscheidung, Russisch zu lernen und Osteuropäische Geschichte als Studienhauptfach zu wählen. Helmut Altrichter betreute meine Magisterarbeit und wurde mein Doktorvater, er öffnete mir die Wissenschaft als Beruf und begutachtete meine Habilitationsschrift. An all diesen Stationen und auf allen Wegen, die zu ihnen führten, konnte ich nachhaltig von den Qualitäten meines Lehrers profitieren – seiner eminenten fachlichen Kompetenz; seinem breiten Horizont, der sich über weite Felder jenseits der Geschichtswissenschaften erstreckt; seiner strengen, disziplinierten Herangehensweise an alle Fragen und Aufgaben, die von bemerkenswerter methodischer Toleranz und Liberalität komplimentiert wird; seiner unerbittlichen Gedankenschärfe und seiner Fähigkeit, auf Themen und Thesen anderer so einzugehen, als wären es seine eigenen; seinem Faible für eine gepflegte, verständliche und dennoch anspruchsvolle Wissenschaftssprache mit literarischen Qualitäten; seinen vorzüglichen Umgangsformen, seiner unerschütterlichen Korrektheit und seinem nie geheuchelten Interesse anderen gegenüber; schließlich seiner persönlichen Souveränität, die professionelle Konzentration mit tiefgründiger Gelassenheit verschmelzen lässt. Auch über diese im weiteren Sinne „beruflichen“ Qualitäten hinaus empfand ich viele Züge Helmut Altrichters stets und bis heute als beeindruckend: seine profunde Kennerschaft von Literatur, Kunst und Musik; seine Fähigkeit, exquisite Speisen nicht nur zu genießen, sondern selbst zuzubereiten; sein feinsinniger Geschmack in allen schönen Dingen des Lebens, der sich nicht zuletzt in seiner herrlichen Nürnberger Stadtwohnung niederschlägt; sein exquisit bestückter Weinkeller; seine Leidenschaft für ausgesuchte Kleidung; überhaupt seine Sensibilität für alles Edle in dieser Welt, verbunden mit einer bemerkenswerten Großzügigkeit, andere an diesem Edlen teilhaben zu lassen. Helmut Altrichter wurde am 7. November 1945 im mährischen Alt-Moletein geboren. Die Umstände der Deutschenvertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg rissen die große Familie des früheren Brünner Gymnasialdirektors und späteren Mährischen Landesschulinspektors Dr. Anton Altrichter auseinander. Enkel Helmut verschlug es mit Mutter und Geschwistern – der Vater sollte erst Jahre später aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft heimkehren – zunächst nach Ober-, dann nach Mittelfranken, wo er auch zur Schule ging. Am humanistischen Melanchthon-Gymnasium zu Nürnberg legte Helmut Altrichter 1964 die Abiturprüfungen ab, im gleichen Jahr begann er an der Universität Erlangen sein Studium,

Helmut Altrichter zum 65. Geburtstag

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das die Fächer Germanistik, Geschichte, Politische Wissenschaft sowie das Russische umfasste und ihn auch an die Universität Wien führte. 1970 bestand er das Staatsexamen für das Lehramt in den Fächern Geschichte, Deutsch und Sozialkunde mit Auszeichnung. Ein Promotionsstudium in Erlangen schloss sich an, 1974 wurde Helmut Altrichter mit einer bei Karl-Heinz Ruffmann, dem Gründungsordinarius des Erlanger Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte, angefertigten Arbeit über „Konstitutionalismus und Imperialismus. Der Reichstag und die deutsch-russischen Beziehungen 1890 – 1914“ promoviert, einer dicht geschriebenen und materialreich fundierten Studie über den Reichstag in der Politik des Deutschen Kaiserreichs am russisch-außenpolitischen Beispiel, die bereits einen Grundzug des künftigen Altrichterschen Œuvres par excellence demonstrierte: Moden und Codeworte des Zeitgeistes zwar zu kennen, nicht aber als Zwangsautorität für das eigene Wirken zu internalisieren. Altrichters Befunde über Bedeutung und Integriertheit des Reichstages in der Regierungspolitik des Kaiserreichs führten beispielhaft vor, dass der genaue Blick auf die Geschichte manche emphatische These der historiographischen Meinungsführerschaft in neuem Licht erscheinen lässt. Schon im Jahr zuvor, 1973, hatte Altrichters wissenschaftliche Karriere mit der Übernahme einer Assistentenstelle in Erlangen ihren Lauf genommen. Auf ihr erarbeitete er sich seine zweite große Qualifikationsschrift, „Die Bauern von Tver. Vom Leben auf dem russischen Dorfe zwischen Revolution und Kollektivierung“, mit der er sich 1982 habilitierte. Die mit dem Otto-Seel-Habilitationspreis der Erlanger Philosophischen Fakultäten ausgezeichnete, 1984 im Oldenbourg Verlag veröffentlichte Studie war bahnbrechend, ein Rezensent bezeichnete sie als „eines der originellsten und aussagekräftigsten Bücher, die […] über die russische Geschichte des 20. Jahrhunderts geschrieben worden sind“.1 Altrichter widmete sich einem Thema, um das sich bis dato niemand ernsthaft gekümmert hatte, das jedoch angesichts der russischen Sozial- und Wirtschaftsstrukturen von höchster Relevanz war – dem Alltag auf dem sowjetischen Dorf der 1920er Jahre. Unbeirrt von den Zwängen des damaligen wissenschaftlichen Zeitgeistes, der allzu oft Bauern und Landwirtschaft als uninteressant und in der Geschichtsmächtigkeit begrenzt wahrgenommen hat, gerade im Vergleich zu Arbeitern und Industrie, erschloss Altrichters Studie – in einer klaren und anschaulichen Sprache verfasst, ohne Abstriche in der Materialdichte zu machen – am gut gewählten Beispiel bäuerliche Lebenswelten der frühen Sowjetunion. Indem er den Blick vom Zentrum auf die Peripherie lenkte, von den revolutionären „Speerspitzen“ auf die – zahlenmäßig weit überlegenen – Kräfte der Beharrung, indem er nach den Schnittstellen von Politik und Idee mit dem realen Leben fragte, korrigierte er nicht nur manche gerne tradierte bolschewistische Selbstbeschreibung, sondern nahm partiell auch historiographische Tendenzen vorweg, die später, auch in der Osteuropäischen Geschichte, Triumphe feiern sollten – als Stichworte seien nur Regionalgeschichte, lebensweltliche und anthropologische Ansätze, Mikrohistorie, dichte 1

Carsten Goehrke, Rezension zu Helmut Altrichter, Die Bauern von Tver’, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 1985, 33, S. 453-457, hier S. 456.

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Beschreibung genannt. Dass Altrichter neue Betrachtungsweisen auf eine in der Historiographie keineswegs unterbelichtete Epoche entfalten konnte, ohne ein ausladendes theoretisch-methodologisches Rechtfertigungsgebäude zu errichten, indem er sich also auf das Aussagepotential des Quellenmaterials verließ, ist kennzeichnend für einen spezifischen empirischen Zugang zur Geschichte, der, gut informiert über methodologische Reflexionen, seine Kraft doch aus dem konkreten Gegenstand bezieht – und vielleicht gerade deshalb so eindrückliche Wirkung hinterlässt. Diesen Prämissen eigener Arbeit entsprach Altrichters Grundhaltung gegenüber den Leistungen anderer: Er zeigte sich an allen neuen und laufenden Forschungen interessiert, wenn sie tatsächlichen Erkenntnisgewinn boten oder versprachen, sei dieser thematisch oder methodisch oder, im Idealfall, beides. Skeptisch und unbestechlich blieb er denjenigen gegenüber, die laut von ihrer singulären Innovativität tönten, dabei mitunter kräftig auf die angebliche Ignoranz bisheriger Forschungsversuche einschlugen und am Ende doch oft nur den berühmten bekannten Wein in neu etikettierten Schläuchen feilboten. Selbst in einer stets auch als politisch verstandenen Sozialgeschichte etabliert, prüfte er ernsthaft und klug die Möglichkeiten und Perspektiven von kulturellen, linguistischen, räumlichen und anderen Wenden, gerade indem er sie zu seinen eigenen Vorstellungen und Konzepten in Beziehung setzte. Dabei ließ er sich gerne befruchten, jedoch nie zur apodiktischen Verabsolutierung jeweils gerade gepflegter Moden hinreißen. Viel wichtiger ist ihm da verwertbare Substanz, viel näher sind ihm da etwa Worte wie diejenigen über den Schutz vor Neuentdeckungen durch Literaturkenntnis (Hermann Heimpel) oder das häufig anzutreffende Bild von den Riesenschultern, auf denen man als Wissenschaftler nolens volens stehe. Übrigens führte gerade Altrichter immer wieder vor, dass durch solches Bewusstsein über die eigene Relativität weder wirkliche Neuentdeckungen ausgeschlossen sind noch die Möglichkeit, durch Werk und Wirken selbst zum „Riesen“ zu werden, der auch seine Schultern anderen zur Verfügung stellt, ohne dies immer öffentlichkeitswirksam und marktschreierisch zu verkünden. In schnelllebigen, von Oberflächen begeisterten Zeiten, in denen auch in Wissenschaft und Universität der Schein bisweilen wichtiger genommen wird als das Sein, mag eine solche Haltung als antiquiert und untauglich zur Erfüllung mancher hysterisch verabsolutierter Zeitgeistphänomene daherkommen. À la longue freilich haben Fundiertheit, Solidität und Qualität bislang doch ihre Überlegenheit demonstriert. In diesem Sinne steht es für einen ganz typischen Zug Altrichters, dass er sich vor der Vollendung seiner Habilitationsschrift grundlegende Voraussetzungen seiner Betrachtung des Dorfes der 20er Jahre erarbeitet und in publizierter Form auch anderen zur Verfügung gestellt hat. Der Band „Staat und Revolution in Sowjetrussland 1917–1922/23“, 1981 erschienen bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, 1996 in ergänzter Fassung wiederaufgelegt, fasste die „Erträge der Forschung“ zu den Jahren von Revolution und Bürgerkrieg in systematischer Analyse zusammen. Nicht nur für Revolution und Bürgerkrieg, sondern für die gesamte politische, gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung bis 1953 lieferten die beiden 1986/87 von Helmut Altrichter herausgegebenen dtv-Dokumentenbände

Helmut Altrichter zum 65. Geburtstag

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(Band 2 zusammen mit Heiko Haumann) „Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod“ Lehrenden, Studierenden und anderen Interessierten zuverlässige Quellengrundlagen in deutscher Übersetzung; dass das Digitalisierungszentrum der Bayerischen Staatsbibliothek heute beide Bände im Volltextmodus zur Verfügung stellt, weist darauf hin, welche hervorragenden Dienste Altrichters Quellensammlung nach wie vor zu leisten vermag. Auch die 1993 zum ersten Mal erschienene „Kleine Geschichte der Sowjetunion“ aus dem Beck Verlag demonstriert durch Wiederauflage (zum dritten Mal im Jahr 2007) die ungebrochene Leistungsfähigkeit dieser souveränen Zusammenfassung wesentlicher Wissensstände zu Sowjetstaat und -gesellschaft von 1917 bis 1991. Das brillant geschriebene, einem breiten Leserkreis gewidmete Buch wurde zu einem wahren Bestseller, längst nicht nur unter den Studenten, denen eine ebenso kompetente wie kurzweilige Einführung in Russlands Geschichte des 20. Jahrhunderts geschenkt wurde. Inzwischen war Helmut Altrichter nach „Wanderjahren“, die ihn zuerst als Lehrstuhlvertreter, dann als C3-Professor nach Augsburg sowie als Visiting Professor nach Pittsburgh geführt hatten, im Jahr 1990 als Ordinarius an die Erlanger Alma Mater zurückgekehrt. Sein über 20-jähriges Wirken als Hochschullehrer an der FriedrichAlexander-Universität kann nur als überaus fruchtbar bezeichnet werden. Innerhalb des Instituts für Geschichte etablierte er rasch seinen Lehrstuhl als Bastion anspruchsvoller Forschung und Lehre. Altrichter behandelte die großen Themen der osteuropäischen – insbesondere, aber längst nicht nur der russischsowjetischen – Geschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, führte seine Hörer in die Zeit davor ein, stellte in vielen Seminaren Osteuropa vergleichend in Beziehung zu Mittel- und Westeuropa, vor allem auch zu Deutschland, und sorgte dafür, dass auch das Habsburgerreich auf gebührende Weise in der Erlanger Lehre vertreten war. Thematisch-methodisch war Altrichter in seinen Veranstaltungen seit jeher breit aufgestellt und gab neben der Politik- und Gesellschaftsgeschichte auch früh schon kulturgeschichtlichen Ansätzen Raum. Erlanger Forschungen gab er zusammen mit Helmut Neuhaus als Herausgeber der Erlanger Studien zur Geschichte ein eigenes Publikationsforum, den Geschichtslehrern aus dem nordbayerischen Raum als Mitkoordinator des „Erlanger Kontaktstudiums“ gerne genutzte Kommunikationsmöglichkeiten mit der Wissenschaft im Rahmen von Fachtagungen. Ähnlich engagiert und vielseitig präsentierte sich Altrichter auch in der akademischen Selbstverwaltung, ob als Mitglied des Vorstands des Instituts (heute: Departments) für Geschichte, ob als Mitglied von Fakultätsrat und Fakultätsvorstand, ob als Dekan der Philosophischen Fakultät I oder als Prodekan für Forschungsangelegenheiten: Nie musste man ihn lange bitten, Verantwortung zu übernehmen. Schnell gewann er den Ruf eines interessierten, kompetenten Gesprächspartners in allen Fragen und Problemen akademischer Selbstverwaltung, dem freilich auch das Wörtchen „Nein“ nicht unbekannt war und der Konflikte zwar nie suchte, aber auch nie scheute, wenn er Fehlentwicklungen zu erkennen glaubte. Nichts macht den großen Respekt, den Altrichter sich als Wissenschaftler, aber auch als Kommunikator und Administrator im Forschungsbereich erworben

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hat, so deutlich wie die Vielzahl an auswärtigen Verpflichtungen, die an ihn herangetragen und von ihm fast nie abschlägig beschieden wurden. Nur einige Stationen seien genannt: Zwischen 1993 und 1999 amtierte er als Vorsitzender des Verbandes der Osteuropahistoriker, seit 1993 ist er Mitherausgeber der renommierten Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, seit 2008 auch der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Seit vielen Jahren engagiert sich Altrichter als Mitglied bzw. Vorsitzender wissenschaftlicher Beiräte etwa des Instituts für Zeitgeschichte, des Geisteswissenschaftlichen Zentrums für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig, des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung in Dresden oder des Deutschen Historischen Instituts Moskau. Vorher hatte er sich in gleicher Funktion auch für das Herder-Institut in Marburg sowie das Deutsche Historische Institut in Warschau eingesetzt; seit 2003 wirkt er in der Wissenschaftlichen Leitung der „Dokumente zur Deutschlandpolitik“. Die zahlreichen weiteren ehrenamtlichen Verpflichtungen und Engagements in Kommissionen und Gutachtergruppen aufzuzählen würde den Rahmen sprengen, als Beispiel hervorzuheben sind sicherlich seine enge Kooperation mit der Gerda Henkel Stiftung sowie die Funktionen, die Altrichter in Gremien der Deutschen Forschungsgemeinschaft über viele Jahre hinweg wahrgenommen hat – als Mitglied des Bibliotheksausschusses sowie der Unterausschüsse „Erschließung von Spezialbeständen“, „Dokumentenlieferung“, „Retrospektive Digitalisierung“ sowie „Elektronisches Publizieren“. All diese Thematiken demonstrieren nicht nur, dass Altrichter stets offene Augen für die Neuentwicklung der datenverarbeitenden Technik und ihr Nutzungspotential für die Wissenschaften hatte, sondern auch seine multilaterale Anschlussfähigkeit in fachinternen und -übergreifenden Diskursen. Solche Anschlussfähigkeit bewies Altrichter – natürlich, möchte man sagen – auch in einer von ihm während seiner Zeit als Stipendiat des Historischen Kollegs (2001/2002) in der Münchner Kaulbach-Villa veranstalteten internationalen Tagung zur „Geschichte im Transformationsprozess Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas“ (Juni 2002), aus welcher der Band „GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument“ als 61. Band der Schriften des Historischen Kollegs hervorging. In selten erreichter regionaler Breite, von Estland bis Moldawien, behandeln die versammelten Autoren, allesamt einschlägige Kenner ihrer Thematik, die Fragen und Probleme der historischen Diskurse nach den großen Umbrüchen in Osteuropa von 1989/90. Es entstand unter Altrichters Herausgeberschaft ein „unentbehrliches Referenzwerk […] für jeden, der sich über die Rolle der Geschichte und der Geschichtswissenschaft in den osteuropäischen Transformationsländern informieren will“.2 Andere von Helmut Altrichter (mit-) herausgegebene Sammelbände leisten kaum weniger wichtige Beiträge zur originellen, multiperspektivischen Annäherung an zentrale historische Strukturen: „Bilder erzählen Geschichte“ (1995), „Das Ende von Großreichen“ (1996, zusammen mit Helmut 2

Leonid Luks, Rezension zu Helmut Altrichter, GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument, in: Sehepunkte. Rezensionsjournal für die Geschichtswissenschaften, 2007, 7, http://www.sehepunkte.de/2007/11/10965.html.

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Neuhaus), „Persönlichkeit und Geschichte“ (1997), „Mythen in der Geschichte“ (2004, zusammen mit Klaus Herbers und Helmut Neuhaus) u.a. Ein „Sammelwerk“ ganz anderer Art, im modernen digitalen Format, stellt die seit 2001 aufgebaute, vom Bundesministerium des Inneren finanzierte, auf multilateraler Kooperation ruhende Quellenedition „100(0) Schlüsseldokumente zur russisch-sowjetischen Geschichte im Internet“, seit 2004 komplimentiert durch die „100(0) Schlüsseldokumente zur deutschen Geschichte im Internet“, dar. Sie ist letztlich ein konkretes Ergebnis von Altrichters seit 1997 bestehender Mitgliedschaft in der hochkarätig besetzten „Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen“, in welcher er sich mit der für ihn typischen Mischung aus Freundlichkeit, Überzeugungswillen und Hartnäckigkeit für die Belange der Geschichtswissenschaftler hüben wie drüben einsetzt. Die Erstellung einer weltweit, „rund um die Uhr“ verfügbaren Arbeitsgrundlage für Forscher, Lehrende, Studierende und andere Interessenten ist sichtbarer Beleg dafür, dass Altrichter kommissionäre Diskurse nie als Selbstzweck verstanden hat. Auf dem Server der Bayerischen Staatsbibliothek stehen nun Dokumenteinheiten zur Verfügung, die nicht nur Faksimile und zweisprachigen Volltext beinhalten, sondern auch eine kurze Einführung durch ausgewiesene Experten, in welcher das Dokument in seine historische Zusammenhänge eingeordnet und seine Bedeutung erläutert wird. Letzteres ist kennzeichnend für Altrichters kompromisslos vertretene Haltung, dass historische Relevanz stets begründet werden muss. Dahinter steht die Auffassung, dass Geschichte nicht einfach existiert, sondern „gemacht“ wird. Geschichte wird gemacht, indem Historiker die Vergangenheit untersuchen und analysieren, damit zugleich gliedern und strukturieren, auf dieser Grundlage schließlich kommunizieren und tradieren. Geschichtswissenschaftler stellen aus der Vergangenheit Zusammenhänge her und machen diese verständlich. Von einer unterschiedslosen Gleichwertigkeit aller Geschichte kann dabei sinnvollerweise keine Rede sein: Historiker müssen, so ein Altrichtersches Credo, zwischen Wichtigem und weniger Wichtigem scheiden, Einschneidendes von Eingefahrenem trennen, um so im Spannungsfeld von Kontinuität und Wandel, im Koordinatensystem von Chronologie und Systematik die Relevanz und Dynamik der vergangenen Geschehnisse zu erfassen. Nicht exakt in diesen Worten, wohl aber in diesem Geist vertritt Altrichter seine Profession. Sowohl Forschungen und Publikationen wie auch Lehrveranstaltungen sind von dem konkreten, zielsicheren Wollen bestimmt, sich die Vergangenheit im intellektuellen Sinne untertan zu machen, nicht um sie zurechtzubiegen oder nach eigener Ideologie entstehen zu lassen, sondern um in der unendlichen Flut menschlicher Vergangenheit relevante Sinnstiftung zu generieren. Die Erkenntnis einschneidender Momente, epochaler Konstellationen und zentraler Problemstellungen ist hierzu unabdingbare Voraussetzung. In zwei seiner jüngsten großen Opera hat sich Helmut Altrichter explizit Schicksalsjahren der Geschichte gewidmet: 1917 markiert das Ende des russischen Kaiserreiches und den Beginn des sozialistischen Experiments, dessen staatlich-institutionalisierte Konsequenz als Sowjetunion die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts mitprägen sollte; 1989 beschreibt das Ende jenes Experiments,

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als sowjetische Politik und Gesellschaft – teils nolens, teils volens – die Auflösung des eigenen Imperiums betrieben. Mit den beiden Publikationen „Rußland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst“ (erschienen 1997) und „Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums“ (erschienen 2009) umrahmt Altrichter durch jene Schlüsseljahre den Bereich der Vergangenheit, der – bei aller Vielseitigkeit und Breite, wovon das diesem Band beigefügte Schriftenverzeichnis eindrucksvolles Zeugnis ablegt – doch das Kernstück seiner eigenen geschichtswissenschaftlichen Identität ausmacht: die politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen der Sowjetunion von ihrer Entstehung bis zu ihrem Untergang. Die in den Monographien zu 1917 und 1989 zum Ausdruck gelangende Konzentration auf einschneidende Konstellationen der russischen und europäischen Geschichte aufgreifend haben Lilia Antipow und ich uns entschieden, anlässlich Helmut Altrichters ganz persönlichem „Schlüsseljahr“ 2010 eine – viel zu knapp geratene – Auswahl von Kollegen des Jubilars zu bitten, jeweils ein Schlüsseljahr bzw. eine Schlüsselkonstellation aus dem eigenen Fachgebiet kurz und prägnant vorzustellen. Dabei haben wir, was Zeit und Thematik, aber auch Stil und Charakter der Beiträge angeht, bewusst so wenige Vorgaben wie möglich gemacht. So wie bei einer Geburtstagsfeier jedem Gast die Auswahl seines Präsents frei überlassen ist (und der Beschenkte sich ja in aller Regel freut, wenn er zu seinem Festtag nicht nur 25 ähnliche Krawatten bekommt), sollte auch bei diesem „Sammelgeschenk“ an Helmut Altrichter den Ideen und Vorstellungen der Mitwirkenden keine Einschränkungen auferlegt werden. Ob materialreiche Analyse, kreativer Essay oder die Synthese aus beidem, ob klassisches Schicksalsjahr oder Bedeutsames abseits bekannter Pfade, ob lange beackertes Forschungsfeld oder persönlich-wissenschaftliches Neuland, ob Ost- oder Westeuropa, ob Mittelalter oder Neuzeit – jeder sollte seinen Beitrag zu Ehren des Jubilars nach eigenem Gutdünken, nach eigener Kompetenz, in seinem eigenen Stil gestalten. Einzige Bedingung war das Kriterium der Relevanz einer historischen Konstellation bzw. Entwicklung. Wir meinen, dass der entstandene Band eine in ihrer Diversität überaus anregende Folge ganz unterschiedlicher zentraler Konstellationen der europäischen Geschichte vereinigt und auf diese Weise gleichermaßen historisches Lesebuch auf internationalem Forschungsniveau und Querschnitt aktueller Erkenntnisinteressen in der Historie geworden ist. Dass dabei einerseits eine starke ErlangenNürnberger „Autorenfraktion“ vertreten ist, anderseits in thematischer Hinsicht der osteuropäische Bereich dominiert, entspricht dem Zuschnitt des Bandes auf den Jubilar. Selbstverständlich kann eine Festschrift nur eine kleine Auswahl derjenigen vereinen, die sich mit Helmut Altrichter auf ihre jeweils spezielle, persönliche Weise verbunden fühlen, weshalb wir ausdrücklich auf die Tabula gratulatoria verweisen möchten, die über das Inhaltsverzeichnis hinaus einen umfassenden Eindruck von der Wertschätzung vermittelt, die sich der Jubilar erworben hat. Als Mitherausgeber dieser Festschrift habe ich vielen zu danken: Allen Gratulanten, insbesondere natürlich den Autoren, die sich trotz vielfältiger anderweitiger Verpflichtungen in der Lage sahen, innerhalb knapp bemessener Fristen ihre Beiträge zu liefern; Professor Jan Kusber und dem Vorstand des Verbandes der

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Osteuropahistorikerinnen und -historiker sowie dem Franz Steiner Verlag, uns gegenüber vertreten durch Frau Katharina Stüdemann, für die Aufnahme des Bandes in die „Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa“; der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf, den Freunden und Förderern der Geschichtswissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg e.V. sowie der Fritz und Maria Hofmann-Stiftung Erlangen für die großzügige Unterstützung bei den Druckkosten. Ein besonderer Dank gilt selbstverständlich meiner Mitherausgeberin Lilia Antipow. Wir haben uns die redaktionelle Betreuung der Autoren redlich aufgeteilt und alle mit der Publikation zusammenhängenden Fragen in angenehmer kollegialer Kooperation gemeinsam entschieden. Hervorragend unterstützt wurden wir in allen technisch-formalen Fragen und weit darüber hinaus von Herrn Matthias Dornhuber (Erlangen). Herzlich gedankt sei ebenso zwei weiteren aufmerksamen, spürbar germanistisch bewanderten Lesern der Korrektur- und Formatierungsphase, Frau Tanja Christina Hackenberg und Herrn Florian Filler (jeweils Erlangen). Am Ende freilich will ich – und da spreche ich gerne im Namen aller Gratulanten – Helmut Altrichter danken für all jene Anregungen und Erfahrungen, die er jeder und jedem von uns bei unterschiedlichsten Anlässen und Gelegenheiten gegeben hat, für all das, was er nicht nur der Osteuropaforschung und der historischen Disziplin, sondern auch der Wissenschaftskultur geschenkt hat. In diesem Sinne haben wir alle nur einen Wunsch: Multos ad annos!

866 – BULGARIEN ZWISCHEN OST- UND WESTKIRCHE Klaus Herbers „Sed nobis valde absonum est et adhuc frivolum sonat, quod dicitur“, es klinge ihm misstönend und nichtssagend oder albern, so schreibt Papst Nikolaus I. in seinem wohl im November 866 entsandten Lehrschreiben an die Bulgaren über einige Formen religiöser Gebräuche bei den Griechen.1 Diese Schrift mit 106 Kapiteln gehört zu den wenigen Zeugnissen päpstlicher Korrespondenz im frühen Mittelalter, die auf Unterschiede in Glaubensfragen zwischen Ost- und Westkirche ausführlich einging. Sie entstand, als der zum Christentum konvertierte Großfürst Boris-Michael in einer Entscheidung zwischen Ost- und Westkirche, zwischen Rom und Byzanz stand. Boris hatte sich 864 taufen lassen und hatte erst griechische und wenig später auch römische Glaubensboten ins Land gerufen; kurzfristig war sogar das ostfränkische Reich unter Ludwig dem Deutschen in diesen Prozess involviert. Ist die aus Bulgarien angeforderte Schrift damit ein Zeugnis dafür, dass Boris-Michael bei den Entscheidungen für ein Christentum westlicher oder östlicher Prägung bewusst Inhalte und theologische Fragen in den Blick nehmen wollte? Welche Rolle spielte das Schreiben überhaupt? Jedenfalls orientierte sich Boris-Michael wenig später zum Patriarchat von Konstantinopel; spätestens bei den Verhandlungen 869 war die Entscheidung für das östliche Christentum gefallen.2 Wurden religiöse und damit auch kulturelle Prägungen durch kurze Entscheidungsmomente bestimmt und damit auch die in der Folge möglichen oder nicht möglichen Weichenstellungen für transkulturelle Entwicklungen? Welche Hinter-

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Ernst Perels (Hg.), Nicolai I. papae epistolae, in: Monumenta Germaniae Historica Epistolae, Bd. VI, Berlin 1925, Nachdruck 1995, S. 257–690, das Lehrschreiben in: ebd., S. 568–600, Nr. 99; vgl. künftig auch die Belege bei Johann Friedrich Böhmer / Klaus Herbers, Die Regesten des Kaiserreiches unter den Karolingern 751–918 (926/962), Bd. 4, Papstregesten 800–911, Teil 2, Lieferung 2 (858–867), Köln (im Druck) (= Regesta Imperii, 1), zum 13. November 866 mit weiteren Editionen und Erläuterungen. Ich danke Markus Schütz und Christine Avram (beide Erlangen) für die Hilfe bei der Vorbereitung des Beitrags. Vgl. hierzu: Daniel Stiernon, Konstantinopel, Bd. IV, Mainz 1975 (= Geschichte der ökumenischen Konzilien, 5), französische Originalausgabe: ders., Constantinople IV, Paris 1967, dort auch die Texte im Anhang S. 289–341; kurze Bestandsaufnahme bei Hans-Georg Thümmel, Die Konstantinopeler Konzilien des 9. Jahrhunderts: Eine Übersicht, in: Annuarium Historiae Conciliorum, 2005, 37, S. 437–458, zu den Ereignissen von 869/870: ebd., S. 451–456 und kurz hierzu auch: Klaus Herbers, Rom und Byzanz im Konflikt. Die Jahre 869/870 in der Perspektive der Hadriansvita, in: ders. / Wilfried Hartmann (Hg.), Die Faszination der Papstgeschichte. Neue Zugänge zum frühen und hohen Mittelalter, Köln 2008 (= Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii, 28), S. 55–69, hier S. 62f.

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gründe bestimmten die Entscheidungen und wie wirkten solche kurzfristigen Ereignisse und Entscheidungen durch die Erinnerung? Der Jubilar hat vor nicht allzu langer Zeit einen Band mit dem Titel „GegenErinnerung“ herausgegeben3 und damit die jeweils prägende Kraft verschiedener Erinnerungsbestände unterstrichen, die ihrerseits vielfältigen Verformungsprozessen unterliegen.4 Ein Blick auf verschiedene Quellenbestände in unterschiedlichem Umfeld – im Falle Bulgarien wären dies Rom, Byzanz und Bulgarien selbst – könnte es ermöglichen, Ausgangspunkte für die verschiedenen Erinnerungen zu sichern. Eine eigenständige bulgarische Überlieferung ist jedoch nicht (mehr?) vorhanden; deshalb bleibt die Untersuchung weitgehend auf Byzanz und Rom (mit einem Seitenblick auf Ostfranken) beschränkt, wobei die römische Perspektive im Folgenden dominiert und in einem Dreischritt von den Ereignissen und Befunden über die Hintergründe zu den Konsequenzen und Erinnerungen übergeleitet wird. 1. EREIGNISSE UND BEFUNDE Wie kam es zu dem Lehrschreiben, das vielfach als zentrales Zeugnis in den Blick gerückt worden ist?5 Ebenso wichtig wie der oft in den Vordergrund gestellte pastorale Aspekt ist seine Bedeutung für die christliche Frühgeschichte Bulgariens; und in diesem Zusammenhang hat sich die Forschung mit den päpstlichen Zeugnissen auseinandergesetzt. Die Mediävistik in der DDR war daran nicht unmaßgeblich beteiligt, konnte sie hier doch jenseits von vorgegebenen Geschichtstheorien Quellen der Kirchengeschichte im slawischen Raum bearbeiten.6 Das Lehrschreiben thematisiert zahlreiche Vorschriften und Riten, die in der griechischen Kirche abweichend von der römischen praktiziert wurden. Daher wurde immer schon nach der brisanten Polemik des Papstes gegenüber den Griechen gefragt, denn gerade in dieser Zeit stand Rom des sogenannten photianischen Schismas wegen in einem tiefgreifenden Konflikt mit Byzanz.7 3 4 5 6

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Helmut Altrichter (Hg.), GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozeß Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas, München 2006 (= Schriften des Historischen Kollegs, 61). Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004. Lothar Heiser, Die Responsa ad consulta Bulgarorum des Papstes Nikolaus I. (858–867). Ein Zeugnis päpstlicher Hirtensorge und ein Dokument unterschiedlicher Entwicklungen in den Kirchen von Rom und Konstantinopel, Trier 1979 (= Trierer Theologische Studien, 36). Vgl. vor allem: Hans-Dieter Döpmann, Die Bedeutung Bulgariens für die Trennung der östlichen und der westlichen Christenheit. Ein Beitrag zur Geschichte des Photianischen Schismas, Berlin (O.) 1965; ders., Zum Streit zwischen Rom und Byzanz um die Christianisierung Bulgariens, in: Paleobulgarica, 1981, 5, H. 1, S. 62–73. Vgl. hierzu die zusammenfassenden Bemerkungen von Klaus Herbers: Papst Nikolaus und Patriarch Photios. Das Bild des byzantinischen Gegners in lateinischen Quellen, in: Odilo Engels / Peter Schreiner (Hg.), Die Begegnung des Westens mit dem Osten, Sigmaringen 1993, S. 51–74, hier S. 53f., 69ff. Vgl. zum photianischen Schisma den klassischen Überblick

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Papst Nikolaus I. (858–867) scheint zunächst keine Initiative entfaltet zu haben, um römische Glaubensboten nach Bulgarien zu entsenden, denn die Bemühungen des ostfränkischen Königs Ludwig des Deutschen (843–876), der sich schon missionarisch um das Großmährische Reich gekümmert hatte, begleitete er etwa Ende Mai/Anfang Juni 864 mit seinen besten Wünschen.8 Allerdings scheint die ostfränkische Mission nicht so richtig in Gang gekommen zu sein. Im Jahr 866 wandte sich der Bulgarenfürst Boris nochmals an das ostfränkische Reich; eine Gesandtschaft erschien in Regensburg, und Ermenrich von Passau scheint wohl an der Spitze einer kleinen Gruppe von Missionaren nach Osten aufgebrochen zu sein, die bei ihrer Ankunft aber auf päpstliche Glaubensboten trafen und wieder zurückkehrten.9 Gleichzeitig wandte sich Boris aber an den Papst mit Geschenken und Anfragen sowie der Bitte um Missionare.10 Der halboffiziöse „Liber pontificalis“ erwähnt das Gesuch des Bulgarenfürsten als einen Beleg für göttliche Zeichen und Wunder – die Worte signum und miraculum werden mehrfach verwendet –, und Nikolaus sei darüber der Freude voll gewesen.11 Daraufhin entsandte der Papst Paul von Populonia und Formosus

von František Dvornik: ders., The Photian Schism. History and Legend, Cambridge 1948, Nachdruck 1970. 8 Wilfried Hartmann, Ludwig der Deutsche, Darmstadt 2002, S. 119, 211f. Zu den Quellen vgl. unter anderem: Johann Friedrich Böhmer / Engelbert Mühlbacher, Regesta Imperii, Bd. I, Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751–918, vollendet von Johann Lechner, Innsbruck 21908, Nachdruck 1966, Nr. 1454a; Egon Boshof, Die Regesten der Bischöfe von Passau, Bd. 1, 731–1206, München 1992, Nr. 35, Nr. 140; künftig: Böhmer / Herbers, Papstregesten, zu 21. Mai – Anfang Juni 864. 9 Hartmann, Ludwig, S. 11; vgl. daneben auch Egon Boshof, Das ostfränkische Reich und die Slawenmission im 9. Jahrhundert: die Rolle Passaus, in: Dieter R. Bauer / Rudolf Hiestand / Brigitte Kasten / Sönke Lorenz (Hg.), Mönchtum – Kirche – Herrschaft 750–1050. Festschrift Josef Semmler, Sigmaringen 1998, S. 51–76, hier S. 66f. 10 Die verschiedenen Quellennotizen ansatzweise bei: Philipp Jaffé, Regesta pontificum Romanorum, Editionem secundam correctam et auctam auspiciis Gulielmi Wattenbach curaverunt Samuel Loewenfeld, Ferdinand Kaltenbrunner, Paul Ewald, Bd. 1, Leipzig 1885, Nachdruck 1956, S. 358, und vollständiger künftig bei Böhmer / Herbers, Papstregesten, zu August 866 und zu Mitte August – Dezember 866. 11 Liber Pontificalis, hg. von Louis Duchesne, Bd. II, Paris 1892, S. 164: „Interea, meritis beatissimi huius in orbe prorsus exuberantibus, operante potentia summi Dei, qui cotidie suos per famulos signa et mirabilia [meine Hervorhebung] magna facit, rex Bulgarum christianitatis et fidei sanctae doctrinas agnoscens meruit baptizari, et qui prius creaturae serviens seviebat crudelitate, huius temporibus Creatori colla submittens ampla cepit religione vivere magnaque usus est pietate. Tunc ad hunc catholicum et vere presulem orthodoxum legatos suos mense augusto, indictione XIIII, destinavit, donaque non parva tam sanctis locis quam eidem summo pontifici contulit, suggerens eius apostolatui quid se facere salubrius oporteret, vel quid erga reliquum Vulgaricum adhuc baptismo sacro carentem populum, ut fidei sacramenta perficeret, agi deberet. Quod beatissimus audiens papa, magna repletus laeticia, laudes Christo reddidit amplas et cum omni sibi divinitus commissa aecclesia gratulans, infinita preconia Deo nostro qui novissimis his temporibus tantum fecit miraculum [meine Hervorhebung] devota mente, supplici queque voce resolvit.“

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von Porto zur Predigt nach Bulgarien.12 Weitere Gesandte nach Konstantinopel wurden aber an den fines Vulgariae festgehalten, genauer: gefangen gesetzt und mussten nach 40 Tagen wieder umkehren.13 Der Bulgarenherrscher nahm die päpstlichen Glaubensboten freundlich auf; diese missionierten erfolgreich den päpstlichen Aufträgen entsprechend, tauften und machten mit den christlichen Riten vertraut; schließlich habe der Bulgarenfürst darum gebeten, dass ihm Formosus als Erzbischof gegeben und eine erneute Legation nach Rom gesandt würde.14 Papst Nikolaus empfing die vom bulgarischen König geschickten Boten und beauftragte wunschgemäß Priester zur weiteren Missionierung in Bulgarien, darunter die Bischöfe Dominikus von Trevi und Grimoald von Bomarzo. Weiterhin schlug er vor, von diesen Priestern einen zum Erzbischof zu erwählen und zur Weihe nach Rom zu senden, weil der von Boris zum Erzbischof erbetene Formosus sein Bistum (Porto) nicht aufgeben dürfe.15 Jedoch überschlugen sich die Ereignisse, vor allem in Konstantinopel. Dort wurde Kaiser Michael III. am 23./24. September 867 ermordet,16 Patriarch Photios fast gleichzeitig gestürzt und vertrieben.17 Zuvor hatte jedoch noch ein Konzil stattgefunden, das den Konflikt zwischen Rom und Byzanz über die in Rom ange12 Ebd.: „statuens hosque sacris monitis mellifluis atque doctrinis instruens, ad predicandam gentem illam eos ire decrevit.“ 13 Ebd., S. 165: „Sed et idem imperator legatis regis Vulgarum ita fertur dixisse: „Nisi per Vulgariam missi sedis apostolicae venissent, nec faciem meam nec Romam diebus vitae suae viderent.“ Illi vero per XL dies illic residentes, ut cognoverunt quia hoc imperator Grecorum fieri iusserat […].“ 14 Ebd., S. 165: „Gloriosus autem Vulgarum rex fidei tanta cepit flagrare monitis huius pii patris illectus constantia, ut omnes a suo regno polens alienigenas, prefatorum apostolicorum solummodo predicatione usus missorum, pascuis vite aeternae iugiter refici nempe decreverit, unumque ex his, Formosum, vita et moribus episcopum, sibi dari archiepiscopum expetiverit.“ 15 Ebd., S. 165: „Tunc iterum legatos suos Romam direxit, et inter alia beatissimo papae id ipsum suggerens, ab eius sanctitate pro instructione gentis illius presbiteros postulavit. Ipse vero talibus papa compertis, valde gavisus est, et infinitas Deo laudes rependens, non pauci numeri coram se probavit presbiteros, et quos dignos repperit predicationis gratia Vulgariam direxit. Cum quibus Dominicum Trivensem et Grimaldum Polimartiensem episcopos destinavit; ut quia ipsum Formosum episcopum plebem dimittere sibi creditam non oportebat, ex his presbiteris ad archiepiscopatum qui dignus inveniretur in nomine Domini tandem eligeretur et sedi consecrandus apostolicae mitteretur“; vgl. Stiernon, Konstantinopel, Bd. IV, S. 70; zum kirchenrechtlichen Problem des Bistumswechsels: Sebastian Scholz, Transmigration und Translation. Studien zum Bistumswechsel der Bischöfe von der Spätantike bis zum hohen Mittelalter, Köln 1992 (= Kölner historische Abhandlungen, 37), S. 216; Klaus Herbers, Päpstliche Autorität und päpstliche Entscheidungen an der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert, in: Wilfried Hartmann (Hg.), Recht und Gericht in Kirche und Welt um 900, München 2007 (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 69), S. 7–30, hier S. 18. 16 Franz Dölger, Regesten der Kaiserurkunden des oströmischen Reiches von 565–1453, 1. Teil, Regesten von 565–1025, München 1924 (= Corpus der griechischen Urkunden des Mittelalters und der neueren Zeit, Reihe A, Abt. 1), S. 54, 57. 17 Vgl. Venance Grumel / Jean Darrouzès, Les regestes des actes du Patriarcat de Constantinople, Bd. I, 2, Regestes de 715 à 1043; ebd., Bd. I, 3, Regestes de 1043 à 1206, Paris 21989 (= Le partriarcat Byzantin, Sér. 1), Nr. 526.

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fochtene Erhebung des Patriarchen Photios behandelte. Die Konzilsversammlung fasste sogar den Beschluss, den Papst Nikolaus I. abzusetzen.18 Angesichts dieser Zuspitzung war der Papst zum umfassenden Kampf bereit, der neben den konkurrierenden Interessen mit Byzanz in Süditalien auch den Einfluss auf Bulgarien betraf. In einem wichtigen Brief an Erzbischof Hinkmar von Reims und den westfränkischen Episkopat rief Papst Nikolaus I. kurz vor seinem Tod am 23. Oktober 867 dazu auf, gegen die Griechen einzuschreiten. Der baldige Tod des Papstes und neue Entwicklungen ließen aber die Bulgaren auf die Seite von Byzanz schwenken – nach 867 zeichnet sich die Entwicklung ab, die dann 869 auf dem schon genannten Konzil von Konstantinopel bekräftigt wurde.19 2. HINTERGRÜNDE War das Ringen des Westens um Bulgarien nur ein kurzes, zum Scheitern verurteiltes Intermezzo? Im Ergebnis ja, aber es fragt sich, ob dabei das Lehrschreiben des Papstes eine entscheidende Rolle gespielt hat. Liest man die 106 Kapitel aufmerksam, so scheinen sie von theologisch und kanonistisch gebildeten Helfern des Papstes, vielleicht sogar allein von Anastasius Bibliothecarius,20 verfasst worden zu sein und bieten deshalb auch ein Kompendium zur eigenen Selbstvergewisserung bzw. zur besseren Instruktion der Legaten, die das Antwortschreiben mitnahmen und gegebenenfalls in Bulgarien Rede und Antwort stehen mussten. Wichtiger waren mögliche Einfluss- und Machtinteressen. Der westliche Kaiser, Ludwig II., der weitgehend in Italien agierte, forderte offensichtlich seinen Anteil von den Geschenken, die Boris nach Rom geschickt hatte. Die Annales Bertiniani berichten darüber, dass Nikolaus arma und Geschenke des Boris ins Beneventanische schickte, sich aber – wie die in Westfranken etwa zeitgleich verfasste Quelle enigmatisch vermerkt – „wegen einiger Dinge entschuldigen ließ“21. Bedeutete das Ringen um Bulgarien vielleicht auch ein Ringen der beiden Kaiser und nicht nur eine Auseinandersetzung der westlichen und östlichen Kirchen? Dies ist kaum zu entscheiden, weil der schwache Hinweis der Annalen kaum genügen kann, um ein tiefergehendes Interesse belastbar zu belegen. War aber der Bulgarenfürst Boris-Michael wirklich der theologischen Aussagen wegen an engeren Beziehungen zu Rom interessiert? Liest man einige Passa18 Dvornik, The Photian Schism, S. 121; Grumel / Darrouzès, Regestes, Nr. 498 und 501; vgl. künftig: Böhmer / Herbers, Papstregesten, Nr. 845#. 19 Stiernon, Konstantinopel, S. 289–341; Thümmel, Die Konstantinopeler Konzilien, S. 437– 458. 20 Vgl. bereits unter Übernahme früherer Vorschläge: Ernst Perels, Nikolaus I. und Anastasius Bibliothecarius, Berlin 1920, S. 307, Anm. 3, sowie zusammenfassend: Heiser, Responsa, S. 69–72. 21 Annales Bertiniani. Les Annales de Saint-Bertin, hg. von Félix Grat / Jeanne Vielliard / Suzanne Clémencet, Paris 1964, S. 134: „et de quibusdam excusationem mandauit.“ Die excusatio will Johannes Haller: Nikolaus I. und Pseudoisidor, Stuttgart 1936, S. 81 mit „höfliche Weigerung“ übersetzen.

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gen des Lehrschreibens sowie den Bericht des Liber pontificalis genauer, so ergibt sich eine Perspektive, die bisher zwar zuweilen schon eingebracht, aber selten quellenmäßig rückgebunden wurde. Boris wollte vor allem eine unabhängige Kirche, die weder Byzanz noch Rom in größerem Maße unterstand.22 In vier Schritten lässt sich diese Deutung erhärten. 1. Liest man die Kapitel 72, 73 und 92 des Lehrschreibens genauer, so werden nicht nur die Ansichten aus der päpstlichen Umgebung, sondern auch die Wünsche Boris-Michaels deutlich: Boris hatte gefragt, ob ein Patriarch geweiht werden könne. Nikolaus vertröstet, erst müssten die Legaten zurückkehren, die über das Wachsen des christlichen Glaubens berichten sollten. Erst solle es einen Bischof geben, dann beim Anwachsen der Gemeinden mehrere Bischöfe, die schließlich eine Person wählen, die wenn nicht Patriarch, so doch Erzbischof genannt werden solle.23 Kapitel 73 beginnt damit, dass Boris fragt, von wem ein Patriarch geweiht werden solle. Hier antwortet Nikolaus, dass an Orten, wo niemals ein Patriarch, Erzbischof oder Bischof gewesen sei, der neue Inhaber von einem Höheren (a maiori) eingesetzt werden müsse – dies sei der Sitz Petri, wo Episkopat und Apostolat ihren Ausgang genommen hätten. Später könnte ein Erzbischof eingesetzt werden, bei dessen Tod dann die von einem Erzbischof geweihten Bischöfe einen neuen Erzbischof wählen und nach der Übersendung des Palliums an Rom weihen dürften, so wie die Erzbischöfe Galliens, Germaniens und anderer Regionen auch verführen.24 In Kapitel 92 schließlich lautete die Frage des Bulgaren: Was sind wahre Patriarchen? Hier spielt Nikolaus die westliche Interpretation aus, dass vor allem Rom, Alexandria und Antiochia Patriarchate darstellten, weil sie mit der Person des Hl. Petrus verknüpft seien, dass Konstantinopel und Jerusalem entsprechend weniger Autorität besäßen.25 Dieser Teil richtet sich indirekt gegen Konstantinopel und kritisiert die dort gängige Pentarchietheorie, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann.26 Wichtiger bleibt, dass Boris selbst offensichtlich mit Blick auf Bulgarien immer wieder nach Patriarchat und Patriarchen fragte, Nikolaus in dem zuletzt zitierten Kapitel Konstantinopel abwertete und mit Blick auf Bulgarien mehrfach auf die Entwicklung zu einer Metropolitanverfassung westlichen Zuschnitts27 verwies. Bischöfe und Erzbischöfe nahmen von Rom ihren Ausgang und sollten vor allem durch die Palliumsvergabe romgebunden bleiben. 22 Das Ziel einer eigenständigen Kirche wollte zum Beispiel schon Haller erkennen: ders., Nikolaus, S. 82f. 23 Perels (Hg.), Nicolai I. papae epistolae, S. 592f. 24 Ebd., S. 593. 25 Ebd., S. 596f. 26 Ferdinand R. Gahbauer, Die Pentarchietheorie. Ein Modell der Kirchenleitung von den Anfängen bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 1993 (= Frankfurter Theologische Studien, 42), bes. S. 152–166. 27 Zur alten und der sich seit dem 9. Jahrhundert durch die Mission entwickelnden romoriertierten neuen Metropolitanverfassung vgl. Matthias Schrör, Metropolitangewalt und papstgeschichtliche Wende, Husum 2009 (= Historische Studien, 494), S. 57f.

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2. Die zweite Dokumentationsschicht, die vornehmlich der Liber pontificalis zum Aufbruch und zur Rückkehr der Legaten bietet, lässt Weiteres erkennen. Die gute Ausgangslage des Papsttums zeitigte offensichtlich keine Erfolge. Die Glaubensboten des ostfränkischen Reichs spielten bald keine Rolle mehr. Hatte das Lehrschreiben nicht die gewünschte Wirkung? Ohnehin fragt sich, wer dieses lateinisch verfasste Lehrschreiben zur Kenntnis genommen hat. Zwar antwortete es auf Fragen, die dem Papst vorgelegt wurden. Diese Antworten mögen die päpstlichen Legaten auch in Bulgarien vorgetragen haben. Vielleicht dienten sie tatsächlich vor allem als Instruktion für die Glaubensboten. Trotz der zuweilen ansatzweise erkennbaren Polemik gegen Byzanz ist es wenig wahrscheinlich, dass diese Responsa den Bulgarenfürsten zu einer Ablehnung der römischen Positionen gebracht haben könnte, denn er forderte ja anschließend sogar Formosus als Erzbischof in Rom an. Kam die Ablehnung dann im zweiten Schritt vielleicht deshalb, weil der Papst Formosus – als Bischof von Porto – für eine Translation nicht „freigab“? Die Entscheidung des Bulgarenfürsten dürften somit nicht nur religiöse Inhalte beeinflusst haben, sondern auch die Frage, wie unabhängig er angesichts der missionarischen Aktivitäten der Griechen auch von der staatlichen Struktur des byzantinischen Reiches bleiben konnte. Der Patriarch Photios von Konstantinopel hatte das Ansinnen nach einem eigenen Patriarchen für Bulgarien wohl abgelehnt.28 Konnte er – so vielleicht das Kalkül von Boris – bei Papst Nikolaus eine günstigere Antwort erreichen? Die Anfrage im Liber pontificalis29 zeigt erneut, wie eindringlich Boris nach einem eigenen Kirchenoberhaupt strebte. Ließ schon eine genaue Lektüre des Lehrschreibens dies beim ersten Romkontakt erkennen, so wird im Liber pontificalis deutlich, wie sehr Nikolaus Missionierung wollte, Boris hingegen Strukturen verlangte. Das angebliche Zugeständnis des Papstes, dass ein Erzbischof gewählt werden könne, blieb erstaunlich vage und ließ offen, von wem und wie die Wahl erfolgen sollte. 3. An diesen „Konzessionen“ des Papstes zeigt sich, dass er von rechtlichen Positionen abrückte, vielleicht weil die Konkurrenz Roms und Byzanz’ im Kampf um Bulgaren die eindeutige Hintergrundmusik war. Seit den muslimischen Eroberungen im 7. und 8. Jahrhundert war das byzantinische Territorium geschrumpft. Die Möglichkeiten, diese Verluste in Südosteuropa auszugleichen, bestimmte offensichtlich die Politik der oströmischen Kaiser seit dem 8. Jahrhundert, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Das Interesse am Illyricum und Süditalien hatte schon zuvor Diskussionen ausgelöst.30 Liest man die Bemerkungen des Liber pontificalis aufmerksam, so ging es in Bul28 Vgl. zu den theologischen Positionen des östlichen Schreibens: Grumel / Darrouzès, Regestes, Nr. 481. 29 Liber pontificalis, Bd. II, S. 165; vgl. die Zitate oben in Anm. 14 und 15. 30 Vgl. hierzu zuletzt zusammenfassend: Florian Hartmann, Hadrian I. (772–795). Frühmittelalterliches Adelspapsttum und die Lösung vom byzantinischen Kaiser, Stuttgart 2006 (= Päpste und Papsttum, 34), bes. S. 37–79.

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garien um den Aufbau einer Kirchenprovinz, in der Perspektive der Bulgaren vielleicht sogar um die Errichtung einer autokephalen Kirche gegen die byzantinische Einflussnahme. Sollte dies zutreffen, so war hierfür sicher eine starke Persönlichkeit an der Spitze dieser Kirche notwendig. 4. Deshalb ist schließlich noch zu fragen, inwieweit den direkt beteiligten Personen eine entscheidende Rolle zukam. Vor allem Formosus verdient unser Interesse, denn ihn scheint Boris unbedingt als Patriarchen oder Erzbischof gewünscht zu haben. Auf die ausweichenden Angebote des Papstes ist keine Reaktion aus Bulgarien bekannt. Boris dürfte nicht ohne Grund Formosus für diese Position vorgeschlagen haben, denn er wusste sicherlich, dass gegenüber byzantinischen Ansprüchen ein Bischof wie er bestens geeignet war, die bulgarische Sache zu vertreten. Zumindest lässt dessen Lebens- und Karriereweg vermuten, dass dieser Bischof und spätere Papst (891–896) eine sehr selbstbewusste und eigenständige Persönlichkeit war, die auch künftig von sich reden machen sollte. Unter Nikolaus’ Nachfolger, Hadrian II., war Formosus als Legat in Konstantinopel ebenso beteiligt, wie bei den Verhandlungen im Mai 872 zwischen König Ludwig dem Deutschen und Kaiserin Angilberga.31 Er war mithin für Verhandlungen außerhalb Roms ein ausgewiesener Experte. Diese Fähigkeiten brachten ihn in Konkurrenz zu den Inhabern der Cathedra Petri. Vielleicht wetteiferte Formosus schon 872, bei der Wahl Johannes’ VIII., um das Papstamt. Johannes VIII. exkommunizierte ihn vier Jahre später am 19. April 876 wegen einer angeblichen Verschwörung gegen Kaiser und Papst. Dieses Urteil wurde mehrfach – 876 und 878 – erneuert, jedoch entzog sich der Exkommunizierte durch Flucht ins westfränkische Reich der Vollstreckung. 883/884 wurde Formosus von Papst Marinus I. – einem der Legaten, die auch schon 866 von Nikolaus zu Verhandlungen mit der Ostkirche eingesetzt worden waren32 – in sein Bistum Porto wiedereingesetzt und 891 zum Papst erhoben. Dieser Wechsel vom Bischofssitz Porto auf denjenigen von Rom wurde ihm nach seinem Tod vorgeworfen, denn damit verstieß er gegen das Translationsverbot, auf das schon das Lehrschreiben Papst Nikolaus’ rekurriert hatte.33 Formosus war in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts sicher eine der profiliertesten Persönlichkeiten im Umkreis des Papstes, so dass ein Scheitern der Bemühungen um eine Integration Bulgariens auch an der Person des Formosus gehangen haben könnte. Umgekehrt könnte man sogar vermuten, dass auch Nikolaus I. nicht nur kirchenrechtliche Gründe leiteten, wenn er Formosus in seinem Umfeld behalten wollte. Vielleicht fürchtete der damalige Papst einen zu eigenständig agierenden Erzbi31 Vgl. zu den im Folgenden kurz skizzierten Lebensabschnitten des Formosus zusammenfassend: Klaus Herbers, Formosus, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. V, München 1989, Sp. 655f. sowie: ders., Formose, in: Dictionnaire historique de la Papauté, Paris 1994, S. 691ff.; JeanMarie Sansterre, Formoso, in: Enciclopedia dei Papi, Bd. II, Rom 2000, S. 41–47 (alle mit Quellen und der wichtigsten Literatur). 32 Vgl. hierzu vor allem: Liber pontificalis, Bd. II, S. 164, weitere Belege künftig bei Böhmer / Herbers, Papstregesten, zu 14. November – Dezember 866. 33 Hierzu vor allem: Scholz, Transmigration, zu Formosus S. 216–242, bes. 216f.

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schof in Bulgarien, wie es Formosus zweifelsohne im entsprechenden Umfeld geworden wäre. 3. KONSEQUENZEN UND ERINNERUNGEN Blickt man auf die unmittelbaren Konsequenzen, so waren diese einschneidend. Da sich Byzanz und die östliche Kirche in ihrem Selbstverständnis so sehr bedroht fühlten, kam es noch im August/September 867 zu einer Synode in Konstantinopel, auf der Papst Nikolaus abgesetzt wurde.34 Als Begründung wurden zwar in den meisten Notizen hierzu Beschwerden aus Italien und der Streit um Photios genannt, aber der Streit um Bulgarien scheint zumindest noch einmal die Synodalentscheidung in Konstantinopel maßgeblich beeinflusst zu haben, wie schon Dvornik wahrscheinlich gemacht hat.35 Noch einschneidender scheinen die Konsequenzen im Westen für die Formierung eines lateinischen Europa gewesen zu sein, denn noch in Unkenntnis dieses Beschlusses wendete sich Nikolaus im Herbst 867 mit dem bereits erwähnten, von kämpferischem Vokabular geprägten Brief an die Bischöfe des Westens. Dabei richtete er sich an die „pars, quae Latina uti dinoscitur lingua“, wollte also wohl in der Auseinandersetzung mit Rekurs auf eine gemeinsame Sprache ein „WirGefühl“ der lateinischen Christenheit fördern. Hier wurde eine lateinischsprachige Christenheit konstruiert. Der Text wird über weite Strecken von militärischem Vokabular beherrscht: So solle zum Beispiel den falschen Wurfspießen der Griechen der Schild der Wahrheit entgegengehalten werden.36 Das Vokabular lässt damit den Aufruf zum Kampf („debellare, hostes, phalanges hostium“) erkennen. Die lateinische Christenheit formierte sich hier in Abgrenzung von Byzanz. Was aber an Abweichungen römischer von griechischen Traditionen im Lehrschreiben Nikolaus I. von 866 erkennbar wird,37 sollte nun im karolingischen Reich von

34 Vgl. die Regesten in: Grumel / Darrouzès, Regestes, Nr. 498–501. 35 Vgl. Dvornik, The Photian Schism, S. 120–131, vgl. an weiterer Literatur: Harald Zimmermann, Papstabsetzungen des Mittelalters, Graz 1969, S. 46; Jean-Marie Sansterre, Les représentants des patriarcats au concile photien d’août à septembre 867, in: Byzantion, 1973, 43, S. 195–228; Joseph L. Wieczynski, The Anti-Papal Conspiracy of the Patriarch Photius in 867, in: Byzantine Studies, 1974, 1, S. 180–189, bes. S. 185f.; Wilfried Hartmann, Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien, Paderborn 1989 (= Konziliengeschichte, Reihe A: Darstellungen), S. 290; Daniel Stiernon, Interprétations, Résistances et Oppositions en Orient, in: Michele Maccarone (Hg.), Il primato del vescovo di Roma nel primo millennio. Ricerche e testimonianze. Atti del Symposium Storico-Teologico, Roma, 9–13 ottobre 1989, Vatikan 1991 (= Pontificio Comitato di Scienze Storiche. Atti e documenti, 4), S. 661–705, bes. S. 694. 36 JE 2879; Perels (Hg.), Nicolai I. papae epistolae, S. 600–609, hier S. 604: „[…] falsis illorum iaculis veritatis clipeum opponamus […].“ Der Brief thematisiert auch den angeblichen Neid um Bulgarien expressis verbis. 37 Vgl. oben Abschnitt 2.

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versierten Theologen niedergelegt werden – für das Konzil von Worms 868 sind entsprechende Schriften überliefert.38 In Bezug auf Bulgarien wurde damit spätestens aber 869/870 der Schlusspunkt gesetzt. Die Erinnerungen an die Ereignisse von 866 haben zumindest einige geringe Spuren hinterlassen. In der Historiographie der Zeit hat Formosus als Bulgarienmissionar Erwähnung gefunden. Die meisten im karolingischen Reich und den Nachfolgereichen verzeichneten Nachrichten bis ins 13. Jahrhundert verweisen lediglich auf den päpstlichen Auftrag an die Glaubensboten und die kurz darauf eintreffenden Missionare aus dem Reich Ludwigs des Deutschen.39 Interessanter sind die sogenannten formosianischen Streitschriften, denn nach dem Tod des Formosus entwickelte sich eine lange Debatte über die Rechtmäßigkeit des Pontifikates von Formosus, der aus Ehrgeiz, nicht aus Notwendigkeit den Bischofssitz gewechselt habe, und die daraus sich ergebende Frage der Gültigkeit der von Formosus gespendeten Weihen. Diese Streitschriften (besonders „Eugenius Vulgarius“ und die „Invectiva in Romam“) heben den Erfolg der Missionsbemühungen des Formosus in Bulgarien hervor.40 Die Erinnerung war offensichtlich stark genug, um sogar in einen Boethiuskommentar des 9. Jahrhunderts aufgenommen zu werden, der die Entsendung des Formosus’ im Zusammenhang mit seiner Erörterung der HeiligGeist-Lehre vermerkt.41 38 So wird in Paris, Bibliothèque nationale de France, lat. 2864, der Papstbrief mit den antigriechischen Schriften des Aenaeas von Paris überliefert, vgl. Herbers, Nikolaus und Photios, S. 70f. und künftig Böhmer / Herbers, Papstregesten, zu 23. Oktober 867. 39 Annales Bertiniani a. 866, S. 134; Annales Fuldenses a. 867, hg. von Friedrich Kurze (Monumenta Germaniae Historica SS rer. G. [7], Hannover 1891, Nachdruck 1993, S. 65); Annales Xantenses a. 868, hg. von Bernhard von Simson (Monumenta Germaniae Historica SS rer. G. [12], Hannover 1909, Nachdruck 2003, S. 25); Regino von Prüm: Chronica a. 868, hg. von Friedrich Kurze (Monumenta Germaniae Historica SS rer. G. [50]), Hannover 1890, Nachdruck 1989, S. 95); Hermann von Reichenau, Chronik, hg. von Georg Heinrich Pertz (Monumenta Germaniae Historica SS V, Hannover 1844, Nachdruck 1985, S. 67–133, hier S. 106); Bernold von Konstanz, Chronik a. 866, hg. von Georg Heinrich Pertz (Monumenta Germaniae Historica SS V, Hannover 1844, Nachdruck 1985, S. 385–467, hier S. 420); Sigebert von Gembloux, Chronographia a. 865, hg. von Ludwig Bethmann (Monumenta Germaniae Historica SS VI, Hannover 1844, Nachdruck 1980, S. 268–374, hier S. 341); Vinzenz von Beauvais, Speculum Quadruplex, Bd. IV: Speculum historiale, Douai 1624, Nachdruck 1965, S. 975; vgl. weiterhin: Andreas von Bergamo, Historia, hg. von Georg Waitz (Monumenta Germaniae Historica SS rer. Lang, Hannover 1878, Nachdruck 1988, S. 220–230, hier S. 227); synthetisierend: Böhmer / Mühlbacher, Regesta Imperii, Nr. 1462f., Egon Boshof, Regesten Passau, Nr. 143. 40 Verurteilungssentenz des Papstes Johannes VIII. über Formosus von 876, in: Ernst Dümmler, Auxilius und Vulgarius, Leipzig 1866, S. 157; Eugenius Vulgarius, De causa et negotio Formosi papae, hg. von Jean-Paul Migne (= Patrologia Latina, 129), Paris 1879, Sp. 1101– 1110, hier Sp. 1109; Invectiva in Romam, hg. von Ernst Dümmler, in: ders., Gesta Berengarii imperatoris, Beiträge zur Geschichte Italiens im Anfang des 10. Jahrhunderts, Halle an der Saale 1871, S. 139, 147. 41 Boethiuskommentar des 9. Jh., hg. von Georg Schepss, abgedruckt in: ders., Geschichtliches aus Boethiushandschriften, in: Neues Archiv der Gesellschaft für Ältere Deutsche Geschichtskunde, 1886, 11, S. 126–140, hier S. 129.

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Schließlich ist ein Bildzeugnis in einer Handschrift von Ciampini42 eindrucksvoll, aber umstritten. Es gibt in einer frühneuzeitlichen Überlieferung eine Darstellung vom Monte Caelio in Rom wieder. Ivan Dujþev hat das Bild in Zusammenhang mit der Bulgarenmission des Formosus gebracht,43 während Gerhart Ladner den dargestellten Herrscher eher mit Kaiser Wido, Lambert oder Arnulf vergleicht und deshalb die Darstellung nicht auf die Bulgarenmission des Formosus, sondern auf einen späteren Zeitpunkt seines Pontifikats beziehen will,44 jedoch sind für beide Ansichten keine endgültigen Beweise möglich.

War 866 ein Schlüsseljahr? Für Bulgarien gewiss, für die Formierung der lateinischen und griechischen Christenheit eher eine Etappe, denn der Weg der Auseinanderentwicklung setzte sich fort – 1054 und 1204 sind weitere wichtige Daten in dieser Hinsicht. Obwohl aber weniger die Daten selbst, sondern Personen geschichtliche Prozesse maßgeblich beeinflussen, waren die Zusammenhänge des Jahres 866 besonders geeignet, um Personen zwischen den Welten, Experten des Fremden wie Formosus, in den Blick zu rücken, denn Grenzgänger und Vermittler zwischen Ost und West brauchen wir immer wieder.

42 Bibliotheca Apostolica Vaticana, Rom, Ms. Lat. 7849 fol. 5r. 43 Ivan Dujþev, Uno studio inedito di mons. G. G. Ciampini sul papa Formoso, in: ders. (Hg.), Medioevo Bizantino-Slavo, Bd. 1, Saggi di storia politica e culturale, Rom 1965 (= Storia e letteratura, 102), S. 149–181; vgl. ferner: ders., Testimonianza epigrafica della missione di Formoso, vescovo di Porto, in: Bulgaria (a. 866/7), in: Epigraphica, 1950, 12, S. 49–59, Nachdruck in: Medioevo Bizantino-Slavo, Bd. 1, S. 183–192. 44 Gerhart Burian Ladner, Die Papstbildnisse des Altertums und des Mittelalters, 3 Bde., Rom 1941, 1970, 1984 (= Mon. di Antichità Cristiana 2, Ser. 4), Bd. 1, S. 155–158, Bd. 3, S. 35f. mit Besprechung weiterer Literatur.

DIE GOLDENE BULLE VON 1356 IN DER FRÜHEN NEUZEIT* Helmut Neuhaus 1. „Omne regnum in se divisum desolabitur: nam principes ejus facti sunt socii furum.” So konnte Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) den Beginn der Goldenen Bulle Kaiser Karls IV. (1316–1378) von 1356 im Jahre 1763 auswendig zitieren, wie er sich ein halbes Jahrhundert später bei der Niederschrift von „Dichtung und Wahrheit“ erinnerte.1 Bekannt geworden war er mit dem Text bei dem Frankfurter Juristen, Bürgermeister und Rechtshistoriker Johann Daniel von Olenschlager (1711–1778),2 als dieser mit seiner 1766 publizierten „Neue[n] Erläuterung der Guldenen Bulle Kaysers Carls des IV“3 beschäftigt war, rechtzeitig vor Wahl und Krönung Kaiser Josephs II. (1741–1790), für die die damals schon über 400 Jahre alte Goldene Bulle noch immer gültig und von zentraler, unabweisbarer Bedeutung war. Gehört hatte der junge Goethe von diesem Dokument schon früher bei Besichtigungen des Kaisersaales im „Römer“ genannten Rathaus seiner Geburtsstadt vor dem Gemälde Kaiser Karls IV. und gesehen hatte er das Frankfurter Exemplar aus dem Jahre 1366 auch schon „beim Vorzeigen der goldnen Bulle an einige vornehme Fremden auf dem Rathause“4. Auch wenn zum Beispiel dem schottischen Arzt und Reiseschriftsteller John Moore (1729–1802) die Besichtigungsgebühr in Höhe von einem Dukaten „ein ziemlich hoher Preis für eine alte Handschrift“ war, „die kaum Einer unter Hun*

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Der folgende Beitrag ist Helmut Altrichter zur Vollendung seines 65. Lebensjahres in herzlicher Verbundenheit gewidmet! Er geht zurück auf meine Abschiedsvorlesung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg am 22. Juli 2009, an der ich 20 Jahre lang mit dem Jubilar tätig sein durfte im Geiste nahe beieinander liegender Vorstellungen von universitärer Forschung und Lehre und von akademischer Selbstverwaltung, die uns aus unserem Verständnis von Universität heraus selbstverständliche Verpflichtung war. Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, hg. von Klaus-Detlef Müller, Frankfurt am Main 1986 (= Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. I, 14), 1. Teil, 4. Buch, S. 174. Robert Steiger, Goethes Leben von Tag zu Tag. Eine dokumentarische Chronik, Bd. 1, 1749– 1775, Zürich 1982, S. 96. Johann Daniels von Olenschlager, Neue Erläuterung der Guldenen Bulle Kaysers Carls des IV. aus den älteren Teutschen Geschichten und Gesezen zur Aufklärung des Staatsrechts mittlerer Zeiten als dem Grunde der heutigen Reichsverfassung, 2 Bde., Frankfurt am Main 1766. Goethe, Aus meinem Leben, 1. Teil, 1. Buch, S. 27; vgl. allgemein: Michael Niedermeier, Goethe und die Goldene Bulle, in: Ulrike Hohensee et al. (Hg.), Die Goldene Bulle. Politik – Wahrnehmung – Rezeption, Bd. 2, Berlin 2009 (= Berichte und Abhandlungen, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Sonderbd. 12), S. 1121–1135.

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derten lesen kann und die noch weniger Leute verstehen können“5, das dortige aus 44 Pergamentblättern bestehende handgeschriebene Nürnberger Gesetzbuch Kaiser Karls IV. vom 10. Januar 1356, das zusammen mit den Metzer Gesetzen vom Weihnachtstag desselben Jahres die Goldene Bulle bildet,6 fand lange Zeit großes Interesse, ja war ein ausgesprochenes Reiseziel in der Messestadt am Main, wie Reiseberichte seit dem späten 17. Jahrhundert belegen. Zur Besichtigung der Örtlichkeiten von Wahl und (seit 1562) Krönung der Römischen Könige – also der Wahlkapelle in Sankt Bartholomäus, der Krönungskirche selbst, des Römers und des dazwischen liegenden Römerberges – gehörte auch die der Goldenen Bulle, die wohl meist in deutscher Übersetzung zu sehen war. John Moore sprach in seinem „Abriß des gesellschaftlichen Lebens und der Sitten in Frankreich, der Schweiz und Deutschland In Briefen entworfen“ von 1779 davon, dass „man […] es für eine große Nachläßigkeit halten [würde], wenn sie [die Reisenden] nicht die berühmte goldene Bulle, die dort [im Römer] aufs sorgfältigste verwahrt wird, besähen.“7 Bekam man das lateinische Original zu Gesicht, wurde es in Gegenwart zweier Ratsherren und des Ratsschreibers gezeigt, aber mehr als das „schmutzige und runzlichte Stück Pergament“ – so der Reisende J. de Blainville zu Beginn des 18. Jahrhunderts8 – interessierte stets vor allem die mit Wachs gefüllte bulla aurea mit einem Durchmesser von etwa sechs Zentimetern und einer Dicke von sechs Millimetern, die „guldene Büchse“, wie sie genannt wurde. Auf der Vorderseite zeigt sie den thronenden Kaiser Karl IV. mit Zepter und Reichsapfel, rechts von ihm einen Wappenschild mit Reichsadler, links einen solchen

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Hier zitiert nach Michael Matthäus, „Reichsgrundgesetz“ oder nur „ein nichtsnützig Stück Pergament“? Die Rezeption der Frankfurter Goldenen Bulle in Wissenschaft und Literatur, in: Evelyn Brockhoff / Michael Matthäus (Hg.), Die Kaisermacher. Frankfurt am Main und die Goldene Bulle 1356–1806. Aufsätze, Frankfurt am Main 2006, S. 170–196, hier S. 180. Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. vom Jahre 1356. Text, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Zentralinstitut für Geschichte, bearbeitet von Wolfgang D. Fritz, Weimar 1972 (= Fontes Iuris Germanici Antiqui in usum scholarum ex Monumentis Germaniae Historicis separatim editi, 11: Bulla Aurea Karoli IV. Imperatoris Anno MCCCLVI Promulgata); zum Frankfurter Exemplar ebd., S. 20f. Die historisch-kritische Ausgabe der Goldenen Bulle in lateinischer und frühneuhochdeutscher Sprache ist dann erschienen in: Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, Bd. 11, Dokumente zur Geschichte des Deutschen [sic!] Reiches und seiner Verfassung 1354–1356, bearbeitet von Wolfgang D. Fritz, Weimar 1978–1992 (= Momumenta Germaniae Historica Leg. IV Const XI), S. 535–633. Die Goldene Bulle. Das Reichsgesetz Kaiser Karls IV. vom Jahre 1356. Deutsche Übersetzung von Wolfgang D. Fritz, geschichtliche Würdigung von Eckhard Müller-Mertens, Weimar 1978. Siehe auch neuerdings Michael Matthäus, Das Frankfurter Exemplar der Goldenen Bulle, in: Die Kaisermacher, S. 40–63; wichtige ältere Literatur: Karl Zeumer, Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. Erster Teil: Entstehung und Bedeutung der Goldenen Bulle, Weimar 1908 (= Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit, 2.1). Hier zitiert nach Matthäus, „Reichsgrundgesetz“, S. 180. Ebd., S. 178.

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mit dem böhmischen Löwen. Die Rückseite verweist stark stilisiert auf die Stadt Rom als Haupt der Welt.9 Für Olenschlager, der in seiner „Neue[n] Erläuterung“ zu Beginn auch den Text der Goldenen Bulle auf der Grundlage des 400 Jahre alten Frankfurter Exemplars abdruckte, stand die Bedeutung dieser „Verfassungsurkunde“ aus vorverfassungsgeschichtlicher Zeit außer Frage, denn er formulierte zu Beginn seiner „Vorrede“: „Die Guldene Bulle Kaysers Carls des IV, welche noch heutiges Tags unter unsern Reichsgrundgesetzen den ersten Platz hat, enthält so viele wichtige Überbleibsel aus dem Teutschen Staatsrechte mittlerer Zeiten, daß man sie fast für einen kurzen Innbegriff desselbigen ansehen kann.“10 Und auch auf Goethe übte sie eine Faszination aus, wenn ihn in Olenschlagers Werk von 1766, das er bei der Arbeit an „Dichtung und Wahrheit“ im Jahr 1811 wiederholt aus der Bibliothek in Weimar auslieh,11 das Frontispiz, das in barocker Version eine Ansicht des Metzer Hoftages vom Weihnachtstag 1356 nachempfand,12 zu seiner im Juli 1831 verfassten Szene „Des Gegenkaisers Zelt, Thron“ im 4. Akt des 2. Teils des „Faust“ inspirierte, in der der Kaiser, die Kurfürsten in ihren Erzämtern und der Reichserzkanzler auftreten, den „Bestand […] von Haus und Hof“ zu befördern.13 Der Dichter verdankte Olenschlager und seinem Werk – dem letzten diesem vornehmsten Reichsgrundgesetz vor dem Ende des Heiligen Römischen Reiches gewidmeten – tiefe Einblicke in dessen Gebilde, und er konnte sich als miterlebender Zeitgenosse auch nicht der Faszination entziehen, die von der Wahl Josephs II. zum Römischen König zu Lebzeiten seines Vaters Franz I. (1708–1765) im Jahre 1764 ausging, aber dem 15-jährigen Goethe missfiel in der Erinnerung, „wenn ich nun zu Hause die innern Verhandlungen zum Behuf meines Vaters abschreiben und dabei bemerken mußte, daß hier mehrere Gewalten einander gegenüber standen, die sich das Gleichgewicht hielten, und nur insofern einig waren, als sie den neuen Regenten noch mehr als den alten zu beschränken gedachten; daß jedermann sich nur insofern seines Einflusses freute, als er seine Privilegien zu erhalten und zu erweitern, und seine Unabhängigkeit mehr zu sichern hoffte“14. Der auswendig gelernte Beginn der Goldenen Bulle mag ihm dabei gegenwärtig gewesen sein, ebenso wie bei der Formulierung der berühmten, von Reichshistorikern oft zitierten Frage des Studenten Frosch in der Szene „Auerbachs Keller in

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Michael Matthäus, Die Kaisergoldbulle Karls IV. im Kontext der Entwicklung deutscher Herrschersiegel im Mittelalter, in: Die Kaisermacher, S. 64–75. Olenschlager, Neue Erläuterung, s. p. Goethe, Aus meinem Leben, S. 1115 (zu 174,2f.). Vgl. Johannes Kunisch, Formen symbolischen Handelns in der Goldenen Bulle von 1356, in: Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Vormoderne politische Verfahren, Berlin 2001 (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 25), S. 263–280, hier S. 269. Johann Wolfgang Goethe, Faust. Texte, hg. von Albrecht Schöne, Frankfurt am Main 1994 (= Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. I, 7/1), S. 417–426, hier Vers 10934; siehe dazu auch den Kommentar-Band, ebd., Bd. 7/2, S. 688–701. Goethe, Aus meinem Leben, 1. Teil, 5. Buch, S. 201.

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Leipzig“ im 1. Teil des „Faust“: „Das liebe heil’ge Röm’sche Reich, / Wie hält’s nur noch zusammen?“15 Mit Sicherheit war die Goldene Bulle von 1356 über 450 Jahre bis 1806 hinweg für den langen Bestand dieses Reiches – trotz Reformation und Dreißigjährigen Krieges – mitverantwortlich, die „Magna Charta of Germany“, wie sie der amerikanische Historienmaler John Trumbull (1756–1843) bei seinem FrankfurtBesuch Ende des 18. Jahrhunderts bezeichnet hatte, die dort „sacredly“ aufbewahrt würde.16 Und wie wichtig sie bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches blieb, beleuchtet die Tatsache, dass die Ausfertigung für den Trierer Kurfürsten Boemund II. von Saarbrücken (1290–1367) nach dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 für die letzten drei Jahre an den neu ernannten Kurfürsten Friedrich I. von Württemberg (1754–1816) überging, was erklärt, warum sich das Trierer Exemplar seitdem im – heutigen – Hauptstaatsarchiv in Stuttgart befindet.17 Im Zuge der Aufhebung des Kurfürstentums Trier hörte auch die Fürstpropstei Ellwangen auf zu bestehen, dessen letzter Fürstpropst in Personalunion der letzte Trierer Kurfürst – Erzbischof Clemens Wenzeslaus von Sachsen (1739– 1812) – war. Da Ellwangen gemäß § 6 des Reichsdeputationshauptschlusses an den Herzog von Württemberg gefallen war,18 machte dieser als Kurfürst seinen Anspruch auf die für den Kurfürsten von Trier 1356 ausgefertigte Goldene Bulle geltend und setzte ihn durch.19 Das Nürnberger Gesetzbuch vom 10. Januar 1356 und die Metzer Gesetze vom 25. Dezember desselben Jahres, die das Ganze der Goldenen Bulle ausmachen, verweisen angesichts ihrer großen verfassungsrechtlichen Bedeutung auf 1356 als Epochenjahr der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches, gleichgültig, ob man es mit der Kaiserkrönung Karls des Großen 800, mit der Teilung des Frankenreichs 843 im Vertrag von Verdun oder mit der Krönung Ottos I. zum Kaiser 962 beginnen lässt.20 Und 1806 markiert mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches infolge der Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. (1768– 15 16 17 18

Goethe, Faust, S. 90, Verse 2090f. Hier zitiert nach Matthäus, „Reichsgrundgesetz“, S. 180. Die Goldene Bulle, bearbeitet von Wolfgang D. Fritz, S. 13, 20. Vgl. Der Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Februar 1803, in: Kaiser und Reich. Klassische Texte zur Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis zum Jahre 1806, hg., eingeleitet und übertragen von Arno Buschmann, München 1984 (= dtv wissenschaft, Bd. 4384), S. 591–650, hier S. 601, § 6. Siehe auch Ludolf Pelizaeus, Der Aufstieg Württembergs und Hessens zur Kurwürde 1692– 1803, Frankfurt am Main 2000 (= Mainzer Studien zur Neueren Geschichte, 2), S. 284–288. 19 Paul Sauer, König Friedrich I. (1797–1816), in: Robert Uhland (Hg.), 900 Jahre Haus Württemberg. Leben und Leistung für Land und Volk. Mit einem Geleitwort von S. K. H. Carl Herzog von Württemberg, Stuttgart 1984, S. 280–305, hier S. 293; siehe ferner die Beiträge in: Das Königreich Württemberg 1806–1918. Monarchie und Moderne, Stuttgart 2006, vor allem das Kapitel Der schwäbische Zar, S. 47–80. 20 Vgl. dazu die Neuerscheinungen anlässlich des Jubiläumsjahres 2006 bei Thomas Nicklas, Müssen wir das Alte Reich lieben? Texte und Bilder zum 200. Jahrestag eines Endes – Revision der Literatur des Erinnerungsjahres 2006, in: Archiv für Kulturgeschichte, 2007, 89, S. 447–474.

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1835) auch das Ende der Gültigkeit der Goldenen Bulle, wenn der letzte Römische Kaiser in seiner Erklärung vom 6. August 1806 die Unmöglichkeit betonte, „die durch den Wahlvertrag eingegangenen Verpflichtungen ferner zu erfüllen“21; denn auch seine Wahlkapitulation vom 5. Juli 1792 war an erster Stelle der Goldenen Bulle verpflichtet.22 Die letzten 450 Jahre des Heiligen Römischen Reiches waren zugleich die Zeit ihrer Existenz und Gültigkeit, eine lange Dauer, die die Frage nach Kontinuität und Wandel dieses reichsgrundgesetzlichen Dokuments aufwirft. Angesichts der umfangreichen Forschungen zur Entstehungs- und Frühgeschichte der Goldenen Bulle frage ich unter ausgewählten Aspekten nach der Geschichte dieser mittelalterlichen Urkunde in der Frühen Neuzeit, als sich 1356 in reichsverfassungsgeschichtlicher Hinsicht für diese Epoche mitteleuropäischer Geschichte als Schlüsseljahr erwies, die Goldene Bulle als Schlüssel zum Verständnis des Heiligen Römischen Reiches. 2. Was die Reisenden in Frankfurt am Main zu sehen bekamen, war eine im Jahre 1366 auf Kosten der Stadt hergestellte Ausfertigung der Goldenen Bulle, eine Abschrift, die aber den gleichen Rechtscharakter wie die fünf Originale besaß und in der Frühen Neuzeit als „Reichsexemplar“ angesehen wurde. Die Originale waren ein Jahrzehnt zuvor für die im Mittelpunkt des Textes stehenden Kurfürsten ausgefertigt worden, denn die Goldene Bulle war vor allem eine Ordnung für die Wahl des Römischen Königs und zukünftigen Römischen Kaisers allein durch die sieben Kurfürsten, deren Rechtsstellung im Reich und Vorrangstellung gegenüber den übrigen Reichsfürsten und Reichsständen fixiert wurde. Bemerkenswerterweise gab es nur fünf Originale für die Kurfürsten von Mainz, Köln, Trier, Böhmen und der Pfalz, während die Kurfürsten von Brandenburg und von Sachsen auf den Besitz dieser so wichtigen Urkunde wohl aus Kostengründen verzichteten und sich mit der früheren Verbriefung ihrer kurfürstlichen Rechte begnügten.23 Die Reichsstadt Frankfurt ließ sich ihr Exemplar in lateinischer Sprache anfertigen, denn sie benötigte einen vollständigen rechtskräftigen Text – es hat nie ein „Teutsches Exemplar“ gegeben, „von dem Kayser und Reich genehmgehalten“24 –, da sie gleich im ersten Kapitel der Goldenen Bulle als Ort der Wahl eines 21 Die Erklärung Kaiser Franz’ II. über die Niederlegung der deutschen [sic!] Kaiserkrone vom 6. August 1806, in: Kaiser und Reich, S. 653–655, hier S. 564. 22 Es fehlt noch immer eine historisch-kritische Edition aller Wahlkapitulationen der Römischen Könige und Kaiser von 1519 bis 1792; vgl. hier Die kaiserliche Wahlkapitulation Seiner Majestät Franz des Zweyten mit kritischen Anmerkungen und einem Versuche ihres Vortrags in gereinigter Kanzelley-Sprache des jetzigen Zeitalters von D. Friedrich August Schmelzer, Professor zu Helmstädt, Helmstädt 1793, Articulus II., § 3, S. 15–17: „Wollen die goldene Bulle […] stet, fest und unverbrüchlich halten […].“ 23 Die Goldene Bulle, bearbeitet von Wolfgang D. Fritz, S. 13–21. 24 Johann Jacob Moser, Teutsches Staats-Recht, 1. Teil, Nürnberg 1737, S. 92, § 8 (im 1. Buch, Cap. 5, „Von der güldenen Bull“, S. 83–107). Siehe auch Johann Jacob Moser, Von Teutsch-

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Römischen Königs nach dem Ableben des Vorgängers bestimmt worden war.25 Damit waren unter anderem die eidlich abzulegenden Verpflichtungen verbunden, die Kurfürsten beziehungsweise ihre rechtmäßigen Gesandten sowie deren begrenztes Gefolge zu schützen und während der Wahlverhandlungen sowie der Wahl selbst keine weiteren Fremden in die Stadt hereinzulassen, gegebenenfalls die Ausreise unbefugt Anwesender zu veranlassen.26 Ebenso ließ sich die Reichsstadt Nürnberg zwischen 1366 und 1378, dem Todesjahr Kaiser Karls IV., ebenfalls auf eigene Kosten ein Original – allerdings nur mit Wachssiegel ohne Goldbulle27 – anfertigen, da die Stadt an der Pegnitz als der Ort festgeschrieben war, an der jeder neugewählte Römische König seinen ersten Hoftag abhalten sollte,28 aus dem sich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts durch Anlagerung der Versammlungen der Kurfürsten der frühneuzeitliche Reichstag entwickelte.29 Andererseits verzichtete die Reichsstadt Aachen, die in der Goldenen Bulle als Ort der Krönung jedes neuen Römischen Königs verankert wurde,30 auf ein eigenes Original des Reichsgrundgesetzes. Für eine außerordentlich weite Verbreitung der Goldenen Bulle sorgten schon vor den ersten, aus den Jahre 1474 und 1475 aus Nürnberger und Baseler Druckereien stammenden Inkunabeln eine Vielzahl von Abschriften des lateinischen Textes und Übersetzungen ins Deutsche. Marie-Luise Heckmann hat jüngst 172 Abschriften aus dem späten Mittelalter nachgewiesen, darunter neun im Nürnberg des 15. Jahrhunderts.31 Bevorstehende Königswahlen veranlassten dann immer wieder neue Drucke, auch den ersten illustrierten deutschen Druck von 1485 in Straßburg. Die große verfassungsrechtliche Bedeutung der Goldenen Bulle scheint aber von den betroffenen Kurfürsten selbst erst ein Jahrhundert nach ihrer Entstehung verstanden worden zu sein und erklärt dann das verfassungspolitische Handeln vor allem des Mainzer Kurfürsten Berthold von Henneberg (1441–1504) gegenüber König Maximilian I. (1459–1519) an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. Der Reichserzkanzler hatte begriffen, dass die Goldene Bulle den

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land und dessen Staats-Verfassung überhaupt, Stuttgart 1766 (= Johann Jacob Moser, Neues teutsches Staatsrecht, 1), S. 217, § 6: „Die teutsche und andere Uebersetzungen hingegen haben keine Rechts-Kraft.“ Die Goldene Bulle, bearbeitet von Wolfgang D. Fritz, [Capitulum XXIX], § [1], S. 87; Capitulum I, § [15], S. 51. Ebd., §§ 17–20, S. 52f. Ebd., S. 21. Ebd., [Capitulum XXIX], § [1], S. 87. Wegweisend Peter Moraw, Versuch über die Entstehung des Reichstags, in: Hermann Weber (Hg.), Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich, Wiesbaden 1980 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte, Beiheft 8), S. 1–36. Die Goldene Bulle, bearbeitet von Wolfgang D. Fritz, [Capitulum XXIX], § [1], S. 87. Marie-Luise Heckmann, Zeitnahe Wahrnehmung und internationale Ausstrahlung. Die Goldene Bulle Karls IV. im ausgehenden Mittelalter mit einem Ausblick auf die Frühe Neuzeit (mit einem Anhang: Nach Überlieferungszusammenhang geordnete Abschriften der Goldenen Bulle), in: Die Goldene Bulle, S. 933–1042; zu Nürnberg vgl. ebd., S. 936, die Karte (= Abbildung 2). Siehe auch Die Goldene Bulle, bearbeitet von Wolfgang D. Fritz, S. 27–32.

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sieben Kurfürsten ebenso eine gesamtreichische Verantwortung zugemessen hatte wie dem Römischen König (und Kaiser). Aus ihrer Wahrnehmung speiste sich das kurfürstliche Präeminenz-Denken gegenüber allen anderen Reichsständen. Mit der Herausbildung des Ius Publicum Imperii Romano-Germanici zu einer eigenen Wissenschaftsdisziplin im 17. Jahrhundert verbanden sich von Anfang an immer neue Textausgaben und Kommentierungen der Goldenen Bulle, zumal es interpretationswürdige Differenzen zwischen den Originalen – es existierte eben nicht nur ein einziger Text! – und Streitigkeiten wegen eingetretener Veränderungen gab, zum Beispiel infolge des Wechsels der sächsischen Kurwürde innerhalb des Hauses Wettin von der ernestinischen zur albertinischen Linie im Jahr 1547 oder durch den Übergang der pfälzischen Kur auf Herzog Maximilian I. von Bayern (1573–1651) im Jahr 1623 innerhalb des Hauses Wittelsbach. Von den großen Textausgaben und Kommentierungen seien hier nur die des Schweizers Melchior Goldast von Haiminsfeld (1578–1635), des Westfriesen Dominicus Arumäus (1579–1637), des aus Jena stammenden Johannes Limnäus (1592–1663), des Heidelberger Geschichtsprofessors Heinrich Günter Thülemeyer (ca. 1642–1714), der Hallenser Rechtsprofessoren Johann Peter von Ludewig (1668–1743) und Nicolaus Hieronymus Gundling (1671–1729) sowie des bereits erwähnten Frankfurters Johann Daniel von Olenschlager genannt.32 Darüber hinaus war die Goldene Bulle wichtiger Gegenstand in der frühneuzeitlichen Juristenausbildung, wofür zum Beispiel „Johann Jacob Schmaußens Corpus Juris Publici S. R. Imperii Academicum“ ein weit verbreitetes Beispiel ist. Die handbuchartige Textsammlung des Johann Jacob Schmauß (1690–1757) aus dem Jahre 1722 erlebte bis 1794 insgesamt sieben Auflagen, stets um neue Gesetze erweitert und fortlaufend kommentiert.33 Die als Nr. 7 enthaltene „Aurea Bulla Caroli IV. d. a. 1356“ findet sich zudem in der von ihm für den praktischen Gebrauch initiierten „Neue[n] und vollständigere[n] Sammlung der Reichs= Abschiede“ von 1747, bis heute das einzige Werk seiner Art in vorbildlicher Geschlossenheit.34 Generell konnte Johann Stephan Pütter (1725–1807) in seinem dreibändigen Standardwerk „Litteratur des Teutschen Staatsrechts“ feststellen,

32 Vgl. insgesamt Arno Buschmann, Die Rezeption der Goldenen Bulle in der Reichspublizistik des Alten Reiches, in: Die Goldene Bulle, S. 1071–1119; siehe ferner Matthäus, „Reichsgrundgesetz“, und Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800, München 1988, unter anderem S. 214ff., 218ff. 33 Johann Jacob Schmaußens Corpus Juris Publici S. R. Imperii Academicum, enthaltend des Heil. Röm. Reichs deutscher Nation Grund=Gesetze, nebst einem Auszuge der Reichs= Abschiede, anderer Reichs=Schlüsse und Vergleiche, hg. von Gottlieb Schumann und Heinrich Gottlieb Franken. Neue mit den neuesten Gesetzen und kurzen dazu gehörigen Anmerkungen vermehrte Auflage, Leipzig 1794. 34 Neue und vollständigere Sammlung der Reichs=Abschiede, Welche von den Zeiten Kayser Conrads des II. bis jetzo auf den Teutschen Reichs=Tägen abgefasset worden […], 4 Teile, Frankfurt am Main 1747, Nachdruck Osnabrück 1967; der Text der Goldenen Bulle in lateinischer und deutscher Sprache ebd., Teil 1, Nr. XXIV, S. 45–87.

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dass „keines unserer Reichsgrundgesetze […] so häufige Ausleger und Anmerkungsschreiber gefunden [habe], als die goldene Bulle“.35 3. Allen Abschriften und Drucken der Goldenen Bulle bis hin zu den Texten in den Kommentaren der Frühen Neuzeit ist gemeinsam, dass sie den auf einem der Originale von 1356 (oder 1366) beruhenden Text wiedergeben, der keinerlei Veränderungen unterworfen wurde. Ihn meinten die Römischen Könige in ihren 17 Wahlkapitulationen von 1519 bis 1792, wenn zum Beispiel Karl V. (1500–1558) im Jahre 1519 erklärte: „Wir sollen und wellen auch sonderlich die vorgemachten guldin bullen, kuniglich landfriden und ander des heiligen reichs ordnungen und gesetz confirmiren, erneuen“36 oder Franz II. im Jahre 1792 nach der ebenfalls zuerst genannten Goldenen Bulle auch den Augsburger Religionsfrieden von 1555, den Westfälischen Frieden von 1648 oder sämtliche Reichsabschiede und Reichsschlüsse aufzählte.37 Geändert werden durfte sie – wie alle Reichsgrundgesetze – nur im Notfall, denn bei Karl V. heißt es weiter: „und, wo Not dieselben mit Rat Unser und des Reichs Churfursten, Fursten und anderer Stende pessern, wie zu jeder Zeit des Reichs Gelegenheit ervordern wirdet“38, das heißt, Veränderungen der Goldenen Bulle waren nur im Konsens zwischen Römischem König/Kaiser und den Reichsständen möglich. Dazu ist es vor allem hinsichtlich der Zahl der Kurfürsten gekommen,39 weshalb es in der ersten Wahlkapitulation nach dem Westfälischen Frieden von 1648, in der des nie zur Regierung gelangten Ferdinand IV. (1633–1654) vom 2. Juni 1653, heißt: „Wir sollen und wollen auch die Güldene Bull mit deren in deme jüngst zu Münster und Oßnabruck uffgerichtem allgemeinen Reichs Friedenschluß uff den Achten Electoratum enthaltener extension […] stet, vest und unverbrüchig halten, handhaben […].“40 Und nach der zweiten zahlenmäßigen 35 Johann Stephan Pütter, Litteratur des Teutschen Staatsrechts, 2. Teil, Göttingen 1781, S. 483; siehe auch 3. Teil, Göttingen 1783, S. 88f. 36 Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Bd. 1, bearbeitet von August Kluckhohn, Gotha 1893 (= Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe, 1), Nr. 387, S. 864–876, hier S. 866. 37 Vgl. Die kaiserliche Wahlkapitulation Seiner Majestät Franz des Zweyten. 38 Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Bd. 1, S. 866. 39 Eine Liste „Die Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches 1356–1806“ findet sich in: Klaus Herbers / Helmut Neuhaus, Das Heilige Römische Reich. Schauplätze einer tausendjährigen Geschichte (843–1806), Köln 22006, S. 311–315, und in: Klaus Herbers / Helmut Neuhaus, Das Heilige Römische Reich. Ein Überblick, Köln 2010, S. 315–319. Zu den Kurfürsten insgesamt: Axel Gotthard, Säulen des Reiches. Die Kurfürsten im frühneuzeitlichen Reichsverband, 2 Bde., Husum 1999 (= Historische Studien, 457/1–2),. 40 Die Wahlkapitulation Ferdinands IV. wird zitiert nach: Wahl=Capitulationes, Welche mit denen Römischen Kaysern und Königen, dann des H. Röm. Reichs Churfürsten als dessen vordersten Gliedern und Grund=Säulen seit Carolo V, her biß auff Ferdinandum IV. vor sich und folglich biß auff Josephum I. zugleich vor sämtliche des Heil. Röm. Reichs Fürsten und

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Veränderung des Kollegiums der Kurfürsten heißt es unter Bezugnahme auf die Akten des Regensburger Reichstages bis hin zum Kaiserlichen Ratifikationsdekret Josephs I. (1678–1711) vom 25. Juni 1708 in der Wahlkapitulation Karls VI. (1685–1740) vom 12. Oktober 1711: „Wir […] wollen die guldene Bull mit der auf die Braunschweig-Luneburgische Chur geschehenen extension […] stet, vest und unverbrüchlich halten und unter keinerley Vorwand, er seye wer der wolle, ohne Churfürsten, Fürsten und Stände auf einem Reichs- oder ordinari Deputations-Tag vorgehende Bewilligung daraus schreiten […].“41 Inhaltlich wurde die Goldene Bulle von 1356 gravierend geändert, aber ihr Text wurde zu keiner Zeit verändert; er wurde wie ein ewiger heiliger Text behandelt. Gleichwohl hat es Versuche dazu zu Beginn der Frühen Neuzeit gegeben, erstmals – soweit ich sehe – im Umkreis der Wahl König Ferdinands I. (1503– 1564) zu Lebzeiten seines Bruders Kaiser Karls V. Das Problem bildete die ohne Beteiligung des lutherischen Kurfürsten von Sachsen, Johanns des Beständigen (1468–1532), durchgeführte Wahl vivente imperatore, obwohl es schon 1376 – 20 Jahre nach der Goldenen Bulle – im Falle König Wenzels (1361–1419), Karls IV. Sohn, und 1486 im Falle Maximilians I. (1459–1519) zu solchen Wahlen gekommen war. Eine solche Wahl war deswegen ein Problem, weil sie von der Goldenen Bulle nicht vorgesehen war, worin ihre Befürworter – also die fünf katholischen Wähler von 1531 – eine Erlaubnis für ihr Handeln sahen, während die kursächsische Seite das Schweigen der Königswahlordnung als Verbot interpretierte.42 Für unseren Zusammenhang bedeutsam ist, dass der Kaadener Vertrag vom 29. Juni 1534, mit dem unter anderem der neue sächsische Kurfürst Johann Friedrich I. (1503–1554) in der Nachfolge Johanns des Beständigen das umstrittene Königtum Ferdinands I. anerkannte, als Kompromiss vorsah, dass bis zum 28. März 1535 die Mehrheit der Kurfürsten einen Zusatz zur Goldenen Bulle bewilligt und Kaiser Karl V. diesen bestätigt haben musste, wonach zukünftig bei beabsichtigten Römischen Königswahlen vivente imperatore sich alle Kurfürsten versammeln mussten, um darüber zu beraten, „ob Ursach gnug vorhanden und dem Reich fürträglich sey, einen Röm[ischen] König bei Leben eines Römischen Kaysers oder Königs zu erwehlen“; erst wenn sich die Kurfürsten darüber geeinigt hätten „und nicht ehe“, sollten sie „vermög der gülden Bull […] zu Königlicher Stände Geding= und Pacts=weise auffgerichtet, vereiniget und verglichen […], hg. von Christoph Ziegler J. C., Frankfurt am Main 1711, S. 157–199, hier S. 160, Artikel II. 41 Die Wahlkapitulation Karls VI. wird zitiert nach: Vollständiges Diarium alles dessen, was vor, in und nach denen höchstansehnlichsten Wahl= und Crönungs=Solennitäten des Allerdurchlauchtigsten, Großmächtigsten und Unüberwindlichsten Fürsten und Herrn, Herrn Caroli des VI., Erwehlten Römischen Kaysers […], hg. von Johann David Zunners Seel. Erben und Johann Adam Jungen, Burger und Buchhändlere zu Franckfurt am Mayn, Frankfurt am Main 1712, S. 1–30, hier S. 2f., Artikel II. 42 Vgl. generell Helmut Neuhaus, Die Römische Königswahl vivente imperatore in der Neuzeit. Zum Problem der Kontinuität in einer frühneuzeitlichen Wahlmonarchie, in: Johannes Kunisch (Hg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte, Berlin 1997 (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 19), S. 1–53.

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Wahl erfordert“ werden, wobei „derselben gülden Bullen unverrucklich in allem nachgegangen werden“ und jede Zuwiderhandlung den ganzen Akt für nichtig erklären sollte.43 Nachdem eine Ergänzung der Goldenen Bulle erstmals während Schweinfurter Verhandlungen zum Nürnberger „Anstand“ vom 24. Juli 1532 vorgeschlagen worden war,44 war die Mehrheit aus prinzipiellen Erwägungen für eine Änderung des Textes der Goldenen Bulle aber nicht zu gewinnen und wehrte den kursächsischen Vorstoß mit dem Hinweis auf den Beginn des ersten Kapitels des Textes von 1356 ab, wo es heißt, dass den Kurfürsten Geleit zu gewähren sei, „wenn in Zukunft die Notwendigkeit oder der Fall eintritt, einen Römischen König und künftigen Kaiser zu wählen und die Kurfürsten nach altem löblichen Brauch zur Wahl kommen“45. Diese Bestimmung aus dem Jahre 1356 war so auslegbar, dass sie auch vivente-imperatore-Wahlen erfasste. Jedenfalls sind die Kurfürsten nach 1531 noch sechs von 14 Mal – unter Beteiligung oder gar auf Anregung Kursachsens – zu solchen Wahlen geschritten und haben stets deren – sich aus den Unwägbarkeiten und Unberechenbarkeiten eines Interregnums ergebende – Notwendigkeit betont.46 Allerdings: Nach ihrem Misserfolg – über Jahrzehnte hinweg –, Kaiser Rudolf II. (1552–1612) von der Notwendigkeit zu überzeugen, mit der Wahl eines Nachfolgers noch zu seinen Lebzeiten einverstanden zu sein,47 ergänzten die Kurfürsten zwar nicht die Goldene Bulle, aber sie schrieben seinem Bruder Matthias (1557–1619) in seine Wahlkapitulation vom 18. Juni 1612, dass sie alleine berechtigt seien, „so offt sie es einem Kayser zu Behuff oder sonsten dem Heil[igen] Reich nothwendig und nutzlich befinden, auch bey Lebzeiten eines Römischen Kaysers“ einen Römischen König zu wählen und zwar auch „ohne eines regierenden Kaysers Consens“, wenn dieser eine entsprechende „Bitte der Churfursten ohne genugsame erhebliche Ursachen“ – wie Rudolf II. – verweigern sollte.48 Ohne den inzwischen über 250 Jahre alten Text der Goldenen Bulle zu verändern, war dies der Weg, Verfassungstheorie und Verfassungspraxis in Einklang zu bringen. Alle folgenden Wahlkapitulationen bis zu der Franz’ II. von 1792 enthielten diesen Zusatz. Das Schweigen der Goldenen Bulle wurde auf diese Weise zum Sprechen gebracht.

43 Hier zitiert nach: Helmut Neuhaus, Ferdinands I. Reichstagsplan 1534/35. Politische Meinungsumfrage im Kampf um die Reichsverfassung, 1. Teil, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, 1979, 32, S. 24–47, hier S. 25f.; 2. Teil, in: ebd., 1980, 33, S. 22–57. 44 Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Bd. 10, Der Reichstag in Regensburg und die Verhandlungen über einen Friedstand mit den Protestanten in Schweinfurt und Nürnberg 1532, Teilbd. 3., bearbeitet von Rosemarie Aulinger (= Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe, 10), Göttingen 1992, S. 1164–1529. 45 Die Goldene Bulle, übersetzt von Wolfgang D. Fritz, S. 42f. Capitulum I, § [1], S. 46. 46 Neuhaus, Die Römische Königswahl; vgl. die Übersicht „Die Römischen Könige/Kaiser der Neuzeit als Wahlmonarchen des Heiligen Römischen Reiches“, in: Herbers / Neuhaus, Das Heilige Römische Reich. Ein Überblick, S. 314. 47 Neuhaus, Die Römische Königswahl, S. 21–29. 48 Die Wahlkapitulation des Matthias wird zitiert nach: Wahl=Capitulationes, S. 73–96, hier S. 90, Artikel 34, § [2].

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Auch während der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden gab es – ausdrücklich an die Kontroverse der frühen 1530er Jahre anknüpfend und maßgeblich von den französischen Gesandten betrieben – noch einmal einen Angriff auf die vivente-imperatore-Wahlen, die ja die der Wahlmonarchie eigentlich gemäße Diskontinuität verhindern sollten. Vor allem aus der Rivalität der Häuser Bourbon und Habsburg heraus wollte Frankreich erreichen, dass im Heiligen Römischen Reich in Zukunft nicht mehr zwei aufeinander folgende Römische Könige aus gleicher Dynastie gewählt werden sollten. Doch es kam zu keinerlei Beschluss, sondern das Problem wurde den „hinterstelligen Materien“, den negotia remissa zur Beratung auf dem nächsten Reichstag zugewiesen, der es keiner neuen Lösung zuführte.49 Die Goldene Bulle blieb unverändert in Kraft; 1653, 1690 und 1764 wurden mit Ferdinand IV., Joseph I. und Joseph II. noch drei Römische Könige vivente imperatore gewählt, die ihren Vätern folgten. Wie ihre Vorgänger und Nachfolger hatten sie in ihren Wahlkapitulationen die Verpflichtung einzugehen, das Heilige Römische Reich als Wahlmonarchie zu erhalten: „Und in sonderheit sollen und wellen wir uns auch keiner succession oder erbschaft des […] Römischen reichs anmassen, underwinden […] oder darnach trachten“, musste schon Karl V. 1519 zusagen, ausdrücklich unter Bezug auf „die guldin bulla“.50 Solange sie gültig war, blieb das Heilige Römische Reich eine Wahlmonarchie und gab ihm Stabilität. Dem entspricht, dass sie im Wortlaut nie verändert wurde und wir keine Fassungen der Goldenen Bulle unter verschiedenen Daten haben: Es gibt – für das Heilige Römische Reich – nur die von 1356. Bei Veränderungen und Erweiterungen in der Sache wurde der ursprüngliche Text nie durch einen neuen ersetzt oder an den betreffenden Stellen erweitert, wie wir das zum Beispiel für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 kennen.51 Der Goldenen Bulle wurden nicht einmal Veränderungen oder Erweiterungen in der Weise hinzugefügt, wie es bei der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika aus dem Jahre 1787 geschieht, an die die Amendments in chronologischer Reihenfolge an den ursprünglichen Text angehängt werden,52 weil auch dieser als unantastbar galt und gilt. Diesem das alte Wort achtenden Umgang mit der Goldenen Bulle entsprach im Übrigen die frühneuzeitliche Technik reichsgrundgesetzlicher Novellierungen: Die alten Texte blieben unangetastet; neue Bestimmungen ersetzten die überholten im Kontext neuer Verträge, Reichsabschiede oder Reichsschlüsse. Nur in Ausnahmefällen wurden zum Beispiel Reichskammergerichts- oder Reichspoli49 Neuhaus, Die Römische Königswahl, S. 34–38. 50 Hier zitiert nach: Deutsche Reichstagsakten unter Karl V., Bd. 1, S. 874f. 51 Angela Bauer / Matthias Jestaedt, Das Grundgesetz im Wortlaut. Änderungsgesetze, Synopse, Textstufen und Vokabular zum Grundgesetz, Heidelberg 1997 (= Motive – Texte – Materialien [MTM], 78); neuerdings: Matthias Jestaedt, Herr und Hüter der Verfassung als Akteure des Verfassungswandels – Betrachtungen aus Anlass von 60 Jahren Grundgesetz, in: Helmut Neuhaus (Hg.), 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Atzelsberger Gespräche 2009, Erlangen 2010 (= Erlanger Forschungen, Reihe A, Geisteswissenschaften, 121), S. 35–99. 52 Vgl. http://usa.usembassy.de/etexts/gov/gov-constitutiond.pdf.

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zeiordnungen völlig neu beschlossen und dann komplett an die Stelle der alten Texte gesetzt.53 So finden wir – wie schon in anderem Zusammenhang gesehen – die Veränderungen in der Zusammensetzung des Kreises der Kurfürsten nicht in der Goldenen Bulle, sondern in anderen Reichsgrundgesetzen. Die Schaffung einer achten Kurwürde erfolgte in Artikel IV, § 5, des Osnabrücker Friedensvertrages beziehungsweise in § 13 des Münsteraners von 1648, wonach Kaiser und Reich „im Interesse der öffentlichen Ruhe“ vereinbarten, für das pfälzische Haus, die Rudolfinische Linie der Wittelsbacher, eine achte Kurwürde zu errichten.54 Zuvor war in Artikel IV, § 3, der Übergang der ursprünglichen pfälzischen Kur auf Herzog Maximilian I. von Bayern im Jahre 1623 infolge politischer Absprachen mit Kaiser Ferdinand II. (1578–1637)55 reichsrechtlich sanktioniert worden. Sollte die Münchener, die Wilhelminische Linie aussterben – hieß es weiter –, sollte die Kurwürde der Herzöge von Bayern an die Pfalzgrafen bei Rhein „zurückfallen und gleichzeitig die achte Kur gänzlich aufgehoben werden“56, was dann an der Jahreswende 1777/78 geschah. Dass in der Goldenen Bulle von 1356 nichts über die Aufhebung einer Kur stand, versteht sich fast von selber. Die Errichtung einer neunten Kurwürde erfolgte 1692 für Herzog Ernst August I. von Braunschweig-Lüneburg (1629–1698) im Zuge einer Rangerhöhung durch Kaiser Leopold I. im sogenannten Kurtraktat sowie durch ein „Ewiges Unions-Pactum“ zwischen den Habsburgern und den Welfen, das auf ein politisches Geschäft hindeutet. Die unter den Kurfürsten lange umstrittene neunte Kur wurde erst 16 Jahre später ohne Bezug zur Goldenen Bulle im Austausch von Reichsgutachten und kaiserlichem Ratifikations-Commissionsdekret vom 30. Juni beziehungsweise 6. September 1708 reichsrechtlich sanktioniert,57 also in jenen Ver-

53 Das gilt zum Beispiel für die Reichspoliceyordnungen der Jahre 1530, 1548 und 1577 in der Abfolge von 266 reichspoliceyrechtlichen Regelungen von 1487 bis 1793; vgl. Karl Härter (Hg.), Deutsches [sic!] Reich und geistliche Kurfürstentümer (Kurmainz, Kurköln, Kurtrier), Frankfurt am Main 1996 (= Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, 1), S. 51–106. – Auf den Reichstagen ab 1495 gab es immer wieder Revisionen der Reichskammergerichtsordnung, aber völlige textliche Neufassungen – wie zum Beispiel 1555 – waren selten; vgl. Ingrid Scheurmann, Normative Grundlagen der Rechtsprechung, in: dies. (Hg.), Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806, Mainz 1994, S. 147–157. 54 Instrumentum Pacis Osnabrugensis (IPO), in: Die Friedensverträge mit Frankreich und Schweden, Teilbd. 1, Urkunden, bearbeitet von Antje Oschmann, Münster 1998 (= Acta Pacis Westphalicae [APW], Serie III, Abt. B, Verhandlungsakten, 1.1), Nr. 18, S. 95–170, hier S. 100f., Art. IV, 5; Instrumentum Pacis Monasteriensis (IPM), in: ebd., Nr. 1, S. 1–49, hier S. 7f., § 13. 55 Maximilian Lanzinner, 25. Februar 1623. Der Regensburger Deputationstag – Bayern wird Kurfürstentum, in: Alois Schmid / Katharina Weigand (Hg.), Bayern nach Jahr und Tag. 24 Tage aus der bayerischen Geschichte, München 2007, S. 248–262 und 451. 56 Instrumentum Pacis Osnabrugensis, Nr. 18, S. 100f., Art. IV, 3 und 9. 57 Ich verweise hier der Einfachheit halber auf: Die Einrichtung der neunten Kurwürde (1692/1708), in: Helmut Neuhaus (Hg.), Zeitalter des Absolutismus 1648–1789, Stuttgart 1997 (= Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, 5), Nr. 9, S. 80–85.

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fahrensformen, die für den seit 1662 immerwährend gewordenen Reichstag ohne reichsgrundgesetzlichen Reichsabschied charakteristisch geworden waren.58 Diese Verfahrensformen beendeten im Reichstag auch die letzten Veränderungen in der Zusammensetzung des Kurkollegs im März/April 1803, die im von Napoleon I. (1769–1821) erzwungenen Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 vorgenommen worden waren, erneut ohne Hinweis auf die Goldene Bulle. Von den in ihr viereinhalb Jahrhunderte zuvor genannten Kurfürsten blieben nur noch die von Böhmen, Brandenburg und Sachsen übrig. Das Säkularisationsgebot ließ die geistlichen Kurfürsten von Mainz, Köln und Trier verschwinden, und zu Bayern und Braunschweig-Lüneburg kamen kurz vor dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Regensburg-Aschaffenburg, Württemberg, Hessen-Kassel und Salzburg als neue Kurfürstentümer hinzu,59 wobei die salzburgische Kur nach nur zwei Jahren im Preßburger Frieden vom 26. Dezember 1805 noch für wenige Monate nach Würzburg transferiert wurde.60 Keiner der neuen Kurfürsten kam mehr in die Situation, seine nach der Goldenen Bulle wichtigste Funktion auszuüben, einen Römischen König zu wählen. Aber an der von ihr vorgegebenen wahlmonarchischen Form des Heiligen Römischen Reiches wurde auch mit diesen Erhebungen von Reichsfürsten zu Kurfürsten weiter festgehalten. So wie die Veränderungen der Zusammensetzung des Kurfürstenkollegiums politischen Entwicklungen, Gegebenheiten oder Planungen geschuldet waren, so auch die in der Frühen Neuzeit zu beobachtenden Nichtbefolgungen von Vorschriften der Goldenen Bulle. Bis zuletzt bestimmte sie unwidersprochen Frankfurt am Main als Wahlort und Aachen als Krönungsort des Römischen Königs, der seinen ersten Hoftag/Reichstag in Nürnberg abhalten sollte.61 Tatsächlich fanden die Wahlen in der Frühen Neuzeit mehrheitlich in Frankfurt am Main statt, aber auch in Köln (1531), Regensburg (1575, 1636) und Augsburg (1653, 1690). Die Krönungen erfolgten nur bis zu der Ferdinands I. im Jahre 1531, also zu Lebzeiten seines kaiserlichen Bruders, in Aachen, seit 1562 (Maximilian II. [1527– 1576]) jedoch mehrheitlich in Frankfurt am Main, aber auch dreimal in Regens-

58 Diese Verfahrensformen macht deutlich: Johann Joseph Pachner von Eggenstorff, Vollständige Sammlung aller von Anfang des noch fürwährenden Teutschen Reichs-Tags de Anno 1663 biß anhero abgefaßten Reichs-Schlüsse […], 5 Bde., Regensburg 1740, 1776, 1777, Nachdruck Hildesheim 1996. 59 Der Reichsdeputationshauptschluß, S. 611–613 (§ 25), S. 617 (§ 31). Völlig unverständlich ist die Feststellung von Ingo Knecht, Der Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Februar 1803. Rechtmäßigkeit, Rechtswirksamkeit und verfassungsgeschichtliche Bedeutung, Berlin 2007 (= Schriften zur Verfassungsgeschichte, 77), S. 25: „Bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches 1806 haben sich weder die Zusammensetzung des Kurfürstenkollegiums noch die Modalitäten der Wahl des Reichsoberhaupts in nennenswerter Weise verändert.“ 60 Der Friede von Preßburg, in: Walter Demel / Uwe Puschner (Hg.), Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß 1789–1815, Stuttgart 1995 (= Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, 6), Nr. 4, S. 44–51, hier S. 49, §§ X und XI. 61 Die Goldene Bulle, bearbeitet von Wolfgang D. Fritz, [Capitulum XXIX], § [1], S. 87.

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burg (1575, 1636, 1653) und einmal in Augsburg (1690).62 Das ganze 18. Jahrhundert hindurch war Frankfurt – entgegen mancher oberflächlicher Charakterisierungen – die Wahl- und Krönungsstadt des Heiligen Römischen Reiches, aber nur in diesem Zeitraum der Frühen Neuzeit. Und Nürnberg? – Trotz der nie revidierten Vorschrift der Goldenen Bulle war die Pegnitz-Stadt nicht ein einziges Mal Veranstaltungsort des ersten Hof- beziehungsweise Reichstages eines neugewählten Römischen Königs. Maximilian I. und Karl V. hielten ihre ersten Reichstage in Worms (1495, 1521) ab, Augsburg wurde von Ferdinand I. 1559, wenn man die reichsständische Versammlung zu Worms 1535 nicht berücksichtigt, Maximilian II. 1566 und Rudolf II. 1582 ausgewählt und Regensburg beherbergte die ersten Reichstage Ferdinands III. und Leopolds I. 1640 und 1663, wobei sich Letzterer zum Immerwährenden entwickelte; überhaupt keine Reichstage hielten Matthias, Ferdinand II. und Ferdinand IV. ab.63 Immer gab es Gründe, den Reichstag an anderer Stelle abzuhalten, obwohl Nürnberg von seiner Größe und Wirtschaftskraft her dafür besonders prädestiniert war. „Sterbende leuf“, also Seuchengefahr war es zum Beispiel am 1. November 1520, als Karl V. den Reichstag, der dann zum Luther-Reichstag werden sollte, nach Worms einberief und erklärte, deshalb „unsern ersten kaiserlichen hoff laut der gulden bull zu Nurenberg ze halten verhindert werde“64, die günstigere Lage Regensburgs oder Augsburgs für die in Wien oder Prag residierenden Kaiser von der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts an. Und in der Epoche des Immerwährenden Reichstages stand Regensburg als Tagungsort fest; selbst 1742 stand beim Regierungsantritt des Wittelsbachers Karl VII. (1697–1745) Nürnberg nicht ernsthaft zur Debatte, sondern der Reichstag trat in der Zeit der „Frankfurter Gefangenschaft“ dieses Kaisers in der Main-Metropole zusammen.65 Mit der Einführung der Reformation 1525 in Nürnberg wurde die einst bevorzugte Stadt bei den katholischen Kaisern zudem unbeliebt; überhaupt fanden nur noch zwei Reichstage dort statt, weil sie in die kaiserlichen Reise- und Terminpläne passten: 1542 und 1543.66 Kaiser Maximilian II. erinnerte im Augsburger Reichstagsabschied vom 30. Mai 1566 daran, dass „nach altem herkommen, gewonheit vnd gebrauch vnser loeblichen vorfarn am Reich nach außweisung der gulden Bull vnser erster Koe62 Vgl. die Übersicht „Die Römischen Könige/Kaiser der Neuzeit als Wahlmonarchen des Heiligen Römischen Reiches“, in: Herbers / Neuhaus, Das Heilige Römische Reich. Ein Überblick, S. 314. 63 Vgl. die Übersichten bei: http://www.historischekommission-muenchen.de/seiten/ reichsversammlungen_reichstage_1376_1662. 64 Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Bd. 2, bearbeitet von Adolf Wrede, Gotha 1896 (= Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe, 2), Nr. 2, S. 136–138, hier S. 137. 65 Rainer Koch / Patricia Stahl (Hg.), Wahl und Krönung in Frankfurt am Main. Kaiser Karl VII. 1742–1745, Bd. 2, Ausstellungskatalog, Frankfurt am Main 1986, S. 239–242, Nr. XVII.6.a.–8.a.; siehe auch Peter Claus Hartmann, Karl Albrecht – Karl VII. Glücklicher Kurfürst. Unglücklicher Kaiser, Regensburg 1985, S. 255–258. 66 Die Akten zu 1542 liegen jetzt ediert vor: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V.: Der Reichstag zu Nürnberg 1542, bearbeitet von Silvia Schweinzer-Burian, München 2010 (= Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe, 13).

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niglicher hoff in vnser vnd des heyligen Reichs statt Nuernberg gehalten werden sollen“, er aber wegen „vns zugestandenen kriegen“ daran gehindert worden sei und deshalb den Reichstag nach Augsburg verlegt habe. Zugleich bekräftigte er: „[…] so soll hiedurch gedachter vnser vnd des heyligen Reichsstatt Nuernberg an jrem alten herkommen, gewonheit vnd gebrauch, auch der Gulden bullen haltung halben des ersten Koeniglichen vnd Keyserlichen hoffs daselbsten zu Nuernberg nichts derogiert, abgebrochen vnd benommen sein […]“; diese Abweichung von den Bestimmungen der Goldenen Bulle sollte „inn künfftigem zu keinem exempel oder volge genanter Stadt Nürnberg zu nachtheyl gezogen vnd eingefuert werden.“67 Die diesbezüglichen Vorschriften der Goldenen Bulle aber blieben bestehen. Jede Abweichung von ihnen wurde den Städten begründet, und ihnen wurden ihre sich aus der Goldenen Bulle ergebenden Ansprüche immer wieder neu bestätigt, die ihnen gewährten Privilegien ausdrücklich bekräftigt und jedes Mal erklärt, dass die Abweichung von der Vorschrift nur diesmal aus wichtigen Ursachen geschehe und kein Präjudiz darstelle. Der alte Text blieb unangetastet, auch wenn die Wirklichkeit anders gestaltet wurde. 4. Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches am 6. August 1806 verlor auch die damals 450 Jahre alte Goldene Bulle endgültig ihre Bedeutung. Aber sie lebte und lebt in der Erinnerungskultur der Deutschen fort, vermittelt über die Darstellungen ihrer Hauptpersonen: des Kaisers und der – ursprünglich – sieben Kurfürsten. Bereits ein halbes Jahrhundert nach der Verkündung der Goldenen Bulle schmückten acht Kaiser- und Kurfürsten-Plastiken die Marktfassade des neuen Rathauses der Hansestadt Bremen, die damit ihren Anspruch sichtbar machte, Reichsstadt zu sein, und diesen noch mit einem bronzenen Türklopfer – wahrscheinlich von um 1375 – bekräftigte, auf dem die Kurfürsten in sieben Medaillons den Kaiser in einem größeren Medaillon kranzförmig umgeben.68 In Ulm schmücken sechs Kurfürsten – der Böhme fehlt – seit dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts die Südfassade des Rathauses,69 in Esslingen seit derselben Zeit der König und sieben Kurfürsten das Balkenwerk im Rathaussaal.70 Die Wandvertäfelung mit Kaiser und sieben Kurfürsten aus dem Augsburger Haus der Weber aus der Mitte des 15. Jahrhunderts befindet sich heute im Bayerischen National-

67 Deutsche Reichstagsakten, Reichsversammlungen 1556–1662: Der Reichstag zu Augsburg 1566, bearbeitet von Maximilian Lanzinner und Dietmar Heil, 2 Teilbde., München 2002, Nr. 467, S. 1507–1584, hier S. 1562, § [180]. 68 Paul Hoffmann, Die bildlichen Darstellungen des Kurfürstenkollegiums von den Anfängen bis zum Ende des Hl. Römischen Reiches (13.–18. Jahrhundert), Bonn 1982 (= Bonner Historische Forschungen, 47), S. 111, Nr. 18, mit Abb. 19, und S. 108, Nr. 11, mit Abb. 15. 69 Ebd., S. 110f., Nr. 17, mit Abb. 18. 70 Ebd., S. 112, Nr. 20, mit Abb. 20.

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museum,71 wie die Goldene Bulle insgesamt museal geworden ist. Ungezählte Reichsadlerhumpen, Kurfürstenkrüge und -gläser, Zinnteller, Karten, Kupferstiche oder Holzschnitte – bis an die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entstanden – verbreiten diese vor allem mit Reichsstädten verbundene Erinnerungskultur. Und nicht zuletzt wird man in Nürnberg an verschiedenen Orten an die Goldene Bulle erinnert.72 Schon am Ende des 14. Jahrhunderts wurde der „Schöne Brunnen“ aus Sandstein gebaut. In der Form einer gotischen Kirchturmspitze ragt sein Aufbau über einem achteckigen Brunnenbecken 19 Meter in die Höhe und verweist mit seinem ikonographischen Programm auf die Verheißung einer neuen Heilszeit, wie sie Kaiser Karl IV. zu Beginn der Goldenen Bulle postuliert hatte. Zu seinen 40 Figuren – antike Philosophen, Hauptpersonen des Alten Testaments, Evangelisten, Kirchenväter, Helden aus Geschichte und Mythologie – gehören oberhalb des drehbaren Messingrings auch die sieben Kurfürsten, nach Westen und Süden blickend.73 Wenige Jahre jünger ist der Wappenschmuck am Nassauer Haus gegenüber von Sankt Lorenz, wo neben den Wappen des Heiligen Römischen Reiches, des Papstes und der Stadt Nürnberg auch die des Kaisers und der sieben Kurfürsten zu sehen sind.74 Aber am sichtbarsten wird der Bezug zur Goldenen Bulle an der Westfassade der Frauenkirche, wo die vor genau 500 Jahren eingebaute Kunstuhr mit dem sogenannten „Männlein-Laufen“75 mittags um zwölf Uhr Einheimische und Touristen fasziniert: Um den stets sichtbar thronenden Kaiser Karl IV. kreisen – aus dem Inneren kommend – huldigend dreimal die Kurfürsten in ihren mit Hermelin besetzten Mänteln: eine Deutung des Verhältnisses der Personen zueinander, die so nicht ganz dem Geist der Goldenen Bulle und dem in ihr grundgelegten wahlmonarchischen Charakter des Heiligen Römischen Reiches entspricht, denn tatsächlich gab es – zumal in der Frühen Neuzeit – außer dem Miteinander viel häufiger ein Neben- oder gar Gegeneinander von Kurfürsten und Kaiser. Dieses Neben- und Gegeneinander hat im 19. und 20. Jahrhundert zu negativen Charakterisierungen der Goldenen Bulle und Urteilen über sie geführt, die sich nur vor dem Hintergrund der jeweiligen Zeitumstände verstehen lassen. Für den in Frankfurt am Main geborenen Ludwig Börne (1786–1837) war die Goldene Bulle „nur eine alte Haut […], ein nichtsnutzig Stück Pergament, worauf geschrieben steht, wie Kaiser und Reich sich einander wechselseitig verkauften“, ein „miserable[r] Contrakt, wodurch Deutschland zu Grunde ging“, wie sich Heinrich Heine (1797–1856) – seinem Besucher die Urkunde erklärend – an eine Begeg-

71 Ebd., S. 115, Nr. 25, mit Abb. 21 und 22. 72 Norenberc – Nürnberg 1050 bis 1806. Eine Ausstellung des Staatsarchivs Nürnberg zur Geschichte der Reichsstadt, Kaiserburg Nürnberg, 16. September–12. November 2000, bearbeitet von Peter Fleischmann, München 2000, Nr. 16, S. 58f. 73 Peter Fleischmann, Nürnberg mit Fürth und Erlangen. Von der Reichsstadt zur fränkischen Metropole, Köln 1997 (= DuMont Kunst-Reiseführer), S. 94–97. 74 Ebd., S. 146f. 75 Ebd., S. 91.

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nung mit Börne vor dem „Römer“ im November 1827 erinnerte.76 Für den Heidelberger Historiker Friedrich Christoph Schlosser (1776–1861) blieb die Goldene Bulle „stets ein vor allen anderen kaiserlichen Decreten merkwürdiges historisches Document“ und das „berühmt gewordene Grundgesetz der unseligen deutschen Vielherrschaft“.77 Erst in jüngerer Zeit rückte mit der Neubewertung des Heiligen Römischen Reiches auch die Goldene Bulle wieder stärker ins Blickfeld. Die große Frankfurter Ausstellung „Die Kaisermacher. Frankfurt am Main und die Goldene Bulle 1356–1806“78 und das Berliner Symposion „Die Goldene Bulle. Politik – Wahrnehmung – Rezeption“79 – zwei Veranstaltungen im Jahr 2006, als zugleich an das Ende des Heiligen Römischen Reiches erinnert wurde –, markieren die letzten Höhepunkte der wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihr. Die historisch-kritische Edition der Goldenen Bulle liegt seit 1972 vor,80 Johann Peter von Ludewigs „Vollständige Erläuterung der Güldenen Bulle“ von 1752 wurde 2005 nachgedruckt,81 Olenschlagers „Neue Erläuterung der Guldenen Bulle“ von 1766 im Jahr 2008.82

76 Heinrich Heine, Ludwig Börne. Eine Denkschrift, in: Ludwig Börne. Eine Denkschrift und Kleinere politische Schriften, bearbeitet von Helmut Koopmann, Hamburg 1978 (= Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, 11), S. 11–132, hier S. 25. 77 F[riedrich] C[hristoph] Schlosser’s Weltgeschichte für das deutsche Volk. Unter Mitwirkung des Verfassers bearbeitet von G. L. Kriegk, Bd. 8, Frankfurt am Main 1847, S. 315. 78 Brockhoff / Matthäus, Die Kaisermacher. 79 Hohensee et al., Die Goldene Bulle. 80 Die Goldene Bulle, bearbeitet von Wolfgang D. Fritz. 81 Johann Peter von Ludewig, Vollständige Erläuterung der Güldenen Bulle, 2 Bde., mit einer Vorrede begleitet von Johann George Estor, Frankfurt am Main 21752, Nachdruck Hildesheim 2005. 82 Olenschlager, Neue Erläuterung.

1478 – DAS ENDE EINER HISTORISCHEN ALTERNATIVE FÜR RUSSLAND Carsten Goehrke Auf den ersten Blick scheint Russland für ein autoritäres politisches System prädestiniert zu sein. Seit livländische und polnische Flugschriften Großfürst Ivan IV. von Moskau (1547–1584) als blutrünstigen Despoten dem osmanischen Sultan gleich stellten,1 ist die politische Wahrnehmung Russlands durch Lateineuropa von der allumfassenden autokratischen Alleinherrschaft des Zaren geprägt gewesen. Ansätze zu einer Auflockerung dieses Systems unter Peter dem Großen, Katharina II. und Alexander II. griffen nicht tief genug oder versandeten. Der Sieg der Bol’ševiki im Gefolge des Bürgerkrieges von 1918 bis 1921 stellte zwar das überkommene Gesellschafts- und Wirtschaftsgefüge auf den Kopf, kehrte aber zu zentralen Elementen des politischen Systems der Zarenzeit zurück. Und auch aus dem Zusammenbruch des Sowjetsystems 1991 und den inkonsequenten Versuchen Präsident El’cins, in der Russländischen Föderation die Marktwirtschaft und eine rechtsstaatliche Demokratie einzuführen, ist unter seinem Nachfolger Vladimir Putin (2000–2008) ein Staatsgebilde hervorgewachsen, welches mehr traditionale als neuartige Charakterzüge aufweist. Diese politische Entwicklung, welche die Neuzeit geprägt hat, wurzelt nur teilweise im Mittelalter, und dass sich dieser Strang autogener Fürstenherrschaft schließlich gegen andere tragende Elemente der politischen Kultur durchsetzen würde, war noch im 14. Jahrhundert nicht abzusehen. Im Folgenden möchte ich skizzieren, um welche konkurrierenden Machtträger es sich in der ostslawischen Gesellschaft des Mittelalters handelte und warum sich im Unterschied zu Lateineuropa die fürstliche Alleinherrschaft durchgesetzt hat. DAS POLITISCHE SYSTEM DES RÖMISCH-DEUTSCHEN REICHES IM MITTELALTER Autogene, das heißt geblütsrechtlich legitimierte, Fürstenherrschaft stand fast überall in Europa am Anfang des mittelalterlichen Machtsystems. Die ostslawische Gesellschaft bildete in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Herrschermacht gründete sich stets aber auch auf die Partizipation einer Adelsschicht und der höchsten Repräsentanten der Kirche. Seit im Laufe des Hochmittelalters in Süd-, Mittel- und Westeuropa sich ein wirtschaftlich potentes Städtewesen zu etablieren 1

Andreas Kappeler, Ivan Groznyj im Spiegel der ausländischen Druckschriften seiner Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte des westlichen Russlandbildes, Bern 1972.

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vermochte, welches eigene Interessen verfolgte, erschien dort auf der politischen Bühne ein weiterer Machtfaktor, der sich schwerer in das fürstliche Kraftfeld integrieren ließ als der Adel. Für Lateineuropa in den Grenzen des römischdeutschen Reiches hat sich im Laufe des Mittelalters aus diesen Machtfaktoren ein spezifisches Parallelogramm der politisch bestimmenden Kräfte herauskristallisiert, welches die Stellung des Herrschers relativierte. Zum einen vermochte der Adel zunächst über das Lehnsrecht, seit der Neuentdeckung und Rezeption des römischen Rechts durch die zunehmende Verrechtlichung des öffentlichen Lebens auf der Basis eines Vertragssystems, welches alle Beteiligten rechtlich band, sich gegen herrscherliche Willkür abzusichern und schrittweise eine garantierte ständische Beteiligung an der Staatsmacht zu erkämpfen. Zum anderen ist im 10. und 11. Jahrhundert der Versuch der Ottonen- und Salierkaiser, über ein „Reichskirchensystem“ die höchsten kirchlichen Hierarchen in ihren Machtapparat einzubinden, daran gescheitert, dass es den im fernen Rom residierenden Päpsten gelang, diese Bestrebungen zunichtezumachen und die römische Kirche dem direkten Zugriff des Herrschers zu entziehen. Dies vermochten auf Grund ihrer wirtschaftlichen Potenz und durch interurbane Allianzen auch die Reichsstädte. Dass das römisch-deutsche Reich sich zunehmend in weltliche und geistliche Territorialherrschaften zergliederte, welche eigene politische Interessen verfolgten, hat die Position des Königs ebenfalls geschwächt. Gekrönt wurde diese Entwicklung schließlich dadurch, dass auf Reichsebene das Wahl- das Geblütsrecht ablöste und die Reichsstände – repräsentiert durch das Gremium der sieben Kurfürsten – die Wahl des römisch-deutschen Königs usurpierten. Damit waren der Herrschermacht die Zähne gezogen, und nur wer eine starke eigene Hausmacht in das Wahlamt mitbrachte wie die Habsburger, vermochte überhaupt wirksame Machtpolitik zu betreiben. Am Ausgang des Mittelalters sah sich das römisch-deutsche Königtum – jedenfalls außerhalb der Stammlande des eigenen Geschlechts – weitgehend auf repräsentative Funktionen beschränkt. Kurz zusammengefasst geht diese Entwicklung zurück auf die Etablierung und Stärkung eines Ständewesens in Zusammenhang mit der Verrechtlichung der politischen Beziehungen, auf das Absinken des geblütsrechtlich legitimierten Herrscheramtes zu einem Wahlamt, auf die territoriale Zersplitterung des Reiches und die Emanzipation der Territorialfürsten sowie nicht zuletzt auf die Selbstbehauptung von römischer Kirche und Reichsstädten gegen einen Zugriff des Herrschers.2 2

Zu wesentlichen Aspekten der Thematik: Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 2009, bes. S. 35–104; Joseph Listl, Staat und Kirche in der lateinisch geprägten westkirchlichen Tradition des Christentums, in: Peter Koslowski / Wladimir F. Fjodorow (Hg.), Religionspolitik zwischen Cäsaropapismus und Atheismus. Staat und Kirche in Russland von 1825 bis zum Ende der Sowjetunion, München 1999, S. 151–173; Karl Bosl, Der theologisch-theozentrische Grund des mittelalterlichen Weltbildes und seiner Ordnungsidee, in: Iring Fetscher / Herfried Münkler (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 2, München 1993, S. 175–188, bes. S. 177–181; Winfried Eberhard, Herrscher und Stände, in: ebenda, S. 467–551; Rolf Knütel, Roms Recht, in: Klaus Rosen (Hg.), Das Mittelmeer – die Wiege der europäischen Kultur,

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DAS POLITISCHE SYSTEM IM REICH VON KIEV Im ostslawischen Europa war die Ausgangssituation durchaus ähnlich. Inwieweit in vorschriftlicher Zeit – also vor dem 10. Jahrhundert – die Stammesfürsten ihre Macht dem Geblüt oder einer Art Wahl verdankten, ist unklar und in der Geschichtsschreibung nach wie vor umstritten. Es scheint aber, dass sie nicht allmächtig, sondern in partizipative Stammesstrukturen eingebunden waren. Seit aber die aus Skandinavien mit den Wikingern eingewanderten Rurikiden ihre Herrschaft von Kiev aus schrittweise über die ostslawischen Stammesverbände auszudehnen und diese im Laufe des 10. Jahrhunderts zum Reich von Kiev zusammenzuschließen vermochten, war das Geblütsrecht für die Fürstennachfolge fest etabliert. Dies bedeutete, dass der in Kiev residierende oberste Fürst bzw. Großfürst keiner weiteren Legitimation bedurfte und seine Macht theoretisch uneingeschränkt ausübte. Allerdings waren einer Willkürherrschaft in mehrfacher Hinsicht Grenzen gesetzt. Zum einen zerfiel ähnlich wie in Lateineuropa schon seit der Mitte des 11. Jahrhunderts das Reich von Kiev zunehmend in eine Reihe von Teilfürstentümern. Dies schwächte die Macht des Großfürsten. Zum anderen hatte dieser sich mehr oder weniger mit drei gesellschaftlichen Kräftegruppen zu arrangieren, die durchaus ein eigenes Machtbewusstsein zu entwickeln verstanden – mit der Kirche, dem Adel und dem Veþe. Seit der Annahme des orthodoxen Christentums als Staatsreligion in den Jahren 988/89 eröffnete sich dem Großfürsten zwar eine zusätzliche Quelle, um seine Stellung zu legitimieren: Die Fundierung seines Herrschertums als eines von Gott selber Berufenen durch eine Kirche, welche aus Konstantinopel das einvernehmliche Zusammenwirken von weltlicher und geistlicher Gewalt („Symphonia“) als Vorbild mitgebracht hatte. Darin und dass sowohl der Großfürst als auch der Metropolit als höchster geistlicher Hierarch beide nebeneinander in Kiev residierten, unterschied sich das kirchenpolitische Umfeld vom lateineuropäischen, welches gerade durch die räumliche Trennung von Papst und König bzw. Kaiser geprägt war. Doch da nahezu alle Metropoliten aus Griechenland stammten und dem Patriarchen in Konstantinopel weiterhin eng verbunden blieben, ließen sie sich durch den Großfürsten nicht ohne Weiteres instrumentalisieren, zumal vor allem seit dem 12. Jahrhundert die Großfürsten in der Hauptstadt schneller rotierten als die höchsten kirchlichen Hierarchen. Zudem gaben die Mönchschronisten den Fürsten hohe christliche Verhaltensanforderungen vor: Den Frieden sollten sie wahren,

Bonn 1998, S. 130–173; Knut Schulz, „Denn sie lieben die Freiheit so sehr“: Kommunale Aufstände und Entstehung des europäischen Bürgertums im Hochmittelalter, Darmstadt 1992; Otto Gerhard Oexle, Die Kultur der Rebellion. Schwureinung und Verschwörung im früh- und hochmittelalterlichen Okzident, in: Marie Theres Fögen (Hg.), Ordnung und Aufruhr im Mittelalter, Frankfurt am Main 1995, S. 119–137; Ernst Schubert, Königswahl und Königtum im spätmittelalterlichen Reich, in: Zeitschrift für historische Forschung, 1977, 4, S. 257–338.

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Recht sprechen und die öffentliche Ordnung erhalten.3 Und da dies immer weniger der Realität entsprach, führten sie in den Chroniken wiederholt darüber Klage. Das heißt, die Kirche nahm für sich das Recht in Anspruch, ein Fehlverhalten der weltlichen Macht aus christlicher Sicht zu rügen. Den wichtigsten Machtfaktor stellte die adlige Gefolgschaft (družina), die den militärischen Unterbau der Herrschermacht bildete und aus welcher der Großfürst seine Amtsträger und Berater rekrutierte. Seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts begann sie sich in eine einflussreiche und besonders privilegierte Bojarenschicht und in eine minderprivilegierte Kriegerschicht aufzugliedern. Wie die neuesten Forschungsergebnisse zeigen, sahen sich Fürst und Gefolgschaft als eine verschworene Gemeinschaft, die ähnlich wie im frühen Lateineuropa auf wechselseitiger Treue gründete und sowohl einen Verrat am Fürsten als auch einen Verrat des Fürsten an einem Gefolgsmann als Bruch von Treue und „Bruderliebe“, das heißt als Sünde betrachtete.4 Der Gefolgsmann war frei in der Wahl seines Herrn, und angesichts der territorialen Zersplitterung des Kiever Reiches bestand an Alternativen kein Mangel. Auch wenn der Gefolgsmann ganz auf den Fürstendienst fixiert blieb, war er vom Fürsten daher noch nicht auf Gedeih und Verderb abhängig. Die Bojaren haben insbesondere im dicht besiedelten Fürstentum Halyþ auf der Basis umfangreichen Grundbesitzes schon früh politischen Einfluss gewinnen können und im späten 12. und 13. Jahrhundert (öfters im Verein mit den Städten) ihren Willen den Fürsten aufzuzwingen vermocht.5 Auch Großfürst Andreij Bogoljubskij, der in der Mitte des 12. Jahrhunderts ein neues Machtzentrum im Nordosten der Rus’ begründete, verzehrte sich dabei im Kampf gegen das eigenmächtige Bojarentum und zahlte dafür 1174 sogar mit seinem Leben.6 Je mehr sich im Laufe des 11. und 12. Jahrhunderts in der Rus’ aus zentralen Burgorten ein Netz von Stadtsiedlungen herauskristallisierte, trat auch dort ein Machtfaktor in Erscheinung, welcher fallweise in das politische Geschehen eingriff: die „burgstädtische Volksversammlung“, wie Klaus Zernack sie genannt hat. In den Chroniken firmiert sie häufig unter der Bezeichnung Veþe.7 Wie die

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Manfred Hellmann, Das Herrscherbild in der sogenannten Nestorchronik, in: Clemens Bauer et al. (Hg.), Speculum historiale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung, Freiburg i.Br. 1965, S. 224–236. Petr S. Stefanoviþ, Religiozno-ơtiþeskie aspekty otnošenij znati i knjazja na Rusi v X–XII vekach, in: Oteþestvennaja istorija, 2004, H. 1, S. 3–18, hier S. 16. Günther Stökl, Das Fürstentum Galizien-Wolhynien, in: Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. I, 1, Stuttgart 1981, S. 484–533, hier S. 496–498, 508, 531; M.B. Sverdlov, Domongol’skaja Rus’. Knjaz’ i knjažeskaja vlast’ na Rusi VI - pervoj treti XIII vv., St. Petersburg 2003, S. 644–653; Pravjašþaja ơlita russkogo gosudarstva IX - naþala XVIII vv. (oþerki istorii), St. Petersburg 2006, S. 91–93. Pravjašþaja ơlita, S. 82–85; Sverdlov, Domongol’skaja Rus’, S. 618f. Dazu grundsätzlich: Klaus Zernack, Die burgstädtischen Volksversammlungen bei den Ostund Westslaven. Studien zur verfassungsgeschichtlichen Bedeutung des Veþe, Wiesbaden 1967, S. 29–174; P.V. Lukin, Gorod i veþe: social’nyj aspekt. Istoriografiþeskie zametki, in: Cahiers du Monde Russe, 2005, 46, S. 157–166; Jonas Granberg, Veche in the Chronicles of Medieval Rus: A Study of Functions and Terminology, Göteborg 2004, S. 79–86; Karte der

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Übersetzungen biblischer und kirchlicher Texte in das Altkirchenslawische bzw. Altrussische zeigen, deckte das Verständnis des Begriffs veþe/vČšte damals noch eine Bandbreite ab, welche zwischen Volksaufruhr und Volksversammlung politischen Charakters schwankte.8 Die Existenz städtischer Volksversammlungen in der Rus’ ist mit Sicherheit erstmals 1068 bezeugt, der Zusammenhang mit altslawischen Traditionen bleibt unklar. Teilnahmeberechtigt waren alle freien Männer der Stadt und ihres Umlandes. Dabei unterscheiden die Quellen zwischen den „Besseren“ oder „Mächtigeren“ und den „Minderen“ Leuten, also zwischen einer Führungsschicht und den Gemeinfreien. Das Veþe verlief oft tumultartig und handgreiflich, konnte sich auch aus einem Volksaufruhr heraus entfalten, so dass die oben erwähnte Doppeldeutigkeit des Begriffs im Slawischen durchaus verständlich ist. Obgleich die meisten Städte, in welchen ein Veþe bezeugt ist, auch Fürstensitze waren, traten Volksversammlungen nicht als Machtkonkurrenten des fürstlichen Stadtherrn auf. Dies zeigt sich schon daran, dass die meisten Zeugnisse über städtische Volksversammlungen in das 12. Jahrhundert fallen, und zwar in Zusammenhang mit ihrem offenbar wichtigsten Entscheidungsgegenstand – der Sicherung einer Fürstenherrschaft, die Schutz und Gerechtigkeit versprach. Im unruhigen 12. Jahrhundert mit seinen permanenten Fürstenkonflikten blieb diese Sorge ein Dauerthema. Zugleich belegt dies, dass das Veþe okkasionellen Charakter hatte, die Fürstenherrschaft als solche nicht in Frage stellte und ihm Wille und rechtliche Möglichkeiten fehlten, um sich einen institutionalisierten Anteil an der Macht zu erkämpfen. Die städtische Volksversammlung der Kiever Zeit beanspruchte für die politisch Interessierten also das Recht, an der Macht zu partizipieren, wenn sich ein politisches Vakuum eröffnete oder der Fürst versagte. Dass diese partizipative Komponente im Prinzip ausbaufähig war und als Grundstein für ein politisches System zu dienen vermochte, welches die Fürstenherrschaft einschränkte, zeigt das Beispiel der beiden Stadtrepubliken Groß-Novgorod und Groß-Pskov. Darüber eingehender weiter unten. Zusammenfassend lässt sich über das politische System der Rus’ von der Mitte des 11. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts sagen, dass es zwar eindeutig auf die autogene Fürstenherrschaft ausgerichtet war, dass aber die fürstliche Macht eingeschränkt wurde durch die Konkurrenz der Teilfürsten untereinander, die zur Wahrung ihrer Interessen auf die permanente oder okkasionelle Partizipation von Kirche, Bojarenrat, adliger Gefolgschaft und Stadtbevölkerung angewiesen blieben. Zumindest bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts, so meint der Verfassungshistoriker Marc Szeftel, hätten Fürst, Bojaren und städtische Volksversammlung ein Machtgefüge gebildet, dessen Einzelteile aufeinander angewiesen waren und sich wechselseitig austarierten. Erst die Spätphase des Reiches von Kiev sei dann durch

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Städte, in denen ein Veþe bezeugt ist ebd., S. 65, Tabelle der chronologischen Verteilung der Nennungen ebd., S. 66. P.V. Lukin, Upominanija veþa/veþnikov v rannich slavjanskich pamjatnikach, in: Oteþestvennaja istorija, 2006, H. 4, S. 40–46.

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zunehmende Emanzipationsbestrebungen von Bojaren und städtischer Volksversammlung geprägt gewesen.9 Dass politische Partizipation, ja sogar genossenschaftlich organisierte Subsidiarität einen wesentlichen Bestandteil des ostslawischen Früh- und Hochmittelalters bildete, zeigt sich auch auf dem flachen Lande. In den zeitlich aufeinander folgenden Fassungen des ältesten ostslawischen Rechtsdenkmals, der „Pravda Russkaja“, erscheint unter wechselnden Bezeichnungen als Mir, Verv’ oder (auf burgstädtischem Boden) als Gorod ein Personenkollektiv, welches für Vergehen haftet, die auf seinem Territorium begangen worden sind. Die Forschung ist sich weitgehend darin einig, dass es sich dabei um eine ländliche Territorialgemeinde bzw. einen städtischen Personenverband gehandelt haben muss. Ob diese offensichtliche Selbstverwaltungsgemeinde darüber hinaus auch noch andere Funktionen gehabt hat – administrative, fiskalische, markgenossenschaftliche – ist unklar, aber wahrscheinlich.10 Vieles spricht dafür, dass Genossenschaftlichkeit und Selbstverwaltungsprinzip auf dem flachen Lande im frühen und hohen Mittelalter am stärksten verankert gewesen sind. DAS POLITISCHE SYSTEM DER NORDOST-RUS’ IM SPÄTEN MITTELALTER Inwieweit hat sich dieses komplexe politische System der Kiever Epoche im Gefolge des Mongolensturms (1236–1240) verändert? Aus der Sicht der Gebieter des Khanats Kipþak bzw. der Goldenen Horde als der neuen Herren über die östlichen zwei Drittel der Rus’ musste das überkommene politische Gefüge geradezu optimal erscheinen, um ihre eigene Oberhoheit abzusichern. Es gab keinen zentralen Machtfaktor, der ihrer Herrschaft gefährlich zu werden vermochte. Sie konnten sich fürs Erste damit begnügen, die stärksten ostslawischen Teilfürsten gegeneinander auszuspielen sowie die Kirche durch religiöse Duldung und die Erteilung von Privilegien zu neutralisieren. Im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts konzentrierte sich der Kampf um die Gunst des GroßKhans und um die von ihm verliehene prestigeträchtige Großfürstenwürde auf die Fürsten von Tver’ und von Moskau. Tver’, welches den für den Handel zentralen Übergang vom Wasserweg der Wolga über Novgorod zur Ostsee kontrollierte, schien in diesem Ringen die besseren Karten zu haben als Moskau – damals noch ein unbedeutendes, bevölkerungsarmes, nur mit Wäldern reich gesegnetes Territorium längs der Moskva. Dies war wohl auch einer der Gründe, warum die Machthaber der Goldenen Horde Tver’ nicht einseitig bevorzugen wollten und immer 9

Marc Szeftel, Les principautés russes avant l’ascension de Moscou (IX–XVe siècles), in: ders., Russian Institutions and Culture up to Peter the Great, London, 1975, IX, S. 613–636, hier S. 623f. 10 Manfred Hellmann, Zum Problem der ostslawischen Landgemeinde, in: Mayer, Theodor (Hg.), Die Anfänge der Landgemeinde und ihr Wesen, Bd. 2, Konstanz 1964, S. 255–272; Sverdlov, Domongol’skaja Rus’, S. 518f.

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wieder das schwächere Moskau protegierten.11 Doch hinter den Kulissen vollzogen sich seit der Herrschaft des Fürsten Ivan I. „Kalita“ von Moskau (1328–1341) bereits gewisse Veränderungen innerhalb der Machtbalance. Wie schon Ivans Beiname „Kalita“ (Geldsack) verrät, war er wohl der Erste der Dynastie, der aus dem Tatarentribut (dan’), welchen der Großfürst auf dem gesamten der Horde unterstehenden ostslawischen Gebiet für diese einzutreiben hatte, systematisch einen erklecklichen Batzen abzweigte, um damit die eigene Machtposition zu stärken und benachbarte Territorien aufzukaufen. Einen unschätzbaren Prestigegewinn bedeutete überdies, dass das kirchliche Oberhaupt, der Metropolit, um 1325 von Vladimir nach Moskau und nicht nach Tver’ übersiedelte, mit dessen Klerus er kirchenpolitisch im Streit lag. Aber endgültig auf die Seite Moskaus begann sich die Waage machtpolitisch erst zu neigen, als auch die äußeren Rahmenbedingungen sich wandelten. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts büßte das Khanat Kipþak mehr und mehr seine innere Geschlossenheit und damit auch seine Schlagkraft ein. Dies eröffnete den Fürsten von Moskau sehr viel mehr Spielraum, um durch militärische Okkupation, Aufkauf und Heiratspolitik ihre Hausmacht territorial auszubauen. Da liegt die Frage nahe, warum die Goldene Horde nicht zumindest jetzt dieser auch für sie gefährlichen Machtkonzentration einen Riegel vorgeschoben hat. Wie Peter Nitsche gezeigt hat, ist es die schier unaufhaltsame Expansion des Großfürstentums Litauen in die ostslawischen Territorien westlich des Dnepr im 14. Jahrhundert gewesen, durch die sich die Horde bedroht fühlte. Da die Fürsten von Tver’ sich zugleich verwandtschaftlich und politisch an Litauen anzulehnen begannen, sahen die Gebieter der Goldenen Horde daher am ehesten in den Fürsten von Moskau einen loyalen Partner im Kampf gegen die Osterweiterung Litauens und nahmen deren Machtaufstieg als kleineres Übel wohl in Kauf.12 Als dann 1380 Großfürst Dmitrij „Donskoj“ es erstmals auf eine militärische Konfrontation mit der Goldenen Horde ankommen ließ, welche – obgleich von einem Sieg gekrönt – an der Oberhoheit der Tataren noch nichts änderte, brachte dieser Erfolg der Moskauer Dynastie unter der Bevölkerung einen enormen Prestigegewinn ein. Dieser beflügelte die weitere territoriale Expansion Moskaus. Da die Goldene Horde seit der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in mehrere Teile auseinander brach, vermochten die Tataren am Aufstieg Moskaus endgültig nichts mehr zu ändern und mussten ab 1480 auf ihre Tributansprüche ganz verzichten. Als nach innerdynastischen Wirren, welche im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts das Moskauer Großfürstentum erschüttert hatten, mit Ivan III. (1462– 1505) ein kraftvoller Herrscher die Macht übernahm, der fast ein halbes Jahrhundert lang die Politik bestimmte, nutzte er konsequent alle sich bietenden Möglichkeiten, um unter dem Anspruch, als legitimer Nachfolger der Kiever Großfürsten 11 Ekkehard Klug, Das Fürstentum Tver’ (1247–1485). Aufstieg, Selbstbehauptung und Niedergang, Berlin 1985 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 37), S. 119–122. 12 Peter Nitsche, Die Mongolenzeit und der Aufstieg Moskaus (1240–1538), in: Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. I, 1, Stuttgart 1981, S. 534–712, bes. S. 589–604; vgl. auch Klug, Das Fürstentum Tver’, S. 313f.

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das „Vatererbe“ der Moskauer Dynastie wiederherzustellen, die noch außerhalb seines Herrschaftsbereichs verbliebenen Fürstentümer und Territorien der Rus’ an sich zu ziehen. Hatte das Fürstentum Moskau beim Herrschaftsantritt Ivans I. „Kalita“ (1328) ganze 21 300 Quadratkilometer mit schätzungsweise 100 000 Einwohnern umfasst, so konnte Ivan III. 1470 (noch vor dem Beginn der eigentlichen Expansionspolitik) bereits über ein Territorium von 430 000 Quadratkilometern mit rund drei Millionen Untertanen gebieten.13 Bis zu seinem Tode im Jahre 1505 vermochte er dieses Herrschaftsgebiet nochmals zu vervierfachen, so dass nur periphere Territorien wie die Stadtrepublik Pskov und das Fürstentum Rjazan’ für kurze Zeit noch formell außerhalb des Moskauer „Einheitsstaates“ verblieben. Dass im Laufe des 15. Jahrhunderts ein einziges Machtzentrum an die Stelle der zahlreichen regionalen Zentren zu treten begann, hatte auch für die innere Struktur des Machtsystems einschneidende Konsequenzen. Wie Petr Stefanoviþ herausgearbeitet hat, durchlief insbesondere das Verhältnis zwischen Fürst bzw. Großfürst und Adel eine fundamentale Veränderung: Die auf wechselseitige Treue gegründete „Einheit von Herrscher und Gefolgschaft“ verwandelte sich in eine hierarchische Abstufung von „Herrschaft und Untertanenschaft“. Der Kreuzeskuss als in der ostslawischen Kultur des Mittelalters übliche Form des Schwurs diente nun nicht mehr der Besiegelung eines Vertrages zwischen zwei gleichberechtigten Partnern, sondern sank zum Untertaneneid ab.14 Die Sakralisierung des Großfürsten, welche die Moskauer Kirche im Spätmittelalter immer offener betrieb, hob ihn zudem in eine Höhe, die keine Alternative zur unverbrüchlichen Treue gegenüber dem Platzhalter Gottes auf Erden mehr zuließ – auch dann nicht, wenn der Herrscher in den Augen einzelner Getreuer selber treulos geworden war.15 Ein formalisiertes Absetzungsverfahren wie im fränkisch-deutschen Reich16 war unter diesen Umständen undenkbar. Die im 14. und frühen 15. Jahrhundert noch übliche Kollektivbezeichnung des Adels als „Bojaren und freie Dienstleute“ (bojare i slugi vol’nye) verwandelte sich alsbald in die Formel „Bojaren und Kleinbojaren“ (bojare i deti bojarskie). Von Freiheit war nun nicht mehr die Rede,17 denn je stärker sich das Machtmonopol der Großfürsten von Moskau verfestigte, je weniger Alternativen Gefolgsleuten offenstanden, welche in die Dienste eines anderen Teilfürsten treten wollten, desto stärker wurde ihr prinzipielles Recht auf einen 13 Carsten Goehrke, Russland. Eine Strukturgeschichte, Paderborn 2010, S. 79. 14 Oleg G. Usenko, Mental’nye osnovy drevnerusskogo monarchizma (seredina XIII - seredina XV vv.). Oppozicii vernost’ / izmena i vassal / poddannyj, in: Cahiers du Monde Russe, 2005, 46, S. 363–385; Petr S. Stefanoviþ, Der Eid des Adels gegenüber dem Herrscher im mittelalterlichen Russland, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 2005, 53, S. 497–505, hier S. 502f.; ähnlich schon Hartmut Rüß, Adel und Adelsoppositionen im Moskauer Staat, Wiesbaden 1975, bes. S. 64. 15 Stefanoviþ, Religiozno-ơtiþeskie aspekty, S. 16. Zur Komplementarität von Treue und Abzugsfreiheit bei der adligen Gefolgschaft: Hartmut Rüß, Herren und Diener. Die soziale und politische Mentalität des russischen Adels. 9.–17. Jahrhundert, Köln 1994, S. 275–281. 16 Adelheid Krah, Absetzungsverfahren als Spiegelbild von Königsmacht. Untersuchungen zum Kräfteverhältnis zwischen Königtum und Adel im Karolingerreich und seinen Nachfolgestaaten, Aalen 1987. 17 Pravjašþaja ơlita, S. 106.

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„freien Abzug“ (vol’nyj ot-ezd) beschnitten, bis Ivan III. es im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts in Zusammenhang mit dem Ausbau des Dienstgutsystems ganz aufhob. Seitdem galt der Wechsel eines Adligen aus Moskauer Diensten etwa an den Hof des Großfürsten von Litauen als Treuebruch und Verrat, endgültig unter Ivan IV.18 Aber nicht nur auf der Ebene des Adels endete im 15. Jahrhundert die eigentliche partizipative Tradition des politischen Systems, sondern auch auf der Ebene der Städte. Im Herrschaftsbereich der Moskauer Großfürsten verebbte nämlich bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts die in den „burgstädtischen Volksversammlungen“ sich äußernde, ohnehin nur noch schwach ausgeprägte, okkasionelle Teilhabe der Städter an der Politik. Dies hängt unzweifelhaft mit dem einseitigen Erstarken der großfürstlichen Macht zusammen, welche danach strebte, auch den öffentlichen Raum zu monopolisieren.19 Nur in den beiden Stadtrepubliken Groß-Novgorod und Groß-Pskov sowie im „Lande Vjatka“ vermochte die Öffentlichkeit sich ihre Teilhabe am politischen Leben noch für kurze Zeit zu bewahren. DIE WEITERENTWICKLUNG DER PARTIZIPATIVEN BESTANDTEILE DES POLITISCHEN SYSTEMS IN VJATKA, NOVGOROD UND PSKOV Aus wilder Wurzel heraus hatte sich als östlicher Vorposten der slawischen Ökumene im oberen Becken der Kama zwischen Wolga und Ural während des 14. und 15. Jahrhunderts ein ganz eigenartiges politisches Gebilde entwickelt: das „Land Vjatka“. Sein Zentrum bildeten die Burgorte Chlynov, Kotel’niþ und Orlov, in denen sich auch Handwerker und Händler konzentrierten. Weder eigene schriftliche Quellen noch eine kollektive Selbstbezeichnung sind überliefert. Unsere Kenntnisse beruhen neben archäologischen Befunden ausschließlich auf spärlichen Angaben altrussischer Chroniken und zweier kirchlicher Sendschreiben. Daraus ergibt sich zumindest, dass es sich um eine noch wenig gegliederte, ethnisch gemischte Gesellschaft gehandelt hat, aus der sich lediglich eine Schicht heraushob, welche die Führerschaft beanspruchte. Die Anführer wurden offensichtlich gewählt. Dies und die Bezeichnung der Unterführer als vatamany erinnert sehr stark an die späteren Kosakenheere. Ackerbau, Viehzucht, Jagd und Fischerei, aber auch Flusspiraterie und Raubzüge gegen tatarische wie nordrussische Siedlungen bildeten die Existenzgrundlage dieser wilden und wehrhaften Gesellschaft, welche die Oberhoheit des benachbarten russischen Teilfürsten und schließlich

18 I.B. Michajlova, Služilye ljudi severo-vostoþnoj Rusi v XIV - pervoj polovine XVI veka: oþerki social’noj istorii, St. Petersburg 2003, S. 139f. Zum „Abzugsrecht“ des Adels einschränkendkritisch: Rüß, Herren und Diener, S. 259–285. 19 Ju.V. Krivošeev, O veþevych tradicijach v Severo-Vostoþnoj Rusi XIII–XV vv., in: Rossija v IX–XX vekach, Moskau 1999, S. 226–229; Granberg, Veche, S. 142–148.

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des Moskauer Großfürsten nur nominell anerkannte, bis sie 1489 von Moskau endgültig unterworfen werden konnte.20 Novgorod, das sich als frühestes Vermittlungszentrum für den Handel zwischen der Rus’ und dem Ostseeraum seit der Mitte des 10. Jahrhunderts sehr schnell zur zweitgrößten Stadt des Reiches nach Kiev entwickelte, blieb wegen seines Wirtschaftspotentials und als Brücke nach Skandinavien zunächst fest in der Hand der in Kiev herrschenden Großfürsten. Doch je mehr die Teilfürsten sich im Kampf um die Großfürstenwürde gegenseitig zerfleischten und damit auch die Kontinuität der Macht Kievs schwand, desto stärker suchte die Elite Novgorods sich von der fürstlichen Herrschaft zu emanzipieren und die politischen Geschicke ihrer Stadt und des riesigen Hinterlandes im Norden Russlands in die eigenen Hände zu nehmen.21 Bis vor kurzem hat die Geschichtsschreibung großmehrheitlich das Konzept geteilt, dass die burgstädtische Volksversammlung in Gestalt des Veþe als partizipative Komponente der Kiever Epoche sich in Novgorod wie in seiner Beistadt Pskov im Spätmittelalter von einem okkasionellen zu einem tragenden Verfassungselement weiterentwickelt und die fürstliche Herrschaftskomponente neutralisiert habe. Es entstanden zwei Stadtrepubliken, die sich als Ausdruck ihrer kollektiven politischen Identität schließlich selbstbewusst den Beinamen „Herr GroßNovgorod“ bzw. „Herr Groß-Pskov“ zulegten.22 Das Veþe sah man – trotz seines unbestritten schillernden Charakters und fehlender Verankerung in einer geschriebenen Verfassung – als Organ kollektiver politischer Willensbildung, welches den Fürsten ein- oder absetzte, die Amtsträger und den Erzbischof wählte, Recht sprach und über Krieg und Frieden entschied. Daran hat auch nichts geändert, dass die Führung der Republik sich zunehmend in den Händen einer Reihe bojarischer Clans konzentrierte. Dieses Konzept radikal in Frage gestellt hat in jüngster Zeit Jonas Granberg. Die politische Bedeutung der städtischen Volksversammlung in Novgorod und Pskov ist seiner Ansicht nach maßlos überschätzt worden. Sie sei keine reguläre politische Institution gewesen, habe keinerlei Wahlfunktionen gehabt (allerdings bei der Wahl des Erzbischofs mitgewirkt) und keinerlei politische Entscheidungs20 Carsten Goehrke, Die „Republik Vjatka“ – Mythos oder historische Realität?, in: Robert O. Crummey et al. (Hg.), Russische und ukrainische Geschichte vom 16.–18. Jahrhundert, Wiesbaden 2001 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 58), S. 63–78. 21 Eduard Mühle, Die städtischen Handelszentren der nordwestlichen Rus’. Anfänge und frühe Entwicklung altrussischer Städte (bis gegen Ende des 12. Jahrhunderts), Stuttgart 1991, S. 75–164. 22 Zernack, Die burgstädtischen Versammlungen, S. 176–190; Jörg Leuschner, Novgorod. Untersuchungen zu einigen Fragen seiner Verfassungs- und Bevölkerungsstruktur, Berlin 1980; Carsten Goehrke, Groß-Novgorod und Pskov/Pleskau, in: Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. I, 1, Stuttgart 1981, S. 431–483, bes. S. 461–467; Gertrud Pickhan, Gospodin Pskov. Entstehung und Entwicklung eines städtischen Herrschaftszentrums in Altrussland, Berlin 1992 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 47). Zur Entwicklung der kollektiven Identität speziell: Olga Sevastyanova, Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung der Republik Novgorod im Spätmittelalter (1130–1450), Phil. Diss. Universität Zürich 2008 (in russischer Sprache; derzeit im Druck).

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gewalt ausgeübt. Ihr sei in erster Linie die Rolle eines öffentlichen Akklamationsund Bekräftigungsgremiums zugefallen, internen Parteiungen habe sie als Kampfmittel gedient, aber auch interne Konflikte zu bereinigen gehabt.23 Granbergs Verdienst ist es, eine allzu schematische und generelle Gleichsetzung der kollektiven politischen Willensbildung in Groß-Novgorod und Pskov mit dem Veþe in Zweifel gezogen zu haben. Dies hat einer grundsätzlichen Revision der Novgoroder Verfassungsentwicklung den Weg gebahnt und dazu genötigt, die Quellen völlig neu zu lesen. In den letzten Jahren hat die Forschung daher damit begonnen, sich von der einseitigen Fixierung auf das Veþe als höchstem „Verfassungsorgan“ der Novgoroder Stadtrepublik zu lösen und die Entwicklung der politischen Willensbildung differenzierter zu betrachten. Roland Leffler beispielsweise hat – ausgehend von dem bilateralen Vertrag, mit welchem Fürst Jaroslav Jaroslaviþ und „Ganz Novgorod“ 1270 einen schweren Konflikt beendeten – zeigen können, dass hier erstmals nachweisbar auf der Basis eines wechselseitigen Eides die Machtbefugnisse des Fürsten zugunsten der Vertreter der Stadtrepublik massiv eingeschränkt wurden und dass Jaroslav „Ganz Novgorod“ als gleichberechtigten Vertragspartner anerkennen und dies eidlich bekräftigen musste. Leffler sieht daher als Träger der politischen Willensbildung und als Gegenüber des Fürsten zumindest seit dem späten 13. Jahrhundert eine Schwurgemeinschaft, die sich in der Figur des „Ganzen Novgorod“ manifestierte und nicht unbedingt mit dem Veþe identisch war.24 Olga Sevastyanova hat diese Überlegungen weiter geführt und mit einer dichten Analyse aller verfügbaren schriftlichen Quellen einleuchtend darzulegen vermocht, dass das Veþe erst seit dem ausgehenden 14., auf jeden Fall aber seit dem zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts als feste Institution den Platz dieser Schwurgemeinschaft eingenommen hat. Von einer okkasionellen und noch vielfach schillernden Ausdrucksform kollektiven politischen Willens einzelner Gruppierungen oder der ganzen Stadt zu einer festen Institution für „Ganz Novgorod“ war es also ein weiter Weg. Davon, dass das Veþe als Verfassungsinstitution keine Fiktion war, wie etwa Granberg behauptet, zeugen allein schon die Veþeglocke und das Amt des Veþesekretärs (veþnyj d’jak). Wohl kaum sonst hätte der Moskauer Großfürst Ivan III. nach der definitiven Liquidierung der Unabhängigkeit GroßNovgorods gemäß der Chronik von Pskov sich von „Ganz Novgorod“ beeiden lassen, dass es zukünftig „in Groß-Novgorod keinen Bürgermeister, keinen Tausendschaftsführer und kein Veþe geben dürfe; und die Veþeglocke brachten sie nach Moskau“.25 Dies würde bedeuten, dass die Entwicklung der kollektiven politischen Willensbildung in der Novgoroder wie in der Pskover Stadtrepublik sich im Lauf des späten Mittelalters derjenigen der lateineuropäischen Stadtkommunen 23 Granberg, Veche, bes. S. 148–150, 214f. 24 Roland Leffler, Novgorod – eine europäische Kommune des Mittelalters?, in: Carsten Goehrke / Bianka Pietrow-Ennker (Hg.), Städte im östlichen Europa. Zur Problematik von Modernisierung und Raum vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Zürich 2006, S. 33–59. 25 Olga Sevastyanova, In Quest of the Key Democratic Institution of Medieval Rus’: Was the Veche an Institution that Represented Novgorod as a City and a Republic?, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 2010, 57, S. 1–23, bes. S. 16–19.

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angenähert hat und dass Schwurgemeinschaft und Verrechtlichung der politischen Beziehungen zum früheren Stadtherrn möglicherweise auf die engen Handelsund Kulturkontakte mit den Hansestädten zurückgehen.26 Schon Rudolf Mumenthalers Analyse der „Novgoroder Gerichtsurkunde“ zielte in diese Richtung und gipfelte in der These, dass das politische System des spätmittelalterlichen Groß-Novgorod zwischen der einseitig fürstenbestimmten Stadt Moskauer Typs und der Stadtkommune Lateineuropas anzusiedeln sei.27 Diese These gilt in gewisser Weise auch für die Novgoroder „Beistadt“ Pskov, die sich in der Mitte des 14. Jahrhunderts – außer kirchenrechtlich – aus der politischen Abhängigkeit Groß-Novgorods zu lösen vermochte, wenngleich als Zentrum eines viel kleineren Stadtstaates. Gertrud Pickhan hat aus den vergleichsweise spärlicher fließenden Quellen eine Verfassungsentwicklung rekonstruiert, die viele Novgorod ähnliche Züge aufweist. Einer Schwureinung der freien Bevölkerung als Ausgangspunkt kollektiver Willensbildung ist sie zwar nicht auf die Spur gekommen, vermag aber deutlich zu machen, dass in Pskov ein Veþe diese Funktion nachweisbar bereits seit dem frühen 14. Jahrhundert besessen hat (also wohl früher als in Novgorod), dass der Fürst und seine Amtsträger genauso wie jeder gewählte Bürgermeister bei Amtsantritt einen Eid auf die Pskover Rechtsordnung abzulegen hatten und dass diese wiederum vom Veþe kontrolliert wurde. Schon die vermutlich erste Redaktion der „Pskover Gerichtsurkunde“ von 1397 präsentierte einen Gesetzeskodex, welcher die Vorrangstellung des Veþe in der Gesetzgebung fixierte und dem gesamten Gemeinwesen einen festen, institutionalisierten Rahmen gab. Wie Novgorod im Winter 1477/78 musste auch der „Herr Groß-Pskov“ sich im Winter 1509/10 der Alleinherrschaft des Moskauer Großfürsten unterwerfen, sein Veþe liquidieren und die Veþeglocke abhängen.28 Aber nicht nur auf „gesamtstaatlicher“ Ebene hat die politische Partizipation breiterer Kreise in den beiden Stadtrepubliken während des 15. Jahrhunderts ihren Kulminationspunkt erreicht, sondern dieses System fand bei der Unterteilung beider Städte in Quartiere (koncy) eine Entsprechung und genossenschaftliche bzw. korporative Ordnungsprinzipien scheinen auch die kleinräumigen Selbstverwaltungsstrukturen der Straßen und der ursprünglich militärischen Hundertschaften (sotni) geprägt zu haben, ohne dass wir darüber Genaues wissen.29 Dass dieses trotz seiner oligarchischen Führungsstruktur auf Partizipation und Selbstverwaltung gegründete politische System dem Alleinherrschaftsanspruch des Moskauer Großfürsten zuwiderlief, musste diesen reizen, je stärker er seine Vormachtstellung in der Nordost-Rus’ auszubauen vermochte. So lange es ging, versuchte Groß-Novgorod dem drohenden Zugriff Moskaus dadurch entgegenzuwirken, dass es eine Schaukelpolitik zwischen seinen wichtigsten Nachbarstaaten 26 Leffler, Novgorod, S. 51; Sevastyanova, In Quest of the Key Democratic Institution, S. 19. 27 Rudolf Mumenthaler, Spätmittelalterliche Städte West- und Osteuropas im Vergleich. Versuch einer verfassungsgeschichtlichen Typologie, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 1998, 46, S. 39–68, bes. S. 58f. 28 Pickhan, Gospodin Pskov, bes. S. 170–212, 219–226, 232–251, 290–297, 327. 29 Näher dazu Leuschner, Novgorod, S. 64f., 109–123.

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Moskau, Tver’ und Litauen betrieb. Als das Großfürstentum Moskau im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts durch einen innerdynastischen Konflikt gelähmt war, der das ganze Land in einen Bürgerkrieg stürzte, beeilte man sich in Novgorod, dem Widerpart Großfürst Vasilijs II. beizuspringen, um die Stellung des regierenden Machthabers zu schwächen. Doch als Vasilij II. sich endlich durchgesetzt hatte, brach er 1456 unverzüglich zu einer Strafexpedition gegen Novgorod auf und eroberte die Stadt. Im Friedensvertrag von Jaželbicy musste die Stadtrepublik bereits erste Einschränkungen ihrer politischen Unabhängigkeit hinnehmen und sollte sich verpflichten, auf dem Veþe keine Urkunden mehr auszustellen. Für die Praxis blieb dies allerdings folgenlos. Als daraufhin in Novgorod die Anhänger einer Politik die Oberhand gewannen, welche sich unter den Schutz des Großfürsten von Litauen stellten wollten, verschärfte Moskau den Druck. 1460 reiste Vasilij II. persönlich nach Novgorod, um seinen Herrschaftsanspruch zu unterstreichen, goss dadurch aber nur noch Öl ins Feuer. Als sein Sohn und Nachfolger Ivan III. 1470 um die Bestätigung eines vom Veþe gewählten neuen Erzbischofs gebeten wurde, nutzte er diese Gelegenheit, um Groß-Novgorod unter Bruch des Friedensvertrages von 1456 offiziell als sein Vatererbe (votþina) zu bezeichnen. Dies löste in Novgorod schwere Tumulte aus, und die Litauen freundliche Partei arbeitete ein Vertragsprojekt aus, welches Kasimir IV. von Polen-Litauen diejenigen Herrschaftsrechte zusicherte, welche bis dahin Moskau zugestanden worden waren. Ivan III. reagierte darauf unverzüglich mit seiner vollen Militärmacht, bevor Litauen eingreifen konnte, und schlug das zahlenmäßig weit überlegene Novgoroder Heer am 14. Juli 1471 in der Schlacht an der Šelon’, und zwar vernichtend. Groß-Novgorod musste im Friedensvertrag von Korostyn’ die Oberhoheit des Großfürsten über sein „Vatererbe“ bedingungslos anerkennen und allen Kontakten zu Litauen abschwören. Die Selbstverwaltungsinstitutionen blieben zwar erhalten, aber Ivan III. beschnitt die jurisdiktionelle Autonomie von Amtsträgern und Veþe bereits insoweit, dass er sich nach Belieben in die Rechtsprechung einschalten konnte. Dieses trojanische Pferd erlaubte es ihm, im Winter 1475/76 einen pompösen Triumphzug nach Novgorod zu unternehmen, um dort Gericht zu halten, nachdem im Gefolge der politischen Krise soziale Konflikte um sich gegriffen hatten. 1477 spitzten sich dann die Ereignisse zum letzten Akt der „Novgoroder Tragödie“30 zu: „Ganz Novgorod“ begann sich in eine pro-litauische und eine pro-moskauer Partei zu spalten. Beide Gruppierungen hofften, durch ihre Politik am ehesten einen Rest an Autonomie und Selbstverwaltung retten zu können. Als die Partei, welche die Moskauer Karte spielte, dem Großfürsten Ivan III. durch Gesandte ausrichten ließ, sie würde ihn als Alleinherrscher (gosudar’) anerkennen, kam es auf einem Veþe zu Handgreiflichkeiten, denen mehrere Parteigänger Moskaus zum Opfer fielen. Nun hatte Ivan III. einen Vorwand, um in Novgorod tabula rasa zu machen. Widerstand gegen seine Truppen gab es nicht mehr. Damit endete im Januar 1478 Novgorods politisches Sonderleben, und am 15. Januar hatte „Ganz Novgorod“ den Eid auf den Großfürsten von Moskau als Alleinherrscher abzulegen. Die führenden Köpfe der pro-litauischen Partei wur30 So Ruslan G. Skrynnikov, Tragedija Novgoroda, Moskau 1994.

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den verhaftet. Um aber ein Wiederaufleben des alten Geistes zu unterbinden, ließ Ivan III. auch den Erzbischof als höchsten Repräsentanten der früheren Republik einkerkern und im Laufe der 80er Jahre die gesamte Elite – mehrere tausend Personen – enteignen und auf Moskauer Kernterritorien umsiedeln.31 Nach der gewaltsamen Gleichschaltung Groß-Novgorods im Jahre 1478 kam 1489 das kleine „Land Vjatka“ an die Reihe und schließlich 1510 unter Großfürst Vasilij III. auch der „Herr Groß-Pskov“. Pskov hatte sich allerdings schon im 14. Jahrhundert an Moskau angelehnt, um in seiner Sandwich-Position zwischen den mächtigen Nachbarn im Westen (Litauen und dem livländischen Zweig des Deutschen Ordens) und Groß-Novgorod im Osten einen entfernteren und damit scheinbar ungefährlichen Verbündeten an seiner Seite zu wissen. Schon 1417 bezeichnete sich der Stadtstaat erstmals offiziell sogar selber als „Vatererbe“ des Moskauer Großfürsten. Seit Pskov 1460 dem Großfürsten gar den Titel eines Alleinherrschers (gosudar’) zugestanden hatte, mehrten sich dessen Eingriffe in das innere Gefüge der Republik, die nunmehr de facto wie de jure zu einem Bestandteil des Moskauer Reiches wurde und deren Selbstverwaltungsinstitutionen sich nur noch so lange dahinschleppen konnten, wie es der herrscherlichen Gnade beliebte.32 Das Ende kam nicht weniger brutal als zuvor in Novgorod: Mit der von oben verfügten Zwangsdeportation der gesamten Elite offenbarte die künftige Moskauer Autokratie, welche politischen Werte von nun an zu gelten hatten. GRÜNDE FÜR DEN SIEG DES GROSSFÜRSTLICHEN MACHTSTAATES Über mehrere Jahrzehnte hinweg hat Moskau gegenüber Groß-Novgorod wie gegenüber Groß-Pskov systematisch eine Politik verfolgt, die beide Staaten scheibchenweise schwächen und ihren inneren Zusammenhalt aufbrechen sollte. Warum hat es damit Erfolg gehabt? Warum vermochte das wirtschaftlich so starke Novgorod seine Autonomie und politische Andersartigkeit nicht wirksam zu verteidigen? Und warum nicht auch Pskov, das durch den Transithandel mit Livland reich geworden war? Dies ist eine Kernfrage nicht nur der russischen, sondern der gesamten europäischen Geschichte, denn sie legt gewisse historische Mechanismen offen, die wohl allgemeingültig sind. Für die fehlenden Chancen der Territorien mit partizipativen politischen Systemen, sich gegen die Bedrohung durch den autoritären Moskauer Machtstaat zu behaupten, sehe ich vor allem folgende Gründe: 1. Sowohl Groß-Novgorod als auch Groß-Pskov und Vjatka lagen an der Peripherie des ehemaligen Reiches von Kiev. Gegenüber einer Macht, die aus einem Zentrum heraus die Peripherie nach allen Seiten hin über kurze Distanzen zu attackieren vermochte, waren sie von vornherein benachteiligt. Dies 31 Eingehende Chronik der Entwicklung von 1450 bis 1478 bei Leuschner, Novgorod, S. 149– 184; vgl. auch Joel Raba, The Fate of the Novgorodian Republic, in: The Slavonic and East European Review, 1967, 45, S. 307–323; Skrynnikov, Tragedija, S. 8–42. 32 Pickhan, Gospodin Pskov, bes. S. 250f., 288–290, 309, 311–330.

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sollte sich viel später auch im Bürgerkrieg von 1918 bis 1921 zeigen, als es der auf die zentralen Regionen um Moskau zusammengedrängten Roten Armee gelang, die von den Rändern Russlands her konzentrisch angreifenden antibolschewistischen Kräfte trotz ausländischer Unterstützung vernichtend zu schlagen. 2. Nicht einmal zu einer gegen Moskau gerichteten politischen Allianz vermochten sich die drei Länder aufzuraffen, um damit ihre Schlagkraft zu stärken. Vjatka ließ sich von Ivan III. 1471 militärisch sogar in den Feldzug gegen Groß-Novgorod einspannen – achtzehn Jahre bevor es selber okkupiert wurde. Auch Pskov sprang seinem „älteren Bruder“ Novgorod nicht bei, da die beiderseitigen Beziehungen fast immer gespannt gewesen waren. Politische Kurzsichtigkeit und Fatalismus gegenüber dem scheinbar Unabwendbaren bestimmten daher die Politik der letzten Jahrzehnte vor der Angliederung. 3. Zugleich waren diese Jahrzehnte in Novgorod wie Pskov geprägt von wachsenden inneren Spannungen und Konflikten, die es verhinderten, dass sich zumindest innerhalb der einzelnen Länder eine gemeinsame Abwehrfront gegen die äußere Bedrohung zu bilden vermochte. Daher gelang es der Moskauer Politik leicht, die verschiedenen politischen Lager gegeneinander auszuspielen. 4. Zahlenmäßig war das Novgoroder dem Moskauer Heer 1471 weit überlegen. In der Schlacht an der Šelon’ standen 40 000 Novgoroder nicht einmal halb so viel Moskowitern und deren Hilfstruppen gegenüber. Obgleich das Novgoroder Heer zum größten Teil aus einer Volksmiliz kampfungewohnter Handwerker, Händler und Bauern bestand, erwiesen sich gerade die Fußtruppen als kampfbegierig und brachten anfänglich die Moskowiter in Bedrängnis. Doch schlachtentscheidend fiel ins Gewicht, dass die Reiterei des Erzbischofs sich weigerte, in den Kampf einzugreifen und dass an Berittenen damit nur die Dienstleute der Bojaren verblieben. Dieses Ungleichgewicht an Kavallerie nutzten vor allem die tatarischen Hilfstruppen der Moskauer Seite, um die Volksmilizen niederzumachen.33 Novgorods militärische Niederlage war also keineswegs vorprogrammiert, sondern das Ergebnis mangelnder innerer Geund Entschlossenheit. Allerdings hat die konsequente Eliminierung der politischen Eliten in Novgorod und Pskov durch Moskau von heute auf morgen nicht auch die Erinnerung an die partizipativen politischen Traditionen auslöschen können.34 Dies spricht dafür, 33 Schilderung des Ablaufs der Schlacht bei Skrynnikov, Tragedija, S. 12f. Zur Entwicklung der sozialen Zusammensetzung des Novgoroder Heeres: M.G. Rabinoviþ, O social’nom sostave novgorodskogo vojska X–XV vv., in: Nauþnye doklady vysšej školy. Istoriþeskie nauki, 1960, H. 3, S. 87–96. Die bei den Grabungen auf Novgoroder Stadthöfen gefundenen Waffen decken das gesamte Spektrum vom Fußkämpfer bis zum Kavalleristen ab, vgl. A.F. Medvedev, Oružie Novgoroda Velikogo, in: Trudy novgorodskoj archeologiþeskoj ơkspedicii, II, Moskau 1959, S. 121–191 (= Materialy i issledovanija po archeologii SSSR, 65). 34 Dazu eingehend Andreas Kappeler, Quis potest contra Deum et magnam Neugardiam? Novgorod und sein Verhältnis zum Moskauer Zentrum im Lichte von Ausländerberichten des 16. und 17. Jahrhunderts, in: ders. (Hg.), Die Geschichte Russlands im 16. und 17. Jahrhundert

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dass das besondere politische System in den beiden Stadtstaaten über die herrschende Schicht hinaus verankert gewesen sein muss. Dazu beigetragen hat vielleicht auch, dass in beiden Städten die Selbstverwaltungsinstitutionen der Hundertschaften (sotni) und Straßen noch bis weit in das 17. Jahrhundert hinein erhalten geblieben zu sein scheinen.35 Als in der Mitte des 17. Jahrhunderts in Moskau und vielen anderen Städten soziale Unruhen ausbrachen, griffen diese 1650 in Zusammenhang mit Getreidelieferungen nach Schweden auch auf Novgorod und Pskov über.36 Posadleute und Musketiere (Strelitzen) vertrieben die Amtsträger des Zaren und nahmen das Heft des Handelns in die eigenen Hände. Ihre Organisationsformen (Volksversammlung) und der Ort der Volksversammlung sowie der Alarmglocke gemahnten stark an die früheren Veþetraditionen, auch wenn die Bezeichnung Veþe nicht mehr fiel. Natürlich ist es schwierig zu entscheiden, wieviel von diesen Praktiken, auf welche die Öffentlichkeit quasi automatisch zugriff, sich der von Zar Ivan IV. eingeführten lokalen und regionalen Selbstverwaltung (zemskoe samoupravlenie) verdankte und wieviel der hundertfünfzig Jahre zurück liegenden Zeit der Unabhängigkeit.37 Dass die Aufständischen in Pskov, welches drei Monate lang von Moskauer Truppen belagert wurde, separatistische Ideen äußerten und einen Übertritt unter die Herrschaft Polen-Litauens erwogen, greift ebenfalls alte (wenngleich Novgoroder) Muster wieder auf. Entsprechend drastisch fiel in beiden Städten die Vergeltung des Staates aus, der nichts so sehr fürchtete wie „Separatismus“. Danach verlieren sich in Novgorod wie Pskov die Spuren spontaner politischer Partizipationsbewegungen. Umso größer wurden die Nachwirkungen des „Anderen Russland“, welches Groß-Novgorod und Groß-Pskov gegenüber dem autokratischen Russland verkörpert hatten. Von den russischen Aufklärern wie Aleksandr Radišþev bis zu den Dekabristen galt eine idealisierte Novgoroder Republik als Beweis dafür, dass ein freiheitliches System in Russland möglich war.38 In der Mitte des 19. Jahrhunderts haben dann zum großen Missbehagen der Vertreter der offiziellen Geschichtsschreibung Historiker wie Afanasij Šþapov und Nikolaj Kostomarov ihr am russischen Norden orientiertes Konzept der russischen Geschichte als Volksgeschichte entwickelt, dem bei Kostomarov die „Volksrechtstraditionen“ (narodopravstva)

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aus der Perspektive seiner Regionen, Wiesbaden 2004 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 63), S. 167–184. Eine Sammlung aller Novgorod betreffenden Auszüge aus westeuropäischen Reiseberichten in russischer Übersetzung bei G.M. Kovalenko, Velikij Novgorod. Vzgljad iz Evropy. XV – naþalo XX v., St. Petersburg 2010. M.N. Tichomirov, Pskovskoe vosstanie 1650 g. Iz istorii klassovoj bor’by v Russkom gorode XVII v., in: ders., Klassovaja bor’ba v Rossii XVII v., Moskau 1969, S. 23–138, hier S. 28f. Ebd., bes. S. 85, 104f.; M.N. Tichomirov, Novgorodskoe vosstanie 1650 g., in: ebd., S. 139– 169, bes. S. 154. M.N. Tichomirov, Pskovskoe vosstanie, sieht solche Bezüge, V.A. Varencov / G.M. Kovalenko, V sostave Moskovskogo gosudarstva. Oþerki istorii Velikogo Novgoroda konca XV – naþala XVIII v., St. Petersburg 1999, S. 113–121, sehen sie nicht. Christian Lübke, Novgorod in der russischen Literatur (bis zu den Dekabristen), Berlin 1984.

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Groß-Novgorods, Groß-Pskovs und Vjatkas zugrunde lagen.39 In anderer Gestalt tauchte das Veþe-Russland dann zur Zeit der Perestrojka bei der „Leningrader Historikerschule“ I.Ja. Frojanovs und A.Ju. Dvorniþenkos wieder auf, die dem sowjetischen Konzept des zentralistischen Moskauer Einheitsstaates als einem von der Geschichte angeblich gewollten System ein anderes entgegensetzten, welches die alte Rus’ als eine lose Föderation von Stadtstaaten deutet.40 Auch dem Ausland, dessen liberale Geister nicht müde wurden, die zaristische „Despotie“ zu geißeln, bot sich das Novgoroder Staatsmodell als historische Alternative an.41 WAR DER SIEG DES AUTORITÄREN MACHTSTAATES HISTORISCH UNAUSWEICHLICH? Alexander Isaþenko hat den Gedanken einmal durchgespielt, wie die Geschichte Russlands wohl verlaufen wäre, wenn Groß-Novgorod die Auseinandersetzung mit Moskau 1471–1478 für sich entschieden hätte.42 Utopisch – gewiss, doch dass das Ende des partizipativen Staatsmodells einen tiefen Einschnitt für die weitere Entwicklung bedeutet hat, darf man schwerlich bagatellisieren, darin gehe ich mit Henrik Birnbaum und Ruslan Skrynnikov einig.43 Aber war dieses Ende der partizipativen Traditionen in der ostslawischen Gesellschaft historisch unausweichlich? Wenn Groß-Novgorod auf sich alleine gestellt gewesen wäre – gewiss. Wie oben angedeutet, hat ein Sieg des Novgoroder Heeres über die Truppen des Moskauer Großfürsten im Jahre 1471 in Reichweite gelegen. Das Wirtschaftspotential Groß-Novgorods dürfte dasjenige Moskaus zu diesem Zeitpunkt durchaus aufgewogen haben, und sein Territorium war sogar größer. Doch an Bevölkerungsgewicht vermochte es wegen der dünnen Besiedlung des Nordens nur gut ein Fünftel desjenigen Moskaus in die Waagschale zu werfen.44 Dies war zu wenig, um auf die Dauer gegenüber dem Moskauer Machtstaat bestehen zu können. Aber soweit 39 Carsten Goehrke, Russlands Regionen und der Regionalismus. Forschungsgeschichtliche Bilanz und Ausblick, in: Kappeler (Hg.), Die Geschichte Russlands im 16. und 17. Jahrhundert, S. 38–51, bes. S. 38f. 40 I.Ja. Frojanov / A.Ju. Dvorniþenko, Goroda-gosudarstva Drevnej Rusi, Leningrad 1988. 41 Dazu zählt beispielsweise Wilhelm Müller, Groß-Nowgorod, der Freistaat der russischen Slawen, Berlin 1843. 42 A.V. Isaþenko, Esli by v konce XV veka Novgorod oderžal pobedu nad Moskvoj, in: Wiener Slavistisches Jahrbuch, 1973, 18, S. 48–55. 43 Henrik Birnbaum, Did the 1478 Annexation of Novgorod by Muscovy Fundamentally Change the Course of Russian History?, in: Novgorod in Focus: Selected Essays by Henrik Birnbaum, Columbus, Ohio 1996, S. 166–180; Skrynnikov, Tragedija, S. 152–154. 44 Das Großfürstentum Moskau zählte um 1470 rund 3 Mio. Einwohner, Groß-Novgorod auf seinem Kerngebiet etwas mehr als eine halbe Million, mit den peripheren Gebieten im Norden ca. 0,6–0,7 Millionen, vgl. Agrarnaja istorija severo-zapada Rossii. Vtoraja polovina XV – naþalo XVI v., hg. von A.L. Šapiro, Leningrad 1971, S. 322; V.A. Varencov / G.M. Kovalenko, Chronika buntašnogo veka. Oþerki istorii Novgoroda XVII veka, St. Petersburg 1991, S. 6 (rechnen für die Wende des 15./16. Jh. mit 0,8 Millionen).

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ist es ja gar nicht erst gekommen. Der Zusammenbruch der Novgoroder VeþeRepublik erscheint vielmehr als ein typisches Beispiel für die grundsätzliche Schwäche partizipativer politischer Systeme gegenüber aggressiven, autoritär geführten Machtstaaten. Dies haben 1940 auch die überraschenden militärischen Anfangserfolge Hitlerdeutschlands über Frankreich, die Beneluxstaaten, Dänemark und Norwegen gezeigt. Daher muss man die Frage breiter fassen: War es historisch unausweichlich, dass sich aus den komplexen politischen Strukturen der Kiever Epoche im Spätmittelalter der autoritäre Machtstaat Moskauer Typs herauszuschälen vermochte? Dazu vier Feststellungen: 1. Gewisse Weichen sind bereits durch die Übernahme des Christentums in seiner orthodoxen Variante gestellt worden, weil dadurch das spezifische byzantinische Staatsverständnis der Kirche prägend wirken konnte. Dies hat jedoch intensive politische, dynastische und kulturelle Kontakte mit Lateineuropa während der Kiever Epoche noch nicht beeinträchtigt. 2. Entscheidender ausgewirkt hat sich diese Symbiose zwischen kirchlicher Hierarchie und Fürstenherrschaft erst nach dem Mongolensturm, als die vom Khanat Kipþak beherrschte Rus’ sich aus politischen wie religiösen Gründen gerade in jener historischen Epoche gegen Lateineuropa abschottete, da dort die entscheidenden Umwälzungen abliefen, welche die Moderne vorbereiteten. Dazu gehörten die Wiederentdeckung des römischen Rechts und die daraus hervorwachsende Verrechtlichung der politischen Beziehungen, die Konsolidierung des Stadtrechts sowie die religiöse und politische Emanzipation des Individuums. Als Moskau gegen Ende des 15. Jahrhunderts den Kontakt zu Lateineuropa wieder aufnahm, waren seine machtstaatlichen Strukturen bereits so übermächtig, dass Reformeinflüsse aus dem Westen chancenlos bleiben mussten. 3. Der Aufstieg Moskaus von einem unbedeutenden Fürstentum zum Alles verschlingenden zentralistischen und autokratischen Machtstaat erklärt sich aus dem Zusammenspiel mehrerer günstiger, das heißt historisch „zufälliger“, Faktoren. Darauf, dass die Lage Moskaus auf dem neu kolonisierten Territorium der Nordost-Rus’ ohne schon verfestigte soziopolitische Strukturen dem Fürsten eine starke Ausgangsposition verschaffte, hat Ekkehard Klug hingewiesen.45 Doch dies allein hätte schwerlich genügt. Hinzu kamen die konsequente Kollaborationspolitik der Moskauer Fürsten mit dem Khanat Kipþak, welche ihnen machtpolitische und finanzielle Vorteile gegenüber anderen Teilfürstentümern, insbesondere Tver’, verschaffte; dynastisches Glück, welches eine ununterbrochene Erbfolge mit starken Herrscherpersönlichkeiten ermöglichte; eine konsequente Erbfolgepolitik, welche jeweils einen der Söhne bevorteilte, letztlich in die Primogenitur einmündete und damit die territo45 Ekkehard Klug, Wie entstand und was war die Moskauer Autokratie?, in: Eckhard Hübner et al. (Hg.), Zwischen Christianisierung und Europäisierung. Beiträge zur Geschichte Osteuropas in Mittelalter und Früher Neuzeit. Festschrift für Peter Nitsche zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1998, S. 91–113.

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riale Geschlossenheit des Herrschaftsgebietes sicherte;46 schließlich – bis auf das zweite Viertel des 15. Jahrhunderts – das Ausbleiben kräftezehrender innerdynastischer Konflikte. Wenn beim Ringen um die Gunst der Tataren anstelle Moskaus sich das eigentlich eher prädestinierte Tver’ durchgesetzt hätte, wäre die Entwicklung möglicherweise anders verlaufen, weil die dortige Situation seit den 1340er Jahren wegen innerdynastischer Konflikte viel instabiler war.47 Wenn ferner der Metropolit sich 1325 für Tver’ und nicht für Moskau als neuen Amtssitz entschieden hätte, wäre Moskau wohl kaum in jene historisch schicksalhafte Position hineingewachsen, die es zum Motor eines zentralistischen und autokratischen Machtstaates hat werden lassen. 4. Im Vergleich zu Lateineuropa hat gewiss auch eine Rolle gespielt, dass das Bevölkerungsgewicht der Städte im Moskauer Reich gering blieb und die urbane Welt zur Durchsetzung ihrer politischen Interessen daher zu wenig Druck aufzusetzen vermochte.48 Der autokratische Machtstaat der Neuzeit kann also nicht als Endprodukt eines deterministischen Geschichtsprozesses gelten, sondern ist aus einem ganzen Bündel zeitbedingter Ereignisse und Konstellationen hervorgewachsen, welche die Entwicklung der Rus’ im späten Mittelalter geprägt haben. Dass partizipative und genossenschaftliche Traditionen autogene Bestandteile ostslawischer politischer Werte sind, zeigt nicht nur ihr Weiterleben und Ausbau im Rahmen des Großfürstentums Litauen49, sondern auch ihre Genese aus wilder Wurzel bei den Kosakengesellschaften des 16. und 17. Jahrhunderts50 oder bei den Volksaufständen der russischen Neuzeit.51 Dass sie sich auf dem Boden des Zarenreiches aber nicht mehr durchzusetzen vermochten, liegt bei den Kosakengesellschaften an ihrer

46 Peter Nitsche, Großfürst und Thronfolger. Die Nachfolgepolitik der Moskauer Herrscher bis zum Ende des Rjurikidenhauses, Köln 1972. 47 Klug, Das Fürstentum Tver’, S. 312. 48 Um 1500 dürfte der Urbanisierungsquotient des Moskauer Reiches bei höchstens 5 % gelegen haben, im deutschsprachigen Südwesten und in Westeuropa hingegen bei durchschnittlich 25 %, vgl. Goehrke, Russland, S. 115. 49 Im Großfürstentum Litauen haben sich die partizipativen Adelstraditionen der Kiever Zeit mit den aus Polen einwirkenden ständischen und adelsemanzipatorischen Elementen verbunden und weiterentwickelt, die partizipativen Traditionen der Stadtbevölkerung mit Elementen des Magdeburger Rechts, vgl. Goehrke, Russland, bes. S. 190–193. 50 Peter Rostankowski, Siedlungsentwicklung und Siedlungsformen in den Ländern der russischen Kosakenheere, Berlin 1969, bes. S. 9–17; N.I. Nikitin, O proischoždenii, strukture i social’noj prirode soobšþestv russkich kazakov XVI - serediny XVII veka, in: Istorija SSSR, 1986, H. 4, S. 167–177; Iaroslav Lebedynsky, Les cosaques. Une société guerrière entre libertés et pouvoirs: Ukraine – 1490–1790, Paris 2004; G. Patrick March, Cossacks of the Brotherhood: The Zaporog Kosh of the Dniepr River, New York 1990. 51 Heinz-Dietrich Löwe (Hg.), Volksaufstände in Russland. Von der Zeit der Wirren bis zur „Grünen Revolution“ gegen die Sowjetherrschaft, Wiesbaden 2006 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 65).

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peripheren Lage und bei den Volks-, insbesondere Bauernaufständen an ihrer lokalen Verzettelung. Einmal im Sattel, hatte der autokratische Machtstaat wenig Mühe, mit dem Wiederaufleben partizipativer Kräfte fertig zu werden.

1555 – MITTELEUROPA FINDET SEINEN RELIGIONSFRIEDEN Axel Gotthard „Kriegen […] wer deß Sathans selbs. Derhalben er auch die befürderung solchen sathanswercks deß kriegß er für vil erger dan alles ander ermesse, sonderlich cum Deus noster sit Deus pacis ac concordiae et non Deus belli ac dissensionis. Darumb dahin zu laborieren, dass gemainer, bestendiger friden aufgericht und derhalb nit allain aufs papir, sonder auch in die hertzen zu schreiben“.

Mit diesem ungewöhnlich1 grundsätzlichen Bekenntnis zur Friedfertigkeit zog der württembergische Votant am Reichstag von 1555 − es wird Hieronimus Gerhard gewesen sein − seine Lehren aus einer Dekade voller konfessionell motivierter Querelen und sogar Kriege. Das leidenschaftliche Plädoyer für den „bestendigen friden“ war nicht vergebens, Deutschlands Politiker rauften sich in Augsburg zu einem interkonfessionellen Friedensschluss zusammen. Der Augsburger Religionsfrieden ist ein Schlüsseltext der deutschen Geschichte. Einerseits werden wie im Brennspiegel die Themen und Tendenzen der vorangehenden Epochen gebündelt, zumal als Summe der Reformationszeit lässt sich der Religionsfrieden lesen; andererseits gibt er aber auch dem Politikbetrieb und der Rechtsprechung des Konfessionellen Zeitalters jene Herausforderungen und Probleme vor, an denen sich dieses Jahrhundert abarbeiten wird.

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Für Politiker des 16. und 17. Jahrhunderts war Frieden − plakativ gesagt − so wenig ein Wert an sich wie der Krieg grundsätzlich verdammenswert. Frieden war nur im Rahmen einer gottgefälligen Weltordnung legitim und wünschenswert (vormoderne Diskurse pflegten Pax mit Iustitia zu verschwistern bzw. beide, in Anlehnung an ein alttestamentarisches Diktum, einander küssen zu lassen), legitim war aber andererseits auch das „bellum iustum“. Noch war Pax nicht auf Ruhe und Ordnung eingeschrumpft, noch war Krieg nicht sittlich neutrales Attribut von Staatssouveränität (wie im 18. und 19. Jahrhundert) bzw. per se ein Übel (wie aus der Warte der modernen Political Correctness und, seit Briand-Kellogg-Pakt und UN-Charta, des Völkerrechts). Ich kann all das nur andeuten − und auf mein nächstes, bereits fertig ausformuliertes Buch vertrösten, das sich auf siebenhundert Seiten mit den Kriegs- und Friedenskonzepten der vormodernen Entscheidungsträger befassen wird. − Das Zitat: Reichstagsprotokoll des Johann Ulrich Zasius, abgedruckt bei Rosemarie Aulinger / Erwein H. Eltz / Ursula Machoczek (Hg.), Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. Der Reichstag zu Augsburg 1555, Teilbd. 2, München 2009, Nr. 145 (zum 20. März, hier S. 1328).

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1. WARUM DER AUGSBURGER RELIGIONSFRIEDEN AVANTGARDISTISCH WAR Der Augsburger Religionsfrieden versuchte den Dissens exklusiver Wahrheitsmonopole nicht theologisch zu überwinden, sondern politisch handhabbar zu machen, durch seine Verrechtlichung: Er grenzte Besitzstände gegeneinander ab und verwies wegen etwaiger Streitigkeiten hierum auf die Problemlösungskompetenz des Reichskammergerichts. Zentrales regulatives Prinzip war der Wille der regionalen Obrigkeit. Die föderalistische Organisation Mitteleuropas ermöglichte es, die Konfessionswahl gleichsam eine Ebene tiefer anzusiedeln als im Süden, Westen und Norden des Kontinents.2 Der Augsburger Religionsfrieden besiegelte die Territorialisierung der deutschen Reformation. Die Fernwirkungen sind verblasst noch heute auszumachen, an für einen Landstrich typischen Stadtbildern, auch so harmlosen Sachverhalten wie der Brauereidichte oder den Festbräuchen einer Region. Untertanen, die sich mit der Konfessionswahl der Obrigkeit nicht abfinden wollten, durften auswandern. Schon vormoderne Handbücher versuchten diese Grundsätze als „Ius reformandi“ der territorialen Obrigkeit und als „Ius emigrandi“ der Untertanen griffig zu machen. Der Augsburger Religionsfrieden ordnete die beiden fortan reichsrechtlich anerkannten Konfessionen gewissermaßen auf Augenhöhe3 in den Reichsverband ein. Er besiegelte, dass sich ein und dasselbe politische System − nämlich das Reich − über zwei vergleichbar gewichtige Weltanschauungen und zwei Rechtsordnungen wölbte: Das war eine avantgardistische, europaweit singuläre Leistung! Sie wäre noch wenige Jahre zuvor auch im Reich undenkbar gewesen, die erste Generation der Reformationsfürsten war selbstverständlich davon ausgegangen, dass politische Stabilität weltanschauliche Homogenität voraussetze, dass ein interkonfessioneller Frieden notwendig ein „gleserner“, brüchiger, trügerischer sein müsse − „ausser Ainigkait des Glaubens, kain beständiger Frid“.4 Wir können das überkommene weltanschauliche Einheitsprogramm noch in der Reichstagsinstruktion Karls V.5 nachlesen: Die theologische Spaltung werde notwendig auch das Reich zerreißen, heißt es da, werde ferner dazu führen, dass immer mehr 2

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Noch fragmentierter waren die Verhältnisse vielfach weiter östlich, wo im 16. Jahrhundert vor Ort der Wille des Gutsherrn maßgeblich war. Stark schematisiert, könnte man der zentralstaatlichen Konfessionswahl Süd-, West- und Nordeuropas, der regionalen in der Mitte des Kontinents eine lokale im Osten zur Seite stellen. Aber à la longue wird sich die Reformation in Polen-Litauen, Böhmen oder Ungarn bekanntlich nicht halten. Das ist der große Unterschied zum wohl bekannteren, allemal mehr gerühmten Edikt von Nantes (1598). Noch am ehesten mit der Augsburger Lösung vergleichbar ist der eidgenössische Religionsfrieden von Kappel. Um es mit Reichshofrat Georg Eder zu sagen: G. E., Das guldene Flüss christlicher Gemain und Geselleschaft …, Ingolstadt 1579, S. 396. Wir werden gleich sehen, dass die gelehrten Diskurse um 1580 wieder vor das 1555 erreichte Modernitätsniveau zurückzufallen beginnen. Der lange, meines Erachtens passagenweise als Karls Politisches Testament lesbare Text ist jetzt abgedruckt in Rosemarie Aulinger / Erwein H. Eltz / Ursula Machoczek (Hg.), Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. Der Reichstag zu Augsburg 1555, Teilbd. 1, S. 196−281.

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Menschen „in ain solche vihische art gerhaten“, dass sie „gar nichts glauben, sonder also in ainem rohen, gottlosen leben ir zeit verzeren“. Ferner „seye offenbar“, dass ein Lösungsversuch durch Juristen und Politiker „der sachen gantz ungemeß und unfurträglich, dann gemaine stende seind der profession nit, das sy in der religions- und glaubenssachen fruchtbarlich handlen köndten“. Genau das versuchten sie dann aber in Augsburg: Zermürbt von einer Dekade konfessioneller Scharmützel und Kriege, aus Schaden klug geworden, wollte Politik nun mehr werden als Ancilla theologiae, selbstbewusst trauten sich die Reichstagsteilnehmer in ihrer „profession“ als Juristen und Diplomaten politische Ordnungsstiftung über weltanschauliche Gräben hinweg zu. Der Augsburger Religionsfrieden eilte seiner Zeit weit voraus. Er ist ein Meilenstein im Rahmen so verschiedener historiographischer Segmente wie einer Geschichte der Säkularisierung, der Territorialisierung oder der Menschenrechte. Beispielsweise diese fünf avantgardistischen Aspekte des Lösungsversuchs von 1555 sind bemerkenswert: 1. Der Augsburger Religionsfrieden dokumentiert einerseits, wie sehr Herrschaftsausübung für Politiker des 16. Jahrhunderts bereits territorialisiert war; in seiner Kombination von Ius reformandi und Ius emigrandi spricht er den Reichsständen Gebotsgewalt über Territorien, nicht über Gewissen zu: über bestimmte Räume, nicht über Personenverbände. Zum anderen hat er die Territorialisierung von Herrschaft, die Parzellierung von Lebenswelten in Mitteleuropa aber auch seinerseits befördert, zumal der vielbeschworenen, verschlungenen Entwicklung „vom Grenzsaum zur Grenzlinie“6 hat er einen wichtigen Schub7 verliehen. 2. Der Religionsfrieden verkörpert eine unzeitgemäße Friedenskonzeption. Der Augsburger Text beansprucht ausdrücklich, „bestendiger, beharrlicher, unbedingter, für und für ewig werender frid“ zu sein, der „vertrau[en] stifte“, doch „in [fort]werender spaltung der religion“, ohne Klärung der Wahrheitsfrage, ja, ohne zu ihr Stellung zu nehmen. Das weist voraus auf eine Zeit, die aus den 1555 erst bevorstehenden langwierigen Konfessionskriegen die Lehre ziehen wird, Krieg und Frieden von Gerechtigkeitskriterien zu entkoppeln: 6

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Knapper Problemaufriss: Axel Gotthard, Vormoderne Lebensräume. Annäherungsversuch an die Heimaten des frühneuzeitlichen Mitteleuropäers, in: Historische Zeitschrift, 2003, 276, S. 37−73, hier bes. S. 42−46. Ausführlicher: ders., In der Ferne. Die Wahrnehmung des Raums in der Vormoderne, Frankfurt 2007. Das Problem war im Kern dieses: Der Prozess der Akkumulation von Herrschaftsrechten zum Herrschaftsmonopol war noch nicht abgeschlossen, als sie der Religionsfrieden einfach voraussetzte; die Verdichtung des Grenzsaums zur Grenzlinie war noch nicht abgeschlossen, als der Religionsfrieden punktgenaue Entscheidungen verlangte. Weil sich der lokal obwaltende Glaube nach dem Verständnis der Zeit nicht ohne weiteres aufsplittern ließ, musste an hundert Orten und in tausend Winkeln gefragt und geklärt werden, welchem Landesherrn man denn dort eigentlich unterstellt sei. Weil nach zeitgenössischer Auffassung konfessionelle Indifferenz anrüchig und konfessioneller Pluralismus destabilisierend war, wurden in unübersichtlichen hoheitlichen Gemengelagen klare Entscheidungen notwendig. Tendenziell dürften die Reichsstände profitiert haben, die schon abgeschlagene konkurrierende Herrschaftsträger mit der exklusiven Ausübung des Ius reformandi noch weiter deklassierten.

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Pax, in den Gelehrtenstuben des Mittelalters wie noch des 16. Jahrhunderts Komponente einer untrennbaren Trias Frieden − Recht − Gerechtigkeit, schrumpft ein auf ‚Ruhe und Ordnung‘. Genau das, und nicht die ‚richtige‘ Ordnung, soll schon der Religionsfrieden gewährleisten. Der Augsburger Reichstag zirkelte einen originär politischen Frieden8, ehe eine ihren eigenen Sachzwängen gehorchende, nicht systemimmanente Nötigungen abschüttelnde Politik mit der „Staatsräson“ in Mitteleuropa überhaupt auf den Begriff gebracht worden war. 3. Nicht nur der Frieden wurde säkularisiert, das Grundgesetz von 1555 besiegelte eine Teilsäkularisierung des Reiches. Nominell zwar firmierte es weiterhin als „Heiliges Römisches Reich“, und es wird selbst im Zeitalter der Aufklärung einem Zyniker wie Friedrich II. vorbehalten bleiben, zu höhnen, dass „ce chaos de petits États […] n’est Romain ni Saint“. Tatsächlich konnte der Reichsverband seit 1555 nur noch durch von allen akzeptierte rechtliche Normen und politische Spielregeln sowie nichtkonfessionelle Werte (wie die „teutsche Libertät“) zusammengehalten werden, nicht mehr durch ein bestimmtes Glaubensbekenntnis, eine besondere religiöse Sendung. Es fällt auf, dass sich das Kaisertum justament bei den beiden auf den Religionsfrieden folgenden Stabwechseln vollends von der Kurie emanzipieren wird − die Goldene Bulle wird Kaiserwahlgesetz. Und die evangelischen Wähler stellen in der Wahlkapitulation klar, dass sie jene Passage, die das Reichsoberhaupt zur Beschirmung des „stul[s] zu Rom“ anhält, nicht „bewilligt“ haben: Die kaiserliche Kirchenadvokatie wurzelte tief in der deutschen Vergangenheit, in der karolingischen Theokratie, im ottonisch-salischen Reichskirchensystem − aber seit 1555 passte sie nicht mehr zum Reichsverband. Der Religionsfrieden wurde als Teil des Reichsabschieds dem Kammergericht insinuiert. Demnach hatte der Gerichtshof fortan das Schutzversprechen des Religionsfriedens für Menschen zu gewährleisten und zu überwachen, die aus katholischer Warte Häretiker, also nach Maßgabe des kanonischen Ketzerrechts zu bekämpfen waren. Kann man insofern nicht auch eine Säkularisierung dieses obersten Reichsgerichts, weil seine Teilemanzipation vom Kanonischen Recht konstatieren? Der Gerichtsalltag blieb indes von der konfessionellen Trennlinie geprägt. Eine Erwähnung verdient in unserem Zusammenhang gewiss auch die Bestätigung des Religionsfriedens im Reichsabschied von 1566, denn damals lagen bereits die Trienter Konzilsbeschlüsse vor. Dennoch waren die katholischen Reichsstände damit einverstanden, die Geltung des Religionsfriedens reichsgesetzlich zu bekräftigen. Trotz des tridentinischen Kampfauftrags, verlorenes Terrain, verlorene Seelen zurückzuerobern, bestätigten sie ausdrücklich den bikonfessionellen Charakter des Reichsverbands. Als Reichsstände – und in dieser Rolle sogar die Fürstbischöfe! – stellten die katholischen Regenten Reichsrecht über die tridentinischen Postu8

Es ist umso erstaunlicher, dass sich mit ihm traditionell keine Historiker befasst haben. Ich versuchte das jüngst zu ändern: Axel Gotthard, Der Augsburger Religionsfrieden, Münster 2004, unveränderter Nachdruck 2006; dort alle Einzelheiten und Nachweise.

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late, diese galten nur vorbehaltlich des gültigen Reichsrechts unter Einschluss des Religionsfriedens. Man kann es als bemerkenswerte Rollenausdifferenzierung wie als Säkularisierungsvorgang interpretieren. 4. Auch, dass man sich fortan dem kanonischen Ketzerrecht unter Berufung auf seine Auswanderungsfreiheit entziehen konnte, lässt sich durchaus als Säkularisierungsvorgang begreifen. Gewiss verdankte sich das „Ius emigrandi“ 1555 etatistischen, nicht individualrechtlichen Motiven. Es war als systemstabilisierendes Ventil gedacht. Das Ius emigrandi sollte das Ius reformandi praktikabler machen. Es zeichnete nicht etwa einen naturgegebenen Freiraum jedes einzelnen (!) Menschen nach, diente vielmehr dem gemeinen (!) Nutzen des von ihm zu verlassenden Territoriums. Es sollte religiösen Pluralismus in den Reichsterritorien überflüssig machen, nicht begründen. Aber es setzte dem „staatlichen“ Zugriff auf die Weltanschauung des Einzelnen doch eine Grenze. Es steckte einen öffentlich-rechtlichem Zugriff entzogenen Bereich individueller Entscheidung ab, die die Obrigkeit nicht akzeptieren musste, ohne doch auf ihrer Revision bestehen zu können. Der Untertan konnte fortan auf sein gutes Recht pochen − das Territorium zu verlassen, war kein Verstoß gegen den billigen Gehorsam, gegen Loyalitätspflichten oder gegen eine „perpetual allegiance“ (wie sie das Common Law kannte) der Krone gegenüber. Das Ius emigrandi machte Untertanen mit abweichender religiöser Einstellung vom guten Willen der Obrigkeit und speziellen Privilegierungen unabhängig. Wenn der Weg zur rechtsgeschichtlichen Moderne von der Einzelverfügung, von Gebot und Privileg, zum Gesetz für alle führt, war das Ius emigrandi schon seiner Generalität wegen fortschrittlich. Da die Theoretiker der Souveraineté und der absolutistische Staat dem Gedanken eines Rechts auf Auswanderung verständnislos gegenüberstehen werden, greift das Ius emigrandi sogar weit in die Zukunft aus, in eine Zeit, da der Vater des modernen Völkerrechts, Emer de Vattel, erklären wird, aus Glaubensgründen auszuwandern sei ein „droit naturel“.9 Das bislang noch nie in diesem Zusammenhang gewürdigte Ius emigrandi von 1555 gehört in eine Archäologie der Grund- und Menschenrechte! 5. Manche Protestanten des Konfessionellen Zeitalters wollten aus einigen Passagen des Religionsfriedens10 ein Bleiberecht des im öffentlichen Raum un-

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Der erste Hohepriester der Segnungen globalisierten Wirtschaftens, Adam Smith, wird erklären: Einem Arbeiter nicht zu gestatten, sich dort niederzulassen, wo er seine Arbeitskraft am lukrativsten vermarkten könne, sei eine „evident violation of natural liberty and justice“. Im Jahr 1793 taucht das „droit naturel“ auf Auswanderung, als „natural and inherent right“ des Menschen, zum ersten Mal in einer Verfassung auf: in der des nordamerikanischen Staates Vermont. 10 Ich will hier nicht in seine komplizierte Exegese einführen. Am leichtesten nachvollziehbar ist dieses evangelische Argument: Die einschlägige Passage spreche von „underthanen“, die aus Glaubensgründen auswandern „wollten“. Um die Schlussfolgerung mit einem Memorandum von 1576 zu ziehen: Weil die Auswanderung in „der Unterthanen guten Willen und Gefallen stehet“, folge „a contrario sensu“, dass diese, „wo es ihnen gefällig, bleiben mögen, wo

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auffälligen Heterodoxen ableiten. Sie betonten dabei stets auffallend, dass mit religiösem Dissens unbedingter politischer Gehorsam einhergehen müsse − und natürlich könne. Man spreche nicht für „Auffrürer“, wünsche die Duldung des „haereticus quietus“, der seinen weltanschaulichen Nonkonformismus nicht störend zur Schau stelle und mit unbedingter Fügsamkeit „in politischen sachen“ verbinde. Dieser Gehorsam in „weltlichen“ oder „politischen sachen“ verdichtete sich in den einschlägigen Diskursen geradezu zum Topos: eine ganz unzeitgemäße Trennung von Politik und Religion, die Säkularisierung des Untertanengehorsams! Diese Diskurse haben, weil sie nicht an einer kirchlichen Gruppe, sondern am Individuum ansetzten, einen nach außen hin unaufdringlich bleibenden Nonkonformismus des einzelnen Menschen respektiert sehen wollen, modernem Individualismus in für ihre Zeit erstaunlicher Weise gedanklich vorgearbeitet. Wir stoßen an unvermuteter Stelle auf eine spezifisch deutsche Wurzel der Idee staatlichem Zugriff entzogener individueller Freiräume. Sehen wir nicht sogar jenen privaten Innenraum antizipiert, dessen Erfindung wir gemeinhin den Innovationen der Aufklärungszeit zurechnen? Den wir jenen Moralischen Wochenschriften zu verdanken meinen, die ihn einerseits dem allzuständigen absolutistischen Staat abrangen und ihn andererseits dadurch wieder zur (dezidiert bürgerlichen) Öffentlichkeit ausweiteten, dass sie ihre Innerlichkeit in öffentlicher Debatte der Privatleute nach außen stülpten? Die erwähnten, an den Religionsfrieden anknüpfenden Diskurse nehmen ja eine interessante Rollenausdifferenzierung vor: spalten nämlich vom „Untertanen“ den Menschen ab und zirkeln neben dem Raum des Öffentlichen eine Privatsphäre. Für moderne westliche Gesellschaften ist die Trennung zwischen Öffentlichkeit und privatem Innenraum essentiell, nicht zuletzt das unterscheidet sie von vormodernen, unterscheidet sie heutzutage von solchen, die aus ihrer Warte „fundamentalistisch“ sind − was in multiethnischen Gemeinwesen der Streit um religiöse Symbole11 an den Tag bringen kann. Wir können ein Zwischenfazit ziehen: Der Augsburger Religionsfrieden suchte in europaweit einzigartiger Weise zwei exklusive Wahrheitsmonopole auf Augenhöhe in ein politisches System zu integrieren. Wir sahen, dass sich um diesen Religionsfrieden Diskurse rankten, die unzeitgemäß, aber fortschrittlich gewesen sind. Was dem geistigen Mainstream des Konfessionellen Zeitalters noch immer zentrales Anliegen der Politik zu sein hatte, das Seelenheil der „schäfelein“: Es wird in diesen Eingaben und Traktaten ein Stück weit aus dem Raum des Politischen gedrängt, einer sich so erst konstituierenden Privatsphäre zugeordnet. Das fern sie sich sonsten aller schuldigen Gebühr in Politischen Sachen gegen ihrer ordentlichen Oberkeit verhalten“. 11 In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts waren es beispielsweise Kopftücher; es ging vor allem um die Frage, ob dieses religiöse Symbol an „öffentlichen“ Schulen zur Schau gestellt werden dürfe. Gegner des Kopftuchverbots argumentierten unter anderem damit, dass es Lebensformen begünstige, die die moderne Trennung zwischen „öffentlich“ und „privat“ verarbeitet hätten, hingegen Traditionen diskriminiere, die öffentliche Präsenz des weltanschaulichen Bekenntnisses verlangten.

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Staatswohl beginnt vom ewigen Wohl der Bevölkerung entkoppelt zu werden. So, wie Pax zu ‚Ruhe und Ordnung‘ einschrumpft, schrumpfen auch die Staatsziele. Wir stoßen keimhaft auf Ausdifferenzierungen und Segmentierungen − zwischen Politik, Recht und Konfession, zwischen öffentlich relevant und privat −, die für moderne Gesellschaften und moderne politische Systeme konstitutiv sind. 2. DER AUGSBURGER RELIGIONSFRIEDEN EILTE SEINER ZEIT ZU WEIT VORAUS Das dezidiert politische Ordnungskonzept von Augsburg vermochte das Reich nur vorübergehend tatsächlich zu befrieden. Die 1555 ausgeklammerte Wahrheitsfrage drängte eine Generation danach machtvoll in die gelehrten und die politischen Diskurse zurück. Es wurde immer schwieriger, einen Kernbereich reichspolitischen Aushandelns und reichspolitischen Krisenmanagements gegen das anbrandende Wahrheitsproblem, die Konkurrenz eines doppelten, je exklusiven Wahrheitsmonopols abzuschirmen. Die Verrechtlichung des Konfessionsdissenses mündete in die Abdankung der Politik zugunsten der Rechthaberei. Es bildeten sich stark divergierende konfessionsspezifische Lesarten des Texts von 1555 aus. Empört hielt man dem Widerpart an Reichsversammlungen auf langen „Gravamina“-Listen seine bösartigen Verdrehungen des Religionsfriedens vor, fordernd, dass er alle diese Steine des Anstoßes erst einmal aus dem Weg räumen müsse, ehe man wieder mit ihm ins politische Geschäft kommen könne. Im Widerstreit der Interpretationsschulen erlahmte die konfliktkanalisierende Kraft der Reichsorgane, eines nach dem anderen wurde blockiert oder gesprengt, im frühen 17. Jahrhundert war überhaupt nur noch der Reichstag (leidlich) arbeitsfähig. Die Publizistik der Jahrzehnte um und nach 1600 fiel wieder deutlich hinter das in den 1550er Jahren erreichte Modernitätslevel zurück.12 Jene Ausdifferenzierung der Lebensbereiche13 und der Rollenerwartungen (bei den Fürstbischöfen, die prominente Kleriker wie Reichsstände waren, schlugen ja wirklich zwei Seelen in einer Brust!), die den Augsburger Religionsfrieden ermöglicht hat, war in ihrer Zeit bemerkenswert fortschrittlich, aber den politischen, mehr noch den publizistischen Eliten der Jahrzehnte um 1600 wurde sie immer unglaubwürdiger. Katholische Flugschriften hielten nun wieder das Kanonische Ketzerrecht hoch, das den Weg zur ‚Lösung‘ des Konfessionszwiespalts weise und außerdem 12 Das unerachtet der Tatsache, dass just jetzt die „ratio status“ in mitteleuropäische Hofratsprotokolle einzusickern begann, wie ich einmal zeigen konnte. Und just jetzt wurden in Mitteleuropa auch die ersten dezidiert politologischen Monographien vorgelegt, die einen Bereich politischer Eigengesetzlichkeit abzustecken suchten; für sie hatte Politik − modern formuliert − ihren eigenen Sachzwängen zu gehorchen. Aber einige Pionierwerke der „Politica“ dürfen uns nicht blind dafür machen, was die große Masse der Traktate und populären Flugschriften prägt: hemmungslose konfessionelle Polemik nämlich. Diese Springfluten konfessioneller Kampfliteratur sind praktisch unerforscht, viele Elaborate sind für einen modernen Leser auch schwer erträglich, aber Abscheu ist keine produktive wissenschaftliche Haltung. 13 Also: Politik versus Religion; noch nicht öffentlich relevant versus privat.

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lehre, dass Vereinbarungen mit Häretikern den Rechtgläubigen nicht bänden. Gebildete Leser wussten, wo sie das Thema im Sachregister zu suchen hatten: unter „f“ nämlich. „Fides haereticis servanda“, so hat man die vor allem bei jesuitischen Autoren beliebte Streitfrage rubriziert, ob interkonfessionellen Vereinbarungen überhaupt Rechtskraft eigne. Alsbald warfen beide Seiten einander vor, nicht geschäftsfähig, nicht politikfähig zu sein. Wer von der Einen wahren Kirche abgefallen war, tat es jetzt und immerdar skrupellos von jeder einmal getroffenen Vereinbarung. Es war schließlich allgemein bekannt, dass von Protestanten grundsätzlich „keine constitutiones, keine pacta, Brieff vnd Siegel nicht gehalten“ wurden.14 Für Wilhelm Ferdinand von Efferen, einen prominenten Ratgeber des Erzkanzlers, waren es „verlauffene Zeiten, da Treue und Glaube noch gehalten worden“, da für evangelische Politiker noch „Eyd, Pflicht, Verschreiben, Versprechen und dergleichen humanae fidei vincula“ gegolten hätten.15 Umgekehrt wussten evangelische Autoren, sie erst recht, dass der katholische Widerpart von „den Jesuwidern“ gelernt hatte, „das man auch die auffgerichte Vorträg, Bündnissen, vnd Friedstände, so offt man eine Gelegenheit ersehe, nicht halten, sondern vmbstossen“ solle.16 Es war schließlich allgemein bekannt, dass „die Jesuwider“ allen maßgeblichen katholischen Politikern einflüsterten, mit Ketzern getroffene Vereinbarungen bänden sie nicht, dürften situationsabhängig jederzeit gebrochen werden, ja, müssten gebrochen werden, so der Vertragsbruch der katholischen Kirche mehr Seelen in Aussicht stelle als Vertragstreue. Maßstab sei nicht moralische Verlässlichkeit, sei die politische und militärische Erfolgsaussicht.17 Deshalb stehe für jeden frommen Katholiken insbesondere der Religionsfrieden zur Disposition. 14 Weshalb Versuche, an einem „runden Tisch“ (wie wir das heute nennen würden) Deeskalationsstrategien auszubrüten − damals firmierten solche Szenarien unter dem Schlagwort „Composition“ − sinnlos seien, sie mündeten ja doch nur in neue Vereinbarungen, die die Gegenseite dann so wenig einhielte wie alle alten; so argumentiert: [Anonym], Newe Zeitung Darinnen ein wolmeinend vnd vertrawlich Colloquium oder Gesprech etlicher Personen von jtzigen Zustande des Römischen Reichs begriffen …, o. O. 1614 (unpag.). 15 Das 1613 niedergeschriebene Gutachten ist als Memorandum eines Herrn „von Effra“ abgedruckt bei Johann Christian Lünig, Europäische Staats-Consilia …, Bd. 1, Leipzig 1715, Nr 131. 16 [Anonym], Trewhertzige Erinnerung Eines deutschen Patrioten an die Stende des Reichs Augspurgischer Confession, Von der Papisten Practicken vnd Anschlegen …, o. O. 1605, fol. A2. Ziel war es, „den Religion frieden […] zu durchlöchern“, dann ganz aufzuheben (fol. A3). 17 Um es mit einem zeitgenössischen Beispiel für Dutzende zu sagen: „Ob nu gleich gute Wort vnd stattliche promissiones gegeben werden, so hat man sich doch darauff nicht zuverlassen, quia haeretico non est servanda fides, weil jhrer Regul nach, man keinem Kätzer glauben zu halten schultig ist. Wenn man bessern Vortheil vnd Nutze kan stifften für die Römische Kirche vnd jhre Religion, so darff man nicht länger glauben halten, mit der Zeit ändern sich alle Verträge vnd Zusagungen, vnd wenn gleich tausent Eydte geschworen worden, so ists doch nichts, der Pabst kan alle solche Eyde mit einer eintzigen Absolution wieder entbinden.“ So formuliert (wie gesagt, beispielhaft): [Anonym], Politischer Discurs Von jetzigen Kriege in Teutschland […] Darinn man augenscheinlich sehen kan, ob dieser Krieg ein Regions, oder ReligionsKrieg sey? …, o. O. 1627, fol. Cij.

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Frohgemute Bekenntnisse zu mangelnder Vertragstreue aus Politikermund bieten die Akten nicht. Wohl bekunden sie, dass auch die Entscheidungsträger die fromm eifernden Traktate lasen, es machte sie noch misstrauischer − das Grundvertrauen in die politische Verlässlichkeit des konfessionellen Widerparts schwand dahin. Von der soeben angedeuteten publizistischen Debatte „an fides haereticis servanda“ motiviert, schlugen die Dresdner am Reichstag von 1608 vor, den zuletzt im Reichsabschied von 1566 bestätigten Religionsfrieden wieder einmal derart zu bekräftigen. Indem sich die „Politici“ demonstrativ von publizistischen Ruhestörern distanzierten, würde man ein Fundament für wieder vertrauensvolle politische Zusammenarbeit legen und sich so gleichsam selbst aus dem Sumpf ziehen − das ist das Kalkül der Dresdner Akten. Stattdessen verlor man vollends den Boden unter den Füßen. Im Streit um den kursächsischen Antrag zerstritt sich der Reichstag heillos, schließlich zogen die aktiveren Protestanten empört von dannen, es kam kein Reichsabschied zustande. Das letzte bis dahin noch arbeitsfähige Reichsorgan war gesprengt. Es gab kein funktionierendes Forum der Kommunikation und Entscheidungsfindung mehr, stattdessen sprachen die Waffen. Das Reich war nicht mehr arbeitsfähig, nicht mehr politisch steuerbar, es glich einem Pulverfass; bekanntlich kam der Funkenschlag dann 1618 aus Böhmen. Als der Krieg nach einer Dekade, dank der berühmten Siege Tillys und Wallensteins, entschieden schien, als sich die katholisch-kaiserliche Seite deshalb ihre Träume erfüllen (nüchterner formuliert: die Kriegsziele realisieren) zu können schien, nutzte sie das für den Oktroi ihrer Interpretation des Religionsfriedens − offensichtlich war sie der Ansicht, genau dafür, für Lesarten des Texts von 1555, so lang und opferreich gekämpft zu haben. Das Restitutionsedikt von 1629 „erörtert“ die zentralen Bestimmungen von 1555, legt fest, dass sie die katholische Seite schon immer richtig interpretiert habe, wohingegen die evangelischen Verdrehungen himmelschreiendes Unrecht darstellten. Bekanntlich ging der schlimmste Krieg der Weltgeschichte weiter. Als er nochmals zwanzig Jahre später, in Westfalen, endlich, endlich beendet werden sollte, betrieb man zunächst einmal Kriegsursachenforschung. Sie ergab, wie der Westfälische Frieden ausdrücklich festhält, dass „praesenti bello magnam partem gravamina, quae inter utriusque religionis electores, principes et status imperii vertebantur, causam et occasionem dederunt“.18 Ursache wie Anlass des zu beendenden Krieges waren hauptsächlich jene Gravaminalisten, auf denen die beiden konfessionellen Lager die bösartigen Verdrehungen des Religionsfriedens durch den Widerpart aneinanderzureihen pflegten. Freier paraphrasiert: Ursache wie Anlass des großen deutschen Konfessionskriegs waren Auslegungsstreitigkeiten zum Augsburger Religionsfrieden.

18 So die Präambel zum Zweiten Religionsfrieden (IPO Artikel V) − sie diagnostiziert einen deutschen Konfessionskrieg; weder ist von Problemen der „Staatsbildung“ die Rede noch davon, dass das europäische Ausland die an sich befriedete Mitte des Kontinents in den Krieg hineingetrieben habe.

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Deshalb schien ein Zweiter Religionsfrieden notwendig, einer, der aus den handwerklichen Fehlern des Ersten zu lernen versuchte. Man tat es durch ein neues regulatives Grundprinzip (ein Stichdatum anstelle des Willens des Landesherrn), durch viele, viele neue Einzelregelungen und eben überhaupt dadurch, dass man wortreich detailfreudig wurde − genügte, beispielsweise, 1555 die knappe Feststellung, dass derzeit bikonfessionelle Reichsstädte eben dies weiterhin sein sollten, zurrte der Religionsfrieden von 1648 die Konfession der Magistrate bis hinab zu den „Verwaltern des Geschützwesens“ fest. Der Zweite Religionsfrieden wollte nicht mehr elastisch sein, aber bis in die letzte Verästelung hinein exakt. Eine durchgreifende Entkonfessionalisierung der Reichspolitik hat er trotzdem nicht bewirkt, aber Mitteleuropa wird nie wieder in einen Konfessionskrieg trudeln. Weil der Zweite Religionsfrieden konziser formuliert ist als der Erste? Weil man dreißig Jahre lang erfahren musste und internalisieren konnte, dass um höchste Werte und letzte Wahrheiten militärisch zu ringen bestenfalls trügerische Scheintriumphe, gewiss aber unermessliches menschliches Leid eintrug? Als das Instrumentum Pacis Osnabrugense in Kraft trat, neigte sich Europas Zeitalter der Konfessionskriege seinem Ende zu. Wahrheit und Seelenheil waren nun europaweit keine respektablen Kriegsgünde mehr, dafür zu den Waffen zu greifen, war nicht mehr political correct. Nur eine Generation später wird die Frühaufklärung anheben. Der Westfälische Religionsfrieden hatte sich in einem ganz anderen mentalitäts- und ideengeschichtlichen Umfeld zu bewähren als der von Augsburg. Dass Mitteleuropa, wiewohl es doch schon 1555 zu einer bemerkenswerten Friedensordnung über weltanschaulichen Gräben gefunden hatte, zweimal Anlauf nehmen musste zu seinem Religionsfrieden: Das ist die große Tragödie der vormodernen deutschen Geschichte. 3. KANN DIE MODERNE POLITIK AUS DEM SCHEITERN DER AUGSBURGER ORDNUNG LERNEN? Warum ist die in ihrer Zeit so avantgardistische Augsburger Ordnung gescheitert? Und kann die moderne Politik aus dem damaligen Desaster lernen? Verschiedene Dauerkonflikte unserer Zeit, beispielsweise der im Nahen Osten, entwickelten sich in den letzten Jahrzehnten vom Gegeneinander der Nationalismen zunehmend, auf dem Wege einer eminenten (Re-)Politisierung des Religiösen, zum Gegeneinander religiöser Fundamentalismen. Fundamentalisten lehnen Kompromisse ab − der Text von 1555 erwuchs großer Verhandlungs- und auch einer gewissen Kompromissbereitschaft. Fundamentalismen akzeptieren keine Grenzen19 − 19 Das gilt sicherlich im konkreten wie im sehr weiten Wortsinn. Lorenz Müller, Islam und Menschenrechte. Sunnitische Muslime zwischen Islamismus, Säkularismus und Modernismus, Hamburg 1996, S. 149f. zitiert als explizites Ziel einer islamistischen Untergrundorganisation die „Errichtung der ganzen Religion, in jeder Seele und auf jedem Fußbreit der Erde, in jedem Haus, in jeder Organisation und jeder Gesellschaft“ (Kursivsetzungen von mir). Ich zitiere

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der Religionsfrieden grenzte die vielfältigen Besitzansprüche beider Seiten gegeneinander ab. Der Augsburger Religionsfrieden versuchte, was derzeit vielerorts auf der Erde als so dringlich erachtet wird: religiösem Dissens seine politische Brisanz zu nehmen. Allerdings erwies sich der Augsburger Ansatz − fassen wir es einmal schlagwortartig zusammen als „Verrechtlichung ohne Toleranz“ − als nicht dauerhaft tragfähig. Dabei hatte es in Augsburg keine realistische Alternative gegeben zum Versuch, den Wahrheitsdissens durch seine Verrechtlichung politisch handhabbar zu machen. Durch seine Privatisierung politisch neutralisieren konnte man ihn nämlich nicht. Jene Teilsäkularisierung des christlichen Abendlandes, die wir geistesgeschichtlich als Siegeszug der Toleranz beschreiben können oder soziologisch als Ausdifferenzierung verschiedener Lebensbereiche: Sie war 1555 noch ferne Zukunftsmusik. Sie vollzog sich auf langen und verschlungenen Wegen, aber zwei Schübe, die nicht in strikter Scheidung aufeinanderfolgten, sondern zeitlich ineinander verzahnt waren, sind hierbei besonders wichtig gewesen: Jene Konfession, die einst alle Lebensbereiche vollständig imprägniert hatte, wurde zunächst einmal zu einem öffentlich relevanten Teilbereich gesellschaftlicher Wirklichkeit neben anderen, wie der Politik oder dem Recht, die eigenen Sachlogiken folgen durften − im Fall der Politik der nun viel beschworenen „Staatsräson“; wurde sodann, in einer zweiten großen Etappe, einer Privatsphäre zugeordnet, in die die öffentliche Hand gar nicht mehr hineingreifen sollte − Kehrseite dieser neuen Freiräume war eine gewisse Einbuße an öffentlicher Relevanz. Solche Freiräume einzufordern, wird erst unter den Intellektuellen des Aufklärungsjahrhunderts mehrheitsfähig, wie auch eine Toleranz, die mehr meint als äußere Duldung ohne Akzeptanz innerer Werte. Aufklärer pochen auf Respekt vor Teilwahrheiten und Heilschancen abweichender Glaubensbekenntnisse. Wenn auch andere Religionen Teilwahrheiten enthalten, der Mensch womöglich überhaupt nur Teilwahrheiten erhaschen kann, ist die Ausrottung anderer Weltanschauung nicht mehr sittlich geboten, sondern bei der Wahrheitssuche kontraproduktiv. Und wenn, wie der Wirtschaftsliberalismus lehrt, jeder seines (irdischen, womöglich auch ewigen) Glückes Schmied ist, enthebt das den Staat seiner Verantwortung dafür. Das Staatswohl definiert sich ohne Rücksicht aufs ewige Wohl der Bevölkerung. Wir sahen, dass die Augsburger Ordnung publizistische Debatten anstieß, bei denen die Privatisierung des Religiösen ansatzweise antizipiert wurde; doch konnte sie ihrerseits noch nicht auf einer solchen Segmentierung der Lebensbereiche aufbauen, und die erwähnten publizistischen Splitter wurden im Konfessionellen Zeitalter nie Mainstream. Eine untheologische, weil dezidiert politische Lösung ist der Augsburger Religionsfrieden ohne Wenn und Aber, aber gerade das machten ihm die Folgegenerationen zum Vorwurf. Jene katholischen Fürsten, die in noch aus der Hamas-Charta von 1988: „Friedensinitiativen oder das, was man friedliche Lösungen […] nennt, stehen in Widerspruch zu der Doktrin des islamischen Widerstands. Denn der Verzicht auf einen Teil von Palästina ist folgerichtig eine Preisgabe eines Teils des Islam“.

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Jesuitenkollegs in tridentinischem Geiste gestählt worden waren, jene evangelischen Politiker, die die Konfessionskriege der letzten Dekade Karls V. nur noch vom Hörensagen kannten: Sie waren nicht mit sich im Reinen, wenn sie nicht versuchten, der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen und das Seelenheil möglichst vieler Menschen zu ermöglichen. Dieses Kernproblem des konfessionell gespaltenen Reiches konnte der Religionsfrieden nicht dauerhaft neutralisieren. Insofern hat er weniger den Konfessionsdissens denn den Diskurs über ihn verrechtlicht. Die Konfessionsparteien der Jahrzehnte um 1600 kämpften nicht wirklich um Rechtspositionen, sondern im Dienste der von ihnen exklusiv besessenen universalen Wahrheit, sie kämpften um Seelen. Weil aber 1555 besiegelt worden war, dass der diskursive Austausch mit dem Widerpart auf der Bühne der Reichspolitik in den Begrifflichkeiten des Rechts erfolgte, weil die 1555 festgelegte diskursive Währung Paragraphen des Religionsfriedens auf die Verhandlungstische packte und nicht Glaubensartikel, hatte man die eigenen Wahrheiten als einzig wahre Auslegungen der Augsburger Ordnung zu verfechten. Den damaligen Akteuren zu unterstellen, dass sie den Religionsfrieden dabei zynisch missbraucht, dass sie einfach verlogene Schlagworte vor sich hergetragen hätten, wäre unangemessen − nicht, weil Menschen des Konfessionellen Zeitalters edler und wahrhaftiger gewesen wären als der kapitalistische Homo oeconomicus (wer wollte das ermessen!); aber weil bei ihnen Recht, Politik und Theologie − in modernen Augen verschiedene Sachgebiete mit ihren je eigenen Sachlogiken − völlig ineinander verschränkt waren. Diese Menschen fochten für viel mehr als ‚nur‘ für Rechtspositionen, doch spricht nichts dafür, dass sie nicht davon überzeugt gewesen wären, dass das Recht auf ihrer Seite stand. Sie kämpften für ihr gutes Recht, von dem sie schon deswegen nicht abrücken konnten, weil es auf ihre Wahrheit und ihre Gerechtigkeit verwies. Die von den Kriegen und Verwüstungen seit 1546 traumatisierte ‚Generation 1555‘ hat aus ihrer Lebenserfahrung wichtige politische Schlüsse gezogen, war aus Schaden klug geworden. Aber die Nachfolgegenerationen wollten nicht aus der Geschichte lernen. Nein, offensichtlich hatten sich die von den Drohungen Karls V. bzw. durch die Dynamik der jungen evangelischen Bewegung verschreckten Altvorderen 1555 zu viel abringen lassen. Da galt es auf dem Wege eines unerbittlichen Interpretationskriegs nachzubessern, galt es einst voreilig preisgegebenes Terrain mit spitzer Feder zurückzuerobern. Weil man mit jeder Nachgiebigkeit auf dem juristischen Kampfplatz Seelenheil verspielte, konnte man nicht „durch die finger sehen“, wie das die Jahrzehnte um 1600 formulierten, konnte man, modern gesagt, nicht einfach bisweilen „alle Fünf grade sein lassen“, musste man vielmehr unerbittlich auf seinen Paragraphen herumreiten. Ob man wirklich aus der Geschichte − oder doch nur aus eigenen Fehlern lernen kann? Lernen wir aus der Geschichte, dass haltbare interkonfessionelle Friedensschlüsse nur zwischen Bekenntnisgemeinschaften möglich sind, die ihre Phase von „Aufklärung“ durchlaufen haben? Gar nur zwischen Gesellschaften mit individualistischer, liberal imprägnierter Anthropologie, die − mit vielen anderen Lebensbereichen − auch die Weltanschauung gleichsam privatisiert (oder doch, wie hier in Deutschland, jedenfalls teilprivatisiert) haben, die jeden zum Guten

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wie im Schlechten „seines Glückes Schmied“ sein lassen? Der Historiker hat keine den gegenwartskundlichen Disziplinen einleuchtende Spezialkompetenz für seine eigene Zeit, aber Fragen aufwerfen darf er ja.

ENDE UND AUFBRUCH: FRANKEN 1802 Werner K. Blessing 1. EIN ENTSCHEIDENDES JAHR Die Getreideernte fiel im Jahr 1802 schlecht aus. Schon während des Winters waren in Franken viele Saaten zugrunde gegangen, anderes kam nicht auf, weil ein überaus kaltes Frühjahr bis in den Mai Schnee brachte; was dennoch gedieh, wurde im Sommer durch eine Mäuseplage vermindert. Da auch aus Nachbarregionen, die es ähnlich traf, kaum Zufuhr geschah, verteuerten sich die Lebensmittel wie bereits seit Jahren erneut. Besonders der Brotpreis, ein Schlüssel der Lebenshaltung in der vorindustriellen Gesellschaft, stieg erheblich.1 Bang blickte man in die nächste Zukunft. Um so mehr, als fremde Soldaten die Stimmung niederdrückten. Im September wurden Teile Frankens von bayerischem Militär besetzt, das in Städten und Dörfern Quartier bezog. Viele erinnerten sich an schlimme Erlebnisse mit Truppenmassen aus jüngster Zeit, aus den Jahren 1796 und 1800/01. Zwar belasteten, wie man rasch sah, nun die Soldaten weit weniger als die jener Jahre und auch als andere, die bald darauf, über ein Jahrzehnt lang, immer wieder eindringen sollten. Aber ihr Auftreten war höchst folgenreich. Es markierte zukunftsentscheidende Veränderungen, politische zunächst, die aber durch die Verschränkung von res publica und societas civilis ebenso gesellschaftliche auslösten. In kurzer Zeit sollte sich das Bild dieser Region so rasch wie vorher nie verändern. Sie trug, exemplarisch für die Struktur der Vorderen Reichskreise, starke vormoderne Züge: territoriale Kleinräumigkeit, Herrschafts- und Rechtsüberschichtung, Besitzzersplitterung, zentrale Stellung von Kirche und Adel.2 Deshalb sieht man an ihr den langen, oft schwierigen, krisenhaften Übergang von der Welt des Alten Reiches, deren alteuropäische Textur zunehmend frühmoderne Züge aufnahm, in die Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts sehr deutlich. Diese Transformation verdichtete sich 1802, als der Fränkische Reichskreis in den Sog Kurbayerns geriet, zu einer Phase dramatischer Beschleunigung, zum epochalen Wandel. Die Entstehung eines neuen Bayern am Beginn des 19. Jahrhunderts gilt als markanter Fall einer „Revolution von oben“, eines eigenen Typs fundamentaler Neuerung in der politischen Modernisierung Europas. 1 2

Johann Apollonius Peter Weltrich, Erinnerungen für die Einwohner des Fürstenthums Baireuth aus den Preußischen Regierungsjahren von 1792 bis 1807, Bayreuth 1808, S. 64f. Vgl. Rudolf Endres, Staat und Gesellschaft. Zweiter Teil: 1500–1800, in: Andreas Kraus (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. III/1, Geschichte Frankens bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, München ³1997, S. 702–782.

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Diese geplante und geordnete Umwälzung durch die von einer modernen Staatsräson geleitete Bürokratie3 – der jedoch bald ein frühliberales Bürgertum seine Partizipation in der Konstitutionellen Monarchie abrang – wird gerne als drittes Modell neben die beiden gewaltsamen Revolutionen „von unten“ gestellt, welche im Westen und im Osten Europas erstmals „klassisch“ auftraten, die bürgerliche von 1789 und die proletarische von 1917, die Helmut Altrichter als Epochenjahr eindrucksvoll analysiert hat.4 War 1802 ein Revolutionsjahr? Bevor darauf am Schluss eine Antwort versucht wird, geht es im Folgenden um die Schlüsselrolle dieses Jahres für Franken, im Zusammenhang der militärischen und politischen Ereignisse, der Staatsentwicklung und der Lage und Haltung der Bevölkerung. Auf knappen Raum kann sie nur unter einigen Aspekten skizziert werden. 2. UNTERGANG EINER TERRITORIENWELT Anfang des 19. Jahrhunderts wurde Franken von einer Kette einschneidender Vorgänge erfasst, die sich zu einem Prozess – einer unumkehrbaren, sich selbst tragenden Entwicklung – fundamentalen Wandels verbanden, in dem aus ganz verschiedenen Territorien des Alten Reiches unter Führung Kurbayerns das im Grundzug moderne Staatsbayern entstand. Als wesentlich gelten die Säkularisation 1803, die Gründung des Rheinbundes und der Untergang des Reiches 1806, dann die bayerische Konstitution von 1808, in der sich der innere Reformschub verdichtete, der Wiener Kongress 1814/15 als politische und die Verfassung von 1818 als gesellschaftliche Sicherung des neuen Bayern. Doch entscheidend waren bereits die territorialen Veränderungen 1802. Sie zogen jenen Prozess als strukturellen Umbruch konsequent nach sich, ja haben ihn großenteils überhaupt erst ermöglicht, weil in diesem Jahr das Alte Reich als Herrschaftsverband und Rechtsgarant im Kern getroffen wurde. Das wirkte sich im Fränkischen Reichskreis besonders aus: Mit seiner Territorienvielfalt, der Bikonfessionalität und einer rationalen Kategorien widerstrebenden Herrschafts- und Rechtsstruktur enthielt er das Alteuropäische an diesem Reich in hohem Maß, konzentriert wie unter einem Brennglas. Sein Gebiet geriet in einen massiven Modernisierungsschub, als Napoleons Waffenglück auf dem seit 1789 in ganz Europa hoch geladenen Spannungsfeld zwischen Traditionspotential und Fortschrittsprojekten diese enorm vorantrieb. Frankreichs Expansion bis zum Rhein gab einer Zukunft im Vernunftund Fortschrittssinn der Aufklärungsöffentlichkeit unerwartet weiten Raum – im Wortsinn.

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Grundlegend Karl Möckl, Der moderne bayerische Staat. Eine Verfassungsgeschichte vom Aufgeklärten Absolutismus bis zum Ende der Reformepoche, München 1979 (= Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern, Abt. III, 1) und Walter Demel, Der bayerische Staatsabsolutismus 1806/08–1817, München 1983 (= Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, 76). Helmut Altrichter, Rußland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn 1997.

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Denn zur Entschädigung für die Gebiete, die eine Reihe von Reichsfürsten links des Rheins verloren hatte, wurde eine bereits im Frieden von Campo Formio 1797 vorgesehene Aufhebung geistlicher wie weltlicher Herrschaften 1801 im Frieden von Lunéville definitiv vereinbart. Die linksrheinisch depossedierten Fürsten erhielten durch die Mediatisierung der meisten Reichsstädte und der wenigen verbliebenen Reichsdörfer sowie durch die Säkularisation fast der gesamten Reichskirche, ihrer Hochstifte, Abteien und Stifte, mehr als einen bloßen Ausgleich. Außerdem wurde ihr Land geschlossener und einheitlicher – räumlich, rechtlich, sozial – und sie gewannen reiches mobiles wie immobiles Kirchengut. Denn sie konnten zusammen mit der im territorialen Ausgleich begründeten Herrschaftssäkularisation nun auch, vor allem auf Betreiben Bayerns, eine Vermögenssäkularisation durchführen. Diese gab freie Hand, landsässige Klöster und Stifte aufzuheben und ihren Besitz wie den annektierter geistlicher Reichsstände zu konfiszieren. Mit diesem Frieden, der Kaiser und Reich von Napoleon diktiert wurde, begann die grundstürzende äußere Neuordnung Deutschlands; ihr sollte, da sie weitreichende politische und gesellschaftliche Veränderungen möglich oder nötig machte, eine innere Zäsur folgen. Vorgegeben waren die Entschädigungen durch einen Plan der beiden Mächte, die um 1800 gemeinsam über den Kontinent entschieden: entworfen von Frankreich und mit Russland – in seiner 1779 angenommenen Rolle als Garantiemacht des Reiches – im Juni 1802 vorgelegt. Er basierte auf Vorverträgen, welche Frankreich bereits am 24. August 1801 mit Bayern, im Mai 1802 mit Württemberg und Preußen abgeschlossen hatte. Um ihn zum Reichsgesetz zu machen, nahm eine im August dieses Jahres gebildete Deputation des Reichstags in Regensburg diesen Plan mit einigen Modifikationen am 23. November 1802 als Reichsdeputationshauptschluss an; verabschiedet wurde er nach der Verständigung Österreichs mit Frankreich am 23. Februar 1803, erst die Ratifizierung durch den Kaiser am 27. April machte ihn schließlich rechtsgültig.5 Er war das letzte Grundgesetz des Alten Reiches, diesem zwar von außen aufgezwungen, jedoch im Zusammenspiel mit expansionsbegierigen Reichsständen, denen wiederum Verfechter einer rationalen und säkularen Staatsidee aus der bürgerlichen Öffentlichkeit publizistischen Rückenwind gaben. Diese territoriale „Flurbereinigung“ sollte fundamental für das deutsche 19. Jahrhundert werden. Allerdings warteten die Regierungen jenes Gesetz gar nicht mehr ab. Im Umbruch Europas, als allenthalben Werte und Normen erschüttert und das Glück der Fürsten, das Schicksal der Staaten höchst schwankend wurden, verdrängte machtpolitisches Denken massiv das verfassungsgemäße. Österreich, Preußen und nach ihrem Vorbild Bayern und weitere nahmen die ihnen zugeteilten Gebiete militärisch vorab in Besitz. Zwar galt die Besetzung überall als „provisorisch“, aber war faktisch meist definitiv. Nach dem ersten Beschluss der Reichsdeputation im November, der freilich noch nicht rechtsverbindlich war, folgte die zivile Besitzer5

Ulrich Hufeld (Hg.), Der Reichsdeputationshauptschluß von 1803. Eine Dokumentation zum Untergang des Alten Reiches, Köln 2003; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1, Stuttgart ²1960, S. 42–61.

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greifung mit Austausch der Herrschaftszeichen, Vereidigung der Amtspersonen und Huldigung der Einwohner. Die Okkupation, zu der Napoleon politisch ermächtigt hatte, wurde mit den üblichen Riten zur staatsrechtlichen Annexion; Kaiser und Reich konnten den raschen Zugriff nur mehr formal legalisieren. Das offenbarte nicht nur beider Machtverfall, sondern einen mit ihm vordringenden Paradigmenwechsel bei Fürsten und Ministern: vom Reichsherkommen zum Streben nach moderner Souveränität und einem „wohlarrondierten Territorialstaat“.6 Dass er auch an mittleren, ja kleineren Höfen zur politischen Richtschnur wurde, lag nicht zum wenigsten an der Aushöhlung des Reiches durch seine beiden Vormächte. 3. DIE IMPLOSION DES ALTEN REICHES Bereits seit über einem halben Jahrhundert hatten Österreich und Preußen mit rigoroser Staatsräson und ihrem Dualismus das Reich weit über seine immanente Labilität – die Spannung zwischen Kaiser und Ständen, den Gegensatz der Konfessionen – hinaus geschwächt. Seit Frankreichs Hegemoniedrang beide zu forcierter Selbstbehauptung trieb, steigerte sich ihre gleichgerichtete Eigensucht zur Implosion dieses Reiches. 1795 verließ Preußen, dessen Außenminister Haugwitz sich auf die dritte Teilung Polens konzentrierte, durch einen Sonderfrieden die europäische Koalition gegen das revolutionäre Frankreich und gab diesem das linke Rheinufer preis; für seine Gebietsverluste dort sollte es Kompensationen nach dem „Princip der Secularisationen“7 erhalten, die seine Hegemonie in Norddeutschland ausweiten würden. Dieser Eingriff in das Reichsgefüge wurde zum Vorbild für die Neuordnung Deutschlands unter Frankreichs Regie. Auch für den Kaiser gingen die habsburgischen Interessen vor, wie nicht nur das Drängen auf territoriale Entschädigung seines außerhalb des Reiches, als Großherzog von Toskana, depossedierten Bruders im Reich zeigte. Mochte Franz II. auch in seiner Wahlkapitulation den Bestand des Reiches beschworen haben, Kanzler Thugut stellte, als 1797 Österreich gleichfalls die Waffen streckte, die dem kaiserlichen Patronat anvertrauten Reichskirchenglieder und Reichsstädte, Hauptstützen des Imperiums und die Kerne der Reichsidentität, zur Disposition. Wenn man in Wien den höchst besorgten fränkischen Reichsstädten versicherte, der Kaiser verteidige „mit aller [...] Macht“ die Reichsverfassung und wache mit „reichsväterlicher Sorgfalt für die Erhaltung der Reichsstädte in ihrer hergebrachten gesetzmäßigen Grundverfassung“8, nährte das nur Illusionen. Im Rückblick seufzte denn auch der Chronist der Reichsstadt Weißenburg über die Hilfund Schutzlosigkeit, welche in den ersten Januartagen 1798 grell sichtbar wurde,

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Ebd., S. 15. Geheime Convention zwischen Preußen und Frankreich 5. August 1796, in: ebd. S. 41. Zit. nach Uwe Müller, „…und manche Leute hatten geweint.“ Schweinfurt wird bayerisch, Schweinfurt 1989 (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs Schweinfurt, 3), S. 17.

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als die österreichische Armee vom Rhein durch Franken heim marschierte: „Das deutsche Reich war also von Jedermann verlassen“.9 Der Fränkische Reichskreis, der bis in das 18. Jahrhundert für seine Mitglieder wie für das Reich unter allen Kreisen am wirksamsten Ordnung koordiniert hatte, konnte in keiner Weise mehr helfen. Er bestand selbst überwiegend aus Bedrohten, fand keinen wirksamen Rückhalt am Kaiser und hatte, seit AnsbachBayreuth zu Preußen gehörte, durch diese expansive Großmacht sein Gleichgewicht als Korporation kleinerer Territorien mit regionalen Interessen verloren.10 Zwar gab es einen kühnen Versuch, den Kreistag vom feudalen Gesandtengremium zur Repräsentation einer fränkischen Nation zu modernisieren. Sie sollte dem Kreis nach innen und außen neue politische Potenz im Sinne bürgerlicher Öffentlichkeit geben. Aber das war in der Fürstenwelt auch unter existentieller Bedrohung nicht mehrheitsfähig.11 So rann die Reichsidee aus. Die politische Wirklichkeit bestätigte immer greller Christoph Martin Wielands Klage 1791 über die „Gleichgiltigkeit und Kälte gegen allgemeines Nationalinteresse, gegen alles was das Ansehen und den Glanz der deutschen Nation, alles was den allgemeinen Wohlstand, den allgemeinen Flor [...] befördern könnte [...] als ein Charakterzug der Deutschen“.12 Als der Schutz des Reiches verfiel und zugleich seine rechtlichen und symbolischen Bande schwächer wurden13, suchten weitere Territorien in heftiger Konkurrenz, auch mit hohen Bestechungsgeldern, um die wechselnde Gunst Napoleons auf Kosten kleinerer zu erstarken, um so die Umwälzung zu überstehen und ihre Staatlichkeit auszubauen. Der militärische Druck Frankreichs und die deutsche Politik Wiens und Berlins untergruben alles Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit des Reiches und reizten zu einer partikularen Politik wider die Reichsverfassung an, die vom Reich „beschirmte Stände [...] in souveräne Staaten“ verwandelte.14 1802 war das Heilige Römische Reich deutscher Nation am Ende – seine vielherrige Gestalt, seine vielschichtige Verfassung, sein von Herkommen und Ausgleich bestimmter Geist. Hegel zog in eben diesem Jahr den Schluss „Deutschland ist kein Staat mehr [...]. Die Organisation dieses Körpers [...] hatte sich in einem ganz anderen Leben gebildet, als [...] jetzt in ihm wohnt“15. Eine andere Konstellation zeichnete sich ab: 9 10

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Georg Voltz, Chronik der Stadt Weißenburg im Nordgau und des Klosters Wülzburg, Weißenburg 1835, S. 182. Überblick bei Rudolf Endres, Der Fränkische Reichskreis, Augsburg 2003 (= Hefte zur Bayerischen Geschichte und Kultur, 29); Wolfgang Wüst (Hg.), Reichskreis und Territorium: Die Herrschaft über der Herrschaft?, Stuttgart 2000 (= Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens, 7). Vgl. Erwin Riedenauer, Reichsverfassung und Revolution. Zur Persönlichkeit und Politik des fränkischen Kreisgesandten Friedrich Adolph von Zwanziger, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, 1968, 31, S. 124–196. Wielands Werke, Bd. 35, Berlin o. J., S. 254. Zur Reichssymbolik umfassend Barbara Stollberg-Rillinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008. Huffeld, Reichsdeputationshauptschluß, S. 24. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, Bd. 1, Frühe Schriften, Frankfurt am Main 1971, S. 461f.

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zwei Mächte europäischen Ranges und ein Drittes Deutschland aus neuen Mittelstaaten. In ihr mussten sich nach dem Untergang des Lehenverbandes und des Rechtsgefüge des Reiches allenthalben Staat und Gesellschaft verändern. So verändern, wie es rationales Herrschaftsinteresse und aufgeklärter Zeitgeist schon länger gefordert, häufig auch eingeleitet hatten, dabei aber immer wieder auf die traditionalen Institutionen, Regeln und Riten des Reiches gestoßen waren. 4. KRIEGSBEDRÄNGNISSE Bei vielen war das Leben in der Textur des Reiches bereits durch äußere Gewalt erschüttert. Denn der Kampf zwischen dem Frankreich der Revolution und Europas Monarchien hatte ein gewaltiges Kriegstheater eröffnet. Noch waren die Durchmärsche des Siebenjährigen Krieges mit ihren lange drückenden Kosten in schlimmer Erinnerung.16 Nun suchte der Krieg, das „große Moratorium des Alltags“ (Odo Marquard), erneut weite Teile Frankens heim. Zunächst, ab Anfang 1793, als „nach den Zeitungen die Franzosen ihrem König [...] den Kopf haben abschlagen lassen“17, sah man zwar öffentliche Soldatenwerbung und Exerzieren, hörte Kriegsgebete in der Kirche, erlebte auch mehrfach den Durchmarsch von Österreichern und Reichskontingenten nach Westen, denen Verpflegung und Vorspann zu leisten waren. Aber 1796 kam der Krieg ins Land: Eine Revolutionsarmee unter Jourdan stieß bis in die Oberpfalz vor. Sie störte alles gewohnte Leben im Dorf wie in der Residenz – aus Würzburg flohen Fürstbischof, Domkapitel und Adel bis nach Böhmen –, zerstörte vieles und verstörte nicht wenige Menschen.18 Entlang den Heerstraßen forderten die Truppen Quartier und Versorgung, oft für Tausende, zum Teil mit Pferden, sie erpressten enorme Kontributionen, auch mit hochgestellten Geiseln, und requirierten Güter aller Art, von Pferdegeschirren über alles greifbare Tuch für Uniformen bis zu zahllosen Kunstwerken. Viele Bauern mussten zum Transport anspannen und kehrten erst Tage oder Wochen später heim, oft genug mit ruinierten Wagen und lahmenden Zugtieren; ja, manche ließen ihr Gespann im Stich, um endlich zur Ernte heimzukommen. Häufig blieben Häuser, Wege und Felder beschädigt zurück, dazu ansteckende Krankheiten und, da die Truppen Rinder, Schweine, Schafe mit sich trieben, zeitweise auch Viehseuchen. Immer wieder wurde geplündert und vergewaltigt, wurden Obst16 Zum Beispiel Herbert Schott, Fürstlicher Absolutismus und barocke Stadt, in: Ulrich Wagner (Hg.), Geschichte der Stadt Würzburg, Bd. II, Stuttgart 2004, S. 150f. 17 Voltz, Weißenburg, S. 172. 18 Überblick bei Stefan Kestler, Franzoseneinfall und ‚Franzosenzeit‘ in Franken 1796–1815, in: Heimatbeilage zum Amtlichen Schulanzeiger des Regierungsbezirks Oberfranken, Nr. 236, Bayreuth 1996; Werner K. Blessing, Umbruchkrise und ‚Verstörung‘. Die ‚Napoleonische‘ Erschütterung und ihre sozialpsychologische Bedeutung, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, 1979, 42, S. 75–106. Eindrucksvoll beschreibt und analysiert alle Aspekte der Kriegserfahrung Ute Planert, Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden: Alltag – Wahrnehmung – Deutung 1792–1841, Paderborn 2007 (= Krieg in der Geschichte, 33).

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bäume umgehauen, Kühe abgestochen, ja ganze Dörfer in Brand gesteckt wie Hirschaid südlich Bamberg und manche Widerstrebenden niedergemacht. Da und dort haben freilich auch wütende Bauern einzelne Soldaten erschlagen – wie Marodeure im Dreißigjährigen Krieg, dessen Schrecken manche zurückgekehrt glaubten. Aber auch die von Erzherzog Karl gegen Jourdan herangeführten Österreicher – Anfang August 1796 etwa setzten rund 10 000 Mann nördlich Bamberg über den Main – und Fränkische Kreistruppen nahmen das Land hart mit, bis der Rückzug der Franzosen über den Rhein auch von ihnen befreite. Die wirtschaftlichen Folgen drückten weit länger: akuter Geldmangel, ein vor allem an den Hauptstraßen sichtlich gesunkener Lebensstandard und allgemeine Sonderabgaben, welche die enormen Kosten für Truppenversorgung und Schadensbehebung landesweit umverteilten. Daran trugen alle Stände jahrelang. Eine Erholung hatte kaum begonnen, als der Zweite Koalitionskrieg über Europa zog. Seit dem Sommer 1800 drangen erneut Franzosen und Österreicher ein und fielen an Main und Regnitz monatelang zur Last. Bis in das Frühjahr 1801 wehte die Trikolore über der Würzburger Festung Marienberg, über den Residenzen in Bamberg und Eichstätt. Erst im April kehrten die Fürstbischöfe Fechenbach, der von Würzburg nach Meinigen, Buseck, der von Bamberg nach Kronach, Stubenberg, der von Eichstätt in das neutrale Ansbach geflohen war, in die Hauptstädte und in ihr Amt zurück. Sie sollten dieses Amt, das seit acht Jahrhunderten geistliche und weltliche Herrschaft verband, nur noch etwas über ein Jahr ausüben. Das galt ebenso für die im Hochmittelalter begründete Reichsherrlichkeit der Ratsgeschlechter in Rothenburg, Schweinfurt, Weißenburg und Windsheim; allein in Nürnberg blieb ihr, wenngleich sehr beengt, noch eine Galgenfrist bis 1806. Wie hatte man im Februar bei der Friedenskunde aus Lunéville aufgeatmet: „Blick auf, Germanien, dein Schutzgeist steigt vom Himmel / wer ist die holde Schöne, / Dort in dem glänzenden Gewand? / Die Friedensgöttin ists, das Himmelskind Irene / Kommt mit dem Oelzweig in der Hand.“19. Doch eben dieser Friedensschluss stieß das von Kriegsnöten beschwerte und perturbierte Franken auch in den politischen Umbruch der Säkularisation und Mediatisierung. 5. VORSPIEL: EINE PREUSSISCHE FRIEDENSINSEL UNTER MODERNISIERUNGSDRUCK Allerdings litt nicht ganz Franken 1796 und 1800/01 Kriegsnot. Die Markgraftümer Ansbach und Bayreuth, seit 1792 Provinzen der Großmacht Preußen, blieben dank deren Sonderfrieden von 1796 eine Insel inmitten von Bedrängnissen und Verarmung; man verdiente auf ihr sogar am Krieg der anderen durch Fuhren für den Nachschub der österreichischen Armee und durch vertriebene linksrheinische Adelige und reiche Fremde aus Kriegsgegenden. Obwohl der von Berlin zugleich für den Fränkischen Kreis abgeschlossene Frieden von den anderen Kreisständen aus Reichsloyalität nicht akzeptiert worden war, kam er nun doch auch 19 Hier zitiert nach Müller, Schweinfurt, S. 19,

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den an preußisches Gebiet grenzenden Reichsstädten Weißenburg und Windsheim zugute. Sie baten beim Nahen der Franzosen erschrocken um den militärischen Schutz desselben Preußen, das sie seit 1792 massiv bedrängt hatte. Es war bei der rücksichtslosen Ausweitung von Rechten und Einnahmen in ihre kleinen Landgebiete eingedrungen, hatte dort Landesherrschaft beansprucht – man hörte das schon an der Fürbitte für den König, die in das Kirchengebet musste – und zog seither die Grundgefälle ein.20 Es war eine verzweifelte, zwischen Einwohnerfurcht und Ratsstolz umstrittene Unterwerfung; sie demonstrierte die ganze Ohnmacht kleiner Reichsstände, deren Schirmherr in Wien geschwächt und ganz seinen Hausinteressen zugewandt war. In den Markgraftümern hob der Schutz vor Kriegsnot, die man im kleinräumigen Franken oft aus der Nähe sah, die Geltung der neuen Obrigkeit sehr. Zunächst hatte diese – mehr als bei anderen Herrschaftswechseln, die in einer noch vorwiegend traditionalen Gesellschaft stets irritierten, – viele durch den Ruf Preußens beunruhigt, höhere Steuern, Militärpflicht und strenge Reglementierung zu bringen. Gebildete, die um die politische Topographie Deutschlands wussten, hatten zudem befürchtet, in die vernachlässigte Peripherie des Großstaates abzusinken. Hardenberg verschärfte denn auch, so sehr er alle „wohlerworbenen“ Rechte zu achten versprach und durch Armenspenden, zum Beispiel in der Stadt Bayreuth 2 000 Gulden, für das neue Regiment warb, bald den Obrigkeitsdruck und erhob neue Abgaben. Sie konnten auf dem Land mancherorts nur mit Husaren eingetrieben werden. Andererseits erhofften aufgeklärte Bürger „von Preussens allgemein gerühmtem Verwaltungs-System“21 bessere Ordnung, gerechtere Belastung, mehr Wohlstand. Sie vor allem gaben dann dem vom Pariser Menetekel 1789 angetriebenen Modernisierungsdrang des Staates gesellschaftliche Resonanz. Weit über die reformabsolutistischen Ansätze des letzten Markgrafen hinaus sollte das große Projekt der Aufklärung, Menschen und Zustände zu „verbessern“ – so das Leitziel –, mit der Sicherung legitimer Herrschaft, der Ausweitung der Staatsgewalt und einer Steigerung der Staatseinkünfte verbunden werden. So kam die Bevölkerung Ansbach-Bayreuths als erste in Franken unter eine neue Staatsräson. Diese „griff“ offenbar; trotz höherer Anforderungen, bis in die unteren Schichten – weil die Obrigkeit für Frieden bürgte. Ihn nutzte Hardenberg für einen massiven Reformschub.22 Seit 1796 wurden Verwaltung und Justiz einheitlich, hierarchisch und mit klaren Kompetenzen organisiert, durchgehend getrennt, im Handeln gestrafft – so nahmen Dauer und Zahl der Prozesse deutlich ab – und von Reichsinstitutionen gelöst. Um das Land mehr in Flor zu bringen, wurden Landwirtschaft, Gewerbe und Handel, Bildungsanstalten, Gesundheits- und Fürsorgewesen gefördert, aber zugleich für die Staats20 Matthäus Geuder, Chronik der Stadt Windsheim, Windsheim 1925, S. 47 und 78f.; Voltz, Weißenburg, S. 174–183. 21 Weltrich, Erinnerungen, S. 3. 22 Endres, Staat, S. 772–782; Hanns Hubert Hofmann, Adelige Herrschaft und souveräner Staat. Studien über Staat und Gesellschaft in Franken und Bayern im 18. und 19. Jahrhundert, München 1962 (= Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2), S. 167–189.

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interessen gefordert. Nachdrücklich setzte dazu der Staat die auf vernünftige Moralreligion ausgerichtete lutherische Landeskirche und die für Tugend- und Patriotismuslehre gestärkte Volksschule ein. Paternalistisch zog er die Gesellschaft verstärkt unter seine Regie, ob er nun Feiertage abschaffte, Gemeindegründe verteilte oder zur funktionalen Trennung von Dorf und Stadt Gewerbe auf dem Land erschwerte. Zugleich dehnte Hardenberg diesen prinzipiell modernen Staat in die Gemengezonen der für große Teile Frankens typischen vorstaatlichen „territoria non clausa“ aus, um ihn zum geschlossenen Flächenstaat mit klaren Grenzen und überwölbendem Gewaltmonopol zu festigen. Er annektierte, nicht selten gewaltsam, vereinzelt auch vertraglich wie bei der Reichsstadt Rothenburg, zahlreiche inklavierte oder anrainende Territorialsplitter und Besitzungen von Reichsrittern, Reichsstädten, Bischöfen und Deutschem Orden – als „Revindikation“ aufgrund alten Rechtes scheinlegitimiert.23 Vorangegangen war Kurbayern, das bis 1792 Streubesitz der Reichsstadt Nürnberg im oberpfälzisch-sulzbachischen Raum und ein Stück ihres Landgebiets sequestriert hatte. Nach dem Grundsatz „quod est in territorio, etiam est de territorio“ wurden, gegen das Territorialstaatsrecht fränkischer Observanz, oft seit dem Hochmittelalter reichsunmittelbare Ritter mediatisiert. Ihre Bauern kamen unter die Oberherrschaft und das straffe Landesrecht Preußens, mehr als 25 000, die in einst markgräflichen Hochgerichtsbezirken saßen, wurden auch seine Grundholden, ebenso wie zahlreiche Hintersassen der angrenzenden Bischöfe und Reichsstädte. Die Amtsleute auf dem Streubesitz dieser Herren gerieten in preußischen Dienst.24 Allerdings wirkte die Modernisierung nur begrenzt. Zum einen schied der Staat Preußen – dessen Reformwille überdies ab 1803 erlahmt war – bereits 1806 wieder aus Franken aus. Und in der Gesellschaft war das Beharren auf Vertrautem stärker als von den fortschrittsgläubigen und erziehungseifrigen Beamten gedacht. Nicht nur, dass die vorindustrielle Lebenswelt Neuerungsbereitschaft, ein Lernen des Umlernens, allgemein hemmte. In Ansbach-Bayreuth blieb, so modern der Staat wurde, nach dem „Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten“ von 1794 die ständische Gesellschaft weitgehend erhalten, was Einstellungen und Verhalten nach dem Herkommen schützte. Außerdem schwächten Anfangsmängel die Reformen; ein Symptom war, dass die ambitioniert eingeführte Statistik, Grundlage aller modernen Verwaltung, noch sichtlich unzulänglich blieb.25 Ihre volle Zukunft musste die neue Epoche erst gewinnen. 23 Actenmäsige Geschichts-Erzählung der von der ohnmittelbaren Reichs-Ritterschaft in Franken überhaupt in specie aber von dem Canton an der Altmühl dann dessen Mitgliedern und Unterthanen seit der Königl. Preußischen Besitzergreifung in den beeden Fürstenthümern Anspach und Bayreuth, durch die unerhörteste Eingriffe und Gewaltthaten besonders jene, die sich neuerlich verschiedene Bayreuthische Aemter erlaubt haben, erlittenen Bedrückungen und Drangsale, o.O. 1796. 24 Zum Beispiel Julius Sax / Joseph Bleicher, Geschichte des Hochstifts und der Stadt Eichstätt, Eichstätt 1927, S. 419. 25 Sarkastisch: Memoiren des Karl Heinrichs Ritters von Lang, 2. Teil, Braunschweig 1842, S. 49f.

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6. UMBRUCHERLEBNISSE: BAYERISCHE OKKUPATION UND ANNEXION Der Modernisierungsprozess beschleunigte sich vom Einbruch zum Durchbruch, als 1802 Bayern in Franken auftrat. Territorial konnte es wesentlich weiter ausgreifen als die preußischen Revindikationen und dies in einer Form, die nach Erweiterung durch angrenzende Gebiete drängte und im Grunde den gesamten Reichskreis in das bayerische Kraftfeld zog. Dem wittelsbachischen Kurfürsten fielen die geistlichen Fürstentümer Würzburg, Bamberg und Eichstätt zu, die Reichsstädte Rothenburg, Weißenburg, Windsheim und Schweinfurt sowie die nahe bei diesem gelegenen Reichsdörfer Gochsheim und Sennfeld, außerdem die Abtei Ebrach.26 Im April und Mai hatte Montgelas vorab dort, wo man in Franken und Schwaben auf Entschädigung rechnete, Wirtschaft, Verwaltung und politische Stimmung durch einen Offizier erkunden lassen; militärisch geschulter Augenschein versprach, solange man noch keinen Einblick in Akten hatte, mehr Information als subjektive Reisebücher und zufällige Pressenotizen. Was der aufklärungsbewusste Kundschafter sah, wie er vernünftiges Handeln und nützliche Einrichtungen lobte, Überholtes tadelte, Wunderliches verspottete, spiegelte den in München herrschenden Geist.27 Mit Fortschrittsglauben und rigidem Leistungsanspruch an die Gesellschaft durchdrang seit 1799 unter Kurfürst Max IV. Joseph ein Kreis aufgeklärter Beamter und Offiziere um Montgelas den Staat.28 Ihr Rationalismus und Etatismus bestimmte die Übernahme der Bayern zufallenden Territorien. Deren Herren – Regierung oder Rat – suchten, seit im Frühjahr 1802 Annexionsgerüchte tief beunruhigt hatten, durch die Vertreter am Reichstag, eigens entsandte Agenten, Briefe oder Mittelsmänner in Regensburg, Wien, ja Paris die Selbständigkeit noch zu retten. Doch schon im Vorjahr, als der Friede von Lunéville gefeiert worden war, hatte zum Beispiel der Schweinfurter Rat im Grunde schon resigniert: „Wahrscheinlich ist schon alles regulirt“. Im Juli 1802, als die letzte Hoffnung auf den Kaiser gestorben war, berichtete sein Syndikus aus Regensburg „mit bekümmerten Gemüthe“, dass die Stadt „in das KurPfalzbaierische Arrondißement fällt und daher demnächst einer Besitznahme unterworfen werden möchte“. Er sah „keine andere Rettung“ mehr „als diejenige die so oft durch besondere, völlig unerwartete Konjunkturen ohne unser Zuthun sich hervorgethan hat“. 29 Sie traten nicht mehr ein. Ende August, als Schreiben des bayerischen Kurfürsten eine provisorische Übernahme ankündigten und der feierliche Protest der Bischöfe ohne Echo blieb, war das Ende definitiv. Auch im Drängen der Stadt Würzburg, in einer Flucht nach vorn wenigstens das Eigenge-

26 Hanns Hubert Hofmann, Franken seit dem Ende des Alten Reiches, München 1955 (= Historischer Atlas von Bayern, Teil Franken II, H. 2). 27 Hanns Hubert Hofmann, …sollen bayerisch werden. Die politische Erkundung des Majors von Ribaupierre durch Franken und Schwaben im Frühjahr 1802, Kallmünz 1954. 28 Umfassend Eberhard Weis, Montgelas, Bd. 2, Der Architekt des modernen bayerischen Staates, München 2005. 29 Müller, Schweinfurt, S. 20f.

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wicht des Territoriums durch eine Einberufung der – längst entmachteten – Stände zu stärken, sah Fürstbischof Fechenbach keinen Sinn mehr.30 Nachdem noch im August bayerische Kommissäre auf eilig einberufenen Sitzungen der Regierungsgremien die Regie übernommen hatten, rückte Ende August, Anfang September 1802 bayerisches Militär vom niederbayerischen Straubing an die Altmühl in das Eichstättische, aus der Oberpfalz an den bambergischen Obermain und aus der Kurpfalz, von Mannheim und Heidelberg her, in den Würzburger Raum zwischen Rhön und Steigerwald ein.31 Am Aufwand sah man nicht zuletzt die Bedeutung der gewonnenen Territorien für die Münchner Regierung. Während im Hochstift Würzburg fast 3 000 Mann aufzogen, vertrat in der kleinen Reichsstadt Windsheim nur ein Feldwebel, den der Übernahmekommissär mitbrachte, Bayerns bewaffnete Macht.32 Die Truppen belasteten vor allem die größeren Städte erheblich, nicht zuletzt durch die von ihrem Konsum ausgelöste Teuerung, bis sie auch auf das Land verteilt und 1803 insgesamt vermindert wurden.33 Dass die bewaffnete Macht eines fremden Fürsten, in fremden Uniformen und mit fremdem Dialekt, ostentativ eine neue Obrigkeit etablierte, bedrückte und machte auch zornig, zumal man die Soldaten nicht nur auf den Straßen, in Wirtshäusern, vor den Unterkünften in Kasernen oder Klöstern sah, sondern häufig in täglichem Umgang, da ein Großteil Privatquartiere hatte; Rothenburger Ratsfamilien etwa, die sich dieser Belastung gerne entzogen hätten, hatten ihre Mediateure im eigenen Haus.34 Nicht überall verhielten sich die Besetzer verständigungsbereit wie in Bamberg, sondern demonstrierten Unterwerfung. Als der Weißenburger Magistrat die Erklärung der provisorischen Inbesitznahme „mit der tiefsten Ehrerbietung“ annahm, doch bemerkte, „daß Wir zur Zeit von Kaiser und Reich Unsrer diesseitigen Pflichten noch nicht entlassen wären“, verbat sich der Kommissär alle „Protestation“ und stellte klar, dass die, „welche sich durch ein den Umständen gemäßes Betragen auszeichnen“, auf die „vorzüglichste Gnade“ des Kurfürsten hoffen dürften. Den Herren der Stadt blieb nur die Beteuerung, dass man sich solcher Huld „würdig zu machen bestreben werde“.35 Aber auch unter der fremden Herrschaft hoffte die Führungsschicht der Fürstbistümer und Reichsstädte noch, wesentliche Rechts-, Besitz- und Statustitel aus

30 Wolfgang Weiß, Übergang an Bayern (1795–1814), in: Wagner, Würzburg II, S. 214. 31 Oskar Bezzel, Geschichte des Kurpfalzbayerischen Heere von 1778 bis 1803, München 1930 (= Geschichte des Bayerischen Heeres, 5), S. 658f.; Sax, Eichstätt, S. 436. 32 Weiß, Übergang, S. 214; Geuder, Windsheim, S. 98. 33 Zu Bamberg konzis Günter Dippold, Der Umbruch von 1802/04 im Fürstentum Bamberg, in: Renate Baumgärtel-Fleischmann (Hg.), Bamberg wird bayerisch. Die Säkularisation des Hochstifts Bamberg 1802/03, Bamberg 2003, S. 21–69. 34 Gabriele Moritz, Rothenburg ob der Tauber im 19. Jahrhundert, phil. Diss., Bayreuth 1991, S. 28f.; vgl. auch Karl Borchard (Hg.), Rothenburg 1802/03. Das Ende einer Reichsstadt. Ausstellungskatalog, Rothenburg 2002. 35 Voltz, Weissenburg, S. 198f.

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dem Alten Reich retten zu können. Dafür sprachen die ersten Versicherungen der Kommissäre, dass „alle Veränderungen so sehr als möglich vermieden werden“36. So rang man denn – die alten Herren waren formell noch im Amt – während der Herbstwochen bis zur zivilen Inbesitznahme, als die Reichsdeputation den Mediatisierungs- und Säkularisationsplan beriet, in Regensburg und Wien weiter um Schonung. Denn dass Herrschaftswechsel bisher kaum die Verfassung umgestürzt hatten, war eine Erfahrung aus dem Kosmos den Alten Reiches, den die privilegierten Stände in ihrem traditionsumhegten Leben, seit Generationen an Ämter, Privilegien, Rituale gewohnt, tief verinnerlicht hatten. Das galt gerade in den kleineren Territorien, deren Bedeutung im 18. Jahrhundert immer mehr hinter der Prätention zurückgeblieben war; umso mehr klammerte man sich an diese. So glaubte man in den Hochstiften die Domkapitel und eine pfründenreiche Verwaltung, in den Reichsstädten die Vorrechte der Ratsfamilien und überall Gerichtsbarkeit, Konfessionscharakter – den „status religionis“ – sowie Zölle, Zehnten und andere Einnahmen erhalten zu können. Dieser Hoffnung folgten nicht nur die von den höheren Ständen abhängigen Beamten, Schreiber, Gewerbsleute; ein Großteil auch der unteren Stände hat gewiss, gerade in den Nöten und Sensationen jener Jahre, auf das Gewohnte gebaut. Andererseits mehrten sich Forderungen aus den auf geistigen und wirtschaftlichen Fortschritt drängenden Bürgerkreisen, zu denen auch manche Adelige traten, nach Reformen in Herrschaft und Gesellschaft; steigende Konflikte in den Reichsstädten des späten 18. Jahrhunderts zwischen Rat und Bürgern demonstrierten dies.37 Dass zudem seit den 1790er Jahren Privilegien der Oberschicht selbst unter einfachen Leuten fragwürdig waren, sah man, als in den Hochstiften am Main 1796 nicht wenige die französischen Soldaten für Freiheitsbringer hielten – bis sie kamen und zur Landplage wurden. Doch was auch im Übergang zwischen Besetzung und Eingliederung von der bayerischen Herrschaft befürchtet oder erhofft wurde, das Ausmaß der Veränderungen im folgenden Jahrzehnt sah wohl kaum jemand voraus. Wie bei jedem Umbruch war 1802 vieles offen und manches noch gar nicht vorstellbar. Die Eingriffe in die Verfassung der okkupierten Territorien begannen nach der Zivilbesitzergreifung Ende November, Anfang Dezember 1802, sogleich als die Reichsdeputation in Regensburg ihren Hauptschluss gefällt hatte. Er war zwar weder verabschiedet noch ratifiziert, aber schien Montgelas für das, was er als legitim ansah, hinreichend legal. In Würzburg, Bamberg, Eichstätt mussten die Fürstbischöfe die Landesherrschaft niederlegen und die Untertanen aus ihren Pflichten entlassen. Damit endete auch eine im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts dank eines verstärkt pastoralen Bischofsbildes gesteigerte Fürsorge – so wie in Eichstätt, wo Stubenberg, da Teuerung herrschte, als letzte Regentenhandlung Brotgetreide verteilen ließ. Kommissäre, in Würzburg der Generalkommissär für 36 Müller, Schweinfurt, S. 21. 37 Grundlegend Georg Seiderer, Formen der Aufklärung in fränkischen Städten. Ansbach, Bamberg und Nürnberg im Vergleich, München 1997 (= Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, 114).

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Franken, traten an die Spitze der Regierungen, die Beamten in der Hauptstadt leisteten ihnen, alle anderen im Land ihren Vorgesetzten den Eid auf den bayerischen Kurfürsten, ebenso der Rat und die Amtsinhaber in den vier Reichsstädten. Überall wurden die Besitzergreifungspatente in jedem Ort verlesen und an viel frequentierten Stellen, an Kirchentüren und Rathausecken, angeheftet, bayrische Wappen an den Toren und am Rathaus aufgehängt, Kassen und Archiv versiegelt, alle Appellationen an Reichsinstanzen verboten. Nach der feierlichen Übergabe mit Gottesdiensten, Paraden und Illumination, mit Festmahl der Honoratioren und Volksbelustigungen huldigte die Bevölkerung dem neuen Herrscher. Von nun an galt ihm die Fürbitte im sonntäglichen Kirchengebet, feierte man seinen Geburtstag und Namenstag allerorts öffentlich, beherrschten die Wittelsbacher das in den Schulbüchern vermittelte Geschichtsbild. Und in seinem Namen wurden alle Gesetze und Verordnungen erlassen, ergingen alle Verwaltungsakte und Urteile.38 Wiederum war der unterschiedliche Wert der Territorien für München augenfällig. In den attraktiven Hochstiften Würzburg und Bamberg – 87 und 65 Quadratmeilen, etwa 250 000 und 220 000 Einwohner, gute bis reiche Einkünfte aus fruchtbarer Landwirtschaft, zahlreiches Gewerbe und reger Handel – wurde die Inbesitznahme wohl vorbereitet und honorig inszeniert. In der längst ins Abseits geratenen, ertragsschwachen Reichsstadt Windsheim, deren 1 Quadratmeile Land und rund 4 000 Einwohner die preußischen Revindikationen noch geschmälert hatten, geschah sie eher beiläufig, doch streng. Da der bayerische Kommissär am vorgesehenen Tag ausblieb, vermutete man bereits irritiert eine Vertauschung an Preußen. Als er spät abends doch eintraf, zitierte er sogleich den Amtsbürgermeister zu sich, setzte Vereidigung und Huldigung schon auf den nächsten Vormittag fest, veranlasste eine nächtliche Ratssitzung und verfügte dann beim Übergaberitual rigoros über den hoch zeremoniös agierenden Rat.39 7. VORAUSSCHAU: WEITERE HERRSCHAFTSWECHSEL UND KRIEGE Ende 1802 hatte Kurbayern die äußere Annexion seiner ersten fränkischen Gewinne abgeschlossen. Weitere Erwerbungen nach gleichem Grundmuster brachten ihm in den nächsten eineinhalb Jahrzehnten den Großteil des Fränkischen Kreises und mehr ein; jenes Jahr intonierte die Umwälzung der politischen Topographie zwischen Fränkischer Schweiz und Rhön. Der überschießenden Entschädigung für linksrheinische Verluste folgten immer neue Gewinne und Verluste, die von Napoleon im Preßburger Frieden, in der Rheinischen Bundesakte sowie in bilateralen Verträgen Bayerns mit Frankreich und deutschen Staaten diktiert wurden, und weitere, die sich nach seinem Sturz und aufgrund des Wiener Kongresses aus 38 Weiß, Übergang; Dippold, Bamberg; Sax, Eichstätt; Müller, Schweinfurt; Voltz, Weissenburg; Geuder, Windsheim. Allgemein Rainer A. Müller / Helmut Flachenecker / Reiner Kammerl (Hg.), Das Ende der kleinen Reichsstädte 1803 im Süddeutschen Raum, München 2007 (= Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft 27). 39 Geuder, Windsheim, S. 98f.

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Verträgen vor allem mit Österreich ergaben. Alle Veränderungen wurden nach Quadratmeilen, Seelen und Steuererträgen nüchtern aufgerechnet; die Bevölkerung war in diesem Machtspiel bloße Verfügungsmasse. Bereits Anfang 1803 wurde noch vom Reichsdeputationshauptschluss der größere, südliche Teil des Hochstifts Eichstätt Bayern wieder entzogen und dem mit dem Erzstift Salzburg entschädigten Großherzog Ferdinand von Toskana als Nebenland zugeteilt, der nördliche, das weit ins Fürstentum Ansbach gesprengte Oberstift, ging 1803/04 gegen Geld an Preußen. 1802 war ja Bayern in Franken ein Nachbar Preußens geworden, welches Hardenberg seit zehn Jahren zur regionalen Vormacht ausgebaut hatte. Das schuf eine ganz neue, brisante Konstellation. Der mit Montgelas 1803 ausgehandelte „Haupt-Landes-Grenz- und Purifikationsvergleich“, der eine Schütterzone mit Herrschaftsgemenge auf eine klare Grenze bereinigte, überdeckte die 1802 entstandene konfliktträchtige Konkurrenz in der Mitte Süddeutschlands nur. Doch kurz darauf endete diese schon wieder abrupt: Bayern setzte sich als Satellit Napoleons völlig durch, weil Preußen unerwartet ausschied – durch den Tausch Ansbachs gegen Kurhannover 1805 und durch die Abgabe Bayreuths 1807, als es alle Gebiete westlich der Elbe verlor. Beide fielen an Bayern, 1806 bereits Ansbach samt der mediatisierten Reichsritterschaft, dem Großteil des Nürnberger Landgebiets und dem Eichstätter Oberstift in Besitz, dazu wieder die 1804 preußisch gewordene Reichsstadt Weißenburg sowie das toskanische Eichstätt.40 Dafür musste es Würzburg nach nur drei Jahren als neues Großherzogtum für Ferdinand abgeben. Mit der Rheinbund-Gründung 1806 fielen Bayern die Deutschordenskommenden und die kleineren weltlichen Territorien zu – Fürstentum Schwarzenberg, mehrere Grafschaften und Herrschaften, die Reichsstadt Nürnberg mit ihrem Restgebiet –, und es konnte die noch immediate Reichsritterschaft endgültig unterwerfen. Dies hatte Montgelas bereits im Schub des Reichsdeputationshauptschlusses 1803 rücksichtslos eingeleitet und eine „pfalzbayerische Ritterschaft in Franken“ proklamiert, gegen die sich die meisten Ritter erbittert wehrten. Aber dann war ihre Überwältigung durch Bayern und weitere Territorien, die ihm folgten, noch einmal ausgesetzt worden. Der Kaiser, der seine letzte Stütze im Reich brechen sah, verfügte die Wiederherstellung. Doch behielt München meist schon den Streubesitz der Ritter und schnürte ihre Dörfer wirtschaftlich ein. 1810 ging für 15 Mill. Francs das von Frankreich seit 1807 als pays reservé verwaltete Bayreuth an Bayern über, samt den von Hardenberg okkupierten bambergischen, nürnbergischen, ritterschaftlichen Gebieten und dem gleichfalls seit 1804 preußischen Windsheim; 1811 folgten für eine gleich hohe Ablösung die zum kaiserlichen Krongut gewordenen Domänen.41 Ebenfalls 1810 verlor Bayern mediatisierte Adelsbesitzungen im Steigerwald und die ehemalige Reichsstadt Schweinfurt 40 Fritz Tarrasch, Der Übergang des Fürstentums Ansbach an Bayern, München, Berlin 1912 (= Historische Bibliothek, 32). 41 Eduard Deuerling, Das Fürstentum Bayreuth unter französischer Herrschaft und sein Übergang an Bayern 1806–1810, Erlangen 1932 (= Erlanger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, 9).

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mit den beiden Reichsdörfern an das Großherzogtum Würzburg. Doch erhielt es dieses, einschließlich der Reichsritterschaft in seinem Raum, schon 1814 erneut, weil Ferdinand als Großherzog von Toskana restituiert wurde. Und es gewann das frühere Mainzer Obererzstift im Kurrheinischen Kreis, seit 1810 Département Aschaffenburg in dem für Karl Theodor von Dalberg geschaffenen, nun aufgelösten Großherzogtum Frankfurt, sowie 1816 bis 1819 zwischen Untermain und Rhön kleine, ehedem fuldische, mainzische, hessische Gebiete, die seit 1803 teilweise mehr als einen Landesherrn gehabt hatten. Durch die Umwälzung seit 1802 geriet wie in weiten Teilen Süd- und Westdeutschlands eine im europäischen Vergleich kleinräumig „gefrorene“ Territorienwelt binnen kurzem spektakulär in Bewegung. Vom Wiener Kongress, der das umgebrochene Mitteleuropa in eine konservative Ordnung goss, erhielt sie mit der Fixierung Staatsbayerns wieder einen stabilen Rahmen. Dieser hält – nur 1866 an der Nordwestspitze leicht verkürzt und 1920 durch den Freistaat Coburg erweitert – bis heute. Überlagert wurden die politischen Veränderungen mehrfach durch erneute Kriege. Dass beide zusammenhingen, spürten auch einfache Leute, deren Zeitbild stark an Gerüchten hing und sich nur ab und zu von der Kanzel oder durch offizielle Boten mit sicheren Fakten „klärte“. Sie erlebten die Herrschaftswechsel so nahe an Kriegsnöten und breiter Verarmung, dass die Gewöhnung an eine neue Obrigkeit, die im Großteil Frankens letztlich überall die bayerische war, davon nicht unbelastet geblieben sein kann. Nach vier Friedensjahren zogen 1805 im Dritten Koalitionskrieg wieder Armeen aus Frankreich und Österreich über die Fernstraßen des zwischen beiden zentral gelegenen Franken; entlang ihrer Routen blieb ein aufgestörtes und ausgesogenes Land zurück. Schon im nächsten Jahr nutzte Napoleon den Nordosten zum Aufmarschraum gegen Preußen – allein um Hof sammelten sich rund 50 000 Mann –, das er dann in Thüringen vernichtend schlug. 1809, als Österreich nach der spanischen Erhebung ein weiteres Mal der französischen Hegemonie entgegentrat, kam der Krieg wieder. Wo österreichische Truppen kurzzeitig Gebiete besetzten, die bayerisch geworden waren, wurden sie vor allem von der breiten Bevölkerung als Befreier begrüßt. Im Frühjahr 1812 wälzten sich große Einheiten der Grande Armee durch das Maintal in den Russlandfeldzug, 1813 kamen Russen von der Völkerschlacht bei Leipzig über Kronach an den Main, während gleichzeitig eine bayerisch-österreichische Armee – München war zu Napoleons Gegnern übergegangen – von 60 000 Mann über Ansbach und Würzburg an den Untermain eilte. Schließlich zogen 1815, als Napoleon noch einmal zurückkehrte, abermals Österreicher und Russen die Mainroute nach Frankreich und fluteten im Herbst, als der Friedenskongress in Wien beendet war, nach Osten zurück.42 Insgesamt litt Franken durch seine Lage besonders in dieser dichten Folge von Kriegen, die mit noch nie gesehenen Massenheeren geführt wurden. Und wo es bayerisch war, mussten, nachdem bisher zumindest die Städte von der Militär42 Kestler, Franzoseneinfall; Max Leyh, Die Feldzüge des Bayerischen Heeres unter Max I. (IV.) Joseph von 1805 bis 1815, München 1933 (= Geschichte des Bayerischen Heeres, 6/2).

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pflicht befreit gewesen waren, die nur Preußen in Ansbach-Bayreuth bereits eingeführt hatte, seit 1805 junge Männer selbst Soldaten werden, was „als große Härte empfunden wurde“43. Bamberger oder Windsheimer Söhne gerieten in bisher fremde Strapazen und Gefahren; manche kamen fern der Heimat um. Dass es in diesem bedrückenden Geschehen, bei vielen aufwühlenden Eindrücken letztlich stets um Napoleon ging, ob die Heere für oder gegen ihn marschierten, scheint bis in die unteren Schichten bewusst gewesen zu sein. Denn Bilder und Texte, Lieder, Gerüchte und sein mit markanten (oft nur angeblichen) Aufenthaltsorten in Städten und in der Landschaft verbundener Name vergegenwärtigten ihn so dicht wie bisher keinen Mann, von staunender Bewunderung bis zu Spott und Hass. In allen Ständen beherrschte er spektakulär das Zeitbild, das seit 1802 für immer mehr Menschen in Franken zwangsläufig nach Bayern gravitierte. 8. ERFAHRUNGEN UND ERWARTUNGEN DER BEVÖLKERUNG Dass ein Wechsel der Obrigkeit die Orientierung erschütterte und vertraute Lebensweisen stören konnte, wurde – nach dem Vorspiel im Kraftfeld der preußischen Expansion gegen die altfränkischen Ritter, Städte und Bischöfe – seit Montgelas’ Antizipation des Reichsdeputationshauptschlusses 1802 eine zunehmende Kollektivwahrnehmung. Wie sie in das Bewusstsein einging, welche Gefühle sie nährte, war für die Akzeptanz der Herrschaft wichtig. Das galt selbstverständlich auch in jener Zeit zwischen spätfeudaler und konstitutioneller Verfassung, in der ein aufgeklärter Despotismus oder ein Staatsabsolutismus kaum oder gar nicht mehr durch die Partizipation von Ständen und noch nicht durch die eines Parlaments beschränkt, also direkt von gesellschaftlichem Willen abhängig war; die „Stimmung“ unter den Beherrschten konnten seine Akteure keineswegs ignorieren. Was die Menschen von den neuen Herren erwarteten, ergab sich zum Gutteil aus ihren Erfahrungen in der eigenen Lebenswelt und mit der bisherigen Obrigkeit. In einer räumlich wie sozial kleingekammerten ständischen Welt mussten diese ungleich sein. Das fränkische Tableau zeichnete sich 1802 exemplarisch ab: durch die Verfassungskultur bedingte territoriale Unterschiede zwischen geistlichem Fürstentum und Reichsstadt, das Gefälle der aktuellen Lage, wirtschaftlich wie psychisch, zwischen den vom Krieg verschonten und bedrängten Gebieten und vor allem soziokulturelle Differenzen. Sie äußerten sich unter den Bedingungen einer real und symbolisch stark gestuften Gesellschaft im Handeln der höheren Stände, in bürgerlicher Öffentlichkeit und in der vorherrschenden Volksmeinung. Deutlich wird, dass sich die Interessen derer, die in der alten Ordnung als Oberschicht privilegiert waren, in der Grundrichtung mit den Überzeugungen der Vertreter „alteuropäischer“ Kultur, vor allem in den Kirchen, trafen und mit den Bedürfnissen in der Unterschicht, wo man durch einen engen Lebenszuschnitt nur von dieser 43 Friedrich Weber, Geschichte der fränkischen Reichsdörfer Gochsheim und Sennfeld, Schweinfurt 1913, S. 288.

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Ordnung wusste. Da ihnen allen an den überkommenen Verhältnissen lag, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, erlebten sie die umwälzende Zeit primär als Bedrohung und wünschten vor allem die möglichste Bewahrung des Gewohnten. Dagegen lenkten die Erfahrungen des vom Fortschrittsglauben bewegten Bürgertums mit tradierten Strukturen, ob geistigen, sozialen oder politischen, die ihnen hemmend schienen, auf die Erwartung, dass eben diese Zeit in allem freiere Zustände bringe. Schon Hardenberg war in den 1790er Jahren nicht nur bei den von ihm bedrängten Reichsrittern und Reichsstädten auf Widerstände gestoßen, sondern auch bei den einfachen Leuten auf Widerwillen gegen Reformpreußen, den dann allerdings der Nimbus der Friedensmacht zurückdrängte. Dagegen hatte in aufgeklärten Kreisen eben dieses Preußen von Anfang an viel gegolten. 1805, als Gerüchte über einen Tausch Ansbachs gegen Hannover umliefen, bestürmten denn auch eine Deputation und viele Bittschriften den König in Berlin; eine Gräfin Platen sorgte sich:“Gott wolle nur des Königs Herz regieren, daß er uns nicht vertauscht!“44. Gespalten war auch das Bayernbild 1802.45 In den geistlichen Fürstentümern wie in den Reichsstädten fürchteten nicht wenige das neue Montgelas-Bayern, das besonders wegen der rasch kolportierten Maßnahmen gegen die barocke Frömmigkeit, an der das Volk hing, als radikal rationalistisch galt. Das schreckte im Eichstätter Oberstift Geistliche so ab, dass sie lieber unter das protestantische Preußen gekommen wären. Als in Würzburg das Leitbild einer schlichten Moralreligion oktroyiert wurde, kam es gar zu Wallfahrten, „um Gott zur Fortschaffung der bayer. Regierung zu bitten“46. Beim Übergang an Großherzog Ferdinand 1806 herrschte denn auch – neben wirtschaftlichen Hoffnungen – die frohe Erwartung von mehr Duldung religiöser und anderer Gewohnheiten. Sie erfüllte sich so, dass es die 1814 zurückgekehrten Bayern trotz sichtlicher Mäßigung gegen die Erinnerung an die mild aufgeklärte Toskana-Zeit schwer hatten. Und reichsstädtische Ratsfamilien mit ihren allein der Tradition verdankten Vorrechten blickten der bayerischen Herrschaft ebenso bedenklich entgegen wie von geschlossenen Zünften umhegte Handwerker, soweit diese von Gewerbepolitik wussten. Dagegen glaubten nicht wenige Gebildete, Kaufleute, Beamte, Ärzte, dass, wenn man schon annektiert werde, „unter vielen Loosen es doch noch eines der wünschenswerthesten ist, ein Bestandtheil des von einer der aufgeklärtesten Regierungen geleiteten Kurpfälzischen Staats zu werden“47. Sie fürchteten, dass Kräfte aus dem alten katholischen Bayern wieder erstarken könnten, das im protestantischen Deutschland, aber auch bei aufgeklärten Katholiken als rückständig verrufen war. Das kam besonders 1806 zum Ausdruck, als Ansbach bayerisch wurde. 44 Ulrich Thürauf, Die öffentliche Meinung im Fürstentum Ansbach-Bayreuth zur Zeit der französischen Revolution und der Freiheitskriege, München 1918, S. 96. 45 Vgl. u.a. Werner K. Blessing, Staatsintegration als soziale Integration. Zur Entstehung einer bayerischen Gesellschaft im frühen 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, 1978, 41, S. 633–700; ders., Umbruchkrise. 46 Briefe eines bayerischen Parteigängers in Würzburg 1814–1816, ohne Absender, Adressat und Datum, in: Hauptstaatsarchiv München, MInn 45777. 47 Müller, Schweinfurt, S. 21.

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Auch der Vorgang der Annexion an sich löste 1802 je nach den vorwiegenden Erfahrungen unterschiedliche Erwartungen aus. So häufig das Ende der Reichsunmittelbarkeit beklagt wurde, gab es doch manchen Beifall, hauptsächlich von Wirtschafts- und Bildungsbürgern, aus vernünftiger Hoffnung auf eine zeitgemäßere Regierung. Das wiederholte sich in den nächsten Jahren. Im 1806 einverleibten Nürnberg sahen etwa Kaufleute, die von der Patrizieroligarchie lange niedergehalten waren, auch Vorzüge Staatsbayerns. Hingegen war vor allem unter einfachen Leuten der Groll über den Absturz in die bayerische Provinz so heftig, dass 1809, als die Stadt kurz in österreichische Hand geriet, eine erregte Menge den Generalkommissär schwer misshandelte. Eine besonders drückende Erfahrung bewirkte im Fürstentum Bayreuth, das von einer französischen, also fremden Okkupation ausgepresst war, dass 1810, als die allermeisten lieber wieder preußisch geworden wären, Bayern doch von nicht wenigen verhalten begrüßt wurde. Sie erwarteten weniger finanziellen Druck und freuten sich, im Sog des seit 1806 im protestantischen Bürgertum aufkeimenden Nationalismus, des „deutschen Landesvaters“.48 9. STAAT UND GESELLSCHAFT AUF DEM WEG IN EIN MODERNES BAYERN Nachdem in den 1802 gewonnenen Territorien anfangs Behörden und Gerichte unter bayerischer Spitze weiter gearbeitet hatten, begann 1803 die Einebnung ihrer Vielfalt, um der inneren Staatsbildung eine institutionelle Grundlage zu geben. Dies geschah so gründlich – in Rothenburg zum Beispiel erhielt 1805 kein Mitglied des Inneren Rates mehr eine Funktion –, dass es die alte Elite bestürzte.49 Die Kommissäre fanden territorial verschiedene Organismen aus Kollegien und Ämtern vor, die sich, weil zu unterschiedlichen Zeiten und Anlässen entstanden, oft sachlich wie räumlich überschnitten. Sie wurden durch ein gleichförmig geplantes System der Verwaltung und Justiz ersetzt, mit klar abgegrenzten Instanzen, Kompetenzen und Sprengeln. Auch die Kommunen sahen sich in den Staat eingepasst, da Städte und Märkte ihr alten Eigenrechte weitgehend verloren und die neu gebildeten Landgemeinden dementsprechend auch keine Selbstverwaltung erhielten; mit den kommunalen und kirchlichen Stiftungen zog der Staat auch klassische lokale Fürsorgeaufgaben an sich. Die Behörden wurden vermindert, höhere Ränge meist mit bayerischem Personal neu besetzt, auch die übrigen Amtsleute zum Teil ausgeschieden, nicht wenige jedoch, zumal in den Außenämtern, übernommen – auch wenn keineswegs jeder wirklich geeignet erschien. Aber hinreichenden Ersatz gab es noch nicht, außerdem scheute die Regierung eines hoch verschuldeten und durch Kriege faktisch bankrotten Staates die Pensionslas48 Johann Apollonius Peter Weltrich, Erinnerungen für die Einwohner des ehemaligen Fürtenthums Baireuth aus den Jahren der französischen Occupation von 1806 bis 1810, Kulmbach 1819, S. 91f. 49 Moritz, Rothenburg, S. 40f.

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ten. Mangel an modernen Beamten und die Kosten doppelter Institutionen verhinderten auch, dass Verwaltung und Justiz im Sinne des Staatsmodells der Aufklärung nicht nur auf oberer und mittlerer Ebene, sondern überall getrennt wurden. Da unter Hardenberg dies in Ansbach und Bayreuth bereits geschehen war, klagte man dort beim Anfall an Bayern über einen Rückschritt. Dies und andere Mängel trugen dem neuen Bayern in der bürgerlichen Öffentlichkeit des vorher preußischen Franken den Ruf ein, nur halbherzig aufgeklärt zu sein.50 Vereinheitlicht, gestrafft und klar geregelt, sollte – das war Montgelas’ Programm – dieser Staatsapparat, mit überlegenem Blick zugleich auf Gemeinwohl und Staatsinteresse zentral gelenkt, vernünftig und effizient die annektierten Gebiete sowohl „verbessern“ als auch mit dem alten Bayern sowie unter sich verbinden. Integration und Reform bedingten sich gegenseitig. Allerdings blieb dieser Bürokratismus häufig hinter seinem Anspruch zurück, personell, institutionell und im Handeln. Auch höhere bayerische Beamte, die sich aus allen wittelsbachischen Gebieten von Niederbayern bis zum Niederrhein rekrutierten, entsprachen offenbar dem Leitbild des qualifizierten und disziplinierten Staatsdieners nicht immer so wie die schon länger in ihm geschulten preußischen. In Windsheim etwa, das 1804 vorübergehend an Preußen kam, fiel sogleich deren energische, klare Verwaltung auf.51 In Rothenburg protestierten Bürger nicht nur gegen den scharfen Steuerzwang, sondern auch gegen offenkundige Korruption.52 Aber über solche konkreten Mängel hinaus beunruhigte die neue Herrschaft ganz allgemein: Mehr als ein Jahrzehnt lang wurden Behörden umorganisiert und vor allem Verordnungen, Edikte und andere Normen nicht nur zahlreich erlassen, sondern häufig bald wieder novelliert oder revidiert. Ein fast atemloser Gestaltungswille, der kaum eigene Praxiserfahrung nutzen konnte und nur wenig fremde wie aus Frankreich und Preußen, musste, um seine Ordnungsideen zu verwirklichen, im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Beharrung und dem Druck wechselnder äußerer Umstände immer wieder die Mittel anpassen, Maßnahmen ändern, neue Wege suchen. So hatte das Montgelas-Regiment mit seiner enormen Reformintensität einen zwangsläufig experimentellen Zug. Dies erschien leicht als Neuerungshektik, ja, wo man seine Richtung nicht guthieß, vielmehr Gewohntes vom Staat gesichert sehen wollte, als Bedrängung. Denn Säkularisation und Mediatisierung veränderten auch die Gesellschaft. Noch 1802 begann sich in Würzburg, Bamberg, Eichstätt ihr Mittelpunkt aufzulösen, der fürstbischöfliche Hof, der mit „geistlichem“ und „weltlichem Staat“ die feudale Reichskirche repräsentierte, Kanzleipersonen, Künstlern, Handwerkern, Dienstboten Arbeit und Brot gab und kulturelles Vorbild für das ganze Land war. In Würzburg hatte 1795 der Trauerpomp für Franz Ludwig von Erthal seine Verschränkung von Herrschaft und Gesellschaft ein letztes Mal sinnfällig vorgestellt. 50 Wie schwierig der Behördenaufbau im Detail sein konnte, zeigt Robert Schuh, Probleme bei der bayerischen Neuorganisation Frankens, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, 1984, 47, S. 441–469. 51 Geuder, Windsheim, S. 100f.; Lang, Memoiren 2, passim. 52 Moritz, Rothenburg, S. 50.

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Mit dem Hof büßten die Städte sehr an Wirtschaftskraft, sozialem Rang und Zentralität ein. Deshalb wurde in Würzburg 1806 Großherzog Ferdinand, der die Residenz wieder belebte, erwartungsvoll begrüßt und 1814 deprimiert verabschiedet; die anschließende, freilich bescheidene Hofhaltung des Kronprinzen Ludwig hat der zunächst schwierigen bayerischen Herrschaft geholfen. An vielen Punkten folgenreich war die noch 1802 im Zug der Vermögenssäkularisation eingeleitete Aufhebung der Klöster und Stifte.53 Da sie mit den Frömmigkeitsorten zugleich Arbeitgeber und Bildungsstätten beseitigte, ging die Breitenstruktur der geistlichen Stadt unter und das ganze Land verlor religiöse „Leuchttürme“ mit ökonomischer wie kultureller Strahlkraft: Gewerbe und Dienstleistungen, Schulen und Bibliotheken verschwanden. Das mündete in Reagrarisierung und ein katholisches Bildungsdefizit. Ab 1802 wurde Bayern außerdem zum paritätischen Staat, der die territorialen Konfessionskörper entmachtete. Seit die Autorität einer umfassenden Katholizität nicht mehr galt und die innerbayerische Mobilität diese mit protestantischen Beamten, Offizieren, Kaufleuten auch real beendete, gewannen die Anhänger einer säkularen Aufklärungskultur, von den Staatsbehörden gefördert, deutlich Boden. So durfte in Würzburg eine vom Fürstbischof nicht zugelassene Lesegesellschaft 1803 sogleich gegründet werden. In den Bischofsstädten entfaltete sich ein frühliberales Gegenmilieu, was sie für lange polarisierte. Spiegelbildlich öffnete sich in den vier Reichsstädten durch Parität und Katholikenzuzug der für das Gemeinwesen grundwichtige lutherische Horizont; der Schweinfurter Oberpfarrer etwa sperrte sich lebhaft dagegen.54 Überkommene Orientierungen lockerten sich ebenfalls, ganz profan, durch die politische Entmachtung der Ratsgeschlechter, die in erster Linie für die gesellschaftliche Erstarrung standen. Nun konnten auch andere Leitbilder und Interessen, vor allem die einer seit längerem virulenten Bürgeropposition, wirksamer werden. Lebensformen, Umgang, das Wirtschaften gewannen an Spielraum; in Schweinfurt gelangen sogar erste Voraussetzungen für eine bedeutende Industrialisierung. Wie vom Konfessionsmonopol suchte der Montgelas-Staat die Bevölkerung aus möglichst vielen feudal-ständischen Bindungen zu lösen. Das sollte die Menschen besser, nützlicher und damit glücklicher machen, die Wirtschaftsleistung steigern und Verfügungsgewalt und Einnahmen des Staates erhöhen. Dieses „unerhörte“ Optimierungsprogramm hat Franken, wo es zuerst bayerisch wurde, noch 1802 erfasst. Es reichte von wirtschaftlicher Entfesselung durch den Beginn der Bauernbefreiung auf Staatsgrund und einen Abbau des Zunftwesens durch Konzessionen über die Beschneidung von Adelsprivilegien bis zu einem im Aufklärungssinn vorbildlichen Strafrecht, das nicht mehr wie das „peinliche“ Verfahren abschrecken, sondern bessern wollte. Auch die territorialen Identitäten und Loyalitäten mussten in einer bayerischen „Nation“ aufgehen. Neben der beiläufigen Anpassung durch die landeseinheitliche staatliche Normierung und durch den so53 Zum Beispiel Dippold, Bamberg, S. 34ff. Allgemein Alois Schmid (Hg.), Die Säkularisation in Bayern. Kulturbruch oder Modernisierung?München 2003 (= Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft 23). 54 Müller, Schweinfurt, S. 47.

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zialen Umgang von Einwohnern verschiedener Territorien wirkten eigene Instanzen systematisch für die mentale Integration des rasch zusammengestückten Landes und für eine allgemeine Orientierung an gebotenen Leitwerten, jenseits der ständischen Lebenswelten. 1802 wurde die Pflichtvolksschule verordnet, die neben elementaren Kulturtechniken und Kenntnissen Gesinnung vermittelte, seit 1805 zog die Militärpflicht in eine Armee, die mit dem Drill auch Tugenden einübte, ein dichter Herrscherkult band mit Fest und Vergnügen, attraktiv vor allem im kargen Alltag der einfachen Leute, an die Dynastie. Und die Kirchen wurden als Ordnungs- und Erziehungsautorität vom Staat sehr beansprucht.55 10. „REVOLUTION VON OBEN“ ? Insgesamt konnte der staatsbayerische Zugriff auf die Bevölkerung in einer politisch und rechtlich günstigeren Konstellation mit den Maßnahmen gegen Altes wie mit vielen Neuerungen deutlich weiter gehen als Hardenberg. Umrisse einer nivellierten Staatsbürgergesellschaft mit freier Wirtschafts- und Sozialverfassung zeichneten sich ab. Dass allerdings eine solche Ordnung, so sehr die aufsteigende Bürgerklasse sie favorisiert hätte, in einer noch vorherrschenden Ständegliederung, gegen starke feudale Kräfte, die am Fürsten Rückhalt hatten, und bei einer überwiegend traditional und lokal denkenden Bevölkerungsmehrheit unmöglich war, zumal während der Unstetigkeit und Überlastung durch Kriege, ist plausibel. Sie blieb vorerst eine Vision. Aber auch Montgelas’ nähere Ziele wurden nur teilweise erreicht, wesentliche Vorhaben nur bedingt erfüllt. Nicht zuletzt, weil nach der Konstitution von 1808 der Impetus schwächer wurde und Gegenkräfte erstarkten. Vor allem durchbrach der Adel, zwar unterworfen, aber in delegierter Autonomie, mit eigenen Herrschaftsbezirken die einheitliche Staatsorganisation im Adelsland Franken an zahlreichen Stellen, wo er als Grund- und Gerichtsherr weiterhin feudalen Vorrang behielt. Vorrechte gab auch der Besitz, unter anderem das begehrte Privileg, Söhne vom Militärdienst freikaufen zu können. Beschränkt wie die Wehrpflicht war faktisch zunächst die Schulpflicht, da sie sich auf dem Land nur langsam durchsetzte. Mit dem Herrenrecht des Adels blieb die für die größte Bevölkerungsgruppe entscheidende Reform der Agrarverfassung, die Bauernbefreiung, an den Grenzen des Staatsbesitzes stecken. Ähnlich verharrte die Gewerbereform zwischen Lenkung und Freiheit. Und ein dem brillanten Strafrecht entsprechendes, zeitgemäßes und einheitliches Zivilrecht, das alltagswichtiger war, kam nicht mehr zustande. In vielen Bereichen mußten die Neuerer Kompromisse mit tradierten Bindungen und Vorrechten eingehen, für die gewichtige Interessen sprachen. Nicht selten stießen sie auf eine abweisende Gesinnung, ja auf Widerständigkeit wie besonders mit der Erziehung zur Moralreligion, deren Aufklärungsdrang eine 55 Vgl. allgemein Helga Schnabel-Schüle / Andreas Gestrich (Hg.), Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa, Frankfurt am Main 2006.

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vitale Volksfrömmigkeit unterlief. Und die territorialen Identitäten erwiesen sich als so nachhaltig, dass eine bayerische Gesellschaft erst allmählich entstand und sie bis weit in das 19. Jahrhundert nur brüchig überwölbte. Dennoch – die forcierte Modernisierung gelangte so weit, dass Franken am Ende der Ära Montgelas nicht nur territorial völlig neu und staatlich weitgehend umgeformt war, sondern sich zugleich gesellschaftlich in vielem verändert hatte, vor allem strukturell, aber teilweise auch mental. Und es wies starke Ansätze zu weiteren Entwicklungen auf. So wenig der Wandel in seiner Dauer zu fassen ist, da er in sehr verschiedenen Takten ganz unterschiedlich lange verlaufen sollte, sein Beginn lag – das war zu zeigen – im Herbst 1802, als Franken nach Bayern geriet. Alle wesentlichen Faktoren und Verlaufsfiguren, die während des folgenden Jahrzehnts den äußeren Umbruch wie die innere Umwälzung kennzeichneten, wurden in diesem Epochenjahr bereits sichtbar. War das eine „Revolution von oben“? Wenn man bedenkt, dass auch die neue Ordnung durch den Fürsten, der bald zum König wurde, traditional legitimiert blieb, dass die Umwälzung der Gesellschaft sich in wichtigen Bereichen festlief und andere kaum erfasste, dass schließlich die Veränderungen nur zum Teil mit bestehenden Zuständen brachen, häufig jedoch einen bereits eingeführten Wandel lediglich verstärkten, evolutionär intensivierten, wird man vorsichtig. Zumindest, so scheint es, war die bürokratische „Entwicklungsdiktatur“ von Montgelas weder so radikal noch so durchgreifend, dass sie – die modellhaft für alle Neuschöpfungen des Staatsabsolutismus in Deutschland um 1800 steht – sich mit den Revolutionen von 1789 und 1917 als deutsche Alternative auf eine Funktionsebene stellen ließe. Sie verband vielmehr – konsequent auf der Linie der die deutsche Geschichte vom 18. zum 20. Jahrhundert prägenden Großkompromisse – die „verordnete Revolution“ (Eberhard Weis) mit einer verdichteten und forcierten, einer im doppelten Sinne „gedrängten“ Evolution.

1806 UND DAS ENDE DES ALTEN REICHES – EIN SCHICKSALS- UND WENDEJAHR IN REGIONALER PERSPEKTIVE? Wolfgang Wüst 1. 1806 – EIN FEHLENDES GEDENKJAHR Das Jahr 1806 gibt uns Rätsel auf. Die Bewertung jenes Sommertags – es war der 6. August 1806 –, als sich mit der Niederlegung der Reichskrone durch Kaiser Franz II. auch das formale Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vollzog, fiel und fällt in der Forschung sehr unterschiedlich aus. Die Epochenzuordnung dieses Schlüsseldatums, dem bis heute ein Platz im kollektiven Erinnerungsschatz als deutscher (besser: europäischer) Gedenktag verwehrt blieb, ist umstritten. Die Entwicklung unterscheidet sich hier wesentlich von anderen europäischen Endzeitdaten, wie dem Untergang des „Hitlerfaschismus“ im Mai 1945. Wie Helmut Altrichter zeigte, wurde den damit verbundenen Leistungen im „Großen Vaterländischen Krieg“ in der Sowjetunion der Nachkriegsjahrzehnte eine die Massen mobilisierende, mythische und sakrale Funktion zuteil.1 Erst die Erfahrungen der politischen Wendejahre 1989/90 unter Generalsekretär Michail Gorbaþev führten hier zu einer Entsakralisierung in der historischen Debatte um die Führungsrolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg.2 Überraschend ist der Nichtbeachtungsbefund für 1806 dagegen aber nicht, wenn man die zum Teil verhaltenen bis teilnahmslosen Reaktionen der Zeitgenossen zur Kenntnis nimmt. Johann Wolfgang Goethe soll auf die Nachricht von der Abdankung des Reichsoberhaupts, die ihn erst später erreichte als sein Tagebucheintrag vom 7. August vorgibt3, gesagt haben: Dies interessiere ihn weniger als ein Streit seines Kutschers mit einem Diener. Er war von Karlsbad kommend ge1

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Helmut Altrichter, „Der Große Vaterländische Krieg“. Zur Entstehung und Entsakralisierung eines Mythos, in: ders. / Klaus Herbers / Helmut Neuhaus (Hg.), Mythen in der Geschichte, Freiburg im Breisgau 2004 (= Rombach Wissenschaften, Reihe Historiae, 16), S. 471–493. Helmut Altrichter, Vom „Großen Vaterländischen Krieg“ zum „Zweiten Weltkrieg“: Innenpolitische Implikationen einer wissenschaftlichen Diskussion, in: Eberhard Kuhrt (Hg.), Mitteilungen der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, Berlin 2002, S. 153–162. Vgl. hierzu Bettina Braun, Das Reich blieb nicht stumm und kalt. Der Untergang des Alten Reiches in der Sicht der Zeitgenossen, in: Christina Roll / Matthias Schnettger (Hg.), Epochenjahr 1806?: Das Ende des Alten Reichs in zeitgenössischen Perspektiven und Deutungen, Mainz 2008 (= Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abt. für Universalgeschichte, Beiheft 76), S. 7–29, hier S. 7.

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rade auf Reisen! Und Joseph Görres (1776–1848), renommierter katholischer Publizist und glühender Verehrer der Ideale der Französischen Revolution, kommentierte schon früher während des Rastatter Friedenskongresses (Congrès de Rastatt) 1797/99 – im Mittelpunkt standen Verzichtserklärungen auf die Reichsgebiete links des Rheins – den Reichsuntergang im Stile eines unterkühlten Ärztebulletins: „Am dreysigsten December 1797, am Tage des Übergangs von Maynz [mit dem Sitz des Reichserzkanzlers4], Nachmittags um drey Uhr, starb zu Regensburg in dem blühenden Alter von 955 Jahren, 5 Monathen, 28 Tagen sanft und seelig an einer gänzlichen Entkräftung und hinzugekommenen Schlagflusse, bey völligen Bewußtseyn und mit allen heiligen Sakramenten versehen, das heilige römische Reich, schwerfälligen Andenkens.“5

Auch aus den Regionen kennen wir vergleichsweise verhaltene Urteile zur Mediatisierung einzelner Reichsstände. Der Chronist der Reichsstadt Weißenburg, Georg Voltz, resümierte zum Ende der reichsstädtischen Freiheit ebenfalls trocken: „Hierauf folgten alle nötigen Vorkehrungen, um unser Weißenburg als Bayer’sche Provincialstadt zu organisieren.“ Näher erläuterte er diesen folgenreichen Vorgang nicht und ordnete ihn im nächsten Satz beifällig einem Naturereignis zu. Es sei bemerkenswert, „daß es in diesem Jahr so viele Mäuse gegeben habe, als sich kein Mensch denken konnte.“6 Es gab aber auch andere Stimmen. Über die vor und in dem Wendejahr 1806 stattfindenden Säkularisations- und Mediatisierungswellen im Alten Reich fielen die Urteile ausführlicher und in der Regel betroffener aus als die, welche wir aus dem allgemeinen Kontext kennen. Die Mikrogeschichte korrigiert hier den Befund der Makroebene. Vielfach beschwor man dort noch kurz vor dem Ende das Reich als einen unverzichtbaren Friedens- und Schutzbund. Das widersprach der älteren These: Das Alte Reich sei strukturell nicht in der Lage gewesen, Krieg zu führen. Sie baute einseitig auf die vom Offensivkrieg geprägten Urteile des späten 4

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Peter Claus Hartmann / Ludolf Pelizaeus (Hg.), Forschungen zu Kurmainz und dem Reichserzkanzler, Frankfurt am Main 2005 (= Mainzer Studien zur Neueren Geschichte, 17), darin in europäischer Perspektive: William O’Reilly, Der Primas von England und der Reichserzkanzler und Kurfürst von Mainz: Vergleichende Betrachtungen zu ihrer Rolle und Bedeutung im 16. Jahrhundert, S. 71–88; Peter Claus Hartmann (Hg.), Die Mainzer Kurfürsten des Hauses Schönborn als Reichserzkanzler und Landesherren, Frankfurt am Main 2002 (= Mainzer Studien zur Neueren Geschichte, 10). Mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803, der die Abtretung von Mainz an Frankreich besiegelte, wurden dann die Mainzer Kur, das Erzbistum und das Reichserzkanzleramt noch unter Karl Theodor von Dalberg (1744–1817) zunächst auf das Bistum Regensburg übertragen. Heribert Raab, Joseph Görres. Ein Leben für Freiheit und Recht. Auswahl aus seinem Werk, Urteile von Zeitgenossen, Einführung und Bibliographie, Paderborn 1978, S. 91; Helmut Neuhaus, Das Ende des Alten Reiches, in: Helmut Altrichter / ders. (Hg.), Das Ende von Großreichen, Erlangen 1996 (= Erlanger Studien zur Geschichte, 1), S. 185–209, hier S. 191. Georg Voltz, Chronik der Stadt Weißenburg im Nordgau und des Klosters Wülzburg, Weißenburg 1835, Faksimile-Nachdruck Weißenburg 1985, S. 201f.; Wolfgang Wüst, Ende statt Anfang? Der 6. August 1806, in: Eckart Conze / Thomas Nicklas (Hg.), Tage deutscher Geschichte. Von der Reformation bis zur Wiedervereinigung, München 2004, S. 73–98, hier S. 78.

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18. bis frühen 20. Jahrhunderts, die mit Friedrich Christian Laukhard (1757–1822) – er hatte in Gießen und Göttingen wenig erfolgreich Theologie studiert – meinten, die alte Reichsarmee sei eine „Confusions-Armee“. Unter allen Heeren Europas war sie für den Autor des Zuchtspiegels „für Eroberungskrieger […] und Aerzte“ (Paris 1799) die „untauglichste“ ihrer Art gewesen.7 Im „Nürnberger Friedens- und Kriegs-Courier“ sah man das anders. Dort findet sich am 12. Juni 1806, nach der Inbesitznahme des Hohenzollern-Fürstentums Ansbach durch Bayern, ein Bericht über die Konsequenzen für das benachbarte Nürnberg: „Es ist allgemein bekannt, auf welche Weise die hiesigen Vorstädte nebst dem ganzen umliegenden Reichswälder Gebiet der Stadt und einer beträchtlichen Anzahl außerhalb desselben gelegener Unterthanen vor 10 Jahren, unter dem Vorwande, als ob sie Zugehörungen der Fürstenthümer Anspach und Bayreuth wären, in Anspruch genommen, mit bewafneter Hand bese[t]zt und die hiesige Stadt auf einmal aus dem durch Jahrhunderte geheiligten Besitz ihrer darauf zustehenden Rechte und Einkünfte gewaltsam verdrängt wurde. Ein Anspruch des höchsten Reichs-Tribunals hat diesen empfindlichen Akt der Gewalt vorlängst für unrechtmäßig und ungültig erklärt. Und obgleich die eingetrettenen Zeitumstände die Reichsgesezmäßige Wirkung dieses Anspruchs bisher gehemmt haben; so hat doch die hiesige Reichsstadt nie aufgehört, ihre Ansprüche auf die Vollziehung desselben auf allen denjenigen Wegen, welche dem Mindermächtigen offen stehen, mit Eifer zu verfolgen. Sie hat die Hülfe des Allerhöchsten Reichsoberhaupts, den Verfassungsmässigen Beystand des gesammten Reichs, die Unterstützung ihrer höchst- und hohen Kreiß-Mitstände und die Verwendung der erlauchten Vermittler des lezten ReichsFriedensExecutionsGeschäfts nicht ohne Erfolg reklamirt.“8

Furcht vor einer harten Zäsur zeigte man sicher auch in der Reichskirche, für die die Jahre um 1800 massive Herrschafts-, Vermögens- und Pfründenverluste mit sich brachten. Sie hemmten auf Dauer regionale Kultur- und Wirtschaftsentwicklungen, ging doch im altgläubigen Teil des Alten Reiches nicht nur eine Sakrallandschaft verloren. Säkularisierte Klöster und Stifte gaben künftig als verlorene Kultur-, Handels- und Wirtschaftsorte keine infrastrukturellen Impulse mehr. In der Reichskirche setzte man deshalb ebenfalls auf den Reichsverband als Hoffnungsträger. Das abrupte Ende in den Jahren 1802/03 als Vorbote für den 6. August 1806 schmerzte. Die Beziehungen zu Kaiser und Reich noch enger zu gestalten, schien für viele der einzige Ausweg, obwohl in den österreichischen Erblanden josephinische Kirchenreformen zwischen 1782 und 1787 zur Auflö-

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Friedrich Christian Laukhard, Schilderung der jetzigen Reichsarmee nach ihrer wahren Gestalt. Nebst Winken über Deutschlands künftiges Schicksal, Köln 1796, S. 1; Neuhaus, Das Ende des Alten Reiches, S. 197. Zum Defensionswesen der Reichsarmee in neuer Sicht: Max Plassmann, Krieg und Defension am Oberrhein: Die Vorderen Reichskreise und Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden, 1693–1706, Berlin 2000 (= Historische Forschungen, 66); ders., Die Armeen des Fränkischen und des Schwäbischen Reichskreises, in: Daniel Hohrath (Hg.), Zwischen Sonne und Halbmond: Der Türkenlouis als Barockfürst und Feldherr. Begleitband zur Sonderausstellung vom 8. April bis zum 25. September 2005 im Wehrgeschichtlichen Museum Schloss Rastatt, Rastatt 2005, S. 56–65. Nürnbergischer Friedens- und Kriegs-Kourier, Nr. 138; Donnerstägiger Friedens und Kriegs-Courier […], Nürnberg, 12. Juni 1806, Stadtbibliothek Nürnberg.

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sung von ca. 800 Klöstern geführt hatten.9 Der Konstanzer Bischof und Direktor des Schwäbischen Reichskreises sah darin – wie viele – ein Heilmittel, das er jedermann ans Herz legte: „Das einzige rettungs-mittel scheinet in dem constitutionellen weeg eines näheren anschlußes an Kaiserl. Majestät als das reichs-oberhaupt, unter engester verbindung wohldenkender stände, unter sich zu liegen, und es ist sehr zu wünschen, daß eine solche verbindung und einverständnuß unter höchster kaiserlicher auctoritaet und leitung in bälde bewirket werden möge.“10

Und sein Domkapitel präzisierte dies noch, indem auch das Mainzer Erzkanzleramt in den Fokus der Interessen geriet. Der Zweite Mann11 im Alten Reich sollte die Außenpolitik der Klöster und Hochstifte im Auftrag des Reichsoberhaupts koordinieren. „Jezt – wenn jemal – ist demnach der zeitpunkt eingetretten, wo einigkeit und energie allein noch retten können. Nur eine gegenseitige enge verbindung der katholischen höfe unter sich, und eine vertrauensvolle thätige anschließung an das reichsoberhaupt kann die gefährlichen plane des Corpus Evangelicorum zernichten, und dies wird das Seyn oder Nichtseyn der teutschen erz- und hochstifter entscheiden. […] Zum vereinigungspunkt dieses katholischen gegenbundtes deucht uns niemand natürlicher berufen zu seyn, als S.E. durch ihren reichspatriotischen eifer berühmte Churfürstl. Gnaden zu Mainz, dieser fürst wäre dann der ring durch welchen die ganze kette dieses bündnisses sich an das reichsoberhaupt anschlöße. Und end-

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Heribert Raab, Geistige Entwicklung und historische Ereignisse im Vorfeld der Säkularisation, in: Anton Rauscher (Hg.), Säkularisierung und Säkularisation vor 1800, München 1976 (= Beiträge zur Katholizismusforschung, Reihe B: Abhandlungen), S. 9–41; Andreas Schneider, Der Klostersturm in Oesterreich unter Joseph II. Zur Characteristik des Josephinismus, Frankfurt am Main 1869 (= Katholischer Broschüren-Verein, 5,8); Elisabeth Kovács (Hg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus, München 1979; Hermann Franz, Studien zur kirchlichen Reform Josephs II.: mit besonderer Berücksichtigung des vorderösterreichischen Breisgaus, Freiburg im Breisgau 1908. Vgl. zum Bezugssystem Altes Reich und geistliche Staaten: Bettina Braun, Die geistlichen Fürsten im Rahmen der Reichsverfassung 1648–1803. Zum Stand der Forschung, in: Wolfgang Wüst (Hg.), Geistliche Staaten in der Region im Rahmen der Reichsverfassung: Kultur –Verfassung – Wirtschaft – Gesellschaft. Ansätze zu einer neuen Bewertung, Epfendorf am Neckar 2002 (= Oberschwaben – Geschichte und Kultur, 10), S. 25–52; dies. / Frank Göttmann, Der geistliche Staat der Frühen Neuzeit: Einblicke in Stand und Tendenzen der Forschung, in: dies. / Frank Göttmann / Michael Ströhmer (Hg.), Geistliche Staaten im Nordwesten des Alten Reiches: Forschungen zum Problem frühmoderner Staatlichkeit, Köln 2003 (= Paderborner Beiträge zur Geschichte, 13), S. 59–86; dies. / Mareike Menne / Michael Ströhmer (Hg.), Geistliche Fürsten und Geistliche Staaten in der Spätphase des Alten Reiches, Epfendorf am Neckar 2008. 10 Warnung des Konstanzer Bischofs an Clemens Wenzeslaus von Sachsen aus der Residenzstadt Meersburg vom 22. Februar 1797, Staatsarchiv Augsburg, Hochstift Augsburg, Münchner Bestand, Lit. 290. 11 Peter Claus Hartmann (Hg.), Der Mainzer Kurfürst als Reichserzkanzler. Funktionen, Aktivitäten, Ansprüche und Bedeutung des Zweiten Mannes im Alten Reich, Stuttgart 1997 (= Geschichtliche Landeskunde, 45).

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lich, so eng die einzelnen glieder dieses fürstenbundtes ineinander greifen, so eng hätten sich die domkapitel an ihre fürsten zu halten.“12

Das Fragezeichen hinter dem Jahr 1806 als einem Wende- und Schicksalsjahr wird überdeutlich, wenn wir jenseits des unmittelbaren Endzeitszenarios nach einer Trennung zwischen Vormoderne und Moderne, zwischen früher Neuzeit und (später?) Neuzeit suchen. Das hat Gründe, die zunächst in der kontrovers geführten inter- und transdisziplinären Debatte um diese Wende- und Zeitphänomene liegen. Reinhart Koselleck sprach zu Beginn der 1970er Jahre erstmals von einer nicht exakt datierbaren „Sattelzeit“ der Moderne.13 Seine bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt keineswegs nur in den Geschichtswissenschaften breit rezipierten Überlegungen14 zur Epochenabgrenzung pointierten die fließenden Übergänge zwischen der Frühen Neuzeit und dem sich anschließenden 19. Jahrhundert. Das politische und kulturelle Handeln der Moderne erfuhr nach Koselleck im Jahrhundert zwischen 1750 und 1850 so tiefgreifende Veränderungen, dass sich das exponierte Wendejahr 1806 zwangsläufig atomisieren musste. 1806 rückte zunehmend in die Mitte der Umbruchszeit, die wir zudem in regionaler, nationaler und globaler Perspektive zwanglos nach „vorne“ oder nach „hinten“ verlängern können. So datierte etwa Michael Riekenberg für die Geschichte Argentiniens die „Sattelzeit“ der Moderne in die Jahrzehnte zwischen 1890 und 1930.15 Erst dann beschleunigte sich für die südamerikanische Nation „von den Schiffen“ aus – als Folge massiver europäischer Zuwanderung – der gesellschaftliche Wandel, die Mobilität und die beginnende Industrialisierung. Die Variabilität der Moderne und die damit einhergehende Entgrenzung der Jahrzehnte um 1800, insbesondere des Schlüsseljahres 1806, brachte der Historiker Detlev Peukert 1989 in der Auseinandersetzung mit Max Webers Epochendiagnose auf den Punkt: „Das konventionelle, geschichtliche Denken gewinnt seine Chronologie und Epochenbegriffe vornehmlich aus den großen politischen Ereignissen. Wenn aber kulturgeschichtliche Probleme behandelt werden sollen, wenn wirtschafts- und sozialgeschichtliche Langzeitentwicklungen zum Thema werden, wenn der eigenartige Rhythmus der alltäglichen Lebenswelt betrachtet wird, oder wenn die Entwicklungsetappen der Wissenschaften, ihrer humanwissenschaftlichen Praxis gar, bestimmt werden sollen, dann erweisen sich solche Zäsuren oft als ungeeignet für eine angemessene Epochendefinition. Praktisch wird dieses Problem so ein-

12 Ergänzender Vorschlag des Konstanzer Domkapitels vom 17. März 1797, Staatsarchiv Augsburg, Hochstift Augsburg, Münchner Bestand, Lit. 290. 13 Reinhart Koselleck, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, in: Werner Conze (Hg.), Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, Stuttgart 1972, S. 10–28, hier S. 14f.; ders., Einleitung, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 52004, S. XIIIXXVII, hier S. XV; ders., Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: Reinhart Herzog / Reinhart Kosselleck (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München 1987 (= Poetik und Hermeneutik, XII), S. 269–282. 14 Vgl. für die Literaturwissenschaft Ulrich Karthaus, Sturm und Drang: Epoche – Werke – Wirkung, München 22007 (= Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), S. 26ff. 15 Michael Riekenberg, Kleine Geschichte Argentiniens, München 2009 (= Beck’sche Reihe, 1898), S. 106–132.

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Wolfgang Wüst fach wie unbefriedigend dadurch gelöst, dass jede Spezialdisziplin ihre eigene Periodisierung schafft.“16

Können wir also das Jahr 1806 als Zäsur abschreiben? Zumindest wurde das Ende des Alten Reiches in einer politikhistorisch dominierten Forschungswelt neben der Amerikanischen Revolution der Jahre 1775/76, der Französischen Revolution 1789 und dem Wiener Kongress 1815 mit dem Ende der napoleonischen Europaordnung lange als Wendemarke gehandelt. Dazu hat auch die zum Teil groteske Ausmaße erreichende Abwertung der doppelstaatlichen und polyzentrischen Strukturen des Alten Reiches im Zeitalter nationaler Geschichtsschreibung beigetragen. Die Jahrzehnte nach 1806 erschienen in dieser verhängnisvollen Perspektive geradezu als die Geburtsstunde des souveränen, autoritären und militärisch aufgerüsteten Staates. Daran änderte auch der neuere Ansatz wenig, Kultur- und Politikgeschichte als ein unentwirrbares Ganzes zu sehen.17 Einschneidender war hier der Paradigmenwechsel in der Bilanzierung des Alten Reiches selbst gewesen, der eng verbunden ist mit den Forschungsleistungen von Karl Otmar von Aretin18, Johannes Burkhardt19, Peter Claus Hartmann20, Anton Schindling21, Georg Schmidt22 und Barbara Stollberg-Rilinger23. Dieser Vorgang ist durchaus vergleichbar mit der von Helmut Altrichter beschriebenen „GegenErinnerung“, die im Transformationsprozess osteuropäischer Staaten der historischen Debatte seit den 1980er Jahren einen neuen politischen Stellen- und Informationswert einbrachte.24 Der digitalen und editorischen Erschließung zugehöriger historischer Quellenbestände kommt dabei große Bedeutung zu; es handelt sich um Schlüsseldokumente zum nationalen Geschichtsverständnis Russlands und der Sowjetunion.25 16 Detlev J.K. Peukert, Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989, S. 64f. 17 Ute Frevert, Neue Politikgeschichte: Konzepte und Herausforderungen, in: dies. / HeinzGerhard Haupt (Hg.), Neue Politikgeschichte: Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt am Main 2005, S. 7–26. 18 Karl Otmar von Aretin, Das Alte Reich 1648–1806, 3 Bde., Stuttgart 1993–97; ders., Das Heilige Römische Reich 1776–1806, 2 Bde., Wiesbaden 1967. 19 Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648–1763, Stuttgart 102006 (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 11). 20 Peter Claus Hartmann, Kulturgeschichte des Heiligen Römischen Reiches 1648 bis 1806. Verfassung, Religion und Kultur, Wien 2001 (= Studien zu Politik und Verwaltung, 72). 21 Anton Schindling, Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg. Ständevertretung und Staatskunst nach dem Westfälischen Frieden, Mainz 1991 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 143). 22 Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der frühen Neuzeit 1495– 1806, München 1999. 23 Barbara Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806, München 2006 (= Beck’sche Reihe, 2399). 24 Helmut Altrichter (Hg.), GegenErinnerung: Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozeß Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas, München 2006 (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 61). 25 Helmut Altrichter / Lilia Antipow, Geschichte als Politik: Quelleneditionen „100(0) Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte (1917–1991)“ und „100(0) Schlüsseldokumente zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert“ im Internet, in: Helmut Neuhaus

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Für die Landesgeschichte, die wie die universitäre Osteuropaforschung „in Grenzen unbegrenzt“ lehren, denken und forschen darf, bleibt – mit Blick auf die Entwicklung der longue durée – die Definition der Epochen- und Wendejahre diffus. Das wird sich nur dann ändern, wenn es gelingt, die epochensetzende Moderne nach „harten“ Kriterien zu umschreiben und sie regional zu konkretisieren. Globalisierung alleine kann jedenfalls kein Kriterium für die Zäsurfestlegung um 1800 sein. Globalisierte Handelsverbindungen gab es lange vor dem napoleonischen Europa, beispielsweise in Nürnberg und in anderen oberdeutschen Reichsstädten seit dem Mittelalter. In Patriziats-, Handels- und Firmenkreisen der Pegnitzstadt war es im 15. Jahrhundert geradezu zum Standard geworden, die Familien- und Firmennachfolger nach Genua oder Venedig zu schicken, um vor Ort oberitalienische Handelsgebräuche, ökonomische Gesetze, die doppelte Buchführung, bargeldloses Bilanzieren und die italienische Sprache, den Schlüssel zum modernen Wissen, zu studieren. Und die in den Wirtschaftswissenschaften jüngst diskutierte Neue Institutionenökonomie sieht gerade in dem auf Konkurrenz und Kooperation ruhenden, fein gegliedertem Staatswesen des Alten Reiches, das erst posthum und nationalstaatlich geleitet zum zwar bunten, aber strukturlosen „Flecklesteppich“ (Patchwork) degradiert wurde, Chancen für Wettbewerb und Aufbruch. Dazu brauchte es also nicht den souveränen Nationalstaat, der keine Staaten im Staat mehr duldete. Und wenn wir die Perspektive zeitlich dehnen, bis auch Bayerns Entwicklung – zumindest regional – vom Takt der modernisierenden Industrialisierung26 und Urbanisierung erfasst wurde, so stellen sich „romantisierende“ Aussteiger-, Sekten- und Gegenbewegungen ein. Zu ihnen zählte die Gruppe um den Nürnberger August Engelhardt († 1919), deren Mitglieder aus Angst vor umfassender Technokratisierung in den frühen Industriestädten zu Insulanern wurden: August Engelhardt, der in Erlangen Physik und Chemie studiert hatte, wanderte 1902 aus und kaufte sich auf dem Bismarckarchipel eine kleine Südseeinsel. Aus seiner zahlreichen Gefolgschaft von Vegetariern und Nudisten erhielt sich 1904 in der Heimat eine Grußkarte mit Erklärungsmustern zur De-Modernisierung:

(Hg.), Erlanger Editionen. Grundlagenforschung durch Quelleneditionen: Berichte und Studien, Erlangen 2009 (= Erlanger Studien zur Geschichte, 8), S. 471–493. 26 Hubert Kiesewetter, Regionale Industrialisierung in Deutschland zur Zeit der Reichsgründung, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 1986, 73, S. 38–60; Karl Bosl, Die „geminderte“ Industrialisierung in Bayern, in: Claus Grimm (Hg.), Aufbruch ins Industriezeitalter, Bd. 1, Linien der Entwicklungsgeschichte, München 1985 (= Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, 3/85), S. 22–36; Rainer A. Müller / Michael Henker (Hg.), Aufbruch ins Industriezeitalter, Bd. 2, Aufsätze zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bayerns, München 1985 (= Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, 4/85).

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Wolfgang Wüst „Wir leben hier permanent nackt und genießen nur Früchte, vor allem die heilige Kokosnuß. Was sind Städte: Friedhöfe des Glücks und Lebens, gegen mein palmengeschmücktes, ozeanumbraustes, sonnendurchglühtes Eiland?“27

Spricht ein städtischer Aussteiger zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen die Modernisierungsschwelle um 1800 oder speziell um 1806? Dieser Befund wird sicher nicht zutreffen, doch sprechen Gegenbewegungen für die These der langen Übergänge zwischen Vormoderne und Moderne. 2. KONTINUITÄTS- UND EPOCHENFRAGEN Die Phase des beschleunigten Wandels um 1800 erscheint für Bayern, Deutschland und Europa, vertraut man zahlreichen Hand- und Schulbüchern, als eine Zäsurzeit ersten Rangs. Der Bruch mit der politisch-sozialen Ordnung des Ancien Régime, die Umformung der europäischen Staatenwelt und der rasche Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft lassen die Übergangsepoche zwischen 1789 und 1815 geradezu als den Beginn der Moderne erscheinen. Dabei wird das symbolbeladene Revolutionsjahr 1789 – als Auftakt für Freiheit und Einheit – in Gesamtdarstellungen zur deutschen Geschichte weit häufiger als das Wendejahr 1806 an den Beginn des „langen“ 19. Jahrhunderts gestellt. Es scheint aber, dass die Dichotomie dieser Zäsur, die Vorstellungen vom Ende oder vom schnellen Beginn, zu kurz greifen. Der Umbruch der Jahre zwischen 1789 und 1815 ist vielmehr eingebettet in zeitlich übergreifende, strukturgeschichtliche Wandlungsprozesse. Erst in Verbindung mit der, zunächst in Großbritannien, einsetzenden Industrialisierung ist es möglich, von einer westeuropäischen „Doppelrevolution“ zu sprechen. Der für den Wandel der politisch-sozialen Sprache geprägte Begriff der „Sattelzeit“ wird mittlerweile über die Begriffsgeschichte hinaus zur Kennzeichnung der Jahrzehnte zwischen 1770 und 1830 verwendet. Er soll verdeutlichen, dass der Übergang zur Moderne in den europäischen Gesellschaften bereits vor 1789 eingeleitet war und sich über das Epochenjahr 1815 hinaus erstreckte. Der Begriff macht zugleich darauf aufmerksam, dass für jene Übergangsphase die Überlappung und Mischung traditionaler und moderner Elemente charakteristisch war. Diese Position hat sich mittlerweile in der Geschichtsforschung weiter verfestigt. So wurden 2006, anlässlich des 200-jährigen „Gedenkjahres“ von 1806, zahlreiche innovative Beiträge publiziert, die sich mit dem Ende des Alten Reiches und der damit verbundenen Kontinuitätsproblematik auseinandersetzten.28 Für 27 Hier zitiert nach: Jan Grossarth, Die Retter der Kokosnuß, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 174, 30. Juli 2009, S. 7. 28 Als unvollständige Auswahl neuerer Literatur: Helmut Neuhaus (Hg.), Die Frühe Neuzeit als Epoche, München 2009 (= Historische Zeitschrift, Beiheft 49); Hans-Christof Kraus, Das Ende des alten Deutschland: Krise und Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806, Berlin 22007 (= Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, 37); ders., Das Ende des Alten Reiches 1806: Der deutsche Weg ins 19. Jahrhundert, in: Alexander Gallus (Hg.), Deutsche Zäsuren: Systemwechsel seit

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unsere Fragestellung sind hier zu nennen die Studien Christina Rolls und Matthias Schnettgers „Epochenjahr 1806? Das Ende des Alten Reichs in zeitgenössischen Perspektiven und Deutungen“29, Wolfgang Burgdorfs „Der sang- und klanglose Untergang des Alten Reichs“ und „Ein Weltbild verliert seine Welt. Der Untergang des Alten Reiches und die Generation 1806“30, Axel Freiherr von Campenhausens „Wurde das Ende des alten Reiches 1806 aus dem Bewusstsein verdrängt?“31, Wolfram Siemanns „Der deutsche Bund ist nur die Continuität des Reichs… Über das Weiterleben des Alten Reiches nach seiner Totsagung im Jahre 1806“32, Hans-Werner Hahns „Neue Staatenwelt und Altes Reich“33, EricOliver Maders „Das Vahlkampf`sche Schweigen. Die Auflösung des Alten Reiches als Überforderung des Geistes“34, Brigitte Marzohl-Wallnigs „Zeitenwende

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1806, Köln 2006, S. 63–102; Peter Claus Hartmann / Florian Schuller (Hg.), Das Heilige Römische Reich und sein Ende 1806: Zäsur in der deutschen und europäischen Geschichte, Regensburg 2006; Wolfgang Wüst, Ende statt Anfang? Der 6. August 1806, in: Eckart Conze / Thomas Nicklas (Hg.), Tage deutscher Geschichte. Von der Reformation bis zur Wiedervereinigung, München 2004, S. 73–98; Detlef Rogosch, Das Ende des Römischen Kaisertums im Jahre 1806: Ein Ausblick auf Untergang und weitere Entwicklung deutscher Staatlichkeit, in: Michael Salewski / Heiner Timmermann (Hg.), 1804–2010: Zwischen Kaiserkrönung und Reformvertrag, Berlin 2008 (= Politik und moderne Geschichte, 2), S. 75–84; Torsten Riotte, Großbritannien und das Ende des Alten Reiches 1806, in: Michael North / Robert Riemer (Hg.), Das Ende des Alten Reiches im Ostseeraum: Wahrnehmungen und Transformationen, Köln 2008, S. 33–54; Barbara Stollberg-Rilinger, Die Verfassung des Alten Reiches am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Ulrike Gärtner / Judith Koppetsch (Hg.), Klostersturm und Fürstenrevolution: Staat und Kirche zwischen Rhein und Weser 1794/1803, Dortmund 2003 (= Veröffentlichungen der Staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen, Reihe D, 31), S. 18–27; Martin Fimpel, 1806: Zum Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation aus braunschweigischer Sicht, in: Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 2006, 87, S. 63–89. Roll / Schnettger (Hg.), Epochenjahr 1806?. Wolfgang Burgdorf, Der „sang- und klanglose“ Untergang des Alten Reichs, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 2006, 57, S. 564–573; ders., Ein Weltbild verliert seine Welt. Der Untergang des Alten Reiches und die Generation 1806, München 2006. Axel Freiherr von Campenhausen, Wurde das Ende des alten Reiches 1806 aus dem Bewusstsein verdrängt?, in: Bernhard Vogel / Dietmar Herz / Marianne Kneuer (Hg.), Politik, Kommunikation, Kultur, Festschrift für Wolfgang Bergsdorf, Paderborn 2007, S. 288–294. Wolfram Siemann, Der deutsche Bund ist nur die Continuität des Reichs… Über das Weiterleben des Alten Reiches nach seiner Totsagung im Jahre 1806, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 2006, 57, S. 585–593. Hans-Werner Hahn, Neue Staatenwelt und Altes Reich: Die einzelstaatliche Reformpolitik und die neue staatenbündische Ordnung, 1806–1815, in: Heinz Schilling / Werner Heun / Jutta Götzmann (Hg.), Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806: Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806, 29. Ausstellung des Europarates in Berlin und Magdeburg, Dresden 2006, S. 368–381. Eric-Oliver Mader, Das Vahlkampf`sche Schweigen. Die Auflösung des Alten Reiches als Überforderung des Geistes, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 2006, 57, S. 574– 584.

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1806“35 oder Ute Planerts „Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden“36. In Bayern sahen manche Historiker die Entwicklung noch anders. Für Walter Demel genügte jedenfalls ein Blick auf die Karte, um zu ermessen, vor welch „gewaltiger Integrationsaufgabe“ sich die Regierung nach 1803/1805 gestellt sah. Bayern musste auf Napoleons Wunsch zu einem schlagkräftigen Mittelstaat heranwachsen. Administrative Effizienz galt es neu zu entwickeln, war sie wie „in vielen kleineren Reichsterritorien beziehungsweise gar in reichsritterschaftlichen Gebieten einfach nicht gegeben.“ Und dann wird Franken als retardierendes Beispiel in die Zäsurdebatte eingebracht: „In Franken gab es Dörfer, in denen ein Vierundzwanzigjähriger seine Volljährigkeit dadurch verlieren konnte, daß er in ein Nachbarhaus umzog.“ Und in einem ehemals geistlichen Staat wie dem Eichstätter Hochstift war, „wenngleich mit erheblichen Modifikationen, noch [zu Beginn des 19. Jahrhunderts] die Constitutio criminalis Carolina vom Jahre 1532 in Kraft. In anderen neubayerischen Gebieten wurden dagegen die freilich auch nicht immer vorbildlichen Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts von 1794 angewandt.“37

Ein anderer, lange und erfolgreich in München lehrender Historiker – Thomas Nipperdey – rückte Napoleon nicht nur an den Beginn seines vielbeachteten Werks „Deutsche Geschichte“, sondern auch an den der Moderne.38 Und Eberhard Weis billigte in seiner klassischen Darstellung des bayerischen Reformstaates unter König Max I. (1799–1825) und Graf Maximilian von Montgelas, der Vaterfigur des modernen bayerischen Staates, den vorangegangenen Reformen im Alten Reich im Spindler-Handbuch zur Bayerischen Geschichte allenfalls eine marginale Rolle zu. Bayern musste seinen tradierten Reformstau lösen. Erst danach rückte man auf: Montgelas, der Heilsbringer – gestählt im Frankreich nahen Zweibrücken und gereift im preußisch orientierten Ansbach – holte für das Land eine Entwicklung nach, „die in anderen Staaten, wie etwa in Preußen und Österreich, schon unter dem aufgeklärten Absolutismus des achtzehnten Jahrhunderts angebahnt worden war.“39 Gut, dass es in Bayern nach der Zäsur auch Franken 35 Brigitte Marzohl-Wallnig, Zeitenwende 1806. Das Heilige Römische Reich und die Geburt des modernen Europa, Köln 2005. 36 Ute Planert, Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden: Alltag – Wahrnehmung – Deutung 1792–1841, Paderborn 2007 (= Krieg in der Geschichte, 33). 37 Walter Demel, Politische und soziale Integration im „neuen Bayern“ (1803–1818). Eine Zwischenbilanz der Forschung, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung, 1998, 58, S. 327–348, hier S. 329. 38 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866: Bürgerwelt und starker Staat, München 1983. 39 Eberhard Weis, Staat und Politik (1800–1970), I. Die Begründung des modernen bayerischen Staates unter König Max I. (1799–1825), in: Max Spindler (Hg.), Bayerische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert: 1800–1979, München 1978, S. 3–86, hier S. 39; ähnlich formuliert in der von Alois Schmid herausgegebenen Neuauflage des Handbuchs von 2003, S. 45. Vgl. ferner zum Reformstaat Montgelas’scher Prägung grundlegend: Eberhard Weis, Montgelas

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gab. Dort war man zumindest partiell Ende 1791 und Anfang 1792 unter einem anderen Staatsreformer, dem mit vizeköniglichen Vollmachten ausgestatteten „Dirigierenden“ Minister Karl August Freiherr von Hardenberg (1750–1822), preußisch geworden. Er hatte beim berühmten Staatsrechtler Johann Stephan Pütter40 in Göttingen noch Jurisprudenz gehört. Die politische Zäsur um 1800, wie sie Hardenberg oder Montgelas lange verkörperten, ist aber keineswegs mehr unumstritten. Soviel zeichnet sich schon heute in der Forschung ab. 3. 1806 UND DIE BAYERISCHE NATION Historiker neigten bei der Suche nach dem Macht- und Zentralstaat des 19. Jahrhunderts dazu, die Zäsur zwischen dem Alten Reich und der neuen Staatenorganisation mit dem Wiener Kongress von 1815 schärfer zu sehen, als sie in Wirklichkeit war. Der auch regional forcierte Modernitätsdiskurs – geradezu klassisch wurde er beispielsweise in dem Ausstellungsprojekt „Bayern entsteht“ formuliert – ließ die Frage nach einer „Modernität vor der Modernität“ zu einem Randphänomen verkommen, dem sich entweder nur rückwärts gewandte Historiker oder allenfalls neue, aber ideologisch verbohrte „Reichspatrioten“ zuwenden mochten. Modernisierung wurde einseitig als ein Vehikel interpretiert, um effiziente Regierungen zu schaffen. Fortschritt bedeutete in diesem Zusammenhang immer mehr Verstaatlichung, Vereinheitlichung, Zentralisierung und die Entmachtung der noch zahlreichen Inhaber von Sonderrechten im Kreise des Adels, der Kirchen und Klöster, der Städte und der Gemeinden. Ihnen war es zuzuschreiben, dass das Modell des fürstlich-aufgeklärten Absolutismus vor 1800 scheitern musste.41 Die Staatsintegration war aber auch in Bayern keine Momentaufnahme. Als ein Phänomen der Migration, Assimilierung und Akkulturation war sie weniger kurz-, als vielmehr mittel- und langfristig angelegt. Und sie ging zunächst von regional sehr unterschiedlichen Bedingungen aus. Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts bayerisches Militär und die Zivilverwaltung die Inbesitznahme ehemaliger Reichsgebiete vornahm, jubelte die Bevölkerung keineswegs überall. Die Einwohner von Ansbach etwa flehten beispielsweise „mit blutendem Herzen“ zu ih-

1759–1799. Zwischen Revolution und Reform, München 1971; ders., Das neue Bayern: Max I. Joseph, Montgelas und die Entstehung und Ausgestaltung des Königreichs 1799 bis 1825, in: Hubert Glaser (Hg.), Krone und Verfassung, München 1992, S. 49–64; ders., Die Reformen der Regierung Montgelas zugunsten der bayerischen Bauern (1799–1817): Planung und Wirklichkeit, in: Jürgen Kocka (Hg.), Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat, München 1994, S. 503–516. 40 Christoph Link, Johann Stephan Pütter, in: Michael Stolleis (Hg.), Staatsdenker in der frühen Neuzeit, München 31995, S. 310–331. 41 Michael Henker / Margot Hamm / Evamaria Brockhoff (Hg.), Bayern entsteht. Montgelas und sein Ansbacher Mémoire von 1796, Augsburg 1996 (= Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, 32/96), S. 13.

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rem König – wohlgemerkt nicht zum bayerischen, sondern zum preußischen –, er möge „das heilige und ehrwürdige Band, welches die Vorsehung seit einem Jahrtausend zwischen den biederen Einwohnern von Anspach und Bayreuth und den Brandenburgischen Beherrschern knüpfte“,

nicht gewaltsam lösen. Mit Gut und Blut wolle man sich notfalls für ihre Zugehörigkeit zu Preußen opfern.42 Noch 1809 kursierten gedruckte Schmähzettel mit dem Text: „Vivat Preußen! Pereat der lumpige König von Bayern!“43 Und als am 1. Februar 1806 für einige Jahre die bayerischen Truppen aus Würzburg abzogen, und wenige Tage später Erzherzog Ferdinand von Toskana, der jüngere Bruder von Kaiser Franz II., dort seinen Einzug hielt, jubelte die Bevölkerung. Sie sah die Bindung an das Kaiserhaus in Wien wiederhergestellt, sie frohlockte über die schnelle Trennung aus dem zentralistischen bayerischen Säkularisationsstaat in der Zuversicht, jetzt wieder die echte Haupt- und Residenzstadt eines europäischen Fürstentums (Großherzogtums) zu sein. Wallfahrten und Prozessionen wurden wieder eingeführt. Die Münnerstädter Augustiner konnten ihr einst angesehenes Gymnasium erneut öffnen, und der fränkische Landadel bezog seine Stadthäuser, um wieder am Würzburger Hofleben teilzuhaben.44 Gleichwohl beließ man es in Justiz und Verwaltung bei den von Bayern geschaffenen Einrichtungen45 – ein Indiz, dass sich die „Revolution von Oben“ unter Montgelas in kurzer Zeit bewährt hatte. Auch im Umfeld kleinerer Reichsstände regte sich Unwillen. In der Herrschaft Speckfeld der Grafen Limpurg-Rechteren beschwerte sich der in der Rheinbundakte Mediatisierte noch am 29. August 1806 beim Präsidenten der bayerischen Landesdirektion: Dem Haus Limpurg-Rechteren-Speckfeld seien doch alle seine Besitzungen durch eine königlich preußische Ratifikationsurkunde „auf ewige Zeiten“ garantiert worden! Der neue Landesherr hatte, so Graf Lim42 Zitiert nach: Ulrich Thürauf, Die öffentliche Meinung im Fürstentum Ansbach-Bayreuth zur Zeit der französischen Revolution und der Freiheitskriege, nach zeitgenössischen Quellen dargestellt, München 1918, S. 91f; Rudolf Endres, Eingliederung Frankens in den neuen bayerischen Staat, in: Pankraz Fried (Hg.), Probleme der Integration Ostschwabens in den bayerischen Staat. Bayern und Wittelsbach in Ostschwaben, Sigmaringen 1982 (= Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens, 7), S. 93–113, hier S. 102; ders., Bayern und das Großherzogtum Würzburg, in: Ernst-Günter Krenig (Hg.), Wittelsbach und Unterfranken, Würzburg 1999 (= Mainfränkische Studien, 65), S. 85–94. 43 Gerhard Hirschmann, Das Haus Wittelsbach und Franken im 19. Jahrhundert, Neustadt an der Aisch 1984 (= Neujahrsblätter der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, 38), S. 8. 44 Anton Chroust, Eine österreichische Sekundogenitur in Franken, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, 1929, 2, S. 395–444; ders., Das Großherzogtum Würzburg, Würzburg 1913 (= Neujahrsblätter der Gesellschaft für fränkische Geschichte, 8). 45 Nach 1810 gab es auf der unteren Ebene 29 Landgerichte, denen jeweils ein Rentamt zugeordnet war. An der Staatsspitze stand der Geheime Staatsrat mit dem großherzoglichtoskanischen Hofkommissär und Staatsrat Johann Michael Seuffert (1765–1829), dem die von Bayern übernommene Landesdirektion unterstellt blieb. Eine in München sich bewährende Ministerialverfassung wurde nicht eingeführt. Seuffert machte auch nach dem erneuten Übergang Würzburgs 1814 an Bayern Karriere als Präsident des Appellationsgerichts für den Untermainkreis und als Wirklicher Staatsrat.

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purg, mit der Inbesitznahme Ansbachs nicht nur Rechte, sondern auch Verbindlichkeiten übernommen. Die Vorladung der gräflichen Untertanen zur Huldigung unter der bayerischen Krone sei daher unbegründet. Man betrachte die Vorladung deshalb als einen „Irrtum“ seitens der Kommission.46 Andernorts scheinen der Wechsel zu Bayern und der Wille zur Integration von Beginn an ausgeprägter gewesen zu sein. Nachdem die Grafschaft Königsegg-Rothenfels mit Immenstadt nach dem Preßburger Friedensschluss an das Königreich gefallen war, berichteten zumindest die neuen (und alten) Beamten sehr positiv: „Die feyerliche Civilinbesitznahme unserer Grafschaft Rothenfels von Seiten des königl. bayerischen allerhöchsten Hofes gieng unter dem lautesten, allgemeinsten Jubel vor sich und krönte die feurigsten Wünsche sämtlicher Unterthanen.“

Man brachte die neuen Wappen an und hielt eine glänzende Mittagstafel. „Frohsinn, Heiterkeit und innige Patriotenfreude herrschte bey diesem festlichen Mahle und wurde durch das humane, herablassende, wahrhaft edle Betragen der herrn Bevollmächtigten und des ebenfalls hier befindlichen königlichen Herrn Landeskommissairs von Dillingen, Freyherrn von Tautphäus, wodurch sie ganz den Geist ihrer erhabenen huldvollen Monarchen ausdrückten, bis zum höchsten Enthusiasmus entflammt.“47

In seiner Antwort auf diesen Bericht einer neu gebildeten Spezialkommission strich auch der bayerische Monarch – so ungewöhnlich war offenbar der Vorgang – heraus, „mit welchem Eifer und Ergebenheit die Bürger und Einwohner von Immenstadt […] die Übernahme gefeyert haben.“48 Befragt wurden die Betroffenen in jedem der anstehenden Wechsel zuvor freilich nie. Der einzige Fall, bei dem Bürger über Anschluss und Integration abstimmen konnten, war der Anschluss Coburgs an Bayern. Zur allgemeinen Überraschung sprachen sich am 30. November 1919 über 88 % der Bevölkerung im Coburger Land gegen einen Beitritt zu den thüringischen Staaten und damit für Bayern aus. In Teilbereichen wurde, die für die Bestimmung der Zäsur von 1806 wichtige Staatsintegration zum Jahrhundertwerk. Nehmen wir zur Verdeutlichung das Problem der Rechtsangleichung heraus. Ohne Rechtsgleichheit waren ein nationaler Neuanfang und ein Herauslösen aus der komplexen Rechtsvernetzung im Alten Reich kaum zu leisten. Doch die in der Bayerischen Konstitution von 1808 forsch angekündigte Schaffung eines einheitlichen Zivilrechts und eines landesweit gültigen Strafgesetzbuches wurde nur zum Teil umgesetzt. Dies zeigt, dass der Zeitraum, in dem sich die Übergänge vollzogen, nicht zu knapp bemessen werden sollte. Die Homogenisierung des Strafrechts, das vor allem in Neubayern 46 Es handelte sich um die Erbhuldigung im Ort Neundorf, vgl. Fritz Tarrasch, Der Übergang des Fürstentums Ansbach an Bayern, München 1912 (= Historische Bibliothek, 32), S. 178f. 47 Zitiert nach Rudolf Vogel (Hg.), Immenstadt im Allgäu. Landschaft, Geschichte, Gesellschaft, Wirtschaft, kulturelles und religiöses Leben im Lauf der Jahrhunderte, Immenstadt im Allgäu 1996, S. 78f. 48 Spezialkommission Nr. 43 vom 14. März 1806 und Nr. 44 vom 22. Dezember 1805, Staatsarchiv Augsburg, Bezirksamt Sonthofen, Nr. 2107.

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(Schwaben und Franken) mit den vielfach verschränkten Justizrechten unterer, mittlerer und höchster Ebenen und mit den fließenden Übergängen zwischen niederer und hoher Gerichtsbarkeit immer wieder zu Schwierigkeiten geführt hatte, blieb mit Einführung des bayerischen Strafgesetzbuches 1813 eine Erfolgsgeschichte. Der Entwurf des Landshuter Professors Anselm von Feuerbach (1775– 1833), Verfasser des „Lehrbuchs des Peinlichen Rechts“ (1800) und der „Revision der Grundsätze des Peinlichen Rechts“ (1801), nahm vor allem das edle Verfassungsgut ernst, Gleichheit vor dem Gesetz mit der Entprivilegierung des Adels herzustellen, und setzte es im Strafrecht um.49 Zwar blieben Strafverfahren – trotz der Aufhebung der Folter 1806 unter dem Einfluss des Justizministers Heinrich Aloys von Reigersberg (1770–1865), ehemals Leutnant in bischöflich würzburgischen Diensten, – noch lange vom alten Denken geleitet, ein neuer, landesweiter Standard wurde dennoch erzielt. Anders verhielt es sich im Zivilrecht, bei dem man trotz Diskussionen beim alten Rechtszustand blieb und die alt- und neubayerischen Landgerichte vor dem 1. Januar 1900 nicht angleichen konnte. So regelte man Streitfälle im 19. Jahrhundert in Ober- und Niederbayern weiter nach dem Kreittmayer’schen „Codex Maximilianus Bavaricus Civilis“ aus dem Jahr 1756, der aber auch allgemeines Recht – hier liegt die Parallele zu Kodifikationen außerhalb Bayerns – enthielt. Dagegen konnte man in einem fränkischen Gericht wie Ellingen beispielsweise je nach Streitgegenstand noch zwischen sieben verschiedenen Partikularrechten auswählen. Es galten dort, neben dem Bayerischen Landrecht, das Preußische Landrecht in protestantischen Ehesachen, das Eichstätter Statutarrecht bei Erbfällen, Weißenburger-, Pappenheimer- und Deutschordensrecht sowie in räumlicher Perspektive überwiegend das Ansbacher Provinzialrecht.50 Integrierend wirkte aber hier vor der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches im Jahre 1900 bisweilen die Rechtspraxis. Auf die Frage Otto von Völdendorffs51, des Verfassers der einschlägigen „Civilgesetzstatistik des Königreichs Bayern“, wie die Gerichte denn mit den verschiedenen Partikularrechten zurechtkämen, antwortete ein Appellationsgerichtsrat: „Es ist nicht so gefährlich, Herr Kollega, […] als es aussieht. Sehen Sie, entweder es gilt das bayerische Landrecht, so entscheidet man danach und zitiert es; gilt das bayerische Recht nicht, so entscheidet man doch danach, aber man citiert es eben nicht.“52

49 Walter Demel, Der Bayerische Staatsabsolutismus: 1806/08–1817. Staats- und gesellschaftspolitische Motivationen und Hintergründe der Reformära in der ersten Phase des Königreichs Bayern, München 1983 (= Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, 76), S. 124–132; ders., Politische und soziale Integration im „neuen Bayern“, S. 327–348. 50 Henker / Hamm / Brockhoff (Hg.), Bayern entsteht, S. 184; Hans Schlosser, Der Gesetzgeber Kreittmayr und die Aufklärung in Kurbayern, in: Richard Bauer (Hg.), Wiguläus Xaver Aloys Freiherr von Kreittmayr 1705–1790. Ein Leben für Recht, Staat und Politik. Festschrift zum 200. Todestag, München 1991, S. 3–35. 51 Otto von Völderndorff, Civilgesetzstatistik des Königreichs Bayern, Nördlingen 21880. 52 Otto von Völderndorff, Harmlose Plaudereien eines Alten Münchners, Bd. I, München 1892, S. 37. Zur Rolle des gemeinen Rechts: Helmut Neuhaus, Auf dem Weg von „Unseren gesamten Staaten“ zu „Unserm Reiche“. Zur staatlichen Integration des Königreiches Bayern zu

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Das Beispiel langwieriger bayerischer Zivilrechtsfolge und andauernder regionaler Integrationsverluste verdeutlichte im Kleinen nur das, was sich im Großen bei der Einschätzung des Epochen- und Wendejahres 1806 bereits abzeichnete. Vieles ist von längerer Dauer als es zäsurtreibenden Reformern lieb sein kann! Die polyzentrischen Strukturen des Alten Reiches, das formal 1806 endete, wirken oft bis heute nach. Und die modernisierende Epochenleistung zu Beginn des 19. Jahrhunderts relativierte sich – um nicht zu sagen verlor sich – in der faszinierenden Perspektive einer longue durée.

Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Wilhelm Brauneder (Hg.), Staatliche Vereinigung: Fördernde und hemmende Elemente in der deutschen Geschichte, Berlin 1998 (= Der Staat, Beiheft 12), S. 107–136; mit einem Diskussionsbeitrag von Dietmar Willoweit, S. 127f.

RUSSLAND 1812 UND 1825. PATRIOTISMUS – RELIGION – REVOLUTION Nikolaus Katzer DAS ZARENREICH UM 1800 Wer um das Jahr 1800 nach St. Petersburg reiste, den erwartete eine glanzvolle europäische Metropole. Die gerade einmal hundert Jahre alte Hauptstadt des Russischen Imperiums mit etwa 200 000 Einwohnern erfuhr jene architektonische Abrundung, die ihr Erscheinungsbild für weitere hundert Jahre prägte. Russland schien auf seinem Weg nach Europa selbstbewusst voranzuschreiten und das ambivalente Erbe Peters I. und Katharinas II. über die revolutionäre Krise im Westen des Kontinents hinweg in die neue Zeit gefährdeter Monarchien retten zu können. Der mächtige Kuppelbau der Kazaner Kathedrale mit den weit geschwungenen Kolonnaden zum Nevskij-Prospekt hin, der weiße Tempel der Börse auf der Spitze der Vasilij-Insel und gegenüber von Winterpalais und Peter- und Pauls-Festung gelegen, die Isaaks-Kathedrale auf dem Senatsplatz oder das Michails-Schloss hinter dem Sommergarten – alles fügte sich in das grandiose Panorama, das der Stadtgründer wider alle natürlichen Hemmnisse hatte errichten lassen und das nun seine Vollendung zu finden schien. Die noch junge Residenzstadt des russischen Kaisers bot der bürokratischen Elite des Reiches in großzügigen Ministerien und Kanzleien Platz. Des Weiteren fanden die Künste und Wissenschaften in Universität, Kunstkammer und Akademien ihre Herbergen. Die Gebäude der zentralen Kirchenverwaltung, des Heiligsten Synod, sowie die prunkvollen Kirchen und Klosteranlagen machten den Rang der orthodoxen Staatsreligion augenfällig. Nicht zuletzt aber war Petersburg Garnisonsstadt. Die Perspektiven der Prachtstraßen, die wuchtigen Uferbefestigungen der Neva aus Granit, die Kaistraßen und die als Fluchtpunkte gesetzten Paläste trugen auch die Handschrift des Militärstrategen. Gegenüber der Militärstadt mit der Peter- und Pauls-Festung lagen riesige Kasernenkomplexe mit Exerzierfeldern, insbesondere das Marsfeld. Darüber hinaus boten die breiten Straßen und weiten Plätze Raum für großzügige Paraden.1 1

Siehe das zeitgenössische Bildmaterial: Puškinskij Peterburg. Al’bom, St. Petersburg 1991; St. Petersburg um 1800. Ein goldenes Zeitalter des russischen Zarenreichs, Recklinghausen 1990. Über den Zusammenhang von Architektur und imperialem Anspruch Jurij A. Egorov, The Architectural Planning of St. Petersburg, Athens 1969, S. 131–182, 193–195; Igor’ E. Grabar’ (Hg.), Istorija architektury. Peterburgskaja architektura v XVIII i XIX veke, Bd. 3, Moskau 1911, S. 485–488. Zum kulturgeschichtlichen Kontext: Solomon Volkov, St. Petersburg. A Cultural History, London 1996; Arkadij M. Gordin / Michail A. Gordin, Byloj Peterburg. Panorama stoliþnoj žizni. Puškinskij vek, St. Petersburg 1999.

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Kaum etwas schien die Pracht dieses städtebaulichen Gesamtkunstwerks aus barocken und bald auch klassizistischen Elementen zu beeinträchtigen, mit dem der russische Adel seine europäisch-aristokratische Ebenbürtigkeit zelebrierte. Erfolgreich hatte offenbar Katharina II. tiefere Einwirkungen der Französischen Revolution auf das Zarenreich verhindert und ihr eigenes Reformwerk fortsetzen können. Ihr Sohn und Erbe, Paul I., achtete ebenfalls – bei aller sonstigen Abgrenzung zur Mutter – peinlich darauf, die Dämme der Auslandszensur dicht zu halten. Selbst französische Musiknoten standen auf dem Index. So überstand die russische Adelskultur, ganz im Gegensatz zu ihren westeuropäischen Ebenbildern, zumindest äußerlich unbeschadet, die Revolutionsepoche.2 Da ein selbstbewusstes, wirtschaftlich starkes Bürgertum fehlte, musste der Adel eher Bauernrebellionen gegen die Gutsherren und die Leibeigenschaft fürchten, wie sie das Zarenreich zuletzt in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts erlebt hatte.3 Bei aller Dominanz der Metropole verkörperte der Adel nicht die ganze Gesellschaft und repräsentierte Petersburg nicht das ganze Russland. Der oberflächliche Beobachter wusste wenig von ethnischen und sozialen, religiösen und kulturellen Unterschieden, vom Leben der Provinzstädte mit ihren Märkten und Kaufleuten oder von den hölzernen Dörfern des flachen Landes mit den nahezu verborgenen Massen der Bauern und Leibeigenen. Ihm blieb ebenso verschlossen, dass in den Grenzen des Zarenreichs Angehörige von vier Weltreligionen – des Christentums, des Judentums, des Islam und des Buddhismus – beheimatet waren, neben einer nicht unbeträchtlichen Zahl von Anhängern von Naturreligionen. Doch konnte ein aufmerksamer Besucher der Hauptstadt durchaus den Eindruck gewinnen, dass Petersburg auch ein Spiegel dieser Heterogenität des Zarenreiches war. Hier lebten Angehörige sibirischer und kaukasischer Stämme, Armenier und Griechen, Polen und Ukrainer, Deutsche und Juden, Reiche und Arme, Adelige und Beamte, Künstler, Gelehrte und Ärzte, Handwerker und Händler, aber auch Bauern, meist nach Vierteln getrennt, nebeneinander. Es erstaunte den Fremden nicht wenig, wenn er die ethnische und soziale Vielfalt nicht unbedingt auf einen Blick, sondern oftmals nach und nach zu verschiedenen Tageszeiten auf den Straßen des Zentrums oder in weiter abgelegenen Bezirken zu Gesicht bekam. Den2

3

Boris S. Itenberg, Rossija i Velikaja francuzskaja revoljucija, Moskau 1988; Aleksej L. Naroþnickij (Hg.), Velikaja francuzskaja revoljucija i Rossija, Moskau 1989; Jurij M. Lotman, Rußlands Adel. Eine Kulturgeschichte von Peter I. bis Nikolaus I., Köln 1997; Hartmut Rüß, Herren und Diener. Die soziale und politische Mentalität des russischen Adels. 9.–17. Jahrhundert, Köln 1994; Manfred Hildermeier, Der russische Adel von 1700 bis 1917, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750–1950, Göttingen 1990, S. 166–216; Dominic Lieven, Abschied von Macht und Würden. Der europäische Adel 1815–1914, Frankfurt am Main 1995. Manfred Hildermeier, Bürgertum und Stadt in Russland 1760–1870. Rechtliche Lage und soziale Struktur, Köln 1986; Dorothea Peters, Politische und gesellschaftliche Vorstellungen in der Aufstandsbewegung unter Pugaþev, 1773–1775, Wiesbaden 1973 (= Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte, 17); Vladimir V. Mavrodin (Hg.), Krest’janskaja reforma v Rossii v 1773–1775 godach. Vosstanie Pugaþeva, Bd. 1–3, Leningrad 1961–1970; John T. Alexander, Autocratic Politics in a National Crisis. The Imperial Russian Government and Pugachev’s Revolt 1773–1775, Bloomington 1969.

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noch beeindruckte die Buntheit jeden Besucher. Aleksandr S. Griboedov notierte nach einer Fahrt durch die Vorstädte: „Wenn es durch irgendeinen Zufall einen Ausländer hierher verschlüge, der die russische Geschichte des ganzen (vergangenen) Jahrhunderts nicht kennt, so würde er natürlich aus der scharfen Gegensätzlichkeit der Sitten schließen, dass bei uns die Herren und die Bauern aus zwei verschiedenen Stämmen sind.“4

Filipp F. Vigel’, ein russischer Patriot deutscher Abstammung, sprach sogar von einem „babylonischen Durcheinander“, von einer „schrecklichen Mischung von Sprachen, Sitten und Gebräuchen“.5 Wie alle Städte des Reiches war natürlich auch die Hauptstadt polyethnisch und multireligiös. In der bürokratischen und militärischen Elite des Reiches dienten neben Russen Deutschbalten, Deutsche, Polen und Finnen. Die ethnischen Gemeinschaften unterhielten eigene Gotteshäuser und Schulen. Selbst die Tataren besaßen in Petersburg eine Moschee. Der Anteil von Ausländern in der Stadt betrug in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immerhin 9 %, der von Nichtrussen aus dem Zarenreich etwa 5 % der Bevölkerung.6 Dementsprechend war auch das Erscheinungsbild des russischen Adels kosmopolitisch. Die Mehrzahl seiner Angehörigen bekannte sich zwar zum orthodoxen Glauben, doch hielten Protestanten und Katholiken allen Assimilationstendenzen stand. Die hohen Adeligen sprachen meist mehrere Sprachen, wobei das Französische das Russische als erste Sprache verdrängte. Wie an anderen Höfen Europas war es für lange Zeit die Universalsprache der Eliten. Dies hatte zur Folge, dass russischstämmige Adelige ihre „Muttersprache“ bei der Amme, im Umgang mit den Kindern der Hofbediensteten oder noch später wie eine Fremdsprache erlernten. Im Hause des Gouverneurs von Tver’ etwa erregte die Großfürstin Ekaterina Pavlovna bei einem Besuch wegen ihrer guten Kenntnis des Russischen Aufsehen.7 Als Beispiel für die vielfältigen Einflüsse auf den russischen Adel mag Graf Karl von Nesselrode dienen. In Lissabon als Sohn eines deutschen katholischen Vaters und einer Mutter aus jüdischem bzw. protestantischen Elternhaus geboren und anglikanisch getauft, diente er über vier Jahrzehnte dem Zaren als Außenminister, ohne jemals die russische Sprache vollkommen zu beherrschen.8 4 5 6 7

8

Aleksandr S. Griboedov, Zagorodnaja poezdka. (Otryvok iz pis’ma južnogo žitelja) [1826], in: ders., Polnoe sobranie soþinenij, Bd. 3, Petrograd 1917, S. 115–118, hier S. 117. Filipp F. Vigel’, Vospominanija, Bd. 2, Moskau 1864, S. 29. Andreas Kappeler, Russland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, München 1992, S. 99–138. Alexander M. Martin, Romantics, Reformers, Reactionaries. Russian Conservative Thought and Politics in the Reign of Alexander I., DeKalb 1997, S. 93. Zur Frankophilie: Martin Lubenow, Französische Kultur in Russland. Entwicklungslinien in Geschichte und Kultur, Köln 2002. Henning Gritzbach, Der russische Reichskanzler Graf Nesselrode (1780–1862). Biographische Untersuchungen zur Diplomatie des Zarenreiches in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Ph. Diss., Erlangen-Nürnberg 1974; vgl. Nicholas V. Riasanovsky, Nicholas I and Official Nationality in Russia, 1825–1855, Berkeley 1959, S. 44–46. Freiherr vom Stein nannte Nesselrode einen Mann „ohne Vaterland und ohne Muttersprache“, zitiert nach

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Adelskultur in Russland – dies bedeutete um 1800, sich nach einem Kanon unterschiedlicher Lebensentwürfe einzurichten: entweder in einer Amtstätigkeit oder als Pensionär, in der Hauptstadt oder auf dem Landgut, in Petersburg oder in Moskau, im Militärdienst oder im Zivildienst. Jeder dieser Möglichkeiten entsprach ein bestimmter Verhaltenstyp. Ein und derselbe Adelige benahm sich beispielsweise in Petersburg anders als in Moskau, beim Regiment nicht so wie auf dem Landgut, in Gesellschaft von Damen nicht so wie unter Männern, auf einem Feldzug nicht so wie in der Kaserne, auf einem Ball nicht so wie bei einem Gelage von Junggesellen. Die strengen Regeln dieser verbindlichen „Wohlanständigkeit“ reizten manchen dazu, von Zeit zu Zeit auszubrechen und etwa in die Welt der Zigeuner oder in die Wildheit des Kaukasus zu entfliehen. Andere zogen es vor, die Standesgenossen durch abweichendes Verhalten, ungewöhnliche Kleidung oder unschickliche Rede zu provozieren. Nicht immer war unterscheidbar, ob es sich um Freiheitsdrang oder Zügellosigkeit handelte, zumal junge Aristokraten beides als „wahres Husarentum“ verstanden.9 Es wird zu zeigen sein, dass auch die „Adelsrevolutionäre“ nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon durchaus Kinder dieses Milieus waren, um dann aber selbstbewusst aus ihm herauszutreten. „VATERLÄNDISCHER KRIEG“ UND RUSSISCHE NATION In weiten Teilen Europas waren Alexander I. und seine Armee als „Retter“ vor dem Eroberer Napoleon gefeiert worden. Dessen Feldzug gegen Moskau war 1812 im „Vaterländischen Krieg“, wie Zeitgenossen ihn nannten und den Tolstoj ein halbes Jahrhundert später im Roman „Krieg und Frieden“ Tradition stiftend gestaltete, abgewehrt worden. Er wurde nicht nur zum Fanal für den Sturz des französischen Kaisers, sondern auch zur Wegscheide für den russischen Zaren und sein Imperium.10 Die unerhörte patriotische Kraftanstrengung des Jahres 1812, der Brand Moskaus und die nachfolgenden verlustreichen Befreiungskriege, in denen russische Truppen bis nach Paris vordrangen, unterbrachen jäh das innenpolitische Veränderungswerk, dem sich Alexander zuvor mit jugendlichem Elan gewidmet und das ihm die Aura eines großen Erneuerers eingebracht hatte, der sein Land ohne revolutionäre Krise in das konstitutionelle Zeitalter zu führen gedachte. Spiritus rector des Wandels war Michail M. Speranskij, der Prototyp eines konservativen Reformers, der zur Stärkung der zarischen Macht den Staat effizienter gestalten

Aleksandr E. Presnjakov, Apogej samoderžavija. Nikolaj I, Leningrad 1925, S. 60. Dies änderte allerdings nichts an der uneingeschränkten Loyalität zu Alexander I. (später zu Nikolaus I.). 9 Lotman, Rußlands Adel, S. 201f. 10 Dominic C. Lieven, Russia against Napoleon. The Battle for Europe, 1807–1814, London 2009; Oteþestvennaja vojna 1812 goda. Enciklopedija, Moskau 2004.

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wollte.11 Von den ambitionierten Plänen blieb allerdings nur die Verfassung für das 1815 zum vierten Mal seit 1772 geteilte Polen übrig. Liberale russische Patrioten warteten vergeblich auf eine Reichsverfassung oder auf die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Alexander I. lediglich für die Baltischen Provinzen verfügt hatte. Der Zar schien vielmehr – zur Überraschung vieler junger Adeliger und Offiziere – nicht in den Siegestaumel seiner Armeen zu verfallen. Nach mancherlei Mutmaßungen der Zeitgenossen ist auch in der historischen Literatur wiederholt über die Ursachen und Hintergründe der melancholischen Grübeleien und religiös-mystischen Anwandlungen des Monarchen spekuliert worden. Sogar den Plan zur „anachronistischen“ Heiligen Allianz der christlichen Herrscherhäuser wollten einige auf solche Ursachen zurückführen. Ausgerechnet im Augenblick des Triumphes habe Alexander I. Revolutionsfurcht übermannt und seinen Reformwillen untergraben.12 Tatsächlich wollte er offenbar die religiösen Erweckungsbewegungen in Deutschland und England innen- wie außenpolitisch dienstbar machen. Sein reformerischer Konservatismus zielte zwar auf eine Niederhaltung revolutionärer Kräfte. Im Unterschied jedoch zu seinem veränderungsfeindlichen Berater und späteren Minister für Volksaufklärung, Admiral Aleksandr S. Šiškov, hoffte er, eine erneuerte Orthodoxie werde auch im Frieden Energien für einen behutsamen Wandel freisetzen.13 Russland habe, so meinte er, im Krieg für seine Sünden bezahlt und sei nunmehr auserwählt, Werkzeug Gottes bei der Rettung Europas vor dem Antichrist zu sein.14 Doch unterschätzte der Zar die Widersprüche, die sich zwischen seinem aufgeklärten Reformkonzept und dem unter der Anspannung der Kriegsjahre entstandenen religiösen Romantizismus auftaten. Als ihn die überkonfessionellen Neigungen und die Anstöße aus Westeuropa, auch die Orthodoxe Kirche zu erneuern, in immer stärkeren Gegensatz zu seinen Ratgebern der Kriegszeit brachten, resignierte er. Auf seinen Reisen durch das Imperium nach 1820 erweckte er zwar den Eindruck, ein um das Wohl seines Landes zutiefst besorgter Herrscher zu sein. Doch scheute er nicht nur die Kraftanstrengung durchgreifender Reformen, sondern mehr und mehr auch die Bürde der alltäglichen Amtsgeschäfte.15 11 Michail M. Speranskij, Proekty i zapiski, Moskau 1961; Marc Raeff, Michael Speransky. Statesman of Imperial Russia 1772–1839, Den Haag 21969; Janet M. Hartley, Alexander I, London 1994; Allen McConnell, Tsar Alexander I. Paternalistic Reformer, New York 1970; Sergej V. Mironenko, Samoderžavie i reformy. Politiþeskaja bor’ba v Rossii v naþale XIX v., Moskau 1989. 12 Gegen diese verkürzte Sicht älterer Werke: Dieter Langewiesche, Europa zwischen Restauration und Revolution 1815–1849, München 31993, S. 14f. 13 Martin, Romantics, S. 169–202; vgl. David Saunders, Russia in the Age of Reaction and Reform 1801–1881, London 1992, S. 72–76. Grundlegend zu den religiösen Motiven Alexanders beim Entwurf der Heiligen Allianz: Vasilij K. Nadler, Aleksandr I i ideja Svjašþennogo sojuza, Bd. 1–5, Riga 1886–1892; Richard S. Wortman, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy, Bd. 1, From Peter the Great to the Death of Nicholas I, Princeton 1995, S. 221–231. 14 Neujahrsmanifest Alexanders I. von 1816, in: Nikolaj K. Šil’der, Imperator Aleksandr Pervyj, ego žizn’ i carstvovanie, Bd. 4, St. Petersburg 1898, S. 1f. 15 Wortman, Scenarios, S. 238–243.

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Einerseits förderte der Zar also den fundamentalen Bewusstseinswandel, der die siegreiche russische Armee, die größte in Europa, und Teile der aufgeklärten Adelsgesellschaft im Nachkriegsjahrzehnt erfasst hatte. Andererseits befremdete ihn die polyphon-disharmonische nationale Aufbruchstimmung, die Konservative und Liberale gleichermaßen teilten. Diese fragten auf verschiedene Weise nach dem „Volk“ als Träger der Nation und nach seiner ureigenen Geschichte. Das von dem Hofhistoriker und Schriftsteller Nikolaj M. Karamzin in seiner „Schrift über das alte und das neue Russland“ bereits 1811 entworfene Modell eines Reichspatriotismus, der in der Vergangenheit nicht nach verborgenen Mythen des Volkes, sondern nach Belegen für die Kontinuität und Festigkeit des Russländischen Staates suchte, bildete nur eine Stimme im Chor des erwachenden russischen Nationalismus.16 Der Versuch des Zaren, nach 1815 mit Graf Aleksej A. Arakþeev, Speranskijs Nachfolger, in den Militärkolonien ein soziales Auffangbecken für die Familien demobilisierter Soldaten zu schaffen und zugleich den Staatshaushalt zu entlasten, schlug fehl. Die unpopuläre Einrichtung deuteten Zeitgenossen als Symbol einer reaktionären Wende.17 In Arakþeev, der wegen der latenten Gefahr von Revolten ursprünglich gegen die Militärkolonien war, wollte man fortan nur noch den engstirnigen militärischen Drillmeister und Günstling des Zaren sehen. Einen ähnlich schlechten Ruf genoss alsbald auch Fürst Aleksandr N. Golicyn, Oberprokuror des Heiligsten Synod, den der Zar zum Agenten einer geistigen Wiedergeburt des Landes bestimmt hatte. Vor 1812 ein Freidenker und Anhänger des Rationalismus, übernahm Golicyn 1814 die Leitung der russischen Bibelgesellschaft. Was Alexander I. als Offensive für religiöse Toleranz initiierte, mündete indessen in religiösem Obskurantismus. Die 1816 unter Golicyns Leitung geschaffene Überbehörde für Religion und Bildung – durch Zusammenlegung des Ministeriums für Volksaufklärung, des Heiligsten Synod und der Verwaltung für fremde (nichtorthodoxe) Bekenntnisse – beschnitt den Universitäten unter Beru16 Richard Pipes, Karamzin’s Memoir on Ancient and Modern Russia. A Translation and Analysis, New York 1966; Edward C. Thaden, Conservative Nationalism in Nineteenth-Century Russia, Seattle 1964; David Saunders, Historians and Concepts of Nationality in Early Nineteenth-Century Russia, in: Slavonic and East European Review 1982, 60, S. 44–62; Anthony G. Cross, Russian Perception of England, and Russian National Awareness at the End of the Eighteenth and the Beginning of the Nineteenth Centuries, in: Slavonic and East European Review, 1983, 61, S. 89–106; Seymour Becker, Contributions to a Nationalist Ideology: Histories of Russia in the First Half of the Nineteenth Century, in: Russian History, 1986, 13, S. 331–353. 17 Die jüngere Forschung ist um eine Neubewertung des sozialpolitischen Experiments bemüht, siehe Tat’jana N. Kandaurova, Voennye poselenija v Rossii. Aspekty ekonomiþeskoj istorii, in: V.I. Bovykin et. al (Hg.), Ekonomiþeskaja istorija. Ežegodnik 2000, Bd. 2, Moskau 2001, S. 559–606; Konstantin N. Jaþmenichin, Voennye poselenija v Rossii. Istorija social’noơkonomiþeskogo ơksperimenta, Ufa 1994. Vgl. dagegen Michael Jenkins, Arakcheev: Grand Vizier of the Russian Empire. A Biography, London 1969; Richard Pipes, The Russian Military Colonies, 1810–1831, in: Journal of Modern History 1950, 22, S. 205–219; Dietrich Beyrau, Militär und Gesellschaft im vorrevolutionären Rußland, Köln 1984, S. 72–75; Michail Semenovskij (Hg.), Graf Arakþeev i voennye poselenija 1809–1831, St. Petersburg 1871.

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fung auf philanthropische Prinzipien eben erst erworbene akademische Freiheiten, da diese als Ausfluss weltlicher, rationalistischer Lehren den offiziellen Bestrebungen angeblich zuwiderliefen.18 Der Zar wusste, dass in Zirkeln, Bünden und Gesellschaften Kritik an den restaurativen Tendenzen nach 1815 geübt wurde. Allerdings wollte er aus der allgemeinen Geselligkeitseuphorie der Salons, Lesegesellschaften, Logen und Klubs keine ernsthafte Bedrohung für seine Herrschaft lesen, selbst wenn die Grenzen zwischen Exklusivität und Geheimniskult fließend war.19 Vielmehr erlahmte sein missionarischer Eifer in gleichem Maße wie die Unzufriedenheit in den aufgeklärten Kreisen wuchs. Eine introvertierte Frömmigkeit ging mit der Entfremdung von der praktischen Politik einher. Nun plagten Alexander I. wieder Rücktrittsgedanken, die ihn seit 1801, als ihn eine Palastrevolution auf den Thron gebracht hatte, sporadisch heimsuchten.20 Aus dieser Unsicherheit befreite ihn am 19. November 1825 der plötzliche Tod auf einer Erkundungsreise in der entfernten Hafenstadt Taganrog am Azovschen Meer. Eine Nachfolgeregelung hatte er nicht getroffen. Vom Thronverzicht des nächst jüngeren Bruders Konstantin wussten nur wenige Eingeweihte. In dem mehrwöchigen Interregnum bis zur Amtsübernahme des nächsten Bruders Nikolaus entschlossen sich einige Offiziere und Geheimbündler zu jener spontanen Aktion, die als Dekabristenaufstand in die Geschichtsbücher eingegangen ist. DIE GENERATION DER BEFREIUNGSKRIEGE Worin bestand aber das Besondere der Dekabristen? Unter den Angeklagten befanden sich Fürsten, Grafen, Barone und Generäle. Doch hatten nicht sie, sondern junge Adelige das Wesen der „Bewegung“ geprägt. Ein zunächst gewöhnlicher Generationskonflikt eskalierte unter besonderen historischen Bedingungen zu einer folgenreichen Tragödie. Die Mehrzahl der Akteure entstammte angesehenen Familien und besaß höhere Bildung; nicht wenige hatten ein Studium an einer der wenigen Universitäten des Reiches absolviert. Ihnen standen blendende Karrieren am Hof, in der Bürokratie und in der Armee offen.21 Deshalb musste das Strafgericht des Zaren nach dem fehlgeschlagenen Aufstand in der russischen Adelsge18 Saunders, Russia, S. 74; Wortman, Scenarios, S. 235; Jan Kusber, Eliten- und Volksbildung im Zarenreich während des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Studien zu Diskurs, Gesetzgebung und Umsetzung, Stuttgart 2004; Fedor A. Petrov, Formirovanie sistemy universitetskogo obrazovanija v Rossii, Bd. 1, Moskau 2002; James T. Flynn, The University Reform of Tsar Alexander I, 1802–1835, Washington 1988. 19 Vgl. Stefan-Ludwig Hoffmann, Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750–1914, Göttingen 2003, S. 35–55; Andreas Schönle, The Scare of the Self: Sentimentalism, Privacy, and Private Life in Russian Culture, 1780–1820, in: Slavic Review, 1998, 57, S. 723–746. 20 McConnell, Tsar Alexander, S. 19. 21 W. Bruce Lincoln, A Re-examination of Some Historical Stereotypes. An Analysis of Career Patterns and Backgrounds of the Decembrists, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 1976, 24, S. 357–368.

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sellschaft einen Schock auslösen. Denn seit Jahrzehnten und durch die Befreiungskriege noch verstärkt waren viele mit den freiheitlichen Ideen, namentlich mit dem Konstitutionalismus in Frankreich und Amerika, in Berührung gekommen, für welche die Dekabristen nun teuer bezahlten. Insofern war das Geschehen vom Dezember 1825 eine Folge der Ära des verstorbenen Alexander I., dem der neue Zar Nikolaus I. ungewollt die Strahlkraft eines nationalen Mythos verschaffte. Gegenüber dem französischen Gesandten betonte Nikolaus, er werde „ohne Gnade und Barmherzigkeit“ „Vergeltung“ für die Verletzung der absoluten Gehorsamspflicht gegenüber dem Staat bzw. seinem einzig legitimen Vertreter, dem gottgewollten Zaren, verlangen.22 Der begrenzte Konflikt zwischen einer Schar adeliger Rebellen und dem Autokraten wurde zur Quelle einer dauerhaften Konfrontation zwischen absoluter Monarchie und „Gesellschaft“. Das begrenzte Geschehen wurde zum Symptom für den grundlegenden Wandel des Zarenreiches nach 1812. Eine Analyse der umfangreichen Verhörprotokolle aus dem Verfahren gegen die inhaftierten Offiziere erlaubt es – zusammen mit zeitgenössischer Literatur und bildlichen Zeugnissen –, Schicht um Schicht die Hintergründe des 14. Dezember 1825 freizulegen. Dem forschenden Blick erschließt sich eine überaus kontrastreiche Epoche, in welcher die Euphorie und das außenpolitische Prestige aus den militärischen Siegen über Napoleon nicht mehr ausreichten, die inneren sozialen und politischen Missstände zu überdecken. Die Dekabristen verkörperten ein neuartiges Lebensgefühl, das sich in der Generation der Befreiungskriege zunächst als uneindeutiger Widerspruchsgeist bemerkbar gemacht hatte.23 Dieser hatte wenig mit der Technik des Aufstandes oder mit origineller politischer Programmatik zu tun. Nur wenige hatten solchen Belangen Aufmerksamkeit geschenkt. Vielmehr bildete sich ein besonderer Verhaltenstypus heraus, der die Dekabristen als junge, ungeduldige und veränderungswillige Elite aus der Masse ihrer adeligen Standesgenossen heraushob. Mit veränderten Formen gesellschaftlichen Auftretens, die sie aus Mittel- und Westeuropa mit in ihre Heimat brachten, veränderten zunächst junge Offiziere die Atmosphäre in den Salons der Adelsgesellschaft, in literarischen Vereinigungen und in Freimaurerlogen.24 In jener Zeit hatten russische Soldaten mehr von der Welt gesehen als andere Zeitgenossen. Ivan D. Jakuškin, einer der führenden Dekabristen, notierte: „Es musste die Ansichten junger Russen, die auch nur einen Hauch von Denkvermögen hatten, verändern, wenn sie ein ganzes Jahr in Deutschland und danach mehrere Monate in Paris verbrachten“.25 Zwar verhielten sich die sehr kleine und amorphe russische Öffentlichkeit und schon gar die engere Hofgesellschaft gegenüber grandiosen Plänen, „Frankreich 22 Hier zitiert nach: Nikolaj K. Šil’der, Imperator Nikolaj Pervyj. Ego žizn’ i carstvovanie, Bd. I, St. Petersburg 1903, S. 454. 23 Dazu die brillante Analyse von Lotman im Kapitel „Dekabristen im Alltag“, in: ders., Rußlands Adel, S. 363–425. 24 V.I. Semevskij, Dekabristy – masony, in: Minuvšie gody, 1908, 1, H. 3, S. 127–170. 25 Bemerkung von Ivan D. Jakuškin, abgedruckt in: Ivan Ja. Šþipanov (Hg.), Izbrannye social’no-politiþeskie i filosofskie proizvedenija dekabristov, Bd. I, Moskau 1951, S. 98.

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auf Russland“ zu übertragen, sehr reserviert. Dennoch breitete sich eine unspezifische Sympathie für Freiheit und Wandel aus. Zum entscheidenden Medium wurde die Literatur, vornehmlich die Poesie. Die Sujets literarischer Werke, typisierte Charaktere und sprechende Namen wirkten gelegentlich wie eine Handlungsanweisung oder ein Deutungsmuster. Vor der Untersuchungskommission bekannte Michail P. Bestužev-Rjumin, er habe seine „liberalen Ideen“ nicht zuletzt aus den Versen Puškins gewonnen, die überall „mit Begeisterung“ aufgenommen worden seien.26 Die gewaltigen äußeren Erschütterungen der Zeit wirkten sich auf Haltungen, Einstellungen und Überzeugungen aus. Zwar drehte sich auch nach den Befreiungskriegen die Welt des russischen Adels weiterhin um den Ballsaal, das heißt um Repräsentation, um Brautwerbung und Hochzeit, das heißt um eine gute Partie, oder um den Dienstrang, das heißt um das Ansehen gerade in Petersburg, wo die Offiziere in gesellschaftlicher Hinsicht eine größere Rolle als etwa in Moskau spielten, wo „zu jener Zeit die Studenten fast die einzigen Kavaliere der Moskauer Schönheiten waren, die unwillkürlich nach Epauletten und Schärpen schmachteten“, wie es in einem Roman Michail Ju. Lermontovs heißt.27 Am Beispiel der Dekabristen lassen sich jedoch Facetten der Adelskultur aufzeigen, die weit über solche äußeren Merkmale und Gewohnheiten hinausweisen. Zunächst war die „Bewegung“ der Dekabristen eine männliche Veranstaltung, so wie auch das Petersburg der damaligen Zeit von Männern geprägt war. Dies ergab sich schon aus dem Status der Garnisonsstadt. Wenn sich adelige Offiziere in der Abgeschiedenheit versammelten, hatte dies nicht unbedingt mit dem Hüten von Geheimnissen, eher mit dem Wunsch nach Exklusivität in einer ansonsten auf Repräsentation verpflichteten Gesellschaft zu tun. Wer sich kulturell betätigte und regelmäßig das Theater besuchte, gehörte meist der Garde an und fühlte sich der Masse der Offiziere überlegen. Sarkastisch hat Oberst Skalozub in Griboedovs Komödie „Verstand schafft Leiden“ die gewöhnliche Einstellung von Offizieren zur Kultur aufgespießt: „Verschone mich! Dem Militär kann der gelehrte Quark nicht imponieren. Doch wenn du willst, geb’ ich euch gerne her meinen Feldwebel als Voltaire, der lässt in Reih’ und Glied euch exerzieren – und muckst ihr, werdet ihr sofort zur Ruh’ gebracht!“28

Meist kreiste ihr Denken um Liebe, Kartenspiel oder Duell. Doch allmählich drangen auch in dieses Milieu die Ausläufer einer „romantischen Rebellion“ (Jurij M. Lotman) ein. Eines ihrer Merkmale war das „Dandytum“. Den Begriff hatten ursprünglich englische Patrioten auf junge Adelige gemünzt, die sich stets nach neuester französischer Mode kleideten und damit gegen die Etikette verstießen. Auch der „russische Dandy“ trat extravagant auf und reizte die Standesgenossen. Er machte sich über die Konventionen und Manieren der Adelsgesellschaft lustig, 26 Hier zitiert nach: Marc Raeff, The Decembrist Movement, Englewood Cliffs 1966, S. 56f. 27 Michail Ju. Lermontov, Knjaginja Ligovskaja, in: ders., Soþinenija v šesti tomach, Bd. 6, Moskau 1957, S. 122–189, hier S. 154. Der Roman entstand 1836/37. 28 Aleksandr S. Griboedov, Gore ot uma, in: ders., Polnoe sobranie soþinenij, Bd. 2, St. Petersburg 1913, S. 1–100, hier S. 87.

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zeigte sich „ungeniert“, schockierte willentlich – kurzum, er hatte einen „Spleen“ und pflegte sein romantisches Ich. Dabei ließ er sich vom Lebensstil seines englischen Vorbilds Lord Byron anregen und verstand seine Selbstinszenierung als Kunstwerk.29 Nach außen demonstrierte der Dandy dies mit einer raffinierten Kleiderordnung. So hieß es etwa von Puškins Helden Evgenij Onegin aus dem gleichnamigen Werk: „Drei ganze Stunden mindestens hatte vorm Spiegel er verbracht.“30 Der ungewöhnliche Schnitt eines Fracks, eine Brille, ein Lorgnon oder die mit dem Gurt atemberaubend eng geschnürte Taille, mit der ein männlicher Stutzer den Damen der Gesellschaft nacheiferte, waren im Kern Ausdruck einer zynischen Grundhaltung und eines unverfrorenen Individualismus, mit dem die herrschende gesellschaftliche Moral bloßgestellt wurde. Dazu gehörte nicht zuletzt die Pose der Blasiertheit, des Überdrusses und der Langeweile oder das Kokettieren mit dem vorzeitigen Alter. Die stilisierte Enttäuschung vom Leben und der dünkelhafte Abscheu vor dem Banalen konnten sich bis zur Schwermut, zum Ekel und zum Gefühl der eigenen Nutzlosigkeit steigern und tragische Folgen bis zum Selbstmord haben.31 Der später mit einem äußerst kritischen Werk über die Vergangenheit Russlands, die er als geistige Wüste denunzierte, berühmt gewordene Petr Ja. ýaadaev etwa steigerte sich aus Enttäuschung über die Reformschwäche Alexanders I. in einen rhetorischen Maximalismus, für den es zur Gewalttat nur noch eines Schrittes bedurfte. Die Pläne des „Wohlfahrtsbundes“, einer halbgeheimen Vereinigung mit aufklärerischen Zielen, befriedigten seinen spontanen Aktivismus nicht. Ihn verlangte es nach Heldentaten, die Russland augenblicklich veränderten, etwa ein Attentat auf den Zaren, das ein „russischer Brutus“ verüben sollte.32 Das zivile Dandytum fand in stutzerhaften Verhaltensweisen von Offizieren eine Entsprechung. Winzige Details symbolisierten Gesinnungen. Während bei den Linientruppen gewisse Nachlässigkeiten beim Tragen der Uniform einer unbestimmten Freizügigkeit Ausdruck verleihen sollten, putzten sich Gardeoffiziere umso schneidiger heraus. Ein offener Kragen signalisierte Widerspenstigkeit, geschlossene Knöpfe galten Eingeweihten als Ausdruck reaktionärer Gesinnung.33 29 Lotman, Rußlands Adel, S. 130–143. 30 Aleksandr S. Puškin, Evgenij Onegin, in: ders., Polnoe sobranie soþinenij v 17-ti tomach, Bd. 6, Moskau 1935, S. 15. Zu Puškins Dandytum: Wolfgang Kissel, Russischer Dandysmus der Puškin-Zeit (1801–1837). Studien zum historischen, kulturellen und sozialpsychologischen Kontext, Bonn 1991. 31 Hans J. Schickedanz, Ästhetische Rebellion und rebellische Ästheten, Frankfurt am Main 2000; Hiltrud Gnüg, Kult der Kälte. Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur, Stuttgart 1988. 32 Puškin fasste seine Bewunderung für den fünf Jahre älteren Freund ýaadaev in die Worte: „Er ist durch den höchsten Willen des Himmels in den Ketten des Zarendienstes geboren. In Rom wäre er Brutus gewesen und Perikles in Athen, aber hier ist er – ein Husaren-Offizier“, A.S. Puškin, K portretu ýedaeva [ýaadaeva], in: ders., Polnoe sobranie soþinenij, Bd. 2,1 [1949], S. 124. Zum Brutus-Motiv Lotman, Rußlands Adel, S. 139f., 380, 383, 387; Hans Lemberg, Die nationale Gedankenwelt der Dekabristen, Köln 1963, S. 99f. 33 Georgij V. Vilinbachov, Sankt Petersburg – eine militärische Hauptstadt, in: St. Petersburg um 1800: Ein Goldenes Zeitalter des russischen Zarenreichs. Meisterwerke und authentische

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Seit Peter III. und erneut Paul I. die russischen Uniformen nach holsteinischen bzw. preußischen Mustern hatten verändern lassen und Zöpfe, Haarlocken und Puder, Manschetten und weiße Gamaschen eingeführt worden waren, gingen die Meinungen über die angemessene Kleiderordnung auseinander. Der Dichter Gavriil R. Deržavin vermerkte anlässlich der Krönung Katharinas II.: „Als ich nach Moskau kam, war ich in der Uniform des Regiments ‚Preobraženskoe‘, sah also nach holsteinischer Manier aus wie ein Stummelschwanz, mit goldenen Litzen überall, mit einem gelben Kamisol und gleichfarbigen Hosen angetan, mit einem furchtbar dicken preußischen Zopf, mit Haaren, die wie Pilze über die Ohren herunterhingen, mit dicker Talgpomade eingeschmiert. So stolzierte ich dann wie ein Geck vor den Moskauern herum, denen eine solche außergewöhnliche – oder besser gesagt fremdartige – Figur ganz wunderlich erschien, so dass er sogar die Blicke der Blinden auf sich zog.“34

Alexander I. hatte nach seiner Rückkehr aus Paris im Jahr 1815 die Disziplin in der Armee deutlich verschärft und die Siegeseuphorie gedämpft. Kleine Abweichungen von der Kleiderordnung konnten daher beträchtliche Symbolkraft entfalten.35 Gegen das romantische Draufgängertum einiger Mitverschwörer konnten politische Realisten unter den Dekabristen wie der Autor eines gemäßigten republikanischen Verfassungsentwurfs, Nikita M. Murav’ev, schwer ankommen. Ihr langfristiges Reformprogramm war mit dem Ungestüm der Generation der Befreiungskriege unvereinbar. Wenn dieses auch nicht – wie etwa in England – in eine Selbstmordepidemie aus Langeweile und unmotivierter Schwermut mündete, wählte der russische Dandy doch einen ebenso halsbrecherischen Ersatz – das Duell, tollkühnes Verhalten in der Schlacht oder verzweifeltes Hazardspiel am Kartentisch. Dahinter steckten weder eine Theorie noch eine Ideologie. Es ging um rebellisches Verhalten aus individuellem Antrieb.36 Allerdings waren die Grenzen zwischen dem Dandytum und den frühen Ansätzen liberalen Denkens fließend. Bei einzelnen Persönlichkeiten wie ýaadaev oder dem Fürsten Petr A. Vjazemskij konnten beide Elemente ineinander übergehen. Hier verläuft die Grenze, die den Dandy als anglophilen Gecken vom überzeugten Vertreter freiheitlicher Strömungen der 1820er Jahre trennt. Nicht die Mode, sondern die Gesinnung machte den Unterschied. Der Dekabrist entstammte demselben Milieu wie der Dandy und teilte mit diesem die Attitüden. Aber er verband den Gestus des Unkonventionellen mit der überindividuellen Botschaft, die sich einem, wenngleich utopischen, politischen Programm verdankte. Seine dem Deklamator in der antiken Tragödie, dem Possenreißer in der Komödie oder dem Zeugnisse der Zeit aus der Staatlichen Ermitage, Leningrad, Katalog zur Ausstellung der Kulturstiftung Ruhr, Villa Hügel, Essen, Recklinghausen 1990, S. 109–124, hier S. 119. 34 Hier zitiert nach: Vilinbachov, Sankt-Petersburg, S. 119. 35 Beyrau, Militär, S. 153–155; Andrej E. Rozen, Zapiski dekabrista, St. Petersburg 1907; John L. H. Keep, Soldiers of the Tsar. Army and Society in Russia 1462–1874, Oxford 1985. 36 Zu Kartenspiel und Duell: Lotman, Rußlands Adel, S. 144–192. Über den Zusammenhang von Dandytum, Pessimismus und Freitod namentlich in Russland und in England: Irina Paperno, Samoubijstvo kak kul’turnyj institut, Moskau 1999; Gerhard Hoffmeister, Byron und der europäische Byronismus, Darmstadt 1983.

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Pantomimen im Ballett nachempfundenen theatralischen Posen dienten einem nicht alltäglichen Anliegen. Die dafür notwendige Sprache, Gebärde, Mimik und Gestik konnte er schon nicht mehr bei den Lehrern adeliger Etikette lernen. Der abweichende Habitus folgte den ungeschriebenen Regeln eines Codes, den nur gleichgesinnte Zeitgenossen zu lesen vermochten. Erst nach dem 14. Dezember 1825 schärfte sich der Blick für das Originelle im Freiheitsgestus der Dekabristen. AUFKLÄRUNG UND „HEILIGES RUSSLAND“ Die religiöse Dimension des „Dekabrismus“ ist facettenreich und steht in enger Beziehung zum geistigen Umbruch, der die russische Gesellschaft an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert erfasst hatte. Unter dem Eindruck der Französischen Revolution erschien die von Katharina II. aufgeschobene Lösung der sozialen Probleme drängender denn je, auch wenn wegen der unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen vergleichbare Erschütterungen wenig wahrscheinlich waren. Symptome einer unterschwelligen Radikalisierung des Denkens fanden sich gleichwohl in zunehmender Zahl. Hinzu trat eine Renaissance des Religiösen, die ihren Ausdruck beispielsweise in Bestrebungen fand, die getrennten christlichen Konfessionen wieder zu vereinen.37 Katholische und protestantische Schriften fanden vermehrt russische Leser. Liebhaberkreise für Mystik verzeichneten regen Zulauf. Die Kunde von europäischen Erweckungsbewegungen erfreute sich begeisterter Aufnahme. In die Freimaurerlogen strömten neue Mitglieder. Philanthropische Vereine sprossen aus dem Boden.38 Französische Emigranten, die russische Adelssprösslinge als Hauslehrer unterwiesen, und die Zulassung von Jesuiten-Kollegs sorgten für einen Aufschwung des Katholizismus in der Petersburger Gesellschaft, der sogleich eine lebhafte Abwehrreaktion der Orthodoxen Kirche bzw. konservativ-nationaler Kreise auslöste. Insbesondere der Übertritt bekannter Persönlichkeiten zum römischen Glauben weckte Befürchtungen, die „Lateiner“ könnten ihren Einfluss auf die Politik des Hofes ausweiten.39 Die Gründung einer russischen Bibelgesellschaft und Erneuerungs37 Zum gesamteuropäischen Kontext siehe Martin Schulze Wessel (Hg.), Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa, Stuttgart 2006; Horst Carl, „Strafe Gottes“-Krise und Beharrung religiöser Deutungsmuster in der Niederlage gegen die Französische Revolution, in: ders. / Hans-Henning Kortüm / Dieter Langewiesche / Friedrich Lenger (Hg.), Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen, Berlin 2004, S. 279–295; Wolfgang Braungart / Gotthard Fuchs / Manfred Koch (Hg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, Bd. I, um 1800, Paderborn 1997. 38 Aleksandr N. Pypin, Obšþestvennoe dviženie v Rossii pri Aleksandre I, St. Petersburg 31900; vgl. die deutsche Ausgabe nach der zweiten russischen Auflage unter dem Titel Die geistigen Bewegungen in Rußland in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts, Bd. 1, Die russische Gesellschaft unter Alexander I., Berlin 1894. 39 Ana Maria Schop Soler, Die katholisierenden Tendenzen am russischen Hofe unter Paul I. (1796–1801) und Alexander I. (1801–1825), in: Saeculum, 1976, 27, S. 256–280. Paul I. hatte sich beim Papst für die Wiederherstellung des Jesuitenordens eingesetzt. Die Ordensleute bedankten sich damit, dass sie ihre erste Schule in Petersburg, das Collegium Petropolitanum

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tendenzen in der Orthodoxen Kirche und Theologie zeugten allerdings davon, dass der Wandel längst auch in der Institution selbst Fuß gefasst hatte. Insgesamt belebte sich das religiöse Leben in Russland also in außerordentlicher Weise. Wie die Glaubensgemeinschaften im übrigen Europa versuchte auch die Orthodoxe Kirche ihre Stellung durch eine Verbesserung der religiösen Bildung zu stabilisieren. Der Status als Staatskirche war unbestritten, deren Einfluss auf das öffentliche Leben gerade in den größeren Städten aber im Schwinden begriffen. Sie musste die im 17. Jahrhundert abgespaltenen, auch durch zeitweise grausame Verfolgung nicht verdrängten Altgläubigen und eine Vielzahl von Sekten neben sich dulden. Ihrem missionarischen Eifer gegenüber nichtorthodoxen Christen, Muslimen, Buddhisten oder Hindus wurden seitens des Staates Grenzen gesetzt, wenn die Stabilität des Vielvölkerreiches es geraten erscheinen ließ.40 Schließlich zeigten sich auch führende Geistliche aufgeschlossen für die Ideen der Aufklärung bzw. für das Konzept einer „orthodoxen Aufklärungsreligion“.41 Unter Alexander I. gehörte es zum guten Ton, einer Freimaurerloge beizutreten. Der Kaiser bekannte sich zu einem indifferenten Glauben, wenn er in einem Brief an den General-Gouverneur von Riga, Marquis Filippo Paulicci, schrieb, es sei besser, „zu irgendeinem Götzenbild“ zu beten als überhaupt nicht zu beten.42 Die Ausbreitung von Bildung würde, so meinte der Zar, auch den Glauben fördern. Insofern leisteten die zahlreichen französischen Adeligen und Priester, die vor den Wirren in ihrer Heimat nach Russland geflohen waren, als Schulmeister und Hauslehrer Dienst an der Aufklärung.43

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Paulinum, nach ihrem Gönner benannten. Zum Wirken der Jesuiten in Russland: Michail Ja. Moroškin, Iezuity v Rossii, s carstvovanija Ekateriny II do našego vremeni, Bd. 1–2, St. Petersburg 1867–1870; Marie Joseph Rouet de Journel, La Compagnie de Jésus en Russie. Un collège de Jésuites à Saint-Petersbourg 1800–1816, Paris 1922; Eduard Winter, Die Jesuiten in Rußland (1772 bis 1820). Ein Beitrag zur Auseinandersetzung zwischen Aufklärung und Restauration, in: Forschen und Wirken. Festschrift zur 150-Jahr-Feier der HumboldtUniversität zu Berlin, 1810–1960, Bd. 3, Berlin 1960, S. 167–191; James T. Flynn, The Role of the Jesuits in the Politics of Russian Education, 1801–1820, in: The Catholic Historical Review, 1970, LVI, S. 249–265. Grundlegend für die Vorgeschichte: Hans-Heinrich Nolte, Religiöse Toleranz in Rußland 1600–1725, Göttingen 1969; ders., Verständnis und Bedeutung der religiösen Toleranz in Rußland 1600–1725, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 1969, 17, S. 494–530; Claus Scharf, Konfessionelle Vielfalt und orthodoxe Autokratie im frühneuzeitlichen Rußland, in: Deutschland und Europa in der Neuzeit. Festschrift für Karl Otmar Freiherr von Aretin zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1988, S. 179–192. Michael Schippan, Sozialgeschichte, Religion und Volksaufklärung: Die Spezifik der Aufklärung in Rußland (I), in: Zeitschrift für Slawistik, 1994, 39, S. 345–357; Robert L. Nichols, Orthodoxy and Russia’s Enlightenment, 1762–1825, in: ders. / Theofanis G. Stavrou (Hg.), Russian Orthodoxy under the Old Regime, Minneapolis 1978, S. 67–89; Igor Smolitsch, Geschichte der Russischen Kirche 1700–1917, Bd. I, Leiden 1964, S. 272–286; Albert M. Ammann, Abriß der ostslawischen Kirchengeschichte, Wien 1950, S. 449–481. Hier zitiert nach: Galina A. Princeva, Das gesellschaftliche, politische und kulturelle Leben Petersburgs in der Zeit der Kaiser Pavel I. und Aleksandr I., in: St. Petersburg um 1800, S. 39. Lubenow, Französische Kultur, S. XIV–XVII; Kissel, Russischer Dandysmus, S. 175, 179f.

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Die Bemühungen der Orthodoxen Kirche um eine Rechristianisierung von oben waren umso dringlicher, als inzwischen nicht mehr nur Teile der Adelselite und des städtischen Russlands, sondern auch die ländliche Bevölkerung wachsende Entfremdungstendenzen gegenüber dem kirchlichen Dogma zeigten. Die traditionelle Volksfrömmigkeit erwies sich als vitaler denn je.44 Im Jahrzehnt der Dekabristen von 1815 bis 1825 erreichte die Auseinandersetzung zwischen „aufgeklärten“ Formen der Frömmigkeit und „nationalreligiöser“ Kanonisierung einen Höhepunkt. Alexander I. schwankte selbst zwischen diesen Polen. Nach innen setzte er widersprüchliche religionspolitische Zeichen. In der Außenpolitik hingegen maß er der Religion offenbar bloß instrumentellen Charakter bei, etwa wenn es darum ging, mit einer defensiven Strategie russische Interessen durchzusetzen. Dies würde erklären, warum der Kaiser nach dem Wiener Kongress die inneren Reformen hinter die diplomatischen Ziele zurückstellte. Seine persönliche Neigung zum religiösen Eklektizismus konterkarierte er dadurch, dass er die religiöse Lockerung in der öffentlichen Sphäre zurücknahm und sich deshalb sogar von engsten Beratern trennte.45 Das Verbot aller Geheimgesellschaften, insbesondere der Freimaurerlogen im Jahre 1822, die Ausweisung der Jesuiten und die Schließung ihrer Schulen 1820 hinderten ihn nicht daran, die Kontakte zum Vatikan auszuweiten und die Annäherung an Spanien voranzubringen, um damit England und Frankreich in der Orientalischen Frage unter Druck zu setzen. Die Entlassung des Doppelministers für Angelegenheiten der Kirche und für Volksaufklärung, Golicyn, im Jahre 1824 wiederum war kaum als Bruch mit den reaktionären Kreisen im Innern zu deuten, blieben doch Persönlichkeiten wie Arakþeev weiterhin in herausragenden Positionen. Die Wende zum Nationalen nach 1812 veränderte die Einstellungen zur Religiosität in Russland.46 Die Begeisterung für alles Französische schlug bei einer wachsenden Zahl russischer Patrioten in scharfe Ablehnung um. In Teilen des Adels bzw. der Bildungsgesellschaft, der bald so bezeichneten Intelligencija, erwachte durch die Auseinandersetzung mit Napoleon das russische Nationalbewusstsein. Zur Abwehr des „Antichrist“ besannen sie sich auf das alte Ideal einer Einheit von Staat und Kirche. Gegen die Bedrohung durch eine „fremde“ Kultur setzten die Apologeten des russischen Nationalismus auf die Bindekraft der populären Formel von der „Heiligen Rus’“, welche die offizielle Politik stets gemieden hatte.47 Der „Vaterländische Krieg“ läutete nicht nur die Epoche des modernen 44 Gregory L. Freeze, The Rechristianization of Russia. The Church and Popular Religion, 1750–1850, in: Studia Slavica Finlandensia, 1990, 7, S. 101–136, hier S. 118. 45 Jurij E. Kondakov, Duchovno-religioznaja politika Aleksandra I i russkaja pravoslavnaja oppozicija (1801–1825), St. Petersburg 1998, S. 211. 46 Vera Urban, Nationalisierung der Religion durch Abgrenzung? Orthodoxie versus Katholizismus in russischen Kulturtheorien des 19. Jahrhunderts, in: Schulze Wessel (Hg.), Nationalisierung der Religion, S. 233–253. 47 Michael Cherniavsky, „Holy Russia“. A Study in the History of an Idea, in: American Historical Review, 1958, 63, S. 617–637, hier S. 627; Frank Golczewski / Gertrud Pickhan, Russischer Nationalismus. Die russische Idee im 19. und 20. Jahrhundert. Darstellung und Texte, Göttingen 1998, S. 18, 26, 32, 48.

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russischen Nationalismus ein und hatte einen Brückenschlag zwischen Teilen der adeligen Elite und „dem Volk“ zur Folge. Er spaltete auch die Eliten im Urteil über die Vorzüge der europäischen Kultur. Zwar ließen sich die Uhren nicht mehr hinter das 18. Jahrhundert zurückstellen, doch geriet der aufgeklärte religiöse Eklektizismus in der Hauptstadt trotz kaiserlicher Protektion bei einer erstarkenden konservativen Opposition bei Hofe in die Kritik. Auch in dieser Hinsicht erscheinen die Dekabristen als ein Prisma der Epoche. Rebellen sagten oftmals schon die Zeitgenossen seit der Französischen Revolution nach, atheistisch, zumindest antikirchlich oder religionsfern zu sein. In diesem Sinne wurde lange Zeit auch die Geschichte der Dekabristen geschrieben. Doch damit wurde ihr weltanschauliches Repertoire eines wesentlichen Elements beraubt, denn religiöse Bezüge und Motive waren bei ihnen – dies ist bislang nahezu unerforscht48 – in dreifacher Hinsicht virulent: Erstens gehörten die Protagonisten verschiedenen Konfessionen an. Zweitens durchzogen theologische Gedanken die programmatischen Schriften. Drittens lieferte offenbar die religiöse Disposition den Aufständischen die entscheidenden Antriebe, zur praktischen Planung und zur Tat selbst überzugehen. Der religiöse Pluralismus der Zeit konnte indessen nicht ohne Auswirkung auf das Erscheinungsbild und die Handlungsweise der Dekabristen bleiben. In der Ambivalenz und Heterogenität der gesamten Bewegung wie in der Inkonsequenz und Widersprüchlichkeit der Akteure spiegelte sich ein säkularer geistiger Umbruch. Die Biographien unterschiedlicher religiöser Sozialisation und nationaler Herkunft – der sich als Russe fühlende deutschstämmige Pavel I. Pestel’ etwa war Lutheraner, Sergej I. Murav’ev-Apostol Orthodoxer und Michail S. Lunin zum Katholizismus übergetreten – gingen nicht in einer gemeinsamen „Vernunftreligion“ oder in einem konfessionsübergreifenden Christentum auf. So postulierte Pestel’ in seinem „Russischen Recht“ einen orthodox geprägten, russifizierten Zentralstaat, der kaum Platz für Toleranz oder Föderalismus bot. Gleichwohl bezogen die Dekabristen ihren Enthusiasmus nicht zuletzt aus der eher kirchenfernen religiösen Aufbruchstimmung der Zeit. Darin unterschieden sie sich also weder vom Zaren, noch von seinen wichtigsten Beratern oder den Wortführern des Konservatismus nach 1815, die sich gleichermaßen von politischen und religiösen Motiven leiten ließen. Die Ideale der Tugend und Wohlfahrt, der Freiheit und Volksherrschaft, die das Denken der Dekabristen von Beginn an beherrschten, fußten auf christlichen Vorstellungen von Gerechtigkeit und Gleichheit.49 48 Erste Ansätze auf der Grundlage einer Analyse zentraler Dokumente der Dekabristen bietet K.G. Mežova, Religion und Kirche in den Programmschriften der Dekabristen, in: Berliner Jahrbuch für Osteuropäische Geschichte, 1995, 2, S. 57–79. Vgl. die Broschüre des Erzpriesters P. I. Butkeviþ, Religioznye ubeždenija dekabristov, Char’kov 1900, der die Dekabristen pauschal des Atheismus zieh, und die nicht minder vordergründige, dieses Diktum ins Positive kehrende, postrevolutionäre Sichtweise bei Ivan P. Voronicyn, Dekabristy i religija, Moskau 1928. 49 Israel M. Lubin, Zur Charakteristik und zur Quellenanalyse von Pestels „Russkaja Pravda“, Inaugural-Dissertation, Hamburg 1930, S. 53; Sergej V. Mironenko (Hg.), Dekabristy. Biografiþeskij spravoþnik, Moskau 1988, S. 106, 141; Melica V. Neþkina (Hg.), Vosstanie

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Pestel’s Radikalität bei der Planung eines Umsturzes und eines Attentats auf den Zaren entsprang religiösem Fanatismus. Für den Fall, dass das Vorhaben scheiterte, wollte er die Namen von Mitstreitern preisgeben, um damit die Zahl der Märtyrer zu erhöhen.50 Seit den Befreiungskriegen teilten viele junge Adelige Zweifel am Gottesgnadentum des Monarchen. „Wir begannen damals über den Zaren wie über einen Menschen zu sprechen“, gab ein angeklagter Dekabrist zu Protokoll.51 Der Kaisermord wurde – zumindest theoretisch – nicht länger als Sakrileg gedacht. Trotzdem schreckte der zum Attentäter bestimmte Oberleutnant Petr G. Kachovskij, der bereits zwei Personen auf dem Senatsplatz ermordet hatte, vor dem Letzten zurück. Die romantische Vorstellung vom Tyrannenmord als Heldentat reichte als Triebfeder im entscheidenden Augenblick offenbar nicht aus. Ebenso teilte nur eine kleine Schar den Fanatismus Pestel’s. Für das Attentat hatten vor allem jene gestimmt, die sich von ihren religiösen Überzeugungen losgesagt hatten. Das traf nur auf wenige zu. Unter ihnen war auch Kachovskij. Allerdings kannte gerade er nicht das vielfache Töten in den Feldzügen von 1812 bis 1815 aus eigener Anschauung. Die entschlossenen Zarenattentäter, die ihre Skrupel tatsächlich überwanden, folgten erst eine Generation später. Die Dekabristen hingegen standen noch ganz im Banne des russischen Herrschermythos, dessen gewaltige emotionale Kraft sich in historisierenden Hofzeremonien, in Paradomanie, architektonischen Ensembles, musikalischen Arrangements, bildlichen Darstellungen und poetischen Huldigungen manifestierte. Den Zaren umgab die Aura des Unfehlbaren und Göttlichen.52 Seine Macht war nicht teilbar oder institutionalisierbar. Person und Amt fielen zusammen und sollten immun sein gegen historischen Wandel.53 Im Augenblick der Tat schreckte die Generation der Befreiungskriege vor dieser Kulisse des Erhabenen zurück. Für Nikolaus I. und die Mehrzahl der Zeitgenossen erschien die inszenierte Insubordination auf dem Senatsplatz von St. Petersburg als Apostasie. Die Anführer der sozialen Rebellionen der Vergangenheit hatten bei aller Unerschrockenheit die Unantastbarkeit des Herrschers wenigstens indirekt geachtet. Mittels bäuerlicher Legenden vom „wahren Zaren“ oder von „Errettern“ und „Befreiern“, die berufen waren, einen Usurpator vom Thron zu stürzen, hatten sie sich zu legitimieren versucht.54 Obwohl diese Tradition populärer Herrschaftsvorstellungen in

50 51 52

53 54

dekabristov, Materialy, Bd. IX, Dela Verchognogo ugolovnogo suda i sledstvennoj komissii, Moskau 1950, S. 215. Šþipanov (Hg.), Izbrannye social’no-politiþeskie i filosofskie proizvedenija dekabristov, Bd. I, S. 126. Hier zitiert nach: Lemberg, Gedankenwelt, S. 111. So auch in einer Variante von N.M. Murav’evs Verfassungsentwurf, die vermutlich aber bereits während der Haft in der Peter- und Pauls-Festung entstand. Darin heißt es: „Die Person des Kaisers ist heilig und unantastbar“, Vosstanie dekabristov, Bd. I, Dela Verchovnogo ugolovnogo suda i sledstvennoj komissii kasajušþiesja gosudarstvennych prestupnikov, Moskau 1925, S. 508. Wortman, Scenarios, S. 193–243. Kirill V. ýistov, Der gute Zar und das ferne Land. Russische sozial-utopische Volkslegenden des 17.–19. Jahrhunderts, hg. von Dagmar Burkhart, Münster 1998.

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modifizierter Form fortwirkte,55 setzte der Aufstand vom Dezember 1825 völlig neue Akzente. Die Akteure beanspruchten, politische Ideen durch einen Militärputsch verwirklichen zu können. Von der Umsturzmethode des 18. Jahrhunderts, der Palastrevolte,56 unterschied sich der Militärputsch durch die Berufung auf den allgemeinen Nutzen in der Tradition Peters I. sowie durch das Bekenntnis zu liberalen politischen Ideen und die Wahl der hauptstädtischen Öffentlichkeit als Aktionsraum. Allerdings gelang es den Dekabristen nicht, den latenten Widerspruch bzw. die Parallelität zweier Legitimationssysteme aufzuheben, die das 18. Jahrhundert seit Peters Europäisierungsschub gekennzeichnet hatten: die Säkularisierung der byzantinisch-altrussischen Herrschervorstellung und die erneute Sakralisierung des europäisierten Bildes vom Monarchen.57 Sie kehrten sich weder eindeutig vom Zarenkult ab, noch glaubten sie, auf eine religiöse Rechtfertigung von Macht verzichten zu können. Gerade in Glaubensfragen zeigten sich die Dekabristen bemerkenswert konservativ. Radikale und Gemäßigte waren einander unabhängig von ihrer Konfession oder Weltanschauung einig, dass die Orthodoxe Kirche in einem künftigen Staat ihre herausragende Stellung behalten sollte. Für die Regierung sei es nicht gleichgültig, welche Religion die herrschende sei, da diese dem Staat zur sittlichen Erziehung und geistigen Entwicklung des Volkes zu dienen habe.58 Pestel’ entwarf Pläne, wie Bildung und materielle Versorgung der Geistlichkeit verbessert werden konnten. Mit diesem Anliegen befand er sich im Einvernehmen mit aufgeklärten Kirchenführern, die in der Hebung des Bildungsniveaus angehender Theologen und Amtsträger eine Vorbedingung für die „Wiedergeburt“ des orthodoxen Glaubens bzw. für eine „Rechristianisierung“ des Volkes sahen.59 „Je enger die Bindung zwischen Geistlichkeit und Bevölkerung ist“, schrieb Pestel’ im „Russischen Recht“, „desto glücklicher ist das Volk, desto wohlhabender der Staat.“60 Die Wohltätigkeit des Klerus sollte sich fortan auch auf die medizinische Versorgung in klösterlichen Krankenhäusern erstrecken. Letztlich bot für Pestel’ nur die Einheitlichkeit des orthodoxen Bekenntnisses die Gewähr, die Fremdvöl-

55 Vgl. Daniel Field, Rebels in the Name of the Tsar, Boston 1989. 56 Igor’ V. Kurukin, Ơpocha „dvorskich bur“. Oþerki politiþeskoj istorii poslepetrovskoj Rossii, 1725–1762 gg., Rjazan’ 2003. 57 Trude Maurer, „Rußland ist eine Europäische Macht“. Herrschaftslegitimation im Jahrhundert der Vernunft und der Palastrevolten, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 1997, 45, S. 594f. 58 Vgl. S. S. Mil’man, Praktiþeskie naþala politiþeskoj ơkonomii P. I. Pestelja, in: Krasnyj Archiv, 1925, Bd. 6 (13), S. 241; Vosstanie dekabristov, Bd. VII, „Russkaja Pravda“ P. I. Pestelja i soþinenija, ej predšestvujušþie, Moskau 1958, S. 205. 59 Freeze, Rechristianization, S. 103–110; Nichols, Orthodoxy, S. 74f. Bemerkenswert ist die Forderung, geistliche Schulen bei den Universitäten einzurichten (so Pestel’ in der „Russkaja Pravda“, Vosstanie dekabristov, Bd. VII, S. 155) und die angehenden Priester auch medizinisch zu unterweisen, damit sie auf dem Dorf auch Krankendienste leisten konnten. Ersteres gehörte zu den zentralen Forderungen der Kirche, da sie fürchtete, durch die Bildungsreform aus dem staatlichen Erziehungswesen verdrängt zu werden. 60 Vosstanie dekabristov, Bd. VII, S. 153.

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ker Russlands zu assimilieren, sie „völlig russisch“ werden zu lassen.61 Ein revolutionärer Bruch mit der Institution Kirche gehörte nicht in den Horizont der Dekabristen. Ihr Verhältnis zur religiösen Toleranz blieb unbestimmt. Der gemäßigte Verfassungsentwurf N. M. Murav’evs etwa bekräftigte die freie Ausübung des Gottesdienstes, ohne jedoch die Christianisierung der nichtrussischen Nationalitäten auszuschließen.62 In Pestel’s „Russischem Recht“ war die Zulassung anderer Religionen und nichtorthodoxer christlicher Konfessionen an die Bedingung geknüpft, dass sie „den russischen geistlichen und politischen Gesetzen, den Regeln der Wohlanständigkeit und den natürlichen Pflichten des Menschen nicht widersprechen.“63 Selbst dann blieb aber der Missionsauftrag, sie durch „Aufklärung und echte Überzeugung“ für die Orthodoxie zu gewinnen.64 Glaubensfreiheit war somit kein Wert an sich, sondern stand in Abhängigkeit vom Staatsnutzen. Offenkundig stellte der Lutheraner Pestel’, dessen streng gläubige Familie seit mehreren Generationen in Russland lebte, auch das persönliche Bekenntnis, das nach brieflichen Zeugnissen lebendiger war als bisher angenommen, hinter das Idealbild eines russischen, das heißt orthodoxen Einheitsstaates zurück.65 Murav’ev legte besonderes Gewicht darauf, eine Rebellion gegen den Zaren zu „heiligen“. Im „Lehrreichen Gespräch“ von 1822 schrieb er: „Frage: Hat nicht Gott die Selbstherrschaft geschaffen? Antwort: Gott hat in seiner Gnade niemals etwas Böses geschaffen. Frage: Weshalb heißt es dann: Woher stammt die Macht, wenn nicht von Gott? Antwort: Eine böse Macht kann nicht von Gott stammen. Ein jeglicher guter Baum bringt gute Früchte.“66

Revolutionäre Dialektik verband sich mit der religiösen Argumentation eines kirchlichen Lehrwerks. Hier wurden jene Formeln vorweggenommen, die in dem am Vorabend der Rebellion im ýernigover Regiment Ende 1825 entstandenen „Rechtgläubigen Katechismus“ von M. P. Bestužev-Rjumin und N. M. Murav’evApostol niedergelegt waren.67 Aus der Fülle weiterer ähnlicher Belege ließe sich die typologische religiöse Biographie eines Dekabristen erstellen – sie begänne mit sorgfältiger Unterweisung im Glauben in Kindheit und früher Jugend und reichte bis hin zur eigenständigen Auseinandersetzung mit Werken der europäischen Kirchengeschichte, der Theologie und der Aufklärung in der Hochzeit der Geheimbünde. In konkreten 61 Ebd., S. 137, 150. Nach Angaben M. P. Bestužev-Rjumins bei der Vernehmung bestand über die Dominanz der Orthodoxie Einvernehmen, Vosstanie dekabristov, Bd. IX., S. 111. 62 Mežova, Religion, S. 65f. 63 Vosstanie dekabristov, Bd. VII, S. 205. 64 Ebd., S. 206. 65 Pestel’ po pis’mam ego roditelej, in: Krasnyj Archiv, 1926, Bd. 3 (16), S. 183. Aus dem Briefwechsel mit der Mutter geht hervor, dass Pestel’ von den religiös-politischen Predigten Johann Heinrich Bernhard Draesekes (publiziert unter dem Titel Deutschlands Wiedergeburt, Lübeck 1814) beeindruckt war. Diese Dualität von persönlicher und politischer, „staatstragender“ Überzeugung ist bei den Dekabristen nirgendwo greifbarer als in der Religionsfrage. 66 Vosstanie dekabristov, Bd. IV, Dela Verchovnogo ugolovnogo suda i sledstvennoj komissii kasajušþiesja gosudarstvennych prestupnikov, Moskau 1927, S. 255. 67 Ebd., S. 254f.

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Fällen – etwa bei Sergej P. Trubeckoj – kam die Überzeugung hinzu, das individuelle Schicksal folge göttlicher Fügung. Nur sehr wenige – etwa Kachovskij und Jakuškin – legitimierten ihr Handeln ausdrücklich mit dem Versuch, aus ihrem religiösen Herkunftsmilieu ausbrechen zu wollen. Bemerkenswert ist nicht zuletzt das idealistische Bekenntnis in einem „Aufruf an die Soldaten“ des so genannten Südbundes der Dekabristen, als „echte Söhne der Kirche“ keine Untaten zu begehen und ohne Bürgerkrieg eine neue Regierung anzustreben.68 Murav’evs Verfassungsentwurf sowie ein „Manifest an das russische Volk“, welches der Senat am Tag des Aufstands billigen und bekanntmachen sollte, begannen mit dem Leitspruch: „Gott schütze Dein Volk und segne Dein Reich!“69 Durch zahlreiche Schriften der Dekabristen zieht sich das Motiv, das eigene Handeln im Einklang mit den christlichen Geboten zu betrachten. Die Fürsorge für den Nächsten, das Bekenntnis zur Gleichheit aller Menschen vor Gott und die Bereitschaft, für die „heilige Sache“ zu kämpfen, zählten zu den häufigsten Postulaten. Schließlich beharrte Murav’ev darauf, dass „weder Gott noch Glauben“ das Tun der Verschwörer ins Unrecht setze.70 Das statische Bild von den ausschließlich vernunftgeleiteten Adelsrevolutionären ist damit obsolet. 14. DEZEMBER 1825 Das Ereignis selbst, mit dem die kleine Gruppe voluntaristischer junger Adeliger Geschichte schrieb, ist rasch erzählt: In den frühen Morgenstunden des 14. Dezember 1825 nahmen auf dem Senatsplatz in St. Petersburg etwa 3 000 Soldaten im Schatten des mächtigen Reiterstandbilds Peters des Großen in Form eines Karrees Aufstellung. Gerüchteweise verlautete, sie wollten auf Geheiß ihrer Offiziere bei der auf diesen Tag festgesetzten Vereidigung dem neuen Zaren Nikolaus I. den Treueschwur verweigern. Ansonsten herrschte Unklarheit über die Motive und Ziele, zumal die Soldaten stundenlang regungslos bei klirrender Kälte verharrten. Frühestens gegen Mittag erreichten den inzwischen vom Generalstab der Garde, vom Senat und vom Heiligsten Synod als Kaiser anerkannten Nikolaus I. Nachrichten von einem „Aufstand“. Vermittlungsversuche des Großfürsten Michael und des Metropoliten Serafim von Petersburg scheiterten. Erst als der verhasste Generalgouverneur der Hauptstadt, Graf Michail A. Miloradoviþ, durch eine Kugel Kachovskijs tödlich verletzt worden war, spitzte sich die Lage zu. Augenzeugen wollten nun auch Rufe wie „Es lebe die Verfassung!“ oder „Es lebe Konstantin!“ aus dem Stimmengewirr herausgehört haben. Weitere Stunden verstrichen, bis der Zar – offenbar noch immer im Zweifel – bei Einbruch der Dämmerung den Einsatz der Artillerie befahl. Aus den Ecken des Senatsplatzes feuerten Kanonen auf die noch immer passiven „Aufständischen“ und trieben sie rasch

68 Ebd., S. 256. 69 Mežova, Religion, S. 68. 70 Vosstanie dekabristov, Bd. IX, S. 105.

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auseinander. Das folgende Blutbad forderte nach amtlichen Angaben 50, nach Schätzungen von Augenzeugen etwa 250 Todesopfer.71 Hatte Russland tatsächlich einen „Aufstand“, eine „Rebellion“ oder sogar eine „Revolution“ erlebt? Oder handelte es sich lediglich um eine Meuterei von Soldaten, wie sie nicht selten vorkam? Die weitere Geschichte dieses Tages zeigte, dass die Antworten auf solche Fragen zweitrangig sind. Denn die Wirkung des Ereignisses hing nicht von dessen augenblicklicher faktischer Bedeutung ab. Die isolierte, erfolglose und im übrigen Europa kaum wahrgenommene Militäraktion vom 14. Dezember 1825 in Petersburg – es folgte noch ein Scharmützel mit einem Regiment in der Ukraine72 – veränderte Russland im gegebenen historischen Augenblick nur unmerklich, langfristig aber grundlegend. Dies lag sicherlich an der verwickelten Vorgeschichte, vor allem jedoch an der auf diesem Ereignis gründenden Erinnerungskultur, die bis in die Gegenwart andauert. Dazu trug nicht unwesentlich die harte Abrechnung des Zaren mit den Initiatoren und Beteiligten der „schrecklichen Verschwörung“ bei.73 Nikolaus I. veranlasste eine peinlich genaue gerichtliche Untersuchung, leitete selbst zahlreiche Verhöre und sorgte für drakonische Strafen. Am 30. Mai 1826 legte die Untersuchungskommission Dossiers von 240 Häftlingen und Aussagen von etwa 3 000 Zeugen vor. Ein Außerordentliches Gericht verhängte 289 Strafurteile wegen Aufruhrs, Meuterei und Vorbereitung eines Attentats auf den Zaren. Fünf der Hauptangeklagten – der Dichter Kondratij F. Ryleev, der Gardeoberst Pestel’, der Diplomatensohn und Oberstleutnant S. I. Murav’ev-Apostol, der Leutnant M. P. Bestužev-Rjumin sowie der Oberleutnant Kachovskij – wurden zum Tode durch Vierteilung verurteilt. Gegen weitere 31 Schuldige verhängte das Gericht die Todesstrafe durch Enthauptung. 33 Delinquenten sollten lebenslänglich Zwangsarbeit leisten. Zu den milderen Strafen gegen die übrigen Angeklagten gehörten Deportation nach Sibirien, befristete Zwangsarbeit, Verlust des Adelstitels, Einzug des Vermögens, Strafversetzung und Degradierung.74 Am 10. Juli 1826 milderte der Zar die Urteile durch Ukaz ab: Die fünf Hauptangeklagten wurden am 13. Juli 1826 durch den Strang hingerichtet, die übrigen Todesurteile in lebenslange Zwangsarbeit umgewandelt. Für die anderen Verurteilten brachte der Gnadenerlass eine Verkürzung des Strafmaßes oder eine mildere Form der Strafe. 71 Vgl. Hans Lemberg, Die Dekabristen, in: Klaus Zernack (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. II,2, 1613–1856. Vom Randstaat zur Hegemonialmacht, Stuttgart 2001, S. 1021–1056, hier S. 1036; Nikolaus Katzer, Der gescheiterte Staatsstreich des aufgeklärten Adels. Der Dekabristenaufstand von 1825 in Russland, in: Uwe Schultz (Hg.), Große Verschwörungen. Staatsstreich und Tyrannensturz von der Antike bis zur Gegenwart, München 1998, S. 175–192, 270–272, hier S. 175f. 72 Oksana I. Kijanskaja, Južnyj bunt. Vosstanie ýernigovskogo pechotnogo polka, 29 dekabrja 1825–3 janvarja 1826 g., Moskau 1997; V. Syroþkovskij, Vosstanie ýernigovskogo pechotnogo polka v pokazanijach uþastnikov, in: Krasnyj Archiv 1925, Bd. 6 (13), S. 1–67. 73 Zitat aus dem Tagebuch des designierten Zaren nach: W. Bruce Lincoln, Nicholas I. Emperor and Autocrat of All the Russias, DeKalb 1989, S. 32. 74 Die statistischen Angaben über Verhöre und Strafen nach Vosstanie dekabristov, Bd. VIII, Materialy. Dela Sledstvennoj Komissii o zloumyšlennych obšþestvach, Moskau 1958.

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Nikolaus I. verfehlte sein Ziel nicht, einerseits die russische Adelsgesellschaft einzuschüchtern75 und andererseits den europäischen Mächten Stärke zu demonstrieren. Was eigentlich genau geschehen war, erfuhr die Nachwelt erst sehr viel später und nur bruchstückhaft. Die Untersuchungsprotokolle blieben für den Rest des Jahrhunderts unter Verschluss. Dies schuf die Voraussetzung dafür, dass neben die offizielle Version von der „frechen Gewalttat einiger weniger“ noch eine ganze Reihe von Legenden trat, in denen die Dekabristen als erste Helden einer amorphen russischen „Befreiungsbewegung“ gefeiert wurden.76 MIT GOTT GEGEN DEN ZAREN: RELIGION UND REVOLUTION IN RUSSLAND In den Dekabristen, diesen – wie sie sich selbst sahen – „reinen Rittern“ und „wahren und treuen Söhnen des Vaterlands“, spiegelt sich die Geschichte von Russlands Aufbruch ins 19. Jahrhundert. Als kleine jugendliche Minderheit des Adels hatten sie ungleich weniger Aussicht auf Erfolg als ihre patriotischen Zeitgenossen in der Mitte und im Westen Europas. Ihre Ziele waren widersprüchlich, ihre Organisation dilettantisch, ihr Auftreten elitär. Und doch hat der von ihnen verkörperte Typus des romantischen Revolutionärs tiefe Spuren in der nationalen Ideenwelt Russlands hinterlassen. Er trug das Signum „moderner“ Ambivalenz. Nachdem die Verschwörer abgeurteilt und viele von ihnen, gefolgt von ihren Ehefrauen, in die sibirische Verbannung gezogen waren, hinterließen sie nur kurzzeitig eine lähmende Atmosphäre. Das aristokratische Petersburg hatte seine Unschuld verloren, und das goldene Zeitalter des russischen Adels war zu Ende gegangen. Über die Salons der Hauptstadt legte sich ebenso wie über die Literatur ein Schleier der Melancholie. Ohne die Dekabristen in ihrer Bedeutung gegenüber anderen Einflussfaktoren zu überschätzen, markieren sie doch einen irreversiblen Bewusstseinswandel in den Bildungseliten. Puškin gestaltete in seinem Poem „Der eherne Reiter“ (1833) die dämonische, furchteinflößende Seite des Fortschritts, wie ihn die Metropole verkörperte. Unter Bezugnahme auf die Überschwemmung St. Petersburgs im Jahre 1824 lässt der Dichter den armen Helden Evgenij nächtens im Fieberwahn dem Reiterstandbild Peters des Großen nachjagen. In Gogol’s „Petersburger Erzählungen“ wiederum begegnen dem Leser wenig später die abseitigen menschlichen Schicksale hinter den leuchtenden Fassaden des Nevskij Prospekts. Für Dostoevs-

75 Morgan A. Rachmatullin, Imperator Nikolaj I i sem’i dekabristov, in: Oteþestvennaja istorija, 1995, H. 6, S. 3–20. 76 Donesenie Sledstvennoj Komissii 30 maja 1826 […], St. Petersburg 1826, Nachdruck in: B. Bazilevskij [V. Boguþarskij], Gosudarstvennye prestuplenija v Rossii v XIX veke, Bd. I, St. Petersburg 1906, S. 14–45; Aleksej N. Camutali, Dekabristy i osvoboditel’noe dviženie v Rossii. Nekotorye voprosy istoriografii, in: 14 dekabrja 1825 g. Istoþniki, issledovanija, istoriografija, bibliografija, St. Petersburg 1997, S. 91–94; Lemberg, Gedankenwelt, S. 38– 55.

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kij schließlich scheinen nur noch die Gestrandeten der Großstadt literaturwürdig zu sein. Das Scheitern der Dekabristen ernüchterte jedoch nicht nur den seit 1812 euphorisierten Blick patriotischer Zeitgenossen, sondern stiftete eine Tradition unabhängigen Denkens. Der 14. Dezember 1825 wurde zum heimlichen Feiertag der Intelligencija. Auf diesen Tag konnte sie ihre Geburtsstunde datieren, ohne sich bereits gesellschaftspolitisch festzulegen. Ihr zunächst undifferenzierter Antizarismus bildete im Laufe des 19. Jahrhunderts vielfältige radikale und gemäßigte Strömungen aus, die auf jeweils eigene Weise, aber gleichsam aus Prinzip, Opposition betrieben.77 Dies galt für Konservative ebenso wie für Liberale, für Fundamentalisten der Rechten wie der Linken. Lenin konstruierte schließlich ein Schema der revolutionären Bewegung in Russland, das den Dekabristen die Vaterrolle zuschrieb.78 Doch spielten zu dieser Zeit die konkreten Umstände des Aufstands von 1825 und seine komplexen Hintergründe weder für den Berufsrevolutionär noch für die anderen Traditionspfleger noch eine wesentliche Rolle. Was hätte man von ihnen auch wissen sollen? Erst Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen Teile des Untersuchungsberichts. Pestel’s handschriftlicher Verfassungsentwurf, das erwähnte „Russische Recht“, bekam der Leser sogar erst 1958 zu Gesicht. Dies waren denkbar günstige Voraussetzungen dafür, dass die auf mündlicher Überlieferung basierende Erinnerung an die teils anrührende und teils heroische Geschichte der Dekabristen sich zu einem geistigen Monument ausformte, dem Anhänger unterschiedlicher Weltanschauung Referenz erweisen konnten. Der revolutionäre Mythos des „Dekabrismus“ bildet dabei nur die besonders erfolgreiche Facette einer ganzen Reihe von begrifflichen, rituellen und symbolischen Praktiken einer „erfundenen Tradition“,79 die sowohl staatstragende als auch widerständige Haltungen bediente. Allerdings handelt es sich lediglich um eine unterstellte Kontinuität. Wenn es um die „Vorläufer“ des „fortschrittlichen“ Denkens ging, verstanden die Revolutionäre des 19. Jahrhunderts darunter etwas anderes als die Hüter des revolutionären Erbes zur Sowjetzeit. Ebenso konstruierten Opfer des Stalinismus ein eigenes Bild ihrer vorbildhaften Helden, wenn sie auf deren persönlichen Mut, Selbstlosigkeit und Leidensbereitschaft abhoben.80 Eher im Sinne eines revolutionären Ethos wiederum bemerkte die 77 Nicholas Riasanovsky, A Parting of Ways. Government and the Educated Public in Russia 1801–1855, Oxford 1976; Daniel R. Brower, Training the Nihilists. Education and Radicalism in Tsarist Russia, Ithaca 1975; Marc Raeff, The People, the Intelligentsia and Russian Political Culture, in: Political Studies, 1993, 41 (Special Issue), S. 93–106; Peter C. Pozefsky, Dimitrii Pisarev and the Nihilist Imagination. Social and Psychological Sources of Russian Radicalism, Los Angeles 1993. 78 W.I. Lenin, Dem Gedächtnis Herzens [1912], in: ders., Werke, Bd. 18, Berlin 1962, S. 15. 79 Dazu allgemein Eric Hobsbawm, Introduction. Inventing Traditions, in: ders. / Terence Ranger (Hg.), The Inventing of Tradition, Cambridge 1984, S. 1–14. 80 Vgl. Zastupniki svobody. Pamjatnye þtenija, posvjašþennye 170-letiju vosstanija dekabristov, 14 dekabrja 1995 goda, St. Petersburg 1996; V. Bokova, Apologija dekabrizma, in: Kontinent, 1994, 84, S. 160–178; John Gooding, The Decembrists in the Soviet Union, in: Soviet Studies, 1988, 40, S. 196–209.

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Schriftstellerin Larissa Rejsner 1925: „Nur der Kettensträfling wagte in Russland in dieser Weise zu sprechen.“81 In der Tat bezeugen die Vernehmungsprotokolle – zumindest für einige Angeklagten – ein hohes Maß an Aufrichtigkeit und Schonungslosigkeit. Die gewählte Pose, die raffinierte Maskerade und das elegante Spiel mit der Sprache hatten sie abgelegt. Dadurch traten umso mehr die individuellen, besonderen und auch zufälligen Momente in den Vordergrund. Selbst die allgemeinen Züge der „Bewegung“ verweisen auf die Charakteristik der führenden Persönlichkeiten zurück. Dies führt zur Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von Religion und Revolution im Denken der Dekabristen zurück, die eine entsprechend vielschichtige Antwort aus ihren Schriften erhalten hat. Manche Ansichten waren denen der offiziellen Religionspolitik oder denen der Amtskirche nicht fern. Davon zeugten Pestel’s Empfehlungen hinsichtlich der nichtorthodoxen Bekenntnisse und der Andersgläubigen – also etwa die Ausweisung ausländischer Orden oder die Verdrängung der Juden oder die Christianisierung der Muslime. Man könnte dies den Rückzug auf einen revolutionären Konservatismus nennen: Die Orthodoxie sollte für Gläubige und Ungläubige aus Gründen der Staatsräson verbindliche Religion sein. Der zentralistische Einheitsstaat verlangte nach der Assimilation von Nationen und Religionen nach dem „einen Volk“, dem russischen, und dem „einen Glauben“, dem orthodoxen. Die vielfältigen programmatischen Ansätze der Dekabristen verdichteten sich am Ende dann doch wieder in der Losung: „Für Glauben, Zar und Vaterland!“ Eine politische oder soziale Revolution hatte insofern nicht stattgefunden. Folgenreicher waren die Wandlungsprozesse im nationalen und religiösen Bewusstsein der Zeit. Sie wiesen über den politischen Konservatismus hinaus und entsprachen geistigen Erneuerungsbewegungen im übrigen Europa. Aufklärung und säkularer Reformeifer beflügelten interkonfessionelle Bestrebungen bei dem Versuch, Status und Charakter der Institution Kirche neu zu bestimmen. Umgekehrt verschaffte die religiöse Aufbruchstimmung während und nach den Befreiungskriegen den Tendenzen des gesellschaftlichen Wandels Auftrieb und förderte das Bestreben, Opposition nicht nur emotional zu begründen. Nach der nationalen Kraftanstrengung im annus mirabilis 1812 ließ sich selbst ein Zarenmord – anders als bei den früheren Rebellionen gegen „falsche Zaren“ oder bei den Palastrevolutionen – sowohl als Gebot der Vernunft, als auch des Glaubens rechtfertigen.

81 Larissa Rejsner, Baron Štejngel’ [1925], in: dies., Izbrannye proizvedenija, Moskau 1958, S. 447–458, hier S. 457.

AUFBRUCH IN DEN VERFASSUNGSSTAAT? DAS JAHR 1859 ALS SCHLÜSSELJAHR DER HABSBURGERMONARCHIE Georg Seiderer Am 15. Juli 1859 richtete Kaiser Franz Joseph I. von Österreich von Laxenburg aus ein Manifest an die Völker seines Reiches, in dem er ihnen mitteilte, dass er den Krieg gegen das Königreich Piemont-Sardinien und Frankreich beendet und Vorbereitungen für den Friedensschluss eingeleitet habe. Der Kaiser räumte darin ein, dass ihm „das Glück der Waffen […] nicht günstig“ gewesen sei, doch ermöglichten ihm die „Segnungen des Friedens“ nunmehr die „nötige Muße“, um Österreichs „innere Wohlfahrt und äußere Macht“ dauerhaft zu begründen, wozu „zeitgemäße Verbesserungen in Gesetzgebung und Verwaltung“ beitragen sollten.1 Das sogenannte Laxenburger Manifest war eine Antwort auf das Desaster, das die Habsburgermonarchie in dem Krieg gegen Piemont-Sardinien und Frankreich erlebt hatte. Am 23. April hatte Franz Joseph das Königreich Piemont-Sardinien ultimativ aufgefordert, die Rüstungen einzustellen, die das Kaisertum bedrohten. Ministerpräsident Camillo Benso Conte di Cavour, der seit Jahren auf einen Krieg mit Österreich hingearbeitet hatte, lehnte das Ultimatum ab, da er sich bei einem österreichischen Angriff der französischen Rückendeckung sicher war. Am 28. Mai begann Österreich den Feldzug, der in der Schlacht von Solferino am 24. Juni 1859 zu der kriegsentscheidenden Niederlage führte. In dem am 11. Juli 1859, wenige Tage vor dem Laxenburger Manifest, geschlossenen Vorfrieden von Villafranca verzichtete es auf den größten Teil der Lombardei; bereits im April und im Juni 1859 waren die habsburgischen Sekundogenituren in der Toskana und in Modena aufgegeben worden: Österreich hatte den Weg zur nationalstaatlichen Einigung Italiens freigeben müssen. Der Krieg von 1859 hatte die Schwäche der Habsburgermonarchie offenbart. Außenpolitisch war Österreich weitgehend isoliert. Obwohl die öffentliche Meinung in Deutschland für Österreich eintrat, unterblieb doch die erhoffte Hilfestellung Preußens und der anderen deutschen Staaten. Russland, das dem Kaisertum noch 1849 bei der Niederwerfung der Revolution in Ungarn zu Hilfe gekommen war, stand ihm seit dem Krimkrieg enttäuscht und feindselig gegenüber, während die Annäherung an Großbritannien, die der österreichische Außenminister Carl

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Reichs-Gesetz-Blatt für das Kaiserthum Oesterreich, Jg. 1859, Nr. 133, S. 367f.

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Ferdinand Graf Buol-Schauenstein angestrebt hatte, letztlich an den Interessendivergenzen zwischen den beiden Mächten gescheitert war.2 Zugleich offenbarte das Desaster des Krieges die latenten inneren Spannungen in der Habsburgermonarchie. Nach Stefan Malfèr lag die „Quintessenz der Ereignisse von 1859 […] in der vielfachen Schwächung des bisherigen Systems.“3 Die Popularität des Kaisers, der in höchsteigener Person seine Truppen in die Niederlage von Solferino geführt hatte, war auf einem Tiefpunkt angelangt.4 Zugleich bedeutete die außenpolitische Niederlage, dass das gesamte System der zentralistisch-bürokratischen Herrschaft des Neoabsolutismus diskreditiert war. Im vorangegangenen Jahrzehnt war mit dem Neoabsolutismus der Versuch unternommen worden, auf der Basis des monarchischen Prinzips die staatliche Einheit der in der Revolution von 1848/49 von dem Auseinanderbrechen bedrohten Habsburgermonarchie zu wahren.5 Dies bedeutete eine Politik der Repression gegenüber nationalen und liberalen Bestrebungen, und es bedeutete eine Negierung der Sonderstellung, die die Länder der Stephanskrone bis dahin im Gefüge der Habsburgermonarchie besessen hatten.6 Mit dem Neoabsolutismus wurde ein 2

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Francis Roy Bridge, Österreich(-Ungarn) unter den Großmächten, in: Adam Wandruszka / Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 6, Die Habsburgermonarchie im System der internationalen Beziehungen, 1. Teilbd., Wien 1989, S. 196–373, hier S. 218–223; Bernhard Unckel, Österreich und der Krimkrieg. Studien zur Politik der Donaumonarchie in den Jahren 1852–1856, Lübeck 1969 (= Historische Studien, 410); ders., Österreichs Politik im Krimkrieg und im italienischen Krieg 1854–1859, in: Michael Gehler / R.F. Schmidt / Harm-Hinrich Brandt / Rolf Steininger (Hg.), Ungleiche Partner? Österreich und Deutschland in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung. Historische Analysen und Vergleiche aus dem 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1996 (= Historische Mitteilungen, Beiheft 15), S. 201–221; Katharina Weigand, Österreich, die Westmächte und das europäische Staatensystem nach dem Krimkrieg (1856–1859), Husum 1997 (= Historische Studien, 445). Stefan Malfèr, Einleitung, in: Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867. IV. Abteilung: Das Ministerium Rechberg, Bd. 1, 19. Mai 1859 – 2./3. März 1860. Bearbeitet und eingeleitet von Stefan Malfèr, Wien 2003, S. IX–LXX, hier S. LXIX. Georg Christoph Berger Waldenegg, Mit vereinten Kräften! Zum Verhältnis von Herrschaftspraxis und Systemkonsolidierung im Neoabsolutismus am Beispiel der Nationalanleihe von 1854, Wien 2002 (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, 94), S. 551–561. Zum österreichischen Neoabsolutismus immer noch grundlegend Heinrich Friedjung, Österreich von 1848–1860, 2 Bde., Stuttgart 1908/12, und Joseph Redlich, Das österreichische Staats- und Reichsproblem. Geschichtliche Darstellung der inneren Politik der habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergang des Reiches, Bd. I, Der dynastische Reichsgedanke und die Entfaltung des Problems bis zur Verkündigung der Reichsverfassung von 1861, Tl. 1, Darstellung, Tl. 2, Exkurse und Anmerkungen, Leipzig 1920. Unter den jüngeren Arbeiten siehe vor allem Harm-Hinrich Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848–1860, 2 Bde., Göttingen 1978 (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 15); sowie Berger Waldenegg, Mit vereinten Kräften!. Ágnes Deák, From Habsburg Neo-Absolutism to the Compromise, New York 2008; Oskar Sashegyi, Ungarns politische Verwaltung in der Ära Bach 1848–1860, Graz 1979 (= Zur Kunde Südosteuropas, III/7); siehe ferner die kritisch den Forschungsstand resümierenden Literaturberichte Zsolt K. Lengyel, Österreichischer Neoabsolutismus in Ungarn 1849–1860.

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Herrschaftssystem etabliert, das als monarchischer Absolutismus im strengen Sinne charakterisiert werden kann: Sämtliche Gewalten waren in der Hand des Monarchen vereinigt, der für alle legislativen und exekutiven Maßnahmen nicht nur theoretisch als Letztentscheidungsinstanz fungierte und nirgendwo – abgesehen allenfalls von Lombardo-Venetien, wo es 1855 zur weitgehend unveränderten Wiederherstellung der vormärzlichen Zentral- und Provinzialkongregationen kam7 – an die Mitwirkungsrechte ständischer oder parlamentarischer Institutionen gebunden war. Als österreichischer Sonderfall war der Neoabsolutismus Teil des „Systems der Reaktion“, das die Innenpolitik der deutschen Staaten im Jahrzehnt zwischen 1849 und 1859 prägte und zu dessen Kennzeichen – auch und gerade in Österreich – „Verfassungsrevision und Staatsstreichmaßnahmen, polizeiliche Überwachung und Verfolgung, die Etablierung eines Polizei- und Militärsystems“ 8 zählten. Dabei ging er mit der Aufhebung der oktroyierten Märzverfassung über die Politik der Reaktion in anderen deutschen Staaten – auch in Preußen – noch hinaus.9 Vor allem aber handelte es sich um den Versuch, die staatliche Einheit der Habsburgermonarchie nicht nur in ihrem Bestand zu retten, sondern im Inneren erst eigentlich herzustellen. Die administrative Vereinheitlichung, die bürokratische Durchdringung des weiten Raumes der Habsburgermonarchie mit staatlichen Verwaltungsinstitutionen stellt einen wesentlichen Grundzug der neoabsolutistischen Ära dar:10 In den beiden unter der Ägide Alexander (von) Bachs durchgeführten Verwaltungsreformen der neoabsolutistischen Ära – der auf den Vorgaben der Märzverfassung basierenden Verwaltungsreform der Jahre 1849/51 und der Grundlinien, Probleme und Perspektiven der historischen Forschung über die Bach-Ära, in: Südost-Forschungen, 1997, 56, S. 213–278; ders., Neoabsolutismus oder Willkürherrschaft? Anmerkungen zur neueren Historiographie der Bach-Ära in Ungarn, in: Südost-Forschungen, 2008, 67, S. 295–320. 7 Siehe hierzu Andreas Gottsmann / Stefan Malfèr, Die Vertretungskörperschaften und die Verwaltung in Lombardo-Venetien, in: Helmut Rumpler / Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. VII, Verfassung und Parlamentarismus, Teilbd. 1, Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit, zentrale Repräsentationskörperschaften, Wien 2000, S. 1593–1632, hier S. 1599f.; zu den vormärzlichen Kongregationen Marco Meriggi, Il Regno Lombardo-Veneto, Torino 1987 (= Storia d´Italia, 18/2), S. 44–60. Die Kompetenzen der 1816 geschaffenen Zentral- und Provinzialkongregationen beschränkten sich im wesentlichen auf die beratende Mitwirkung an der Finanzverwaltung und administrativen Angelegenheiten. 8 Wolfram Siemann, Gesellschaft im Aufbruch, S. 39; siehe hierzu zusammenfassend HarmHinrich Brandt, Deutsche Geschichte 1850–1870. Entscheidung über die Nation, Stuttgart 1999, S. 20–51; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München ³1985, S. 674–683. 9 Anders als in Österreich kam es in Preußen zwar zu Staatsstreichplänen innerhalb der Regierung, aber eben nicht zu einer Aufhebung der Verfassung; siehe Hans Christoph Kraus, Konstitutionalismus wider Willen. Versuche einer Abschaffung oder Totalrevision der preußischen Verfassung während der Reaktionsära (1850–1857), in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 1996, N.F. 6, S. 157–240. 10 Waltraud Heindl, Verfassung als Verwaltung – das neoabsolutistische Experiment, in: Dušan Kováþ / Arnold Suppan / Emilia Hrabovec (Hg.), Die Habsburgermonarchie und die Slowaken 1849–1867, Bratislava 2001, S. 23–35.

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auf den Vorgaben der Grundsätze für organische Einrichtungen vom 31. Dezember 185111 basierenden Verwaltungsreform der Jahre 1852/54 – wurde in den nichtungarischen Ländern ein zentralisierter, von oben straff gelenkter und bis in die unteren Instanzen staatlicher Verwaltungsorganismus geschaffen;12 in den Ländern der Stefanskrone wies die administrative Neuordnung Phasenverschiebungen auf, die der militärischen Besetzung geschuldet waren.13 Für die Habsburgermonarchie, die nach Helmut Rumpler mit der eigentümlich unmodernen Struktur ihrer Staatlichkeit in vieler Hinsicht eher ein „‚Reich‘ in der alteuropäisch-vorstaatlichen Bedeutung“ geblieben war,14 bedeutete der Neoabsolutismus einen Versuch der Staatsbildung. Als Symbol des Neubeginns nach dem Krieg von 1859 wurden die in den Augen der Öffentlichkeit diskreditierten Exponenten des neoabsolutistischen Regimes entlassen. Am 21. August 1859 erfolgte offiziell die Enthebung des Innenministers Alexander von Bach und des Chefs der Obersten Polizeibehörde Johann Franz Kempen von Fichtenstamm von ihren Ämtern, nachdem sie über ihre Zukunft wochenlang im Ungewissen gelassen worden waren.15 Kempen stand gewissermaßen für die repressive Seite des neoabsolutistischen Machtapparates; Bach war als Exponent des zentralistisch-bürokratischen Einheitsstaates zur Symbolfigur des Neoabsolutismus schlechthin geworden. Bereits im Mai war Carl Ferdinand Graf Buol-Schauenstein zurückgetreten, der als Außenminister für den außenpolitischen Kurs der vorausgegangenen Jahre verantwortlich gewesen war; im Oktober schließlich wurde auch der Erste Generaladjutant des Kaisers und Leiter der militärischen Zentralkanzlei Karl Ludwig Graf von Grünne entlassen. Diese „Bauernopfer“16 waren zweifellos darauf berechnet, die öffentliche Meinung, die sich gegen den Kaiser selbst richtete, zu beschwichtigen. Zugleich signalisierte ihre Entlassung eine gewisse Offenheit des Prozesses, der mit dem 11 Edmund Bernatzik (Hg.), Die Österreichischen Verfassungsgesetze mit Erläuterungen, Wien 2 1911 (= Studienausgabe Oesterreichischer Gesetze, III, Die Verfassungsgesetze), S. 211– 215. 12 Siehe hierzu künftig meine Habilitationsschrift Liberalismus und Neoabsolutismus. Studien zur Verwaltungsreform und Verfassungspolitik unter Alexander von Bach 1848–1859, München (Manuskript) 2004; Fr. J. Schopf, Die organische Verwaltung des österreichischen Kaiserstaates in ihren seit einem Jahrhundert erfolgten Reformen und in ihrer gegenwärtigen Verfassung mit einer tabellarischen Übersicht der Ober- und Unterbehörden aller öffentlichen Verwaltungszweige in ihrem Wirkungskreise, Amtssitze und Personalstatus dargestellt, Pest 21859; Waltraud Heindl, Einleitung, in: Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867, III. Abteilung: Das Ministerium Buol-Schauenstein, Bd. II, 15. März 1853– 9. Oktober 1853. Bearbeitet v. Waltraud Heindl, Wien 1979, S. XIII–LXVIII; Rudolf Hoke, Österreich, in: Kurt G. A. Jeserich / Hans Pohl / Georg-Christoph von Unruh (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. II, Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Stuttgart 1983, S. 345–399, hier S. 382–393. 13 Sashegyi, Ungarns politische Verwaltung; siehe auch Zsolt K. Lengyel, Verwaltungsgeschichtliche Aspekte zum Fall Ungarn, in: Levéltári Közlemenyek, 1999, 70, S. 79–105. 14 Helmut Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, hg. von Herwig Wolfram, Wien 1997, S. 14. 15 Malfèr, Einleitung, in: Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates IV/1, S. XXVIf. 16 Berger Waldenegg, Mit vereinten Kräften!, S. 18.

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Laxenburger Manifest eingeleitet wurde. Dabei ging es vorrangig um drei Fragenkomplexe, die eng miteinander verzahnt waren: Verfassung, Verwaltung und das Finanzproblem der Habsburgermonarchie standen in einem engen Zusammenhang. In der Verfassungsfrage ging es nicht allein um die Gesamtmonarchie, erst recht nicht allein um die Frage, ob Österreich nach den kurzlebigen Verfassungsexperimenten der Jahre 1848/49 erneut den Weg hin zu einer konstitutionellen Reichsverfassung einschlagen würde. Kaum minder wichtig war die Frage der Verfassungen der einzelnen Kronländer. Und es ging um das Verhältnis zwischen Land und Gesamtstaat, insbesondere um die Frage nach der Stellung Ungarns innerhalb der Gesamtmonarchie. Mit der Verfassungsfrage war die Frage der Verwaltung eng verknüpft. Die Revolution 1848/49 hatte mit der sogenannten Bauernbefreiung zur Aufhebung der patrimonialen Herrschaftsverhältnisse geführt. Unter dem neoabsolutistischen Regime wurde daran festgehalten; die Grundentlastung wurde unter der Ägide des Innenministers Bach durchgeführt. Von den hochkonservativen Vertretern zumal des böhmischen Adels wurde das Ergebnis keineswegs ohne weiteres akzeptiert: Unter der modischen Losung der Forderung nach „self-government“ wurden Bestrebungen zu einer Rückgewinnung adeliger Gerichts- und Verwaltungsrechte verfolgt.17 Unter den Bedingungen des neoabsolutistischen Staates schien insbesondere die Gemeindegesetzgebung die Möglichkeit zu bieten, über die Ausscheidung des großen Gutsbesitzes aus den Gemeinden gutsherrliche Verwaltungsrechte zurückzuerlangen; die in diesem Punkt weit divergierenden Vorstellungen Bachs und der Mehrheit des Reichsrats trugen dazu bei, dass das neue Gemeindegesetz, das das liberale Stadionsche Gemeindegesetz ablösen sollte, erst unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges im April 1859 veröffentlicht werden konnte.18 In dem Komplex von Fragen über die künftige Verfassungs- und Verwaltungsordnung der Habsburgermonarchie zeigten sich grundlegend unterschiedliche politische und gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen. Mit den Begriffen bürokratischer Etatismus, ständischer Hochkonservativismus und liberaler Konstitutionalismus ließen sich die wesentlichen Positionen markieren, doch bleiben diese Begriffe vor dem Hintergrund der Komplexität der Habsburgermonarchie insofern nur unzureichend, als sie sich mit je unterschiedlichen Konzepten der zentralistischen, föderalen oder eine Form der Eigenstaatlichkeit Ungarns einschließenden Struktur der Habsburgermonarchie verbinden konnten. Diese grundlegenden Differenzen reichten letztlich bis in die Führungsgruppen des neoabsolu17 Ralph Melville, Adel und Revolution in Böhmen. Strukturwandel von Herrschaft und Gesellschaft in Österreich um die Mitte des 19. Jahrhunderts, Mainz 1998 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte, 95), S. 255–276. 18 JiĜí Klabouch, Die Gemeindeselbstverwaltung in Österreich 1848–1918, Wien 1968, S. 51– 53; Thomas Kleteþka, Kommunale und hohe Politik im Spiegel der Quellen aus der Regierungszeit von Buol-Schauenstein und Rainer-Schmerling, in: JiĜi Pešek / Václav Ledvinka (Hg.), Mezi liberalismem a totalitou. Komunálú politika ve stĜedoevropských zemích 1848– 1948. Sbornik pĜíspĜvkĤ z konference Archivu blavuího mesta Prahy 1994, Prag 1997 (= Documenta Pragensia, XIV), S. 65–71; ausführlich künftig Seiderer, Liberalismus und Neoabsolutismus.

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tistischen Staates hinein: Auch die innere Blockadesituation der Habsburgermonarchie unter dem Neoabsolutismus in zentralen Gesetzgebungsvorhaben war nicht zuletzt ein Resultat des Ringens um die Verwirklichung unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen.19 Die Wende, die das Laxenburger Manifest ankündigte, schien zunächst eine konservative Wende zu bedeuten, die denjenigen Kräften entgegenkam, die eine Rückkehr zu den feudal-altständischen Verhältnissen des Vormärz wünschten oder unter dem zeitgemäßen Stichwort des „self-government“ eine Neuformierung adeliger Herrschaftsansprüche anstrebten. Zu den Konferenzen, auf denen seit dem 28. Juli 1859 über die künftige Grundordnung der Habsburgermonarchie debattiert wurde, wurden mit dem Reichsrat Karl Friedrich Otto Graf Wolkenstein und dem westgalizischen Landespräsidenten Heinrich Jaroslav Graf ClamMartinic hochkonservative Vertreter des böhmischen Adels eingeladen, die dort ihre Vorstellungen vertreten konnten.20 Zu den wenigen Ministern, die von Anfang an an den Gesprächen teilnahmen, zählte Leo Graf Thun, der ebenfalls als exponierter Vertreter des böhmischen Hochkonservativismus gelten konnte, während Finanzminister Karl Ludwig Freiherr von Bruck, der in der Regierung am ehesten einem wie auch immer eingeschränkten konstitutionellen Kurs zuzuneigen schien, von den Beratungen zunächst ausgeschlossen war, weswegen er sich in einem Brief an Graf Rechberg am 4. August bitter beschwerte und seinen Rücktritt anbot.21 Die Forderungen der Vertreter des böhmischen Hochkonservativismus liefen letztlich auf eine Abkehr von dem Staatsaufbau hinaus, der in den Jahren des Neoabsolutismus durchgeführt worden war, sie richteten sich gegen die Durchsetzung einer rein staatlichen politischen und judiziellen Verwaltung bis in die untersten Instanzen, die mit der Innenpolitik Bachs verbunden war. Obgleich Franz Joseph I. in diesen Gesprächen einige Bereitschaft erkennen ließ, den Forderungen des altständischen Adels entgegenzukommen,22 entsprach deren Ergebnis indes schließlich keineswegs den Wünschen der böhmischen Hochkonservativen und entzog den Träumereien von einer Wiederherstellung grundherrlicher Verwaltungsrechte den Boden. Johann Bernhard Graf von Rechberg, Joseph Alexander von Hübner, Franz Graf Nádasdy und Bruck, der seit dem 6. August den Gesprächen ebenfalls beigezogen wurde, hielten am Prinzip der staatlichen Verwaltung fest. Seit dem 11. August blieben Wolkenstein und Clam-Martinic den Besprechungen fern, nachdem sie zusammen mit Thun in einem eigenen Votum vom 19 So stellt Georg Christoph Berger Waldenegg fest, dass sich „der fehlende eine Geist bei den Entscheidungsträgern“ bei der Durchführung zahlreicher Projekte hemmend ausgewirkt habe, siehe ders., „Eine Lebensfrage für die Zukunft Österreichs“. Das Projekt der „Kolonisierung“ Ungarns in der Epoche des Neoabsolutismus, in: Südost-Forschungen, 2002/03, 61/62, S. 91–139, hier S. 131–138; siehe auch ders., Mit vereinten Kräften!, bes. S. 110–126, 190– 216. 20 Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867, Bd. IV/1, S. 481–515; siehe hierzu Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus, Bd. 2, S. 821–824. 21 Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus, Bd. 2, S. 824–827. 22 Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867, Bd. IV/1, S. 492f.

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7. August 1859 noch einmal deutlich gemacht hatten, dass sie die Anerkennung der adeligen Grundbesitzer als „selbstberechtigte Elemente in der politischen Organisation“ anstrebten, ohne die der Staat „in längerer oder kürzerer Zeit den revolutionären Ideen und Zuständen – zum Verderben der Monarchie – den Weg bahnen“ würde.23 Die am 21. August 1859 erfolgte Ernennung des galizischen Landeschefs Agenor Graf Goáuchowski zum Innenminister bedeutete dagegen eine gewisse Kontinuität in der Nachfolge Bachs: Goáuchowski „verfocht die Maxime des bürokratischen Absolutismus und trat für die möglichst weitgehende Beibehaltung eines wirksamen Beamtenregiments in der untersten Verwaltungsinstanz ein.“24 Die in den vorangegangenen Jahren zwischen Ministerrat und Reichsrat heftig umstrittene Ausscheidung der Gutsgebiete aus den Gemeinden wurde schließlich nur in Galizien eingeschränkt erlaubt.25 Im Endergebnis bedeutete das Jahr 1859 für die cisleithanischen Länder in dieser Hinsicht keine Wende, sondern vielmehr die Bestätigung jener administrativen Ordnung, die durch die Revolution und den Neoabsolutismus geschaffen worden war. Dagegen führte der Versuch, mit dem altkonservativen Adel zu einer Verständigung zu gelangen, in Ungarn zur Wiedereinführung der ehemaligen Komitatsverfassung, in der der begüterte Adel dominierte.26 Entscheidend wurde allerdings das Finanzproblem der Habsburgermonarchie, das das Jahr 1859 auf die dringlichste Weise offenbarte und das, wie HarmHinrich Brandt in seiner grundlegenden Arbeit über Staatsfinanzen und Politik im österreichischen Neoabsolutismus herausgearbeitet hat, einen entscheidenden Faktor der Verfassungspolitik der Jahre 1859 bis 1861 darstellte, wobei der seit 1855 als Finanzminister amtierende Karl Ludwig von Bruck zeitweilig eine Schlüsselrolle spielte.27 Im Herbst 1859 wuchsen sich die langfristigen Finanzprobleme der Habsburgermonarchie zu einer akuten Krise aus. Seit Mitte der 23 Ebd., S. 498f. 24 Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus, Bd. 2, S. 838. 25 Angesichts der auf Galizien beschränkten Bedeutung der Möglichkeit zur Aussscheidung der Gutsgebiete scheint die These Brauneders, es habe sich dabei um „eines der tragenden Elemente der seit 1851/52 wiederbelebten monarchisch-ständischen Staatskonstruktion“ gehandelt, weit überzogen. Siehe Wilhelm Brauneder, Vom neo-ständischen Staatselement zum lokalen Verwaltungssprengel: Das österreichische Gutsgebiet, in: Aus Österreichs Rechtsleben in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Ernst C. Hellbling zum 80. Geburtstag, Berlin 1981, S. 435–447, hier S. 445; ders., Das Gutsgebiet. Vom neo-ständischen Staatselement zum lokalen Verwaltungssprengel, in: Entwicklung der städtischen und regionalen Verwaltung in den letzten 100 Jahren in Mittel- und Osteuropa (Internationale rechtshistorische Konferenz Budapest, 12.–15. September 1977), bearbeitet von Kálmán Kovács, Bd. III, Budapest 1979, S. 49–65. 26 George Barany, Ungarns Verwaltung: 1848–1918, in: Adam Wandruszka / Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. II, Verwaltung und Rechtswesen, Wien 1975, S. 306–468, hier S. 362–368. 27 Siehe hierzu insgesamt die grundlegende Untersuchung von Harm-Hinrich Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus, hier S. 833ff., die im Einzelnen die Abhängigkeit des verfassungspolitischen Prozesse seit 1859 von den finanzpolitischen Rahmenbedingungen herausstellt.

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1850er Jahre war das chronische Haushaltsdefizit Österreichs aus den Einzahlungen auf die Nationalanleihe von 1854 sowie aus den Ratenzahlungen für den Verkauf der österreichischen Staatseisenbahnen finanziert worden. Als sich mit dem Rückgang der Einnahmen aus der Nationalanleihe seit 1857 eine Lücke in der Defizitdeckung auftat, ließ Bruck zusätzliche Obligationen der Nationalanleihe drucken, die er unauffällig auf den Kreditmärkten unterzubringen suchte, was auf eine „heimliche Neuverschuldung“ hinauslief.28 Dass Bruck am 11. Oktober 1859 in der Wiener Zeitung die verborgene Überziehung der Nationalanleihe der Öffentlichkeit bekanntgab, machte auf den internationalen Kreditmärkten einen katastrophalen Eindruck und führte zu einem Vertrauensverlust in den österreichischen Staatskredit.29 Zu der kreditpolitischen Krise, die das Bekanntwerden der Überziehung der Nationalanleihe ausgelöst hatte, trat das für das Jahr 1860 zu erwartende Haushaltsdefizit, das sich vor allem aus dem hohen Etat des Kriegsministeriums ergab: Am 1. November 1859 legte das Armeeoberkommando einen Etat von 170 Mio. fl. vor, der ein Defizit des Staatshaushalts von mehr als 100 Mio. fl. zur Folge gehabt hätte, das Bruck sich „unter den dermaligen Verhältnissen zu bedecken außerstand“ sah.30 Die vom Kaiser selbst vorgenommene Reduktion des Militärhaushalts führte zwar zu einer Verminderung des für 1860 veranschlagten Haushaltsdefizits auf knapp 88 Mio. fl., brachte aber keine Lösung der finanzpolitischen Schwierigkeiten. Nach Harm-Hinrich Brandt „trieb die weiterhin ungeklärte Haushaltslage den weiteren Zerfall des verfassungsrechtlichen Absolutismus voran“.31 Vor allem Bruck, der zur Deckung des Defizits am 23. Januar 1860 den Plan zu einer neuen Anleihe vorlegte, zeigte sich nunmehr als treibende Kraft eines verfassungspolitischen Reformkurses, der tendenziell auf eine Konstitutionalisierung vorauswies und dem vor allem Goáuchowski und Thun aus unterschiedlichen Motiven ihren Widerstand entgegensetzten. Brucks Finanzpolitik musste bereits im Frühjahr 1860 als gescheitert gelten, als die Subskriptionen auf die neue Anleihe erkennen ließen, dass diese die in sie gesetzten Erwartungen bei weitem nicht erfüllen konnte;32 am 22. April erhielt der Finanzminister sein Entlassungsschreiben und setzte seinem Leben kurz darauf ein Ende. Auch der verstärkte Reichsrat, dessen Einrichtung von ihm maßgeblich vorangetrieben worden war, erwies sich als bloßes Beratungsorgan der Krone ohne parlamentarische Kompetenzen nicht als geeignet, um Forderungen nach politischer Partizipation zu befriedigen oder das Vertrauen in die Kreditfähigkeit der Monarchie wiederherzustellen. Seinen Kompetenzen und seiner sozialen Zusammensetzung nach war er weniger ein Element des Konstitutionalismus denn eine „Konzession an die konservativen gesellschaftlichen Eliten, die damit ‚beratend‘

28 Ebd., S. 750f. Zu Motiven, Planung und Durchführung der Nationalanleihe von 1854 siehe jetzt ausführlich Berger Waldenegg, Mit vereinten Kräften! 29 Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus, Bd. 2, S. 846–848. 30 Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867, Bd. IV/1, S. 208; siehe Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus, Bd. 2, S. 854. 31 Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus, Bd. 2, S. 868. 32 Ebd., S. 891–893.

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in einige Bereiche der Politik eingreifen konnten.“33 Freilich versammelte er damit mehrheitlich die Vertreter einer „anti-neoabsolutistischen Elite“34 und bot vor allem den altkonservativen Vertretern des ungarischen Adels unter der Führung von Antal Graf Szécsen eine Plattform zur Formulierung ihrer Forderung nach Wiederherstellung der ungarischen Verfassung. Im Laufe des Jahres 1860 setzte jener Prozess ein, der in einem langsamen Vortasten zu einer neuen Verfassungsordnung führte. Im August und September 1860 fanden Beratungen über die künftige Verfassungsordnung statt, in die neben der politischen Führung der Habsburgermonarchie vor allem Vertreter der altkonservativen ungarischen Opposition einbezogen wurden, mit denen der Kaiser zu einer Verständigung zu gelangen wünschte. Während Graf Szécsen und der Reichsrat Georg Graf Apponyi das Programm einer Wiederherstellung der Rechte des ungarischen Landtags vertraten und Innenminister Goáuchowski als Vertreter des bürokratischen Etatismus auf die aus der neoabsolutistischen Ära stammenden Entwürfe zu Landesstatuten zurückgriff, sprach sich Finanzminister Ignaz von Plener für die Konstitutionalisierung des Kaisertums aus: Die grundlegenden Konzepte einer Lösung der Verfassungsfrage wurden in diesen Monaten innerhalb der politischen Führung Österreichs durchgespielt, einschließlich eines österreichisch-ungarischen Dualismus, der allerdings eher als drohendes Menetekel denn als realistische Option über den Verhandlungen stand.35 Über die Station des Oktoberdiploms mündete der Prozess schließlich in die Verfassungsordnung des Februarpatents und in neue, nunmehr an die Landesverfassungen der Jahre 1849/50 anknüpfende Landesverfassungen.36 In der Bewertung dieses Prozesses und der verfassungsgeschichtlichen Marksteine Oktoberdiplom und Februarpatent stehen einander weit divergierende Deutungen gegenüber. So stellt Andreas Gottsmann fest, dass sich im Oktoberdiplom, das als „Bollwerk gegen den das Reich gefährdenden Konstitutionalismus gedacht war“, das „neue Bündnis zwischen dem Monarchen und dem Hochadel […] manifestierte“,37 während das Februarpatent einen „konstitutionellen Reichsrat“ ins Leben rief. Stefan Malfèr betont demgegenüber die Kontinuität zwischen dem Oktoberdiplom und dem Februarpatent, die nicht in dem Maße als Gegensätze begriffen werden dürften, wie dies in der älteren Forschung häufig geschah; dementsprechend sieht er bereits im Oktoberdiplom mit der Beteiligung des Reichsrates an der Gesetzgebung den entscheidenden, „nicht mehr zurückgenommene[n] Schritt zur konsti-

33 Andreas Gottsmann, Der Reichstag 1848/49 und der Reichsrat 1861 bis 1865, in: Rumpler / Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie, Bd. VII/1, S. 569–665, hier S. 612. 34 Ebd., S. 613. 35 Stefan Malfèr, Einleitung, in: Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867. IV. Abteilung: Das Ministerium Rechberg. Bd. 2, 6. März 1860 – 16. Oktober 1860, bearbeitet und eingeleitet von Stefan Malfèr. Wien 2007, S. IX–LIV, hier S. XVII–XLI. 36 Text des Oktoberdiploms bei Bernatzik, Die Österreichischen Verfassungsgesetze, S. 223– 228; Text des Februarpatents und der gleichzeitig mit ihm erlassenen Landesordnungen ebd., S. 255–306. 37 Gottsmann, Der Reichstag 1848/49, S. 618.

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tutionellen Monarchie“38, der in seinem „Kompromißcharakter […] keineswegs nur und zur Gänze die Wünsche der Altkonservativen“ erfüllte.39 Wilhelm Brauneder hat dagegen in mehreren Beiträgen die Ära zwischen 1852 und 1867 als verfassungsgeschichtliche Einheit unter den Begriff der neuständisch beschränkten Monarchie zu bringen versucht. Nach seiner Auffassung brachten erst die Dezembergesetze von 1867 den Übergang zum Konstitutionalismus, während die Verfassungsgrundsätze der Silvesterpatente, des Oktoberdiploms und des Februarpatents demselben verfassungsgeschichtlichen Typus zugeordnet werden.40 Zweifellos bedeuteten die knapp zwei Jahrzehnte zwischen der Revolution von 1848/49 und dem Jahr 1867 insgesamt eine verfassungsgeschichtliche Übergangsepoche. Die Revolution war Bruch und Ausgangspunkt zugleich: Nach Jahrzehnten der Stagnation trat die Habsburgermonarchie in eine Phase von Verfassungsplänen und -experimenten in wechselnden Konstellationen ein, in deren Scheitern sich die jeweiligen Kräfteverhältnisse ebenso zeigten wie die Problematik einer Verfassung für den Vielvölkerstaat. Obgleich die Ära des Neoabsolutismus die Verfassungsentwicklung letztlich verzögerte, erscheint aus dieser Perspektive auch die Geschichte der Landesverfassungen von 1849/50 und der neoabsolutistischen Landesstatuten als wesentlicher Teil der Suche nach Verfassungen im Konflikt divergierender politischer Ordnungsvorstellungen.41 Erst mit dem 38 Malfèr, Vorwort, in: Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates, Bd. IV/2, S. VII. 39 Malfèr, Einleitung, in: Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates, Bd. IV/2, S. XLV. 40 Wilhelm Brauneder, Die Verfassungsentwicklung in Österreich 1848 bis 1918, in: Rumpler / Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie, Bd. VII/1, S. 69–237, hier S. 138–169, das Zitat S. 138. Die Deutung des Februarpatents im Sinne einer „neuständisch beschränkten“, nicht jedoch „konstitutionellen“ Monarchie wurde bereits in früheren Arbeiten entwickelt; siehe Wilhelm Brauneder, Die Entstehung des Parlamentarismus 1861/67 und seine Weiterentwicklung, in: Herbert Schambeck (Hg.), Österreichs Parlamentarismus. Werden und System, Berlin 1986, S. 83–119, hier S. 83; ders., Die Funktionen des Reichsrats, in: ebd., S. 121– 136. 41 Zur Entstehung der Landesverfassungen von 1849/50 Friedrich Walter, Die österreichische Zentralverwaltung, III. Abteilung: Von der Märzrevolution 1848 bis zur Dezemberverfassung 1867, 1. Bd., Wien 1964 (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 49), S. 399–412; Thomas Kleteþka, Einleitung, in: Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867. III. Abteilung: Das Ministerium Schwarzenberg, Bd. 1, 5. Dezember 1848 – 7. Jänner 1850, bearbeitet und eingeleitet von Thomas Kleteþka, Wien 2002, S. XLVf.; zu den Landesstatuten von 1856 bisher Karl Hugelmann, Der Übergang von den ständischen Landesverfassungen in den österreichischen Ländern zu den Landesordnungen der konstitutionellen Zeit (1848–1861), in: Monatsblatt des Vereins für Landeskunde und Heimatschutz von Niederösterreich und Wien, 1926, 1, S. 118–131; ders., Der Übergang von den ständischen Landesverfassungen in den österreichischen Ländern zu den Landesordnungen der konstitutionellen Zeit (1848–1861), in: Jahrbuch des Vereins für Landeskunde und Heimatschutz von Niederösterreich und Wien, 1927, 2, S. 92–128; Rudolf Schranil, Die Bach’schen Landesstatute und ihr Schicksal, in: Wissenschaftliche Vierteljahrsschrift zur Prager Juristischen Zeitschrift, 1925, H. II–III, S. 116–126; Waltraud Heindl, Einleitung, in: Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848–1867, III. Abteilung: Das Ministerium Buol-Schauenstein, Bd. 5, 26. April 1856 – 5. Februar 1857, bearbeitet von Waltraud

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österreichisch-ungarischen Ausgleich, der Rückkehr zur ungarischen Aprilverfassung von 1848 und den Dezembergesetzen war 1867 eine Verfassungsordnung erreicht, die in ihren Grundzügen bis zum Ende der Habsburgermonarchie Bestand hatte. Dabei lassen sich auch in verfassungsgeschichtlicher Hinsicht Kontinuitätslinien erkennen, die die Ära des Neoabsolutismus mit der ihr folgenden Phase der Verfassungsexperimente verbanden und sogar über das Jahr 1867 hinausreichten. Dies galt zumal für das „neuständische System der sog. ‚Interessenvertretung‘“42, das den „Landesverfassungen“ von 1849/50 und den „Landesstatuten“ von 1856 ebenso zugrundegelegt wurde wie den unter Graf Goáuchowski erlassenen Landesverfassungen von 1860 und den unter Schmerling in Kraft gesetzten Landesverfassungen von 1861. Dieses Prinzip, das in den Landtagen Cisleithaniens bis zum Ende der Habsburgermonarchie erhalten blieb und auf dem auch die Kurieneinteilung des Reichsrates bis zur Einführung des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts 1907 basierte, stellt ein charakteristisches Merkmal der Verfassungsentwicklung Österreichs dar, das, wie der aus Württemberg stammende Nationalökonom Albert Schäffle kritisch meinte, „bekanntlich in der ganzen Welt vergeblich seinesgleichen [sucht], sowohl was die Künstlichkeit der besondern ‚Gruppirungen‘, als was die Komplicirtheit im Ganzen betrifft.“43 Dieses in den 1850er Jahren vor allem von Bach entschieden vertretene Prinzip ließ sich allerdings mit sehr unterschiedlichen Verfassungsordnungen und Zielsetzungen verbinden: Es konnte in einem konstitutionellen Parlament ebenso Anwendung finden wie in einer Vertretungskörperschaft, die lediglich beratende Kompetenzen besaß, und es konnte den Interessen des adeligen Grundbesitzes ebenso dienen wie denen des Bürgertums. Auch wenn die Verfassungsordnung des Februarpatents im Vergleich zur Verfassungsordnung der Dezembergesetze Defizite aufwies und von den Liberalen im Reichsrat eher als Ausgangs- denn als Endpunkt der verfassungspolitischen Entwicklung angesehen wurde,44 hatte Österreich mit dem Februarpatent von Heindl, Wien 1993, S. IX–XLIII, hier S. XIX–XLII; künftig ausführlich Seiderer, Liberalismus und Neoabsolutismus. 42 Albert Eberhard Friedrich Schäffle, Das gesellschaftliche System der menschlichen Wirthschaft. Ein Lehr- und Handbuch der ganzen politischen Oekonomie einschließlich der Volkswirthschaftspolitik und Staatswirthschaft, Bd. 1, Tübingen 1873, S. XVII. 43 Ebd.; vgl. Brauneder, Verfassungsentwicklung, S. 216–221. Einzigartig war es freilich nicht: Auch im Konstitutionalismus der deutschen Staaten des Vormärz wurde dieses Prinzip auf je unterschiedliche Weise verwirklicht; siehe dazu Harm-Hinrich Brandt, Neoständische Repräsentationstheorie und das frühkonstitutionelle Wahlrecht, in: Wilhelm Brauneder (Hg.), Wahlen und Wahlrecht. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 10.3. – 12.3.1997, Berlin 2001 (= Der Staat, Beiheft 14), S. 133–162. 44 Siehe mit einer kritischen Bewertung des Februarpatents, das gleichwohl „mit dem Ausbau der Parlamentsrechte ein wesentliches Element des Konstitutionalismus einführte“, HarmHinrich Brandt, Parlamentarismus als staatliches Integrationsproblem: Die HabsburgerMonarchie, in: Adolf M. Birke / Kurt Kluxen (Hg.), Deutscher und Britischer Parlamentarimus – British and German Parliamentarism, München 1985 (= Prinz-AlbertStudien, 3), S. 69–105, hier S. 92; zur parlamentarischen Tätigkeit des Reichsrats 1861–1865

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1861 den Weg zum Konstitutionalismus beschritten. Verfassungsgeschichtlich stellen die Jahre zwischen 1852 und 1867 damit keineswegs eine Einheit dar: Die Ordnung des Februarpatents unterscheidet sich grundlegend von der Ordnung, die die Grundsätze für organische Einrichtungen vom 31. Dezember 1851 vorgezeichnet hatten. In der Situation nach dem Krieg gegen Frankreich und Piemont-Sardinien war dieser Prozess freilich noch keineswegs erkennbar oder gar intendiert gewesen. Die Bedeutung des Jahres 1859 liegt vielmehr darin, dass mit der innenpolitischen Wende, die das Laxenburger Manifest versprach und die mit der Entlassung von maßgeblichen Repräsentanten des vorangegangenen Jahrzehnts einen symbolischen Ausdruck fand, die innere Blockade aufgebrochen wurde, die den Neoabsolutismus zunehmend gekennzeichnet hatte, und die verfassungspolitischen Möglichkeiten wieder in Fluss gerieten. Die durch den Krieg verschärfte und im Herbst 1859 krisenhaft zugespitzte finanzpolitische Situation wirkte dabei als Katalysator. Die Wende des Jahres 1859 bestand nicht zuletzt darin, dass zunehmend verschiedene gesellschaftliche Gruppen in die Entscheidungsprozesse über die künftige Verfassungsordnung einbezogen wurden. Waren die politischen Entscheidungen im eigentlich neoabsolutistischen Jahrzehnt zwischen 1849 und 1859 weitgehend auf die Institutionen der Staatsführung begrenzt gewesen, so wurden nunmehr zunehmend Vertreter jener Gruppen an Gesprächen beteiligt, die unter dem Neoabsolutismus in latenter Opposition verharren mussten. Dass dabei zunächst die hoch- und altkonservativen Vertreter insbesondere des böhmischen und ungarischen Hochadels bevorzugt wurden, entsprach den politischen Zielsetzungen des Kaisers ebenso wie dem immer noch vorhandenen Willen, eine Konstitutionalisierung zu verhindern, doch ermöglichte die Einberufung des Reichsrates auf der Basis des Februarpatents schließlich auch die – freilich vor allem konflikthafte – Beteiligung der deutschliberalen Kräfte an politischen Entscheidungsprozessen: Das Februarpatent bot, wenn schon keinen dauerhaften und vollständigen Konstitutionalismus, so doch die Basis für die politische Artikulation auch des Deutschliberalismus. Zugleich brachten die Ergebnisse der Entscheidungen 1859 bis 1861 letztlich die Absage an eine konservative Wende mit sich. Unter der Perspektive der Entwicklung hin zum modernen, konstitutionellen Staat wird leicht unterschätzt, in welchem Maße die konservative Rückwendung noch Option schien und welche Stärke der Hochkonservativismus noch besaß. Die Entscheidungssituationen der Jahre 1859/60 schienen dieser Option noch Raum zu gewähren und bedeuteten – entgegen dem Willen oder der Neigung von Akteuren wie dem Kaiser – ganz im Gegenteil die Bestätigung ihres Endes. Der Neoabsolutismus ist damit keineswegs Gottsmann, Der Reichstag 1848/49, S. 634–665; instruktiv auch die Darstellung der Konflikte zwischen Regierung und Reichsrat aus der Sicht des Innenministers Anton von Schmerling, siehe Lothar Höbelt (Hg.), Österreichs Weg zur konstitutionellen Monarchie. Aus der Sicht des Staatsministers Anton von Schmerling, Frankfurt am Main 1994 (= Rechts- und sozialwissenschaftliche Reihe, 9).

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bloß als gescheitertes Zwischenspiel zwischen Revolution und Konstitutionalisierung zu betrachten, sondern hinterließ deutliche Spuren in der österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsordnung. Dagegen leitete das Jahr 1859 das Scheitern einer die gesamte Habsburgermonarchie umspannenden Staatsbildung ein, die im Neoabsolutismus versucht worden war. Der Ausgleich von 1867 ermöglichte auf ebenso paradoxe wie komplexe Weise die Integration der beiden Reichshälften der k. u. k. Monarchie – aber um den Preis des Verzichts auf die Bildung eines die ganze Habsburgermonarchie einschließenden Staates.45

45 László Péter, Die Verfassungsentwicklung in Ungarn, in: Rumpler / Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie, Bd. VII/1, S. 239–540, hier S. 504–514; Gerald Stourzh, Der Dualismus 1867 bis 1918: Zur staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Problematik der Doppelmonarchie, in: ebd., S. 1177–1230.

1863: „WAS TUN? AUS ERZÄHLUNGEN VON NEUEN MENSCHEN“ VON NIKOLAJ GAVRILOVIý ýERNYŠEVSKIJ Beate Fieseler „If one were to ask for the title of the nineteenth-century Russian novel that has had the greatest influence on Russian society, it is likely that a non-Russian would choose among the books of the mighty triumvirate – Turgenev, Tolstoy, or Dostoyevsky […] No, the novel that can claim this honor with most justice is N. G. Chernyshevsky’s What Is To Be Done? […] no work in modern literature, with the possible exception of Uncle Tom’s Cabin, can compete with What Is To Be Done? in its effect on human lives and its power to make history. For Chernyshevsky’s novel, far more than Marx’s Capital, supplied the emotional dynamic that eventually went to make the Russian Revolution.“1

Dieser Aussage aus dem Jahr 1967 kann man auch heute, mehr als 40 Jahre später, noch uneingeschränkt zustimmen. Es war gewiss nicht die ästhetische Qualität des Romans „Was tun?“, die dessen gewaltige Wirkung besonders auf die städtische russische Jugend seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts begründete. Was zählte, war vielmehr der utopische Gehalt des Buches, seine dramatische Veröffentlichungsgeschichte und nicht zuletzt die Verfolgung und Bestrafung des Autors durch die zarischen Behörden. ZUR BIOGRAFIE ýERNYŠEVSKIJS Nikolaj Gavriloviþ ýernyševskij (1828–1889), ein Priestersohn aus der Provinzstadt Saratov an der Wolga, gehörte zur raznoþinnaja intelligencija,2 also zur nichtadligen, jedoch hoch gebildeten Schicht kritischer Intellektueller, die es schon in jungen Jahren in der Metropole St. Petersburg als Publizisten zu Prominenz und Meinungsführerschaft brachten. Bevor er in die russische Hauptstadt kam, hatte ýernyševskij, ganz der Tradition seiner Familie folgend, das Priesterseminar von Saratov besucht, wo er aufgrund seiner umfassenden Bildung und intellektuellen Brillanz hervortrat. Als er 18 Jahre alt war, schickten seine Eltern ihn zum Studium nach St. Petersburg. Dort schienen dem ebenso viel versprechenden wie selbstbewussten jungen Mann nach der universitären Ausbildung die Türen für eine akademische Laufbahn offen zu stehen.3 Was ýernyševskij schon 1 2 3

Joseph Frank, N.G. Chernyshevsky: A Russian Utopian, in: Southern Review, 1967, 3, S. 68– 84, hier S. 68. Richard Wortman, The Crisis of Russian Populism, Cambridge 1967, S. 3ff. Zur Biografie ýernyševskijs siehe William F. Woehrlin, Chernyshevskii. The Man and the Journalist, Cambridge 1971; Jurij M. Steklov, N.G. ýernyševskij, ego žizn’ i dejatelnost’,

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in Jugendjahren umtrieb, war die Vorstellung, der Gesellschaft durch die Kraft seines Intellekts dienen zu können und auf diese Weise gesellschaftliche Prominenz, aber auch persönliche Befriedigung zu erlangen. Sein Interesse an säkularen Themen, insbesondere am Verhältnis von Literatur, Ästhetik und Gesellschaft, war schon in Saratov erwacht.4 Während der fünf Petersburger Studienjahre formierte sich dann die Weltanschauung ýernyševskijs zu jenem komplexen Gedankengebäude, mit dem er die überkommene russische Gesellschaftsordnung aus den Angeln heben wollte. Inspiriert wurde er durch die Schriften der französischen Frühsozialisten Charles Fourier und Victor Considérant, die materialistische Philosophie Ludwig Büchners und, mehr noch, Ludwig Feuerbachs,5 die Theorien von Louis Blanc sowie durch die Romane von Jean-Jacques Rousseau, George Sand und Charles Dickens. Unter diesen verschiedenen Einflüssen schwand sein orthodoxer Glaube ebenso dahin wie seine bisherige Billigung des Zarenregimes. 1851 kehrte er als überzeugter Atheist, Materialist und Sozialist nach Saratov zurück. So radikal seine Ideen auch sein mochten, verlief ýernyševskijs Leben zunächst noch in konventionellen Bahnen. Während er in Saratov als Gymnasiallehrer für Literatur arbeitete, wollte er seine akademische Abschlussarbeit fertigstellen, die die Voraussetzung für die angestrebte Universitätslaufbahn war. Außerdem heiratete er 1853 Ol’ga Sokratovna Vasileva, die Tochter eines Provinzarztes – eine materiell anspruchsvolle, launisch-kokette Frau, die für seine Ideen und Theorien nur wenig Interesse aufbringen konnte. Gleichwohl nutzte ýernyševskij diese Ehe als Experimentierfeld für seine persönlichen Vorstellungen von Frauenemanzipation: So nahm er es ganz selbstverständlich auf sich, allein für den Unterhalt des Paares zu sorgen, ließ aber gleichzeitig seiner Frau völlige Freiheit und Unabhängigkeit, von der sie auch ausgiebig Gebrauch machte. ýernyševskij selbst blieb seinen asketisch-altruistischen Idealen treu. Nach St. Petersburg zurückgekehrt, lebte das Paar zunächst mehr schlecht als recht von ýernyševskijs Einkünften aus Unterrichtsstunden, Übersetzungen und Rezensionen. Zusammenstöße mit dem akademischen Lehrer, der ihn bis 1858 an der Verteidigung seiner Abschlussarbeit hinderte, aber auch sein unerwarteter Erfolg als Literaturkritiker zogen ýernyševskij von der reglementierten Wissenschaft weg immer stärker in den Bann des damals blühenden kritischen Journalismus. Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen konnte unter Zensurbedingungen zwar nicht offen geübt werden, aber im Gewand der Literaturkritik ließ sich Vieles sagen. Auf diesem Gebiet fand auch ýernyševskij zu seiner eigentlichen Bestimmung und erlangte schnell Popularität als ebenso scharfsinniger wie scharfzüngiger Beiträger zu den populären „dicken Journalen“, vor allem zur Monatszeitschrift Sovremennik (Der Zeitgenosse), die ihn bald als festen Redakteur einstellte.

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Moskau 21928; E. Lampert, Sons Against Fathers. Studies in Russian Radicalism and Revolution, Oxford 1965, S. 94–225. Michael R. Katz / William Wagner, Chernyshevsky, What Is to Be Done? and the Russian Intelligentsia, in: Nikolai Chernyshevsky, What Is to Be Done?, translated by Michael R. Katz, annotated by William G. Wagner, Ithaca 1989, S. 1–36, hier S. 9–10. Thomas G. Masaryk, Russland und Europa. Studien über die geistigen Strömungen in Russland, Bd. 2, Jena 1913, S. 36–45.

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In den späten fünfziger/frühen sechziger Jahren befand sich das zarische Russland in einer dramatischen Umbruchsituation. Das Debakel des verlorenen Krimkrieges 1856 hatte der Weltöffentlichkeit vor Augen geführt, dass das riesige Vielvölkerreich unter der prunkvollen Oberfläche der Autokratie mit erheblichen wirtschaftlichen, sozialen, militärischen und kulturellen Schwächen behaftet und im Vergleich zu den Ländern Westeuropas ziemlich rückständig war. Das drängendste der vielen ungelösten Probleme und wohl stärkste Modernisierungshindernis war die Leibeigenschaft. Die Bauernbefreiung bildete deshalb den Kern des umfassenden Reformwerks, das Alexander II. (1855–1881) unmittelbar nach seiner Thronbesteigung in Angriff nahm, um den russischen Großmachtambitionen wieder ein tragfähiges gesellschaftliches Fundament zu verschaffen. Zugleich aber wollte der Zar die uneingeschränkte Selbstherrschaft gegen die wachsenden Ansprüche der Bevölkerung auf politische Teilhabe und soziale Mobilität verteidigen. Dies führte zu einer ambivalenten Politik, die viele Hoffnungen, die durch die Reformmaßnahmen geweckt worden waren, wieder enttäuschte. Insgesamt war die Epoche Alexanders II. ebenso sehr eine Zeit der Befreiung und des Aufbruchs wie eine Periode „tiefster Verunsicherung, wachsender Orientierungslosigkeit und ‚sozialer Angst‘“.6 Jedenfalls war die soziale Dynamik, die die Reformen des anfangs als „Zar-Befreier“ gefeierten Alexander II. entfesselten, ungeheuer groß und in allen gesellschaftlichen Schichten spürbar, am stärksten wohl bei der adlig-bürgerlichen Intelligenz der Metropole St. Petersburg. Die Zahl der Männer und Frauen, die zur kritischen intelligencija gehörten, stieg aufgrund der Bildungs- und Universitätsreformen der sechziger Jahre sprunghaft an, aber sie blieben eine winzige Minderheit im überwiegend bäuerlichen Russland. Trotz des Reformeifers „von oben“ wurde den Frauen im Russischen Reich weiterhin Rechtsgleichheit und gesellschaftliche Gleichberechtigung vorenthalten. Bis zur Heirat unterstanden sie der Autorität des Vaters, anschließend der des Ehegatten. In Moralfragen herrschte Bigotterie zu Lasten von Frauen, die Befreiung aus arrangierten Ehen durch Scheidung war kaum möglich. Erkennbare Fortschritte, die vor allem im Bereich der höheren Frauenbildung selbst unter solch restriktiven Bedingungen seit den 1860er Jahren erzielt werden konnten, verdankten sich nur zu einem geringen Teil staatlicher Initiative und Alimentierung, sondern waren das Ergebnis kontinuierlichen gesellschaftlichen Engagements. Doch selbst ein Hochschulabschluss eröffnete Frauen kaum berufliche Perspektiven. Dabei waren insbesondere Frauen aus der Oberschicht, die sich in Folge der Verarmung von Teilen des Adels nicht mehr auf „eine gute Partie“ verlassen konnten, sondern erstmals selbst einen Brotberuf ergreifen mussten, auf ein eigenes Einkommen angewiesen. Doch abgesehen von schlecht bezahlten Tätigkeiten im pädagogischen oder medizinischen Bereich, meist ohne Aufstiegschancen, boten sich nicht viele Möglichkeiten, sieht man einmal von gewissen Nischen im literarisch-künstlerischen oder journalistischen Bereich ab. Eine Minderheit kompen6

Heinz-Dietrich Löwe, Alexander II, in: Hans-Joachim Torke (Hg.), Die russischen Zaren 1547–1917, München 1999, S. 315–338, hier S. 317. Siehe auch Matthias Stadelmann, Die Romanovs, Stuttgart 2008, S. 170–189.

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sierte die unterbliebene professionelle Gleichstellung durch politischen Radikalismus und den Anschluss an die revolutionäre Bewegung. Aber nicht nur die Intelligenz war in Bewegung geraten, es kam auch zu Arbeiterstreiks und zu Aufständen der seit 1861 aus der Leibeigenschaft befreiten Bauern. ýernyševskijs Tätigkeit beim Sovremennik fiel genau in diese auch für kritische Journalisten außerordentlich fruchtbare Aufbruchsituation, und er nutzte das Medium, um seine Vorstellungen über die Zukunft Russlands möglichst weit zu verbreiten. Mit seinem Auftauchen stieg die Auflage der Zeitschrift kontinuierlich an, über Subskriptionen wurde sie bis in unbedeutende Provinzstädte bekannt und damit auch ýernyševskij als radikaler Kritiker der bestehenden Ordnung. Sogar Karl Marx lernte Russisch, um seine Beiträge im Original lesen zu können. ýernyševskij, der sich immer mehr zum Gegner moderater Reformen entwickelte und revolutionäre Aktionen befürwortete, blieb selbst jedoch ein Mann der Feder, wurde nicht zum politischen Aktivisten. Doch das schützte ihn nicht vor Verfolgung. Nachdem im Juni 1862 die Zeitschrift Sovremennik von den Zensurbehörden geschlossen worden war, folgte einen Monat später seine Verhaftung aufgrund fabrizierter Anschuldigungen. Auch wenn es auf ýernyševskij persönlich noch nicht zutraf, so waren viele Mitglieder der anti-autokratischen Opposition der Reformperiode im Unterschied zu den kritischen Geistern der 1830er und 1840er Jahre sehr wohl bereit, sich zu organisieren und zur Tat zu schreiten. Der Titel von ýernyševskijs sozialutopischem Roman, „Was tun?“, den er während seiner knapp zweijährigen Untersuchungshaft verfasste, brachte diese Haltung auf den Punkt: Die Verhältnisse sollten nicht nur reflektiert und kritisiert, sondern durch Handeln verändert, ja revolutioniert werden. Das Werk, welches schnell zum Kultbuch, ja zur „Bibel“ der russischen intelligencija avancierte, lieferte Vorbilder für die Neugestaltung der Geschlechterbeziehungen wie der Gesellschaft insgesamt. Es animierte unzählige junge Leute zur Nachahmung der im Roman skizzierten „neuen Menschen“ und ihrer unkonventionellen Lebensweise,7 aber es löste auch kontroverse Diskussionen innerhalb der literarischen Elite des Russischen Reiches aus. Seine Herkunft aus der Feder eines ehemaligen Seminaristen wollte das Buch mitnichten verleugnen, sondern es strotzte geradezu von christlicher Symbolik.8 Sein Autor wurde 1864 zu 14 Jahren Zwangsarbeit (später auf sieben reduziert) verurteilt, auf die lebenslängliches Exil fern seiner Heimatstadt folgen sollte. Die nächsten 18 Jahre verbrachte ýernyševskij in Armut und Isolation in Sibirien, bevor er sich 1883 in Astrachan’ am Kaspischen Meer niederlassen konnte. 1889 durfte er dann doch nach Saratov zurückkehren, wo er noch im selben Jahr an Erschöpfung und ruinierter Gesundheit starb. Die Erbarmungslosigkeit des zarischen Regimes gegenüber einem seiner schärfsten Kritiker beendete zwar ýernyševskijs journalistische Laufbahn, aber nicht sein literarisch-theoretisches 7 8

Richard Stites, The Women’s Liberation Movement in Russia. Feminism, Nihilism, and Bolshevism, 1860–1930, Princeton 1978, S. 89–99. Siehe dazu Irina Paperno, Chernyshevsky and the Age of Realism. A Study in the Semiotics of Behavior, Stanford 1988, S. 206ff.

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Schaffen. Vor allem machte ihn die politische Verfolgung zu einer Märtyrergestalt, die weithin großes Ansehen genoss; sein Schicksal dürfte die Popularität seiner Schriften also noch deutlich erhöht haben. Dies gilt insbesondere für den Roman „Was tun?“, der von März bis Mai 1863 im wieder zugelassenen Sovremennik erscheinen konnte und schlagartig zum begehrten und entsprechend hoch gehandelten Lektüreobjekt, ja zur Sensation, wurde und Generationen von Leserinnen und Lesern berührt und ihr weiteres Leben geprägt hat.9 DIE PUBLIKATIONSGESCHICHTE DES ROMANS ýernyševskij schrieb den voluminösen Roman „Was tun?“ in rasanter Geschwindigkeit in weniger als vier Monaten während seiner Haft in der Peter-PaulFestung, wo er auf seinen Prozess wartete. Es lag auf der Hand, dass der wegen seiner radikalen Publizistik verfolgte Häftling niemals die Erlaubnis erhalten würde, weiterhin journalistische Beiträge oder theoretische Schriften zu verfassen. So bot die Belletristik ihm den wohl einzigen Ausweg, seine Ideen zu verbreiten – und das sogar mit staatlicher Erlaubnis. Dies in Gestalt von fiktionaler Literatur zu tun, hatte er eigentlich erst für einen späteren Zeitpunkt in seinem Leben vorgesehen, denn er betrachtete die Produktion von Literatur als besonders seriöses Unterfangen: „The frivolity of the form must be compensated for by the solidity of the thought.“10 Doch jetzt hatte ýernyševskij keine andere Wahl als die Gefängnisleitung zu bitten, ihm die Arbeit an einem Roman zu gestatten. Mit behördlicher Zustimmung machte er sich am 14. Dezember 1862 an die Arbeit und schloss das Manuskript am 4. April 1863 ab. Die Zensurbehörde des Gefängnisses erhob keine Einwände gegen die Publikation, vermutlich weil der zuständige Beamte der (irrtümlichen) Auffassung war, es liege bereits eine Veröffentlichungsgenehmigung von höherer Stelle vor. Dabei hatte die Polizeikommission, die ýernyševskijs Fall untersuchte und in diesem Zusammenhang auch den Roman zur Kenntnis nahm, lediglich festgestellt, dass dieser mit dem Prozess nichts zu tun habe.11 So gelangte das Manuskript an den Zensor des Sovremennik, der ihn ebenfalls passieren ließ. Die dramatische Publikationsgeschichte von „Was tun?“ war damit jedoch noch nicht beendet. Denn der Herausgeber der Zeitschrift, Nikolaj Nekrasov, brachte es fertig, das Manuskript auf der Straße zu verlieren.12 Angeblich soll erst eine Such-Anzeige in der offiziellen Zeitung der St. Petersburger Polizei zur Rückgabe des Fundstücks geführt haben: „With what is perhaps the greatest irony of Russian letters, the novel that the police helped to retrieve turned out to be the most subversive and revolutionary work of nineteenth-century 9

Die spätere Publikation in Buchform wurde jedoch bis zur Revolution 1905 nicht gestattet, was aber an der überbordenden Popularität des Romans nichts änderte: Francis B. Randall, N.G. Chernyshevskii, New York 1967, S. 105. 10 Hier zitiert nach: Franco Venturi, Roots of Revolution: A History of the Populist and Socialist Movements in Nineteenth-Century Russia, New York 1966, S. 178. 11 Randall, Chernyshevskii, S. 105. 12 Woehrlin, Chernyshevskii, S. 313; Katz / Wagner, Chernyshevsky, S. 23.

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Russian literature.“13 Nach dieser Aneinanderreihung von Versehen konnte der erste Teil von „Was tun?“ bereits im März 1863 im Sovremennik erscheinen. Seitdem ist der Roman immer wieder (mehr oder weniger vollständig) aufgelegt worden, vor allem in der Sowjetunion und in anderen sozialistischen Staaten, wo er als Vorläufer des Sozialistischen Realismus zum Kanon der Schulliteratur zählte.14 Die jüngste deutsche Ausgabe erschien 1988, die letzte Übersetzung ins Englische stammt aus dem Jahr 1989.15 ZUM INHALT VON „WAS TUN? AUS ERZÄHLUNGEN VON NEUEN MENSCHEN“ „To the modern reader, the novel What Is To Be Done? is an awkward and flimsy construction…“ urteilt der ýernyševskij-Biograf William F. Woehrlin über das Buch.16 Aber was behandelt eigentlich der Roman, der dennoch zum „Alpha und Omega der russischen Jugend, Leitstern, dem eine ganze Generation gefolgt ist“ (Clara Zetkin), aufstieg? Bereits der programmatische Titel weckt große Erwartungen, doch das Buch beginnt eher konventionell wie ein Kriminalroman mit der Geschichte des Selbstmords eines Mannes in St. Petersburg (ohne dass eine Leiche gefunden würde) und dessen Brief an ein junges Paar, in dem es heißt: „Ich störe Eure Ruhe. Ich trete ab. Beklagt mich nicht; ich liebe Euch beide so sehr, daß mich mein Entschluß sehr glücklich macht. Lebt wohl!“17 Mit dieser Nachricht konfrontiert, beschließen die beiden, völlig verzweifelt und voller Schuldgefühle, sich ebenfalls zu trennen. Auf diese Eröffnung folgt ein „Vorwort“, in dem der Autor seinen literarischen „Kunstgriff“ zu Anfang erläutert, auf den glücklichen Ausgang der Geschichte verweist („Die Sache endet fröhlich, bei Becherklang und Liedgesang“18) und seine Leser dann wissen lässt: „Ich besitze keinen Funken künstlerischen Talents. Ich beherrsche nicht einmal die dichterische Sprache. Aber das alles macht nichts. Lies, geschätztes Publikum! Du wirst mich nicht ohne Nutzen lesen. Die Wahrheit ist eine gute Sache: Sie entschädigt für die Mängel eines Schriftstellers, der ihr dient… ich habe dir ja vorher mitgeteilt, daß ich kein Talent besitze – du weißt also jetzt, daß die Erzählung allen Wert lediglich aus ihrer Wahrhaftigkeit schöpft.“19

Erst nach diesen langatmigen Präliminarien beginnt der eigentliche Roman, der vordergründig als Dreiecksliebesgeschichte daherkommt. Die beiden Männer und die Frau, die den Lesern bereits am Anfang begegnet sind, sind ihre Protagonisten 13 Ebd., S. 23. 14 G. Žekulin, Forerunner of Socialist Realism: the Novel „What to do?“ by N.G. Chernyshevsky, in: The Slavonic and East European Review, 1963, 41, S. 467–483. 15 Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski, Was tun? Aus Erzählungen von neuen Menschen, Reinbek bei Hamburg 1988; Chernyshevskii, What Is to Be Done?, Ithaca 1989. 16 Woehrlin, Chernyshevskii, S. 313. 17 Tschernyschewskij, Was tun?, S. 17. 18 Ebd., S. 21. 19 Ebd., S. 22.

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und repräsentieren die titelgebenden „neuen Menschen“. Tatsächlich handelt es sich jedoch um einen Entwicklungsroman, der in sechs Kapiteln entscheidende Wendepunkte im Leben der Romanheldin Vera Pavlovna Rozal’skaja beleuchtet und ihre Entwicklung von einer unterdrückten Tochter hin zu einer selbstbewusst liebenden und ökonomisch unabhängigen Ärztin schildert. Eingewoben in die Romanhandlung sind vier verschiedene Träume der Heldin, die jeweils ihren nächsten Entwicklungsschritt allegorisch verdichtet vorwegnehmen. Das erste Kapitel „Das Leben Wera Pawlownas im Elternhaus“ beschreibt die bigotten familiären Strukturen, unter denen die Heldin aufwächst. Erstaunlicherweise verfügt sie über einen starken Freiheitswillen und widersetzt sich der arrangierten Ehe mit einem ungeliebten Mann. Die erste Stufe ihrer Emanzipation aus traditionellen Zwängen ist erreicht, als Vera mit dem Hauslehrer ihres Bruders, dem Medizinstudenten Lopuchov, der ihre unglückliche Lage erkennt, eine Kameradschaftsehe eingeht (zweites Kapitel: „Erste Liebe und Ehe“). Lopuchov ist ein Vertreter des „rationalen Egoismus“, dessen Loblied ýernyševskij in diesem Buch singt. Das dritte Kapitel „Ehe und zweite Liebe“ schildert die moderne Ehe zwischen Vera Pavlovna und Lopuchov, die sich zwar in einer gemeinsamen Wohnung, jedoch in getrennten Zimmern und unter strenger Beachtung der individuellen Rückzugswünsche der beiden Partner abspielt. In den ersten glücklichen Jahren dieses Zusammenseins versucht Vera Pavlovna sich auch ökonomisch auf eigene Füße zu stellen, indem sie mit großem Geschick eine Nähwerkstatt organisiert, die unter anderem auch „gefallenen Mädchen“ eine Perspektive bietet und sie weiterbildet. In diesem Kapitel gelangt Vera Pavlovna aber auch zu der Erkenntnis, dass sie nicht Lopuchov liebt, mit dem sie verheiratet ist, sondern seinen Freund Kirsanov, ebenfalls Mediziner. Dieser empfindet genau so stark wie sie, hält seine Gefühle aber geheim, ja versucht sie mit allen Mitteln zu bekämpfen. Das großzügige Angebot Lopuchovs an seinen Freund Kirsanov, er könne seine Frau doch regelmäßig als Liebhaber besuchen, lehnt dieser mit Rücksicht auf den Ruf Vera Pavlovnas ab. Da Ehescheidung im zarischen Russland nahezu unmöglich war, gelingt die Auflösung des Liebesdreiecks nur mit folgendem Trick: Lopuchov, der dem neuen Glück nicht im Weg stehen will, macht die Bahn für die Liebenden durch seinen angeblichen Selbstmord frei. Vera und Kirsanov, entsetzt über diese dramatische Folge ihrer Gefühle, wollen sich trennen, doch dann erfährt Vera durch den „außergewöhnlichen Menschen“ Rachmetov, dass Lopuchov noch lebt und nur „den Schauplatz verlassen hat“, um ihre neue Liebe zu ermöglichen. Da Lopuchov als tot gilt, können Vera Pavlovna und Kirsanov die Ehe schließen, die dann im vierten und fünften Kapitel als erfülltes, glückliches Zusammensein geschildert wird. Vera Pavlovna stellt jetzt auch entscheidende Weichen für ihre persönlich-geistige Weiterentwicklung und beginnt, wie die fortschrittlichsten Frauen ihrer Generation, ein Medizinstudium. Lopuchov kehrt später unter dem Namen Beaumont aus den Vereinigten Staaten nach Russland zurück und heiratet ebenfalls eine emanzipierte Frau: „In this way, the stage is set for the two couples finally to come together, and as the novel ends, Vera Pavlovna and Kirsanov are living in delightful and innocent harmony with Lopuk-

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Beate Fieseler hov-Beaumont and Katerina. What the old morality would condemn as bigamy, the new morality reveals as an authentic and truly uncompromised love.“20

Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende, der Autor deutet es selbst an: „[…] und ich verbürge mich dafür, daß die Fortsetzung meiner Erzählung wesentlich interessanter sein wird als das, was ich bisher […] erzählt habe.“21 Was noch folgt, ist ein Winterpicknick, auf dem die vier Gefährten eine geheimnisvolle „Dame in Trauer“ kennenlernen, die andeutet, dass es in zwei Jahren, also 1865, einen „Wechsel der Dekorationen“ geben werde, eine Zeit der Freude: „By this, Chernyshevskii might have meant anything from a simple statement of hope in the future to a declaration of imminent political revolution.“22 Angesichts der Bedingungen, unter denen der Roman verfasst und veröffentlicht wurde, konnte ýernyševskij sich kaum expliziter äußern, sondern musste seine Hoffnungen für die Zukunft Russlands auf vage Andeutungen beschränken. Immerhin wird mit deutlich mehr Detailfreude das Personal vorgeführt, mit dem seine Utopie in die Realität umgesetzt werden sollte. Der eigentliche Held des Romans, seine Lichtgestalt, ist der 22-jährige Rachmetov, „der außergewöhnliche Mensch“, auch „der Rigorist“ genannt, der zwar im Verlauf der Romanhandlung nur einen knappen Auftritt hat, aber zweifellos einer höheren Ordnung Mensch zuzurechnen ist als Vera Pavlovna, Lopuchov, Kirsanov und Katerina: „Leute von Rachmetows Art gibt es wenige.“23 Rachmetov verkörpert den asketischen Revolutionär, der auf alle Annehmlichkeiten verzichtet und sein ganzes Leben in den Dienst der Sache stellt. Er stammt aus dem Hochadel, ist sehr begütert, hat aber den größten Teil seines Vermögens an bedürftige Studenten verteilt. Er ist hochgebildet, besitzt einen gestählten Körper und enorme Willenskraft. So unterzieht er sich immer wieder harten Prüfungen, wie etwa der Nachtruhe auf einem Nagelbrett – um zu testen, ob er sogar das aushalten könne. Mit Überflüssigem gibt er sich nicht ab, er verzichtet auf gutes Essen, Alkohol, Erholung, ja sogar auf die Liebe. „Er war stets vollauf beschäftigt, doch nie mit seinen eigenen Angelegenheiten: Die gab es bei ihm gar nicht. Was er eigentlich zu tun hatte, wußte keiner von uns. Er war viel unterwegs, größtenteils zu Fuß.“24 Man darf annehmen, dass Rachmetov für die Sache der Revolution unterwegs war – unumwunden ausgesprochen werden konnte das unter Zensurbedingungen natürlich nicht. ýernyševskijs Urteil über solche „außergewöhnlichen Menschen“ markiert jedoch seine eigene moralisch-politische Position: „Ihre Zahl ist gering, aber sie machen das Leben der anderen erst lebenswert; ohne sie würde es schal werden und versauern. Ihre Zahl ist gering, aber sie ermöglichen allen Menschen das Atmen; ohne sie würden die Menschen ersticken. Groß ist die Zahl der ehrlichen, guten Menschen, solche hingegen gibt es nur wenige – aber sie sind unter den vielen die Würze, die

20 21 22 23 24

Woehrlin, Chernyshevskii, S. 316. Tschernyschewskij, Was tun?, S. 602. Woehrlin, Chernyshevskii, S. 316. Tschernyschewskij, Was tun?, S. 367. Ebd., S. 382f.

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Blume des edlen Weins; aller Glanz, alle Kraft kommt von ihnen; sie sind die Blüte der Besten; sie gehen den Guten voran; sie sind das Salz der Erde.“25

ýernyševskij präsentiert in der Gestalt des Rachmetov nicht nur sein persönliches menschliches Ideal, sondern er skizziert auch die Freuden des goldenen sozialistischen Zeitalters. Vera Pavlovna darf nämlich in ihrem vierten und letzten Traum einen Blick auf die Gesellschaft der Zukunft werfen und an ýernyševskijs Vision vom Sozialismus teilhaben: „Ein großes, großes Gebäude, so groß, wie heute nur wenige in großen Städten […] Aber dieser riesige Bau – was ist das? Was für eine Architektur? Noch gibt es dergleichen nicht, oder doch, es gibt schon einen Hinweis darauf, den Palast auf dem Hügel von Sydenham: Eisen und Glas – weiter nichts; doch bildet dies gleichsam ein schützendes Gehäuse, darinnen aber ist das richtige Haus, ein riesiges Haus, es wird von diesem Gebäude aus Eisen und Kristall wie von einem Futteral umschlossen; breite Galerien führen um alle Stockwerke. Wie leicht ist die Architektur dieses inneren Hauses: große, hohe Fenster, eines dicht neben dem andern […] Wie reich alles ausgestattet ist! […] Überall sind grünende exotische Gewächse aufgestellt, das ganze Haus ist ein großer Wintergarten.“26

Vorbild ist natürlich der „Kristallpalast“ der Londoner Weltausstellung von 1851, der hier, als Symbol des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, zum Schauplatz der sozialistischen Zukunftsvision erhoben und entsprechend glorifiziert wird. Hingegen hatte ýernyševskijs Zeitgenosse, der Schriftsteller Fëdor Dostoevskij, das Gebäude und die damit verbundene Zukunftserwartung schon 1863 in seinen „Winterlichen Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke“ scharf attackiert und es als Sinnbild der Unterwerfung des modernen (westlichen) Menschen unter den Kapitalismus und den seelenlosen Materialismus (Baal) gedeutet.27 Für Dostoevskij wurde der Kristallpalast damit zum Emblem einer verabscheuungswürdigen Gegenwart und Zukunft, welches er in seinen „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ von 1864 noch mehr verhöhnte und damit natürlich auf die Herausforderung durch ýernyševskijs positive Utopie reagierte.28 ýernyševskijs „Kristallpalast“ ist der utopische Ort schlechthin. Er bietet Raum, Arbeit und Entspannung für alle, gespeist wird gemeinsam an reich ge25 Ebd., S. 390; Rufus W. Mathewson, Jr., The Positive Hero in Russian Literature, Stanford 1975, S. 63–83. Zu den hagiographischen Elementen bei der Konstruktion der Figur des Rachmetov siehe Katerina Clark, The Soviet Novel. History as Ritual, Chicago 1985, S. 50f. 26 Tschernyschewski, Was tun?, S. 506ff. 27 F.M. Dostojewskij, Winterliche Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke, Reinbek bei Hamburg 1962, S. 33f. 28 Fjodor Dostojewski, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, Köln 2008, bes. S. 52–55. Zur Symbolik des „Kristallpalasts“ bei Dostoevskij siehe vor allem Karla Hielscher, „Enzyklopädie der Menschheit“ oder „Prophezeiung der Apokalypse“? Der „Kristallpalast“ als Sinnbild des westlichen Zivilisationsmodells im Denken Fjodor Dostojewskijs, in: Jahrbuch der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft, 2001, 8, S. 122–131. Während Dostoevskij vor allem inhaltlich-theoretisch gegen die Implikationen der Zukunftsvision von ýernyševskij Stellung bezieht, nahm Vladimir Nabokov mit seinem Roman „Die Gabe“ im Jahr 1963, also genau 100 Jahre nach Erscheinen von „Was tun?“, eine ästhetische Abrechnung mit diesem Werk vor: Sergei Davydov, The Gift: Nabokov’s Aesthetic Exorcism of Chernyshevskii, in: Canadian-American Slavic Studies, 1985, 19, S. 357–374.

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deckten geschmückten Tischen, jeden Tag finden Gesangs- und Tanzabende statt, es gibt Theater, Museen, Bibliotheken und spezielle Räume für die sinnliche Liebe. „‚Und alle Menschen werden so leben?‘ – ‚Alle‘, sagte die ältere Schwester, ‚für alle wird ewiger Frühling und Sommer herrschen, ewige Freude […] du hast nun die Zukunft geschaut, sie ist freudvoll und schön, liebt sie, arbeitet für sie, erkämpft sie, ergreift von ihr für die Gegenwart, soviel ihr ergreifen könnt, euer Leben wird so schön und so gut sein, so reich an Freude und Genuß, soviel Zukünftiges ihr hineintragen könnt.‘“29

DIE LITERARISCHE DEBATTE UM RUSSLANDS ZUKUNFT Der Roman „Was tun?“ rief nicht nur äußerst kontroverse Reaktionen zeitgenössischer Schriftsteller hervor, sondern war selbst Teil einer bereits stattfindenden, mit literarischen Mitteln ausgetragenen Debatte über gesellschaftliche Veränderungen und die Zukunft Russlands. ýernyševskij verstand sein Buch in erster Linie als direkte Replik auf den Roman „Väter und Söhne“ (1862) des liberalen Adligen Ivan Turgenev und dessen Rezeption durch die Literaturkritik.30 Der Protagonist, der junge Arzt Bazarov, steht für den Generations- und Weltanschauungskonflikt, der zwischen „Vätern“ und „Söhnen“ in den späten fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts entbrannt war. Als „Nihilist“ erkennt Bazarov keine Autoritäten an und bekämpft in geradezu ikonoklastischer Weise überkommene Traditionen und die alte Ordnung. Als radikaler Rationalist ist er Verfechter eines Materialismus, der allein auf den praktischen Nutzen abzielt. Doch entgegen allen seinen Prinzipien verliebt er sich unsterblich in die unabhängig-kühle Witwe Odincova, kann aber ihre Liebe nicht erringen. Sein früher Tod durch eine Typhusinfektion unterstreicht nur sein allgemeines Scheitern.31 Manche Radikale fühlten sich durch das wenig schmeichelhafte literarische Porträt, das Turgenev von einem „Nihilisten“ entworfen hatte, verunglimpft, hielten die Figur des Bazarov für eine bösartige Karikatur ihrer Absichten und lehnten deshalb den Roman in Bausch und Bogen ab. Turgenevs Entgegnung, „er habe mit seinem Werk nicht die junge Generation beleidigen, sondern das Neue zeigen wollen, das er gespürt habe“, trug kaum zur Aussöhnung bei.32 ýernyševskij und seine Anhänger konnten kein Verständnis für Turgenev und seine Romanfigur aufbringen.

29 Tschernyschewski, Was tun?, S. 510, 517. 30 Innerhalb der literarischen Tradition Russlands dürfte auch Aleksandr Gercens Roman „Wer ist schuld?“ (1847), der ebenfalls ein Dreiecksverhältnis thematisiert, Einfluss auf „Was tun?“ ausgeübt haben, siehe Wagner / Katz, Chernyshevsky, S. 25f. 31 Ivan Turgenev, Fathers and Children, Translated and Edited by Michael R. Katz, New York 2009. Zum Romanwerk von Ivan Turgenev innerhalb der literarischen Diskussion der sechziger Jahre siehe auch Bianka Pietrow-Ennker, Rußlands „neue Menschen“. Die Entwicklung der Frauenbewegung von den Anfängen bis zur Oktoberrevolution, Frankfurt am Main 1999, S. 27ff. 32 Reinhard Lauer, Geschichte der russischen Literatur, München 2000, S. 343.

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Anders der Literaturkritiker Dmitrij Pisarev, der „Väter und Söhne“ und dessen tragischen Helden Bazarov mit einer ausführlichen Rezension würdigte. Darin schilderte er diesen als einen seinen Mitmenschen weit überlegenen Typus, einen „neuen Menschen“ also, der allerdings im Rahmen der herrschenden Verhältnisse noch kein geeignetes Betätigungsfeld für seine Kraft und Energie finden konnte und deshalb habe scheitern müssen. Die Rezension endete mit den Worten: „But what is to be done? What is to be done? We must live while we are alive, eat dry bread if there is no roast beef […] and, in general, we must not dream about orange trees and palms, when under foot are snowdrifts and the cold tundra.“33

Die Antwort auf die Frage nach den Handlungsoptionen, an der Bazarov gescheitert ist und die Pisarev vor sich her schiebt, lieferte dann ýernyševskij mit seinem Roman „Was tun?“, der wie eine Bombe einschlug. Er empfahl seinen Lesern nicht, geduldig abzuwarten, sondern präsentierte ihnen „neue Menschen“, die bereits damit begonnen hatten, die russische Gesellschaft grundlegend zu verändern. Es waren fortschrittlich-radikale raznoþincy, Männer wie Frauen gleichermaßen, die ihr Leben selbstbewusst nach neuen emotionalen und sozialen Prinzipien gestalteten und von ihrer eigenen Arbeit lebten. Diese neuen Lebensmodelle entsprangen mitnichten allein ýernyševskijs zukunftsweisender Fantasie, sondern das Leben lieferte bereits einige Beispiele dafür, wie Mitglieder der intelligencija mit Dreiecksbeziehungen experimentierten.34 Dass die zeitgenössischen Leser genau auf solche „Rezepte“ erpicht waren und ein künstlerisch wertloser Roman damit sogar die bedeutendsten literarischen Werke in den Schatten stellte, mussten auch die Gegner ýernyševskijs einräumen. So hieß es etwa in dem gegen den Roman gerichteten Pamphlet eines Professors der Universität Odessa: „What Is to Be Done? is not only an encyclopedia, a reference book, but a codex for the practical application of the new word […] In the guise of a novel (an awkward novel, an extremely coarse one), a complete guide to the remaking of social relations is offered: most important, to the remaking of relations between men and women […] In my sixteen years at the university I never did meet a student who had not read the famous novel while he was still in school. A fifth- or sixth-grade girl was considered a fool if she was unacquainted with the adventures of Vera Pavlovna. In this respect, the works, for example, of Turgenev or Goncharov – not to mention Gogol or Pushkin – are far behind the novel What Is to Be Done?“35

INTENTION UND WIRKUNG VON „WAS TUN?“ „By almost any artistic standards, contemporary or Victorian, What Is To Be Done? is simply a bad novel“ urteilt N.G.O. Pereira über das Werk.36 Aber ebenso unbestritten ist die ungeheure Wirkung des Romans – trotz seiner künstlerischen 33 Dmitry I. Pisarev, Bazarov, in: Turgenev, Fathers and Children, S. 193–215, hier S. 214f. 34 Man denke z. B. an die Liebesdreiecke Bokov-Bokova-Seþenov oder Šelgunov-ŠelgunovaMichajlov. 35 Hier zitiert nach Paperno, Chernyshevsky and the Age of Realism, S. 28. 36 N.G.O. Pereira, The Thought and Teachings of N. G. ýernyševskij, Den Haag 1975, S. 85.

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Defizite. Wie Irina Paperno betont, liegt das Geheimnis seines Erfolgs in der einzigartigen Integration diverser Traditionen, die zur Zeit seines Erscheinens große Bedeutung besaßen: russische Orthodoxie, französischer Frühsozialismus, linker Hegelianismus, englischer Utilitarismus, positivistischer Szientismus, ästhetischer Realismus und Reste von Idealismus und Romantizismus. Die Verschmelzung dieser heterogenen Elemente im Roman stehe für Kontinuität und revolutionären Wandel, für Universalismus und nationale Spezifik in der Entwicklung der russischen Kultur.37 ýernyševskij glaubte an die unbeschränkte Macht des menschlichen Verstandes, die Welt ebenso wie individuelle Lebenswege nach „rationalen“ Prinzipien gestalten zu können, eine Auffassung, die für das Zeitalter des Realismus typisch war. Dahinter stand aber auch der Glaube an die unbeschränkte Macht der Kunst. Deshalb war es auch kein Zufall, dass ausgerechnet ein Roman (also ein Werk der Kunst) diese Überzeugung transportieren und verbreiten sollte. Im Zeitalter des Realismus waren dafür aber keine ästhetischen Raffinessen nötig, sondern ýernyševskij bediente sich bewusst der Anti-Ästhetik: „The idea of a bad writer, that is, a writer who is aesthetically inept and whose role is not that of the poet, but that of a practical man (a man of action), a political activist and popularizer of science, became an integral part of the epochal model. Chernyshevsky’s novel fulfilled its role not in spite of its artistic faults, but rather because of them. In this sense, he was right when he declared in the preface to his novel that his lack of artistic talent was of no importance and that his novel could be placed above the celebrated works of famous authors.“38

Unter Zensurbedingungen konnte der Roman vor allem Veränderungen im privaten Leben an ganz konkreten lokalen Beispielen thematisieren, doch der in Andeutungen mitgelieferte Gesellschaftsentwurf war radikal utopisch und universal.39 Schließlich ging es um die drängendsten ungelösten Fragen der sechziger Jahre: die Frauenfrage, die Frage nach sozialer Gerechtigkeit, die Frage nach der Rolle der intelligencija sowie ganz allgemein die Frage nach der Zukunft Russlands: „According to Chernyshevskii […] the individual should go forward as far as he can, and should urge others forward as far as his conscience allows him, knowing that the dangers are terrible.“40 Die subjektive, also die individuellpersönliche mit der gesellschaftlichen Befreiung gedanklich verbunden zu haben, machte das eigentlich Neue, die Originalität von ýernyševskijs Roman aus und erklärt seinen exorbitanten Erfolg. Es war genau dieser romantisch-sentimentale Idealismus, der Optimismus, die Hoffnung auf unmittelbare Veränderung, die es nährte, welche das Buch quasi über Nacht zur Sensation, ja zur „Bibel“ der radikalen Jugend werden ließ und seine Hauptfiguren zu deren Idealen. Die Reaktion auf „Was tun?“ war spontan und leidenschaftlich, sie grenzte an Ekstase. Zum einen bildete der Roman eine schon ansatzweise existierende Realität ab, für sehr viele, vor allem junge Leser 37 Paperno, Chernyshevsky and the Age of Realism, S. 221. 38 Ebd. 39 Susan K. Morrissey, Heralds of Revolution. Russian Students and the Mythologies of Radicalism, New York 1998, S. 21. 40 Randall, Chernyshevskii, S. 130.

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lieferte er Stoff zur Nachahmung, eine Art Anleitung zur Gestaltung des eigenen Lebens und zu gesellschaftlichem Handeln: Fiktive Ehen wurden geschlossen, unzählige Wohnkommunen entstanden, kooperative Werkstätten nach dem Vorbild von „Was tun?“ wurden gegründet, die revolutionäre Bewegung formierte sich, 1864 entstand die I. Internationale, die auch über eine russische Sektion verfügte. Die meisten dieser Experimente scheiterten jedoch, zumeist am persönlichen Unvermögen der Beteiligten, aber auch am Repressionsapparat des Zarenregimes.41 Aber das tat der Inspiration, der suggestiven Kraft, die von dem Buch ausging, keinen Abbruch. Nicht nur die jungen Leute der sechziger Jahre sondern auch noch Vertreter späterer Generationen identifizierten sich mit den Protagonisten aus „Was tun?“, fanden in diesen die Bestätigung dafür, auf dem richtigen Weg zu sein oder sie bewunderten einfach die Utopie, die der Roman bereithielt. Dessen Wirkung war allenthalben so greifbar, dass der Publizist Aleksandr Gercen davon sprach, nahezu die gesamte Generation junger Leute in Russland nach 1863 sei aus „Was tun?“ entsprungen.42 Auch der „Vater des russischen Marxismus“, Georgij Plechanov, äußerte sich ganz ähnlich: „Wer hat dieses berühmte Werk nicht gelesen und abermals gelesen? Wer war nicht davon begeistert, wer wurde unter seinem wohltätigen Einfluss nicht reiner, besser, frischer und mutiger? Wen hat nicht die moralische Reinheit der Protagonisten verblüfft? Wer hat nach der Lektüre dieses Romans nicht über sein persönliches Leben nachgedacht und seine eigenen Bestrebungen und Neigungen einer strengen Prüfung unterzogen? Wir alle schöpften daraus moralische Kraft und den Glauben an eine bessere Zukunft.“43

Und noch das Gründungsmitglied der späteren Kommunistischen Partei, Vladimir Il’iþ Lenin, der der Generation der Nachgeborenen angehörte, verehrte ýernyševskij geradezu hymnisch und verteidigte ihn als größten und talentiertesten Repräsentanten des Sozialismus vor Marx: „Unter seinem Einfluss wurden Hunderte von Menschen zu Revolutionären […] Er prägte mich mehr als irgendjemand sonst […] Nach der Exekution meines Bruders und im Wissen darum, dass ýernyševskijs Roman eines seiner Lieblingsbücher gewesen war, machte ich mich daran, es zu lesen, und ich verbrachte nicht nur einige Tage, sondern eine Reihe von Wochen damit. Erst dann verstand ich seinen tieferen Sinn. Es ist etwas, das Energie für ein ganzes Leben liefert.“44

Seine Referenz erwies Lenin dem inzwischen verstorbenen Autor dann 1902 in aller Form, als er seine eigene programmatische Schrift über die Organisationsform der revolutionären Partei ebenfalls „Was tun?“ nannte und sich darin für eine Partei der Berufsrevolutionäre aussprach, für die bei ýernyševskij einst die Ro41 Barbara A. Engel, Mothers and Daughters. Women of the Intelligentsia in NineteenthCentury Russia, Cambridge 1983, S. 74–81. 42 Frederick S. Barghoorn, The Philosophic Outlook of Chernyshevski: Materialism and Utilitarianism, in: American Slavic and East European Review, 1947, 6, S. 42–56, hier S. 51. 43 G.V. Plechanov, Soþinenija, Bd. V, Moskau 1925, S. 114. 44 Nikolaj Valentinov, ýernyševskij i Lenin, in: Novyj Žurnal, 1951, 26, S. 193–216, hier S. 193f. Vgl. auch Nikolay Valentinov (N.V. Volsky), Encounters with Lenin, London 1968, S. 63f.

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manfigur Rachmetov Modell gestanden hatte. Später setzte sich in der Sowjetunion diese auf Lenin zurückgehende kanonisierte Sichtweise durch, die das Werk nur noch als „Leitfaden für den Berufsrevolutionär“ interpretierte: „Chernyshevski’s greatest service lay in the fact that he not only demonstrated the necessity for every correctly thinking and really honest man to become a revolutionary, but also something else, still more important. [He showed] what the revolutionary must be like, what his rules must be, how he must go about attaining his goals and by what methods and means he can bring about their realization.“45

Damit rückte der bei ýernyševskij so zentrale Aspekt der subjektiven Befreiung, für den Lenin sich offensichtlich weitaus weniger interessierte als für die Weltrevolution, natürlich vollkommen in den Hintergrund, gleichsam als sei die langatmig ausgebreitete Liebes- und Ehegeschichte zwischen Vera Pavlovna, Lopuchov und Kirsanov nur die „Kulisse“, hinter der sich die zwar nur angedeutete, aber eigentlich zukunftsweisende Aktivität von Rachmetov entfalten sollte. Doch in der Epoche, als der Roman erschien und sofort massenhaft rezipiert, von Hand kopiert und so schnell wie möglich weiter verbreitet wurde, bediente „Was tun?“ vielerlei Sehnsüchte und Fantasien. Denn das Buch hielt wie kein anderes zeitgenössisches Werk ganz verschiedene positive Helden und Identifikationsmuster bereit. Je nach politischer Ausrichtung oder Lebenssituation konnten die Leserinnen und Leser ihm unterschiedliche Botschaften entnehmen. Nihilisten lasen „Was tun?“ als Anleitung zur persönlichen Emanzipation und sexuellen Befreiung, Feministinnen sahen sich in ihrem Streben nach Bildung, ökonomischer Unabhängigkeit und gegenseitiger Unterstützung bestätigt. Beide Richtungen orientierten sich an der Heldin Vera Pavlovna. Diesen verschiedenen Gruppen ging es in erster Linie um ihre subjektive Befreiung, und der Riesenerfolg des Buches erklärt sich wohl vor allem daher, dass sie sich in diesen Bestrebungen vom Autor ernst genommen und nicht für ein abstraktes Programm instrumentalisiert fühlten. Wie wichtig ýernyševskij selbst dieser persönliche Aspekt war, zeigt sein eigenes Verhalten im privaten Leben. Lediglich die radikalen Aktivisten griffen genau jene Seiten auf, die der Verfasser nur vage angedeutet hatte, nämlich die revolutionäre Umgestaltung der russischen Gesellschaft und ihre Befreiung aus den Fesseln der Autokratie. Für Anhänger dieser Richtung, vor allem für Lenin, wurde der geheimnisvolle Rachmetov zur Leitfigur. Bedenkt man, welch nachhaltige Wirkung von dieser literarischen Gestalt ausging, wie sehr ihre Epigonen den Fortgang der russischen Geschichte geprägt haben, so kann das Jahr 1863 wohl zu Recht als eines der Schlüsseljahre der russischen Geschichte gelten.46 ýernyševskij hat mit „Was tun?“ tatsächlich jene Wirkung erzielt, die er bereits als sehr junger Mann selbstbewusst für sich in Anspruch nahm, nämlich als eines von Gottes wichtigsten Instrumenten dazu be-

45 N.V. Valentinov, The Early Years of Lenin, Ann Arbor 1969, S. 196. 46 Vgl. Adam Ulam, Ideologies and Illusions. Revolutionary Thought from Herzen to Solzhenitsyn, Cambridge 1976, S. 28ff.

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stimmt zu sein, den Kurs der Geschichte zu ändern.47 Dies ist ihm mit einem literarisch fragwürdigen, aber unvergleichlich wirkungsvollen Roman in der Tat gelungen.

47 Avrahm Yarmolinsky, Road to Revolution. A Century of Russian Radicalism, Princeton 1986, S. 94.

„AUFSTAND DER VIERZEHN“. 1863 ALS SCHLÜSSELJAHR FÜR DIE BILDENDE KUNST IN RUSSLAND Gertrud Pickhan „1863 ertönte ein Donnerschlag, die Atmosphäre der russischen Kunst bereinigte sich, und eine strahlende Sonne ging an ihrem Horizont auf. Eine Handvoll junger Künstler, arm, hilflos, schwach, hat etwas bewirkt, was nur Riesen oder Athleten zuzutrauen wäre. Sie stellten alle alten Regeln und Verhältnisse auf den Kopf und schüttelten die jahrhundertealten Ketten ab. Das war der Beginn der neuen Kunst.“1

Mit diesen Worten würdigte der Kunstkritiker Vladimir Stasov, der als wichtigster Ideologe der russischen Nationalkultur in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gilt, drei Jahrzehnte nach dem Austritt von vierzehn Kunststudenten aus der ehrwürdigen Kaiserlichen Kunstakademie in Sankt Petersburg deren mutiges Verhalten und seine nachhaltigen Auswirkungen auf die Entwicklung der bildenden Kunst in Russland. Unmittelbarer Anlass seines Aufsatzes „Ist Zwist zwischen Künstlern gut?“ war die Sezessionsbewegung in Paris, New York und München, wo es in den 1890er Jahren zu Abspaltungen von den dominierenden konservativen Künstlervereinigungen kam und freie, selbstverwaltete Genossenschaften entstanden.2 Zu Recht verwies Stasov darauf, dass Russland mit der von den aufmüpfigen Kunststudenten gegründeten Genossenschaft und der 1871 ins Leben gerufenen Künstlervereinigung der „Wanderer“ (russisch: Peredvižniki, abgeleitet von Tovarišþestvo Peredvižnych Chudožestvennych Vystavok, Genossenschaft für künstlerische Wanderausstellungen) in Hinblick auf die Emanzipation von staatlicher Bevormundung und einem konservativen Kunstverständnis eine Vorreiterrolle hatte. Die russischen Maler demonstrierten bereits zwei Jahrzehnte vor ihren westlichen Kollegen, dass es möglich war, durch gemeinschaftliches Engagement ein landesweites Ausstellungsnetz jenseits staatlicher Strukturen zu organisieren, das den beteiligten Künstlern nicht nur zu großer Popularität verhalf, sondern auch zu einem wirtschaftlichen Erfolgsmodell wurde. Die Wanderer und ihre aus dem „Aufstand der Vierzehn“ hervorgegangene Vorläuferorganisation prägten mit ihrem Konzept des Kritischen Realismus die russische Kunstszene bis weit in die 1890er Jahre. Dass sie in der Sowjetunion als 1 2

Vladimir V. Stasov, Choroša li rozn’ meždu chudožnikami?, in: Vladimir V. Stasov, Izbrannye soþinenija v 3-ch tomach, Bd. 3, Moskau 1952, S. 147–169, hier S. 167. Zur Entwicklung im deutschsprachigen Raum siehe Bettina Best, Secession und Secessionen. Idee und Organisation einer Kunstbewegung um die Jahrhundertwende. Eine vergleichende Darstellung der Interaktionen, Aktivitäten und Programme der deutschsprachigen Künstlervereinigungen der Secession, München 2000.

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Vorläufer des staatlich verordneten „Sozrealismus“ vereinnahmt wurden, hat sie sowohl im westlichen Ausland wie auch im postsozialistischen Russland in gewisser Weise diskreditiert. Auch wenn die Osteuropa-Historiographie im Zuge des iconic turn in jüngster Zeit die Bilder als Quellen (wieder-) entdeckt hat,3 spielt der Kritische Realismus der 1860er bis 1890er Jahre dabei bislang kaum eine Rolle, was möglicherweise auch auf die Instrumentalisierung und damit gleichsam visuelle Abnutzung der Bilder in der Sowjetzeit zurückzuführen ist. Dabei wäre auch eine andere Sichtweise möglich: Trotz unterschiedlicher Urteile über die Bedeutung der Wanderer, auf die im Folgenden noch einzugehen sein wird, besteht in der kunstgeschichtlichen Forschung ein Konsens darüber, dass sie sich durch eine tiefe Menschlichkeit und den Ausdruck von Empathie und Wertschätzung auszeichnen. Damit boten sie den Betrachtenden in einem staatssozialistischen Regime, das mitunter menschenverachtende Züge annahm, die Möglichkeit zur temporären Flucht in eine andere, bessere Gedanken- und Vorstellungswelt, die in diesen Bildern visualisiert wurde. Dass die Gemälde der Wanderer auch Historikerinnen und Historikern ein reichhaltiges Quellenmaterial liefern, stellte bereits 1878 ein Zeitgenosse, der Kunstkritiker Adrian Prachov in die Zukunft blickend fest: „Ein visuelles Porträt der Geschichte unserer Zeit, das in der jüngsten russischen sozialen Genremalerei präsentiert wird, wird es dem zukünftigen Historiker möglich machen, in jede Ecke hineinzuschauen, die von den heutigen Künstlern und Menschen mit so viel Liebe und Sympathie wahrgenommen wird. Dieser Historiker wird den signifikanten Tatbestand natürlich nicht übersehen, dass das Leben der oberen Gesellschaftsschichten auf den Gemälden mit sozialen Themen völlig abwesend ist, dass dieses Genre noch nicht einmal bereit ist, sich den Stadtbewohnern zu widmen, sondern stattdessen das Leben des russischen Bauern mit bemerkenswerter Leidenschaft behandelt, und dass es, um Turgenevs Diktum zu benutzen, dem kleinsten Detail Leben eingehaucht hat.“4

Schlaglichtartig wird hier die gesellschaftspolitische Codierung des Kritischen Realismus aus zeitgenössischer Sicht deutlich. Dies entspricht einem Narrativ, das sich bereits in der Kunstkritik der 1860er und 1870er Jahre findet und unter sowjetischen Vorzeichen fortsetzte und festigte. Den Versuch einer Dekonstruktion der Mythen, die sich um die Wanderer rankten, unternahm die amerikanische Kunsthistorikerin Elizabeth Kridl Valkenier 1989.5 Jedoch liefert sie mit ihrer Studie zur Geschichte der Wanderer in ihrem gesellschaftlichen und politischen Umfeld eine andere Erzählung, die einem bürgerlichen Trauerstück gleicht: Aus jugendlichen Rebellen der Reformära der 1860er Jahre werden bei Valkenier arrivierte Künstler der 1890er Jahre, die sich in den Dienst des Nationalismus stellen, 3 4 5

Zu nennen sind beispielsweise Christopher Ely, This Meager Nature. Landscape and National Identity in Imperial Russia, DeKalb 2002 und Valerie A. Kivelson / Joan Neuberger (Hg.), Picturing Russia. Explorations in Visual Culture, New Haven 2008. Zitiert nach Selected Excerpts of Art Criticism, 1863–1904, in: Elizabeth Kridl Valkenier (Hg.), The Wanderers. Masters of 19th Century Russian Painting, Dallas 1991, S. 185–201, hier S. 189. Elizabeth K. Valkenier, Russian Realist Art. The State and Society: the Peredvizhniki and their Tradition, New York 1989.

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dem Staat andienen und damit ihre alten Ideale verraten. Als Schurken fungieren der Kunstkritiker Stasov und der Kunstsammler und Museumsgründer Pavel Tretjakov, die die Maler nach Valkenier mit nationalistischem Gedankengut infizierten. Als Leitbegriffe und Maßstab für das Handeln der Künstler dienen Liberalismus und Zivilgesellschaft, die eindeutig vom Wertekanon einer US-amerikanischen Intellektuellen geprägt sind. Dies verweist auf ein Kernproblem historischer Darstellungen: die Verflechtung von „res factae“ und „res fictae“, die Reinhard Koselleck bereits 1976 analysierte.6 Die sprachliche Konstitution von Geschichte ist demnach nie deckungsgleich mit der geschichtlichen Wirklichkeit. Koselleck leitet daraus ab, dass fiktionale Texte – er nutzt erzählte Träume als Beispiel – sehr wohl als historische Quellen dienen können. Gleiches gilt für künstlerische Artefakte und Bilder. So analysiert Bernd Roeck Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit, indem er nach der „Welt im Kunstwerk“ und dem „Kunstwerk in der Welt“ fragt.7 Prägnanter ist ein geschichtswissenschaftlicher Zugang zu Bildern als Spuren der Vergangenheit wohl kaum zu formulieren. Der „Aufstand der Vierzehn“ verweist auf die Künstler als historische Akteure. Der mutige Protest der begabtesten Studenten der Petersburger Kunstakademie setzte eine Bewegung in Gang, die die russische Kunstgeschichte für viele Jahrzehnte prägte. Sie speiste sich aus Zeitgeistströmungen und wirkte ihrerseits tief in die russische Gesellschaft hinein. Im Bereich der Kunst war dies die Spielart einer russischen Moderne, in der sich das von Nancy Fraser benannte „dreifache Versprechen der Moderne“ wiederfindet, denn auch den Künstlern in Russland ging es bei ihrem Aufbegehren und den späteren Zusammenschlüssen um persönliche Autonomie, Emanzipation von Bevormundungen und ein gleichberechtigtes Miteinander. Bis 1863 hatte die Kaiserliche Akademie der Künste eine Monopolstellung im Kunstleben des Russländischen Reiches. Sie wurde 1757 auf Initiative des Grafen Šuvalov gegründet und war auf das Engste mit der Staatsmacht verbunden. 1764 veranlasste Katharina II. den Bau eines prächtigen Gebäudes am Ufer der Neva und erließ ein neues Statut. Fortan prägten Disziplin und bürokratische Vorschriften den Alltag der Studenten, die bereits im Kindesalter aufgenommen wurden; erst im 19. Jahrhundert wurde das Eintrittsalter auf 16 Jahre heraufgesetzt.8 1843 verfügte Nikolaus I., dass ein Mitglied der kaiserlichen Familie an der Spitze der Akademie stehen müsse, und unterstellte sie der kaiserlichen Hofhaltung. Zudem wurde in seiner Herrschaftszeit ein strenges und kompliziertes Reglement von Abschlussprüfungen eingeführt, die das zukünftige Schicksal der Absolventen maßgeblich prägten. Nur mit einer großen Goldmedaille war eine Stelle im Staatsdienst, verbunden mit etlichen Privilegien wie einer Dienstwohnung und 6 7 8

Reinhart Koselleck, Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, 2007, 1, S. 39–54. Bernd Roeck, Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit. Von der Renaissance zur Revolution, Göttingen 2004. Ivan Repin, Fernes und Nahes. Erinnerungen, Berlin 1970, S. 6–7.

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einem mehrjährigen Auslandsstipendium, sicher, die Silbermedaille versprach immerhin noch eine Anwartschaft auf den Staatsdienst, während diejenigen, die keine Medaille errungen hatten, ihr Dasein meist als mittellose Zeichenlehrer ohne fachdidaktische Ausbildung fristen mussten.9 Unter den Studenten der Akademie fanden sich kaum Adlige, da mit einem Künstlerdiplom kein großes Sozialprestige verbunden war. Die Akademie rekrutierte ihre Zöglinge daher vor allem aus der heterogenen Bevölkerungsgruppe der Raznoþincy (Angehörige verschiedener Stände), vertreten waren neben Söhnen aus überwiegend kleinbürgerlichen Milieus auch Kinder von Leibeigenen. Das Bildprogramm der Akademie wurde bestimmt durch die Formel „Schönheit und Wahrheit“; die Darstellung von Wirklichkeit galt als Profanierung der Kunst. Gemäß der neoklassizistischen Stilrichtung bevorzugte man im 19. Jahrhundert mythologische und antike Sujets. Die 1843 in Moskau gegründete Kunsthochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur war der Akademie in Sankt Petersburg nachgeordnet. Um eine Medaille zu erhalten, mussten sich die Studenten in die Hauptstadt begeben. Jedoch war die Moskauer Kunsthochschule nicht auf staatliche Initiative, sondern aus der Künstlerklasse der Moskauer Gesellschaft für Kunstliebhaber heraus entstanden. Anders als in Sankt Petersburg hatte die zunächst noch biedermeierlich geprägte Genremalerei in Moskau einen höheren Stellenwert. Das einfache Volk kam erst nach den Napoleonischen Kriegen ins Bild. Die idyllischen Landszenen Aleksej Venecianovs (1780–1847), dessen Bäuerinnen noch wie antike Göttinnen anmuten, ermöglichten ein „erstes Hineinblicken in eine neue, noch unbekannte Welt“.10 Während Venecianov in der russischen Kunstgeschichte als Begründer der bäuerlichen Genremalerei gilt, war Pavel Fedotov (1815–1852) der erste russische Maler, der seine Sujets in der Stadtbevölkerung suchte. Fedotov war Absolvent der Moskauer Kadettenanstalt und leistete zunächst Militärdienst in Sankt Petersburg, bevor ihn der Fabeldichter Krylov motivierte, sich ganz der Malerei zu widmen. In der Folgezeit gelang Fedotov, der Abendkurse an der Akademie besucht hatte, eine Visualisierung des nikolaitischen Zeitalters. Als sein Gemälde „Die Brautwerbung des Majors“ bei der Jahresausstellung der Akademie gezeigt wurde, zog es deutlich mehr Aufmerksamkeit auf sich als andere Bilder im neoklassizistischen Stil. Fedotov erzählt in diesem Bild die Geschichte eines Handels: Ein arrogant und überheblich wirkender Major verspricht sich von der Ehe mit einer Kaufmannstochter, die auf traditionelle Art durch einen Heiratsvermittler eingefädelt wird, materiellen Gewinn, während der Brautvater auf die Hebung seiner Stellung in der Gesellschaft hofft. Die soziale Kluft zwischen dem Bräutigam und der Familie der Braut wird von Fedotov durch Interieur, Kleidung und eine sich lausende Katze angedeutet, jedoch noch nicht im Sinne einer Anklage gestaltet.

9 Valkenier, Russian Realist Art, S. 7–10. 10 Gerhard Hallmann, Russische Realisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Rosenheim 1989, S. 13–14.

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Nach Fedotovs frühem Tod galt Vasilij Perov (1833–1882) als sein Nachfolger. Er kann als erster Vertreter des Kritischen Realismus angesehen werden.11 Perov war der uneheliche Sohn eines Staatsanwalts in der Provinz und kam 1853 zum Studium an die Moskauer Kunsthochschule. Schon nach wenigen Jahren erhielt er die begehrten Silber- und Goldmedaillen, die ihm ein dreijähriges Reisestipendium eintrugen. Jedoch zog es ihn vorzeitig zurück in die Heimat. Hier taucht erstmals ein Motiv auf, das sich später bei anderen Künstlern wiederholen sollte: Das westliche Ausland wird nicht mehr als nachahmenswertes Vorbild gesehen, stattdessen überwiegt die Wertschätzung des „Eigenen“. Nach seiner Rückkehr malte Perov dann seine bekanntesten sozialkritischen Werke, die in der Sowjetunion immer wieder als Ikonen der sozialen Not im Zarenreich zitiert wurden. Dass er Professor der Moskauer Kunsthochschule werden konnte, war bereits dem neuen Zeitgeist der Reformära unter Alexander II. geschuldet, wäre aber an der konservativen Petersburger Kunstakademie wohl kaum möglich gewesen. Als dort 1861 Perovs „Osterprozession auf dem Lande“ ausgestellt wurde, musste das Gemälde schon nach kurzer Zeit auf Befehl der Obrigkeit wieder abgehängt werden. Grund dafür war die zentrale Figur eines betrunkenen Geistlichen, die als Beleidigung der staatstragenden orthodoxen Kirche angesehen wurde.12 Es waren staatliche Eingriffe in die Kunst wie diese, die die kritischen Geister der Zeit auf den Plan riefen. Bereits 1855 war Nikolaj ýernyševskij in seiner Dissertation „Das ästhetische Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit“ zu dem Schluss gekommen, dass das Leben das eigentliche „Schöne und Wahre“ sei. Vom Künstler erwartete er nach Carol Adlam „an active reproduction of essential features of all aspects of reality, ordered in such a way as to explain, and not just record the world“.13 Auch Aleksandr Gercen und Nikolaj Ogarev beschäftigten sich in ihrem Londoner Exil mit der Lage der Kunst in Russland. Sie betrachteten die Künstler als Leibeigene des Hofs und forderten sie auf, sich von der Akademie zu lösen und in ihren Gemälden die sozialen Missstände in Russland anzuprangern. Valkenier sieht darin einen „call for action“, dem die rebellischen Kunststudenten 1863 folgten.14 Vierzehn Studenten der Akademie wurden im Herbst 1863 als Klassenbeste aufgefordert, sich um die Goldmedaille zu bewerben. Sie taten dies mit einem Schreiben, in dem sie zunächst festhielten: „Da der akademische Rat wegen der bevorstehenden Hundertjahrfeier auf den Reichtum der bevorstehenden Ausstellung Wert legt, haben wir unsererseits, um sie noch vielfältiger und der Jubiläumsfeier angemessen zu gestalten, entschieden, unserem innigen Verlangen nach der Erlaubnis einer freien Wahl des Sujets für diejenigen, die dies entgegen dem gestellten

11 Valkenier, Russian Realist Art, S. 19. 12 Elizabeth Kridl Valkenier, The Art of the Wanderers in the Culture of their Time, in: dies. (Hg.), The Wanderers, S. 1–23, hier S. 2. 13 Carol Adlam, Realist Aesthetics in Nineteenth-Century Russian Art Writing, in: The Slavonic and East European Review, 2005, 83, S. 638–663, hier S. 657. 14 Valkenier, Russian Realist Art, S. 21.

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Gertrud Pickhan Thema wünschen, Ausdruck zu verleihen, da der Rat selbst in entsprechenden Fällen dem Künstler freigestellt hat, seinen persönlichen Vorlieben zu folgen.“15

Trotz der vorsichtigen Formulierungen dieses Antrags war eine solche kollektive Willensäußerung der Studenten für die Professoren der Akademie ein Affront, und der akademische Rat verfügte, ohne den jungen Künstlern zu antworten, dass alle Kandidaten für die Goldmedaille dasselbe Sujet als Aufgabenstellung erhalten sollten. Damit wurde eine zuvor getroffene Entscheidung, dass Genremalerei bei der Abschlussprüfung zugelassen werden könne, rückgängig gemacht. Daraufhin beschlossen die Studenten, für ihre Rechte zu kämpfen. Ein neues Schreiben an den Vize-Präsidenten der Akademie wurde aufgesetzt, in dem die Studenten ihre vielfältigen Talente hervorhoben, denen ein für alle verbindliches Thema nicht gerecht werden könne. Das Examen mit nur einem Sujet erhielt demnach den „Charakter einer Lotterie“16. Als eine Antwort erneut ausblieb, entsandten die Studenten Delegationen von zwei bis drei Personen zu den einflussreichsten und mächtigsten Professoren, mussten sich dabei aber Beschimpfungen und Rausschmisse gefallen lassen. Doch ließen sie sich dadurch nicht einschüchtern, was Semen Ekštut nicht zuletzt auf die Lektüre von ýernyševskijs Roman „Was tun?“ zurückführt, die die Studenten ermutigte.17 Als die Anwärter auf eine Goldmedaille am 9. November 1863 in den Katharinensaal der Akademie zitiert wurden, um ihre Aufgabenstellung entgegen zu nehmen, kam es zum Eklat. Als für alle verbindliches Sujet hatte man das Festmahl in Walhall auserkoren. Die Studenten hatten jedoch schon in der Nacht zuvor beschlossen, sich dem Diktat der Autoritäten nicht zu beugen und die Teilnahme am Wettbewerb um die Goldmedaille zu verweigern. Es war dies der mutige Akt einer kollektiven Selbstermächtigung, mit der das Recht auf Selbstbestimmung, individuelles Künstlertum und Unabhängigkeit von staatlicher Bevormundung reklamiert wurde. Die vierzehn Studenten waren bereit, dafür eine höchst unsichere Zukunft und einen prekären Status in Kauf zu nehmen. Obwohl eine Berichterstattung über die Vorgänge in der Akademie umgehend untersagt wurde, verbreitete sich die Nachricht vom „Aufstand der Vierzehn“ wie ein Lauffeuer in der Petersburger Gesellschaft, deren fortschrittlich-liberaler Teil das Verhalten der Studenten begrüßte und bewunderte. Die jungen Rebellen wurden nach ihrem Auszug aus der Akademie unter Polizeiaufsicht gestellt und auch noch in den Folgejahren zu Verhören einbestellt, was die politische Relevanz dieser Rebellion verdeutlicht.18 „Und so, wie wir uns bis dahin fest an den Händen hielten, beschlossen wir, dies auch weiter zu tun, um nicht unterzugehen.“19 Mit diesen emphatischen Worten beschrieb Ivan Kramskoj (1837–1887) nur wenige Tage nach dem Eklat den 15 Zitiert nach Semen Ơkštut, Šajka peredvižnikov. Istorija odnogo tvorþeskogo sojuza, Moskau 2001, S. 56–57. 16 Ebd., S. 60. 17 Ebd., S. 70. 18 Valkenier, Russian Realist Art, S. 33–34. 19 Ivan I. Kramskoj, Pis’ma, stat’i, 2 Bde., Moskau 1965–1966, hier Bd. 1, S. 10.

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festen Willen der jungen Künstler, die schwierige Situation gemeinsam durchzustehen. Dem Vorbild der Helden in ýernyševskijs Roman „Was tun?“ folgend mieteten sie nicht weit entfernt von der Akademie auf der Vasil’ev-Insel eine Wohnung, in der sie in den nächsten drei Jahren in einer Art Kommune lebten und arbeiteten. Spiritus rector des „Petersburger Artel’s“ (russ. artel’: Genossenschaft) war Kramskoj, der bereits verheiratet war und als einziger über ein gesichertes Einkommen verfügte, nachdem er einen lukrativen Auftrag zur Innengestaltung der Erlöserkirche in Moskau bekommen hatte. In Petersburger Zeitungen erschienen alsbald Anzeigen, in denen die Künstler ihre Dienste als Ikonenmaler oder Zeichner für Jubiläumsbände anboten. Alle beteiligten sich nach gemeinsam festgelegten Regeln an einer Gemeinschaftskasse, die den Lebensunterhalt und das Material für die zumeist abends durchgeführten eigenständigen Malarbeiten sicherte. Doch ging es nicht nur um das materielle Überleben. Jeden Donnerstagabend traf man sich mit anderen jungen Künstlern zu einem Jour fixe, bei dem nicht nur gemalt, sondern auch gemeinsam gelesen und über Kunst und Literatur diskutiert wurde. Auch Studenten der Akademie kamen zu diesen scherzhaft „KramskojAkademie“ genannten Abenden. In seinen Erinnerungen liefert der bekannteste russische Maler des 19. Jahrhunderts Il’ja Repin (1844–1930), der 1864 als Student in die Kaiserliche Akademie aufgenommen wurde, ein anschauliches Bild dieser Zusammenkünfte: „Auf Empfehlung der Artelmitglieder wurden schließlich sogenannte Donnerstag-Abende für Gäste veranstaltet, an denen sich vierzig bis fünfzig Personen zwanglos zusammenfanden. Mitten im Saal stand ein langer Tisch, auf dem Papier, Farben, Bleistifte und anderes künstlerisches Zubehör lagen. Jeder konnte sich nach Belieben bedienen und malen, was ihm gerade einfiel. Im Saal nebenan spielte jemand Klavier und sang dazu. Manchmal wurden wichtige Beiträge über Ausstellungen oder über die Kunst vorgelesen. Der Übersetzer Tschuiko las hier beispielsweise Taines Vorlesungen über die Kunst, noch bevor sie veröffentlicht wurden. Hier brachte auch Antokolski seine ‚Kritische Ansicht über die zeitgenössische Kunst’ zu Gehör. Nach den Vorlesungen und verschiedenen Malarbeiten folgte ein sehr bescheidenes, aber um so fröhlicheres Abendessen. Manchmal wurde sogar getanzt, wenn Damen dabei waren.“20

Ivan Kramskoj und Il’ja Repin verband ein freundschaftliches Verhältnis. Beide stammten aus unteren Bevölkerungsschichten in der Provinz: Kramskojs Vater war ein kleiner Verwaltungsangestellter in Ostorožk (Gouvernement Voronež), während Repin als zweites Kind eines Militärsiedlers in ýuguev (Gouvernement Char’kov) zur Welt kam. Valkenier vermutet, dass für beide nicht zuletzt auch ein Minderwertigkeitskomplex wegen fehlender Bildung und der Wunsch, in die kulturelle Elite der Intelligencija aufzusteigen, zu wichtigen Antriebskräften wurden.21 Diese ex post getroffene psychologische Diagnose ist jedoch nicht überzeugend. Zwar äußerten Kramskoj und Repin in ihren Erinnerungen, dass sie sich in jungen Jahren ihrer unzureichenden Bildung sehr wohl bewusst gewesen seien. 20 Repin, Fernes und Nahes, S. 164–165. 21 Valkenier, Russian Realist Art, S. 14.

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Daraus jedoch abzuleiten, es sei ihnen vor allem um einen sozialen Aufstieg gegangen, ist nicht schlüssig. Vielmehr waren sich die jungen Künstler ihres Talents mindestens ebenso bewusst wie ihrer Defizite, und vermutlich war ihnen der Kampf um künstlerische Anerkennung weitaus wichtiger als die Integration in die diffuse Schicht der Intelligencija. Gleichsam als Vorwegnahme der späteren Wanderausstellungen unternahmen die Mitglieder des Petersburger Künstlerartel’s bereits 1865 einen ersten Versuch, in der Provinz auszustellen, und präsentierten ihre Bilder anlässlich einer Messe in Nižnij Novgorod. Doch zeigten die dort vertretenen Kaufleute noch kein großes Interesse für die neue Kunst.22 Ein veritabler Kunstmarkt, der auch die Provinz einschloss, entwickelte sich erst durch die Wanderausstellungen der 1871 zugelassenen Künstlergenossenschaft. Gleichwohl hatten Moskauer Kaufleute bereits in den 1850er Jahren damit begonnen, Gemälde zu sammeln und diese auch öffentlich zugänglich zu machen.23 Damit hatte die Kunstrezeption eine deutlich breitere gesellschaftliche Basis erhalten, die dem Anspruch auf Partizipation und Demokratisierung in der Aufbruchsstimmung der Reformzeit entsprach.24 Auch in Moskau hatten sich in den 1860er Jahren im Umfeld der Moskauer Kunsthochschule Künstler zusammengefunden, die sich aus den Fesseln staatlicher Bevormundung lösen wollten. Unter ihnen war auch Vasilij Perov, der mit tieftraurig-anklagenden Gemälden wie „Das Totengeleit“ (1865), „Trojka“ (1866), „Die Ertrunkene“ (1867) und „Die letzte Schenke am Stadtrand“ (1868) zum wichtigsten Vertreter des Kritischen Realismus und zum „Gewissen der Nation“ geworden war. Die Initiative zum Zusammenschluss der Maler ging von den Moskauer Künstlern aus. Einige der Mitglieder der neuen Genossenschaft waren adeliger Herkunft, während von den vierzehn Rebellen des Jahres 1863 nur einer aus dem Adel stammte. Ob der große Erfolg der Wanderer auch darauf zurückzuführen ist, dass die adeligen Genossenschaftsmitglieder über größere Führungsqualitäten verfügten als die Studenten, wie Valkenier vermutet, ist jedoch fraglich.25 Hingegen ist es bezeichnend für die Wertschätzung, die die Petersburger Kollegen in Moskau fanden, dass der Moskauer Maler Grigorij Mjasoedov (1834– 1911) das Projekt zunächst auf einem der Donnerstagabende des Artel’s zur Diskussion stellte, bevor ein Entwurf für ein Statut von Moskau nach Sankt Petersburg geschickt wurde.26 Das Statut, das im Herbst 1870 eingereicht wurde, verdeutlicht die wichtigsten Interessen der Kritischen Realisten. Zum einen ging es ihnen um die Unab22 Hallmann, Russische Realisten, S. 75. 23 Galina Churak, Private Art Collecting in 19th Century Russia, in: Valkenier (Hg.), The Wanderers, S. 61–80, hier S. 69. 24 Einen Überblick über die Herrschaftszeit Alexanders II. gibt Larisa Zakharova, The Reign of Alexander II: a Watershed?, in: Dominick Lieven (Hg.), The Cambridge History of Russia, Vol. II, Imperial Russia, Cambridge 2006, S. 593–616. 25 Valkenier, Russian Realist Art, S. 38. 26 Ơkštut, Šajka, S. 157. Mjasoedov, der aus einer adeligen Familie stammte, hatte 1862 eine Goldmedaille für ein Bild mit einem historischen Thema bekommen; wie Perov brach auch er anschließend seinen Auslandsaufenthalt vorzeitig ab.

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hängigkeit von staatlicher Patronage, zum anderen um eine Erweiterung des Publikums und damit auch des Käuferkreises. Dafür musste nicht zuletzt auch das Kunstinteresse der Provinzbevölkerung geweckt werden, was durchaus als „civic minded purpose“ verstanden werden kann.27 Bedeutsamer erscheint jedoch, dass die neue Kunst explizit auf einen Dialog mit dem Publikum abzielte, damit also jeglichen elitären Anspruch aufgab. Bis heute ermöglichen die Gemälde der Wanderer den Betrachtenden gleichsam eine Immersion in die dargestellte Welt.28 Im November 1871 wurde in Sankt Petersburg in Räumen der Akademie die erste Ausstellung der Wanderer-Genossenschaft eröffnet. Noch sahen die Vertreter der offiziellen Kunst in den kritischen Realisten keine ernst zu nehmenden Konkurrenten. Erst drei Jahre später zog Großfürst Vladimir Alekseeviþ als Präsident der Kunstakademie die Genehmigung zurück, deren Räume zu nutzen, und verbot seinen Studenten die Beteiligung an den Ausstellungen der Wanderer.29 Der Erfolg der ersten Ausstellung war beachtlich: Sie wurde landesweit von über 30 000 Kunstinteressierten besucht, davon rund 11 000 in Sankt Petersburg und 10 000 in Moskau.30 Ähnlich wie im Petersburger Artel’ flossen 5 % des Verkaufserlöses und der Eintrittsgelder in eine Gemeinschaftskasse, aus der Transport- und andere Ausstellungskosten und gleichzeitig auch Unterstützungsgelder für notleidende Künstler und deren Angehörige gezahlt wurden. Daraus abzuleiten, dass die Wanderer im Gegensatz zu den noch „utopischen Idealen“ verpflichteten Petersburger Studenten damit bereits „die kapitalistische Ethik der Bourgeoisie“ übernommen hätten, wie Dmitrij Sarabianov vermutet,31 ist wohl eher dem Zeitgeist der spätsowjetischen Transformationsphase geschuldet und nicht überzeugend. Nach den beiden Metropolen waren die Gemälde 1872 auch in Kiev und Char’kov zu sehen, bis 1897 wuchs die Zahl der einbezogenen Städte auf insgesamt fünfzehn. Wie Vladimir Stasov festhielt, war die Rezeption der „neuen Kunst“ in den Provinzstädten noch enthusiastischer als in der Hauptstadt: „In ihrer Beziehung zur neuen russischen Kunst stellt unsere Provinzpresse eine sehr tröstliche Erscheinung dar. In vielen Fällen ist sie der Hauptstadtpresse überlegen, weil sie sich aufrichtig und naiv an dem erfreut, was talentiert, gesund, wahrhaftig, frisch in den Bildern unserer neuen Maler ist, und weil sie sich nicht hat anstecken lassen von den retrograden Tendenzen, die im Kunstbereich so oft das Verständnis unserer hauptstädtischen Kunstkritik trüben. In Bezug auf die Kunst hat sich unsere Provinz seit der Zeit der Gründung der Genossenschaft für Wanderausstellungen und der ersten Reisen ihrer Gemälde durch Russland, d.h. seit 1871 immer mehr zu Wort gemeldet.“32

27 Valkenier, Russian Realist Art S. 39. 28 Dies bezeugt auch der amerikanische Kunsthistoriker Richard R. Bretell, The Wanderers and the European Avant-Garde, in: Valkenier (Hg.), The Wanderers, S. 49–59, hier S. 58. 29 Ơkštut, Šajka, S. 289. 30 Ebd., S. 189. 31 Dmitrij Sarabianov, The Rise and Fall of the Wanderers, in: Valkenier (Hg.), The Wanderers, S. 25–47, hier S. 25. 32 Vladimir V. Stasov, Tormozy novogo russkogo iskusstva, in: Stasov, Izbrannye soþinenija, Bd. 2, S. 569–689, hier S. 631.

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Neue russische Kunst und retrograde Tendenzen – die Genossenschaft der Wanderer und die Akademie werden bei Stasov implizit zu Antipoden, was einer Grundtendenz der russischen Kunstkritik dieser Zeit entspricht. Damit wurde die Kunst zu einer Projektionsfläche für die Diskurse über und das Ringen um Russlands Zukunft. Nach der Aufbruchstimmung der späten 1850er und frühen 1860er Jahre, in die auch der „Aufstand der Vierzehn“ fiel, trat 1866 ein Wendepunkt ein: Das Scheitern eines Attentats auf Alexander II. führte dazu, dass der „ZarBefreier“ auf Distanz zu den Reformern ging. Konservative Kräfte gewannen erneut an Einfluss, und die fortschrittlichen Geister der Gesellschaft wurden unruhig und besorgt. Folgt man Bernd Roecks Diktum von der „Welt im Kunstwerk“, drängt sich die Frage auf, mit welchen Bildern die Maler auf diese Stimmungen reagierten. Es waren vor allem drei Gemälde, in die die Zeitgenossen Anfang der 1870er Jahre ihre Fragen, Ängste und Hoffnungen hineinprojizierten: das Historienbild Nikolaj Ges „Peter I. verhört den Careviþ Aleksej Petroviþ in Peterhof“, Kramskojs „Christus in der Wüste“ und Perovs Porträt Dostoevskijs. Als Nikolaj Ges Gemälde 1871 bei der ersten Ausstellung der Wanderer gezeigt wurde, fand es großen Widerhall. Vor dem Hintergrund der gesamteuropäischen Entwicklung nimmt es nicht wunder, dass Historienmalerei auch in Russland ein wesentlicher Bestandteil der Nationsbildungsprozesse war. Die Vergegenwärtigungen der Geschichte wurden zu einem identitätsstiftenden Faktor, die Bilder zu Metaphern des Nationalen.33 Gleichwohl war die Historienmalerei bei den Wanderern relativ schwach vertreten; erst in den 1880er Jahren profilierten sich insbesondere Vasilij Surikov (1848–1916) und Viktor Vaznecov (1848– 1916) auf diesem Gebiet; beide gehörten schon nicht mehr zur Gründergeneration. Nikolaj Ge (1831–1894) war in Sankt Peterburg eine der treibenden Kräfte bei dem Zusammenschluss der Künstler. Ge stammte aus einer adeligen Gutsbesitzerfamilie, die ihre Wurzeln in Frankreich hatte (ursprünglicher Name: Gay). Er hatte zunächst an der Kaiserlichen Akademie studiert und sich von 1857 bis 1863 im Ausland aufgehalten, bevor ihm 1863 für das Gemälde „Das letzte Abendmahl“, das der Kaiser für seine Sammlungen erwarb, der Titel eines Professors für Historienmalerei verliehen wurde. Somit war er bereits ein arrivierter Künstler, als seine nur wenig jüngeren Kollegen den Aufstand wagten und die Akademie verließen. Für die Genossenschaft der Wanderer war es umso bedeutsamer, dass bereits angesehene Professoren zu den Gründungsmitgliedern gehörten. Das 1871 ausgestellte Historienbild thematisiert den Vater-Sohn-Konflikt zwischen Peter dem Großen und dem Careviþ, der für Letzteren tödlich endete. Wie Matthias Stadelmann festhält, war der Careviþ für seinen Vater „nicht nur ein Feigling, sondern auch ein Verräter, der womöglich im Bunde mit anderen, Petrs Reformbemühungen ablehnend gegenüberstehenden Kreisen Übles gegen den

33 Ausführlicher dazu siehe Stefan Germer, Retrovision. Die rückblickende Erfindung der Nationen durch die Kunst, in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. Ein europäisches Programm, München 1998, S. 33–52 und Walther K. Lang, Das heilige Russland. Geschichte, Folklore, Religion in der russischen Malerei des 19. Jahrhunderts, Berlin 2003.

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Vater plante“.34 Diese Sichtweise repräsentiert auch Ges Gemälde. Wir sehen einen schmächtigen, kränklich blassen Aleksej mit gesenktem Blick vor seinem Vater stehen, der durch die Sitzhaltung und den Gesichtsausdruck ebenso entschlossen wie selbstsicher wirkt. Die unsichtbare Linie zwischen Aleksejs Totenblässe und Peters durch den Lichtstrahl erhellte gesunde Gesichtsfarbe kennzeichnet ein Spannungsfeld, in dem es ähnlich wie zu Beginn der 1870er Jahre um Erfolg oder Misserfolg eines umfassenden und tiefgreifenden Reformprozesses ging. Diese Wahrnehmung der Zeitgenossen bezeugt der Schriftsteller und Satiriker Michail Saltykov-Šþedrin, der als typischer Vertreter der „Menschen der sechziger Jahre“ gelten kann: Im Innenministerium war Saltykov-Šþedrin an der Vorbereitung der Bauernreform beteiligt und übernahm anschließend Führungsfunktionen in der Provinzverwaltung. Nachdem er sich 1868 aus dem Staatsdienst zurückgezogen hatte, widmete er sich ganz seiner schriftstellerischen und publizistischen Tätigkeit. In einem Artikel über die erste Ausstellung der Wanderer konzentrierte sich Saltykov-Šþedrin vor allem auf Ges Historienbild und hielt fest, dass der Betrachter zum „Zeugen eines Dramas“ werde.35 Wichtiger als die historischen Dimensionen des Dramas waren für Saltykov-Šþedrin jedoch die aktuellen Bezüge: Für ihn symbolisierte das Gemälde vor allem den Gegensatz zwischen den Verfechtern einer energischen Fortsetzung der Reformen und den reaktionären Gegenkräften.36 Also stand nicht der „Vertreter einer unmenschlichen Staatsraison“ im Vordergrund der zeitgenössischen Wahrnehmung; zum „Henker des alten Russland“ wurde Peter I. erst zehn Jahre später im Gemälde Vasilij Surikovs „Am Morgen der Strelitzenhinrichtung“.37 Verhandelt wurde in diesen Bildern somit indirekt auch die Frage, wie weit eine Verwestlichung Russlands gehen durfte. Ein Jahr nach Ges Bild kamen zwei Gemälde in die Öffentlichkeit, die hinsichtlich der Darstellung ihrer Figuren erstaunliche kompositorische Ähnlichkeiten aufweisen: Kramskojs „Christus in der Wüste“ und Perovs DostoevskijPorträt. Dass Kramskoj mit seinem „russischen Christus“ auf menschliche Konflikte verweisen wollte, machte er mit seinen eigenen Worten deutlich: „Ich weiß genau, dass es im Leben eines Menschen einmal einen Moment gibt, in dem er ein ganz klein wenig an Gott erinnert, wenn er ins Nachdenken darüber gerät, soll er nach rechts oder links gehen, den Herrgott beim Wort nehmen und keinen Schritt dem Bösen nachgehen. Und so ist das nicht Christus […], es ist der Ausdruck meiner ureigensten Gedanken.“38

34 Matthias Stadelmann, Die Romanovs, Stuttgart 2008, S. 85. 35 Selected Excerpts, S. 188. 36 Siehe dazu auch Valkenier, Russian Realist Art, S. 43–44. Wie Gerhard Hallmann, Russische Realisten, S. 137, festhält, verweist auch das Interieur auf den erlesenen Geschmack Peters und steht gleichzeitig für eine „ganz neue Welt“. 37 So Walther K. Lang, Herrscher, Helden und Häretiker: Russische Historienmalerei im 19. Jahrhundert, in: Russlands Seele. Ikonen, Gemälde und Zeichnungen aus der Staatlichen Tretjakov-Galerie Moskau, Bonn 2007, S. 198–211, hier S. 206. 38 Zitiert nach Hallmann, Russische Realisten, S. 135.

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Kramskoj war sich bewusst, dass seine zutiefst menschliche Christus-Darstellung als Sakrileg verstanden werden könne, und entsprechend kontrovers waren auch die Diskussionen, als das Gemälde 1872 in der zweiten Wandererausstellung gezeigt wurde und rasch zu deren Hauptattraktion wurde.39 Dass es Kramskoj in diesem wie in anderen Werken auch um das zeitgenössische Russland und den moralischen Konflikt um eine gute und gerechte Gesellschaft ging, hat er selbst mehrfach bezeugt. Wie Kramskojs Christus hat auch Perovs Dostoevskij seine ausdruckvollen Hände ineinander verschränkt. Seine sitzende Gestalt bildet eine in sich geschlossene Ellipse und versinnbildlicht so wie auch der sitzende Christus die Intensität des Nachdenkens über existenzielle Fragen. Es waren Porträts wie dieses, die wesentlich zum Ruhm der Wanderer beitrugen, was maßgeblich durch Pavel Tretjakov befördert wurde. Der Moskauer Kaufmann und Unternehmer vergab seit Ende der 1860er Jahre Aufträge für Porträts bekannter russischer Schriftsteller, Komponisten und anderer Künstler, die bis heute unser Bild Dostoevskijs, Tolstojs, Musorgskijs und vieler anderer prägen. Tretjakov intendierte die Schaffung eines nationalen Pantheons der großen Geister Russlands in seinem Museum und stimulierte damit laut Tatjana Karpova nicht nur die Entwicklung der russischen Porträtmalerei, sondern schuf auch ein eigenes Kraftfeld in der Kultur des 19. Jahrhunderts: „Das Porträt spiegelt und schafft zugleich den Mythos von der russischen Intelligenz, ihrer Auserwähltheit, ihrem Stoizismus, ihrem Messianismus.“40 Während Kramskojs Christus zum Symbol für menschliche Zweifel und quälende Fragen wurde, stand Dostoevskij somit durch die „allmenschliche“ Dimension seines Leidens für einen messianistischen Erlösungsgedanken. Gleichwohl geht Elizabeth Valkenier davon aus, dass die Wanderer zu Beginn der 1870er Jahre noch pro-westlich eingestellt waren; in diesem Sinne deutet sie auch Ges Visualisierung des Konflikts zwischen Peter I. und seinem Sohn. Erst durch die Balkankriege wurden sie demnach von chauvinistischem Gedankengut infiziert: „The Peredvizhniki were swept up in the general enthusiasm.“41 Der Entstehung einer nationalen Schule, maßgeblich vorangetrieben durch Vladimir Stasov und Pavel Tretjakov, folgte demnach „der Niedergang eines Ethos“42, dessen Tiefpunkt für Valkenier die Berufung führender Mitglieder der Wanderergenossenschaft an die Kaiserliche Kunstakademie in Sankt Petersburg Anfang der 1890er Jahre darstellte. Anders sieht dies freilich der russische Kunsthistoriker Semen Ekštut, für den die Übernahme der Professuren an der Akademie den end39 Ausführlicher dazu siehe Walther K. Lang, The „Atheism“ of Jesus in Russian Art. Representations of Christ by Ivan Kramskoy, Vasily Polenov, and Nikolai Ghe, in: Nineteenth-Century Art Worldwide, Online Journal, Autumn 2003, 2, http://www.19thc-artworldwide.org/ index.php/autumn03/272-the-qatheismq-of-jesus-in-russian-art-representations-of-christ-byivan-nikolevich-kramskoy-vasily-polenov-and-nikolai-ghe. 40 Tatjana Karpova, Individuum und Gesellschaft. Die Entwicklung der russischen Porträtmalerei zwischen 1870 und dem Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Russlands Seele, S. 180–192, hier S. 182. 41 Valkenier, Russian Realist Art, S. 71. 42 Ebd., S. 115–134.

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gültigen Triumph der Wanderer bedeutet: „So besiegte die ‚Bande der Wanderer’ ihren verfluchten Feind, bemächtigte sich der Akademie und begann in ihr zu herrschen.“43 Niedergang oder Triumph – beide Wertungen verdeutlichen, dass den Künstlern als historischen Akteuren Motivationen und Interessen zugeschrieben werden, die weit über ihr künstlerisches Schaffen hinausgingen. Jenseits der Schurken- oder Helden-Variante waren sie aber in viel stärkerem Maße denkende Zeitgenossen, die sensibel auf brennende Fragen ihrer Gegenwart reagierten. Dass Alexander III., der seinem Vater nach dessen Ermordung 1881 auf den Thron folgte und das Reformwerk in weiten Teilen wieder rückgängig machte, großen Gefallen an den Gemälden der Wanderer fand, ist diesen nicht anzulasten. Im selben Jahr, in dem Alexander II. einem Attentat zum Opfer fiel, begann Il’ja Repin mit der Arbeit an seinem grandiosen Gemälde „Die Kreuzprozession im Gouvernement Kursk“. Repin war 1873 durch seine „Wolgatreidler“, die auch während der Weltausstellung in Wien zu sehen waren und dort enthusiastisch aufgenommen wurden, zum neuen Star der russischen Kunstszene geworden.44 1878 trat Repin der Genossenschaft der Wanderer bei. Dass es auch in ihr nicht konfliktfrei zuging, macht ein Brief Kramskojs an den Maler Polenov deutlich, in welchem Kramskoj einmal mehr die Entwicklung von Gesellschaft und Kunst gleichsetzt: „Das Schicksal der russischen Gesellschaft ist nun einmal so, dass das, was gestern noch fortschrittlich war, morgen, buchstäblich morgen schon unmöglich ist, und dies nicht nur für einen oder zwei, sondern für alle offensichtlich ist. Noch vor vier Jahren war Perov fortschrittlicher als alle, aber nach Repins Wolgatreidlern ist er unmöglich.“45

„Auf der Suche nach Russland“ – so lautete der Titel einer Repin-Ausstellung, die 2003 in der Berliner Nationalgalerie zu sehen war. Mit der „Kreuzprozession im Gouvernement Kursk“, die bei der 11. Wandererausstellung 1883 zu sehen war, gelang Repin ein ebenso monumentales wie differenziertes Kaleidoskop der russischen Gesellschaft seiner Zeit. Bis heute zieht dieses Gemälde nicht nur die vielen Besucher und Besucherinnen der Tretjakov-Galerie in seinen Bann, sondern vermag auch einen amerikanischen Kunsthistoriker und Experten für die französische Malerei des 19. Jahrhunderts im fernen Texas zu begeistern. Zu Recht plädiert Richard R. Bretell dafür, die Werke der Wanderer zunächst einmal als Kunst und erst in einem zweiten Schritt als russisch anzusehen. Er weist darauf hin, dass die russischen Maler sowohl durch ihre Einbindung in einen nationalen Kontext wie

43 Ơkštut, Šajka, S. 432. 44 Über die Entstehung des Gemäldes liefert Repin selbst eine anschauliche Darstellung in seinen Erinnerungen: Repin, Fernes und Nahes, S. 178–241. Nachdem das Gemälde in einer Ausstellung in der Akademie und in Wien gezeigt worden war, wurde es von einem Mitglied der kaiserlichen Familie gekauft und landete in einem großfürstlichen Billardzimmer. Wie Repin festhält, war die Wand des Billardzimmers aber oft leer, da das Gemälde für zahlreiche Ausstellungen ausgeliehen wurde: ebd., S. 241. 45 Kramskoj, Pis’ma, Bd. 1, S. 296. Perov seinerseits drohte mit seinem Austritt aus der Genossenschaft, nachdem die Petersburger Mitglieder ohne Rücksprache mit den Moskauern einen Geschäftsführer eingestellt hatten: Ơkštut, Šajka, S. 303.

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auch durch ihre antiautoritäre Haltung Teil einer gesamteuropäischen AvantgardeBewegung waren: „Realism, for the Russians, was part of a general European movement rather than an isolated response to Russian social and aesthetic conditions…Unlike the Impressionists and the various groups in France, they were well organized, made money, and succeeded in their aims of promoting Russian art throughout the country.“ 46

Die Bewegung, die 1863 mit dem „Aufstand der Vierzehn“ ihren Anfang nahm, macht somit deutlich, dass Russland kulturell und intellektuell keineswegs rückständig, sondern auf der Höhe der Zeit war. Dass die Maler in ihren Bildern das russische Leben gleichermaßen priesen und kritisierten, wie Bretell pointiert formuliert, vermittelt wohl kein Gemälde so anschaulich wie Repins Kreuzprozession. In der sich vorwärts bewegenden Masse sehen wir eine Gruppe traditionell gekleideter Bauern, einfache Frauen mit Kopftuch, Schulkinder mit ihrem streng und unfreundlich blickenden Lehrer, einen wohlgenährten Geistlichen mit einem vermutlich durch Alkoholkonsum geröteten Gesicht, eine matronenhafte Gutsbesitzerin, die die Ikone trägt, Uniformierte, die in die Menge prügeln. Die einzig beseelte Gestalt ist ein behinderter, schlecht gekleideter Junge. Mit Ausnahme der beiden ärmlich aussehenden, verängstigten Pilgerinnen hinter ihm scheint er der Einzige zu sein, für den die religiösen Dimensionen dieses Ereignisses bedeutungsvoll sind, und es ist offensichtlich, dass diesem diskriminierten Außenseiter die ganze Sympathie des Malers gilt. Meisterlich versteht es Repin, den Betrachtenden gleichsam eine teilnehmende Beobachtung der Prozession zu ermöglichen. Es sei noch einmal Richard R. Bretell zitiert: „In this painting, a Russian Realist, who flirted with the work of Manet and the Impressionists while working in Paris, returned to Russia and encapsulated the entire nation – its history, its political system, its religions and ideologies, its successes and failures – in a single canvas. Let us learn about the Russia – and the Realism – that gave rise to this painting.“47

Der Aufstand der jungen Kunststudenten 1863 war die Initialzündung für eine Entwicklung in der russischen Kunstgeschichte, die großartige Kunstwerke hervorbrachte. Dass sie in der Zeit des Stalinismus eine „spektakuläre Wiedergeburt“ erlebten,48 schmälert weder ihre künstlerische Bedeutung noch ihren Wert als höchst anschauliche und facettenreiche historische Quellen.

46 Bretell, The Wanderers, S. 53. 47 Ebd., S. 59. 48 Valkenier, Russian Realist Art, S. XII.

„DIE EINLADUNG DER GESELLSCHAFT“ UND IHRE AUSLADUNG. 1881 ALS SCHICKSALSJAHR IN RUSSLANDS POLITISCHER GESCHICHTE Matthias Stadelmann 1. 1881 IN DER RUSSISCHEN GESCHICHTE: ZUM HINTERGRUND DER FRAGESTELLUNG 1881 war in der russischen Ereignisgeschichte ein Schicksalsjahr – da scheint bereits der erste Blick keine Zweifel zu gestatten. Weit verbreitet ist nicht nur im professionellen Kenntnisreservoir der Historiker, sondern auch im populären, zumindest russischen, das heißt „vaterländischen“ Geschichtsbewusstsein das Datum des 1. März 1881, an dem am Petersburger Katharinenkanal eine von Terroristen geworfene Bombe Kaiser Alexander II. – und übrigens auch andere sich vor Ort befindende Menschen – zerfetzte. Sowohl für die Zeitgenossen als auch noch für heutige Betrachter, die doch von so vielen im 20. Jahrhundert grausam Ermordeten wissen, haftet dem Zarenmord etwas Schicksalsschweres an. Dieser Eindruck mag damit zusammenhängen, dass der in die Luft Gesprengte kein Kaiser wie jeder andere war, ist er doch in die Geschichte als „Zar-Befreier“ eingegangen, in dessen seit 1855 andauernder Herrschaft nicht nur die Leibeigenschaft aufgehoben, sondern das Land auf verschiedenen Feldern – Verwaltung, Justiz, Bildung, Militär – auf Reformkurs gebracht worden war.1 Das befreite Volk tötete im Namen der Freiheit seinen Befreier – so ließe sich aphoristisch das Geschehen kommentieren, wohl wissend, dass diejenigen, die glaubten, im Namen des Volkes denken und handeln zu dürfen, bei der überwältigenden Mehrheit desselben für ihre Mordtat weder Unterstützung noch gar Legitimation fanden.2

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Im fundierten Überblick: W. Bruce Lincoln, The Great Reforms. Autocracy, Bureaucracy, and the Politics of Change in Imperial Russia, DeKalb 1990. Seit 1721 ist der staatsrechtlich korrekte Titel der russischen Herrscher „Imperator“, im Deutschen mit „Kaiser“ übersetzt. Dem Titel „Zar“ kam – auf das Gesamtreich bezogen – vor allem breite umgangssprachliche Bedeutung zu. Zum Attentat auf Alexander II. und seinen letzten Lebensstunden am 1. März 1881 im Detail sowie zur terroristischen Vorgeschichte siehe Knjaginja Jur’evskaja (pod psevdonymom Viktor Laferte), Aleksandr II, Moskau 2004 (Original: Alexandre II. Details inédits sur sa vie intime et sa morte par Victor Laferté, 1882); Richard Graf von Pfeil und Klein-Ellguth, Das Ende Kaiser Alexanders II. Meine Erlebnisse in russischen Diensten 1878–1881, Berlin 1903, S. 130ff.; Alexander von Russland, Einst war ich Großfürst, Augsburg 2000, S. 67ff. Knapper dazu auch beispielsweise: Hélène Carrère d’Encausse, Alexandre II. Le Printemps de la Russie; Paris 2008, S. 432ff.; Vsevolod

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Bereits die Attentäter der Narodnaja volja (Volkswille) hatten den 1. März 1881 als Schicksalstag für Russland ausersehen, stand doch hinter der Ermordung Alexanders II. die Vorstellung, das Volk werde sich über die zusammenbrechende Zarenherrschaft erheben und sich endlich wirkliche „Freiheit“ bzw. das, was Željabov, Perovskaja und ihre Gesinnungsgenossen darunter verstanden, erstreiten. Wie wir wissen, fielen die Reaktionen der Bevölkerung auf das Ereignis von 1881 ganz anders aus. Zwar interpretierte man Tag und Jahr durchaus als schicksalhaft, freilich nicht in dem von den Radikalen erhofften Sinne, im Gegenteil. Das einfache Volk betrauerte den gewaltsamen Tod Alexanders: Nicht nur sah man ihn in alter Tradition als „guten“, ja sakrosankten Zaren, an dem sich zu vergreifen eine Ungeheuerlichkeit war, sondern man dankte ihm nach wie vor seinen reformerischen, befreienden Einsatz, auch wenn seit geraumer Zeit gewisse Stagnationstendenzen zu beobachten waren. Die aufgeklärte Intelligenz befürchtete einen schweren Einschnitt in Form gewaltsamer Reaktionen von Seiten des Staates und des Umschwenkens auf einen die Zügel anziehenden, retrograden Kurs. Die „oberen Zehntausend“ der russischen Gesellschaft waren erst recht schockiert über den Regizid und das, was er offenbarte, nämlich dass niemandes Leben mehr sicher schien. Jenseits der persönlichen Erschütterung sah auch der politischstaatsmännisch aktive und interessierte Adel das Jahr 1881 als schicksalhaft an, wobei die Meinungen hier durchaus auseinandergehen konnten. Mochte die – verfrühte – Thronbesteigung des für seine politische Visionslosigkeit bekannten Alexander III. für die einen wenig Gutes verheißen, sahen andere die Chance, dass das Kaisertum nach reformerischen „Verirrungen“ und privaten „Verfehlungen“ nun wieder auf den rechten Weg gelangen würde, die glänzend-pompösen Feierlichkeiten um Alexanders III. Thronbesteigung und Krönung schienen letztere Hoffnung eindrucksvoll zu untermauern.3 So wie für die Zeitgenossen das unerhörte Ereignis zum vorgestellten, befürchteten oder erhofften, später womöglich auch tatsächlich erfahrenen Einschnitt wurde, so übte es auch auf die Geschichtsschreibung seine Faszinationskraft aus. Bei einer Historie, die sich vorwiegend an Staat und Herrschaft, an Monarchen und anderen wichtigen Personen orientierte, lag es schließlich nahe, mit dem Tod eines bedeutenden, in seinen gut 25 Jahren auf dem Thron sehr ambitionierten russischen Kaisers eine Zäsur zu sehen, die das Ende einer Ära bedingte. Die unverhohlene Skepsis des thronfolgenden Sohnes gegenüber der Politik seines Vaters und die lauten Bekundungen für eine erneuerte Autokratie taten ihr Übriges, um den Thronwechsel des Jahres 1881 als Signum einer kleinen Epochengrenze erscheinen zu lassen: Das Zeitalter der Reformen im Russischen

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Nikolaev, Aleksandr II. Biografija, Moskau 2005 (Original: München 1986), S. 404ff.; Leonid Ljašenko, Aleksandr II. ili istorija trech odinoþestv, Moskau 2010, S. 300ff. Unter drei Zaren. Die Memoiren der Hofmarschallin Elisabeth Narischkin-Kurakin, hg. von René Fülöp-Miller, Zürich 1930, S. 91ff.; Memuary grafa S.D. Šeremet’eva, hg. von L.I. Šochin, Moskau 2001, S. 479ff.; Alexander von Russland, Einst war ich Großfürst, S. 71ff.; Henri Troyat, Zar Alexander II., Frankfurt am Main 1991, S. 227; Richard Wortman, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy, Vol. 2, From Alexander II to the Abdication of Nicholas II, Princeton 2000, S. 159ff.

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Reich war beendet, es begann die Zeit von Reaktion und Rückschritt, wovon die sogenannten „Gegenreformen“ der 1880er und 1890er Jahre zeugten. So wurde etwa die Kontrolle über die Presse verschärft, die universitäre Selbstverwaltung wie überhaupt der Zugang zu den höchsten Bildungseinrichtungen eingeschränkt, die Stellung des Adels auf dem Land und in der lokalen Selbstverwaltung gestärkt, die Bauern engeren sozioökonomischen Regeln unterworfen etc.4 In dem Maße, in dem sich eine sozialwissenschaftlich informierte Strukturgeschichte von personal-monarchisch dominierten Geschichtsbildern distanzierte, wurde auch die Zäsur des Jahres 1881 für das Russische Reich hinterfragt. In einer strukturhistorischen Auffassung musste ein Monarchenwechsel allein weder einen Politik- noch gar einen Epochenwechsel bedingen, ausschlaggebend für den historischen Wandel und dessen Zäsuren waren vielmehr längerfristige soziopolitische und sozioökonomische Prozesse. In diesem Sinne verstand man die politischen Entscheidungen der Regierung Alexanders III. weniger als Ausdruck einer gänzlich anders ausgerichteten Politik, sondern vielmehr als Kurskorrekturen und Anpassungen an die soziale Realität des Kaiserreiches. Zwar gestand man zu, dass „das Begriffspaar Reform und Reaktion, das zur Kontrastierung der herrschenden Strömungen in den sechziger und achtziger Jahren benutzt wird“, den Absichten der jeweiligen Herrscher zugeordnet werden könne, nicht jedoch ihrer tatsächlich vollzogenen Politik. Für Geschichte als einer Sozialwissenschaft schienen andere Kategorien, nämlich sozioökonomische Wandlungen und Umbrüche, geeigneter, um die Vergangenheit zu gliedern als – scheinbar ohnehin nicht realisiertes – monarchisches Wollen. So lag es beispielsweise nahe, im entsprechenden, in den 1980er Jahren erschienenen Band des Handbuchs der Geschichte Russlands die Kapitelgliederung für das späte 19. Jahrhundert nicht monarchisch-politischen, sondern wirtschaftlichen Kategorien folgen zu lassen: Nicht 1881 wurde hier als Zäsur gesehen, sondern, in Zusammenhang mit dem Fortgang der russischen Industrialisierung, 1890.5 Freilich, ob man 1881 als politische Zäsur anerkannte oder nicht, ob man die Maßnahmen unter Alexander III. als Ausdruck der Reaktion oder als erforderliche Kurskorrekturen wertete – aus abstrahierender Sichtweise lässt sich heute konstatierten, dass die beiden unterschiedlichen Sichtweisen in einer letzten Konsequenz 4

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Vgl. etwa Horst Günther Linke, Geschichte Russlands. Von den Anfängen bis heute, Darmstadt 2006, S. 138ff.; Edgar Hösch, Geschichte Russlands. Vom Kiever Reich bis zum Zerfall des Sowjetimperiums, Stuttgart 1996, S. 289ff.; Nicholas V. Riasanovsky, A History of Russia, New York 1993, S. 391ff. Der ausgeprägte Wunsch nach positiver Identitätsfindung in der eigenen, „vaterländischen“ Geschichte lässt die heutige russische Historie bei aller Anerkenntnis der Rückschrittlichkeit auch patriotische Verdienste der Epoche Alexanders III. festhalten, wozu – durchaus in Anlehnung bereits an zeitgenössische Verortungen – etwa die Betonung der Friedenswahrung, der Stabilität,oder überhaupt der Stärke des Monarchen zählen. Siehe beispielsweise Marija V. Eremenko, Carstvovanie Aleksandra III., Moskau 2007. Siehe Dietrich Beyrau / Manfred Hildermeier, Von der Leibeigenschaft bis zur frühindustriellen Gesellschaft (1856 bis 1890) und Heinz-Dietrich Löwe, Von der Industrialisierung zur Ersten Revolution, 1890 bis 1904, in: Manfred Hellmann / Gottfried Schramm / Klaus Zernack (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 3, Stuttgart 1983, S. 5–201 bzw. 203–335. Das Zitat bei Beyrau / Hildermeier, S. 71.

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doch übereinstimmten: Auf staatsrechtlich-politischem Gebiet folgte das Russische Kaiserreich in den 1880er und 1890er Jahren keinem progressiven, an gemeineuropäischem Wandel ausgerichteten Weg, so der übergeordnete Befund. Verschieden waren nur die Erklärungen hierfür: Während die „politische“ Schule einen von monarchischem Wollen bedingten, die Reformvorhaben der Vorgängerregierung abstoppenden Kurswechsel ausmachte, schien in der strukturgeschichtlichen Sichtweise ein europäischer, konstitutionalisierender Fortschritt in Russland gar nicht erst praktikabel, weshalb die Gesetze den sozialen Gegebenheiten entsprechend nachjustiert werden mussten. Zwar vertrat die Sozialgeschichte durchaus die Meinung, dass die das Kaisertum hinwegfegende Revolution von 1917 auch auf Versäumnisse der Politik in den letzten Jahrzehnten zurückzuführen war. Diese Inkompetenz der Regierungen, auf die gesellschaftlichen Herausforderungen des Industrialisierungszeitalters zu reagieren, war in dieser Auffassung freilich strukturell begründet und festgeschrieben. Das Zarenreich schien für die Historie oft geradezu zwangsläufig auf die finale Revolution zuzusteuern, die schließlich im Laufe des Jahres 1917 eindrucksvoll demonstrierte, dass dem Land für eine an Westeuropa angelehnte Parlamentarisierung und Verbürgerlichung jede Basis fehlte6. In einem solchen Szenario wurde 1881 ex post erst recht zu einer dramatischen Fußnote der Geschichte, die zwar beachtlichen Schrecken produzierte, vielleicht auch auf kommende Gewaltexzesse selbsternannter „Befreier des Volkes“ verwies, aber für den autokratischen Staat in dessen Unfähigkeit, sich selbst fundamental zu reformieren, keinen wirklich bedeutenden Einschnitt darstellte. 1881 blieb vornehmlich das Jahr, in welchem die Geschichte der Roma-

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Zur Erklärung der Russischen Revolution siehe u.a. Helmut Altrichter, Rußland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn 1997; Manfred Hildermeier, Russische Revolution, Frankfurt am Main 2004; ders., Die russische Revolution 1905–1921, Frankfurt am Main 1989; Sheila Fitzpatrick, The Russian Revolution, Oxford 1994; Bernd Bonwetsch, Die russische Revolution 1917. Eine Sozialgeschichte von der Bauernbefreiung 1861 bis zum Oktoberumsturz, Darmstadt 1991; Dietrich Geyer, Die Russische Revolution. Historische Probleme und Perspektiven, Göttingen ²1977. Am Befund der offensichtlichen Unvermeidbarkeit des totalen Zusammenbruchs sowie eines völligen Systemwechsels änderten im Grundsätzlichen auch jene Forschungsansätze nichts, die auf den Nachweis zivilgesellschaftlicher Strukturen im kaiserlichen Russland abzielten. Zwar musste man das Vorhandensein gesellschaftlicher Eigeninitiative im autokratischen Staat auf verschiedenen Gebieten zur Kenntnis nehmen, der Ausgang der Geschichte 1917 schien jedoch deutlich zu zeigen, dass jene neu entdeckten zivilen Aktivitäten in einem (staats-) bürgerlichen Sinn eben viel zu rudimentär und verstreut waren, als dass sie nennenswerte Gestaltungskraft für das soziopolitische Bewusstsein der russischen Bevölkerung als Ganzes hätten entfalten können. Wider die Vernachlässigung des Zivilgesellschaftlichen in Russland argumentiert Joseph Bradley, Subjects into Citizens, in: The American Historical Review, 2002, 107, S. 1094–1123. Für eine jüngere Darstellung stadtgesellschaftlicher Aktivität siehe Lutz Häfner, Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Die Wolgastädte Kazan’ und Saratov (1870–1914), Köln 2004. Vgl. auch Ilya Gerasimov, Redefining Empire: Social Engineering in Late Imperial Russia, in: ders. / Jan Kusber / Alexander Semyonov (Hg.), Empire Speaks Out. Languages of Rationalization and Self-Description in the Russian Empire, Leiden 2009, S. 229–272.

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nov-Dynastie ein neues Kapitel aufzuschlagen hatte, nicht weniger, aber auch nicht mehr.7 Im Gegensatz dazu sei hier argumentiert, dass die politischen Ereignisse des Jahres 1881 dieses zu einem Schicksalsjahr machten, welches in seiner Wirkung für die weitere Entwicklung Russlands bis in das 20. Jahrhundert hinein gar nicht überschätzt werden kann. Der Mord an Alexander II. brachte nicht nur einen Monarchen auf den Thron, der mit seiner schweren Bürde offensichtlich überfordert war (was übrigens noch mehr für dessen Sohn und Nachfolger, Nikolaj II., gelten sollte), sondern einen substantiellen Umgestaltungsprozess samt dafür erforderlichem Bewusstsein der politischen Elite zum Stoppen, der dem russischen Kaisertum einen evolutionären Weg in die verfassungsrechtliche und massengesellschaftliche Moderne des 20. Jahrhunderts hätte weisen können. Ausgehend von den Einsichten, dass in der autokratischen Staatsform Dynastiegeschichte von einer Geschichte der Politik kaum zu trennen ist und Politik auf der Spitzenebene vorwiegend in einem persönlichen Bezugsrahmen mit außerordentlicher Relevanz individueller Faktoren vollzogen wurde,8 soll hier ausgeführt werden, dass der Thronwechsel einen einschneidenden Politikwechsel bedingte. Auf seiner Grundlage wurden noch 1881 fatale Entscheidungen für Russlands Zukunft getroffen und epochale Reformperspektiven verschenkt. 2. DIE EINLADUNG DER GESELLSCHAFT Den Ausgangspunkt für die Erarbeitung solcher Reformperspektiven bildete jene Krise, die das politische Russland in den späten 1870er Jahren erfasst hatte. Radikale Kreise versuchten, den Staat und seine Repräsentanten durch Gewalt zu erschüttern. Zentraler Punkt in der Zielsetzung war die Tötung des Kaisers in dem Glauben, dass damit auch der Staatsform Autokratie der Todesstoß gegeben werde.9 Eine Explosion im kaiserlichen Winterpalast zu St. Petersburg am 5. Februar 1880 machte Alexander II. unmissverständlich klar, dass er seines Lebens selbst in gut bewachten Refugien nicht mehr sicher sein konnte. Er reagierte mit der Gründung einer Obersten Regierungskommission, die Ruhe und Ordnung in der Gesellschaft wiederherstellen sollte. Zu ihrem Vorsitzenden ernannte er den aus Armenien stammenden, hochangesehenen General Graf Loris-Melikov, der sich 7 8 9

Hans-Joachim Torke (Hg.), Die russischen Zaren 1547–1917, München 1995; Matthias Stadelmann, Die Romanovs, Stuttgart 2008. Näher behandelt wurde dieses Thema vom Verfasser in seiner 2009 eingereichten Habilitationsschrift Großfürst Konstantin. Der persönliche Faktor und die Kultur des Wandels in der russischen Autokratie, Philosophische Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg 2009. Zu radikalen Gruppe „Narodnaja volja“ (Volkswille) sowie zu anderen revolutionären bzw. oppositionellen Strömungen siehe beispielsweise Derek Offord, Nineteenth-Century Russia. Opposition to Autocracy, Harlow 1999; Franco Venturi, Roots of Revolution. A History of the Populist and Socialist Movements in Ninenteenth-Century Russia, London 2001; auch V.Ja. Boguþarskij, Iz istorii politiþeskoj bor’by v 70-ch i 80-ch gg. XIX veka. Partija „Narodnoj Voli”, eja proischoždenie, sud’by i gibel’, Moskau 1912.

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nicht nur in kriegerischen Operationen, sondern in den späten 1870er Jahren auch als militär-administrativer Krisenmanager in verschiedenen Provinzen hervorgetan hatte.10 Die Wahl war klug: Loris-Melikov, ein Quereinsteiger in der hauptstädtischen Politik und damit weitgehend unbelastet von den jahrelangen Petersburger Intrigen und Konkurrenzkämpfen, demonstrierte in seinem neuen Amt Tatkraft und schnelle Auffassungsgabe. Bereits seine Proklamation an die Bevölkerung vom 14. Februar 1880 ließ aufhorchen, indem sie deutlich machte, dass Loris-Melikov bei seiner innenpolitischen Konsolidierung nicht unabhängig von der Gesellschaft agieren, sondern diese mit ins Boot holen wollte – für das autokratische Russland selten zu hörende, dafür umso begeisterter aufgenommene Töne.11 Zwar kündigte er eine unerbittliche Verfolgung aller Gewalttäter an, gleichzeitig aber initiierte er eine Reihe vertrauensbildender Maßnahmen, wozu die Liberalisierung der Zensur ebenso gehörte wie die Abschaffung der Salzsteuer oder ein Feldzug gegen administrative Unregelmäßigkeiten. Die Ausbootung des reaktionären Bildungsministers D.A. Tolstoj wurde ebenso umjubelt wie die Auflösung der berüchtigten „Dritten Abteilung“ der Kaiserlichen Kanzlei und die damit verbundene Unterstellung der Staatspolizei unter die Verfügungsgewalt des Innenministeriums, dessen Chefsessel Loris-Melikov im August 1880 übernommen hatte.12 Handelte es sich hierbei um die Korrektur wahrgenommener Fehlentwicklungen, so beabsichtigte Loris-Melikov schon bald darauf, die Beziehungen von Staat und Gesellschaft vorsichtig auf eine neue Grundlage zu stellen, um auf diese Weise das russische Kaisertum, an das er glaubte, lebensfähig zu erhalten. Die eingeschränkte Beteiligung von Deputierten aus der Provinz an der legislativen Gestaltung des Reiches war zwar keine Erfindung Loris-Melikovs, ihm aber schien zu gelingen, was anderen weitsichtigen Staatsmännern des Russischen Kaiserreiches in den letzten Jahren und Jahrzehnten verwehrt geblieben war. Schon 1863 respektive 1866 hatten P.A. Valuev, der damalige Innenminister, und Großfürst Konstantin Nikolaeviþ, der Bruder des Kaisers und Präsident des Staatsrats, ähnliche Vorschläge erarbeitet und bei Alexander II. eingereicht.13 Beide waren beim Kaiser erst auf unverbindliches Interesse, dann auf klare Ablehnung gestoßen. Einige 10 Zu Loris-Melikov siehe Boris S. Itenberg / Valentina A. Tvardovskaja, Graf M.T. LorisMelikov i ego sovremenniki, Moskau 2004; Jurij Kostanjan, Graf Michail Tarieloviþ LorisMelikov (1824–1888), St. Petersburg 2005; Garegin G. Danieljan, General Graf LorisMelikov, Erevan 1997. 11 Loris-Melikovs Proklamation „K žiteljam stolicy“ [An die Bewohner der Hauptstadt] ist abgedruckt in Itenberg / Tvardovskaja, Graf M.T. Loris-Melikov, S. 403. 12 Die Lage im Land schien im August 1880 so stabilisiert, dass man die Sonderkommission vom Februar auflöste. Loris-Melikov übernahm daraufhin das Innenministerium als zentrales Ressort der russischen Regierung. Zur Politik des Jahres 1880 vgl. etwa Itenberg / Tvardovskaja, Graf M.T. Loris-Melikov, S. 102ff. bzw. 401ff.; Petr A. Zajonþkovskij, Krizis samoderžavija na rubeže 1870–1880-ch godov, Moskau 1964, S. 148ff. 13 Zu Valuevs und Konstantins Vorschlägen siehe – recht knapp – Valentina G. ýernucha, Vnutrennaja politika carizma s serediny 50-ch do naþala 80-ch gg. XIX v., Leningrad 1978, S. 118ff.; die Texte der jeweiligen Projekte in: K. Bermanskij, „Konstitucionnye“ proekty carstvovanija Aleksandra II, in: Vestnik prava 1905, H. 9, S. 223–291.

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Jahre später hatte sich die Lage in Petersburg jedoch so zugespitzt, dass der Autokrat bereit war, einen faktisch vielleicht kleinen, symbolisch jedoch großen Schritt auf die Gesellschaft zuzugehen. Bereits Anfang 1880 „fand“ der Kaiser zufällig „unter anderen Papieren“ den Vorschlag seines Bruders aus dem Jahr 1866 zur vorsichtigen Beteiligung gesellschaftlicher Kräfte an der Legislative wieder.14 Die Art und Weise, wie die Idee daraufhin von der zusammengerufenen „Crème“ der russischen Staatsmänner zerredet wurde, würde Material für eine eigene lehrhafte Analyse der politischen Kultur des Kaiserreiches hergeben.15 Gerade aufgrund der latenten gegenseitigen Antipathien und Eifersüchteleien unter Petersburgs Mächtigen war es so wichtig, dass mit Loris-Melikov ein Außenseiter das Vorhaben wieder aufgriff, ein Außenseiter freilich, um den sich innerhalb weniger Monate eine geradezu messianische Aura gebildet hatte. In der hoch personalisierten Politik des Russischen Reiches kam es für die Durchsetzung von Vorstellungen maßgeblich darauf an, wer versuchte, den Kaiser in einem geeigneten Augenblick für eine Sache zu gewinnen. Im Januar 1881 passte alles zusammen: Nach wie vor herrschte gespannte Stimmung im Land, was etwa an den Studentenunruhen vom Herbst 1880 abzulesen war, allerdings hatte Loris-Melikovs bisherige Politik in der Gesamtschau offensichtlich Erfolge gezeigt. In dieser Konstellation war Alexander II. Reformplänen gegenüber grundsätzlich aufgeschlossen – und Loris war der richtige Mann, um sie zu vertreten. Dennoch musste Letzterer geschickt vorgehen, um sich die Zustimmung des Kaisers zu seinem Vorhaben zu sichern. Dazu gehörte die Betonung, dass es sich nicht um ein konstitutionelles Anliegen nach westeuropäischem Vorbild handele, sondern „die Einladung [prizvanie] der Gesellschaft zur Beteiligung an der Ausarbeitung der zur gegenwärtigen Zeit unerlässlichen Maßnahmen genau jenes Mittel“ darstelle, „welches nutzbringend und unabdingbar für den weiteren Kampf gegen den Aufruhr“ sei.16 Diese gesellschaftliche Teilhabe sollte mehrstufig, indirekt und beschränkt ausgestaltet werden. Am Anfang stand die Einberufung „zeitweiliger Vorbereitungskommissionen“ in St. Petersburg, deren Mitglieder vom Kaiser auszuwählen waren. Dabei dachte der Innenminister an Vertreter von Regierungsinstitutionen und – hier das Neue – andere im weitesten Sinne kompetente Leute. Die Ergebnisse ihrer Beschäftigung mit Finanz- und Verwaltungsfragen sollten in einem zweiten Schritt in einer „Allgemeinen Kommission“ erörtert werden. Diese „Allgemeine Kommission“ sollte aus Mitgliedern der Vorbereitungskommissionen und – hier das nächste Neue – Abgeordneten aus den Provinzen bestehen. Die Beschlüsse der Kommission wür14 So der Tagebucheintrag des Großfürsten Konstantin vom 13. Januar 1880 in: Staatsarchiv der Russländischen Föderation, Moskau (Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii, GARF), f. 722, o. 1, d. 1164, l. 11ob. 15 Einige Einblicke bei Graf P.A. Valuev, Dnevnik 1877–1884, Petrograd 1919, S. 50ff.; GARF, f. 722, o. 1, d. 1164, l. 11ff. 16 Vsepoddanejšij doklad ministra vnutrennych del grafa M.T. Lorisa-Melikova ot 28 janvarja 1881 g.; meine Hervorhebung. Der „Untertänigste Bericht des Innenministers Graf M.T. Loris-Melikov“ ist abgedruckt in der Materialsammlung Konstitucija grafa Loris-Melikova, in: Byloe 1918, H. 4–5, S. 125–186, der Vortrag auf den Seiten 162–166, das Zitat auf S. 163.

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den dann in den Staatsrat gelangen, der – wie bisher – die Gesetzesprojekte einer Erörterung und einer – für den Autokraten nicht bindenden – Abstimmung zu unterziehen hatte. Die ursprüngliche Überlegung, vom Kaiser auch in den Reichsrat Vertreter der Gesellschaft – mit Stimmrecht – berufen zu lassen, wurde als Ergebnis dreier Sitzungen am 5., 9. und 14. Februar, in denen Russlands wichtigste Staatsmänner im Auftrag des Kaisers das Projekt erörterten, gestrichen.17 Dies kam nicht überraschend, war es doch der „radikalste“ Punkt in Loris-Melikovs Vorschlag, den bereits Alexander II. bei seiner Lektüre der schriftlichen Fassung mit einem Fragezeichen versehen hatte. Ansonsten aber votierten die Mitglieder jener „Besonderen Beratung“ („osoboe sovešþanie“) für das Vorhaben – und zwar auch jene, die vorher oder nachher Bedenken, mochten diese auch ganz unterschiedlicher Art gewesen sein, geäußert hatten. Der eifersüchtige Valuev, der kurze Zeit zuvor das ähnlich geartete Projekt von Großfürst Konstantin Nikolaeviþ verhindern geholfen hatte, stimmte ebenso zu wie der Thronfolger, der kurze Zeit später als Alexander III. die ganze Idee scheitern lassen sollte. Doch zunächst lief alles auf die Umsetzung des scheinbar allgemein erwünschten Projektes zu. Am 17. Februar bestätigte der Kaiser die Protokolle der „Besonderen Beratung“ und gab die Anweisung „ispolnit’“, „ausführen“. Innenminister Loris-Melikov ließ daraufhin eine Regierungsmitteilung zu diesem Thema vorbereiten, deren Text der Kaiser am 1. März an Valuev als Vorsitzenden des Ministerkomitees zur Prüfung weitergab. Wenn Valuev keine Einwände gegenüber dem Entwurf habe, so der Kaiser, solle er für den 4. März die Minister zusammenrufen, um den Text verabschieden zu können. Valuev gab dem Kaiser das Schriftstück ohne Beanstandungen zurück und befand, dass er „den Kaiser schon lange nicht mehr in solch guter Stimmung und sogar in der äußeren Erscheinung so gesund und gut“ gesehen habe.18 Am Nachmittag fuhr Valuev zu LorisMelikov, um diesen vorab darüber zu informieren, dass der Entwurf ohne Einwände zurück an den Kaiser gegangen sei, was bedeutete, dass einer endgültigen Beschlussfassung am 4. März nichts entgegenstand. Gerade als Valuev bei seinem Kollegen weilte, donnerte Geknall durch die Luft. Valuev dachte sogleich an das Schlimmste – „attentat possible“, Loris-Melikov rief „unmöglich“, beide machten sich in ihren Schlitten auf den Weg zum Winterpalast und erfuhren, dass das „Unmögliche“ doch wahr geworden war und es für den tödlich verwundeten Alexander II. keine Hoffnung mehr gab.19

17 Neben Loris-Melikov befassten sich der Thronfolger Aleksandr Aleksandroviþ, der Bruder des Kaisers Großfürst Konstantin Nikolaeviþ, Hofminister A.V. Adlerberg, Finanzminister A.A. Abaza, Justizminister D.N. Nabokov, der Vorsitzende der für legislative Fragen zuständigen Zweiten Abteilung der Kaiserlichen Kanzlei S.N. Urusov, der Vorsitzende des Ministerkomitees P.A. Valuev und Staatskontrolleur M.D. Sol’skij mit dem Projekt. Itenberg / Tvardovskaja, Graf M.T. Loris-Melikov, S. 181. 18 Valuev, Dnevnik 1877–1884, S. 147. 19 Valuev, Dnevnik 1877–1884, S. 147.

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3. DIE AUSLADUNG DER GESELLSCHAFT Die für den 4. März angesetzte Sitzung des Ministerkomitees entfiel. Stattdessen lud der neue Herrscher, Alexander III., vier Tage später, am 8. März, zu einer besonderen Versammlung in den Winterpalast, auf welcher das Loris-Melikovsche Reformprojekt nochmals besprochen werden sollte. Dass es nur eine Woche nach dem Attentat mit oberster Priorität auf der kaiserlichen Tagesordnung stand, macht deutlich, für wie wichtig das politische St. Petersburg die Reformfrage hielt. Es war das erste große Anliegen, dem sich Alexander III. widmete. Angesichts der einhelligen Unterstützung, die die Idee im Februar erfahren hatte, hätte man meinen können, das abermalige Aufgreifen derselben sei mehr eine Formsache, die nun vom neuen Kaiser zu Ende gebracht werden sollte. Offizieller Ausgangspunkt der neuerlichen Beratungen waren in der Tat „einige Anmerkungen [Alexanders II.] zu Details [des Entwurfs]“, die Alexander III. noch erörtert haben wollte. In einem Atemzug fügte er freilich die Bitte hinzu, „völlig aufrichtig zu sein“ und „ohne jede Hemmung die [eigene] Meinung bezüglich der gesamten Angelegenheit“ zu äußern, wobei er besonders betonte, dass die bereits erfolgte Befürwortung durch den ermordeten Vater wie auch durch ihn, Alexander III., selbst, die erbetenen Meinungsäußerungen in keiner Weise beeinflussen sollte.20 Nachdem Loris-Melikov nochmals das Projekt und seine Vorgeschichte vorgestellt hatte, nahm Graf Sergej Stroganov, ein bekannter Konservativer aus Russlands „Highest Society“, den Alexander III. zu der Sitzung eingeladen hatte, obwohl er kein Staatsamt inne hatte, den Kaiser beim Wort und verkündete ohne viel Umschweife, dass er „die vorgeschlagene Maßnahme“ nicht nur für „unzeitgemäß“, sondern auch für „schädlich“ hielt: „Die Macht geht aus den Händen des Selbstherrschers […] über in die Hände von Taugenichtsen.“ In seinem kurzen, aber entschiedenen Auftritt brachte der alte Stroganov noch jenes „Unwort“ ins Spiel, welches die Reformer um Loris-Melikov tunlichst zu vermeiden bestrebt gewesen waren: „Dieser Weg“, so Stroganov, „führt direkt zu einer Konstitution, die ich mir nicht wünsche, weder für Euch noch für Russland …“.21 Ganz unrecht hatte der retrograde Graf mit seiner Befürchtung nicht: Auch wenn das zu erörternde Projekt mit einer Verfassung nichts zu tun hatte, beinhaltete es doch Grundlegungen, die – auf mittlere oder längere Sicht – durchaus Keimzellen einer konstitutionellen Ordnung hätten werden können. Dass diese Argumentation vom Reformlager heftig dementiert wurde, überrascht nicht. Einerseits wäre eine konstitutionelle Entwicklungslinie zum damaligen Zeitpunkt weder bei Alexander II. noch bei seinem Nachfolger durchzusetzen gewesen, anderseits bestand für LorisMelikov und Co. in ihrer Weltsicht auch nicht die Notwendigkeit, jetzt, 1881, über eine Verfassung zu diskutieren. Es ging eben darum, mit klar definierten Mitteln innerhalb festgelegter Grenzen die Gesellschaft an den Belangen des Staates zu beteiligen und ein gedeihliches Zusammenwirken zu initiieren, ohne die Rechte des Monarchen zu beschneiden. 20 [Egor A. Peretc], Dnevnik E.A. Peretca (1880–1883), Moskau 1927, S. 32–33. 21 Ebd., S. 33.

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Doch die Versuche der Reformer, ihre gemäßigten Ideen auf jener Sitzung am 8. März zu verteidigen und durchzusetzen, verpufften in der aufgeheizten Atmosphäre nach dem Attentat. Loris-Melikov schien ohnehin noch von den Ereignissen verdattert, er gab sich wohl als Innenminister und Polizeichef eine Mitschuld am Tod des Kaisers. Valuev, Kriegsminister Miljutin und Staatskontrolleur Sol’skij dagegen sprachen sachlich und vernunftbetont für das Projekt, auch Justizminister Nabokov und der geschäftsführende Bildungsminister Saburov schlossen sich an. Zum großen Wortführer des Reformlagers schwang sich jedoch Finanzminister Abaza auf, ein enger Bekannter Loris-Melikovs, ebenso wohlhabend wie liberal, ebenso intelligent wie unbeherrscht. Ihm oblag es, auf zwei ablehnende Haltungen zu replizieren. Postminister Makov, der einige Monate zuvor das Innenressort an Loris verloren hatte und seitdem dessen Aktivitäten ohnehin mit Antipathie verfolgte, war dabei mit seiner negativen Haltung das leichtere Gewicht. Erheblich schwerer wog die Philippika von Konstantin Pobedonoscev, seit 1880 Oberprokuror des Heiligsten Synod, ein eminenter Jurist, als solcher auch Lehrer Alexanders III. in dessen Zeit als Thronfolger und nun besonderer Vertrauter desselben. Pobedonoscev brannte ein Feuerwerk des Schreckens ab, schwadronierte vom „Finis Russiae“, entdeckte überall Verlogenheit, Heuchelei und Egoismus, unterzog die Reformpolitik Alexanders II. einer Generalkritik, warnte vor einer „Obersten Schwatzbude“, in der sich „Halunken“ und andere „sittenlose“, der „Perversität“ hingegebene Personen tummeln würden, und definierte die „Verfassung“, die Loris und seine Anhänger einführen wollten, als „Waffe der Unwahrheit“, die Russlands Untergang herbeiführen würde.22 Derlei Auftritte beeindruckten den Kaiser ungleich stärker als die auf einen vorsichtigen Politikwechsel abzielenden Plädoyers der Reformer. So stattlich deren Phalanx auch sein mochte – sie alle taten sich schwer, gegen das entworfene Untergangsszenario anzuargumentieren. Da half es auch nicht, dass Abaza vor Wut über Pobedonoscev Einlassungen platzte und sich den prophetischen Satz erlaubte: „Der Thron kann sich nicht ausschließlich auf eine Million Bajonette und eine Armee von Beamten stützen.“23 Am Ende mussten die Reformer froh sein, dass die Entscheidung noch einmal vertagt wurde. Einen wesentlichen Beitrag hierzu hatte Großfürst Konstantin Nikolaeviþ geleistet. Er, der wesentliche Stationen der Reformpolitik seines Bruders mitgestaltet hatte und das Projekt mit Überzeugung trug, kannte seinen Neffen Alexander III., mit dem ihn gegenseitige herzliche Abneigung verband, zu gut. Es war ihm klar, dass eine Verabschiedung des LorisMelikovschen Entwurfs an diesem Tag aussichtslos und gegen die Haltung Pobedonoscevs im Allgemeinen schwierig war. So versuchte er den Oberprokuror ideell mit „ins Boot“ zu holen, da ja auch dieser an einer Verbindung („zveno“) von Zar und Volk interessiert sei. Wie diese aussehen müsse, darüber könne man ja nochmals reden. Gleichsam als Autorität berief er sich auf Kaiser Alexander I., dessen Lieblingsspruch gewesen sei: „Nimm zehn mal Maß und schneide einmal ab.“ In diesem Sinne sollte auch jetzt, 1881, noch einige Male Maß genommen 22 Ebd., S. 38. 23 Ebd., S. 37.

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werden. Dann allerdings, so seine Überzeugung, müsse auch „abgeschnitten“ werden. Andere Teilnehmer schlossen sich dem Vorschlag der Vertagung an, so dass der Kaiser eine Kommission ins Leben zu rufen gedachte, die das Projekt abermals erörtern sollte. Dass er freilich dem 86-jährigen Stroganov, der sich ja unzweideutig gegen das ganze Vorhaben gewandt hatte, den Vorsitz antrug, verhieß nichts Gutes für die Reform.24 Die folgenden Wochen ließen – bei aller Konfusion und Erschütterung – recht schnell klar werden, wie gespalten das politische St. Petersburg über den künftigen Kurs war. Die gegeneinanderstehenden Auffassungen waren schwer miteinander vereinbar, zumal auch persönliche Animositäten Kompromisse nahezu unmöglich machten. Loris-Melikov und Abaza hatten als prononcierteste Vertreter des Reformkurses den Auftritt Pobedonoscevs am 8. März nicht nur als Affront, sondern geradezu als Messerstich in den Rücken empfunden. Entgegen aller Höflichkeitskonvention muss Loris schon am Tag der Sitzung seinen Widersacher mit völliger Verachtung und Ignoranz gestraft haben, so dass Pobedonoscev sich zu einem kurzen Brief an Loris genötigt fühlte, in welchem er sein Bedauern zum Ausdruck brachte, für den Fall, dass „meine heute in der Sitzung gesagten Worte bei Ihnen das Gefühl persönlichen Missvergnügens mir gegenüber hinterlassen haben“.25 Genau das war aber der Fall. Für Loris-Melikov und Abaza waren die Fronten unversöhnlich, die politischen Gegner zu persönlichen Feinden geworden. Mit Pobedonoscev und Makov sprachen sie fast kein Wort mehr und verweigerten sogar, um die Verstimmung deutlich zu machen, den Händedruck. Für den Staatsratssekretär Peretc, der ohne Einschränkung auf Seiten der Reformer stand, verstießen diese damit gegen „die Regeln von Anstand und Höflichkeit“.26 Doch man war aufgeregt und emotional angespannt. Intrigen und Tiraden waren keine Seltenheit, mit Hassgefühlen suchte man wohl auch die eigene Fassungs- und Hilflosigkeit nach dem unerhörten Ereignis vom 1. März zu kompensieren. Das galt auch, vielleicht sogar noch mehr, für die Retrograden: Zwar blieb man auf dieser Seite zurückhaltender, was die allgemein sichtbare Demonstration von Abneigung anging, und folgte den jahrzehntelang bewährten Mustern von „priliþie“ (Anstand). Hinter den Kulissen jedoch tuschelte, mauschelte und werkelte man umso intensiver. Die Anschuldigungen, Verdächtigungen und Verleumdungen herausragender Staatsmänner der Reformära nahmen zu, wohl auch in dem Wissen, dass

24 Ebd., S. 44–46. 25 Der Brief von K.P. Pobedonoscev an Graf M.T. Loris-Melikov vom 8. März 1881 ist abgedruckt in: Konstitucija grafa Loris-Melikova, S. 180. Es scheint, als ob sich Pobedonoscev für sein heftiges Auftreten rechtfertigen wollte: „[…] in dieser feierlichen und schicksalhaften Minute hielt ich es für meine Pflicht, meine ganze Wahrheit über die große Staatsangelegenheit auszusprechen. Meinungen und Ansichten können differieren, aber in solchen Minuten muss jeder bis zum Äußersten nach seinem Gewissen und seinem Verstand urteilen.“ Dass Pobedonoscev beim Abfassen des Briefes offensichtlich nervös und beunruhigt war, suggeriert der Schreibfehler „rukovuju“ anstatt „rokovuju“ (schicksalhaft). 26 Dnevnik E.A. Peretca, S. 51.

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der neue Zar für derlei nicht zuletzt gegen seinen verhassten Onkel Konstantin gerichtetes Gerede sehr empfänglich war.27 Aber auch wenn nach der Ermordung Alexanders II. das retrograde Element im Aufwind war und Staatsmänner mit liberalem Ruf immer schlechter beleumundet waren, wenn der ehedem einflussreiche Großfürst Konstantin Nikolaeviþ aufgrund seines hochgradig belasteten Verhältnisses zum neuen Kaiser nicht mehr viel für die Reformer tun konnte, gaben Loris-Melikov und Abaza sowie mit ihnen auch Kriegsminister Dmitrij Miljutin ihre Bemühungen nicht auf. Noch war Alexander III. erst kurze Zeit „im Amt“ und keineswegs selbstverständlich, dass sich Pobedonoscev auf ganzer Linie durchsetzen würde. Schließlich war seine Ressortkompetenz, der Heiligste Synod, für das tagespolitische Handeln eher peripher. Optimistisch stimmende Anzeichen gab es für Loris-Melikov nämlich auch – etwa die von ihm betriebene Entlassung von Postminister Makov, der sich auf besagter Sitzung ja ebenfalls als konservativer „Störenfried“ präsentiert hatte. Dass die Zuständigkeiten seines Ressorts in das Innenministerium eingegliedert wurden, stärkte natürlich dessen Hausherren. Auch bei den Revirements im Bildungs- und Staatsdomänenministerium, wo die Minister Saburov und Lieven durch Baron Nikolai und Ignat’ev ersetzt wurden, konnte Loris seinen Einfluss als inoffizieller „Regierungschef“ geltend machen. Anfang April stand Loris-Melikov als zentrale Figur des Reformlagers also im Zentrum des politischen Geschehens. Programmatischer Ausdruck dieser durchaus starken Position war ein Memorandum an den Kaiser vom 12. April, in welchem der Innenminister seine Vorstellungen für die künftige Politik im Zarenreich darlegte.28 An dieser Stelle fehlt der Raum, um detaillierter auf die Schrift mit ihren Vorschlägen zu den Bereichen Polizei, Lokalverwaltung, Bildung, Presse, Bauernfrage etc. einzugehen. Nur kurz sei hier auf die beiden „unerlässlichen Bedingungen für die Erfüllung der anstehenden Aufgaben der Regierung“ verwiesen:29 Einheit der Regierung und Beteiligung von Vertretern der Gesellschaft bei der Vorbereitung und Implementierung der Reformen. Letzteres nahm Bezug auf die im angesprochenen Projekt zu verwirklichende Vorstellung, Staat und Gesellschaft, Herrschaft und Bevölkerung einander näherzubringen. Auch wenn sich seit der gut einen Monat zurückliegenden Sitzung im Winterpalast nichts getan hatte, signalisierte Loris dem Kaiser, dass das vertagte Anliegen immer noch aktuell war und vom führenden Minister weiter verfolgt wurde. Neu war jetzt die Forderung nach Einheitlichkeit der Regierung. Mit der Idee, dass sich die Minister stets untereinander abstimmen und sich auf verbindliche, von allen Kollegen im Stile ei27 Aufschluss über diese Tendenzen geben beispielsweise Valuev, Dnevnik 1877–1884; Dnevnik E.A. Peretca; [Dmitrij A. Miljutin], Dnevnik D.A. Miljutina, tom þetvertyj, 1881–1882, hg. von P.A. Zajonþkovskij, Moskau 1950; [K.P. Pobedonoscev], Pis’ma K.P. Pobedonosceva k Aleksandru III. Tom I, Moskau 1925. Siehe auch Ju.V. Got’e, Bor’ba pravitel’stvennych gruppirovok i manifest 29. apr. 1881 goda, in: Istoriþeskie zapiski, 1938, H. 2, S. 240–299; Sri Suddha Jayawardane, Court Politics and the Fate of Bureaucratic Constitutionalism in Russia, 1879–1882, Diss. Phil. University of Washington 1982. 28 Abgedruckt in Konstitucija grafa Loris-Melikova, S. 180–184. 29 Siehe ebd., S. 182f.

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nes Kabinetts mitzutragende Konzepte einigen sollten, wollte man der traditionellen Typik autokratischer Ministerpolitik vorbauen: Mit der individuellen Hinterzimmertuschelei unter vier Augen sollte es ebenso vorbei sein wie mit dem Hineinreden in Staatsangelegenheiten von Personen, die im institutionelladministrativen Sinne gar keine Kompetenz dazu hatten. Es lag auf der Hand, dass man damit tagesaktuell vor allem auf Pobedonoscev zielte. Selbstredend konnte die „Einheitlichkeit der Regierung“ nicht bedeuten, die letzte und unhinterfragbare Entscheidungsgewalt des Autokraten auszuhebeln. Verhindert werden aber sollte die mangelnde Verlässlichkeit politischen Gestaltens durch individuelle Einflussnahme ad hoc. Infolge des neuerlichen Memorandums wurde am 21. April 1881 abermals eine Sitzung beim Kaiser anberaumt, diesmal in kleinerer Besetzung in Gatþina, Alexanders Lieblingsschloss südlich der Hauptstadt. Bereits im Vorfeld praktizierten Loris, Abaza und Miljutin ihre Idee eines einheitlich agierenden „Kabinetts“, indem sie sich vorher besprachen und gemeinsam in der Kutsche zum Schloss fuhren. Offensichtlich waren auch die Minister Nabokov, Nikolai und Ignat’ev schon im Vorfeld auf Linie gebracht worden – jedenfalls zogen alle sechs geladenen Minister an einem Strang und argumentierten für eine unifiziert agierende Regierung. Pobedonoscev schien von dieser ministerlichen Geschlossenheit überrumpelt und tat sich schwer, gegen die Vorstellung einer starken, einheitlichen Regierung Argumente zu finden. Zur allgemeinen angenehmen Überraschung stand der Oberprokuror – trotz einer für ihn üblichen Lamentation über die Zustände der Zeit – dem Plan nicht im Wege. Damit mochte es auch zusammenhängen, dass der Kaiser ebenfalls nichts Grundsätzliches gegen die Pläne der Minister einzuwenden hatte. Allerdings lag ihm ganz offensichtlich daran, dass die Abstimmung der Minister untereinander auf einer möglichst wenig formalisierten Ebene und im kleinen Kreis stattfinden würde. So beschloss er, die Bildung einer „Sonderberatung“ aus den Ministern für Inneres, Finanzen, Krieg, Justiz, Volksaufklärung, Staatsdomänen sowie dem Oberprokuror des Heiligsten Synods zu bilden – „zufälligerweise“ genau jene Personen, die sich gerade vor Ort in Gatþina befanden. Um den unmittelbaren Bezug zum Kaiserhaus zu postulieren, entschied Alexander III., dass sein jüngerer Bruder Vladimir Aleksandroviþ den Vorsitz in diesen Beratungen führen solle. Ein Kabinett nach westeuropäischem Vorbild war dies nun nicht, dennoch triumphierte Abaza, der wiederum am stärksten aufgetreten war: Pobedonoscev schien, was seinen Einfluss anging, „vernichtet“. Doch nicht nur die vermeintliche Domestizierung der gräulichen Eminenz ließ Loris und Abaza ihren „Sieg“ mit Champagner bei Madame Nelidova feiern, sondern die generell vielversprechende Erkenntnis, dass man endlich den Kaiser von den eigenen Vorstellungen hatte überzeugen können. Hiervon ausgehend sahen plötzlich auch die Perspektiven für das protokonstitutionelle Reformprojekt zur gesellschaftlichen Beteiligung ganz anders, nämlich besser, aus. Selbst der stets kaltblütige und beherrschte Dmitrij Miljutin ließ sich von der reformerischen Euphorie anstecken:

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Miljutins Hoffnung auf eine „segensreiche Wirkung“ auf Alexander III. ging an der Realität völlig vorbei. Es ist anzunehmen, dass die Minister wohl eher zu Mineralwasser aus den Bergen des Kaukasus als zu Champagner gegriffen hätten, wenn sie von dem Brief gewusst hätten, den der Kaiser noch am selben Tag an den düpiert von dannen geschlichenen Pobedonoscev geschrieben hatte: „Unsere heutige Beratung hat auf mich einen traurigen Eindruck gemacht. Loris, Miljutin und Abaza führen definitiv dieselbe Politik fort und wollen so oder so eine Repräsentativvertretung bei uns einführen, aber solange ich nicht überzeugt sein werde, dass dies für Russlands Glück unabdingbar ist, wird es so etwas natürlich nicht geben, ich werde es nicht zulassen. Im Übrigen werde ich mich kaum jemals vom Nutzen einer solchen Maßnahme überzeugen lassen, zu sehr glaube ich an die Schädlichkeit derselben. […] Mehr und mehr bin ich überzeugt, dass ich von diesen Ministern Gutes nicht erwarten kann. […] Schwierig und belastend ist es, mit solchen Ministern zu tun zu haben, die sich selbst betrügen.“31

Nach diesem Schreiben wusste Pobedonoscev, dass die Reformminister keine Chance hatten. Während diese im Hochgefühl des Triumphes Pläne schmiedeten, arbeitete der Oberprokuror im Hintergrund am finalen Paukenschlag, mit dem die reformerischen Hirngespinste beendet werden sollten. Mal subtil, unter Hinweis auf die in der Hauptstadt zirkulierenden Gerüchte über bald einzuführende Vorformen einer Verfassung sowie über eine mangelnde Präsenz des Kaisers im Leben des Staates, mal ganz direkt, mit Angriffen auf seine politischen Gegner, drängte Pobedonoscev den Herrscher zielgerichtet zur Ausfertigung eines selbstherrscherlichen Manifestes, mit welchem das ganze unerwünschte Geschwätz vom Tisch gewischt würde und – nützlicher Nebeneffekt – die triumphierenden Liberalen an essentielle Grundbedingungen der russischen Politik erinnert würden.32 In Abstimmung mit dem bereits in der Sitzung am 8. März einschlägig positionierten Grafen Stroganov verfasste Pobedonoscev einen Entwurf für das vorgesehene Manifest. Es fand die volle Zustimmung Alexanders III. und wurde am 29. April 1881 publiziert. Nach grundlegenden Worten über den Gottesbezug der Zarenherrschaft und die Verdienste des ermordeten Alexander II. sowie einem Satz über den Mord folgte die – aus politischer Sichtweise – entscheidende Stelle: „Inmitten Unserer großen Trauer befiehlt uns doch die Stimme Gottes, kühn die Regierung an uns zu nehmen im Vertrauen auf die göttliche Vorsehung, mit dem Glauben an die Kraft und Wahrheit der Selbstherrscherlichen Macht, die wir aufgerufen sind gegenüber allen möglichen Ansprüchen zu stärken und zu schützen für das Wohl des Volkes.“33

30 Dnevnik D.A. Miljutina, S. 59. Siehe zu diesem Zusammenhang sowie zum Folgenden auch Valuev, Dnevnik 1877–1884, S. 161ff.; Dnevnik E.A. Peretca, S. 62ff. 31 Der Brief von Alexander III. an K.P. Pobedonoscev vom 21. April 1881 ist abgedruckt in: K.P. Pobedonoscev i ego korrespondenty. Pis’ma i zapiski, t. I., Moskau 1923, S. 49. 32 Vgl. Pis’ma K.P. Pobedonosceva k Aleksandru III, S. 327ff. 33 Polnoe Sobranie Zakonov Rossijskoj Imperii, Sobr. III, Tom 1, S. 53–54 [Nr. 118].

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Im Interesse des „Wohls des Volkes“ hatte sich der autokratische Kaiser also dazu entschieden, die Gesellschaft aus der politisch-legislativen Veranstaltung wieder auszuladen. Der Selbstherrscher sollte weiterhin ohne jede Einschränkung bestimmen, wo es lang ging, nicht die Minister und nicht irgendwelche gewählten Repräsentanten der Bevölkerung, denen ja ohnehin vorerst nur beratende Rechte zugedacht worden waren. Über das Manifest war die gesamte Regierung mit Ausnahme Pobedonoscevs nicht informiert worden, es platzte wie eine Bombe in eine Ministersitzung hinein. Loris-Melikov war fassungslos, Abaza rastete aus, so dass Pobedonoscev – um sein Wohlergehen fürchtend – das Weite suchte. Die Reformer sahen alle ihre Bemühungen um eine Anpassung der Autokratie an die Erfordernisse der Zeit, mit einer selbständigeren Regierung und der eingeschränkten Beteiligung der Gesellschaft, durch das Bekenntnis zur Selbstherrschaft konterkariert. Natürlich verstanden sie sofort, dass gerade sie es waren, auf die das Manifest mit der Formulierung „alle möglichen Ansprüche“ zielte. Dass der Kaiser ein solches Fundamentaldokument ohne Beratung mit seiner Regierung erließ, ja es nicht einmal nötig fand, dieselbe zu informieren, musste – über die politische Bedeutung hinaus – auch als persönlicher Affront sondergleichen verstanden werden. Die Konsequenzen ließen nicht lange auf sich warten. Noch am selben Tag reichten LorisMelikov und Abaza ihren Rücktritt ein, Miljutin folgte dem Beispiel zwei Wochen später. Mit dem Ausscheiden des „Triumvirats“ aus Innen-, Finanz- und Kriegsminister verließen die drei eminentesten Garanten der Reformpolitik der letzten Jahre die Regierung. Ihr Abgang wurde vervollständigt durch die Abreise des hinauskomplimentierten Großfürsten Konstantin, der den Vorsitz im Staatsrat und die Leitung des Flottenministeriums aufgeben musste. Der Bruder Alexanders II., der selbst bereits seit dem 1. März keine politische Zukunft mehr hatte, empfand die Entwicklungen um Loris und Abaza als höchst bedauerlich für Russland. Es blieb ihm schwacher Trost: „Au moins je m’en vais en bonne compagnie“.34 4. 1881 ALS SCHICKSALSJAHR IN RUSSLANDS POLITISCHER GESCHICHTE Das Scheitern eines protokonstitutionellen Reformprojektes und die grundsätzliche Ausbootung der Reformregierung wenige Wochen später bilden eine deutliche Zäsur in den Entwicklungsperspektiven des kaiserlichen Russland. Beide Konstellationen sind der Geschichtsschreibung bekannt und von ihr in unterschiedlicher Intensität auch thematisiert, in ihrer epochalen Bedeutung jedoch nicht erkannt worden. In der sonntäglichen Sitzung bei Alexander III. am 8. März wurde mit dem Loris-Melikovschen Projekt nicht nur ein Reformentwurf unter vielen auf Eis gelegt, sondern die Chance einer allmählichen, behutsamen Annä34 Dnevnik E.A. Peretca, S. 69; siehe auch Dnevnik D.A. Miljutina, S. 61ff.; Valuev, Dnevnik 1877–1884, S. 161ff.

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herung an konstitutionelle Vorstellungen zerstört. Die folgende Entlassung der Reformminister im Mai sowie des Staatsratspräsidenten Großfürst Konstantin Nikolaeviþ im Juli 1881 bedingte nicht nur den Übergang zu einer konservativeren Regierung, sondern drängte jene einflussreichen Kreise St. Petersburgs aus dem politischen Geschäft, die zum Teil schon seit den 1850er Jahren Motoren der Modernisierung des autokratischen Staates und seiner Gesellschaft gewesen waren. Mit diesen beiden Entwicklungen wurden 1881 in Russland politische Reformperspektiven zu Grabe getragen, in einer Zeit, in der sie sehr wohl noch mittel- bis langfristige Wirkung hätten entfalten können. 1881 markiert eine entscheidende vertane Chance, die russische Gesellschaft rechtzeitig in die Politik des autokratischen Staates zu integrieren, und wird in dieser Lesart zu einem Schlüsseljahr für Russland. Im europäischen Kontext raschen sozioökonomischen Wandels, konstitutionellen Ausbaus, gedanklicher und moralischer Liberalisierungen sowie politischer Radikalisierungen taugte eine grundsätzliche Zarentreue der Bevölkerung bald nicht mehr zur systemerhaltenden Identitätsstiftung. Ganz unrecht hatten die Retrograden ja nicht, wenn sie darüber klagten, dass die Reformen Alexanders II. gesellschaftliches Aktivitätspotential stimuliert hätten. Die städtische und gebildete Gesellschaft Russlands am Ende der Regierungszeit des „Zaren-Befreiers“ war eine andere als an ihrem Anfang. Die Vorstellung der Rückwärtsgewandten jedoch, man hätte die russische Gesellschaft auf alle Ewigkeit in untertäniger Dankbarkeit zusammenhalten können, während ein handverlesener Kreis über ihre Geschicke bestimmte, war völlig illusorisch. Schon Alexander II., keineswegs ein geborener Reformer, hatte in frühen Regierungsjahren erkannt, dass er handeln müsse, damit sich die Gesellschaft nicht auf womöglich unkontrollierbare Weise selbständig machen würde. Auf dem Weg Russlands in das 20. Jahrhundert wollte und musste die Bevölkerung mitgenommen werden, sprich: Es mussten ihr Perspektiven der Partizipation und Identifikation geboten werden – die projektierte Reform wies rechtzeitig Wege hierzu. Natürlich bleiben Antworten auf die Frage nach den möglichen Konsequenzen der projektierten Reform spekulativ. Um darüber plausible Aussagen zu treffen, müssten langfristige Charakteristiken autokratischer Reformpolitik seit Peter dem Großen ebenso erörtert werden wie kurzfristige Reaktionen auf und Erwartungen an das Reformprojekt. Ergebnisse und Leistungen der 1864 eingerichteten lokalen Selbstverwaltung müssten ebenso gewürdigt werden wie zivilgesellschaftliche Ansätze im späten Zarenreich. Der Staatsrat, dem die neu einzuberufenden Deputiertengremien letztlich zuarbeiten sollten, wäre auf breiter Quellenbasis unter die Lupe zu nehmen. Und man müsste noch mehr in Erfahrung bringen, wie unterschiedliche Kreise und Schichten der russländischen Gesellschaft sich und ihre soziopolitische Konstellation wahrgenommen haben. Doch unabhängig von einer solchen Forschungsagenda ist klar, dass der Kurswechsel von 1881, der keine pragmatische Anpassung, sondern eine scharfe Kehrtwende war, dem Land nicht gut getan hat. Die Gesellschaft, die Alexander II. auf Drängen LorisMelikovs, Konstantin Nikolaeviþs, Valuevs und anderer Reformer endlich bereit gewesen war, zur Mitwirkung im Staat einzuladen, war von seinem Sohn aus

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Angst um die Autokratie wieder ausgeladen worden. Die Konzepte der Entourage von Alexander III. beschränkten sich auf die autoritär ausgerichtete Nachjustierung einst getätigter Reformen – für die kommenden Herausforderungen einer industrialisierten und politisierten Massengesellschaft bot dies keine probaten Antworten mehr. Eine rechtzeitige protokonstitutionelle Unterfütterung der Monarchie dagegen hätte wohl gerade durch zu erwartende identitätsbildende Wirkungen im Sinne einer „europäischen“ politischen Kultur andere Kommunikationsformen zwischen Staat und Gesellschaft möglich gemacht, als sie in den Revolutionen erst von 1905 und dann von 1917 praktiziert wurden.

DAS JAHR 1905 UND DAS ZARENREICH: IMPERIAL UND GLOBAL Jan Kusber Das Nachdenken darüber, was ein Schlüsseljahr der Geschichte ausmachen könnte, hat für Historikerinnen und Historiker, die sich mit dem östlichen Europa beschäftigen, einen besonderen Reiz. Geschichtspolitik wird hier, so der Eindruck, in einem stärkeren Maße betrieben als in Mittel- und Westeuropa;1 Gedenktage und Jubiläen, die historisches Geschehen kontextabhängig als Schlüsseljahr in den Mittelpunkt rücken, werden aufwendig begangen. Erinnerungskulturen unterliegen je nach Art und Größe des Kollektivs besonderen Mehrfachbeanspruchungen. Zugleich findet sich, ohne dass dies empirisch hart zu belegen wäre, ein besonderes Jubiläumsbewusstsein und eine Latenz der Aktualisierbarkeit von historischen Argumentationslinien für die Gegenwart. Zumindest galt dies bis in die jüngste Vergangenheit. Das sowjetische Experiment mit einer spezifischen Ritualisierung des Gedenkens hat hierzu sicher das seine zur Rhythmisierung und Ritualisierung von Jubiläumsgedenken beigetragen. Historikerinnen und Historiker waren und sind beileibe nicht die einzigen und bei weitem nicht die wichtigsten Akteure und Akteurinnen in diesen Prozessen. Sie sind aber auch keineswegs davor gefeit, diese zu befördern. Vielmehr ermöglicht es ihnen für einen kurzen Augenblick, ihrem Arbeitsgebiet (und sich selbst) aus Anlass eines Jubiläums Aufmerksamkeit zu verschaffen. Die zahlreichen Konferenzen und Publikationen über das Jahr 1905, die einerseits dem Russisch-Japanischen Krieg,2 andererseits der so genannten ersten russischen Revolution3 gewidmet waren und an denen der Verfasser dieses Beitrags 1 2

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Helmut Altrichter (Hg.), GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozess Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas, München 2006 (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 61). Ian Nish (Hg.), The Russo-Japanese War, 1904–5: A Collection of Eight Volumes, Folkstone 2003; Rotem Kowner, Historical Dictionary of the Russo-Japanese War, Lanham 2006; Josef Kreiner (Hg.), Der Russisch-Japanische Krieg (1904/05), Göttingen 2005; John W. Steinberg / Bruce M. Menning / David Schimmelpenninck van der Oye / David Wolff / Yokote Shinji (Hg.), The Russo-Japanese War in Global Perspective: World War Zero, 2 Bände, Leiden 2005/07; Maik Hendrik Sprotte / Wolfgang Seifert / Heinz-Dietrich Löwe (Hg.), Der Russisch-Japanische Krieg 1904/05. Anbruch einer neuen Zeit?, Wiesbaden 2007; Rotem Kowner (Hg.), The Impact of the Russo-Japanese War, London 2007 (= Routledge Studies in the Modern History of Asia, 43); ders. (Hg.), Rethinking the Russo-Japanese War, 1904–05. Vol. I, Centennial Perspectives, Folkstone 2007; John Chapman / Inaba Chiharu (Hg.), Rethinking the Russo-Japanese War, 1904–05, Vol. II, The Nichinan Papers, Folkestone 2007. Jonathan D. Smele et al. (Hg.), The Russian Revolution of 1905: Centenary Perspectives, London 2005; Pervaja russkaja revoljucija. Vzgljad þerez stoletie, Moskau 2006; B.V. Grys-

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teils auch mitgearbeitet hat, zeigen dies. Dabei lässt sich aber schon an Konferenz- und Publikationsorten ablesen, dass das Jahr 1905 im östlichen Europa sicher kein Erinnerungsort von herausragender Bedeutung mehr ist. In dem Maße, in dem das Gedenken an das Jahr 1917 in Russland abnimmt, in dem Maße sinkt auch der Stern der ersten russischen Revolution als erinnerungswürdig und damit korrespondiert der Umstand, dass die Revolution in Russland selbst zu ihrem hundertjährigen Jubiläum vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erfahren hat. An diese Befunde schließen zwei Beobachtungen an: 1. Je nach Kontext und nach Art des Gedächtnisses – wenn wir uns die Klassifikation von Aleida Assmann zu Eigen machen – gewinnt das Jahr 1905 an geschichtspolitischer Aktualität, die die Menschen bewegt. Ein Beispiel mag hier illustrativ und hinreichend zugleich sein: Bei der Jubiläumskonferenz aus Anlass des hundertsten Jahrestages des Rigaer Blutsonntags am 12. Januar 1905, eröffnet durch die lettische Staatspräsidentin Vaira VƯƷe-Freiberga, kam es zu erbitterten Debatten, die eng mit dem Weg der lettischen Geschichte im 20. Jahrhundert verbunden waren. Personen und Ereignisse wurden rückgekoppelt an Veränderungen der familiären, lokalen oder regionalen Lebenswelten und wurden übertragen auf den Weg der lettischen Geschichte bis ins 21. Jahrhundert. Die Diskutanten schlugen den Bogen von 1905 zum russischlettischen Verhältnis der damaligen Gegenwart.4 2. Dass es sich bei Ereignisverdichtungen von umwälzendem Charakter in Form einer Revolution um Schlüsseljahre handelt, scheint auf der Hand zu liegen.5 Der Russisch-Japanische Krieg und die Revolution von 1905 wurden jedoch in der Geschichtsschreibung zumeist getrennt verhandelt, obwohl sie in den jeweiligen Erzählungen immer gemeinsam erwähnt wurden.6 Krieg und Revolution bedürfen jedoch einer gemeinsamen Erörterung, und zwar nicht, weil

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lov (Hg.), K 100-letiju izdanija Manifesta 1905 goda ob uþreždenii Gosudarstvennoj Dumy, Materialy konferencii, Petergof 6.10.2005, St. Petersburg 2005; L.A. Verbickaja / B.V. Anan’iþ / R.S. Ganelin (Hg.), Vlast’ i obšþestvo v Rossii vo vremja russkoj-japonkoj vojny i revoljucii 1905–1907 gg., St. Petersburg 2007; Martin Aust / Ludwig Steindorff (Hg.), Russland 1905. Perspektiven auf die erste Russische Revolution, Frankfurt am Main 2007; Jan Kusber / Andreas Frings (Hg.), Das Zarenreich, das Jahr 1905 und seine Wirkungen. Bestandsaufnahmen, Münster 2007 (= Mainzer Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 3). Die Erträge der Konferenz sind dokumentiert in: JƗnis BƝrziƼš et al. (Hg.), 1905. Gads LatvijƗ: 100, Riga 2006. Stefan Plaggenborg brachte es unter dem Stichwort „beschleunigte Zeit“ für die Revolution von 1917 auf den Punkt: „Was passiert in den Köpfen, wenn nicht nur ein Zusammenbruch erfolgt, sondern eine Phase miterlebter Geschichte und alltäglicher Verrichtungen übergeht in ein Stadium, in dem sich die Zeit zu beschleunigen zu scheint? Plötzlich spielen die gewohnten Zeitverhältnisse keine Rolle mehr.“ Dieser Befund gilt natürlich auch für das Jahr 1905: Stefan Plaggenborg, Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt 2006, S. 83. Konsequent betont wurde die Wechselwirkung zwischen der Fernost- und der Innenpolitik des Zarenreiches von Dietrich Geyer in seiner noch immer lesenswerten Monographie über den russischen Imperialismus. Das Jahr 1905 wird hierbei gewürdigt: ders., Der russische Imperialismus. Studien über den Zusammenhang von innerer und auswärtiger Politik 1860– 1914, Göttingen 1977, S. 169–188.

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Zeitgenossen dies bereits so sahen. Das berühmte Diktum des russischen Innenministers Pleve aus dem Sommer 1903, man brauche einen „kleinen siegreichen Krieg“, um die Revolution zurückzuhalten, verwies auf diesen Zusammenhang in der Perspektive der Erwartung.7 Lenins Frohlocken nach dem Fall Port Arthurs war zukunftsgerichtete Propaganda und erkannte zugleich ein globales Moment dieses Ereignisses: „Das progressive, fortgeschrittene Asien hat dem rückständigen und reaktionären Europa einen nicht wieder gut zu machenden Schlag versetzt.“8 Der Verdacht des Zaren Nikolaus, die Revolution, die im Januar 1905 um sich griff, sei von seinen äußeren Feinden inszeniert worden, verweist auf diesen Zusammenhang hingegen in der Perspektive der negativen Überraschung: „Der Kaiser scheint ganz unter dem Eindruck zu stehen, dass der Strike mit japanischem und mit englischem Gelde inszeniert sei […]. Den Japanern sei jedes Mittel recht, um die russische Kriegsführung zu stören.“9

Die russischen Liberalen hingegen wie etwa der Rektor der Moskauer Universität, Sergej Trubeckoj, sahen nach Tsushima im Mai 1905 den radikalen Umbau des Staates mit Blick auf eine verbriefte politische Partizipation als letzte Chance für den Erhalt des Zarentums in einer geschmälerten Form.10 Wie auch immer sich die zeitgenössische Perspektive darstellte, es waren diese beiden Ereignisse in ihrem Wechselspiel, die in der Verdichtung von Ereignissen auf lokaler, regionaler, staatsweiter und internationaler Ebene zu einer beschleunigten Veränderung von Wahrnehmungen der „kleinen“ und der „großen“ Welt führten, und die es vor dem Hintergrund dieser heuristischen Definition angezeigt sein lassen, das Jahr 1905 als ein Schlüsseljahr des 20. Jahrhunderts zu erörtern.11 Dies soll, nachdem die Würdigungen und neue Publikationen zum hundertsten Jahrestag von Krieg und Revolution vorliegen, auf zwei Ebenen kursorisch

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Dies galt sowohl für diejenigen, die den politischen Aufbau des Staates konservieren wollten, als auch für diejenigen, die den Krieg für eine Reform des Staatsaufbaus nutzen wollten: S.Ju. Witte, Erinnerungen, Berlin 1923; siehe auch den Brief des Staatsrates Klopov vom 25. April 1904 mit dem Aufruf zu inneren Reformen: Russländisches staatliches historisches Archiv von St. Petersburg (Rossijskij Gosudarstvennyj Istoriceskij Archiv, RGIA), f. 1099, op. 1, d. 8, ll. 14,15. 8 Wladimir I. Lenin, Der Fall Port Arthurs, Wperjod Nr. 2, 14, 1. Januar 1905, in: ders., Sämtliche Werke, Band VII, Die Revolution von 1905 bis zum Aufstand des Panzerkreuzers „Potemkin“, Wien 1929, S. 58. 9 Der deutsche Botschafter Alvensleben nach Berlin, Ende Januar 1905, Archiv für Außenpolitik Russlands (Archiv Vnešnej Politiki Rossii, AVPR), f. 133, op. 470, d. 44, l. 144 ob. 10 Insbesondere in seiner berühmt gewordenen Rede am 6. Juni 1905 vor dem Zaren. Zu seiner Person siehe Martha Bohachevsky-Chomiak, Sergej N. Trubetskoj. An Intellectual among the Intelligentsia in Prerevolutionary Russia, Belmont 1976; zur Rede: ebd., S. 150–157. 11 Über die Probleme, bei der Darstellung von Verdichtungen die gleichzeitig verlaufenden feinen Prozesse des Ungleichzeitigen angemessen zu würdigen: Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 22009, S. 102–116.

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geschehen, die in den Hinweisen auf die Perspektive der Zeitgenossen bereits angeklungen sind, der Ebene des Imperiums und der globalen Ebene.12 1. 1905 IMPERIAL In den letzten Jahren ist intensiv darüber diskutiert worden, was die Kategorie des Imperiums für die Geschichte des Zarenreiches an neuen Perspektiven bietet. Imperienvergleich, imperiale Herrschaftspraktiken, Identitäten und Rückwirkungen auf Alltagswelten standen hierbei im Vordergrund,13 wurden bislang aber noch nicht systematisch auf das Schlüsseljahr 1905 angewandt. Dies hängt nicht zuletzt daran, dass sich das Imperium je nach Akteurs- oder Forscherperspektive als moving target erweist,14 und dass der Zeitraum natürlich zu kurz ist. Krieg und Revolution brachten für das Russländische Imperium mit ihren unterschiedlichen Akteursgruppen eine Abfolge von Ereignissträngen, die in vieler Hinsicht katalysierende Funktion besaß. In ihren Abläufen, die sich vielfach überschnitten, erlebte die Formierung der Zivilgesellschaft des Zarenreiches einen qualitativen und quantitativen Sprung. Der Organisationsgrad und damit die Foren der Öffentlichkeit innerhalb der Gesellschaft wuchsen immens an. Die Entstehung von Gewerkschaften und einer Parteienlandschaft von der revolutionären Linken bis zur reaktionären Rechten zeigen diesen ebenso an wie die rasante Erhöhung der Zahl der Zeitungen und Zeitschriften.15 Die mit dem Staatsgrundgesetz geschaffene Duma war trotz ihrer schwachen legislativen Kompetenz ein Forum der

12 Damit kehrt der Verfasser zu einem Thema zurück, dem er seinen ersten Kontakt mit Helmut Altrichter verdankt. Im Jahre 1996 fragte ich bei ihm als dem damaligen Vorsitzenden des VOH an, ob meine Dissertation zu Krieg und Revolution 1904–1906 in die Reihe des Verbandes aufgenommen werden könne. Helmut Altrichter sagte in einer herzlichen Antwort zu. Siehe Jan Kusber, Krieg und Revolution in Russland 1904–1906. Das Militär im Verhältnis zu Wirtschaft, Autokratie und Gesellschaft, Stuttgart 1997 (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 47). 13 Dominic Lieven, Empire. The Russian Empire and Its Rivals, London 2000; Il’ja V. Gerasimov / Sergej V. Glebov / Aleksandr P. Kaplunovskij / Marina B. Mogil’ner / Aleksandr M. Semenov (Hg.), Novaja imperskaja istorija postsovetskogo prostranstva, Kazan’ 2004; Alexej I. Miller (Hg.), Rossijskaja Imperija v sravnitel’noj perspektive, Sbornik statej, Moskau 2004; ders. / Alfred J. Rieber (Hg.), Imperial Rule, Budapest 2004; Geoffrey Hosking, Russland 1552–1917. Nation oder Imperium?, Berlin 2000; Ricarda Vulpius, Das Imperium als Thema der Russischen Geschichte, in: Zeitenblicke, 2007, 6, http://www. zeitenblicke.de/. 2007/2/vulpius/; Ilya Gerasimov / Jan Kusber / Alexander Semyonov (Hg.), Empire Speaks out. Languages of Rationalization and Self-Description in the Russian Empire, Leiden 2009. 14 So in der Einleitung zu: Jane Burbank / Mark von Hagen / Anatolyi Remnev (Hg.), Russian Empire. Space, People, Power, 1700–1930, Bloomington 2007, S. 16. 15 Terence Emmons, The Formation of Political Parties and the First National Elections in Russia, Cambridge 1983; in der Einschätzung der Folgen optimistisch: Manfred Hagen, Die Entfaltung politischer Öffentlichkeit in Rußland 1906–1914, Wiesbaden 1982 (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 18).

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Öffentlichkeit, das intensiv für die Artikulation politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Interessen genutzt wurde. Mit Blick auf Russland als multiethnisches Imperium bedeutete das Jahr 1905 einen Völkerfrühling:16 Gerade an den nichtrussisch dominierten Peripherien waren die Auseinandersetzungen besonders intensiv und führten zugleich zur Schärfung der eigenen Identität im Nationsbildungsprozess, so z. B. im Baltikum bei Esten und Letten in Auseinandersetzung mit der deutschbaltischen Elite17 oder in Transkaukasien, wo sich in Tiflis, Baku und andernorts interethnische und -religiöse Spannungen gewaltsam Bahn brachen.18 Es lässt sich also festhalten, dass im Jahre 1905 im Zarenreich ganz unterschiedliche Revolutionen stattfanden – in den Städten, als sich Industrialisierung und Urbanisierung in sozialem Protest und der Forderung nach politischer Teilhabe manifestierten, auf dem Land, wo die Bauern aus tradierten Rechtsvorstellungen heraus Land als Teilhabe an ökonomischen Ressourcen forderten,19 und in den ethnisch gemischt besiedelten Gebieten, in denen die verschiedenen Völker ein Recht auf nationale Selbstbestimmung forderten. Der Krieg stand bei alldem im Hintergrund und war direkter oder indirekter Motor. Die Soldaten, die nach der katastrophal missglückten und chaotisch verlaufenden Demobilisierung20 aus Fernost über die transsibirische Eisenbahn ins europäische Russland heimkehren wollten und dies kaum konnten,21 hatten einen Erfahrungshorizont gewonnen, der in ihrem bäuerlichen und städtischen Kontext unhintergehbar geworden war. Die These sei gewagt, dass der Krieg für die Millionen, die auf den Kriegsschauplatz gebracht worden waren, Effekte hatte, die jenen aus dem Jahr 1812 nicht unähnlich waren. Das galt für niedrige Offiziere, die nach Reformen und Partizipation riefen, dies galt aber auch für die bäuerlichen Soldaten, die bei einem Wiederauf-

16 Gemessen am Gesamtumfang der Darstellung knapp bei: Abraham Ascher, The Revolution of 1905, Bd. 1, Russia in Disarray, Stanford 1988, S. 152–161; Andreas Kappeler, Russland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, München 1992, S. 268–277. 17 Am Beispiel der Bewegung der Letten und Esten zusammenfassend: Jan Kusber, 1905. gada revolnjcija cariskajƗ impƝrijƗ un tƗs nozƯme BaltijƗ, in: BƝrziƼš et al., 1905, S. 58–71. 18 Siehe hierzu die instruktiven Berichte von Luigi Vilari, Fire and Sword in the Caucasus, London o.J. [1920]. 19 Am regionalen Fallbeispiel: Franziska Schedewie, Sozialer Protest und Revolution im Landwirtschaftlichen Zentrum Rußlands: die Bauernaufstände im Kreis Ostrogožsk, 1905–1907, in: Heinz-Dietrich Löwe (Hg.), Volksaufstände in Rußland. Von der Zeit der Wirren bis zur „Grünen Revolution“ gegen die Sowjetherrschaft, Wiesbaden 2006, S. 453–496. 20 Jan Kusber, Soldiers’ Unrest behind the Front after the End of the War, in: Rotem Kowner (Hg.), Rethinking the Russo-Japanese War, Vol. I, Centennial Perspectives, Folkestone 2007, S. 281–290. 21 Frithjof Benjamin Schenk sprach nicht unpassend von einem vorübergehenden „Ende der Mobilität“: ders., Kommunikation und Raum im Jahr 1905. Die Eisenbahn in Krieg und Revolution, in: Aust / Steindorff (Hg.), Russland 1905, S. 47–67, hier S. 61.

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flammen der Unruhen im Jahr 1906 ihre neu gewonnen Erfahrungshorizonte ebenso nutzten wie in ihrem alltäglichen Leben.22 Dennoch ist das Diktum von der „Generalprobe“ nicht ganz von der Hand zu weisen. Mit der Art der Protest- und Streikorganisation, schließlich mit den Arbeiter- und Soldatenräten, waren Formen der Auseinandersetzung mit dem Zarismus gefunden worden, die sich auch im Jahre 1917 wieder beleben ließen. Für das Jahr 1905 ist von Zeitgenossen der Begriff der Revolution benutzt worden, wiewohl am Ende der Ereignisse nicht die vollkommene Umwälzung der Staats- und Gesellschaftsverfassung stand, die gelegentlich als Kriterium für die Nutzung dieses Begriffes herangezogen worden ist.23 Zeitgenossen sprachen zugleich auch, in Anknüpfung an Ereignisse an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, von einer „Zeit der Wirren“. Beide Bezeichnungen bleiben geeignet, das Jahr 1905 und seine Konsequenzen für die Geschichte des Zarenreiches – das nur wenige Jahre dauernde „konstitutionelle Experiment“ der Dumaperiode und die Revolutionen von 1917 – zu charakterisieren. Was Krieg und Revolution für das Imperium und die imperialen Identitäten bedeuteten, lässt sich wie in einem Brennspiegel in der Eröffnungszeremonie der Duma im April 1906 ablesen. Sie fand im Winterpalast und nicht an ihrem Sitz, dem Taurischen Palais, statt. Nach mehr als einem Jahr von Niederlagen, Unruhen und nach der Verkündung des Oktobermanifests wählte Nikolaus II. die Strategie, die neu gewählten Deputierten mit dem Glanz des Imperiums gleichsam zu überwältigen. Er empfing die Deputierten, Intellektuelle, Arbeiter, Bauern, ethnisch und religiös gemischt, im Thronsaal. Sie standen in Zivilanzügen auf der einen Seite, Repräsentanten der Bürokratie, der Armee des Reichsrates sowie des Hofes hingegen auf der anderen. Der Zar zog mit seiner Entourage zu den Klängen von „Gott schütze den Zaren“ ein. „Die kaiserlichen Regalien waren aus Moskau herbeigebracht worden und diese wurden präsentiert von den höchsten Würdenträgern, die beide Seiten des Thrones umrahmten“24, schrieb der stellvertretende Innenminister V. I. Gurko in seinen berühmt gewordenen Memoiren. Es sei naiv gewesen zu glauben, so Gurko, dass die Repräsentanten des Volkes, von denen viele Bauern waren, sich von dem Glanz des kaiserlichen Hofes überwältigt zeigen würden. Bei seiner Analyse dieser viel beschriebenen Szene, die auch durch eine offizielle Fotografie im Gedenken kanonisiert werden sollte, richtete Richard Wortman den Fokus auf die Vorstellungen der Autokratie, die Nikolaus II. transportiert wissen wollte,25 unbeschadet des Konstitutionalisierungsprozesses, der seit 1904 stattgefunden hatte. Für viele Beobachter wurde überdeutlich, dass Ni22 John Bushnell, Mutiny amid Repression. Russian Soldiers in the Revolution of 1905–1906, Bloomington 1985 (= Indiana Michigan Series in Russian and East European Studies); Kusber, Krieg und Revolution, S. 242–273. 23 So zum Beispiel: Karl Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. Entstehung und Geschichte, Frankfurt am Main 1973 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 52), S. 14f. 24 V.I. Gurko, Features and Figures of the Past, Stanford 1939, S. 470. 25 Richard Wortman, Scenarios of Power, Vol. II, From Alexander II to the Abdication of Nicholas II, Princeton 2000, S. 401.

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kolaus die Errungenschaften des Oktobermanifests ablehnte und es als oktroyiert ansah. Bei den Staatsgrundgesetzen hatte er darauf bestanden, dass die Formulierung von autokratischer und unbegrenzter Gewalt Eingang in die Statuten fand.26 Insofern war die Eröffnungszeremonie der Duma im April 1906 ein Symbol des Schlüsseljahres 1905. Sie zeigte den viel diskutierten Bruch zwischen dem Zaren und seinem Volk, auch wenn Nikolaus gerade das Gegenteil hatte erreichen wollen. Seine Person als Verkörperung des Imperiums fand nicht mehr allgemeine Akzeptanz, sie funktionierte nicht mehr, auch wenn er selbst seine Rede und seinen Auftritt so verstanden wissen wollte und auch das Moment der Vergebung für die revolutionäre Unbotmäßigkeit eine Rolle gespielt haben mochte.27 Nikolaus forderte Loyalität für seine Person und das Imperium ein. Dies meinte nicht Gleichheit aller Subjekte und Glaubensrichtungen, wies doch aber in manchem, hinter dem Gefühl des Verrats bis in die Spitzen der Bürokratie und Staatsführung, Ähnlichkeiten mit dem „Doverie-Konzept“ des Fürsten Svjatopolk-Mirskij aus der zweiten Hälfte des Jahres 1904 auf.28 Für den Zaren Nikolaus, aber auch für viele, die der Zeremonie beiwohnten, oder auch nur über sie lasen, war dies ein Moment der Entdeckung: Das Imperium entdeckte sich in seiner Vielfalt gleichsam neu. Der Zar war fest davon überzeugt, dass die über 80 % Bauern des Russländischen Reiches loyal zu ihm standen. Sie waren deshalb im Wahlstatut bevorzugt worden und standen nun in Form ihrer Deputierten vor ihm. Während der Eröffnungszeremonie waren zumindest viele Mitglieder des Reichsrates erschrocken über die graue Masse der Abgeordneten, die sich in ihrer Alltagskleidung, selbst in ihrem Sonntagsstaat, so deutlich von den Staatsratsmitgliedern und der Hofgesellschaft abhoben. Auf der anderen Seite fiel auch eine Barriere: Viktor Obninskij, Zemstvo-Aktivist und Mitglied der ersten Duma für die Kadetten, sprach von der ersten Duma als einer „wirklichen und lebendigen ethnographischen Karte des Imperiums“.29 Und Vladimir Kokovcov sprach ähnlich beeindruckt von der Kleidung der nationalen Deputierten, die er freilich in Kontrast zur erwähnten grauen Masse setzte.30 Schon die Zeitgenossen sahen die Duma als ein Ensemble verschiedener imperialer Identitäten. Obninskij sah nun ein Zeitalter gekommen, in dem es im Za26 Hierzu noch immer instruktiv Marc Szeftel, The Russian Constitution of April 23, 1906. Political Institutions of the Duma monarchy, Brüssel 1976 (= Studies presented to the international commission for the history of parliamentary institutions, XLI), hier insbes. S. 15–21, 25–51. 27 Ähnliche Politikstrategien hat Malte Rolf überzeugend für die Politik Nikolaus’ seit seinem Machtantritt gegenüber Polen herausgearbeitet: ders., Der Zar an der Weichsel – Repräsentationen von Herrschaft und Imperium im fin de siècle, in: Jörg Baberowski / David Feest / Christoph Gumb (Hg.), Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt am Main 2008, S. 145–171. 28 R.Š. Ganelin, Rossijskoe samoderžavie v 1905 godu. Reformy i revoljucija, St. Petersburg 1991, S. 9–17. 29 V.P. Obninskij, K 10-letiju pervoj gosudarstvennoj Dumy. Sbornik statej pervodumcev, Petrograd 1916, S. 212. 30 V.N. Kokovcov, Iz moego prošlago. Vospominanija, 1903–1919, Tom I, Moskau 1992, S. 156.

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renreich „ein imperiales Parlament eines konstitutionell-föderalen Staates“ gäbe, das von lokalen, regionalen und nationalen Interessen dominiert sei.31 Hier floss in seiner Betrachtung ungefähr zehn Jahre nach der ersten Sitzung der Duma sicher auch die politische Erfahrung dieser Dekade ein. Sie ließ ihn aber auch das qualitativ Neue klar formulieren. Ein Konservativer wie Hofminister Paul von Benckendorff war hingegen nicht der einzige gewesen, der befürchtet hatte, die Duma würde sich alsbald in eine verfassungsgebende Versammlung umwandeln.32 Die zeitweilige Konvergenz der benutzten Begriffe (zakonnost’, narodnye predstaviteli und vor allem: Rossijkaja imperia) konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Folgerungen aus Krieg und Revolution, künftige Konzeptionen, Forderungen und Erwartungen diametral auseinander liefen. So war das Ergebnis für das Imperium ein Kompromiss, der die zentrifugalen Kräfte nicht einhegte, sondern Politikhandeln und politische Partizipation veränderte. Staatsgrundgesetze und Wahlstatut trugen in jeder Hinsicht den Charakter eines Kompromisses. Als Max Weber mit Blick auf Russland nach der Revolution von „Scheinkonstitutionalismus“ sprach,33 hatte er sicher insofern recht, als der gesetzlichen Grundlage auch ein gesetzgeberischer und faktischer Anpassungsprozess folgen musste, der den sozialen, ethnischen und auch ökonomischen Realitäten des sich wandelnden Imperiums Rechnung trug. Dies wurde, wenn auch nicht von Nikolaus selbst, so doch von manchem seiner Berater so gesehen: Petr Stolypin versuchte es mit einem Modernisierungsprogramm, das einerseits den russischen Nationalismus bediente, anderseits aber auch danach trachtete, sich eine Mehrheit in der Duma zu sichern, was trotz der wiederholten Wahlgesetzänderungen nicht einfach war.34 Andere, wie Boris Nol’de, versuchten gerade über den Terminus der Rossijska zemlja den Gedanken des Imperiums beizubehalten und teilweise neu zu definieren.35 Und in der Tat waren die mit einbezogenen Territorien außerordentlich umfangreich, umfassten Sibirien, den Kaukasus, Teile Zentralasiens und zunächst auch Polen.36 Alexander Semyonov hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Vergleich mit maritimen Imperien hier keine besonders rigide Exklusionsstrategie zeigt. 37

31 Alexander Semyonov, „The Real and Live Ethnographic Map of Russia”: The Russian Empire in the Mirror of the State Duma, in: Gerasimov / Kusber / Semyonov (Hg.), Empire Speaks Out, S. 191–228, hier S. 194. 32 Dominic Lieven, Nicholas II: Twilight of the Empire, St. Martins 1996, S. 144. 33 Zu Weber auch mit der Einleitung: Wolfgang J. Mommsen / Dittmar Dahlmann (Hg.), Studienausgabe der Max Weber Gesamtausgabe, Bd. 10, Zur Russischen Revolution von 1905. Schriften und Reden 1905–1912, Tübingen 1996. 34 Abraham Ascher, P.A. Stolypin, The Search for Stability in Late Imperial Russia, Stanford 2001; siehe auch O.A. Patrikeeva, Rossijskaja obšþestvennost’ i vybory I i II Gosudarstvennye dumy, St. Petersburg 2005. 35 Boris N. Nol’de, Oþerki russkogo gosudarstvennogo prava, St. Petersburg 1911, S. 239–242. 36 N.I. Lazarevskij (Hg.), Zakony o vyborach v Gosudarstvennuju dumu, St. Petersburg 1906, S. 68. 37 Semyonov, „The Real and Live Ethnographic Map of Russia”, S. 200.

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Ob aber nun russisch-national oder imperial konzipiert: Eine mittel- und langfristige Bindung von Regierungshandeln an das Parlament, die auch im Kaiserreich zu beobachten war, war sowohl für Befürworter und Gegner der Ergebnisse des Jahres 1905 der teils erhoffte, teils befürchtete, aber überwiegend doch der erwartete Weg. 2. 1905 GLOBAL Krieg und Revolution machten das Jahr 1905 zu einem auf das Zarenreich bezogenen globalen Schlüsseljahr. Eine der Publikationen zum 100. Jahrestag des Russisch-Japanischen Krieges deutet diese Entwicklung an, wenn sie gar von einem „World War Zero“ spricht. Dies scheint mir etwas hoch gegriffen. Doch liegt die internationale Dimension ebenso auf der Hand wie der Umstand, dass durch den Russisch-Japanischen Krieg bestimmte Konstellationen, die dann in den ersten Weltkrieg führten, angeschoben wurden: Eine Erfahrung von Krieg und Revolution war, dass das deutsche Kaiserreich als Bündnispartner nicht mehr in Frage kam. Der Nikolaus in den Schären von Björkö abgenötigte Vertrag zeigte das nicht nur Sergej Vitte, sondern generell den Eliten des Zarenreiches. Auf der anderen Seite stellte der Russisch-Japanische Krieg auch den Höhepunkt der japanischen Kooperation mit England dar, das durch seinen Neutralitätsvertrag seit 1902 faktisch die japanische Offensive auf dem japanischen Festland garantiert hatte.38 Alle Großmächte hatten an dem Krieg im Fernen Osten ein vitales Interesse gezeigt, ging es doch um den Einfluss in China, und die USA hatten sich durch die Vermittlung Theodore Roosevelts als Global Player erwiesen. Mit Japan stieg jedoch erstmals eine asiatische Macht in den Kreis der Großmächte auf. Schon während des Russisch-Japanischen Krieges gratulierte etwa der Reichskanzler von Bülow den Japanern, deren Erfolge er auch der Reformunterstützung durch Preußen bzw. Deutschland zuschrieb, und die damit auf Deutschlands Größe zurückverwiesen. Die japanische Regierung nahm diese Aufwertung zur Kenntnis und gab ihr einen sichtbaren Ausdruck. Im Jahre 1906 erhöhte sie ihre Gesandtschaften in den USA und Europa zu Botschaften. Japan, der „Preuße unter den Asiaten“, war in den Kreis der Großmächte aufgerückt.39 Auch wenn es dem russischen Chefunterhändler durch ein geschicktes Spiel mit den Medien bei den Friedensverhandlungen im amerikanischen Portsmouth gelang, annehmbare Friedensverhandlungen heraus zu handeln,40 und auch wenn zu Recht darauf hingewiesen wurde, dass die Aufnahme Japans in den Club der 38 Ian H. Nish, The Origins of the Russo-Japanese War, London 1985, S. 129f. 39 Ute Mehnert, Deutschland, Amerika und die „gelbe Gefahr“. Zur Karriere eines Schlagwortes in der großen Politik, 1905–1917, Stuttgart 1995, S. 57f. 40 Auf diesen Sprung in der Kulturgeschichte der Diplomatie hat Susanne Schattenberg zu Recht hingewiesen: Susanne Schattenberg, Die Sprache der Diplomatie oder Das Wunder von Portsmouth. Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Außenpolitik, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 2008, 56, S. 3–26. Siehe auch Raymond R. Esthus, Double Eagle and Rising Sun. The Russians and Japanese at Portsmouth, Durham 1988.

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Großmächte nicht etwa eine grundsätzliche Veränderung des Stereotyps von der „Gelben Gefahr“ im globalen Kontext mit sich brachte,41 waren die russische Niederlage und der japanische Aufstieg manifest. Krieg und Revolution der Jahre 1904 bis 1906 fanden erstens unter den Augen der Weltöffentlichkeit statt. In Deutschland, England und den USA konnten die Zeitungsleser innerhalb kürzester Zeit umfassend nachlesen, was sich im belagerten Port Arthur, auf den Schlachtfeldern von Liaoyang und Mukden ereignete. Lediglich das Ausmaß der russischen Katastrophe bei Tsushima erreichte mit einiger Verspätung die Leser. Während erste Nachrichten über Unruhen in Russisch-Polen und Transkaukasien vor dem Hintergrund des Krieges kaum wahrgenommen wurden, wurde über den Petersburger Blutsonntag, über die Ereignisse in Riga wenige Tage später, den Mordanschlag auf den Großfürsten Sergej, die Meuterei auf dem Panzerkreuzer Potemkin oder die Tage der Freiheit zügig und in aller Ausführlichkeit berichtet – auch wenn hier der Streik der Telegraphenangestellten die Nachrichtenübermittlung schwierig machte.42 Nicht nur russische Nachrichtenkorrespondenten reisten auf den Kriegsschauplatz,43 alle europäischen Mächte schickten Kriegsbeobachter,44 die Zeitungen entsandten Journalisten, die in den Tageszeitungen teilweise umfangreiche Beilagen füllen konnten, um das Informations- und Sensationsbedürfnis ihrer Leser zu befriedigen.45 Diese internationale Gesellschaft nahm auf beiden Seiten einen solchen Umfang an, dass sie in den Augen mancher kriegführenden Generäle die Operationen fast behinderten.46 Das Spiel mit den Medien half bei der Kriegführung und half zugleich bei der Beeinflussung der Öffentlichkeiten regional und global. Insbesondere die russische Regierung erkannte das in dem Maße, in dem Sergej Vitte im Laufe des Jahres 1905 wieder an Einfluss erlangte. Massiv wurde 41 David Schimmelpenninck van der Oye, Toward the Rising Sun: Russian Ideologies of Empire and the Path to War with Japan, DeKalb 2001, S. 82–103, sowie die klassische Darstellung von Heinz Gollwitzer, Die gelbe Gefahr. Geschichte eines Schlagwortes. Studien zum imperialistischen Denken, Göttingen 1962. 42 Zur Geschwindigkeit der Informationsübermittlung: Jan Kusber, Siegeserwartungen und Schuldzuweisungen. Die Autokratie und das Militär im Russisch-Japanischen Krieg 1904/05, in: Kreiner (Hg.), Der Russisch-Japanische Krieg, S. 99–116, hier S. 107–109. 43 Der bekannteste war vielleicht der für die konservative Novoe Vremja schreibende: V.I. Nemiroviþ-Danþenko, Na vojnu, Moskau 1904. 44 Siehe zum Beispiel Leonard Haas (Hg.), Der Russisch-Japanische Krieg 1904–1905. Augenzeugenberichte schweizerischer Militärbeobachter an den Fronten, Sonderbeilage zur Juninummer 1968 der „Schweizer Monatshefte“; Sir Ian Hamilton, Tagebuch eines Generalstabsoffiziers während des Russisch-Japanischen Krieges, Berlin 1910; Michael Epkenhans (Hg.), Das ereignisreiche Leben eines „Wilhelminers“: Tagebücher, Briefe und Aufzeichnungen 1901 bis 1920 von Albert Hopman, München 2004. Hopmann hielt sich in Port Arthur auf. 45 Siehe zum Beispiel Luigi Barzini. Mukden, Leipzig 1906; Max Th.S. Behrmann, Hinter den Kulissen des mandschurischen Kriegstheaters. Lose Blätter aus dem Tagebuche eines Kriegskorrespondenten, Berlin 1905. 46 Die Große Politik der europäischen Kabinette, Bd. 19/1, Der Russisch-Japanische Krieg, Berlin 1927, S. 210f.; Carl Prinz zu Hohenzollern, Meine Erlebnisse während des russischjapanischen Krieges 1904–1905, Berlin 1912.

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versucht, mit den Medien gegen Japan zu arbeiten. Eine Mediengeschichte von Krieg und Revolution ist noch nicht geschrieben, wäre aber eine, die ein Moment der Globalisierungsgeschichte an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert thematisieren würde. Ein zweites Moment war sicher die Globalisierung des internationalen Finanzmarktes, die für Japan, vor allem aber auch für Russland, zu einem Faktor wurde, der über die eigene Existenz entscheiden konnte. Für das Zarenreich und für Japan war eine wesentliche Voraussetzung einer erfolgreichen Kriegsführung die Aufnahme von internationalen Krediten, da Inlandsanleihen bei der angespannten ökonomischen Situation im Inneren und bei der ebenso angespannten Haushaltslage nur in geringem Umfang möglich waren. So gelang es der japanischen Regierung bereits 1904, eine größere Anleihe durch ein britischamerikanisches Konsortium zu arrangieren.47 Es war insbesondere der amerikanische Banker Jacob H. Schiff, der sich unter dem Eindruck der antisemitischen Pogrome in Kišinev und Gomel’ für eine Finanzierung japanischer Kriegsanstrengungen einsetzte und der sich auch im Jahr 1905 in den USA dafür einsetzte, dass Sergej Vitte und seinem Finanzfachmann Rotštejn die amerikanischen Finanzmärkte verschlossen bleiben sollten. Weitere kleine Anleihen internationaler Bankenkonsortien an Japan erfolgten.48 Während die japanische Kreditwürdigkeit stieg, sank die russische und drohte gegen Ende des Jahres 1905 gar komplett verloren zu gehen. Gelang es noch zu für Russland zu schlechten Konditionen Geld in Frankreich, dem langjährigen Finanzier der russisch-chinesischen Bank, und in Deutschland, arrangiert über das Bankhaus Mendelssohn, aufzunehmen,49 brachte hier nicht der Krieg, sondern die im Januar 1905 ausbrechende Revolution den eigentlichen Einbruch: Das ganze Jahr über versuchten Finanzminister Kokovcov und Sergej Vitte unter Einsatz aller diplomatischen Kanäle in Berlin, Wien, Paris, Den Haag, London und Washington bzw. Portsmouth, sowie durch massive Bestechungsversuche der Medien sowohl die Stimmung der Anleger als auch der haute finance zu beeinflussen.50 Als die Unterhändler eines internationalen Konsortiums (Eduarde Noetzlin, J.P. Morgan, Lord Revelstoke und andere) am 7./20. Oktober 1905 in St. Petersburg zu finalen Verhandlungen eintrafen, war der Eisenbahner- und Telegraphenstreik gerade ausgebrochen. Der Zug der Bankiers war mehrfach auf freier Strecke angehalten worden. Im Grand Hotel Europa auf dem Nevskij-Prospekt, wo die Bankiers residierten und teils auch verhandelten, wurden die Gespräche immer wieder durch Stromausfälle unterbrochen. Wenige Tage vor Verkündigung des

47 John Albert White, The Diplomacy of the Russo-Japanese War, Princeton 1964, S. 168f. 48 Herbert Feis, Europe, the World’s Banker, New York 1930, S. 425. 49 A.J. Sherman, German Jewish Bankers in World Politics. The Financing of the RussoJapanese War, in: Yearbook of the Leo Baeck Institute, 1983, 28, S. 59–73; Heinz Lemke, Finanztransaktionen und Außenpolitik. Deutsche Banken und Rußland im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg, Berlin/Ost 1985 (= Studien zur Geschichte, 4), S. 13–21. 50 Für die französische Öffentlichkeit siehe James Long, Russian Manipulation on the French Press, 1904–1906, in: Slavic Review, 1972, 31, S. 343–354.

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Oktobermanifestes reisten die Unterhändler ohne Ergebnisse ab.51 Als schließlich das Finanzmanifest der Petersburger Sowjets das Zarenreich in eine akute Liquiditätskrise zu bringen drohte,52 die auch mit Verkauf von Goldreserven und der zeitweiligen Aufgabe des Witteschen Goldstandards nicht behoben werden konnte, beschlossen vor allem die französischen Banken, unter Beteiligung von österreichischen, deutschen und niederländischen Geldhäusern, Russland eine Anleihe zu gewähren, die rechtzeitig zur beschriebenen Eröffnung der Duma realisiert werden konnte.53 Die internationale Finanzwelt hatte sich dazu entschieden, den Staatshaushalt des Zarenreiches vorerst zu retten, um die eigenen Investitionen und die ihrer Sparer zu sichern. Die globale Finanzwelt agierte gerade mit Blick auf den Antisemitismus in Russland somit nicht unpolitisch, in vielem aber schneller und flexibler als die Diplomatie des Zarenreiches. Schließlich sei ein weiteres globales Moment angesprochen, das die Vossische Zeitung ganz in der Sprache der Zeit und aus einem kolonialistischen Überlegenheitsgefühl wie folgt formulierte: „Allenthalben haben sich die ‚gelben Affen‘ als Meister erwiesen, im Seekrieg, in der Feldschlacht, in der Belagerung […]. Die Achtung und Bewunderung der gesamten Welt bleibt den Japanern gesichert, während das Prestige Russlands […] gründlich erschüttert bleibt, nicht nur bei den Großmächten, sondern auch bei den asiatischen Völkerschaften, die seit Jahrzehnten von dem Glauben der Unüberwindlichkeit des Weißen Zaren erfüllt waren.“54

Wie Krieg und Revolution den erwähnten Völkerfrühling beförderten, so stärkte der Kriegausgang mit dem japanischen Sieg und die Revolution gerade auch an der Peripherie des Zarenreiches antikoloniale Kräfte: Dies galt für nationaltürkisch oder pantürkisch gesonnenen Kräfte im Osmanischen Reich, das vor ganz ähnlichen Problemen der ansteigenden Zentrifugalkräfte wie das Zarenreich stand. Vor allem lag hier eine intellektuelle Verbindung zu den muslimischen, teils pantürkisch orientierten Kräften an der Mittleren Wolga und in Aserbaidschan im Zarenreich vor. Der von Ingeborg Baldauf so bezeichnete „vorderorientalische Denkverbund“ zwischen Istanbul, Baku und Teheran55 sah in Krieg und Revolution sicher mehr eine Hoffnungsperspektive auf Modernisierung und Wiederaufstieg als konkrete Handlungsanweisung. Ähnliches galt aber auch für Kräfte innerhalb des British Empire. Sowohl Gandhi als auch der jugendliche Nehru, wie auch Intellektuelle wie Rabindranath Tagore zeigten sich vom Aufstieg Japans als einem Symbol für den Aufstieg Asiens insgesamt begeistert. Antibritische, radikale Kräfte bezogen sich auf Japan 51 Kokovcov, Iz moego prošlago, T. 1, S. 97–100. 52 Kusber, Krieg und Revolution, S. 184–197. 53 Mit der ihm eigenen unbedingten Betonung der eigenen Verdienste: S.Ju. Vitte, Spravka o tom, kak byl zakljužen vnešnij zaem 1906 goda, spasšij finansovoe položenie Rossii, o.O. 1913, sowie B.V. Anan’iþ, Finansovyj krizis carizma v 1905–1906, in: N.E. Nosov (Hg.), Vnutrennjaja politika carizma (seredina XVI - naþalo XX vv.), Leningrad 1967, S. 281–320. 54 Die Aussichten auf den Frieden, in: Vossische Zeitung (Morgen-Ausgabe, 3. Januar 1905), S. 1. 55 Ingeborg Baldauf, Schriftreform und Schriftwechsel bei den muslimischen Russland- und Sowjettürken (1850–1937), Budapest 1993, S. 53.

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und studierten gleichsam die von Modernisierung und Ambition geprägte Sicht auf Asien.56 In China selbst waren die Konsequenzen und auch die Sicht ambivalent: Einerseits war die Mandschurei und der Norden Chinas als Kriegsschauplatz ebenso wie Korea in der Eigensicht ein Opfer der Aggression der Großmächte, auch wenn im Frieden von Portsmouth die Mandschurei immerhin bei China verblieb. Schon nach den Erfahrungen des Chineschen-Japanischen Krieges war die Regierung der Ch’ing-Dynastie keineswegs sicher, dass sich die eigene Ohnmacht mit Hilfe der Japaner würde beenden lassen können. Wie oppositionelle chinesische Intellektuelle auch, die den Kriegsverlauf aufmerksam beobachteten, sah man die japanischen Ambitionen auf dem Festland sehr wohl57 und die Besetzung Koreas im Verlauf des Krieges galt hier als ein warnendes Beispiel.58 Vereinzelt stand jedoch auch die Sicht im Vordergrund, die Japan als Paradigma für Wiederaufstieg und Selbstmodernisierung so attraktiv machte:59 Sun Yat-Sen, der in Japan chinesischen Dissidentengruppen beitrat, gründete dort im Jahr 1905 den Tongmenghui-Bund unter dem Eindruck der japanischen Erfolge und damit einen der wichtigsten Vorläufer der Kuomintang. Er wurde dafür zwar von Japan in die USA ausgewiesen. Doch sah er die Niederlage Russlands gegen Japan als Fanal für den eigenen Kampf für eine Dekolonisation. Japan war das Beispiel dafür, dass ein Aufstieg aus der Unterjochung möglich war: „Der Sieg Japans über Russland war der Sieg des Ostens über den Westen. Wir müssen die offizielle Geschichte der chinesischen Revolution abwarten, um in allen Einzelheiten die unschätzbaren Verdienste unserer japanischen Freunde würdigen zu können.“60

Japan als Modell war selbst für die Opposition innerhalb des Zarenreiches so attraktiv, dass sich verschiedene sozialistische und liberale Oppositionelle im Herbst 1904 in Paris ein Treffen von dem berühmten Oberst Akashi finanzieren ließen, der im Jahre 1905 freilich erfolglos versuchen sollte, Waffen für den Kampf gegen die Autokratie ins Land einzuschleusen.61 Roman Dmowski und 56 R.P. Dua, The Impact of the Russo-Japanese War on Indian Politics, Delhi 1966. 57 Gotelind Müller, Chinesische Perspektiven auf den Russisch-Japanischen Krieg, in: Sprotte / Seifert / Löwe (Hg.), Der Russisch-Japanische Krieg 1904/05, S. 203–239. 58 Nach 1905 wurde Korea im Rahmen der verabredeten Politik der freien Hand zunächst zu einem Protektorat, dann nach 1910 zu einer regelrechten Kolonie Japans: Hilary Conroy, The Japanese Seizure of Korea. A Study of Realism and Idealism in International Relations, Philadelphia 1960, S. 333–366; vor dem Hintergrund des Koreakrieges: A.L. Gal’perin, Korejskij vopros v meždunarodnych otnošenijach nakanune anneksii Korei Japoniej, in: Voprosy istorii 1951, H. 2, S. 12–30. 59 Siehe hierzu den instruktiven Vergleich von Andreas Renner, Von Moskau nach Petersburg – von Kioto nach Tokio. Wege und Ziele von Modernisierung im Petrinischen Russland und in Meiji-Japan, in: Guido Hausmann / Angela Rustemeyer (Hg.), Imperienvergleich, Festschrift für Andreas Kappeler, Wiesbaden 2009, S. 445–464. 60 Zitiert nach Martin Aust, Außerhalb des Okzidents und doch im Westen? Fremdpositionierungen Russlands in Krieg und Revolution 1904–06, in: Aust / Steindorff (Hg.), Russland 1905, S. 173–180, hier S. 179. 61 K.F. Šacillo, Iz istorii osvoboditel’nogo dviženija v Rossii v naþale XX v. O konferencii liberal’nich i revoljucionnych partij v Pariže v sentjabre - oktjabre 1904 g., in: Istorija SSSR,

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Jósef Piásudski machten sich im Herbst 1904 nach Japan auf, um die Handlungsspielräume der japanischen Regierung auszuloten.62 Zwar war die Regierung in Tokio hier zurückhaltend, eine aktive Propaganda unter russischen Kriegsgefangenen für die japanische Sache betrieb sie jedoch selbst oder lies sie zumindest zu.63 Japan wollte sich sowohl in Russland als auch im gesamten asiatischen Raum als kommende Vormacht eines vereinigten Asiens präsentieren.64 Um es in den Worten von Klaus Hildebrandt zu formulieren: „Japan galt den asiatischen Völkern zum einen als Vorhut der Befreiung vom Joch der Fremden und entwickelte sich zum anderen mit fortschreitender Entwicklung selbst zu einem neuen Kolonialherren. Immerhin: Antikolonialer Schwung und eigensüchtige Eroberung, die das Doppelgesicht der japanischen Außenpolitik und Kriegsführung geprägt und vom Krieg gegen Russland aus ihren historischen Weg genommen haben, dienten letztlich, teilweise beabsichtigt und teilweise wider Willen, der kolonialen Emanzipation Asiens.“65

3. DAS JAHR 1905 ALS SCHLÜSSELJAHR FÜR DAS ZARENREICH – IMPERIAL UND GLOBAL Ob das Jahr 1905 mit Krieg und Revolution für die vielen individuellen Lebenswege ein Schlüsseljahr bedeutete, sollte in diesem kursorischen Beitrag nicht diskutiert werden. Dass es für den jüdischen Militärarzt oder den im Schwarzerdegürtel beheimateten Bauern ein solches war, liegt auf der Hand. In Anbetracht der Zeit der Wirren wird wohl kaum ein Individuum von den Stürmen des Jahres 1905 nicht betroffen gewesen sein, wobei das Schlüsseljahr in ganz unterschiedlichen Erfahrungen bestanden haben mag. Mir ging es in diesem kleinen Durchgang darum, schlaglichtartig aufzuzeigen, dass das Zarenreich als Weltund Kolonialmacht, als Imperium und als Global Player „a moment of truth“66

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1982, H. 4, S. 51–70; Anti Kujala, The Russian Revolutionary Movement and the Finnish Opposition 1905. The John Grafton Affair and the Plans for Uprising in St. Petersburg, in: Scandinavian Journal of History, 1980, 5, S. 259–275; Michael Futrell, Colonel Akashi and Japanese Contacts with Russian Revolutionaries in 1904–05, in: St. Anthony Papers Nr. 20. Far Eastern Affairs, Number 4, Oxford 1967, S. 7–22. Kurt Georg Hausmann, Pilsudski und Dmowski in Tokio 1904. Eine Episode in der Geschichte der polnischen Unabhängigkeitsbewegung, in: Rudolf von Thadden (Hg.), Das Vergangene und die Geschichte, Festschrift für Reinhard Wittram zum 70. Geburtstag, Göttingen 1973, S. 369–402. Siehe hierzu die Sammlung V plenu. Sbornik peredovych statej iz žurnala „Japonija i Rossija”, Kobe 1906; sowie Frederick F. Travis, The Kennan-Russel Anti-Tsarist Propaganda Campaign among Russian Prisoners of War in Russia, 1904–1905, in: Russian Review, 1981, 40, S. 263–277. Ideengeschichtlich unterfüttert von Kakuzo Okakura, The Ideals of the East with Special Reference to the Art of Japan, New York 1903. Klaus Hildebrand, „Eine neue Ära der Weltgeschichte“. Der historische Ort des RussischJapanischen Krieges 1904/05, in: Kreiner (Hg.), Der Russisch-Japanische Krieg, S. 27–51, hier S. 50f. So einprägsam der Titel von Teodor Shanin, Russia, 1905–07: Revolution as a Moment of Truth, Yale 1986. Shanin ging es freilich vor allem um das Zarenreich als Bauerngesellschaft.

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erlebte – in der Gesamtheit der Individuen, die es trugen oder die sich von ihm abwandten, die aber in ihren Identitäten auf das Imperium bezogen blieben. Zugleich legten die Ereignisse des Jahres 1905 offen, wie sich die Position des Zarenreiches in der globalen Welt wandelte und über welche Elitennetzwerke der Finanzwelt oder der Intellektuellen es in die Welt miteinbezogen war. Für Japan war es mit Blick auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und sein Ausgreifen auf den Kontinent als „take-off point“ für einen japanischen Imperialismus ebenso von Bedeutung.67 Während man sich in Japan in fast jeder Hinsicht als Gewinner fühlen mochte, galt dies für die Eliten, Ethnien, Bauern und Arbeiter nicht. Krieg und Revolution hatten die individuellen und gruppenorientierten Handlungsmöglichkeiten erst aufgezeigt. Dies war die gemeinsame Erfahrung mit den antikolonialen und / oder nationalen Bewegungen. Insofern nimmt es nicht Wunder, dass das Jahr 1905 sehr viel mehr in Japan als in Russland auch am Beginn des 21. Jahrhunderts noch ein Erinnerungsort ist.

67 Peter Duus, The Take-off Point of Japanese Imperialism, in: Hilary Conroy / Harry Wray (Hg.), Japan Examined. Perspectives on Modern Japanese History, Honululu 1983, S. 153– 157.

REVOLUTION, REPRESSION UND REFORM: 1905 IM KÖNIGREICH POLEN Malte Rolf Das Jahr 1905 markiert eine deutliche Zäsur in der Geschichte des Zarenreichs. Es ist oft genug mit Blick auf den Sturz der Autokratie 1917 argumentiert worden, dass mit den Ereignissen von 1905 der „Anfang vom Ende“ begann. Die erste russische Revolution erschien in der Retrospektive als „Generalprobe“ für den tatsächlichen Sturz des Zaren zwölf Jahre später.1 Selbst wenn man einer solchen Revolutionsteleologie kritisch gegenübersteht, an dem Schlüsselcharakter des Jahrs 1905 besteht kein Zweifel. Denn sowohl das politische System wie auch die Gesellschaft gingen grundlegend verändert aus den Wirren der Revolution hervor. Die Einführung der Duma, das neue Presse- und Vereinsrecht, die Erfahrungen der „Tage der Freiheit“, aber auch der revolutionären Gewalteruption und der blutigen Repressionsmaßnahmen von Seiten der Autokratie – all dies waren strukturelle und mentale Verschiebungen, die Russland nach 1905 deutlich von der Zeit vor der Revolution absetzen. Eben das zeichnete das Jahr 1905 als Schlüsseljahr grundsätzlich aus: Danach war nichts mehr wie es vorher gewesen war. Dies gilt in besonderem Maße für die Geschichte des Königreichs Polen.2 Denn die Revolution von 1905 entfaltete hier eine Intensität, Gewalttätigkeit, aber auch gesellschaftliche Breitenwirkung, wie es sich in kaum einem weiteren Herrschaftsbereich der Autokratie nachzeichnen lässt.3 Angesichts der langjährigen und komplexen Konfliktlage, die im Weichselland bestand, vermag das wenig zu überraschen. Und dennoch lassen sich gerade am Beispiel Polen die Dynamiken der revolutionären Entwicklungen und auch die Eigenlogik gewaltsamer Eskalation aufzeigen. Die polnischen Provinzen waren oft genug der Brennpunkt der Revolution. Einerseits verlief sie dort nach einem eigenen Rhythmus und brachte lokalspezifische Themen auf die revolutionäre Agenda. Andererseits interagierten die Ereignisse in Polen mit denen der anderen Reichsperipherien oder der innerrussischen Gebiete. Und sei es nur aufgrund der Tatsache, dass die Autokratie zur 1 2

3

So lauteten beispielsweise Lenins und Trockijs Einschätzungen zur Revolution: vgl. Leo Trotzki, Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Frankfurt am Main 1981, S. 166. Der westliche Teil der vom russischen Reich besetzten Territorien der ehemaligen polnischlitauischen Adelsrepublik hieß nach 1864 offiziell Weichselland (Privislinskij kraj). Allerdings wurde selbst von Regierungsbehörden die Bezeichnung Königreich Polen fortgeführt. Im folgenden Artikel werden Weichselland und Königreich Polen als Synonyme verwendet. Zur besonderen Gewaltintensität der Revolution an den Peripherien des Reiches vgl. allgemein Jonathan W. Daly, The Watchful State. Security Police and Opposition in Russia, 1906– 1917, DeKalb 2004, S. 44.

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Befriedung der polnischen Provinzen gezwungen war, eine Truppenstärke einzusetzen, die knapp einem Drittel der Mannschaftsstärke an den Fronten des russisch-japanischen Kriegs entsprach.4 1905 war zugleich für die polnische Gesellschaft ein Schlüsseljahr. Nicht nur resultierten die Erfahrungen der Revolution in einer allgemeinen Politisierung der Bevölkerung,5 sie veränderten auch die interethnischen Beziehungen im Weichselland grundlegend.6 Und nicht zuletzt erschien die Autokratie in einem anderen Licht, nachdem sich erwiesen hatte, dass die drückende zarische Herrschaft zumindest zeitweise instabil geworden war. Die Forschung hat diesen Aspekt zu Recht betont. Sie hat dabei jedoch vernachlässigt, wie stark die Revolution von 1905 auch auf Seiten der Sachverwalter imperialer Herrschaft An- und Einsichten prägte und ihre Grundannahmen über die richtigen Formen der Beherrschung dieses unruhigen Landstriches veränderte. 1905 war diesbezüglich ebenso für die autokratische Verwaltungselite im Königreich ein Schlüsseljahr. Dieser Wandel politischer Optionen und Präferenzen der zarischen Autoritäten an der Weichsel soll im folgenden Beitrag im Mittelpunkt stehen. 1. ERODIERENDE AUTORITÄTEN: GEWALTKULTUREN 1900–1904 So einschneidend die Zäsur von 1905 war, so wenig war die Revolution ein isoliertes Ereignis, das sich auf ein Jahr beschränkte. Sie kündigte sich vielmehr schon lange an, bevor der Petersburger „Blutsonntag“ im Januar 1905 den revolutionären Sturm vollends entfachte.7 So nahmen schon die Zeitgenossen die Periode der Jahre 1900-05 als eine Einheit der revolutionären Wirren und der fortschreitenden Erosion staatlicher Autorität wahr.8 In der Perspektive des zarischen Herrschaftsapparates in Polen gewann die Entwicklung seit der Jahrhundertwende eine bedrohliche Dynamik. Der Kontrast der Stimmungen zwischen den Jahren 1897 und 1900 könnte deutlicher kaum ausfallen. 1897 hatten sich auch die imperialen Beamten noch von der Euphorie 4 5

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Marian Kamil Dziewanowski, The Polish Revolutionary Movement and Russia, 1904–1907, in: Hugh McLean / Martin E. Malia / George Fischer (Hg.), Russian Thought and Politics, Cambridge 1957, S. 375–394, hier S. 392. Vgl. Robert E. Blobaum, Rewoljucja. Russian Poland, 1904–1907, Ithaca 1995, S. 188–233. Das gilt auch für solche Bereiche wie die Literatur, siehe Anna ArtwiĔska, Die Revolution 1905 in der polnischen Literatur, in: Martin Aust / Ludwig Steindorff (Hg.), Russland 1905. Perspektiven auf die erste Russische Revolution, Frankfurt am Main 2007, S. 141–156. Siehe u.a. Theodore R. Weeks, 1905 as a Watershed in Polish-Jewish Relations, in: Stefani Hoffman / Ezra Mendelsohn (Hg.), The Revolution of 1905 and Russia’s Jews, Philadelphia 2008, S. 128–139. Kalenderdaten werden im Folgenden im „alten Stil“ nach dem Julianischen Kalender angegeben, der im 20. Jahrhundert 13 Tage Differenz zum Gregorianischen Kalender aufwies. So der Rückblick auf die Krise in einem Bericht des Gehilfen des Generalgouverneurs General-Major Utgof: Stimmungsbericht zur Lage im Kraj, 1913, Staatsarchiv der Hauptstadt Warschau (Archiwum PaĔstwowe m. st. Warszawy, APW), T. 24 (WWO), sygn. 261, kart 1– 32, hier kart. 3.

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des Zarenbesuchs in Warschau anstecken lassen und es schien dem Generalgouverneur Prinz Aleksandr Imeretinskij nach Jahren der Spannungen nun eine Kooperation mit dem gemäßigten Teil der polnischen Gesellschaft möglich.9 Aber der gleiche Generalgouverneur forderte nur drei Jahre später von St. Petersburg weitreichende Sondervollmachten, um die polnischen Provinzen zu „befrieden“.10 Imeretinskij berichtete von der Verschmelzung einer eskalierenden Gewalt städtischer Unterschichten mit der politischen Agitation revolutionärer Parteien. Denn – so Imeretinskij – es gelänge vor allem den Aktivisten der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) immer stärker, soziale Unzufriedenheit und allgemeine antirussische Ressentiments mit den Verheißungen der „neuen“, sozialistischen Lehren zu verbinden.11 Auch Imeretinskijs Nachfolger, der Generalgouverneur Michail ýertkov, schilderte die sich zuspitzende Krisensituation im Weichselland kaum zwei Jahre später in vergleichbar dramatischem Ton: Außer der „sozialistischen Propaganda“ würde nun auch eine verstärkte „polnischkatholische Agitation“ die politische Ruhe im Weichselland gefährden.12 Es war hier eine Vielzahl von einzelnen „Zwischenfällen“, die die amtlichen Berichte bezeugten und die weniger auf eine koordinierte Vorgehensweise hinwiesen als auf einen allgemeinen Verfall der bestehenden Ordnung. So nahmen seit 1900 die symbolischen Handlungen, in denen eine Ablehnung der russischen Herrschaft zum Ausdruck gebracht wurde, sprunghaft zu. Menschen weigerten sich massenhaft, die Zarenhymne zu singen; immer wieder kam es zu demonstrativen Auftritten gegen die russische Sprache oder gegen imperiale Beamte.13 Der Beginn des russisch-japanischen Kriegs im Februar 1904 radikalisierte diese Situation im Königreich erheblich. Nicht nur nahmen die Konfliktmomente zu, auch das Gewaltniveau der Auseinandersetzungen stieg. War es um die Jahrhundertwende das Messer gewesen, das den Autoritäten Kopfzerbrechen bereitete, so dokumentieren die amtlichen Berichte nun den Aufstieg des Revolvers. Der schnelle Griff zur Schusswaffe machte die Konfrontationen blutiger und für die Beamten vor Ort gefährlicher. Es war vor allem das Zusammenspiel aus Men-

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Zum Zarenbesuch und dem vermeintlichen „Zeitalter der Wende“ vgl. Malte Rolf, Der Zar an der Weichsel: Repräsentationen von Herrschaft und Imperium im fin de siècle, in: Jörg Baberowski / David Feest / Christoph Gumb (Hg.), Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt am Main 2008, S. 145–171. Schreiben des Warschauer Generalgouverneurs Imeretinskij an das Innenministerium, 16. Januar 1900, Staatsarchiv der Russländischen Föderation, Moskau (Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii, GARF), f. 215, op. 1, d. 97, ll. 12–17ob. GARF, f. 215, op. 1, d. 97, hier l. 12ob. Brief des Warschauer Generalgouverneurs ýertkov an das Innenministerium, 12. März 1902, GARF, f. 215, op. 1, d. 97, ll. 30–45, hier l. 30–33. Eine umfangreiche Sammlung derartiger Vorfälle findet sich im Hauptarchiv der alten Akten, Warschau (Archiwum Gáowne Akt Dawnych, AGAD), KGGW, Sygn. 1893, kart. 1–197 [April-Oktober 1903].

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schenauflauf, Alkohol und Waffenbesitz, das zur Eskalation beitrug: Immer wieder wurden aus der Menge heraus Schüsse auf Ordnungskräfte abgegeben.14 Die Gewaltspirale gipfelte zunächst im sogenannten „Massaker am Grzybowski-Platz“ im Oktober 1904. Dass die Ereignisse in Warschau eskalierten, lag im wesentlichen daran, dass die PPS unter Józef Piásudskis Einfluss dazu übergegangen war, bewaffnete Schutzverbände aufzustellen. Als Polizei- und Kosakeneinheiten am 31. Oktober eine Anti-Kriegs-Demonstration auflösen wollten, eröffneten die PPS-Kämpfer das Feuer auf die Truppen. Soldaten und Polizisten erwiderten den Beschuss und töteten zahlreiche Demonstranten und Passanten.15 Damit hatte Warschau zwar seinen eigenen „Bluttag“, knapp zwei Monate bevor sich die Ereignisse vor dem Winterpalais wiederholen sollten. Der 31. Oktober 1904 markierte allerdings keine vergleichbare Zäsur. Denn er löste zunächst bei der polnischen Gesellschaft und selbst im Lager der Sozialdemokratie Proteste gegen die Guerillataktik der PPS aus. Und dennoch zeigt auch dieses Ereignis, wie sehr sich die Autorität des Regimes im Weichselland im fortschreitenden Verfall befand – ein Trend, der erst mit der Ausrufung des Kriegsrechts im Winter 1905 zum Halten gebracht werden sollte. 2. 1904–1906: DIE LANGE REVOLUTION IM KÖNIGREICH Was sich im Winter 1904 auf die städtischen Zentren von Warschau und auch àódĨ konzentrierte, entwickelte sich im Folgejahr zu einem Flächenbrand, der weite Teile des Königreichs erfasste. Die Nachricht vom Petersburger „Blutsonntag“ im Januar 1905 dynamisierte die Eskalation auch im Weichselland erheblich. Bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Ordnungskräften kamen in den Folgetagen alleine in Warschau mehr als 90 Zivilisten ums Leben.16 Die zarischen Behörden suchten in den ersten Monaten des Jahres 1905 zunächst nach einer einheitlichen Linie. Zweifellos rief der Generalgouverneur im Januar-Februar den Ausnahmezustand in den meisten polnischen Provinzen aus.17 Aber dies erwies sich als unzureichend, um die Situation zu beruhigen. Vor allem der reguläre Polizeiapparat war in der Krise vollkommen überfordert.18 Die eigentliche Stütze der Autokratie im Weichselland stellten somit die stationierten

14 Brief des Warschauer Gouverneurs an den Warschauer Generalgouverneur, 14. April 1904, AGAD, KGGW, Sygn. 2212, kart. 3. 15 Siehe Halina Kiepurska, Warszawa w rewolucji 1905–1907, Warschau 1974, S. 60; auch Blobaum, Rewoljucja, S. 41–44. 16 Vgl. Jan Kusber, Modernisierung, Beharrung, Meuterei. Das Militär des ausgehenden Zarenreiches und das Jahr 1905, in: Aust / Steindorff (Hg.), Russland 1905, S. 109–128, hier S. 118–119. 17 Schreiben des Innenministeriums, Polizei-Department, 16. Februar 1905, AGAD, KGGW, Sygn. 2573, kart. 48–48ob. 18 Vgl. allg. Felix Schnell, Ordnungshüter auf Abwegen? Herrschaft und illegitime Gewalt in Moskau 1905–1914, Wiesbaden 2006, S. 148–149, 150–168.

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Truppen dar.19 Aber die Erfahrungen der „Bluttage“ der Jahreswende 1904-05, die offensichtlich eher zu einer Eskalation geführt hatten, wie auch die Niederlagen, die das Armeekommando in dieser Zeit in der Mandschurei hinnehmen mussten,20 trugen dazu bei, dass der Warschauer Generalgouverneur zunächst einen verstärkten Einsatz der Truppen vermied. Spätestens seit dem Mai 1905 wurde den zarischen Autoritäten jedoch klar, dass die vielbeschworene „Revolution“ tatsächlich zu einer grundsätzlichen Gefahr für die Autokratie angewachsen war. Bereits bei der Ersten-MaiDemonstration kam es zu Zusammenstößen auf den Straßen Warschaus mit zahlreichen Toten.21 Wenige Tage später ereignete sich ein weiterer Gewaltausbruch in der Stadt. Allerdings waren es hier nicht die sich revolutionär gebenden Kräfte, die die Macht über die Straßen übernahmen. Vielmehr eskalierte der blutig ausgetragene Konflikt zwischen Kriminellen und Arbeiter-Selbstschutzverbänden. Der zunehmende Verfall öffentlicher Ordnung der Vorjahre hatte nicht nur zu einer Zunahme von Gewaltverbrechen geführt, sondern auch die Selbstbewaffnung unter Arbeitern vorangetrieben.22 Am 11. Mai 1905 weiteten sich deren Praktiken der Selbstjustiz zu einem Sturm auf die Warschauer Bordelle aus. Es kam zu Überfällen auf die Etablissements und zu Straßenjagden auf Kriminelle und Zuhälter. Für drei Tage kollabierte die staatliche Kontrolle über das Zentrum der Stadt vollständig. Dieser Pogrom der anderen Art wurde erst mit dem verspäteten Einsatz von Truppen beendet, die unfreiwillig die Warschauer Unterwelt vor dem wütenden Mob schützten.23 Die Maitage trugen zu einer Intensivierung der Gewaltspirale erheblich bei. Die kleineren Scharmützel, die länger werdende Kette von „Massakern“ und eben auch die gewaltsam ausgetragenen Konflikte innerhalb der städtischen Unterschichten erhöhten die Gewaltbereitschaft bei allen Beteiligten. „Revolution“ ist die Umschreibung eines Prozesses des zunehmenden staatlichen Kontrollverlusts. Es ist eine Dynamik, die einer Eigenlogik zunehmender Gewalt in sich verkürzenden Intervallen folgt. Dezentral und ungesteuert stattfindende Zusammenstöße von Ordnungskräften und ihrer Gegenspieler speisen diese Dynamik. Und dies nicht nur, weil der Einsatz von Gewalt eine höhere Gewaltbereitschaft auf der anderen Seite initiiert. Es wird zudem mit jedem Scharmützel deutlicher, wie unfähig das herrschende Regime bereits ist, „Ruhe und Ordnung“ zu bewahren. Angesichts maroder staatlicher Autorität erhöhen sich die Erwartungen der antago19 Christoph Gumb, Die Festung. Repräsentationen von Herrschaft und die Präsenz der Gewalt, Warschau (1904–1906), in: Baberowski / Feest / Gumb (Hg.), Imperiale Herrschaft in der Provinz, S. 271–302, hier S. 275. 20 Vgl. dazu allg. Richard M. Connaughton, The War of the Rising Sun and the Tumbling Bear. A Military History of the Russo-Japanese War 1904–5, London 1988. 21 Oberpolizeimeister an den Warschauer Generalgouverneur, 19. April 1905, AGAD, KGGW, sygn. 2491, kart. 22. 22 Kompendium von Berichten der Kanzlei des Warschauer Generalgouverneurs, AGAD, KGGW, sygn. 342. 23 Siehe Jan Kusber, Krieg und Revolution in Russland 1904–1906. Das Militär im Verhältnis zu Wirtschaft, Autokratie und Gesellschaft, Stuttgart 1997, S. 72.

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nistischen Akteure und forcieren ihre Bereitschaft, den Konflikt weiter eskalieren zu lassen. Immer mehr Beteiligten scheint es plausibel, dass ein taumelnder Koloss nun von seinen tönernen Füßen gestoßen werden kann.24 Die Eigendynamik gewaltsamer Zusammenstöße drängte auf eine weitere Eskalation. Sie sollte sich im Folgemonat in der benachbarten Industriestadt àódĨ ereignen. Die àódĨer Straßenschlachten vom Juni 1905 gehörten zu den blutigsten Kapiteln der Revolution. Sie forderten insgesamt mehr als 400 Menschenleben. Zum ersten Mal setzten die zarischen Entscheidungsträger massive Truppenverbände gegen die Zivilbevölkerung ein, zugleich wurden sie erstmals mit einem koordinierten, bewaffneten Widerstand konfrontiert und in unübersichtliche Straßenkämpfe verwickelt.25 Die relativ rasche Niederschlagung des àódĨer Aufstands nach drei Tagen machte allen Beteiligten aber auch deutlich, dass das Regime nicht zum Sturz zu bringen war, so lange die Armee sich als verlässliches Machtinstrument erwies. So prekär sich die Loyalität der Truppen im Imperium insgesamt darstellte, so sehr erwies sich die Nationalisierung des Konfliktes im Königreich Polen als strategischer Vorteil für die Autoritäten.26 Die Gefahr einer Fraternisierung von ortfremden, zumeist russischen Soldaten mit den lokalen polnischen Aufständischen war hier eher gering. Dagegen entwickelte sich bei den russischen Truppen viel eher eine „Wagenburgmentalität“, die die innere Disziplin der Truppe zweifellos erhöhte.27 Alle Bemühungen der zarischen Autoritäten, die Kontrolle über den Gang der Ereignisse im Weichselland zurückzuerlangen, hatten allerdings im Sommer und Herbst 1905 nur begrenzten Erfolg. Auch die Ernennung des als „energisch“ geltenden Artilleriegenerals Skalon zum Generalgouverneur änderte zunächst daran wenig. Bereits im September entwickelte sich eine neue Streikwelle, die zu einem 24 Zu einer solchen Eigenlogik der Revolution und einer sich selber verstärkenden Dynamik an Kontrollverlust und Gewaltbereitschaft vgl. Peter Waldmann, Gesellschaften im Bürgerkrieg. Zur Eigendynamik entfesselter Gewalt, in: Zeitschrift für Politik, 1995, 45, 4, S. 343–368, hier v.a. S. 367. 25 Siehe den Bericht des britischen Generalkonsuls Murray über die Ereignisse in àódĨ (Doc. 110), in: Dominic Lieven (Hg.), British Documents on Foreign Affairs: Reports and Papers from the Foreign Office Confidential Print, Pt. I, From the Mid-nineteenth Century to the First World War, Series A, Russia, 1859–1914, Bd. 3, Russia, 1905–1906, Bethesda 1983, S. 131–133. Vgl. ebenso Andreas R. Hofmann, The Biedermanns in the 1905 Revolution. A Case Study in Entrepreneurs’ Responses to Social Turmoil in àódĨ, in: The Slavonic and East European Review, 2004, 82, S. 27–49, hier S. 33–34. 26 Vgl. grundlegend William C. Fuller, Civil-Military Conflict in Imperial Russia, 1881–1914, Princeton 1985, S. 129–191; Kusber, Krieg und Revolution, S. 90–126. 27 Vgl. die Einschätzung des deutschen Konsuls in Warschau Kohlhaas, zitiert nach Kusber, Krieg und Revolution, S. 71; ebenso der Bericht des Beauftragten des britischen Generalkonsuls H. Norman vom 4. Mai 1905 (Doc. 87), in: Dominic Lieven (Hg.), British Documents on Foreign Affairs: Reports and Papers from the Foreign Office Confidential Print, Pt I, From the Mid-nineteenth Century to the First World War, Series A, Russia, 1859–1914, Bd. 3, Russia, 1905–1906, Bethesda 1983, S. 112. Zu der geringen Zahl an Meutereien im polnischen Wehrkreis vgl. John Bushnell, Mutiny Amid Repression: Russian Soldiers in the Revolution of 1905–1906, Bloomington 1985, S. 141.

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Generalstreik anwuchs, der imperiumsweit das städtische Leben zum Erliegen brachte. Auch im Königreich Polen wurde der Streik in einer gesellschaftlichen Breite unterstützt, die die lokalen Autoritäten überforderte. Im Oktober war das Leben in Warschau lahmgelegt, Kohle und Lebensmittel wurden knapp, die Straßenbeleuchtung erlosch, weder Pferde- noch Eisenbahnen verkehrten und die Kriminalitätsrate explodierte.28 Dieser Wochen andauernde Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung erzwang in Petersburg letztlich das „Oktobermanifest“, in dem der Zar eine Volksvertretung und bürgerliche Rechte in Aussicht stellte. Aber in der Weichselmetropole führte das kaiserliche Manifest ebenso wenig zu einer Beruhigung der Lage wie in anderen Teilen des Imperiums.29 Zunächst erfolgte eine erstaunlich schnelle Aktivierung gesellschaftlicher Selbstorganisation. So gaben die Redaktionen etlicher Zeitungen unmittelbar nach Bekanntmachung des Manifests ihre Ausgaben ohne Vorzensur heraus; zahlreiche neue Periodika wurden über Nacht gegründet;30 Vereine und Verbände aller Art traten eigenmächtig zusammen.31 Zugleich trieb die Hoffnung, in der Stunde der Krise der Autokratie weitaus mehr erreichen zu können, zahlreiche Menschen auf die Straße. Diese allgemein hohe Bereitschaft, sich an Straßen-Meetings zu beteiligen, war dabei eine Form der Selbstbemächtigung: Die Zusammenkunft als große Menge stellte nach Jahren des Versammlungsverbotes schon für sich genommen ein Akt revolutionärer Aneignung zuvor reglementierter Räume dar. Dabei hatten die obersten zarischen Amtsträger ihre Subordinierten zunächst mit Blick auf das Oktobermanifest ausdrücklich angewiesen, dass „die Bevölkerung nicht an friedlichen Formen des Ausdrucks der Freude gehindert werden solle.“32 Aber es zeigte sich schnell, wie gefährlich die Eigendynamik großer Menschenaufläufe werden konnte. Am 19. Oktober eskalierte eine friedliche Großdemonstration auf dem Warschauer Theaterplatz. Die stationierten Polizeiund Kosakentruppen verloren die Nerven und eröffneten das Feuer auf die Demonstranten. 20 bis 40 Personen wurden getötet, 170 Menschen verwundet.33 In den Folgetagen dynamisierte ein kaiserliches Manifest, das die Wiederherstellung der Autonomie Finnlands zusicherte, die Ereignisse in Warschau zusätzlich. Am 22. Oktober versammelten sich schätzungsweise 100 000 Menschen bei 28 Leopold Katscher (Hg.), Russisches Revolutions-Tagebuch 1905. Ein Werdegang in Telegrammen, Leipzig 1906, S. 140–145, 155. 29 Zu den reichsweiten gewaltsamen Zusammenstößen im Oktober-November 1905 siehe Michael F. Hamm, Continuity and Change in Late Imperial Kiev, in: ders. (Hg.), The City in Late Imperial Russia, Bloomington 1986, S. 79–122, hier S. 102–105; Robert Weinberg, The Revolution of 1905 in Odessa: Blood on the Steps, Bloomington 1993. 30 Halina Kiepurska, Warszawa 1905–1907, Warschau 1991, S. 95. 31 So zum Beispiel die „Vereinigung der polnischen Ingenieure und Techniker”. Genehmigungsverfahren der Technikervereinigung, 1905, AGAD, PomGGW, Sygn. 95, kart. 1–14. 32 Anordnung an Warschauer Polizei durch den Oberpolizeimeister, 19. Oktober 1905, AGAD, KGGW, sygn. 2573, kart. 77. 33 Kiepurska, Warszawa 1905–1907, S. 88–91. Vgl. zur ländlichen Revolution im Königreich im Detail Blobaum, Rewoljucja, S. 148–156.

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einer friedlichen Prozession, die von den Nationaldemokraten initiiert und von katholischen Würdenträgern angeführt wurde. Damit war mehr als ein Achtel der Stadtbevölkerung bereit, sich der realen Gefahr eines gewaltsamen Zusammenstoßes mit den Autoritäten auszusetzen. Die zarischen Amtsträger sahen in dieser Entwicklung einen bedrohlichen Kontrollverlust über den öffentlichen Raum in Warschau. Zugleich häuften sich die beunruhigenden Berichte über ähnliche Vorgänge aus den polnischen Provinzen.34 Diese Erfahrungen der gesellschaftlichen Selbstermächtigung sollten für die kommenden Entscheidungen der zarischen Machtelite im Weichselland prägend sein. Sie trugen wesentlich zur Radikalisierung solcher Beamten wie Skalon bei. Die Revolution bedeutete eben nicht nur für Revolutionäre, sondern auch für die Repräsentanten imperialer Herrschaft ein Lern- und Radikalisierungsprozess. Zur Radikalisierung der Amtsträger gehörte, dass sie im Folgenden zu einer konsequenten, blutigen und militärischen Repression aller Handlungen übergingen, die sie als Verstöße gegen die Ordnung ansahen. Der gesetzliche Rahmen dafür wurde durch die Proklamation des Kriegsrechts im Weichselland im Dezember 1905 gesteckt. Das Kriegsrecht verlieh dem Generalgouverneur quasi Vollmachten eines Militärdiktators im Königreich. Es sollte für den langen Zeitraum von vier Jahren Bestand haben.35 3. „WIEDERHERSTELLUNG DER ORDNUNG“: DEZEMBER 1905–1907 Es zeigte sich in den Krisenmonaten des Winters 1905 und des Folgejahrs, dass das Kriegsrecht ein schlagkräftiges Instrument der Herrschaftssicherung und der Unterdrückung allgemeiner Unruhen sein konnte. Im Laufe des Jahres 1906 betrieb Skalon eine verschärfte Militarisierung aller Maßnahmen zur „Wiederherstellung der Ordnung“. So übergab er nun massenhaft Fälle zur Urteilssprechung an Militärgerichte und drängte diese zur Verhängung der Höchststrafe. Dies nicht ohne Erfolg: Die Militärgerichte fällten im Königreich Polen im reichsweiten Vergleich mit Abstand die meisten Todesurteile.36 Dies war ein erster Vorgeschmack auf die im Sommer 1906 eingeführte Standgerichtlichkeit. Die vom Petersburger Premierminister Stolypin geschaffenen Kriegsfeldgerichte sollten zu einem vom Warschauer Generalgouverneur vorrangig genutzten Mittel der Aufstandsbekämpfung werden. Allgemein konnten die Gouverneure in Provinzen, die unter Kriegsrecht standen, all jene Fälle an die

34 Berichte über Vorfälle in den Provinzen, Oktober 1905, AGAD, KGGW, sygn. 2512. 35 Bekanntmachung des Kriegsrechts im Königreich Polen, 12. Dezember 1905, AGAD, KGGW, Sygn. 703, kart. 1. 36 Vgl. Fuller, Civil-Military Conflict in Imperial Russia, S. 182. Im Warschauer Wehrkreis wurde im Zeitraum vom Januar 1905 bis zum April 1907 die Todesstrafe für 107 Personen verhängt. Von diesen Todesurteilen wurden 48 (45 %) vollstreckt.

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Feldgerichte übergeben, bei denen „die verbrecherische Handlung so offensichtlich ist, dass keine Notwendigkeit zu ihrer Untersuchung besteht.“37 Der administrativen Willkür waren mit dieser Formulierung alle Türen geöffnet. Nun wurden Urteile jenseits aller prozessualen Verfahren gefällt, die selbst bei Militärgerichten noch gegolten hatten. Diese Urteile waren innerhalb von 24 Stunden zu vollstrecken, Berufungen waren nicht gestattet. Zugleich erlaubten die Bestimmungen eine deutliche Ausweitung der zu verhandelnden Fälle: Feldgerichte urteilten auch bei einer Vielzahl von nicht politisch motivierten Gewaltdelikten. Die Standgerichte wurden bereits 1907 wieder aufgelöst, aber sie verhängten in diesem kurzen Zeitraum mehr als 1 000 Todesstrafen. Das Weichselland war mit mehr als 200 Todesurteilen auch hier im Reichsvergleich an vorderer Stelle vertreten.38 All diese Repressionsinstrumente hätten jedoch ihre abschreckende Wirkung kaum entfalten können, hätte nicht das Militär bereitgestanden, um ihre Durchsetzung zu gewährleisten. Erst nach dem Ende des russisch-japanischen Kriegs und mit der Rückführung von Truppen aus der Mandschurei im Winter 1905 ließ sich eine Dichte von militärischen Patrouillen, Durchsuchungen und Posten bewerkstelligen, die die chronische Schwäche der polizeilichen Ordnungskräfte kompensierte.39 Im Jahr der Repression wurden in den polnischen Provinzen nun regelmäßig Truppen zum Einsatz gegen streikende Arbeiter oder renitente Bauern beordert. Soldaten blieben 1906 fast durchgängig direkt in den größeren Betrieben und an den logistischen Knotenpunkten der Städte stationiert.40 Zudem wurde das Militär eingesetzt, um die Rückerlangung des staatlichen Waffenmonopols zu erzwingen. Die Allgegenwart von Revolvern hatte sich in den Unruhen von 1905 als ein massives Problem auch jenseits des politisch motivierten Terrors erwiesen. Mit verschärften Gesetzen und Durchsuchungen versuchten die Autoritäten 1906 die Anzahl der zirkulierenden Schusswaffen zu reduzieren. Als effektive Maßnahme erwies sich dabei die Praxis, Gemeinden und Stadtkommunen in Kollektivhaftung zu nehmen. Diese hatten für alle Kosten aufzukommen, die bei den „Befriedungs-“ und Entwaffnungsaktionen entstanden.41 Und selbst als die zarischen Behörden in den Folgejahren die Anzahl von Polizei-

37 Zitiert nach Jörg Baberowski, Autokratie und Justiz. Zum Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich 1864–1914, Frankfurt am Main 1996, S. 764. 38 In den polnischen Provinzen wurden knapp 20 % aller derartigen Feldgerichtsurteile ausgesprochen, ebd., S. 768. Zur Diskussion der Schätzungen der Todesurteile vgl. auch Anna Geifman, Though Shalt Kill. Revolutionary Terrorism in Russia, 1894–1917, Princeton 1962, S. 346. 39 Nach Berechnung von Gumb wurde die Garnisonstärke alleine in Warschau bis Jahr 1907 auf 65 000 Mann erhöht. Gumb, Festung, S. 275. 40 Vgl. Werner Benecke, Die Revolution des Jahres 1905 in der Geschichte Polens, in: Aust / Steindorff (Hg.), Russland 1905, S. 9–22, hier S. 19; Blobaum, Rewoljucja, S. 275–285. 41 Gouverneur des Gouvernements Radom an den Warschauer Generalgouverneur, 22. Februar 1906, AGAD, KGGW, sygn. 2520, kart. 22.

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beamten vervielfachten,42 so änderte das nichts an der Notwendigkeit, regelmäßig Militäreinheiten zur Wahrung der öffentlichen Ordnung einzusetzen. Dies war einer der wesentlichen Gründe, warum Skalon für eine langfristige Aufrechterhaltung des Kriegszustandes im Weichselland plädierte. Dazu trug auch bei, dass es den zarischen Autoritäten nicht gelang, den politischen Terror auf den Straßen des Königreichs zu unterbinden. Im Gegenteil, im Jahr 1906 nahm die Zahl solcher Anschläge in Polen wie auch in Russland deutlich zu.43 Das Leben in der Weichselmetropole war selbst für Zivilisten gefährlich,44 vor allem aber galt der Terror den Repräsentanten zarischer Ordnung. Die einfachste Zielscheibe für derartige Attentate stellten die niederen Polizeibeamten im Straßendienst dar. In den Jahren 1905-06 wurden von den 1 000 Polizisten in Warschau mehr als 300 durch Revolver- und Bombenanschläge getötet.45 Aber die Terrorakte richteten sich ebenso gegen die höhere Beamtenschaft. Dementsprechend hoch waren die Sicherheitsvorkehrungen durch die zarischen Amtsträger. Wenn der Generalgouverneur Skalon seinen Dienstsitz verließ, glich sein Kutschenzug einer mobilen Zitadelle.46 Die Beamten in Warschau hatten in der Tat allen Grund, um ihr Leben zu fürchten. 1906 wurden unter anderem der Stellvertreter des Generalgouverneurs sowie mehrere Generäle bei Attentaten getötet.47 Und im August wurde auch Skalon selber Ziel eines Bombenanschlages, der allerdings fehlschlug.48 Andere Amtsträger hatten weniger Glück: Laut einer Statistik des britischen Generalkonsulats in Warschau fielen im Konsularbezirk 124 Beamte alleine im Sommer 1906 Terrorakten zum Opfer.49 Auch bei den ter-

42 Vgl. den Bericht des britischen Generalkonsuls Murray vom 13. Juli 1906 (Doc. 86), in: Lieven (Hg.), British Documents on Foreign Affairs, Russia, S. 131. Vgl. auch Jerzy Pająk (Hg.), Organizacje bojowe partii politycznych w Królestwie Polskim, 1904–1911, Warschau 1985, S. 122–123. Anfang 1907 waren fast 10 000 Polizeibeamte im Königreich im Dienst. 43 Im gesamten Zarenreich wurden im Laufe des Jahres 768 Personen durch Terrorakte getötet. 1905 hatten Anschläge reichsweit „nur“ 233 Tote gefordert. Vgl. Baberowski, Autokratie und Justiz, S. 732. 44 Vgl. den Bericht des britischen Generalkonsuls vom 13. Juli 1906 (Doc. 86), in: Lieven (Hg.), British Documents on Foreign Affairs, Russia, S. 132–133. 45 Alleine am „blutigen Mittwoch“, dem 2. August 1906, wurden in einer von der PPS durchgeführten „Racheaktion“ in Warschau 16 Polizisten und Soldaten ermordet; Bericht vom 22. August 1906, AGAD, PomGGW, Sygn. 109, kart. 34. Vgl. zum Terror im Königreich auch N.D. Postnikov, Terror pol’skich partij protiv predstavitelej russkoj administracii v 1905–1907 gg., in: K.H. Morozov (Hg.), Individual’nyj politiþeskij terror v Rossii XIX naþalo XX v., Moskau 1996, S. 112–117. 46 So die Beobachtung des britischen Konsuls: Lieven (Hg.), British Documents on Foreign Affairs, Russia, S. 364. 47 Vgl. Desjat’ gubernij Carstva Pol’skogo v cifrach. Trudy Varšavskogo statistiþeskogo komiteta, Bd. 35, Warschau 1908, S. 44–45. 48 Unterlagen zum Bombenanschlag auf Skalon, AGAD, KGGW, Sygn. 2732, kart. 1–222 und AGAD, KGGW, Sygn. 2767, kart. 1–29. 49 Erhebung vom 6. Oktober 1906 (Doc. 159), in: Lieven (Hg.), British Documents on Foreign Affairs, Russia, S. 235. Der britische Konsularbezirk umfasste sowohl das Königreich wie auch große Teile der ehemaligen Ostgebiete Polen-Litauens.

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roristischen Attentaten war damit die Gewaltintensität an der Peripherie des Reiches besonders hoch.50 So blutig der Terror war, so wenig war er inzwischen in der Lage, eine vergleichbar revolutionäre Dynamik wie 1905 zu entfachen. Die Anschläge blieben Einzelakte, die die Stabilität des Regimes nie ernsthaft gefährdeten. Zum einen gelang es den zarischen Autoritäten, zahlreiche Angehörige revolutionärer Parteien zu verhaften und terroristische Zellen auszuschalten. Wichtiger aber war, dass im Laufe der Jahre 1906-1907 deren generelle gesellschaftliche Akzeptanz zu schwinden begann. Dazu trug entscheidend bei, dass sich die Politik des Generalgouverneurs keinesfalls auf die brutale militärische Repression beschränkte. Vielmehr war Skalon zugleich bereit, mit jenen gesellschaftlichen Kreisen zusammenzuarbeiten, die nicht den gewaltsamen Sturz der russischen Herrschaft anstrebten. Die Erfahrungen des Jahres 1905 zwangen die imperialen Beamten dazu, alte Feindbilder zu revidieren. Angesichts der Bedrohung durch den gewaltsamen Protest pauperisierter Massen und den blutigen Terror sozialistischer Kampforganisationen verlor die sogenannte „polnische Frage“ ihre privilegierte Stellung in der Angsthierarchie der Beamten. Das ermöglichte, dass die zarischen Amtsträger ihre Haltung gegenüber dem polnisch-“patriotischen Lager“ und vor allem gegenüber der nationaldemokratischen Partei überdachten. Bereits 1905 zeichnete sich immer stärker ab, dass die nationaldemokratischen Kräfte nicht länger in einer Fundamentalopposition zum Regime verharrten. Denn diese identifizierten die Aktivitäten des sozialistischen Untergrunds als eine Gefährdung für die weitere Entwicklung Polens, und distanzierten sich selber von dem Ziel, die russische Herrschaft gewaltsam zu beseitigen.51 Damit erwuchs den imperialen Beamten auf der polnischen Seite ein unerwarteter Gesprächspartner, der noch kurz zuvor fest zu dem Spektrum „revolutionärer Strömungen“ gerechnet worden war.52 Zweifellos blieb eine deutliche Distanz zwischen den Behörden und den Nationaldemokraten auch nach 1905 bestehen. Letztere drängten auf die Abschaffung diskriminierender Gesetze im Weichselland, forderten vor allem eine flächendeckende Einführung der polnischen Sprache im Schul- wie Verwaltungswesen und strebten generell einen Autonomiestatus der polnischen Provinzen an.53 Und dennoch waren selbst „Falken“ wie Skalon an einem Kontakt zu den Nationaldemokraten interessiert. Denn sie stellten – gerade auch nach ihren triumphalen Erfol-

50 Vgl. Anke Hilbrenner, Gewalt als Sprache der Straße: Terrorismus und seine Räume im Zarenreich, in: Walter Sperling (Hg.), Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich 1800–1917, Frankfurt am Main 2008, S. 409–432, hier S. 423–425. 51 Vgl. dazu auch Benecke, 1905 in der Geschichte Polens, S. 17–19; Dziewanowski, The Polish Revolutionary Movement, S. 388–389. 52 Bericht zur politischen Lage im Kraj, 28. Januar 1904, AGAD, KGGW, Sygn. 2573, kart. 14– 22ob. 53 Vgl. hier zu den Positionen der polnischen Dumaabgeordneten Zygmunt àukawski, Koáo Polskie w Rosyjskiej Dumie PaĔstwowej w latach 1906–1909, Wrocáaw 1967.

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gen bei den ersten Dumawahlen – ein bedeutendes Gegengewicht zu den sozialistisch-revolutionären Strömungen dar.54 Die Ausrichtung imperialer Politik im Königreich nach 1905 war insofern ambivalent. Parallel zu der brutalen Repressionspolitik des Generalgouverneurs wurden Freiräume für neue Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation gewährt. Die bürgerlichen Rechte, die sich aus den Reichsgesetzen vom April 1906 ergaben, galten auch für das polnische Königreich, wenngleich sie durch das geltende Kriegsrecht partiell suspendiert blieben. Die Duldungspolitik des Generalgouverneurs erlaubte es hier jedoch, dass sich seit 1906 das gesellschaftliche Leben auch im Weichselland deutlich aktivierte. Vereine und Verbände wurden zugelassen; die Pressefreiheit initiierte eine Gründungswelle von Zeitungsorganen; zahlreiche private Schulen legten das Fundament für ein polnisches Bildungswesen; die offiziell registrierten Gewerkschaften ermöglichten eine begrenzte Interessensvertretung von Belegschaften; und die legalisierten Parteien eröffneten neue Foren für politische Meinungsbildung. Es bestand damit 1906 eine eigentümliche Gleichzeitigkeit von Ausnahmezustand und Normalität gesellschaftlicher Selbstorganisation. Diese Ambivalenz sollte sich bis zur Aufhebung des Kriegsrechts 1909 fortsetzen. 4. 1905 ALS SCHLÜSSELJAHR – EIN FAZIT 1905 war ein Schlüsseljahr, das das Leben im Russischen Reich insgesamt ebenso grundlegend veränderte wie das in den polnischen Provinzen. Nach dem Dezember 1905 war nichts mehr so, wie es noch vor dem Januar des gleichen Jahres gewesen war. Den zarischen Autoritäten gelang es im Laufe des Jahres 1906, die Revolution im Weichselland zu beenden. Auch 1905 war das Regime in der Lage gewesen, die jeweils einzelnen Unruhen niederzuschlagen. Aber es hatte nicht vermocht, eine nachhaltige Beruhigung der Situation zu erwirken. 1905 war durch das wiederholte Aufflammen von Erhebungen und einen rapiden Eskalationsprozess gekennzeichnet gewesen. Die revolutionären Ereignisse hatten die Autoritäten getrieben und ihnen immer weitere Konzessionen abgetrotzt. 1906 hatte sich das Blatt jedoch gewendet. Das Regime gewann die Initiative zurück. Was sich in der Folgezeit an Terrorakten und Unruhen fortsetzte, vermochte sich nie mehr zu einer Situation zu verdichten, die die Monarchie ernsthaft in Gefahr brachte. Insofern war es eine Position der Stärke, aus der heraus die zarische Administration seit 1906 Formen der gesellschaftlichen Selbstorganisation gestattete, teilweise selber aktiv den Dialog mit Vertretern der neuen polnischen Massenparteien suchte. Damit war im Weichselland auch verbunden, dass sich die russische Herrschaft in der langen Kette polnischer Aufstände ein weiteres Mal als „sieg54 Zu den Wahlerfolgen der Nationaldemokraten vgl. Pascal Trees, Wahlen im Weichselland. Die Nationaldemokraten in Russisch-Polen und die Dumawahlen 1905–1912, Stuttgart 2007, hier v.a. Kap. 6–10.

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reich“ erwiesen hatte. So stellte es sich zumindest in der Selbstwahrnehmung der imperialen Beamten dar. Für sie bestand nun die Gewissheit, die nötigen Mittel zum langfristigen Machterhalt zu besitzen. Nichts deutete für sie nach 1905 darauf hin, dass die Tage russischer Präsenz in Polen gezählt sein könnten. Dazu gehörte aber ebenso, dass neue Formen der Kohabitation von Staat und Gesellschaft akzeptiert wurden. 1905 hatte in dieser Hinsicht einen Gewöhnungsprozess bedeutet. Nicht jede Manifestation politischer Bewegungen im öffentlichen Raum wurde in den Folgejahren noch als fundamentale Infragestellung staatlicher Autorität verstanden.55 In den Augen der imperialen Sachverwalter zeitigte die Politik der harten Hand bei der Aufstandsbekämpfung offensichtlich Erfolge. Dies erhöhte zugleich ihre Bereitschaft, die begrenzten Zugeständnisse an das politische und kulturelle Leben der Gesellschaft, die die Grundgesetze bedeuteten, selbst in den Zeiten des Kriegsrechts zu respektieren. So eröffneten sich Räume für die Entfaltung einer legalisierten Öffentlichkeit im Königreich. Und auch hier markierte 1905 einen Wendepunkt. Denn das Oktobermanifest und die folgenden Grundgesetze stellten die rechtliche Basis für eine neue politische Kultur. Die Revolution hatte zweifellos zu einer breiten Politisierung der polnischen Gesellschaft beigetragen. Dabei handelte es sich um eine Aktivierung sehr verschiedener Milieus, die oft genug im direkten Widerstreit miteinander standen. Das gilt vor allem für die Konflikte der verschiedenen politischen Strömungen, die im Laufe des Jahres 1905 deutlich an Schärfe gewannen. Die Bruchlinien verliefen aber ebenso zwischen nun organisierten Arbeitern und Unternehmern wie zwischen polnischen, jüdischen und russischen Foren der Vergemeinschaftung.56 Von einer Einheit der neuen Sphären von Gesellschaft- und Öffentlichkeit lässt sich keinesfalls sprechen. Die sich entwickelnde politische Kulturlandschaft im Königreich war heterogen und konfliktintensiv.57 Das grundlegende Charakteristikum dieser neuen politischen Streitkultur war jedoch ihre Legalität. Das führte partiell zu einer Abkehr vom Widerstand gegen das zarische Regime als solches und zu einer Hinwendung auf jene Auseinandersetzungen, bei denen um Dominanz innerhalb der legalisierten politischen Sphäre gestritten wurde. Die Verrechtlichung politischer Artikulation und gesellschaftlicher Organisationen nahm die russische Herrschaft aus der Schusslinie der Konflikte, die das Königreich bis zum Ersten Weltkrieg prägten. 55 So der lapidare Tagebucheintrag des Gehilfen des Warschauer Staatsanwalts zum 1. Mai 1907, an dem wieder einmal gestreikt worden wäre, es aber zu keinen „Exzessen“ gekommen sei: Tagebuch Apollon A. Benkeviþ, 18. April 1907, GARF, f. 1463, op. 2, d. 370–372, l. 60. 56 Vgl. zu den Arbeitgeberverbänden Dittmar Dahlmann, Sympathie, Furcht und ökonomisches Interesse. Die Unternehmer des Zarenreiches in der Revolution 1905/06, in: Jan Kusber / Andreas Frings (Hg.), Das Zarenreich, das Jahr 1905 und seine Wirkungen. Bestandsaufnahmen, Münster 2007, S. 121–144. Zu den parallelen Vereinsgründungen Jörg Gebhard, Lublin. Eine polnische Stadt im Hinterhof der Moderne (1815–1914), Köln 2006, S. 216–225. 57 Die galt vor allem auch für die sich rapide verschlechternden polnisch-jüdischen Beziehungen der Jahre 1906–1914. Siehe u.a. Robert E. Blobaum, The Politics of Antisemitism in Fin-deSiecle Warsaw, in: The Journal of Modern History, 2001, 73, S. 275–306; Weeks, 1905 as a Watershed in Polish-Jewish Relations.

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Der „Sieg“ über die Revolution basierte also nicht nur darauf, dass die zarischen Autoritäten 1906 die „Eigendynamik entfesselter Gewalt“ mit militärischen Mitteln zum Halten brachten. Zu einer stabileren Abwendung der fundamentalen Krise gehörte ebenso, dass neue legale Foren gesellschaftlicher Interaktion zugelassen wurden. Mittelfristig erwies sich diese in der Revolution geborene Konstellation als erstaunlich tragfähig: Nach 1905 hat es im Weichselland keinen weiteren Aufstandsversuch mehr gegeben. Erst der Einmarsch der deutschen Truppen im Sommer 1915 beendete die langen 123 Jahre russischer Herrschaft im Königreich Polen.

DISTANZ UND SELBSTBEHAUPTUNG: DIE PATRIOTISCHEN JUBILÄEN DES STUDIENJAHRES 1912/13 ALS BRENNSPIEGEL DER GESELLSCHAFTSGESCHICHTE RUSSISCHER UNIVERSITÄTEN* Trude Maurer 1914, das sofort den Beginn des Ersten Weltkriegs als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ evoziert,1 gilt, jedenfalls im Westen, als unbestrittenes Epochenjahr. In der russischen Wahrnehmung dagegen konnte dieser Krieg, auch seit sich postsowjetische Historiker eingehender damit beschäftigten, allenfalls Schatten auf das Zarenreich zurückwerfen, seinerseits die weitere Entwicklung aber nicht präformieren.2 Doch hat für Russland ein westlicher Kulturhistoriker (mit den Worten Majakovskijs) das Jahr 1913 als Jahr des „großen Bruchs“ ausgerufen, es zum „Epochenjahr“ und „Schlüsseljahr der russischen Moderne“ erklärt. Zwar rückt er die Entwicklungen in der russischen Kunst in den Vordergrund, aber sein Anspruch reicht weit darüber hinaus: in andere Lebensbereiche und sogar in westliche Länder. Der Einordnung des letzten Vorkriegsjahres als annus mirabilis, als „Schlüsseljahr“, „Gipfeljahr“ und Jahr des „geistigen Umsturzes“ liege „tatsächlich ein gesamteuropäisches, auch ein gesamtkulturelles Phänomen zugrunde“.3 Wird der Blick aber auf einen anderen Teilbereich der Kultur eingestellt, erscheint 1913 nicht mehr als Jahr des Umbruchs, sondern spiegelt die Strukturen und Haltungen, welche die Geschichte russischer Universitäten bislang geprägt *

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Da der geplante vergleichende Aufsatz den Umfang eines Festschriftenbeitrags gesprengt hätte, erscheint ein parallel aufgebauter Titel zu Deutschland, der die 100-Jahr-Feiern der Befreiungskriege und das 25-jährige Thronjubiläum Wilhelms II. untersucht, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte, 2011, 14. Für Hilfe bei der Ermittlung und rechtzeitigen Beschaffung der Quellen für den vorliegenden Aufsatz habe ich einer ganzen Reihe von Kollegen zu danken: Hermann Beyer-Thoma (München), Serhij Posochov (Char’kov), Evgenij Rostovcev (Sankt Petersburg), Jana Rudneva (Kazan’), Ludwig Steindorff (Kiel), Sirje Tamul (Tartu). Ernst Schulin, Die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Wolfgang Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung – Wahrnehmung – Analyse, München 1994, S. 3–27. Der Begriff („the great seminal catastrophe of the century”) wurde zuerst von George F. Kennan gebraucht: The Decline of Bismarck’s European Order. Franco-Russian Relations, 1875–1890, Princeton 1979, S. 3. Siehe als Forschungsbericht Nikolaus Katzer, Russlands Erster Weltkrieg. Erfahrungen, Erinnerungen, Deutungen, in: Nordost-Archiv, 2009, 17, S. 267–292, bes. S. 267. Philipp Felix Ingold, Der große Bruch. Rußland im Epochenjahr 1913. Kultur – Gesellschaft – Politik, München 2000, Zitate S. 9 und 12, siehe auch S. 11, 13, 20, 31.

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hatten und sich bald auch auf die Teilnahme ihrer Angehörigen am Ersten Weltkrieg auswirken sollten: 1913 nicht als Schlüsseljahr grundsätzlichen Wandels, sondern als Brennspiegel der historischen Entwicklung. In der internationalen Politik wird dieses Jahr durch die Balkankriege und die damit einhergehende Verschärfung der Spannungen geprägt, in Deutschland und Russland durch (weitere) Aufrüstung, in den Wissenschaftsbeziehungen jedoch von Kooperation: In diesem Jahr fanden die letzte Versammlung der Internationalen Assoziation der Akademien in Petersburg und der internationale Historikerkongress in London statt. In Petersburg beschlossen die Vertreter der Akademien, ihre nächste Versammlung 1916 in Berlin abzuhalten, in London nahmen die Historiker für ihren nächsten Weltkongress 1918 die Einladung nach Petersburg an. Damit war auch die leidige Frage entschieden, ob Russisch fünfte offizielle Kongresssprache werden sollte, wie der Berliner Althistoriker Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff schon 1908 vorgeschlagen hatte.4 In London, wo „besonders die Russen“ mit den deutschen Kollegen verkehrten, hatte nun der Kiever Historiker Nikolaj Bubnov gefordert, dass jeder das Recht haben solle, die Sprache zu verwenden, die er wünsche.5 Im Innern machte neben der parteipolitischen Fragmentierung die fortdauernde Diskriminierung konfessionell und kulturell von der dominanten Ethnie abweichender Gruppen die fehlende Einheit besonders augenfällig: der Polen und Juden – für beide existierten an den Universitäten Quoten –, aber auch anderer Nationalitäten. In den polnischen und baltischen Gebieten war das gesamte staatliche Bildungswesen (mit den Universitäten Warschau und Dorpat/Jur’ev an der Spitze) inzwischen russifiziert. Aufschlussreich ist die Reaktion der akademischen Welt auf den internationales Aufsehen erregenden Ritualmordprozess: Zwar hatte an dem 1913 erfolgten Freispruch des Angeklagten Mendel Bejlis der berühmte Neurologe und Psychiater Vladimir Bechterev, Professor an der Militärmedizinischen Akademie in Petersburg, als Gutachter mitgewirkt; doch der Protest in der Studentenschaft gegen den (mit Einverständnis der Regierung geführten) Prozess war nur schwach.6 Das Studienjahr 1912/13 wurde von Jubiläen einerseits, Kriegsahnungen und Kriegserwartung andererseits geprägt. Auf dem Londoner Historikerkongress 4 5

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Gleichzeitig wurde dem Exekutivkomitee nämlich aufgetragen, grundsätzlich die Sprache des jeweiligen Gastlandes zuzulassen, für den nächsten Kongress zumindest die Vorträge über russische Geschichte in russischer Sprache. Karl Dietrich Erdmann, Die Ökumene der Historiker. Geschichte der Internationalen Historikerkongresse und des Comité Internationale des Sciences Historiques, Göttingen 1987, S. 90f.; A. Slonimskij, Uþastie rossijskich uþenych v meždunarodnych kongressach istorikov, in: Voprosy istorii, 1970, H. 7, S. 95–108, hier S. 94f., 99f. Zitat: Ulrich von WilamowitzMoellendorf, Erinnerungen 1848–1914, Leipzig 1928, S. 312. Zur Assoziation der Akademien: Conrad Grau, Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Eine deutsche Gelehrtengesellschaft in drei Jahrhunderten, Heidelberg 1993, S. 209. Benjamin Nathans, Beyond the Pale. The Jewish Encounter with Late Imperial Russia, Berkeley 2002, S. 302, 329. Zu Bechterev: Boris Anan’iþ / Ljudmila Tolstaja, I. I. Tolstoj i evrejskij vopros v Rossii, in: Vremena i sud’by. Sbornik statej v þest’ 75-letija Viktora Moiseeviþa Panejacha, St. Petersburg 2006, S. 178–193, hier S. 186f.

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kommentierte ein Russe den Beschluss, 1918 in Petersburg zu tagen, gegenüber Wilamowitz: „bis (!) dahin haben wir einen Krieg gehabt, aber dann ist wieder alles in Ordnung.“7 Den Friedensappell des britischen Botschafters in den USA, des Historikers James Bryce, auf diesem Kongress verstand mancher Kollege, wie z. B. Henri Pirenne, als Ausdruck einer verhaltenen Angst.8 In Russland erwartete damals jeder den Krieg, aber niemand glaubte, dass er wirklich komme; so erinnerte sich der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Viktor Šklovskij, der damals in Petersburg studierte.9 Zeitgenössische Belege für diese Haltung finden sich etwa im „Vestnik Evropy“, jener „dicken“ Monatsschrift, die als Professorenblatt galt und nicht nur von einem Petersburger Professor herausgegeben wurde, sondern auch eine Reihe von Professoren zu ihren Mitarbeitern zählte. Sie berichtete mehrfach über die Widersprüche zwischen den Aussagen der deutschen Regierung und des Kaisers einerseits (mit der Wiederholung von Bismarcks „abgedroschener patriotischer Phrase“ „Die Deutschen fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt“) und der permanenten Aufrüstung andererseits.10 Als Liebknecht im Reichstag die hinter der Aufrüstung stehenden industriellen Interessen angeprangert hatte, kommentierte der „Vestnik“, auf diese Weise brächten Militärführung und mächtige Firmen die Regierung dazu, immer neue Militärausgaben und -anstrengungen zu fordern „in Erwartung eines erhabenen (grandioznyj) Krieges, der nie entstehen wird und auch nicht entstehen kann, wenn in internationalen Angelegenheiten der gesunde Menschenverstand herrscht.“11 Ob es sich bei diesem „internationalen Phänomen“ der Kriegserwartung12 eher um Kriegsfurcht oder Kriegsbereitschaft handelte, wäre für jedes Land und wohl auch für jede Äußerung getrennt zu klären. Auf diesem Hintergrund soll die Gestaltung der großen, landesweit gefeierten patriotischen Jubiläen an den Universitäten untersucht werden, um daraus die Haltung der Lehrenden und Studierenden zu Staat und Gesellschaft zu rekonstruieren: also die 100. Wiederkehr des Kampfes gegen Napoleon, die mit dem Gedenken an die Schlacht von Borodino am 26. August den Auftakt zum Studienjahr 1912/13 bildete, und das 300-jährige Bestehen der Romanov-Dynastie, das im Februar und Mai 1913 gefeiert wurde. Auch in Russland grassierte in dieser Zeit, wie in anderen europäischen Ländern seit den neunziger Jahren, geradezu ein „Jubiläumsfieber“. Mit dem Jahrestag der Thronbesteigung des ersten Romanov-Zaren erreichte es 1913 seinen

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Wilamowitz-Moellendorf, Erinnerungen, S. 312. Erdmann, Ökumene der Historiker, S. 86f. (mit langem Zitat aus Bryces Rede). Viktor Šklovskij, Kindheit und Jugend, Frankfurt am Main 1968, S. 149. Vestnik Evropy, März 1913, S. 395–403, Zitat S. 396. Vestnik Evropy, Mai 1913, S. 420ff., Zitat S. 422. Jost Dülffer, Kriegserwartung und Kriegsbild in Deutschland vor 1914, in: Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg, S. 778–798, hier S. 788. Vgl. außerdem die Beobachtungen eines Vertrauten und Emissärs des amerikanischen Präsidenten, zitiert bei David Clay Large, Berlin. Biographie einer Stadt, München 2002, S. 126.

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Höhepunkt. Viele Jubiläen wurden vom Staat inszeniert.13 Besonders in diesem Jahr waren die Feiern, dem politischen Alltag quasi entzogen, vom Streben nach Einheit geprägt, sollten sie die üblichen Gegensätze überwinden. Dafür griff man auf die Triade des einstigen Ministers der Volksaufklärung Uvarov zurück: Autokratie – Orthodoxie – narodnost’.14 Doch da sich die Selbstherrschaft durch die Revolution von 1905 überlebt hatte und narodnost’ (Nationalität) in einem ethnisch und ständisch so heterogenen Reich keine wirksame Losung werden konnte, hatte die Kirche die Kampagne zur Stärkung der imperialen Ideologie und Hebung des patriotischen Bewusstseins zu tragen.15 Damit waren die Gottesdienste, die bei allen Jubiläumsfeierlichkeiten dazu gehörten, mehr als nur „staatliches Dekor“.16 Andererseits warfen sie auch das Problem auf, dass die Angehörigen der nichtdominanten Religion oder Konfession (die zum Jubiläum zwar eigene Gottesdienste abhielten, aber nicht durch ihre Geistlichen bei offiziellen Feiern und Umzügen repräsentiert waren) nicht als wirklich Gleiche einbezogen waren. Zwar wurden deutsche Feiern zum Vorbild für die Gestaltung russischer genommen, insbesondere die zum 200-jährigen Bestehen des Königreichs Preußen für das Romanov-Jubiläum.17 Trotzdem bestanden deutliche Unterschiede bei den Trägern und in der Vorbereitung: Während diese in Russland wesentlich von oben oder (wie beim Borodino-Jubiläum mit der Militärhistorischen Gesellschaft aus „Freiwilligen“) doch zumindest quasi-offiziell gesteuert wurde, handelte es sich in Deutschland viel stärker um die Initiative von Bürgern, spielten Verbände und Vereine eine große Rolle.18 Zugleich war bei den russischen Schriftstellern (und wohl auch den Intellektuellen generell) ein regelrechtes Desinteresse, wenn nicht ein Boykott zu beobachten: Am deutlichsten wurde dies am Theaterwettbewerb 13 Konstantin Tsimbaev [Cimbaev], „Jubiläumsfieber“. Kriegserfahrung in den Erinnerungsfeiern in Russland Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Gert Melville / KarlSiegbert Rehberg (Hg.), Gründungsmythen. Genealogien. Memorialzeichen, Köln 2004, S. 75–107, hier S. 80, 97. In der Liste der 33 wichtigsten Ereignisse der Herrschaft Nikolaus’ II. sind – neben der viermaligen Einberufung der Duma – zwei Jubiläen enthalten, und das dritte, dynastische, das den Anlass zu dieser Übersicht bot, ist natürlich mitgedacht: K 300-letnemu jubileju carstvovanija. 1613 [–] 1913. Poslednie dni poslednego carja [1913], Moskau 1991, S. 76f. 14 Zu einer differenzierten Deutung dieser oft als reaktionär abgetanen Losung siehe Cynthia H. Whittaker, The Origins of Modern Russian Education: An Intellectual Biography of Count Sergei Uvarov, 1786–1855, DeKalb 1984, S. 94–110, speziell zu narodnost’: S. 103–110. 15 K. Cimbaev, Fenomen jubileemanii v rossijskoj obšþestvennoj žizni konca XIX – naþala XX veka, in: Voprosy istorii, 2005, H. 11, S. 98–108, hier S. 101; Konstantin Cimbaev, „Ves’ mir – teatr“. Trechsotletie Doma Romanovych. Jubilej 1913 goda kak chudožestvennoe dejstvo, in: Istorik i chudožnik, 2005, H. 3, S. 181–195, hier S. 188f.; Konstantin Tsimbaev [Cimbaev], Die Orthodoxe Kirche im Einsatz für das Imperium. Kirche, Staat und Volk in den Jubiläumsfeiern des ausgehenden Zarenreichs, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 2004, 52, S. 355–370, hier S. 366f. 16 Tsimbaev, Orthodoxe Kirche, S. 358 (Zitat), 363. 17 Tsimbaev, Jubiläumsfieber, S. 86. 18 Zu Russland siehe insbes. Kurt Schneider, 100 Jahre nach Napoleon. Rußlands gefeierte Kriegserfahrung, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 2001, 49, S. 45–66, hier S. 48f.; Cimbaev, Trechsotletie, S. 193.

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anlässlich des Borodino-Jubiläums, zu dem kein einziger namhafter Autor ein Stück einreichte. (In Deutschland dagegen schrieb Gerhard Hauptmann zur Jahrhundertfeier der Befreiungskriege sein „Festspiel“.)19 Allerdings konterkarierten sie die offiziellen Jubiläen mit eigenen Gedenktagen, die liberalen Schriftstellern, Publizisten und Gelehrten galten. Das 50-jährige Jubiläum der Bauernbefreiung überließ die Regierung 1911 sogar gänzlich oppositionellen Kreisen, statt es zur Selbstdarstellung als Trägerin von Reformen zu nutzen.20 Dabei deutete Ministerpräsident Kokovcov gerade mit Blick auf die beiden 1912 und 1913 anstehenden Jubiläen doch schon an, dass es darum gehe, die Einheit von Regierung und Volk herzustellen. Der Opposition dagegen sprach er das Recht ab, bei dieser Gelegenheit im Namen des Volkes zu reden. Dieses werde dem Zaren folgen, welcher es zu Arbeit, zur Ordnung und zum Ruhme führen werde.21 DAS JUBILÄUM DES KAMPFES GEGEN NAPOLEON Dem Gedenken an die Schlacht von Borodino waren kurz zuvor andere Kriegsjubiläen vorausgegangen. 1908 und 1909 hatte man zweier Erfolge im Nordischen Krieg gedacht (in Lesnaja bei Mogilev und Poltava). Dabei propagierte die Regierung – wenige Jahre nach der Revolution von 1905 – eine Phase „vollkommener Ruhe, von Prosperität und Vertrauen in die gesellschaftliche Initiative“22. 1909 gab es neben militärischen Paraden und kirchlichen Feiern in Petersburg auch Volksvergnügungen, etwa Militärmusik auf allen Plätzen und in Parks sowie Theateraufführungen mit historischen Sujets. Außerdem lieferte das Jubiläum in Poltava ein Vorbild auch für künftige Begegnungen mit der Bauernschaft. Nach den Beobachtungen des französischen Militärattaché gab es damals tatsächlich eine emotionale Verbindung zwischen Herrscher und einfachem Volk bzw. dem gesamten ländlichen Milieu (auch der Gutsbesitzer) – während alle jene, die Nikolaus für revolutionäre Elemente hielt, hier nicht vertreten waren: Juden, Studenten, landlose Bauern und Arbeiter. Das gegenseitige Unverständnis zwischen Monarchie und gebildeter Gesellschaft dagegen wurde im selben Jahr an der Einweihung und Rezeption der Reiterstatue Alexanders III. deutlich.23 Dass überloka19 Schneider, 100 Jahre nach Napoleon, S. 59, 64; zur Reaktion in Russland auf Hauptmanns Stück siehe die ausführliche Besprechung von A. Ljuter [Luther], 1813 god v nemeckoj chudožestvennoj literature, in: Russkaja Mysl’, 1913, 34, H. 12, S. 20–25, hier S. 20ff. 20 Tsimbaev, Jubiläumsfieber, S. 83, 85. 21 So die Zusammenfassung in: Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender, 1912, Neue Folge 28, München 1913, S. 424. 22 Russkoe Slovo, 30. Juni 1909, hier zitiert nach Tsimbaev, Orthodoxe Kirche, S. 360f. 23 Zitat des französischen Militärattaché bei Dominic Lieven, Nicholas II. Twilight of the Empire, New York 1994, S. 167; zum Volksvergnügen: Jubilejnye dni Poltavskoj bitvy, in: Istoriþeskij vestnik, 1909, 113, S. 561–585, hier S. 580; Richard Wortman, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy. Vol. II: From Alexander II to the Abdication of Nicholas II, Princeton 2000, S. 421–426; zur Reiterstatue: S. 426ff.; zu weiteren militärischen Jubiläen siehe Tsimbaev, Jubiläumsfieber, S. 78f. (insbes. 1897 und 1911).

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le Gedenkveranstaltungen nur im 50. und 100. Jahr stattfanden,24 verlieh diesen zwar einerseits besonderes Gewicht, andererseits relativierte es aber auch ihre mobilisierende Funktion. Das Gedenken an Borodino übertraf alle früheren Jubiläen zu den verschiedensten Anlässen nach Umfang, Verbreitung der Feiern über das Reich und Vielfalt der Maßnahmen. Insofern nahm es seinerseits das Romanov-Jubiläum vorweg.25 Dabei ging es vor allem darum, die Niederlage im russisch-japanischen Krieg 1904/05 mental zu überwinden26 und nach der Revolution von 1905–1907 (wie auch später beim Romanov-Jubiläum) Monarchie, Staatsapparat und Volk durch eine Einigung um die von der Regierung vorgeschlagenen Ideen und Symbole zu versöhnen.27 Darüber hinaus dienten die Feiern auch der unterschwelligen mentalen Vorbereitung auf künftige Kriege, im Vergleich zu anderen Ländern aber eher defensiv.28 Dafür wurde die Erinnerung stark institutionell gesteuert – vor allem durch ein interministerielles Komitee, das seinerseits aber auf Vorarbeiten der Militärhistorischen Gesellschaft aufbauen konnte.29 Während der 50. Jahrestag 1862 nur als Teil der 1000-Jahr-Feier Russlands begangen und das Gedenken danach jahrzehntelang unterbunden wurde, durfte 1912 sogar erstmals der Volks- und Partisanenkrieg thematisiert werden. Darüber entspann sich nicht nur eine öffentliche Diskussion, sondern Nikolaus selbst würdigte in seinem Manifest die Rolle des Volkes im Kampf gegen die Invasoren.30 Allerdings konnte die angestrebte Vereinigung von Zar und Volk nur durch umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen, gezielte Auswahl der Gäste und Beeinflussung der Berichterstattung sowie vorherige Schulung der noch lebenden Zeitzeugen erreicht werden.31 Für die Feiern in den Universitäten gab es detaillierte Richtlinien des Ministeriums der Volksaufklärung, die allerdings für alle staatlichen Lehranstalten galten, nicht speziell auf Hochschulen zugeschnitten waren. In Deutschland dagegen waren Friedrich Meineckes Vorschläge eines reichsweiten Handelns 1910 bzw. eines koordinierten Plans aller Universitäten 1912 bei den zuständigen Behörden Preußens und des Reichs auf Ablehnung gestoßen. 24 B. D’jakov, Borodinskie jubilei i ich vozdejstvie na dorevoljucionnuju russkuju istoriografiju, in: Problemy istorii russkogo obšþestvennogo dviženija i istoriþeskoj nauki, Moskau 1981, S. 302–312. 25 Cimbaev, Trechsotletie, S. 192; ähnlich Cimbaev, Fenomen, S. 102. 26 So übereinstimmend Schneider, 100 Jahre nach Napoleon, S. 65 und Tsimbaev, Orthodoxe Kirche, S. 355. 27 Tsimbaev, Orthodoxe Kirche, S. 355. 28 Schneider, 100 Jahre nach Napoleon, S. 57, 65. 29 Diese hatte bereits 1909 ein spezielles Komitee dafür eingesetzt und organisierte im Jubiläumsjahr selbst dann monatelang Vorträge, unter Anderem in der Armee und in den Lehranstalten. 30 Zu den Feiern 1862 und den Jahrzehnten danach: D’jakov, Borodinskie jubilei, S. 305–308; 1912: Schneider, 100 Jahre nach Napoleon, S. 48; Cimbaev, Trechsotletie, S. 193; Tsimbaev, Jubiläumsfieber, S. 99f. 31 Genauer zur Gestaltung und insbesondere zur Vorbereitung der Zeitzeugen auf ihre Begegnung mit dem Zaren siehe Wortman, Scenarios of Power II, S. 431–435; Schlussfolgerung: Schneider, 100 Jahre nach Napoleon, S. 63.

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Die Quellenlage ist für Russland weniger gut als für Deutschland. In den offiziösen Jubiläumsberichten kommen die Universitäten kaum vor.32 Sie selbst veröffentlichten zwar jährliche Rechenschaftsberichte, doch manche enthielten nicht einmal einen Hinweis auf die Jubiläen.33 Zumindest der Ablauf der Feiern ist aber aus den Protokollen der Sitzungen der Conseils, das heißt der Gesamtkollegien der Professoren, zu ermitteln. Bei den Feiern der russischen Universitäten standen, anders als in Deutschland, wo appellative Reden gehalten und sogar Gelöbnisse abgelegt wurden, die Gottesdienste im Vordergrund. Die Vorträge erschienen, sofern sie überhaupt veröffentlicht wurden, offenkundig in erweiterter Form. Für die folgende Interpretation ergibt sich daraus das Problem, dass der genaue Text der eigentlichen Festansprache unbekannt ist.34 Bereits anderthalb Jahre vor dem 100. Jahrestag der Schlacht von Borodino mussten die Lehranstalten ihre Vorschläge zum Ablauf der Feier vorlegen. Daraus entwickelte das zentrale Ministerium der Volksaufklärung dann eine allgemeine Anweisung zum Ablauf. Vorgesehen waren kirchliche Zeremonien (am Vorabend und am eigentlichen Jahrestag!), ein Festakt, Schmuck der Gebäude und Verleihung von Gedenknamen zur Erinnerung an Personen und Ereignisse dieses Krieges, Erwerb einschlägiger Literatur, Vergabe von Jubiläumsmedaillen und Errichtung spezieller Stipendien. Sofern am jeweiligen Ort Truppenparaden stattfanden, war die Anwesenheit der „Lernenden“ bzw. „Studierenden“ (der russische Begriff uþašþiesja deckt beide Gruppen ab) „erwünscht“.35 Inwieweit hier vielleicht deutsche Vorbilder einflossen, ist unklar. Bei einer Besprechung Ende April 1911 in Kazan’, an der Vertreter des Lehrbezirks, des Wehrbezirks, verschiedener Vereine, Lehranstalten und sonstiger Institutionen teilnahmen, teilte jedenfalls der Rektor der Universität, Grigorij Dormidontov, der zu den führenden Oktobristen der Stadt gehörte, seine Beobachtungen aus Deutschland mit, wo er kurz zuvor Zeuge der Feierlichkeiten zum 40-jährigen Jubiläum der Reichsgründung gewesen war. Als der Kurator die aktive Teilnahme der Universität einforderte, konnte ihm der 32 Borodinskie toržestva, in: Istoriþeskij vestnik, 1912, 130, S. 323–354 enthält in den Berichten über Moskau (S. 327–350) und Petersburg (S. 351–354) überhaupt keine Information zu den Universitäten. Zum Romanov-Jubiläum siehe Romanovskie jubilejnye dni. Chronika prazdnestv 21–23 fevralja 1913 g., St. Petersburg 1913 (= Beilage zu Istoriþeskij vestnik, 131), S. 34, 37f. 33 So zum Beispiel der (in Deutschland nicht zugängliche) Char’kover, der in den Uþenye zapiski der Universität veröffentlicht wurde (freundliche Mitteilung von Serhij Posochov). Ebenso fehlt jeglicher Hinweis auf das Romanov-Jubiläum im Bericht der Petersburger Universität (freundliche Mitteilung von Evgenij Rostovcev). Vgl. dagegen den Jur’ever Bericht, siehe dazu unten Anm. 58–59, 80, 83. 34 Siehe die ausdrücklichen Hinweise auf die Erweiterung bei N. Firsov, 1812 god v sociologopsichologiþeskom osvešþenii. (Obšþaja charakteristika), Moskau 1913, S. 3, Anm. 1; Vorbemerkung zu den Vorträgen der Moskauer Festsitzung (siehe unten) in: ýtenija Imperatorskogo Obšþestva istorii i drevnostej Rossijskich, 1912, IV, S. 3. 35 Das Zirkular des Kurators des Kazaner Lehrbezirks und die Anweisung des Ministeriums sind abgedruckt in: Protokol zasedanija Soveta imperatorskogo Kazanskogo universiteta ot 27 fevralja 1912, in: Uþenye zapiski imperatorskogo Kazanskogo universiteta, 1912, 79, S. 67ff., hier S. 102–106.

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Rektor von einer bereits eingesetzten Kommission berichten, der der Historiker Nikolaj Firsov, der Jurist und ehemalige Rektor Nikolaj Zagoskin und der Russlandhistoriker Dmitrij Korsakov, allesamt Liberale, angehörten. Das ist um so bedeutsamer, als in derselben Sitzung Professor Vladislav Zaleskij, der Gründer der ersten dezidiert reaktionären Organisation in Kazan’, der Russischen Gesellschaft für Zar und Volk (Carsko-narodnoe russkoe obšþestvo), und inzwischen auch Mitglied des Bundes des russischen Volkes, vorgeschlagen hatte, den Feierlichkeiten „den Charakter eines umfassenden nationalen Feiertags“ (charakter širokogo narodnogo prazdnika) zu geben, „die Lehranstalten mit den Truppen zu vereinigen und das Volk sich mit ihnen vereinigen zu lassen“.36 Der Conseil jedenfalls beschloss Ende Februar 1912, die vorgeschriebenen Gottesdienste sowie einen Festakt mit einem Vortrag Firsovs zu halten und das Jubiläum nach Möglichkeit auch mit weiteren Aktivitäten zu feiern.37 Schon mit der Wahl des kritischen Historikers als Festredner bezog die Professorenschaft Stellung, und dies belegt, dass nach den Auseinandersetzungen der letzten Jahre38 die Anschauungen der „Rechten“ in der Universität auch weiterhin keine Zustimmung fanden. Die Gottesdienste fanden überall statt, und dabei hielt z. B. in Char’kov der Professor der orthodoxen Theologie39 eine „flammende Rede“.40 Ebenso wurden überall zum Gedenken an diesen Krieg einige neue Stipendien oder zumindest Hörgeldbefreiungen ausgesetzt. Die Universität Kazan’ beschloss, pro Jahr und Fakultät einen Studenten zu befreien; dabei sollte Nachfahren der „Helden“ (!) von 1812 der Vorzug gegeben werden. In Char’kov wurden die universitätseigenen Stipendien (aus staatlichen Mitteln) durch 1000 Rubel der Stadtduma ergänzt, um Studiengebühren bedürftiger Studenten abzudecken. Der Aufforderung, Lehranstalten, Bibliotheken und sonstige Einrichtungen nach Ereignissen und Personen des Vaterländischen Krieges zu benennen, kamen die Universitäten auf verschiedene Weise nach: Während die Char’kover nur den Universitätsgarten (der zugleich einer der wichtigsten Plätze für die Volksvergnügungen zum Jubiläum war) mit dem Schriftzug „1812“ versahen und mit Büsten von Alexander I. und Nikolaus II. schmückten, wollten die Kazaner ihre ganze Universität nach Alex-

36 Iskander Giljazov, Gorod Kazan’ i Kazanskij universitet v naþale XX veka, in: Trude Maurer / Aleksandr Dmitriev (Hg.), Universitet i gorod v Rossii (naþalo XX veka), Moskau 2009, S. 460–583, hier S. 489. Firsov war Mitglied der Kadetten, Zagoskin wurde 1911 in die Akademische Kurie des Reichsrats gewählt. 37 Protokol zasedanija 27 fevralja, S. 104f. 38 Mit sowjetisch perspektivierter Verzerrung dargestellt bei M. Korbut, Kazanskij gosudarstvennyj universitet im. V. I. Ul’janova-Lenina za 125 let 1804/5–1929/30, Bd. II, Kazan’ 1930, S. 245–264. 39 Einen solchen Professor hatte jede Universität des Zarenreichs, um die für alle Studenten obligatorische religiöse Unterweisung zu gewährleisten, während die eigentliche Theologie an separaten Hochschulen gelehrt wurde, den Geistlichen Akademien. 40 Siehe zum Beispiel für Char’kov: 26-e avgusta v Char’kove, in: Char’kovskie gubernskie vedomosti, 28. August 1912 (Zitat); für Kazan’: Giljazov, Gorod Kazan’, S. 489; für Jur’ev siehe das Programm in: Eesti Ajaloo Arhiv, 402/4/1452, fol. 36–36v.

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ander I. benennen, da sie ja in seiner Herrschaftszeit gegründet worden sei.41 (Aber das galt ebenso für die Universitäten von Char’kov, Dorpat/Jur’ev und Petersburg, die eine solche Umbenennung offenbar nicht ins Auge fassten!) In Jur’ev änderte die Universität ihr eigenes Programm und beschloss, nachdem die Richtlinien des Ministeriums bekannt gemacht worden waren, eine gemeinsame Veranstaltung mit anderen Lehranstalten in einem städtischen Saal abzuhalten. Die eigentlich vorgesehenen Reden – über die Ereignisse des Krieges, die Tätigkeit der Universität 1812/13 und den damaligen Stand der Chirurgie sowie über die Organisation der medizinischen Hilfe im Krieg – wollte man statt dessen in der Zeitschrift der Universität drucken, was dann jedoch nicht geschah. Ebenfalls der Würdigung des eigenen Beitrags diente der Plan, in der lutherischen Universitätskirche eine Gedenktafel für die gefallenen Mitglieder der Universität anzubringen.42 Doch scheint man die Aktivitäten einzelner, wie etwa des Politökonomen Friedrich Eberhard Rambach und des 1813 gefallenen Professors der russischen Philologie, Andrej Kajsarov, die gemeinsam eine Feldzeitung herausgaben,43 in der Presse nicht besonders gewürdigt zu haben. Bei der allgemeinen Feier am Denkmal des deutschbaltischen Generals Barclay de Tolly nahmen aber auch die Professoren teil.44 Ansonsten standen die Universitäten bei den öffentlichen Feiern etwas abseits.45 Und mit ihren eigenen Festakten veranstalteten sie keine Jubelfeiern, sondern eher kritisch-wissenschaftliche Sitzungen. In Kazan’ wählte der Conseil für die Festrede einstimmig einen Historiker, der sich mit Werken über die Volksaufstände Sten’ka Razins und Pugaþevs hervorgetan hatte und der Regierung nicht nur als Mitglied der Partei der Volksfreiheit (Konstitutioneller Demokrat) suspekt, sondern – zumindest 1907/08 – sogar in seinen Vorlesungen überwacht worden war.46 Außerdem wehrte sich Firsov selbst gegen den Versuch der Behörden, den Festakt Ende April plötzlich vom geplanten Jahrestag der Schlacht Ende August auf Mitte Mai zu verlegen, und fand darin wiederum die Unterstützung seiner Kollegen.47 Seine Rede im August, in der er nicht nur die psychologischen Voraussetzungen bei Alexander und Napoleon, sondern, wesentlich ausführlicher, die Bedingungen und Umstände des Krieges untersuchte, lief auf eine Entzauberung des 41 Jur’ev: ebd.; Kazan’: Protokol zasedanija 27 fevralja, S. 105; Char’kov: Mitteilung von Serhij Posochov. 42 Eesti Ajaloo Arhiv, 402/4/1452, fol. 36–36v. 43 Friedrich Bienemann (Hg.), 1812. Baltische Erinnerungsblätter, Riga 1912, S. 20ff. 44 Postimees, Nr. 198, 27. August 1912; Eesti Ajaloo Arhiv, 402/4/1452, fol. 43. 45 So die Deutung für Char’kov durch Serhij Posochov. 46 Kazanskij universitet 1804–1879. Oþerki istorii, Kazan’ 1979, S. 61f.; Giljazov, Gorod Kazan’, S. 506, 573, Anm. 126. Auch in der Revolution von 1905 hatte er eine wichtige Rolle gespielt. Siehe dazu Lutz Häfner, Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Die Wolgastädte Kazan’ und Saratov (1870–1914), Köln 2004, S. 401f., 410. 47 Aufgrund seiner Arbeiten für die Akademie der Wissenschaften könne er die umfangreichen Recherchen für den Vortrag nicht binnen zwei Wochen durchführen, vgl. Protokol zasedanija Soveta imperatorskogo Kazanskogo universiteta ot 11 maja 1912, in: Uþenye zapiski imperatorskogo Kazanskogo universiteta, 1913, 80, H. 1–2, S. 192ff., hier S. 193–195.

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„russischen Volks-, des ‚Vaterländischen Kriegs‘“ hinaus. Dabei konstatierte Firsov zwar einen patriotischen Aufbruch, doch habe dieser beim Adel nur eine schnellvergehende Aufwallung dargestellt. Und beim einfachen Volk beobachtete er eine Demoralisierung. Der Brand Moskaus sei nicht die Ausführung eines bewussten patriotischen Plans gewesen. Vielmehr stellte Firsov ihn als Aufstand des Volkes dar, der auch gegen die (eigenen) Herren gerichtet gewesen sei. Im Rachekrieg nach dem Abzug der Großen Armee beobachtete er eine Entmenschlichung, die sich in pathologischer Raserei geäußert habe, bei welcher der Mensch auf sein eigenes „bestialisches Vorgehen wie auf eine wohlgefällige Tat geschaut“ habe. Dieser Krieg sei unentschieden ausgegangen, denn er habe zwar mit einem moralischen, mentalen und psychischen Sieg geendet, aber mit einer strategischen Niederlage. Nicht die Waffen, sondern die Umstände hätten das Scheitern des gigantischen napoleonischen Feldzugs vollendet. Zudem habe sich die Lage der Bauern nach 1812 verschlechtert. Nutzen hätten vom Kriegsausgang allein die oberen „Klassen“ gehabt. Die soziologische Bedeutung des Krieges sah Firsov darin, dass er die Abschaffung der Leibeigenschaft gebremst habe, obwohl er eigentlich zur Emanzipation hätte führen müssen. Andererseits erkannte er aber auch eine Verbindung zwischen 1812 und 1861, insofern in den „aufregenden Gedanken“ und der „nervlichen Erregung“ das Unterpfand des Strebens der Gesellschaft nach Selbsterkenntnis und Selbständigkeit gelegen habe. In den zeitgenössischen Bildquellen, den Volksbilderbogen (lubki) und Karikaturen, beobachtete Firsov einen ungesunden Chauvinismus und distanzierte sich von dessen baldiger Instrumentalisierung, etwa in Schulbüchern, weil solche Gefühle „den besseren [!] Elementen der russischen Gesellschaft“ seiner eigenen Zeit „völlig fremd“ seien. Doch je mehr die traurigen Erinnerungen selbst verblasst seien, um so mehr hätten sich die chauvinistischen Bestandteile in den Vordergrund geschoben.48 Bei allem Detailreichtum bot der Kazaner Historiker also nicht nur ein kritisches Geschichtsbild, sondern auch (zumindest implizit) einen mahnenden Blick auf die Gegenwart. In Moskau veranstaltete der Conseil der Universität gemeinsam mit der Gesellschaft für russische Geschichte und Altertümer eine Festsitzung, allerdings nicht Ende August, am Jahrestag der Schlacht, sondern erst im Oktober. Anwesend waren der Bischof, der Kurator des Lehrbezirks und andere Ehrengäste, aber auch Studenten. Dabei wurden insgesamt vier Vorträge gehalten. Der berühmte Historiker und Leibniz-Biograph Vladimir Ger’e (Guerrier) charakterisierte Alexander I. und Napoleon und stellte Letzteren als Sieger und Eroberer europäischen Typs dar, worunter er (in Abgrenzung zum asiatischen Typ des Zerstörers) den Erbauer und Schöpfer von Staaten verstand.49 Privatdozent Sergej Bachrušin, Spross einer berühmten Moskauer Kaufmannsfamilie, den die Änderung des Wahlgesetzes 1907 politisiert hatte und der seit 1908 Deputierter der Stadtduma war, arbeitete in seinem Vortrag über „Moskau 1812“ ebenfalls die Gewalttätig48 Firsov, 1812 god, Zitate S. 21, 43f., 49, 56, 53. 49 V. Ger’e, Imperator Aleksandr I i Napoleon, in: ýtenija Imperatorskogo Obšþestva istorii i drevnostej Rossijskich, 1912, IV, S. 5–18, hier S. 14.

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keit und Beutegier der þern’ (des Pöbels) heraus. Die „Legende vom Brand Moskaus, als Akt heroischer Selbstaufopferung, war noch nicht entstanden.“ Nicht der Krieg habe den Niedergang des adeligen Moskaus bewirkt, das bald nach dem Abzug der Franzosen weitergemacht habe wie zuvor, sondern der Niedergang der Adelswirtschaft und der Aufstieg des Handels (welcher seinerseits von den Ereignissen 1812 nicht beeinflusst worden sei).50 Der längste Beitrag galt der Universität selbst in diesem Krieg und stammte vom (konservativ gesinnten) Rektor: Der Spezialist für das 16. Jahrhundert und die Historische Geographie Russlands, Matvej Ljubavskij, stellte fest, dass das Statut der Universität von 1804 ihre Umwandlung in eine reine Hochschule eingeleitet und die Katastrophe von 1812 dies noch beschleunigt habe.51 Der Brand habe nur den materiellen Besitz der Universität vernichten, aber der großen Bedeutung, die Regierung und Gesellschaft ihr zugemessen hätten, nichts anhaben können, auch nicht jenen geistigen Kräften, die ihr Binnenleben bewegten.52 Abgerundet wurde die Sitzung durch einen kurzen Beitrag über das Jahr 1812 in der russischen Belletristik.53 Indem hier nicht nur die großen Ereignisse von reichsweiter Bedeutung erörtert wurden, sondern das Thema „1812“ in Einzelaspekte mit lokalem Bezug – zur Stadt und besonders zur Universität Moskau – aufgefächert wurde, stellte der Rektor seine eigene Institution ins Rampenlicht. Dass dies von Erfolg gekrönt war, darf angesichts der öffentlichen Bewertung seiner Rede als „weitschweifige Auskunft“ allerdings bezweifelt werden.54 DAS JUBILÄUM DER MONARCHIE Stand bei der Erinnerung an den Kampf gegen Napoleon das Volk im Zentrum, so ging es beim 300-jährigen Bestehen der Romanov-Dynastie vor allem um die Einheit von Volk und Herrscher. Schon seit 1900 hatten sich in russischen Zeitungen die Hinweise auf das bevorstehende Jubiläum gehäuft. Im speziellen Vorbereitungskomitee kamen besonders der obersten staatlichen Behörde zur Leitung der orthodoxen Kirche, dem Heiligen Synod, und dem Ministerium der Volksaufklärung eine wichtige Rolle zu. Sogar besondere Zensurregeln wurden eingeführt, die für Theaterstücke und sonstige Jubiläumswerke der Synod umzusetzen hatte, während die Vorträge der Gymnasialdirektoren und -lehrer (durch die Kuratoren der Lehrbezirke) vom Ministerium der Volksaufklärung kontrolliert wurden. Dabei war mit der offiziellen Anweisung auch ein bestimmtes Geschichtsbild vorgegeben. Die Herrschaft der Romanovs beruhe nicht auf einem Vertrag und unter50 V. Bachrušin, Moskva v 1812 godu, in: ýtenija Imperatorskogo Obšþestva istorii i drevnostej Rossijskich, 1912, IV, S. 19–56, hier S. 42f., 51 (Zitat), 56. 51 Vorher gehörten dazu ein akademisches Gymnasium und ein Adelspensionat. 52 M. Ljubavskij, Moskovskij Universitet v 1812 godu, in: ýtenija Imperatorskogo Obšþestva istorii i drevnostej Rossijskich, 1912, IV, S. 57–122, hier S. 116, 112. 53 V. Pokrovskij, 1812 god v russkoj povesti i romane, in: ýtenija Imperatorskogo Obšþestva istorii i drevnostej Rossijskich, 1912, IV, S. 123–130. 54 Russkie Vedomosti, Nr. 244, 23. Oktober 1912, S. 4.

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liege keiner juristischen Bestimmung. Michael Fedoroviþ Romanov sei genau in dem Moment Zar geworden, als sein Bild im allgemeinen Bewusstsein mit dem Bild der leidenden Heimat identifiziert wurde.55 Da im monarchistischen Narrativ der Zar und seine Familie dominierten, war nicht die Wahl Michael Fedoroviþs durch eine Landesversammlung der entscheidende Akt, sondern seine Annahme der Krone von einer Delegation aus Bojaren und Geistlichen. Im Unterschied dazu betonte eine gemäßigt-monarchistische Sichtweise die Vereinigung von Monarch, Staat und Gesellschaft zur Erlangung des gemeinen Besten. Hierbei wurde die Vorstellung einer Nation neben der Person des Monarchen entwickelt, während in der Sicht Nikolaus’ II. beide verschmolzen waren. Den Predigten von 1913 zufolge wurde die Einheit nicht durch eine Begegnung von Zar und unterschiedlichen Gruppen des Volkes, sondern durch ein mystisches Band gewährleistet.56 Trotz aller organisierten Bemühungen stellte sich aber keine große Begeisterung, keine Einmütigkeit ein. Die Feiern blieben offiziell und hatten wenig Resonanz im Volk. Bei der Begegnung des Zaren mit einer Abordnung von Bauern wurde die Fremdheit besonders offenkundig.57 Die liberale Presse umging das Jubiläum geradezu: Die „Russkie Vedomosti“, die als Professorenzeitung galten, berichteten am eigentlichen Jahrestag über den 100. Geburtstag des liberalen Historikers Granovskij, andere liberale Zeitungen über das 100-jährige Jubiläum eines Kaufhauses!58 Für die Universitäten galt wiederum eine allgemeine Anweisung des Ministeriums für die Lehranstalten, nachdem im Vorfeld deren eigene Vorschläge eingeholt worden waren. Zur geforderten sorgfältigen Vorbereitung der Lernenden sollten Gespräche und Lesungen zu historischen Themen gehören, bei Ausflügen mit der Dynastie verbundene Orte bevorzugt werden. Am Vorabend und am 21. Februar (dem Jahrestag der Wahl Michaels) hatten wiederum Gottesdienste mit Totenmesse für alle Angehörigen der Romanov-Dynastie und Fürbitten stattzufinden, danach Festakt und Lesungen, an denen auch die Lernenden selbst beteiligt werden sollten. Um dem Jubiläum größere Festlichkeit zu verleihen, sollten an Orten mit mehreren Lehranstalten möglichst gemeinsame Feiern veranstaltet werden, Belobigungen und Auszeichnungen in diesem Jahr ein besonderes Gedenkzeichen erhalten.59 55 56 57 58

Cimbaev, Trechsotletie, S. 181, 188–191. Wortman, Scenarios of Power II, S. 442f., 448. Wortman, Scenarios of Power II, S. 466, 472f. Tsimbaev, Jubiläumsfieber, S. 101. Allerdings berichteten die Russkie vedomosti jeweils ausführlich, aber im Nachrichtenstil, am 21. Februar 1913, S. 5 im Moskauer Lokalteil über die Totenmesse am Grab des ersten Zaren am Vorabend des Jubiläums und am 22. Februar 1913, S. 2f., über den Ablauf der Feiern in Petersburg. Dasselbe gilt für den zweiten Teil der Feierlichkeiten an der Wolga und in Moskau im Mai (Russkie Vedomosti, Nr. 112, 16. Mai 1913, S. 4; Nr. 113, 17. Mai 1913, S. 3; Nr. 114, 18. Mai 1913, S. 3f. etc. bis Nr. 121, 28. Mai 1913, S. 5). 59 Enthalten als Punkt 33 in einem nichtnumerierten und undatierten Protokoll der Sitzung des Conseil der Universität Kazan’ (ca. Ende Januar/Anfang Februar 1913), in: Uþenye zapiski imperatorskogo Kazanskogo universiteta, 1913, 80, S. 38–43, hier S. 38–42.

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Auch dieses Programm wurde an den einzelnen Universitäten unterschiedlich vollständig umgesetzt. Überall fanden die vorgeschriebenen Gottesdienste statt, in Jur’ev, wie schon 1912, parallel in der lutherischen und in der orthodoxen Universitätskirche.60 Auch neue Stipendien wurden überall eingerichtet.61 Unter den übrigen Maßnahmen trafen die einzelnen Universitäten jedoch ihre je eigene Auswahl. Die Char’kover hielt sich, wie schon 1912, sehr zurück. Erst am 1. März veranstaltete die Historisch-Philologische Gesellschaft im Saal des Conseil, aber offenbar nicht, wie in Moskau 1912, mit diesem zusammen, eine Sitzung mit zwei Vorträgen über die Jahre 1613–1913, einem historischen und einem kunsthistorischen.62 Andererseits trat bei einer Jubiläumsfeier der monarchistischen Organisationen in der Stadtduma am 23. Februar ein konservativer Professor (und früherer Fraktionsvorsitzender der Rechten in der Staatsduma) auf und sprach über die Wahl Michael Fedoroviþ Romanovs. Dabei zog er eine „originelle Parallele zwischen Westeuropa und Russland im 17. Jahrhundert.“ Außerdem kündigte er – genau der monarchistischen Auffassung entsprechend – einen weiteren Vortrag für den Tag der Annahme der Zarenkrone an.63 In Kazan’ hatte die Universität schon früh eine Kommission bestellt, die ein Programm erarbeitete, doch wurde dieses von der vorgesetzten Behörde nicht bestätigt. Als dann später die offiziellen Anweisungen kamen, beschränkte man sich auf die Gottesdienste, ein Telegramm an den Zaren, die Schmückung und abendliche Illumination der Gebäude sowie eine Geldsammlung zum Erwerb einer Ikone für die Universitätskirche. Von einem Festakt war, anders als 1912, keine Rede mehr. Zwar war in der Sitzung, die diesen Beschluss traf, nur etwa die Hälfte der Mitglieder des Conseil anwesend – doch da Angehörige ganz unterschiedlicher politischer Richtungen fehlten, scheint es sich nicht um einen Boykott gehandelt zu haben.64 Im Übrigen war solche mangelnde Frequenz auch keine Seltenheit.65 In Sankt Petersburg plante die Universität ursprünglich eine gemeinsame Festsitzung mit der Akademie der Wissenschaften. Das hätte einerseits nahegelegen, weil eine Reihe von Akademiemitgliedern an der Universität als Privatdozenten lehrte.66 Zugleich hätte dies die Universität noch stärker aus den übrigen Petersburger Hochschulen herausgehoben. Doch damit war man auf „Hindernisse“ nicht näher bezeichneter Art gestoßen. Deshalb fand auf Initiative der Universität 60 Otþet o sostojanii i dejatel’nosti imperatorskogo Jur’evskogo Universiteta za 1913 god, Jur’ev 1914, S. 147; für Char’kov: Char’kovskie gubernskie vedomosti, 17. März 1913 und 21. März 1913; über die Petersburger und Moskauer Lehranstalten jeweils allgemein: Romanovskie jubilejnye dni, S. 26, 50. 61 Für Petersburg: 275 let Sankt-Petersburgskij gosudarstvennyj universitet. Letopis’ 1724– 1999, St. Petersburg 1999, S. 278; für Jur’ev: Otþet za 1913 god, S. 146. 62 Char’kovskie gubernskie vedomosti, 1. März 1913. 63 Char’kovskie gubernskie vedomosti, 23. Februar 1913 und 26. Februar 1913 (Bericht mit Zitat). 64 Nichtnumeriertes und undatiertes Protokoll einer Sitzung, in: Uþenye zapiski imperatorskogo Kazanskogo universiteta, S. 38, 42f. 65 Freundlicher Hinweis von Jana Rudneva. 66 Evgenij Rostovcev, Universitet stoliþnogo goroda (1905–1917 gody), in: Maurer / Dmitriev (Hg.), Universitet i gorod, S. 205–370, hier S. 227.

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Anfang Januar zunächst eine private Beratung der Rektoren bzw. Direktoren der Hochschulen statt, auf der eine gemeinsame Festsitzung ihrer Conseils beschlossen wurde; darunter waren auch drei Frauenhochschulen. Als Vorsitzenden stellte man sich eine „allerhöchste Persönlichkeit“ aus dem Kreis der Ehrenmitglieder der Universität vor, also den Kaiser selbst oder einen der Großfürsten. Da manche dieser Hochschulen nicht dem Ministerium der Volksaufklärung, sondern anderen Ressorts unterstanden, hatte der stellvertretende Minister allerdings Bedenken, seine Zustimmung zu geben. Daraufhin wandte sich der den Petersburger Rektor damals vertretende Kollege an Ministerpräsident Kokovcov, der eine solche Sitzung guthieß – aber mit der Auflage, dass sie nicht in einer Lehranstalt und nicht im Saal der Adelsversammlung stattfinden dürfe. So wählten die Veranstalter die Stadtduma (wobei ihnen die guten Beziehungen der Universität zu Bürgermeister Ivan Tolstoj, 1905/6 kurze Zeit Bildungsminister, zugute gekommen sein dürften). Die Vorträge sollten zwei Russlandhistoriker der Universität halten: der schon lange etablierte Sergej Platonov und der Privatdozent Sergej Roždestvenskij (der 1902 bereits eine Darstellung über das erste Jahrhundert des Ministeriums der Volksaufklärung vorgelegt hatte). Platonov wollte über „Die Umstände und Bedeutung der Wahl Michael Fedoroviþ Romanovs zum Zaren“ sprechen, Roždestvenskij über „Die Entstehung und Entwicklung der wissenschaftlichen Hochschulbildung in Russland in den vergangenen dreihundert Jahren“. Der Conseil beschloss ein Telegramm an den Zaren (dessen Text Platonov entworfen hatte) und wählte auch eine Deputation, bestehend aus dem Rektor und Allgemeinhistoriker Ơrvin Grimm, dem Geologen Aleksandr Inostrancev sowie dem Physiker Ivan Borgman (der seine Mitgliedschaft in der Akademischen Kurie des Reichsrats aus Protest gegen die Auflösung der Duma 1907 schon nach einem Jahr niedergelegt hatte, das Rektorat 1910 aus Protest gegen die Art der Behandlung von Studenten durch die Polizei).67 Bei der Veranstaltung saßen Minister und Mitglieder des Reichsrats in der ersten Reihe. Den Vorsitz führte allerdings nicht, wie erhofft, ein Mitglied der Zarenfamilie, sondern der Ingenieur und General Nikolaj Petrov (Mitglied des Reichsrats und einst stellvertretender Verkehrsminister), der vorschlug, die Sitzung „nach russischer Sitte“ mit einem kurzen Gebet zu eröffnen, und auch selbst einen Vortrag über die Bedeutung der Hochschulbildung hielt (offenbar anstelle des geplanten von Roždestvenskij). Er beendete ihn mit einem Toast auf den Zaren, darauf folgten die üblichen „Hurra“-Rufe und die Zarenhymne, gespielt von einem Militärorchester. Anschließend hörte man Platonovs Vortrag.68 Dass die Universität ein Dankschreiben des Petersburger Stadthauptmanns69 an jene gesellschaftlichen Institutionen, Bevölkerungsgruppen 67 [Protokoll der Sitzung des Conseil vom 14. Januar 1913], in: Protokoly zasedanij Soveta imperatorskogo S.-Peterburgskogo universiteta za 1913 god, Petrograd 1915, Nr. 69, S. 2f., 5. 68 Romanovskie jubilejnye dni, S. 37f. 69 Russische Städte hatten eine doppelte Verwaltungsspitze: Neben dem gewählten Bürgermeister als Spitze der sogenannten Selbstverwaltung stand der Stadthauptmann als ernannter Beamter des Innenministeriums, also der staatlichen Verwaltung. Bei Meinungsverschiedenheiten hatte er die letzte Entscheidung.

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und privaten Vereine erhielt, die wegen der hohen Gratulantenzahl nicht zur Überbringung zugelassen werden konnten, erlaubt nur den Schluss, dass ihre Deputation vom Zaren nicht empfangen wurde.70 Das erstaunt um so mehr, als Delegationen anderer Lehranstalten und Universitäten, wenn auch erst als vierte (das heißt vorletzte) Gruppe, ihre Glückwunschadressen überreichen konnten.71 Vielleicht hatte die Obrigkeit die Zusammensetzung der Delegation als Provokation empfunden. Platonov, der sich an den Vorbereitungen der Jubiläumsfeierlichkeiten beteiligt hatte und in diesem Jahr zahlreiche öffentliche Vorträge hielt, wurde eine besondere Würde teil: Er nahm an der Reise der Zarenfamilie samt offizieller Delegation ins Ipat’ev-Kloster bei Kostroma teil, wo Michael Fedoroviþ einst die Bojaren-Delegation empfangen hatte. 1914 war Platonov als Nachfolger des verstorbenen Bildungsministers im Gespräch.72 Dass er es nicht wurde, führten manche Kollegen darauf zurück, dass sein Vortrag über Michaels Wahl in der Russischen Historischen Gesellschaft dem Zaren missfallen hatte.73 Tatsächlich widersprach das, was der durchaus monarchiefreundlich gesinnte Platonov 1912 geschrieben hatte, den Ansichten des Zaren: „In der einmütigen Wahl durch das ganze Land lag die reine und edle Quelle der Macht der Romanovs. Eine solche Wahl erhöhte die Macht Moskaus, die bislang im Erbbesitz begründet war, zu national-staatlicher Bedeutung und vermittelte ihr eine ungewöhnliche Festigkeit (krepost’) und Popularität.“74

Die Kazaner und die Petersburger Universität waren also mit ihren eigenen Plänen an den Behörden gescheitert, wobei die Kazaner sich dann auf eher äußere Rituale beschränkte, während die Petersburger eine Modifikation des Vortragsprogramms akzeptieren musste, die vermutlich nicht nur die Auswechslung eines Redners bedeutete, sondern auch den Geist der Veranstaltung veränderte. 70 [Protokoll der Sitzung vom 13. Mai 1913], in: Protokoly zasedanij S.-Peterburgskogo universiteta, S. 96f. 71 Romanovskie jubilejnye dni, S. 34. Die anderen Gruppen umfassten 1. den Adel, 2. Vertretungen der ländlichen und städtischen Selbstverwaltung, 3. Delegationen von wirtschaftlichen und religiösen Einrichtungen, 5. Archivkommissionen verschiedener Gouvernements. 72 Russkie Vedomosti, Nr. 261, 12. November 1914. Zu diesem Teil der Feierlichkeiten siehe Wortman, Scenarios of Power II, S. 466–477 (allerdings ohne Erwähnung von Platonovs Teilnahme). 73 Über Bemerkungen von N. Bubnov und V. Ikonnikov (beide Kiev) berichtet Platonovs Frau, N. Platonova, selbst eine Absolventin der Petersburger Frauenhochschule, in ihrem Tagebuch unter dem 16. Juni 1915 (Otdel rukopisej Russkoj Nacional’noj Biblioteki, St. Petersburg, 1/585/5694, fol. 78). 74 S. Platonov, Vsja zemlja, in: G. Vasenko / S. Platonov / E. Turaeva-Cereteli, Naþalo dinastii Romanovych. Istoriþeskie oþerki, St. Petersburg 1912, S. 220–234, Zitat S. 234. Platonova bezog das Missfallen allerdings darauf, dass ihr Mann eine in der Wissenschaft seit langem anerkannte Auffassung vertreten habe: Dass der junge Michael, von schwacher Gesundheit und nicht besonders vornehmer Abkunft, deshalb gewählt worden sei, weil Bojaren und Kosaken unterschiedliche Kandidaten favorisierten und sich auf keinen anderen hätten einigen können (Otdel rukopisej Russkoj Nacional’noj Biblioteki, St. Petersburg, 1/585/5694, fol. 78; freundliche Mitteilung von Evgenij Rostovcev).

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In Moskau beschloss der Conseil bereits im April 1912 (also noch vor dem Borodino-Jubiläum), auch zur Dreihundertjahrfeier der Romanovs gemeinsam mit der Gesellschaft für Geschichte und russländische Altertümer eine feierliche wissenschaftliche Sitzung abzuhalten. Das Programm stellte die HistorischPhilologische Fakultät zusammen, der Conseil bestätigte es. Die Sitzung fand wiederum in Anwesenheit des Kurators und anderer Ehrengäste, der Professoren und externer Gäste statt. Über den Minister hatte Rektor Ljubavskij den Zaren im Namen seiner Kollegen der untertänigsten Liebe und Ergebenheit sowie des brennenden Wunsches versichert, mit voller Kraft der russischen Wissenschaft und Aufklärung und dem Wohl des Vaterlandes zu dienen. Die Verlesung dieses Telegramms wurde in der Sitzung mit dreimaligem Absingen der „Nationalhymne“ (narodnyj gimn) gewürdigt.75 In seiner Eröffnungsrede erläuterte Ljubavskij den veränderten Kontext, Sinn und Bedeutung dieser (keinesfalls ersten) Zarenwahl. Er deutete alles national, nicht nur mit Begriffen des 19. Jahrhunderts, sondern auch aus dessen Perspektive. Den Verlust der Eigenständigkeit hätten die Russen (im Gegensatz zu Serben und Tschechen) damit gerade noch abwenden, ihre ins Schwanken geratene „nationale Selbständigkeit, nationale Freiheit“ und damit auch ihre „nationale Würde, nationale Selbstachtung“ festigen können. Und da Russland im Osten und im Westen wiederum von mächtigen Feinden umgeben sei, empfahl er diese Haltung als Vorbild für die Gegenwart, damit alle bereit seien, „ihre nationale [nacional’nyj] Freiheit, Ehre und Würde mit ihrem Leben zu verteidigen“.76 Auch L. Suchotin passte seine Darstellung der „Volksbewegungen 1611 und 1612“ in die Gegenwart der Hörer ein, indem er einleitend erklärte, wie die „russischen Menschen“ aus jener Zeit der großen Erschütterungen mit einem geklärten Bewusstsein hervorgegangen seien und neue Vorstellungen daraus mitgenommen hätten: vom Gemeinwohl, gesellschaftlicher Verantwortung und Organisation. In den damals entstandenen Bewegungen hätten diese Vorstellungen ihren Ausdruck gefunden.77 Jurij Got’e (Gautier), damals noch Privatdozent, der 1906 ein dickes Buch über die Region Moskau im 17. Jahrhundert vorgelegt hatte, 1913 gerade seine Doktordissertation verteidigte78 und den ersten Band davon publizierte, berichtete erzählend und analysierend von der Wahl des ersten Romanovzaren und begleitete dies mit Seitenhieben gegen anachronistische Bewertungen.79 Michail 75 [Ungezeichnete Vorbemerkung], in: ýtenija Imperatorskogo Obšþestva istorii i drevnostej Rossijskich, 1913, IV, S. 3f. 76 M. Ljubavskij, [Eröffnungsansprache], in: ýtenija Imperatorskogo Obšþestva istorii i drevnostej Rossijskich, 1913, IV, S. 5ff., Zitate S. 6, 7. 77 L. Suchotin, Narodnye dviženija 1611 i 1612 gg., in: ýtenija Imperatorskogo Obšþestva istorii i drevnostej Rossijskich, 1913, IV, S. 8–18, hier S. 8. 78 Privatdozent konnte man im Russischen Reich damals bereits werden, wenn man das Magisterexamen bestanden, die Magisterdissertation aber noch vor sich hatte. Eine Professur erforderte die Doktorpromotion, die etwa der deutschen Habilitation gleichzusetzen wäre. Das 600-seitige Buch von 1906 war Got’es Magisterdissertation. 79 Ju. Got’e, Izbranie na carstvo Michaila Feodoroviþa Romanova, in: ýtenija Imperatorskogo Obšþestva istorii i drevnostej Rossijskich, 1913, IV, S. 19–34.

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Bogoslovskij schließlich stellte die drei Jahrhunderte der Herrschaft der Romanovs als Geschichte der Bildung eines nationalen, aufgeklärten Rechtsstaates dar: vom heißen Nationalgefühl des 17. Jahrhunderts über das Licht der Aufklärung im 18. zum Triumph von Gesetz und Recht im 19. Dabei begriff er die territoriale Einheit und die durch Tradition starke Dynastie als Bollwerk der staatlichen Einheit – und sah das alles aus einer stark russischen Perspektive.80 Die Moskauer Feier war also, nicht nur durch die Worte des Rektors, eine wahrhaft staatstragende Veranstaltung. In Jur’ev/Dorpat feierte die ganze Stadt in der Aula der Universität. Bereits seit November 1911 hatte eine Kommission aus je einem Vertreter der fünf Fakultäten und dem Rektor Vissarion Alekseev dies vorbereitet. Als Theologe gehörte dazu Alexander Berendts, der in Petersburg geborene (und 1912 verstorbene) Sohn eines Kaufmanns aus Lübeck. Das von der Kommission ausgearbeitete Programm umfasste neben den Gottesdiensten, der Schaffung von RomanovStipendien und 16 zusätzlichen Klinik-Betten, einen Festakt mit drei Vorträgen: Der Professor für Russische Geschichte Ivan Lappo erörterte die Wahl vor dem Hintergrund der vorangegangenen Entwicklungen, der Staatsrechtler Lev Šalland (Challande), ein aus Petersburg stammender Schweizer Staatsbürger, beleuchtete die Entwicklung der russischen Staatlichkeit im 18. und 19. Jahrhundert, der Rechtshistoriker Fedor Taranovskij sprach über den Staat und die russische Sache (Gosudarstvo i Russkoe delo) im 17. Jahrhundert. Auch hier ging aber nicht alles nach dem Wunsch der Universität: Die Stipendien und zusätzlichen Klinikplätze wurden nicht aus Etatmitteln des Ministeriums, sondern aus den „Sondermitteln“ der Universität, das heißt Studiengebühren und Hörgeldern, finanziert.81 Lappo, der für seine Arbeiten über das 17. und 18. Jahrhundert 1912 den Uvarov-Preis der Akademie der Wissenschaften erhalten hatte, sah die Wahl des ersten Romanov-Zaren nicht nur, wie die Zeitgenossen, als das Ende der Zeit der Wirren und Rettung Russlands, sondern erkannte darin eine noch umfassendere Bedeutung: An diesem Tag sei aus dem Erbbesitz (votþina) Kalitas der neue russische Staat entstanden. Dafür musste der Zar vom „ganzen Land“ gewählt werden, und diese Landesversammlung (zemskij sobor) habe sich in eine „wirkliche Volksvertretung“ verwandeln müssen. Nach Lappos Deutung beruhte die Legitimität Michaels auf Abstammung, göttlicher Bestimmung und Wahl durch das Land. Und diese Grundlage ihrer Macht habe die neue Dynastie anerkannt. Für sie seien die Untertanen keine Sklaven mehr gewesen, sondern Leute, für deren Wohl sie Gott gegenüber verantwortlich war. So konstruierte Lappo eine quasi konstitutionelle Grundlage der Dynastie.82 80 M. Bogoslovskij, Tri veka carstvovanija doma Romanovych, in: ýtenija Imperatorskogo Obšþestva istorii i drevnostej Rossijskich, 1913, IV, S. 35–43. 81 Otþet za 1913 god, S. 145–148. 82 I. Lappo, Reþ’ proiznesennaja 21 fevralja 1913 goda na Toržestvennom Akte Imperatorskogo Jur’evskogo Universiteta, posvjašþennom þestvovaniju 300-letnego jubileja Carstvujušþego Doma Romanovych, in: Uþenye zapiski Imperatorskogo Jur’evskogo universiteta, 1913, H. 2, S. 1–23, bes. S. 3, 18, 21f. Die beiden anderen Vorträge scheinen nicht veröffentlicht worden zu sein.

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Am bemerkenswertesten aber war wohl die Aufstellung der korporierten Studenten verschiedener Nationalitäten (die es im Russischen Reich nur in Dorpat/Jur’ev gab) zusammen mit Schülern, Soldaten und Stadtbewohnern um 11 Uhr morgens auf dem Rathausplatz. Beim Festakt am Abend in der Aula waren neben den Universitätsangehörigen auch der Bürgermeister, die Deputierten der Stadtduma, Vertreter des Adels und verschiedener Vereine anwesend:83 Die Jubiläumsfeier im russifizierten Dorpat war also keinesfalls nur eine Angelegenheit der russischen Universitätsmitglieder, sondern spiegelte auch die traditionelle Loyalität der Deutschbalten (und Angehöriger anderer Nationalitäten) gegenüber der Monarchie. In die nach Petersburg entsandte Deputation wurden neben dem russischen Rektor und dem linksliberalen russischen Strafrechtler Petr Pustoroslev auch der deutschbaltische Chirurg Werner Zoege von Manteuffel gewählt (der am russischjapanischen Krieg als Konsultant an der Front teilgenommen hatte und außerdem Leibarzt der Zarin-Mutter war).84 Gerade hier scheint die Integration von Universität und Stadt am größten gewesen zu sein: durch die gemeinsame Veranstaltung auf dem Marktplatz, wo, im Gegensatz zu den Universitäten in Innerrussland, auch die Studenten mitmachten, und die Teilnahme von unterschiedlichen Vertretern der Öffentlichkeit an der Feier in der Aula. In Deutschland beteiligten sich Studenten (insbesondere Abordnungen der verschiedenen Korporationen) herkömmlich an allen universitären Festakten und organisierten darüber hinaus zahlreiche eigene Feiern, insbesondere Kommerse. Dagegen kann über ihre Teilnahme an den Feiern russischer Universitäten keine generelle Aussage getroffen werden. Meist lassen die Quellen dies gar nicht erkennen.85 Doch wenn man, wie in Kazan’, die Feier zum Jahrestag der Schlacht von Borodino, also zum nominellen Beginn des Studienjahres, ansetzte, konnte man ohnehin kaum mit Studenten rechnen.86 Bei dem gemeinsamen Festakt verschiedener Petersburger Hochschulen wäre gar kein Platz für sie gewesen. Mit den Einladungen dazu wurden sogar Eintrittskarten ausgegeben, und zwar an die Conseilmitglieder (also die Professoren), an weitere Lehrende und Verwaltungspersonal sowie an Ehrengäste. Als der engste Mitarbeiter des Kurators vorschlug, bestimmte Gruppen von Studenten einzuladen, wies ihn der Vertreter des Rektors darauf hin, dass dies (bei gleichzeitiger Fernhaltung anderer) zu Vorwürfen und Komplikationen führen könne.87 In Moskau dagegen waren laut Dokumentation der Festsitzungen 1912 und 1913 auch Studenten anwesend.88 Doch scheint das Interesse bei allen Gruppen von Universitätsangehörigen minimal gewesen zu 83 Sir’e [Sirje] Tamul, Tartu i ego universitety (1905–1918 gody), in: Maurer / Dmitriev (Hg.), Universitet i gorod, S. 584–702, hier S. 638f. 84 Otþet za 1913 god, S. 145. 85 So etwa über Kazan’ Giljazov, Gorod Kazan’, S. 572, Anm. 99. 86 Faktisch begannen viele Professoren ihre Lehrveranstaltungen ohnehin erst ein, zwei Wochen später. 87 Protokoly zasedanij S.-Peterburgskogo universiteta, S. 4. 88 ýtenija Imperatorskogo Obšþestva istorii i drevnostej Rossijskich, 1912, IV, S. 5; ýtenija Imperatorskogo Obšþestva istorii i drevnostej Rossijskich, 1913, IV, S. 3f. (jeweils Vorspann ohne Autor).

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sein; denn da auch externes Publikum und Ehrengäste teilnahmen und in die Aula ohne feste Bestuhlung, selbst wenn alle gestanden hätten, nur einige hundert Personen hineingepasst hätten, ist die Formulierung des Professorenblattes von der „bei weitem nicht vollen Aula“ entlarvend.89 Im Übrigen scheint ein Interesse der Studenten an derartigen Veranstaltungen ohnehin unwahrscheinlich – denn die große Mehrheit stand dem Staat skeptisch bis ablehnend gegenüber.90 Aktiv einbezogen wurden vor allem die Schüler der Elementar- und höheren Schulen.91 DISTANZ UND SELBSTBEHAUPTUNG Die Jubiläumsfeiern des Jahres 1913 demonstrierten in Deutschland vor allem die Staatsverbundenheit der Lehrenden und Studierenden und entsprangen wesentlich deren eigener Initiative. In Russland dagegen gingen sie auf offizielle Anregung im Vorfeld und schließlich konkrete Anweisungen zur Durchführung zurück: Ein völliger Boykott (wie bei den renommierten Schriftstellern) wäre also gar nicht möglich gewesen. Doch markierten auch die Universitäten ihre Distanz zum Staat: Die Char’kover z. B. erfüllte nur ein formales, gewissermaßen inhaltsleeres Minimum. Dies entsprach der Haltung ihrer damals ganz überwiegend liberalen, gegenüber der staatlichen Politik sogar oppositionell eingestellten Professorenschaft, welche diese – samt der von ihr gewählten Universitätsspitze – auch mit ihrem Zuwiderhandeln gegen den Rat oder gar Verfügungen des Ministeriums innerhalb der Universität umsetzte.92 Andere Universitäten hielten durchaus Festakte ab, und dort nahmen sich gerade die ausgewiesenen Experten der Reden an. Doch trugen sie damit nicht zu einer Überhöhung der zu feiernden Ereignisse bei, sondern förderten im Gegenteil deren kritische Neubetrachtung, kamen also ihrem Beruf als Wissenschaftler nach, grundsätzlicher und mancherorts umfassender als 89 Russkie Vedomosti, Nr. 244, 23. Oktober 1912, S. 4. Die Universität hatte damals über 70 Professoren, fast 200 Privatdozenten und fast 10 000 Studenten! (Vsepoddannejšij Otþet Ministerstva Narodnogo Prosvešþenija za 1913 g., Beilage 1, Petrograd 1916, S. 2, 10f.). Für Auskünfte über den Festsaal danke ich Andrej Andreev und Dmitrij Cygankov (beide Moskau). 90 Susan K. Morrissey, Heralds of Revolution. Russian Students and the Mythologies of Radicalism, New York 1998. 91 So der Eindruck Serhij Posochovs von Char’kov; Schneider, 100 Jahre nach Napoleon, S. 52, 55. Im offiziösen Artikel über die Feierlichkeiten von 1812 in Moskau meint uþašþiesja offenkundig immer nur Schüler (Borodinskie toržestva, S. 345, 346, 353); im Bericht Jubilejnye toržestva, in: Russkie Vedomosti, Nr. 200, 30. August 1912, S. 3f. kommen nur genau bezeichnete Schülergruppen vor. 92 Sie wählte gegen die ausdrückliche Warnung des Ministers einen in Warschau als missliebig entlassenen Professor; 1907 gab es hier den ersten, bald unterbundenen Versuch, Vorlesungen auf Ukrainisch zu halten, und den Beschluss, Lehrstühle für ukrainische Philologie und Geschichte zu schaffen. Der Conseil duldete auch die ukrainische Studentenbewegung. Siehe dazu S. Naumov / S. Posochov, Charkivs’kyj universitet u suspil’no-politiþnomu rusi drugoï poloviny XIX – poþatku XX st., in: Ukraïns’kyj istoryþnyj žurnal, 2005, Nr. 460, S. 56–70, bes. S. 64. Für weitere Detailinformationen danke ich Serhij Posochov.

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in Deutschland. Manche wichen dabei von der offiziellen Sichtweise ab und nahmen so eine unabhängige, ja letztlich eine Gegenposition dazu ein. (Und falls sie die Reden im selben Geist vortrugen, in dem sie bald danach in Langform erschienen, bewiesen sie auch Zivilcourage, da sie sich ja im Angesicht des Kurators oder gar Ministers äußerten). Anders als ihre deutschen Kollegen setzten die russischen Professoren ihren durchaus demonstrierten Patriotismus auch nicht in mobilisierende Aufrufe um. Am ehesten staatstragend verhielten sich die Moskauer. Das unterschiedliche Verhalten belegt zugleich, dass die zentral gesteuerten und nach einheitlichen Bestimmungen verwalteten Universitäten des Zarenreichs eine je eigene Realgestalt entwickelt hatten und zusammen eine mannigfaltige Universitätslandschaft bildeten. Auch konnte dieselbe Institution bei den zwei zu feiernden Jubiläen unterschiedlich verfahren, wobei im Kazaner Beispiel das vorhandene Engagement offenbar durch die Ablehnung des geplanten Programms seitens der Behörden erstickt wurde. Doch scheinen die Universitäten 1913, als es galt, die Einheit mit dem Herrscherhaus zu demonstrieren, insgesamt zurückhaltender gewesen zu sein als bei der Würdigung des „Vaterländischen Krieges“ 1812. In der Rückschau sparten sie die Jubiläumsfeiern in den detaillierten Jahresberichten sogar aus. Zur inhaltlichen Distanz kam die personale: Umfassten die Feiern in Deutschland die gesamte Universität, so waren sie in Russland im wesentlichen eine Sache der Lehrenden. Und während Schüler tatsächlich zur Teilnahme etwa an Umzügen und Truppenparaden angehalten wurden, kam dies für Studenten offenbar niemandem in den Sinn (obwohl die offiziellen Anweisungen für alle Lernenden galten). Ja, mit zu erwartenden Studentenunruhen konnten Professoren sogar ihre eigene Zurückhaltung bei den Feierlichkeiten „rechtfertigen“.93 Zugleich nutzten manche die Feiern aber auch zur Selbstdarstellung, indem sie ihre jeweilige Institution ins rechte Licht rückten. War die Geschlossenheit deutscher Universitäten (trotz innerer Gegensätze) zu diesen Anlässen selbstverständlich, so fällt im Russischen Reich zweierlei auf: einerseits die politischen Gegensätze, die etwa durch das Fehlen eines Festakts der Institution bei gleichzeitigem Auftreten eines monarchistischen Professors in der Öffentlichkeit deutlich wurden und in kritischen Kommentaren der liberalen Presse zumindest anklangen. Andererseits wurde aber, gerade wegen der weiterbestehenden Dominanz der Liberalen, eine Gemeinsamkeit der Nationalitäten deutlich, wenn auch auf verschiedene Weise: in Jur’ev, Petersburg und Char’kov, indem Nichtorthodoxe und Nichtrussen nicht nur einbezogen wurden, sondern die Professorenkorporation ihnen sogar herausragende Funktionen übertrug (während sie einen übereifrigen slavophilen Slovaken quasi abstrafte);94 in Char’kov darüber 93 So war man (laut Serhij Posochov) etwa in Char’kov schon beim 100-jährigen Jubiläum der Universität selbst verfahren. 94 Jan Kvaþala, Inhaber des Lehrstuhls für Historische Theologie, wurde von der Universität Jur’ev nicht zum Vorbereitungskongress für den Petersburger Historikertag entsandt, nachdem er auf dem Londoner in der kontroversen Sprachenfrage einfach Fakten geschaffen hatte, indem er selbst russisch sprach (Slonimskij, Uþastie v meždunarodnych kongressach, S. 103).

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hinaus, indem sich (unter einem katholischen Rektor tschechischer Herkunft und deutscher Bildung95) Russen, Ukrainer und andere sich dem Jubiläum verweigerten (nachdem der Staat die von ihnen gemeinsam geforderte Berücksichtigung der ukrainischen Geschichte, Kultur und Sprache unterbunden hatte). Die unterschiedlichen Haltungen der deutschen und russischen Universitäten lassen sich vor allem aus ihrer Geschichte erklären: durch die Mitwirkung deutscher Studenten an den Befreiungs- und Einigungskriegen und die Prägung deutscher Professoren als ehemalige Soldaten und als Reserveoffiziere, welche zur Armeeferne der Universitätsangehörigen in Russland in direktem Gegensatz stand: Hier wurden die Studenten, trotz allgemeiner Wehrpflicht, bis zum Abschluss des Studiums zurückgestellt – und mussten dann, falls sie überhaupt eingezogen wurden, im Vergleich zu Untertanen mit niedrigeren Bildungspatenten oder gar Analphabeten nur einen sehr kurzen Dienst leisten, vielleicht sogar schon in ihrem Beruf (etwa als Militärärzte), auf jeden Fall aber als Offiziersanwärter. Allenfalls als Disziplinierungsmaßnahme nach der Beteiligung an Studentenunruhen wurden einzelne gelegentlich während des Studiums eingezogen – was aber das Odium des Militärdienstes bei den Studenten noch verstärkte. Von den Lehrenden hatten viele, da die Wehrpflicht erst 1874 eingeführt worden war und nicht alle erfasste, überhaupt nicht gedient und zudem eine Laufbahn eingeschlagen, die von der militärischen grundsätzlich getrennt war. Im Gegensatz zu ihren deutschen Kollegen waren sie keine Reserveoffiziere. Gelöbnisse mit Blick auf künftige Kriege – wie bei den deutschen Feiern – waren in Russland undenkbar. Publizistisch hatten deutsche Professoren an der Reichseinigung mitgewirkt, während russische eher im reformorientierten, durchaus staatskritischen Milieu aktiv geworden waren. Im Jahr nach den Jubiläen führten diese Rahmenbedingungen und die von ihnen geprägten Haltungen auch zu ganz unterschiedlicher Beteiligung an den Kriegsanstrengungen beider Länder: Zwar gaben auch russische Universitäten hochpatriotische Erklärungen ab, doch mit einer gewissen Verzögerung und, wie es scheint, auf Fingerzeig von oben. Außerdem bestanden große Unterschiede im tatsächlichen Einsatz: In Deutschland waren Lehrende wie Studierende zum Kriegsdienst verpflichtet, viele meldeten sich darüber hinaus freiwillig, sogar jenseits der Altersgrenze; in Russland waren Lehrende grundsätzlich vom Militärdienst ausgenommen, Studenten wurden auch im Krieg noch lange zurückgestellt: bis 1916. In Deutschland war der Wehrdienst, gerade durch die Erfolge 1813 und 1871, längst zu einem Bestandteil studentischer Identität geworden. Dagegen erschwerte die Distanz zum Staat Studenten und Gelehrten in Russland, trotz ihres Patriotismus zu Kriegsbeginn,96 die engagierte Beteiligung an den Kriegsanstrengungen des Zarenreichs. Auch an der „Heimatfront“ erfolgte ihr Engagement nur

95 Zu Jan Netušil siehe http://www.univer.kharkov.ua/ua/general/our_university/rectors?/. 96 Durch ihre Enttäuschung über ihre deutschen Lehrer wurde er noch verstärkt. Siehe dazu Trude Maurer, Der Krieg der Professoren. Russische Reaktionen auf den deutschen Aufruf ‚An die Kulturwelt‘, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 2004/I, S. 221–247.

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verzögert – und, anders als in Deutschland, nicht zur Kompensation für die Nichteinberufung, sondern im Gegenteil, auch mit dem Ziel, diese zu umgehen.97 In der russischen Universitätsgeschichte war 1913 also weder ein annus mirabilis noch – wie das bevorstehende – ein annus horribilis, sondern trotz der Jubiläen ein ganz normales Jahr, bei dem die zu feiernden Anlässe als Brennspiegel des Davor und Danach wirkten.

97 Dazu vorläufig noch Grundinformationen bei Paul Novgorotsev, Russian Universities and Higher Technical Schools During the War, in: Paul Ignatiev / Dimitry Odinetz / Paul Novgorotsev, Russian Schools and Universities in the World War, New Haven 1929, S. 131– 239; künftig: Trude Maurer, Deutsche und russische Universitäten im Ersten Weltkrieg (in Vorbereitung).

ZEHN PHÄNOMENE, DIE RUSSLAND 1917 ERSCHÜTTERTEN* Igor’ Narskij Dass das Jahr 1917 in Fleisch und Blut des 20. Jahrhunderts überging, versteht sich inzwischen von selbst. Was Dietrich Geyer vor mehr als 40 Jahren behauptete, behält nach wie vor seine Gültigkeit: „Zwar haben die Kontroversen um das Jahr 1917 mittlerweile ihre eigene Geschichte, zwar stehen mehr Denkmäler, als Augenzeugen leben, aber durch den Lauf der Zeit ist doch der Eindruck kaum geschwunden, dass die Russische Revolution eine Wende markiert, in die unser Jahrhundert, in die wir selbst verwickelt sind“1.

Und obwohl die Forschungstradition in den vergangenen Jahrzehnten ihre eigenen Wege ging, obwohl die Zeugen der Revolution aus dem Leben geschieden sind und die Jahrestage der Machtübernahme der Bol’ševiki in Russland nicht mehr begangen werden, wird man das Gefühl nicht los, dass jene Wende vor fast hundert Jahren weiterhin die Gegenwart prägt. Der Titel dieses Beitrags, der auf den Titel eines bekannten Buches2 Bezug nimmt, ist weder aus ästhetischen noch aus ideologischen, sondern aus äußerst praktischen Überlegungen gewählt. Ich bin der Meinung, dass die Russische Revolution eine Schockwirkung auslöste, und Objekt (und Mitauslöser) dieser Wirkung vor allem die Bevölkerung Russlands war – Zeugen, freiwillige und unfreiwillige Teilnehmer der Ereignisse von 1917. Aus der Perspektive der Alltags- und Kulturgeschichte ist es ganz offensichtlich, dass Zeugen und Akteure der Revolu*

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Die Beschäftigung mit der Russischen Revolution spielte eine Ausnahmerolle in meiner wissenschaftlichen Karriere, wobei meine Studien zu den Anfängen der sowjetischen Geschichte sich in irgendeiner geheimnisvollen Weise mit dem Namen von Professor Helmut Altrichter eng verbunden zeigten. Unsere weitläufige Bekanntschaft begann damit, dass ich für eine russische Fachzeitschrift sein Buch „Rußland 1917“ rezensierte (Igor’ Narskij, Rezension zu: Helmut Altrichter „Rußland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst“, in Voprosy istorii, 1998, H. 11–12, S. 157–160). Der Autor wurde auf die Rezension aufmerksam. Sodann hatte ich 2001–2002, kurz vor dem Erscheinen meiner Untersuchung über die Revolution im Ural-Gebiet (Igor’ Narskij, Žizn’ v katastrofe: Budni naselenija Urala v 1917–1922 gg., Moskau 2001), und bald darauf wieder, die Gelegenheit, in Helmut Altrichters Kolloquium zu Problemen der russischen Revolution aus der Perspektive der Alltagsgeschichte zu berichten. Noch etwas später zog er mich zur Kommentierung einiger Dokumente im Rahmen des Projektes „100(0) Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte (1917–1991)“ heran, wobei diese Dokumente eine Schlüsselbedeutung für das Verständnis der russischen Revolution besaßen. So betrachte ich es als eine Ehre, mich an der Festschrift für Helmut Altrichter, und dazu noch mit einem Artikel über 1917 zu beteiligen. Dietrich Geyer, Die Russische Revolution: Historische Probleme und Perspektiven, Göttingen 4 1985, S. 9. John Reed, Zehn Tage, die die Welt erschütterten, Berlin 201984.

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tion diese vollkommen anders sahen, wahrnahmen und erlebten, als die Spätgeborenen, die mit dem Wissen darüber, was nachher kam, ausgestattet sind: „Für viele Menschen in Russland bildete die Revolution zunächst keinen besonderen Einschnitt – das Ernteergebnis oder die Hochzeit waren viel wichtiger. Zahlreiche Beamte und Fachleute arbeiteten in ihren Ämtern, Unternehmen und sonstigen Einrichtungen auch unter den neuen Vorgesetzten weiter, früher entworfene Projekte und Pläne wurden nach wie vor erörtert und teilweise verwirklicht. Die beschleunigte Industrialisierung, die durchgängige Kollektivierung und die Diktatur Iosif Stalins seit Ende der zwanziger Jahre verwandelten das Land tiefgreifender als die Revolution von 1917.“3

Für Zeitgenossen der Revolution war das gewöhnliche Alltagsleben – mit Ernten, Hochzeiten, den kleinen privaten Freuden und dem kleinen privaten Unglück – viel wichtiger als alle, im Verhältnis zu ihrer Lebenswelt äußeren, Ereignisse, gleich wie bedeutsam diese ihren engagierten und aufgeklärten Teilnehmern vorkamen. Gerade deshalb erreichte die Revolution, die einen gewaltigen Eingriff in das Leben der Zeitgenossen darstellte, die Maßstäbe und den Rang einer Katastrophe, die viele nicht überlebten; und diejenigen, die sie überlebten, gingen daraus gewandelt hervor. Heute besitzt ein Historiker nicht mehr das Privileg des 19. Jahrhunderts, zu glauben, dass er die Vergangenheit so beschreibt, wie sie sich in Wirklichkeit zutrug. Wahrscheinlich muss er seine Ambitionen auf den Versuch beschränken, Mutmaßungen darüber anzustellen, was mit den Menschen von damals geschehen konnte. Was im Folgenden beschrieben wird, ist niemals eine Rekonstruktion eines realen Menschenschicksals, sondern erlaubt lediglich, wollte man sich bildlich ausdrücken, die Grenzen der Szenerie, die Dekorationen, die Hauptstränge des Drehbuches allgemein zu skizzieren, denen die Protagonisten des geschilderten Dramas freiwillig oder unfreiwillig folgen konnten. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die Zahl und die Wechselbeziehung der hier beschriebenen „Schocks“ variiert werden kann (was ich auch getan hätte, vorausgesetzt meine Fragestellung oder das Genre dieser Darstellung wären anders gewesen), denn der Historiker beschreibt die Vergangenheit weder noch re-konstruiert er sie – er repräsentiert und konstruiert sie. DIE POLYKRATIE, DIE SICH ZUR MACHTLOSIGKEIT WANDELTE An die erste Stelle unter den Phänomenen, die die Einzigartigkeit des Jahres 1917 in Russland markieren, sollte wohl der präzedenzlose Zerfall der Machtstrukturen gesetzt werden. Diesem lag ein kompliziertes, unklares und instabiles politisches Kräfteverhältnis zugrunde, dessen Akteuren es an Erfahrung in Führungsfragen mangelte, weshalb sie keinen Willen zum Kompromiss und zur gegenseitigen Abstimmung ihres Vorgehens zeigten. Das war ein Grund für jene Konkurrenz, die sich seit dem Frühjahr 1917 unter zahlreichen quasistaatlichen und gesell3

Heiko Haumann, Einleitung, in: ders. (Hg.), Die Russische Revolution 1917, Köln 2007, S. 13.

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schaftlichen Organisationen abzeichnete, deren politische Physiognomie unklar, deren Ambitionen jedoch – trotz geringer praktischer Möglichkeiten – unverhältnismäßig groß waren. „Der Sturz des alten Staates brachte keine neue Macht von ausreichender Durchsetzungsfähigkeit hervor. Die Freiheit entpuppte sich als Interregnum, die Demokratie als Anarchie.“4

Die berüchtigte „Doppelherrschaft“ der Sowjets und der Machtorgane der Provisorischen Regierung, insbesondere an der Peripherie des ehemaligen Reiches, erwies sich in der Realität als eine Polykratie der unzählbaren Organe, Institutionen und Organisationen, deren absurde Konkurrenz, ins Praktische gewendet, die Anarchie, die Lahmlegung der Verwaltung und der Kontrolle über die Entwicklung der Dinge bedeutete. Der bolschewistische Umsturz in Petrograd im Oktober 1917 machte die Lage nur noch komplizierter. Auf welchem Wege auch immer die neue Macht errichtet wurde – statt das politische Chaos zu überwinden, vertiefte sie es nur. Die brodelnde „Papierwirtschaft“ des jungen bolschewistischen Regimes „erweckt leicht den Eindruck eines zielstrebigen, von langer Hand geplanten Vorgehens. Doch der Eindruck täuscht, und nicht nur kritisch-oppositionelle Beobachter erlebten die Revolutionsmonate anders. Die erlassenen Dekrete waren, wie die Regierung wusste, nichts weiter als Verlautbarungen; ob sie vor Ort auch zu realisieren waren, stand dahin.“5

Die „innere Logik“ und die „eisernen Gesetzmäßigkeiten“, die die Historiker dem revolutionären Prozess von 1917 nachträglich zuschrieben, sind bei einer näheren Betrachtung nicht zu entdecken. Das politische Chaos, das durch die Instabilität und die Unsicherheit der wirtschaftlichen Lage und den Zerfall der gewohnten Formen des Alltagslebens verstärkt wurde, rief den wachsenden Unmut der Bevölkerung hervor, die mit steigender Spannung und Ungeduld eine starke Macht herbeisehnte. DER ZERFALL DES IMPERIUMS Das Jahr 1917 rief einen schmerzhaften territorialen Zerfalls- und Umverteilungsprozess herbei. Ihm lag die Lähmung der Macht im Zentrum und, seit Herbst 1917, die Weigerung der frischgebackenen politischen Institutionen an der Peripherie, sich mit den Bol’ševiki einzulassen. Um die Jahreswende 1917/1918 kam die bereits unter der Provisorischen Regierung einsetzende staatlich-politische Emanzipation der nationalen Randgebiete im Westen des ehemaligen Reiches zum Abschluss: Russland verlor Polen, Finnland, die baltischen Territorien, die Ukraine, Weißrussland, Bessarabien und den Transkaukasus. Ein halbes Jahr vor

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Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917 – 1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998, S. 63. Helmut Altrichter, Rußland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn 1997, S. 233.

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dem offiziellen Beginn des Bürgerkrieges verweigerten die Kosakenterritorien im Süden und im Osten des Landes der Sowjetmacht ihre Gefolgschaft. Der Zerfall der Beziehungen zwischen den Regionen wurde nicht nur durch die Nichtanerkennung des bolschewistischen Regimes und das Streben der nationalen Territorien nach Selbstbestimmung begünstigt, sondern auch durch ein Grundprinzip der Sowjetmacht, das es ermöglichte, eine ganze Fülle von Machtbefugnissen in den Händen jedes Sowjets, jeder Ebene – vom Gebiets- bis hin zum Dorfsowjet – zu konzentrieren und die Unabhängigkeit von Moskau zu beanspruchen: „Innerhalb weniger Monate fiel Russland politisch in die Zeit des frühen Mittelalters zurück, als es noch aus einer Ansammlung selbstverwalteter Fürstentümer bestand“.6 Im Juni 1918 bestanden auf dem einstigen Territorium des Russischen Reiches mehr als 30 „Regierungen“.7 Wie umfassend der Zerfall des Staatsterritoriums war, darauf deutet indirekt hin, dass in die Verfassung der RSFSR von 1918 ein Artikel aufgenommen wurde, in dem es hieß: „Der Amtstitel eines Volkskommissars steht ausschließlich Mitgliedern des Rates der Volkskommissare zu, der die allgemeine Geschäftsverwaltung der RSFSR führt, und kann keinem anderen Vertreter der Sowjetmacht im Zentrum wie in den einzelnen Orten zugeeignet werden.“8

Die Bevölkerung, die unter dem allgemeinen Zerfall, der Unsicherheit der Gegenwart und der Unbestimmtheit der Zukunft litt, sah dem Chaos und der Willkür der bolschewistischen Herrschaft mit stummem Hass oder offener Empörung zu, bereit, mit Freude und „Brot-und-Salz“ jene zu begrüßen, die sie von diesem Schrecken befreiten, – gleich, wer sie waren. DIE REVOLUTION DER BAUERN Ein wichtiger Faktor, der im nicht geringen Maße zur Ausweitung des politischen Chaos und des territorialen Zerfalls beitrug, war die Revolution der Bauern, die auf die Befreiung des Dorfes von der Vormundschaft der Großgrundbesitzer – des Staates und des Adels – (und selbst von ihrer Präsenz auf dem Land) zielte. Die Agrarrevolution stützte sich auf unverrückbare Gerechtigkeitsvorstellungen des Dorfes und die jüngsten Erfahrungen der bäuerlichen Massenausschreitungen während der ersten russischen Revolution: „Wie die Aktionen 1905/6 und 1917/18 zeigten, waren die politischen Erwartungen der Mehrheit der Bauernschaft auf die Landfrage fixiert, damit verbunden waren auch Vorstel-

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Richard Pipes, Die Russische Revolution, Bd. 2, Die Macht der Bolschewiki, Berlin 1992, S. 300. Pipes, Die Russische Revolution, S. 302. Kapitel 8, Art. 48 des Grundgesetzes (Verfassung) der Rußländischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik vom 10. Juli 1918, in: 100(0) Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte (1917-1991), http://www.1000dokumente.de/index.html? c=dokument_ru&dokument=0005_ver&l=de.

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lungen einer russischen Variante von einer ‚moralischen Ökonomie‘ (E. P. Thompson); Gerechtigkeit, Egalität und Arbeit.“9

Dabei nahmen die bäuerlichen Aktionen 1917 größtenteils traditionelle Formen an, wie die gewaltsame Aneignung der Ackerflächen, der Wiesen und der Wälder, die Verwüstung der adeligen Landgüter, das massenhafte Abholzen von Wäldern und das Anrichten von Flurschäden. Äußerst selten griff man dagegen auf ganz neue Formen der bäuerlichen Aktivität zurück, die sich in Anbetracht der praktischen Machtlosigkeit des Staates 1917 anboten: das Verbot von Verkauf und Rodung der Wälder durch Grundbesitzer und Unternehmen, den gewaltsamen Austausch der Machtorgane und die Verhaftung ihrer Vertreter, den Wahlboykott. In Regionen mit einer ethnisch heterogenen Bevölkerung verschärfte sich noch die Auseinandersetzung um Grund und Boden aufgrund der nationalen Antagonismen, die eine Folge der Kolonisierung des indigenen Landes durch die zugewanderte, hauptsächlich russische Bevölkerung waren. Bezeichnend ist, dass die bäuerlichen Unruhen vom Erfolg oder Misserfolg der sozialistischen Parteienagitation offensichtlich nicht beeinflusst wurden: Sie brachen im Mai und insbesondere im September aus, das heißt vor Beginn und nach Abschluss der landwirtschaftlichen Saison, als das Problem der Bodenumverteilung wieder akut wurde und die Bauern genügend Zeit hatten, sich daran zu beteiligen. Die „schwarze Umverteilung“ des Bodens schritt nach der Machtübernahme durch die Bol’ševiki mit vollem Tempo voran, denn deren Stellung im Winter 1917/1918 war viel zu schwach, als dass sie dieser Aktion – trotz ihres offensichtlichen sozialrevolutionären „Beigeschmacks“ – die Akzeptanz hätten verweigern können. „Es scheint, dass die Bauern die Umverteilung des Bodens vor allem selbst besorgten, jedes Dorf, jede Landgemeinde für sich und nach ortsüblichen Normen. Was vor dem Oktober noch den Stempel der Illegalität trug, war nun per Dekret erlaubt.“10

Obwohl die Bol’ševiki gezwungen waren, die „schwarze Umverteilung“ zu dulden, stellten die Bauern weiterhin eine unabhängige politische Kraft dar, die nach eigenem Gutdünken wechselnde Allianzen einging und gegenüber Einwirkungen von Außen resistent blieb: „Die Bauern teilten mit ihren ehemaligen Herren die Aversion gegen die städtischen Machthaber, fühlten sich diesen aber in der Ablehnung sozialer Privilegien verbunden.“11 Von auf Ausgleich festgelegten Gerechtigkeitsvorstellungen der bäuerlichen Landgemeinden ausgehend, zeitigte die langersehnte „schwarze Umverteilung“ nur geringe Erfolge. Die Enttäuschung des Dorfes über die neuen Machthaber steigerte sich um so mehr, als man 1918 feststellen musste, „dass die Ansprüche

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Dietrich Beyrau, Petrograd, 25. Oktober 1917. Die russische Revolution und der Aufstieg des Kommunismus, München 2001, S. 43. 10 Altrichter, Rußland 1917, S. 230. 11 Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 123.

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des Staates an die Bauernschaft nicht geringer geworden waren, ja sich nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges noch dramatisch verschärften.“12 Die Folgen der bäuerlichen Desillusionierung bekamen die Einwohner der Städte schon bald am eigenen Magen zu spüren. Im Mai 1918 verabschiedete das Allrussländische Zentrale Exekutivkomitee (Vserossijskij Central’nyj ispolnitel’nyj komitet, VCIK) das Dekret über die Einführung der Versorgungsdiktatur, in dem sich auf eine bizarre Art und Weise die Vorstellungen der Bol’ševiki über die sozialistische Umgestaltung des Landes und ihre Reaktionen auf die bittere russische Realität miteinander verflochten. In deren Anbetracht blieb dem bolschewistischen Staat nichts anderes übrig, als jenen Kurs in der Versorgungspolitik noch härter zu verfolgen, den die zarische Regierung bereits 1916 und die Provisorische Regierung 1917 eingeschlagen hatten.13 Als das Dorf mit festen Preisen und dazu noch in Verbindung mit neuen Erscheinungen, wie der kaltblütigen Gnadenlosigkeit der Beschaffungseinheiten und dem Denunziantentum der im Sommer 1918 entstandenen Komitees der Armut, konfrontiert wurde, riss den Bauern der Geduldsfaden: Einem Steppenbrand gleich erfassten die Bauernaufstände zahlreiche Regionen Russlands und sorgten für die nächste Machtübernahme – diesmal durch antisowjetische Regierungen. DIE LETZTE BLÜTE DER ÖFFENTLICHKEIT Auf den ersten Blick bestätigt die turbulente Entwicklung der politischen Parteien 1917 die Annahme, dass es auf den Ruinen des autokratischen Staates zu einer Blüte der Öffentlichkeit kam.14 Nach dem regen Parteiaufbau während der ersten russischen Revolution 1905 verlor die politische Parteilandschaft allmählich ihre scharfen Konturen, und alle Parteiorganisationen, unabhängig von ihrer Programmatik, sanken in einen lethargischen Schlaf, der zehn Jahre lang dauern sollte.15 Der unerwartete Anstieg der politischen Parteienaktivität unter den vollkommen neuen Bedingungen des Jahres 1917 war viel breiter angelegt, als die vergleichbare Entwicklung 1905–1907. Die Zahl der Sozialdemokraten in Russland (nationale Vereinsbildungen außen vor gelassen) stieg von 1907 bis zum Sommer/Herbst 1917 um mehr als das 5-Fache, die der Mitglieder der Partei der Sozi-

12 Altrichter, Rußland 1917, S. 365. 13 Näheres zur bolschewistischen Politik auf dem Lande während des „Kriegskommunismus“ und zu den Reaktionen der Bauern in: Sergej Pavljuþenkov, Voennyj kommunizm v Rossii: vlast’ i massy, Moskau 1997, S. 61–142. 14 Grundinformationen zur Geschichte der politischen Parteien in Russland, die auch den aktuellen Forschungsstand adäquat wiedergeben, enthalten folgende Nachschlagewerke: Politiþeskie partii Rossii. Konec 19 – pervaja tret’ 20 veka. Ơnciklopedija, Moskau 1996; Politiþeskie partii Rossii: istorija i sovremennost’, Moskau 2000. 15 Näheres dazu am Beispiel der Provinz in: Igor’ Narskij, Russkaja provincial’naja partijnost’: Politiþeskie ob”edinenija na Urale do 1917 g. (K voprosu o demokratiþeskoj tradicii v Rossii), ýeljabinsk 1995.

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alrevolutionäre um fast das 16-Fache. Der Anteil der Mitglieder der politischen Parteien in Russland an der Gesamtbevölkerung erhöhte sich von 0,5 % auf 1,5 %. 1917 brodelte das öffentliche Leben. Zahlreiche öffentliche Foren von Parteien, Sowjets, Bauern, Konfessionen, Berufsverbänden und sonstigen Vereinigungen bildeten eine hübsche Kulisse für ihren wirkungsvollen Auftritt auf der politischen Bühne Russlands. Die Wahlkampagnen des Jahres 1917 zu den ländlichen und städtischen Selbstverwaltungen, zu den Sowjets und den Komitees der Armut wandelten sich zu einer Art Parteifestivitäten und politischer Kräfteschau. In diesem Konkurrenzverhältnis bildeten die Bol’ševiki nur den einen und bei weitem nicht den stärksten Part, dem der Erfolg keineswegs auf die Fahnen geschrieben stand. „Eine straff geführte, landesweite Parteiorganisation gab es nicht, und sie wurde auch – trotz sprunghaft steigender Mitgliedszahlen – bis zum Herbst nicht geschaffen.“16 Die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung, die im November 1917, das heißt bereits nach der formalen Verkündung der Sowjetmacht im Land, stattfanden, führten vor Augen, dass die politische Zukunft der Bol’ševiki weiterhin im Dunklen lag und sehr unsicher blieb. Der Entwicklungsschub des Mehrparteiensystems in Russland 1917 sollte jedoch nicht absolut gesetzt werden: Das gesamtrussische Parteienspektrum verlor nach der Auflösung der rechten und konservativen Bewegungen an Differenziertheit, das Organisationsnetz der größten gesamtrussischen Parteien fast dreimal an Dichte. Es gibt viele Indizien dafür, dass das Mehrparteiensystem in Russland 1917 zum zweiten Mal entstand. Es gibt auch keinen Grund dafür, warum man den allgemeinen Enthusiasmus, der durch den Fall des Zarismus ausgelöst wurde, idealisieren und seinen Nutzeffekt übertreiben müsste. Der massenhafte Drang nach Partizipation am Schicksal des „erneuerten“ Russlands erinnert eher an ein wirres Durcheinander der Passanten, das bei einem Brand entsteht, wenn die Feuerwehr nicht da ist. Im unausgereiften Aktivismus der gestrigen Untertanen der russischen Krone, der sich in überstürzten Beitritten zu politischen Parteien niederschlug, spiegelte sich ihre „politische Unschuld“, die Unreife ihres Staatsdenkens und ihre menschliche Orientierungslosigkeit angesichts der überwältigenden Ereignisse. Hinter der fieberhaften Aktivität der Parteien 1917 ging das Gespenst ihrer nahenden Agonie umher. Die Mehrparteiensystem hatte in Russland nicht mehr lange zu leben. Der Aufstieg und der Fall der politischen Öffentlichkeit in Russland manifestierten sich nicht nur in der fiebrigen Entwicklung und dem Niedergang der öffentlichen Vereinigungen, sondern auch im Schicksal der unabhängigen Presse. Eine Begleiterscheinung des ersten Revolutionsjahres war, wie Zeitgenossen und Historiker wissen wollten und wollen, eine noch nie da gewesene Blüte der Medienlandschaft. Das fortschreitende Nachlassen der staatlichen Kontrolle über die Presse, das Aufkommen zahlreicher neuer Institutionen und Organisationen, die die Massenmedien brauchten, um die Bevölkerung zu umwerben, ein durch zeitlich eng beieinander liegende, extraordinäre Ereignisse vollgedrängtes Leben, die

16 Helmut Altrichter, Kleine Geschichte der Sowjetunion 1917–1991, München 22001, S. 35.

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massenhafte Politisierung der Bevölkerung – all das schuf eine günstige Entwicklungskonjunktur für die Periodika. Zieht man jedoch die fortschreitende und stabile Entwicklung des Pressewesens vor der Revolution in Betracht, so nimmt sich dieser 1917 erfolgte Sprung nach vorne nicht so spektakulär aus. Die Stabilität der Zeitungslandschaft hängt von der Langlebigkeit der Zeitungen ab, so dass man die Durchschnittszahl der Ausgaben einer Zeitung pro Jahr für einen recht zuverlässigen Stabilitätsindex der Presse nehmen kann. Ausgehend von diesem Wert kann man für 1917 eine tiefe Krise der unabhängigen Presse Russlands konstatieren. Zwar stieg die Zahl der Zeitungstitel in Russland im Vergleich zum vorhergehenden Jahr um einige Male an; doch das Gesamtvolumen der Zeitungsnummern wurde nur anderthalbmal größer. Außerdem zeichneten sich bereits 1917 Tendenzen ab, die später in ganzem Umfang zum Tragen kommen sollten. Erstens stieg der Anteil der staatlichen und halbstaatlichen Presseorgane zum Nachteil der unabhängigen Medien an. Zweitens setzten bereits 1917, mit der Machtübernahme durch die Bol’ševiki, gleich nach der Verabschiedung des Dekretes über die Presse, die Verfolgungen jener Medien ein, die keine Loyalität gegenüber der „Diktatur des Proletariats“ zeigten. Im Großen und Ganzen stürzte die Revolution 1917 die unabhängige Presse in ein Chaos, das sie nicht mehr in den Griff bekommen sollte, und die Bol’ševiki setzten ihr ohne große Mühe ein Ende. Die Krise der Massenmedien wurde zu einem weiteren Faktor, der für die Desorientierung der Bevölkerung und das fortwährende Gefühl der Existenzunsicherheit sorgte. DER RÜCKGANG DER PRODUKTION Das Jahr 1917 traf die russländische Wirtschaft wie ein unerwarteter Schlag und wirkte sich auf ihren Zustand auf äußerst spürbare Weise aus. 1917–1919 war ein schwindelerregender Produktionssturz zu beobachten: Die Roheisenproduktion nahm um das 17-Fache ab, die Stahlproduktion um das 15,5-Fache, die Profilstahlproduktion um das 14-Fache; die Arbeitsproduktivität ging um das 4-Fache zurück.17 Obwohl die Industrieproduktion in Russland im ersten Revolutionsjahr im Durchschnitt weniger als um ein Drittel sank, gibt es gute Gründe dafür, gerade 1917 als ein Schlüsseljahr des Industriebankrotts in Russland zu betrachten, denn die wirtschaftliche Zerrüttung stand im direkten Zusammenhang mit den politischen Ereignissen im Land. Vielmehr sogar: Während der Russischen Revolution hat die Politik die Wirtschaft nicht nur einfach bestimmt – sie warf sie um und zermalmte sie. 17 Siehe dazu ausführlicher Lev Kricman, Geroiþeskij period Velikoj Russkoj Revoljucii, Moskau 1924; Stanislav Strumilin, Izbrannye proizvedenija. Istorija þernoj metallurgii v SSSR, Moskau 1967; Edward H. Carr, The Bolshevik Revolution 1917-1923, Bd. 1, Harmondsworth 1966.

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Zu den Faktoren, die das Chaos in der Industrie auslösten, gehört die – gleich nach dem Fall des alten Regimes erfolgte – spontane Einführung der Arbeiterkontrolle in den Betrieben. Diese führte eigenmächtig den Achtstundentag ohne Gehaltskürzungen ein, setzte sich, im Gegenteil, für Gehaltserhöhungen ein, expropriierte (und zerstörte zum Teil) das Betriebseigentum, beschnitt die Vollmachten der Betriebsadministration und setzte ihre Mitarbeiter auf die Straße (in einigen Fällen erfolgte anschließend ihre Einweisung in die kämpfende Fronttruppe). In der Tätigkeit der Arbeiterkontrolle 1917 ist eine Tendenz zur De-Professionalisierung der Wirtschaftsführung zu erkennen, die in der Folgezeit katastrophale Ausmaße erreichen sollte. Die Oktoberrevolution, die ihren Erfolg in hohem Maße den mit ihr verbundenen Hoffnungen der Bevölkerung auf eine radikale Verbesserung ihrer materiellen Lebensbedingungen zu verdanken hatte, brachte die gewünschte Erleichterung nicht. Die flankierenden Wirtschaftsexperimente der Bol’ševiki – in Kombination mit nicht steuerbaren und, vom ökonomischen Standpunkt aus gesehen, naiven Handlungen der Arbeiter – führten lediglich zur Vertiefung der Industriekrise. So hat der bolschewistische Staat schnell und teilweise gegen den eigenen Willen die Großindustrie „verschluckt“. Aus Mangel an ausreichenden Mitteln und qualifizierten Führungskräften war er jedoch nicht in der Lage, sie zu „verdauen“ und die weitere Schließung der Betriebe und Fabriken zu verhindern. Noch zwei Jahre später fehlten dem Staat genaue Daten über die Anzahl der nationalisierten Betriebe und ihren Wert, was die Unvollständigkeit des von der statistischen Abteilung des Obersten Wirtschaftsrates (Vysšij sovet narodnogo chozjajstva, VSNCh) zusammengestellten „Verzeichnisses der nationalisierten Betriebe der RSFSR. Stand 1919“ zeigt. Wie in der Politik, so waren auch in der Verwaltung der Industrie eine Kompetenzüberschneidung verschiedener Instanzen und ein administratives Chaos zu beobachten. Ende 1917 und in der ersten Jahreshälfte 1918 waren zeitgleich mit den Betriebsberatungen (zavodskie sovešþanija) auch Produktionskommissare (komissary proizvodstv), regionale Verwaltungen der nationalisierten Unternehmen, Geschäftsberatungen (delovye sovešþanija) und Geschäftsräte (delovye sovety), „rote Sieben“ (aus fünf Arbeitern und zwei Angestellten) in Großbetrieben, „Troikas“ (aus zwei Arbeitern und einem Angestellten, einem Ingenieur oder einem Techniker) in Kleinbetrieben tätig. Eine derartige Polykratie, wie sie auch im Bereich der Politik bestand, wandelte sich zur Machtlosigkeit und Desintegration der Wirtschaft. Das ganze Jahr 1917 über gelang es weder, den Aktionen der Arbeiter Zügel anzulegen, noch den Verfall der Industrie aufzuhalten: Das erste Revolutionsjahr war geprägt durch den Produktionsrückgang und seinen unvermeidlichen Begleiter – den Anstieg der Arbeitslosigkeit. Von Krisentendenzen, in erster Linie durch staatliche Interventionen in der Wirtschaft verursacht, war auch die Lage auf dem Agrarsektor geprägt, obwohl das Jahr 1917, zieht man das Gesamtvolumen der landwirtschaftlichen Produktion in Betracht, durchaus günstig erscheint. Einzelne Folgen einer negativen Einwirkung der Politik auf den Agrarsektor hatten sich bereits kurz vor der Revolution

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auf bemerkbar gemacht; doch gleichzeitig und im vollen Umfang kamen sie erst 1917 zum Tragen. Nach dem Aufweichen des Marktes für Massengebrauchsgüter während des Ersten Weltkriegs und dem Inflationswachstum als dessen Folge, zeigten sich nun die Bauern unwillig, das Getreide zu verkaufen. Das Getreidedefizit rief staatliche Maßnahmen zur Preisregulierung hervor, und die Einführung der Festpreise für Getreide 1916 ließ nur den Willen der Bauern steigen, es zurückzuhalten. Nun schloss sich der Teufelskreis, aus dessen engen Fesseln sich auch die Provisorische Regierung nicht zu lösen vermochte. Das staatliche Getreidemonopol zeitigte wenig Erfolg, denn die Bauern und ihre neuen Interessenvertretungen leisteten dagegen Widerstand, und dem Staat selbst fehlte die Kraft zu seiner konsequenten Umsetzung. Die Dorfversammlungen und Bauernkongresse, die vom Pathos der bäuerlichen Revolution erfasst wurden, weigerten sich, das Getreide an den Staat abzutreten, ja sie ließen nicht einmal mit sich darüber reden, und selbst wenn sie einen Teil ihrer Vorräte freigaben, so taten sie es ausschließlich in Form von freiwilligen Spenden zugunsten der kämpfenden Truppe. Über das ganze Jahr 1917 hinaus galt nur das Teilmonopol, da der freie Getreidehandel erhalten blieb. Dabei schrumpfte der freie Getreidemarkt wie Chagrinleder. Im Herbst 1917 hungerte die Bevölkerung in 28 Gouvernements und Gebieten des Landes, obwohl die Ernte im Vergleich zu 1916 besser ausgefallen war. Der unmittelbaren Teilnahme am politischen Kampf konnte sich der „kleine Mann“ verweigern, doch die wirtschaftlichen Probleme trafen jeden Haushalt, wobei sie die gewohnte Lebensweise auf schmerzvolle Weise zerstörten und den Inhalt der Alltagssorgen bestimmten. DIE ZERRÜTTUNG DER GELDWIRTSCHAFT Die Desorganisation der Wirtschaftsverhältnisse in Russland während der Revolutionsjahre war zu einem bedeutenden Grade durch den Zusammenbruch der Geldwirtschaft bedingt, deren präzedenzlose Zerstörung alle vergleichbare Erscheinungen in Europa übertraf, darunter die Inflation im Deutschland der Weimarer Republik.18 Zeitgenossen, und später auch Historiker, die der „Diktatur des Proletariats“ mit Antipathie begegneten, neigten dazu, die Desintegration der Geldwirtschaft in Russland ganz und gar den Bol’ševiki in die Schuhe zu schieben. Indes wurde der Inflationsmechanismus bereits während des Ersten Weltkrieges, in den letzten Jahren des Russischen Reiches, in Gang gesetzt. Im Juli 1914 wurde ein Gesetz verabschiedet, das den Tausch des Papiergeldes gegen Gold untersagte, der Produktionsausstoß des Papiergeldes stieg jedoch an. Als Ergebnis dieser Maßnahme ist gegen Ende 1914 zunächst die Goldwährung, dann die Silberwährung (zuerst der Rubel, für den ein höherer Anteil an Edelmetall verwendet wurde, dann die 18 Siehe ausführlich zur Inflation in Sowjetrussland Leonid Jurowsky, Währungsprobleme Sowjetrusslands, Berlin 1925.

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Kopeke) aus dem Umlauf verschwunden, gegen Ende 1915 gab es auch kein Kupfergeld mehr. Während zum 16. Juli 1914 der Rubel zu 98 % durch Gold gedeckt gewesen war, verfiel der Papierrubel bis zum 1. Oktober 1917, dank den „Bemühungen“ der zarischen und dann der Provisorischen Regierung, die ihre Hoffnungen auf die Druckpresse gesetzt hatte, da er nur noch zu 7,5 % durch Gold gedeckt war, während die Güterpreise um das Siebeneinhalbfache gestiegen waren.19 Eine Besonderheit der Inflation während des Ersten Weltkrieges bestand darin, dass die Preise langsamer als die Geldmasse wuchsen, weshalb deren Kaufkraft insgesamt zunahm. Dass viel Geld gedruckt wurde war zwar ein provisorisches, dennoch aber wirksames Mittel zur Finanzierung der Staatsausgaben unter außerordentlichen Bedingungen. Doch um die Zeit der Februarrevolution, trat die Inflation in Russland, so E. H. Carr, in ihre zweite Phase: Da die Bevölkerung sich der Inflation bewusst wurde, verlor sie ihren Glauben an das Geld und die Preise wuchsen bedeutend schneller als die Geldmasse. Die allgemeine Kaufkraft begann, rasant zu verfallen. Sowohl die Provisorische Regierung als auch die Regierung der Bol’ševiki waren also eher Geiseln, als „böse Genies“ und Organisatoren der Inflation. In Anbetracht eines ständig schrumpfenden – und unter den Bol’ševiki auch noch verfolgten – Marktes für Industrie- und Agrargüter des Massenbedarfs und des Misstrauens der Bevölkerung gegenüber den Machthabern konnten keine Maßnahmen des Staates – weder die Einführung der festen Preise noch die Versuche, das entwertete Geld aus dem Verkehr zu ziehen, noch die Verfolgung des Schwarzmarktes – die Inflation anhalten. Den Machtstrukturen – sei es der Provisorischen Regierung, sei es den zentralen und lokalen Herrschaftsinstitutionen der Bol’ševiki, später jedoch auch den antibolschewistischen Staatsgründungen oder den Militärdiktaturen in den Regionen – blieb nichts anderes übrig, als weiter die alten Geldscheine zu drucken, oder damit zu beginnen, neue Geldscheine auszugeben, und auf diese Weise – allerdings erfolglos – zu versuchen, mit dem rasenden Tempo der Inflation Schritt zu halten. Einen nicht geringen Beitrag zur Zerrüttung des Geldverkehrs in Russland leisteten, gewollt oder ungewollt, die Bol’ševiki. Alleine die Tatsache, dass sie die Macht übernommen hatten, führte dazu, dass zwischen dem 23. Oktober und dem 4. November 1917 der Rubelkurs zweimal dramatisch verfiel. Die Grundoption der bolschewistischen Führung, die kapitalistischen Verhältnisse – und gleichzeitig damit auch den Geldverkehr – aufzuheben, veranslasste sie zu einer leichtsinnigen und wohl auch schadenfrohen Haltung in Anbetracht des Finanzbankrotts des Landes. Die Inflation, die in der Folgezeit ungeheuere Ausmaße annahm, wurde schon 1917 als eine reale Bedrohung für die Alltagsexistenz empfunden. Ein Pfund Brot, das vor dem Krieg 4–5 Kopeken kostete, kostete im Mai 1918 auf dem Markt in Moskau 4–5 Rubel, im Uralgebiet, das ein heißbegehrtes Ziel der Getreidespekulanten war, 80–85 Kopeken.20 Die Bevölkerung bekam den Verfall des Rubels

19 Nonna Mec, Naš rubl’, Moskau 1960, S. 43f. 20 Ispravlenie rublja, in: Ural’skoe chozjajstvo, 1918, H. 32, S. 4–5, hier S. 4.

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1917 auf schmerzvolle Weise zu spüren; er wirkte sich auf die Struktur der Alltagssorgen und das Verhalten der „gewöhnlichen“ Geschichtsakteure aus. DIE SACKTRÄGER Mit dem Kollaps der russländischen Landwirtschaft, der Industrie und des Finanzsystems unauflösbar verbunden war die Agonie des Handels, auf den sich die insgesamt ungünstige Wirtschaftskonjunktur in zweifacher Weise auswirkte: Zeitgleich mit dem Abbau des freien Handelsverkehrs nahm der Schwarzhandel, der vom Staat als strafbare „Spekulation“ qualifiziert wurde, noch nie dagewesene Ausmaße an: „Millionen Städter aller Schichten widmeten sich diesem Kleinhandel, dem meschotschnitschestwo (vom meschok – ‚Sack‘) oder ‚Hamster‘, wie wir es heute bezeichnen würden, um sich zu ernähren.“21

Die 1916 verabschiedeten Maßnahmen des Staates zur Preisbindung, das Teilmonopol für den Handel mit Agrarrohstoffen und die Einführung der Lebensmittelkarten für Brot und Zucker führten zur Stilllegung des freien Marktes, der sich den illegalen Existenzbedingungen noch nicht angepasst hatte. Im Laufe des Jahres 1917 sank der legale Handel, denn zum einen ging die Industrie- und Agrarproduktion zurück, und zum anderen setzte die Provisorische Regierung ihre wenig erfolgreiche Politik der Teilregulierung des Warenverkehrs fort. Nach der Machtübernahme der Bol’ševiki wurde dem Handel als einer Erscheinung, die mit den Plänen einer sozialistischen Umgestaltung des Landes nicht vereinbar war, der erbarmungslose, jedoch ebenfalls wenig erfolgreiche Krieg erklärt. Die Nationalisierung des Handels bei gleichzeitigem Fehlen eines wirksamen Staatsapparats, der die Organisation des Warenaustausches hätte übernehmen können, stürzte den Warenverkehr ins Chaos.22 Im Endeffekt konnte der sowjetische Staat seit Ende 1917 bis Herbst 1918 – bis zum Verlust der wichtigsten Getreidegebiete während des Bürgerkrieges – kaum mehr als 1 Million Tonnen Getreide in die Speicher bringen, das heißt 10-mal weniger als das Ministerium für Landwirtschaft 1916 und 6-mal weniger als die Provisorische Regierung. Das Scheitern der sowjetischen Versorgungspolitik schuf günstige Bedingungen für die Blüte des Schwarzmarktes: Um die Jahresmitte 1918 deckten illegale Privathändler 70– 90 % des Nahrungsmittelkonsums der Stadtbevölkerung in den von den Bol’ševiki beherrschten Gebieten. 21 Orlando Figes, Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924, Berlin 1998, S. 464. Der Begriff „mešoþnik“ kann auch mit „Sackträger“ ins Deutsche übersetzt werden. Diese Variante wird auch hier verwendet (Anmerkung der Übersetzerin, Lilia Antipow). 22 Für Näheres zur sowjetischen Versorgungspolitik und ihrer praktischen Wirkung siehe Vladimir Kabanov, Krest’janskoe chozjajstvo v uslovijach voennogo kommunizma, Moskau 1998; Pavljuþenkov, Voennyj kommunizm v Rossii, S. 229–250; Aleksandr Davydov, Mešoþniki i diktatura v Rossii 1917–1921 gg., St. Petersburg 2007.

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Doch all das kam erst später. Bis zum Herbst 1917 hielten die relative Sättigung des Marktes, der freie Handel, die spontane Kontrolle seitens der Städter und die Ablehnung dieser Erscheinung aus moralischen Gründen in den breiten Bevölkerungsschichten die Entwicklung der „Spekulation“ vorläufig auf. Der Terminus „Spekulation“ wurde synonym zu „Profit“ verwendet und war negativ konnotiert. Die erste Welle der massenhaften „Sackträgerei“, die von Zentralrussland und dem Wolgagebiet in Richtung Ural und Westsibirien rollte, gestattet die Annahme, dass im Oktober–November 1917 im Bewusstsein der Bevölkerung Zentralrusslands ein ernstzunehmender Schub erfolgte: Die „Spekulation“ schien nicht mehr mit so etwas wie Schmach und Schande behaftet zu sein. Diese Annahme wird durch zahlreiche Zeugnisse der Zeitgenossen bestätigt, die die massenhafte Verbreitung der Händlermentalität vorläufig noch missbilligten. Mit Verbitterung hielt einer von ihnen Ende 1917 fest: „[D]er Schwarzhandel feiert den größten und strahlenden Sieg über die Köpfe der breiten Bevölkerungsschichten. Den Schwarzhandel sehen bereits viele, ich würde sagen, die Mehrheit, als eine legitime Sache.“23

DIE ESKALATION DER GEWALT Als ein Gewaltsymbol der Russischen Revolution gilt mit Recht die Ende 1917 geschaffene politische Polizei des bolschewistischen Regimes – die berüchtigte ýK. Ihre vollständige Bezeichnung – Allrussländische Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution, der Spekulation und der Sabotage (Vserossijskaja ýrezvyþajnaja Komissija po bor’be s kontrrevoljuciej, spekuljaciej i sabotažem) – spiegelte mit einer naiven Direktheit den Grund für ihre Bildung wider – das Defizit an Loyalität der Bevölkerung gegenüber der neuen Regierung, das auf dem Gebiet der Ideologie, der Wirtschaft und der Politik massenweise in Erscheinung trat. Streng genommen gelang es den Bol’ševiki, die Macht im Oktober 1917 gerade deshalb zu erobern, weil „sie im Gegensatz zu allen anderen politischen Gruppen, die sich in der Revolution Gehör verschafften, der uferlosen Gewalt nicht nur das Wort redeten, sondern sie ins Recht setzten.“24

Dabei überschwemmte die Gewalt das Land, wurde die Brutalität zum vorherrschenden Verhaltensmuster lange vor der Machtübernahme der Bol’ševiki: „Gewalt gegen Personen und Institutionen, Raubüberfälle und Vandalismus, Plünderungen von Häusern und Geschäften, verbale und tätliche Angriffe auf Offiziere, eigenmächtige Verhaftungen und Lynchjustiz – die bürgerliche Boulevardpresse berichtete täglich von neuen Vorfällen. Auch auf dem Lande schienen die Kapital- und Eigentumsdelikte, die Brandstiftungen, das wilde Holzfällen, die Requirierung von Gutsvieh und Getreidevorräten ständig zuzunehmen. Die Soldaten in den Garnisonen des Hinterlands bestimmten selbst, wie weit sie sich an Dienst- und Disziplinarvorschriften hielten, und wurden nicht selten zur Plage für ihre 23 Spekuljacija i golod, in: Narodovlastie, 1917, H. 17, S. 17–19, hier S. 17. 24 Jörg Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 22004, S. 32.

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Igor’ Narskij Umwelt. Auch an der Front häuften sich die Fälle von Befehlsverweigerung und die militärischen Dienststellen waren nur zu oft machtlos, wenn sich Einheiten selbst einen Urlaub genehmigten, sich ins Hinterland absetzten, in die ohnehin überfüllten Eisenbahnen drängten oder die Passagiere aus den Waggons warfen.“25

Noch bevor die Revolution begann, war der rasante Anstieg der Aggressivität im Alltagsverhalten sowie in der Kommunikation auf den öffentlichen Plätzen die erste Reaktion auf die Alltagslasten. Später, im Jahre 1917, schufen die beispiellose Schwächung der Staatsmacht, ihr Autoritätsverfall, die Zerstörung der Rechtsgrundlagen und der einfache Zugriff auf Waffen günstige Bedingungen für den massenhaften Verstoß gegen das Gesetz. Das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der durch die Revolution geschwächten Staatsmacht, die dazu unfähig war, die persönliche Sicherheit und den Schutz des Privateigentums zu gewährleisten, äußerte sich seinerseits in der Verbreitung der Selbstjustiz auch in den Großstädten – eigentlich handelte es sich um ein patriarchales Instrument zur Beziehungsregelung innerhalb der bäuerlichen Landgemeinde. Der bolschewistische Terror, der nach 1917 in seinem ganzen Ausmaß zum Tragen kam, stellte die erste Enttäuschungsreaktion auf das unkontrollierbare massenweise Auftreten der Gewalt dar: „Als ihnen schließlich bewusst wurde, worauf es die Revolution des Volkes wirklich abgesehen hatte, setzten sie den Disziplinierungsfeldzug ihrer Vorgänger fort, ungleich gewalttätiger freilich und gefangen in der Vorstellung, wo Menschen ihrer von der Geschichte vorgezeichneten Befreiung zuwiderhandelten, seien Feinde am Werk.“26

DIE „REVOLUTION IM SUFF“ Die massenhafte Gewaltbereitschaft erreichte ihren Höhepunkt einige Monate nach dem Beginn der Revolution, als sie sich im Herbst 1917 in den Bacchanalien der „Suffpogrome“ entlud. Einige Tage nach den Feiern anlässlich des Allrussländischen Tages der Nüchternheit (Vserossjskij den’ trezvosti) am 29. August und drei Jahre nach der Einführung des Verbots des freien Alkoholverkaufs in Russland zu Beginn des Ersten Weltkrieges, eskalierte im Land eine Pogromwelle, die die staatlichen Weindepots traf. Im September erfasste sie Astrachan’, Taškent, Orel, Gomel’, Tambov, Ufa, im Oktober Char’kov, Starodub, Tarnopol’ und eine Reihe anderer Städte im Südwesten des ehemaligen Russischen Reiches, im November überschwemmte sie Petrograd und – nach ersten Gerüchten über den Sturz der Provisorischen Regierung – die Mehrheit der Gouvernements und Kreiszentren der russischen Provinz. Im Dezember legten sich die Pogrome (mit Ausnahme von Einzelausschreitungen, die bis zum Sommer 1918 vorkamen), nachdem sie an der Peripherie des Landes getobt hatten.27 25 Altrichter, Rußland 1917, S. 180. 26 Baberowski, Der rote Terror, S. 29. 27 Näheres zur Zerstörung der staatlichen Weindepots in: Valerij Kanišþev, Russkij bunt – bessmyslennyj i bespošþadnyj: Pogromnoe dviženie v gorodach Rossii v 1917–1918 gg.,

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All dieser „Unfug“, so die maßgebliche Meinung des Befehlshabers des Moskauer Militärbezirks – einer Person, die ihre Schlussfolgerungen auf ausreichend Informationen stützen konnte – spiele sich nach dem gleichen Szenarium ab: „Überall wird ungefähr das gleiche Bild beobachtet. Es geht los mit Pogromen in den Weindepots; nachdem sich die Meute übersoffen hat, macht sie sich daran, Geschäfte, Kleinläden und Häuser zu zerstören. Als Führer und Anstifter fungiert ein Häuflein zwielichtiger Personen, bei denen es sich größtenteils um Kriminelle handelt, die aus den Zuchthäusern ausgebrochen sind.“28

Streng genommen waren die Pogromen in den Weindepots nur eine der radikalsten Erscheinungsformen jener unglaublichen Popularität, die der Alkohol während der Russischen Revolution erreichte, was zur Vermutung veranlasst, dass die Trunksucht in der Epoche der Revolution wichtige Funktionen erfüllte.29 Der Erste Weltkrieg und gleich danach die Revolution erzeugten eine Explosionsmischung aus seltsam miteinander verbundenen Faktoren, die in beispielloser Art und Weise eine weite und ungehinderte Verbreitung der Trunksucht begünstigten. Die Einführung des Verbots des freien Alkoholverkaufs – in Verbindung mit den Zwangsablieferungen des bäuerlichen Getreides an den Staat zu festen Preisen – ließen das Schwarzbrennen zu einer wirtschaftlich lukrativen Tätigkeit werden. Seit 1917 trat zu den ökonomischen Motiven eine ganze Reihe weiterer Begleitumstände hinzu, die sich für die Massentrunksucht als förderlich erwiesen. Dazu gehörte der schnelle Machtverfall und die Zerstörung der staatlichen Kontrollmechanismen über die Produktion und den Verkauf der Alkoholgetränke; der herrenlose Zustand der riesigen staatlichen Alkoholvorräte; die Verwandlung der „anregenden Getränke“ (gorjaþitel’nye napitki), aufgrund der Inflation sowie eines Defizits an notwendigsten Gütern und Dienstleistungen in eine Ersatzwährung. Letzten Endes wird man wahrscheinlich die russischen „Suffexzesse“ Ende 1917 als eine der anschaulichsten Illustrationen des kulturellen Konflikts von „Oben“ und „Unten“ interpretieren müssen, dem die politische Revolution eine neue, eine viel mehr politisierte Dimension verlieh, statt ihn, im Gegenteil, aus der Welt zu schaffen. „Die kollektive Trunksucht, das asoziale Verhalten und die Aufteilung des fremden Eigentums im Falle der Pogrome in den Weindepots schienen nur aus der Perspektive der europäisierten Kulturschichten sinnlose Erscheinungsformen der ‚Rückständigkeit‘, der ‚Barbarei‘, Tambov 1995; Igor’ Narskij / Julija Chmelevskaja, „Upoenie“ buntom v russkoj revoljucii (na primere razgromov vinnych skladov v Rossii 1917 g.), in: Jan Plamper (Hg.), Rossijskaja imperija þuvstv. Podchody k kul’turnoj istorii ơmocij, Moskau 2010, S. 259–281. 28 Hier zitiert nach: Narskij, Žizn’ v katastrofe, S. 198. 29 Zur Funktion des Alkoholkonsums im späten Zarenreich und im revolutionären Russland siehe Laura L. Phillips, Bolsheviks and the Bottle: Drink and Worker Culture in St. Petersburg, 1900–1929, DeKalb 2000; Patricia Herlihy, The Alcoholic Empire: Vodka and Politics in Late Imperial Russia, New York 2002; Matthias Braun, Vremja Golovokruženija – Zeit des Schwindels. Der alkoholische Rausch als Geste kulturellen Beharrens in der Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 2003, 10, S. 896–911, hier S. 900.

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Igor’ Narskij der ‚Bestialisierung‘ und der ‚Zügellosigkeit‘ zu sein. Im Kontext der plebejischen Kultur betrachtet, besaßen diese Handlungen jedoch ihre Logik und ihren klaren Sinn.“

Sie demonstrierten offen das Misstrauen gegenüber den offiziellen Machthabern, „stellten die aus der Sicht von ‚Unten‘ legitime Ordnung wieder her, brachten eine nicht formelle Bruderschaft hervor, benannten die Gefahren und die Feinde, in Anbetracht derer man sich zusammenschließen musste, und schrieben die in der Krisensituationen entstandenen neuen Möglichkeiten in gewohnte Verhaltenssymbole und -kodes ein.“30

KOLLEKTIVES VERGESSEN 1917 wurde Russlands Gesellschaft mit einem Schlage ihrer Vergangenheit beraubt. Vielmehr sogar. Der soziale Rahmen der Erinnerungskultur hatte sich derart schnell verändert, dass das Vergangene seine Beständigkeit und Überzeugungskraft verloren hat. Selbstverständlich umfasst die menschliche Gedächtnisarbeit die Prozesse des Einprägens (zapominanie) und Vergessens als eine organische Einheit. Doch die außerordentliche Geschwindigkeit, mit der die Vergangenheit während der Russischen Revolution dem Vergessen preisgegeben wurde, zwingt dazu, sich die Frage nach den Katalysatoren dieses Prozesses zu stellen.31 Vor allem muss darauf hingewiesen werden, dass die Sinndeutung des Geschehens (und des Geschehenen), die die Orientierung in der Umwelt ermöglicht, in der Situation einer Zivilisationskrise (die die Russische Revolution war) zu einer, im wörtlichen Sinne, lebenswichtigen Frage wurde. In den Jahren der Revolution waren sowohl die neuen Herrscher, die unter einem Defizit der eigenen Legitimität litten, als auch die im Wirbel der revolutionären Erschütterungen wiederholt auflebende und zugrunde gehende Öffentlichkeit und die Bevölkerung, die vor Unverständnis des Geschehens verging, an der Lösung dieses Problems zutiefst interessiert. Zweitens dissonierte das Neue so stark mit dem Alten, dass das ganze Leben vor der Revolution mit einer Handumdrehung zur Vergangenheit wurde, die durch die Kultur neu reflektiert werden musste. Auf das Vergessen hin wirkten die offizielle Ideologie und die Erinnerungspolitik, die versuchten, die Bevölkerung an ihre finstere Vergangenheit zu „erinnern“. Die Reorganisation des Gedächtnisses wurde von der Bildung einer neuen „Erinnerungslandschaft“ (mnemolandšaft) 30 Narskij / Chmelevskaja, „Upoenie“ buntom, S. 280f. 31 Für Näheres zur Erinnerungskultur während der Russischen Revolution und an die Russische Revolution siehe Frederick C. Corney, Telling October. Memory and the Making of the Bolshevik Revolution, Ithaca 2004; am Beispiel der Provinz: Igor’ Narskij, First There Was Oblivation: Collective Remembrances of the First Years of Soviet Power in Russia in 1922 (Ural Study 1917–22), in: Jerzy W. Borejsza / Klaus Ziemer (Hg.), Totalitarian and Authoritarian Regimes in Europe, New York 2006, S. 525–540; Igor’ Narskij, Der Russische Bürgerkrieg im Ural: Konstruierter Gründungsmythos und Besonderheiten kollektiven Vergessens (1917–1922), in: Heiko Haumann / Jörn Happel / Carmen Scheide (Hg.), Das Jahrhundert des Gedächtnisses. Erinnern und Vergessen in der russischen und sowjetischen Geschichte im 20. Jahrhundert, Zürich 2010, S. 113–135.

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begleitet. Symbole der Vergangenheit wurden dabei gnadenlos zerstört – mit einer Radikalität, die bis zum Vandalismus reichte. In den Rang von neuen Gedenkstätten wurden 1917 meistens Friedhöfe erhoben, wo, mit den „Feiertagen der Revolution“ (prazdniki revoljucii) im Frühjahr beginnend, ihren Verteidigern gedacht und Ehre erwiesen wurde; sowie Gebäude, die mit Revolutionsereignissen in Verbindung standen. Später wurden neue Denkmäler anlässlich eines Gedenk- und Feiertages enthüllt. Drittens war die Erinnerung an die vergangenen Zeiten in Extremsituationen mit einem viel zu großen Risiko verbunden. Im revolutionären Russland hat jedes neue Regime seine Tätigkeit als Erschaffung einer gerechten Ordnung aus dem Chaos und der Anarchie dargestellt, wobei es einen Strich unter die Vergangenheit machte, sie einer Normierung unterzog und mit neuen Mythen füllte. In dieser Situation konnte sogar eine harmlose Bemerkung darüber, was früher besser war, als ein ernstes politisches Verbrechen qualifiziert werden. Es empfahl sich, das frühere Leben zu vergessen oder wenigstens nicht mit jedem beliebigen Menschen darüber zu sprechen. Zur schnellen Verdrängung der Vergangenheit trugen schließlich die Zerfallserscheinungen im Alltag bei: „Einer Deformation oder Zerstörung unterlagen in Folge verschiedener Umstände jene ‚Referenzgruppen‘, in der das Individuum seine oder gruppenspezifische Erinnerungen im Alltag ‚auffrischen‘ konnte.“32 Die Erschaffung neuer kultureller Orientierungen ging somit Hand in Hand mit einem Prozess, der metaphorisch als der „kollektive Gedächtnissturz“ (vypadenie pamjati) bei den Zeitgenossen, den Teilnehmern und den Zeugen der Revolution in Russland, beschrieben werden kann. FAZIT Forschungen über jede von den zehn kurz skizzierten revolutionären Erschütterungen bilden eine mehr oder weniger lange historiographische Tradition; jede von ihnen wurde – mit mehr oder weniger Gründlichkeit und Intensität – vielfach einer analytischen Interpretation unterzogen. Ihre geschlossene Betrachtung gestattet jedoch, einen Blick auf das Jahr 1917 aus einer für die internationale Historikerzunft weniger gewohnten Perspektive zu werfen. Das erste Jahr der Russischen Revolution hatte seine weniger bekannte und unansehnliche Rückseite, die, blickt man auf sie von oben oder von außen, durch eine dichte Reihenfolge von „historischen“ Ereignissen verdeckt wird. Die wachsenden Versorgungsschwierigkeiten und das Alltagschaos, die orkanartige Verbreitung der Kriminalität und die Ratlosigkeit der Machthaber, die Exzesse der Meute, die bald trunken von der Freiheit, bald sturzbetrunken war, und der Terror seitens der Herrschaftsorgane, die sich vor der eigenen Schwäche fürchteten – das war das, was der „kleine Mann“ 1917 sah.

32 Narskij, Der Russische Bürgerkrieg im Ural, S. 118.

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Igor’ Narskij „Anders als für Ideologen und gläubige Nachgeborene ist die Revolution für Beteiligte und betroffene kein ‚heroischer Triumphzug‘, vielmehr ein schmerzhafter Prozess, in dem die Vision eines menschenwürdigen Daseins in Unmenschlichkeiten zu ersticken droht.“33

Keine der oben erwähnten „zehn Erschütterungen“ war nur für das Jahr 1917 symptomatisch. Die Mehrheit von ihnen kam auch früher vor, und fast jede von ihnen erreichte erst später ihren Höhepunkt. Doch gerade 1917 hatte ihre enge Wechselwirkung Platz, zeigten sie ihre ersten niederschmetternden Konsequenzen, weshalb dieses Jahr zum Wendepunkt in der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts wurde. (Übersetzung aus dem Russischen: Lilia Antipow)

33 Altrichter, Rußland 1917, S. 18.

1918 – DIE NEUERFINDUNG DER DIPLOMATIE UND DIE FRIEDENSVERHANDLUNGEN IN BREST-LITOVSK Susanne Schattenberg „I have not observed that […] the Soviet diplomatists and commissars have evolved any system of negotiation that might be called a diplomatic system. Their activity in foreign countries or at international conferences is formidable, disturbing, compulsive. I do not for one moment underestimate its potency or its danger. But it is not diplomacy: it is something else.“1

So urteilte der britische Diplomat und Verfasser eines der Standardwerke über Diplomatie Harold Nicolson 1954.2 Es lässt sich vortrefflich darüber streiten, ob die Bol’ševiki ein eigenes diplomatisches System entwickelten bzw. ob der Begriff „Diplomatie“ auf deren Verhandlungsverhalten anzuwenden ist. Genauso kann darüber gestritten werden, ob es eine genuin revolutionäre, diktatorische oder totalitäre Diplomatie gibt. Die Antwort auf diese Frage hängt zu einem Großteil davon ab, ob „Diplomatie“ als festes Repertoire von Verhaltensnormen, Ritualen, Sprachregeln und Umgangsformen betrachtet und als Norm gesetzt wird, oder ob Diplomatie lediglich die Kommunikation zweier Staatsvertreter bezeichnet, die ganz unterschiedlichen Vorstellungen folgen und ganz gegensätzliche Verhaltensweisen beinhalten kann. Es spricht allerdings einiges dafür, Diplomatie nicht als normatives Modell zu begreifen, von dem dann im sowjetischen Fall nur noch die Abweichungen festgestellt werden können, wie es oben Harold Nicolson tat. Es ist weit fruchtbarer, Diplomatie als interkulturelle Kommunikation zu verstehen, in die jede verhandelnde Seite jeweils ihr eigenes Zeichensystem einbringt.3 Diplomatie würde damit das Aufeinandertreffen und Konkurrieren von verschiedenen Deutungshorizonten und Bedeutungszuschreibungen bezeichnen, bei dem nur im Idealfall sich beide Seiten auf die gemeinsame Sprache des westlichen Protokolls verständigen.4 Letzteres funktioniert wie ein Wörterbuch oder eine 1 2 3

4

Harold Nicolson, The Evolution of Diplomatic Method, London 1954, S. 90. Ders., Diplomacy [1939], Oxford 31969. Zur Kulturgeschichte der Diplomatie siehe Akira Iriye, Culture, in: The Journal of American History, 1990, 77, S. 99–107; James Der Derian, On Diplomacy. A Genealogy of Western Enstrangement, New York 1987; Raymond Cohen, Negotiating Across Cultures, Washington 1991; Susanne Schattenberg, Die Macht des Protokolls und die Ohnmacht der Osmanen. Zum Berliner Kongreß 1878, in: Christian Windler / Hillard von Thiessen (Hg.), Außenbeziehungen in akteursbezogener Perspektive, Köln 2010, S. 373–390; dies.: Diplomatie der Diktatoren. Eine Kulturgeschichte des Hitler-Stalin-Pakts, in: Osteuropa, 2009, 59, H. 7/8, S. 7–32. Vgl. zum Widerstreit der Deutungssysteme verschiedener Kulturen Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1987, S. 7–43; siehe auch Frank Ninkovich, Interest and Discourse in Diplomatic History, in: Diplomatic History, 1989, 13, S. 135–162.

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Grammatik, indem es jedem ausgesandten Zeichen eine verbindliche Bedeutung zuschreibt und so im Idealfall für Erwartungssicherheit sorgt und Miss- bzw. Unverständnis vorbeugt. Danach wäre Diplomatie eine universelle Kategorie, die lediglich den formalen Akt der Verhandlungen zweier Staatsvertreter bezeichnet, der aber ganz unterschiedlich gestaltet werden kann5, während die westliche Protokollsprache eine steife Norm und nur eine der möglichen Performanzen ist. Letztere war der Verhaltenscodex, an dem die Bol’ševiki sich sowohl abarbeiteten als auch gemessen wurden. „NEO-DIPLOMACY“ Während Nicolson also die Bol’ševiki am Idealtypus des westlichen Diplomaten maß, den „1. truthfulness, 2. precision, 3. calm, 4. good temper, 5. patience, 6. modesty, 7. loyalty“6 auszeichnete, und zu dem Schluss kam, das, was die Bol’ševiki zur Aufführung brachten, sei zwar eindrucksvoll, effektiv und nicht zu unterschätzen, aber keine Diplomatie, gibt es durchaus andere Meinungen, die von einer bolschewistischen oder sogar totalitären Diplomatie sprechen. Wie im Falle Nicolson stammen diese Ansichten meist von Männern, die selbst in den 1930er/40er Jahren im diplomatischen Dienst waren, Verhandlungen mit den sowjetischen Partnern führten und die britische bzw. US-Regierung in Sachen Umgang mit der Sowjetunion berieten. Lord William Strang, George Kennan und Philip Mosely fassten ihre Erfahrungen zu einem Regelwerk zusammen, auf das auch Diplomatiehistoriker wie Gordon Craig ihre Aussagen stützten. Danach ist das System der Verhandlungskunst der sowjetischen Unterhändler durchaus als Diplomatie zu bezeichnen, dem aber ganz andere, dem Westen oft fremde Prämissen zu Grunde liegen, die teils aus der politischen Kultur, teils aus der marxistisch-leninistischen Ideologie gespeist wurden.7 Während üblicherweise Diplomatie die Vorstellung zu Grunde liegt, dass alle Staaten ein gleichberechtigtes Existenzrecht haben, das nicht zur Disposition gestellt wird,8 war das für die sowjetische Seite keineswegs eine Selbstverständlichkeit, die sich im Kampf um Leben und Tod mit dem Westen wähnte. „To them diplomacy is more than an instrument for protecting and advancing national interest; it is a weapon in the unremitting war against capitalist society“9, so Gordon Craig. George Kennan riet daher 1946:

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Jürgen Osterhammel, Internationale Geschichte. Globalisierung und die Pluralität der Kulturen, in: ders. / Wilfried Loth (Hg.), Internationale Geschichte. Themen, Ergebnisse, Aussichten, München 2000, S. 387–408, hier S. 401. Nicolson, Diplomacy, S. 55. Raymond F. Smith, Negotiating with the Soviets, Bloomington 1989, S. 5. Vgl. Richard Pipes, Die Russische Revolution, Bd. 2, Die Macht der Bolschewiki, Berlin 1992, S. 388–389. Gordon A. Craig, Totalitarian Approaches to Diplomatic Negotiation, in: A.O. Sarkission (Hg.), Studies in Diplomatic History and Historiography, London 1961, S. 107–125, hier S. 117.

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„Wir können uns den Umgang mit Russland sehr erleichtern, wenn wir uns offen eingestehen würden, dass seine Führer sich aus eigener freier Entscheidung als Feinde aller Teile der Welt fühlen, die sie nicht beherrschen, und dass dies ein anerkanntes Prinzip für das Denken und Handeln des gesamten sowjetischen Apparats ist.“10

Schließlich hatte der sowjetische Außenminister Maksim Litvinov in den 1930er Jahren sein Amtsverständnis mit den Worten kundgetan, sowjetische Diplomaten machten das, was in Kriegszeiten die Roten Garden erledigten.11 Die Parteiführer um Lenin und Stalin hatten nach Beobachtung der westlichen Diplomaten Clausewitz absorbiert bzw. umgekehrt: Diplomatische Verhandlungen waren für sie ein Kampf – die Verlängerung des Krieges in Friedenszeiten.12 Die zweite Prämisse leitete sich aus dieser Vorstellung eines permanenten Kampfes gegen den Feind ab: „Diplomatic negotiations, therefore, cannot aim at real understanding and agreement“.13 Während sich Diplomaten allgemein gerne als eine große Familie betrachten und Verhandlungen auf gegenseitigem Respekt und Vertrauen aufbauen, seien Freundschaftsbekundungen bei sowjetischen Vertretern vollkommen unangebracht, so Philip Mosely.14 Tatsächlich war einer der ersten Vorschläge, die Trockij den Unterhändlern in Brest-Litovsk im Januar 1918 unterbreitete, das Wort „Freundschaft“ aus der Präambel des Friedensvertrags zu streichen; er tat alles, um die „familiären Beziehungen schroff abzubrechen“15. Während es für die Delegationen der Mittelmächte selbstverständlich war, auch mit dem Feind das übliche Comme-il-faut einzuhalten, entbehrte Trockij jedes Verständnis für diese Art des diplomatischen Miteinanders. Befriedigt stellte er fest: „Die heuchlerischfreundschaftlichen Beziehungen wurden durch trocken offizielle ersetzt.“16 Entsprechend warnte Kennan Diplomaten im Umgang mit sowjetischen Vertretern: „Tut nicht so, als ob ihr dicke Freunde wäret. Das bringt sie als Einzelpersonen nur in Verlegenheit und verstärkt ihren Argwohn. Russische Funktionäre hassen den Gedanken, vor ihren eigenen Leuten als jemand dazustehen, der mit Ausländern vertraulich umgeht.“17

Aus diesen zwei Prämissen folgte, dass Diplomatie aus sowjetischer Perspektive ein Kampf unter Klassenfeinden war, bei dem es nur Sieger und Verlierer geben konnte, daher nur Macht und Stärke entscheidend waren. Redegewandtheit und ethische Kriterien, die zum üblichen Repertoire westlicher Diplomaten zählen, gehörten nicht zu den Strategien, von denen sich die sowjetische Seite überzeugen

10 George F. Kennan, Auszüge aus „Die Vereinigten Staaten und Russland“, Winter 1946, in: ders., Memoiren eines Diplomaten, München 1982, S. 569. 11 Zitiert nach Hiroshi Kimura, The Russian Way of Negotiating, in: ders. et al. (Hg.), International Negotiation. Actors, Structure/Process, Values, New York 1999, S. 63–90, hier S. 67. 12 Philip E. Mosely, Die sowjetische Verhandlungstechnik, in: Raymond Dennet / Joseh E. Johnson (Hg.), Mit den Russen am Verhandlungstisch, Nürnberg 1953, S. 205–248, hier S. 247; Kimura, The Russian Way, S. 67. 13 Craig, Totalitarian Approaches to Diplomatic Negotiation, S. 117. 14 Mosely, Die sowjetische Verhandlungstechnik, S. 241. 15 Leo Trotzki: Mein Leben. Versuch einer Autobiographie. Frankfurt am Main 1974, S. 316. 16 Ebd. 17 Kennan, Die Vereinigten Staaten und Russland, S. 570.

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ließ oder die sie selbst zur Anwendung brachte.18 Während die westliche Diplomatie im Idealfall einen Interessenausgleich anstrebte und Kompromisse dafür als probates Mittel galten, ist auf sowjetischer Seite immer wieder zu beobachten gewesen, dass es um Sieg oder Niederlage ging, während das Wort „Kompromiss“ im Russischen eine negative Konnotation besaß und ein Zeichen von Schwäche war.19 Wenn also westliche Diplomaten es gewohnt waren, auf verschiedenen Ebenen auszuloten, wo und in welchem Maße der Verhandlungspartner zu Zugeständnissen bereit war20, diente die Verhandlungsführung aus sowjetischer Sicht allein dem Testen, wie stark der Gegner war und wie man ihn am besten in die Knie zwingen konnte. Lenin hatte als Taktik für Verhandlungen ausgegeben: Wenn Du auf Stahl schlägst, zieh Dich zurück. Wenn Du auf Brei stößt, gehe weiter.21 Lord Strang stellte ernüchtert fest, dass die Sowjetische Regierung dieses diplomatische Verhandlungsmuster letztlich allen aufzwänge, die mit ihr zu tun hätten: „[…] if you wish to move your Russian colleague from one of his positions, you must be prepared to hammer away at him till he gives up.“22 So, wie jeder Punkt „nur nach einem entsetzlichen Kampf aufgegeben werden“ durfte23, wurden auch geringere Varianten, Zugeständnisse und das Zeigen von „gutem Willen“ auf sowjetischer Seite keineswegs als freundschaftliche Geste gedeutet, die man selbst entsprechend zu beantworten hatte, sondern einzig und allein dem Gegner als Schwäche ausgelegt.24 Andersherum hieß das, blieb ein Verhandlungsführer hart und konsequent, konnte es passieren, dass die sowjetische Seite – für den westlichen Partner oft vollkommen unvermittelt – nachgab: Der Kontrahent hatte sich als würdiger Gegner erwiesen, dem gegenüber ein Zugeständnis zu machen keine Schande war.25 Chrušþev war für diese Taktik berühmt, den „Feind“ bis zum Äußersten zu testen und dann, wenn er mit dessen Kampfgeist zufrieden war, sehr plötzlich und unerwartet nachzugeben.26 Entsprechend mahnte Kennan seine Kollegen: „Wenn wir unser Prestige bei der Sowjetregierung wiederherstellen und in Russland Ansehen gewinnen wollen, müssen wir zu einer ‚Zähmung der Widerspenstigen‘ bereit sein, wobei sich ein Haufen Ärger nicht vermeiden lässt. Andererseits brauchen wir nicht zu fürchten, dass gelegentlich harte Worte unsere Beziehungen langfristig stören müssten. Der Russe ist

18 19 20 21 22 23 24 25 26

Kimura, The Russian Way of Negotiating, S 71. Mosely, Die sowjetische Verhandlungstechnik, S. 237. Ebd., S. 210. Ebd., S. 70. Lord William Strang, Home and Abroad, London 1956, S. 206–207. Mosely, Die sowjetische Verhandlungstechnik, S. 238. Ebd., S. 239. Strang, Home and Abroad, S. 207. Oleg Grinevskij, Tauwetter. Entspannung, Krisen und neue Eiszeit, Berlin 1996, S. 257. Vgl. auch Hiroshi Kimura, Soviet and Japanese Negotiating Behavior: The Spring 1977 Fisheries Talks, in: Orbis, 1980, 24, S. 43–67, hier S. 55; Susanne Schattenberg, „Gespräch zweier Taubstummer“? Die Kultur der chrušþevschen Außenpolitik und Adenauers Moskaureise 1955, in: Osteuropa, 2007, 57, H. 7, S. 27–46, hier S. 46.

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niemals zugänglicher, als wenn man ihm kräftig auf die Finger geklopft hat. Er rauft sich gerne und trägt deswegen nicht nach.“27

Um den Gegner und seine Stärke zu testen, war nach sowjetischen Spielregeln alles erlaubt: schlechte Manieren, gezieltes Unterlaufen und Missachten der Regeln der herkömmlichen Diplomatie, Zermürbungstaktiken und alle Formen der Zeitverzögerung so wie den Gegner verwirrende Presserklärungen.28 Westliche Unterhändler konnten aber noch auf ein anderes Problem stoßen, nämlich dass die sowjetische Seite gar kein Interesse an einem Verhandlungsergebnis hatte, sondern ohne Instruktionen anreiste, um lediglich „eine Propagandastellung zu beziehen“.29 „Tritt man mit Sowjetvertretern außer mit Stalin persönlich in Verhandlungen ein, dann ist die erste Aufgabe die, ausfindig zu machen, ob sie überhaupt genaue Anweisungen haben. […] Manchmal erscheint eine Sowjetdelegation zu einer Konferenz mit der einzigen Anweisung, sich auf nichts einzulassen und nichts zu unterzeichnen.“30

Dies war in weiten Teilen die Instruktion, die Trockij von Lenin erhalten hatte, als ihn dieser im Januar 1918 nach Brest schickte: „Für das Verschleppen der Verhandlungen ist ein Verschlepper nötig.“31 Die Friedensverhandlungen von Brest waren also in großen Teilen keine Verhandlungen, die auf ein Verhandlungsergebnis zielten, sondern eine Propagandaschlacht mit dem Klassenfeind. Wie sich diese entwickelte, wer ihre Protagonisten waren und wie die Gegenseite parierte, soll im Folgenden analysiert werden. Zunächst bleibt festzuhalten, dass a) die sowjetische Verhandlungsführung sehr wohl als Diplomatie bezeichnet werden muss, b) dass sich deren Techniken zuweilen grundlegend von den westlichen Usancen unterschieden, da c) Verhandlungen nicht als Mittel der freundschaftlichen Vermittlung, sondern als Kampf um Sieg oder Niederlage galten. James Der Derian hat diese revolutionäre Diplomatie „Neo-Diplomacy“ genannt: der Bruch mit allen Traditionen, die Verachtung für bürgerlich-aristokratische Rituale, die Ersetzung der Freundschafts- durch Kriegsrhetorik, das Verjagen der Berufsdiplomaten und ihre Ersetzung durch „das Volk“ und Soldaten.32 Trockij habe die Neo-Diplomatie in Russland begründet, und ýiþerin habe sie 1922 in Rapallo zu Grabe getragen.33 „ICH WERDE DIE BUDE SCHLIESSEN“ Tatsächlich hatten sich die Bol’ševiki unter Lenin und Trockij am 7. November 1917 mit dem Anspruch an die Macht geputscht, die Diplomatie abzuschaffen. 27 28 29 30 31 32 33

Kennan, Die Vereinigten Staaten und Rußland, S. 573. Craig, Totalitarian Approaches to Diplomatic Negotiation, S. 122–123. Ebd., S. 119; Mosely, Die sowjetische Verhandlungstechnik, S. 242. Mosely, Die sowjetische Verhandlungstechnik, S. 209, 213. Trotzki, Mein Leben, S. 314. Der Derian, On Diplomacy, S. 194–197. Ebd., S. 198.

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„Was für diplomatische Arbeit werden wir denn haben“, hatte Trockij über sein neues Amt als Volkskommissar für Äußere Angelegenheiten sinniert und war zu dem Schluss gekommen, „ich werde einige revolutionäre Proklamationen an die Völker erlassen und dann die Bude schließen.“34 In einer Welt ohne kapitalistische Regierungen, in der Arbeiter und Bauern herrschten, brauchte man keine Regierungsvertreter mehr. Dass die Völker für die Verständigung keine Diplomaten mehr brauchen würden, hatte Trockij bereits 1914 zu Papier gebracht: „Die Bedingungen, unter welchen der Friede geschlossen werden soll – der Friede der Völker selbst und nicht die Aussöhnung der Diplomaten – müssen die gleichen sein für die gesamte Internationale: Keine Kontributionen! Das Recht jeder Nation auf Selbstbestimmung! Die vereinigten Staaten Europas – ohne Monarchien, ohne ständige Heere, ohne regierende Feudalkasten, ohne Geheimdiplomaten!“35

Dafür brauchte der Sowjetstaat weder Amt noch Personal: Die Avantgarde der Revolution würde sich in ihrer Parteirhetorik auch ohne Protokollbeamten, Zeremonien und Berufsdiplomaten verstehen. Diplomatie war Teil der kapitalistischen Weltstruktur, mit der sie in kürzester Zeit unwiederbringlich untergehen würde.36 Doch das war eine Utopie, und für die Überbrückung der Zeit bis zum Sieg der Weltrevolution gab es kein Konzept. Entsprechend Lenins Leitspruch – „On s’engage, et puis on voit“, „Erstmal reingehen, und dann sieht man weiter“37 – wurde das Außenamt okkupiert, die Ministerialbeamten und Angestellten, die in Streik getreten waren, erst mit Gewaltandrohung versammelt und dann wegen Sabotage entlassen sowie den Botschaftern und Vertretern im Ausland, die die Sowjetregierung nicht vertreten wollten, gekündigt.38 Nun war das berühmte Außenamt am Schlossplatz in Petrograd leer, und sein neuer Hausherr, Trockij, wusste nicht so recht, wie er es füllen sollte.39 Das einzige Programm, das bereit stand, war, die Geheimverträge der zarischen Regierung zu veröffentlichen und damit quasi posthum die Diplomatie und ihre Gepflogenheiten für null und nichtig zu erklären. Unter Trockijs Anleitung sorgten der Berufsrevolutionär I.A. Zal’kind und der Matrose N.G. Markin dafür, dass die früheren Mitarbeiter des Außenamts das Archiv übergaben, aus dessen Beständen sie erst in Zeitungen, dann in sieben Bänden Geheimdokumente des ehemaligen Außenamts veröffent-

34 Leo Trotzki, Mein Leben, S. 296. 35 Leo Trotzki, Der Krieg und die Internationale, 1914, hier nach: http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1914/kriegint/index.htm. 36 Vgl. Theodore von Laue, Soviet Diplomacy: G.V. Chicherin, Peoples Commissar for Foreign Affairs, 1918–1930, in: Gordon A. Craig / Felix Hilbert (Hg.), The Diplomats 1919–1939, Princeton 1953, S. 234–281, hier S. 235. 37 Richard K. Debo, Revolution and Survival. The Foreign Policy of Soviet Russia 1917/18, Toronto, Buffalo 1979, S. 45; Orlando Figes, Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924, München 2001, S. 498. 38 Debo, Revolution and Surival, S. 18; L.N. Nežinskij / E.N. Rudaja: NKID RSFSR v pervye gody sovetskoj vlasti, in: Oþerki istorii MID Rossii, Bd. 2, 1917–2002, Moskau 2002, S. 33– 62, hier S. 35. 39 Debo, Revolution and Surival, S. 20.

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lichten.40 Das Außenamt verwandelte sich binnen weniger Tage in eine Propagandazentrale, die mit dem Herstellen, Übersetzen, Drucken und Verteilen von Flugschriften im Ausland beschäftigt war. 41 De facto existierte es seit der Verhaftung des letzten Außenministers der Provisorischen Regierung N.M. Terešþenko am 7. November nicht mehr.42 Nun blieb darauf zu warten, wie die Welt auf das „Dekret über den Frieden“ der Sowjetregierung reagieren würde, das sie gleich am ersten Tag nach der Revolution erlassen hatte: „Ein gerechter oder demokratischer Frieden, den die überwältigende Mehrheit der durch den Krieg erschöpften, gepeinigten und gemarterten Klassen der Arbeiter und der Werktätigen aller kriegführenden Länder ersehnt und den die russischen Arbeiter und Bauern nach dem Sturz der Zarenmonarchie auf das entschiedenste und beharrlichste forderten – ein solcher Frieden ist nach Auffassung der Regierung ein sofortiger Friede ohne Annexionen (d.h. ohne Aneignung fremder Territorien, ohne gewaltsame Angliederung fremder Völkerschaften) und ohne Kontributionen.“43

Die Frage war nur, wie ein solcher Friede zustande kommen sollte, dessen Angebot gleichermaßen an „die Regierungen und an die Völker aller kriegführenden Länder“ gerichtet war. Einerseits verkündete das Dekret: „Die Regierung schafft die Geheimdiplomatie ab; sie erklärt, dass sie ihrerseits fest entschlossen ist, alle Verhandlungen völlig offen vor dem ganzen Volke zu führen“, und im gleichen Atemzug kündigte es an, „die Sache der Befreiung der werktätigen und ausgebeuteten Volksmassen von jeder Sklaverei und jeder Ausbeutung erfolgreich zu Ende […] führen“44 zu wollen. Es blieb also bewusst offen, ob in erster Linie Völker oder Regierungen angesprochen waren und ob der Frieden mittels „Völkerverständigung“ oder Revolution zustande kommen sollte. Am 22. November einigten sich die Alliierten, auf eine solche Ansprache nicht zu reagieren und gegen die Veröffentlichungen der Geheimverträge zu protestieren.45 Die Mittelmächte dagegen hatten auf diese Botschaft nur gewartet, so dass sich nun die Frage stellte, wie ohne Mithilfe professioneller Diplomaten, von Revolutionär zu Imperialist, ein Separatfrieden zu verhandeln sei. Das Grunddilemma war und blieb, dass sich die Mittelmächte zwar auf die Formel vom „demokratischen Frieden“ einließen, aber beide Seiten unter diesem Deckmantel vom Kontrahenten forderten, wozu sie selbst nicht bereit waren: Deutschland forderte, Russland müsse die Völker, deren Provinzen es während des Krieges verloren hatte, in die Freiheit entlassen; Russland forderte ebenfalls 40 Nežinskij / Rudaja, NKID RSFSR, S. 36. 41 Debo, Revolution and Survival, S. 89; Charles Roetter, The Diplomatic Art: An Informal History of World Diplomacy, Philadelphia 1963, S. 103. 42 Nežinskij / Rudaja, NKID RSFSR, S. 36–37. 43 Dekret über den Frieden, 8. November 1917, hier zitiert nach: 100(0) Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte, http://www.1000dokumente.de/index.html ?c=dokument_ru&dokument=0005_fri&l=de. 44 Ebd. 45 Nežinskij / Rudaja, NKID RSFSR, S. 38; Debo, Revolution and Survival, S. 26; John W. Wheeler-Bennett, Brest-Litovsk. The Forgotten Peace March 1918 [1938], New York 1971, S. 71.

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im Namen dieser Völker, die Mittelmächte müssten nach einem Friedensschluss ihre Truppen aus diesen russländischen Westgebieten zurückziehen – beide verwiesen auf das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“.46 Nachdem Russland einerseits und Deutschland, Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und Bulgarien andererseits am 15. Dezember einen Waffenstillstand geschlossen hatten, gab es drei Phasen der Verhandlungen in BrestLitovsk:47 Vom 22. Dezember bis zum 28. Dezember verhandelte die russische Delegation unter der Leitung von Adol’f Abramoviþ Joffe, der die Verhandlungen am 28. Dezember unterbrach, als offenbar wurde, dass die Mittelmächte Russland um seine Westprovinzen beschneiden wollte.48 Die russische Delegation kehrte am 7. Januar unter der Leitung Leo Trockijs nach Brest-Litovsk zurück. Die zweite Phase dauerte bis zum 10. Februar, als Trockij mit der berühmten Erklärung „Weder Krieg noch Frieden“ Brest-Litovsk verließ und damit die Verhandlungen ergebnislos abbrach.49 Diese Phase war allerdings erneut unterbrochen von zehn Tagen Verhandlungspause (19. –29. Januar), in denen sich Trockij mit Lenin über seine Strategie angesichts der deutschen Forderung beriet, die ultimativ die Abtretung Polens, der Ukraine und des Baltikums beinhaltete. Während sich die Gespräche mühsam hinschleppten, versuchten beide Seiten in der Ukraine Fakten zu schaffen: Die Rote Armee marschierte am 29. Januar in Kiev ein, so dass Trockij fortan beanspruchte, er spreche für die Ukraine und nicht deren bürgerliche Delegation.50 Daraufhin schlossen die Mittelmächte am 9. Februar einen Separatfrieden mit der Ukraine und stellten den Bol’ševiki ein 24-Stunden-Ultimatum, die deutschen Forderungen zu akzeptieren.51 Trockij brach daraufhin die Verhandlungen am 10. Februar ab. Deutschland nahm die Kriegshandlungen jedoch wieder auf und stoppte, obwohl Lenin sofort reagierte und die Annahme aller deutschen Forderungen zusicherte, den Vormarsch erst, als sie Narva, Pskov und Kiev besetzt hatten.52 Die dritte Delegation leitete nicht mehr Trockij. Er war am 23. Februar von Lenin durch ýiþerin ersetzt worden. Den „Diktatfrieden“, der vom 1. bis zum 3. März in Brest ausgearbeitet wurde, unterzeichnete Grigorij Jakovleviþ Sakol’nikov. Sowjetrussland verlor fast 30 % seiner Vorkriegsbevölkerung und 18 Gouvernements von Finnland über das Baltikum, Polen und die Ukraine hin bis zu Kaukasusregionen.53

46 Wheeler-Bennet, Brest-Litovsk, S. 107, 157, 215. 47 Winfried Baumgarten, Deutsche Ostpolitik 1918. Von Brest-Litowsk bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Wien 1966, S. 16. 48 Trotzki, Mein Leben, S. 325; Prinz Max von Baden, Erinnerungen und Dokumente, Stuttgart 1927, S. 187. 49 Baden, Erinnerungen und Dokumente, S. 203–204; Wheeler-Bennet, Brest-Litovsk, S. 226– 227; Trotzki, Mein Leben, S. 330. 50 Trotzki, Mein Leben, S. 327; Wheeler-Bennet, Brest-Litovsk, S. 154–155, 208. 51 Wheeler-Bennet, Brest-Litovsk, S. 220. 52 Debo, Revolution and Survival, S. 125–129. 53 Debo, Revolution and Survival, S. 148; Oþerki istorii MID Rossii, Band 3, Biografii ministrov inostrannych del, 1802–2002, Moskau 2002, S. 323.

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DELEGIERTE ALS ZEICHEN Brest-Litovsk, der Ort, an dem die beiden Delegationen am 22. Dezember 1917 zusammentrafen, war ein gespenstischer Ort im deutsch-russischen Niemandsland.54 Man traf sich im deutschen Hauptquartier Oberost, das die Brester Zitadelle bezogen hatte – eins der wenigen Gebäude, das noch stand. Als großer Konferenzsaal war der Theatersaal im Offizierskasino hergerichtet worden.55 „Eine solche Konferenz, wie sie dort in der Einöde des russisch-polnischen Winters kurz vor Weihnachten 1917 begann, hatte es noch nie gegeben, und so grotesk ungleiche Partner, wie sie dort zusammenkamen, hatte noch nie eine Friedenskonferenz versammelt gesehen.“56 Die Ortswahl war für die russische Seite bzw. Trockijs „Neo-Diplomatie“ doppelt problematisch: Die Deutschen traten von Anfang an als Gastgeber auf und maßten sich damit eine Rolle an, die ihnen nicht zustand.57 Trockij fürchtete außerdem, im Nirgendwo von Brest-Litovsk von der Weltöffentlichkeit nicht wahrgenommen zu werden. Für die Deutschen war es der richtige Ort, um unbeachtet im Konferenzraum mit den Bol’ševiki Fakten zu schaffen. Trockij dagegen hätte die Verhandlungen gern nach Stockholm verlegt, um auf neutralem Terrain und den Reportern der Weltpresse nahe zu sein.58 Tatsächlich urteilte Graf Ottokar Czernin, der österreich-ungarische Außenminister und Verhandlungsführer: „Die Verlegung der Konferenz nach Stockholm wäre unser Ende gewesen, denn es wäre ausgeschlossen, die Bolschewiki aller Länder von dort fernzuhalten, und das, was wir seit Anfang an mit aller Kraft zu verhindern suchen, dass uns die Zügel entwunden werden und diese Elemente die Führung übernehmen, wäre unvermeidlich eingetreten.“59

In Brest-Litovsk war weder „Volk“ noch Presse anwesend. Die von den Bol’ševiki propagierte Öffentlichkeit der Verhandlungen wurde hergestellt, indem sie jede Sitzung mit stenographieren ließen, um anschließend vollständige Sitzungsberichte zu veröffentlichen.60 Schon soweit lässt sich ablesen, dass beide Seiten auf sehr unterschiedliche Rahmenbedingungen Wert legten: Nach alter Tradition sorgte sich die deutsche Seite um das leibliche Wohlergehen der Diplomaten, da es sich mit sattem Bauch gelassener verhandelte61, während sich die russische Seite um die Öffentlichkeit sorgen machte, weil sie ein möglichst großes

54 Trotzki, Mein Leben, S. 318–319. 55 Richard von Kühlmann, Erinnerungen, Heidelberg 1948, S. 521. 56 Sebastian Haffner, Der Teufelspakt. Die deutsch-russischen Beziehungen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg, Zürich 41994, S. 24. 57 Trotzki, Mein Leben, S. 314. 58 Wheeler-Bennett, Brest-Litovsk, S. 156; A.A. Joffe, Brest-Litovsk. Vospominanija, in: Novyj mir, 1927, H. 6, S. 137–146, hier S. 140. 59 Ottokar Czernin, Im Weltkriege, Berlin 1919, S. 318–319. 60 Debo, Revolution and Survival, S. 40; Kühlmann, Erinnerungen, S. 523. 61 Vgl. zur Wirkung von Büfetts auf Friedenskongressen Hajo Holbom (Hg.), Aufzeichnungen und Erinnerungen aus dem Leben des Botschafters Joseph Maria von Radowitz, Bd. 2., 1878–1890, Berlin 1925, S. 39.

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Spektakel veranstalten wollte. Die einen erwarteten eine Arbeitskonferenz, die anderen eine Weltrevolution. Entsprechend war auf russischer Seite die Delegation zusammengestellt worden: Es reisten Revolutionäre, Arbeiter und Bauern an. Nicht nur, dass es keine professionellen Diplomaten mehr im Dienst gab, die Trockij hätte schicken können. Zusammen mit Lenin stellte er eine Delegation zusammen, die lediglich Zeichen-Charakter hatte. Von der ersten, 28-köpfigen Delegation, waren vier allein als „Dekor“ entsandt worden: Ein Matrose, ein Soldat, ein Bauer und ein Arbeiter sollten das gemeine Volk repräsentieren und deutlich machen, dass die Bol’ševiki mit der „Volksdiplomatie“ ernst machten. Dass es hier allein auf den Sozialstatus ankam, wird an der Anekdote über den Bauerndelegierten deutlich, der erst auf dem Weg zum Bahnhof rekrutiert wurde. Weil der Gesandtschaft noch ein „Bauer“ fehlte, sprachen sie einen Mann in Bauernkittel auf der Straße an, und nachdem er versichert hatte, er sei ein „linker Sozialrevolutionär“, nahmen sie ihn als Repräsentanten der russischen Bauernschaft mit.62 Die Klassenrepräsentanten waren nur einfache Delegationsmitglieder und Statisten, während die fünf Bevollmächtigten alle dem Allrussischen Zentralen Exekutivkomitee entstammten: A.A. Joffe als Vorsitzender, L.B. Kamenev, G.Ja. Sokol’nikov, S.D. Maslovskij und A.A. Bicenko. Weit schockierender und beeindruckender als den Arbeiter, Bauern und Matrosen empfanden allerdings die deutschen hochwohlgeborenen Herrschaften „Madame Bicenko“, die nicht nur dadurch Aufsehen erregte, dass eine Frau als Delegierte erschien63, sondern die sich dazu selbst als Mörderin einführte. Prinz Max von Baden bemerkte dazu in seinen Memoiren: „Mein Vetter Fürst Ernst Hohenlohe kam bei Tisch neben Madame Byzenko zu sitzen, die sich durch einen Ministermord qualifiziert hatte.“64 Deutlicher drückte Richard von Kühlmann, der deutsche Verhandlungsführer, sein Missfallen aus: „Die Moskowiter hatten, natürlich nur aus Propagandaabsicht, eine Frau zur Friedensdelegierten gemacht, die direkt aus Sibirien kam. Sie hatte einen bei der Linken unpopulären Generalgouverneur erschossen und war nach der milden zaristischen Praxis nicht hingerichtet, sondern zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden. Diese etwa wie eine ältere Haushälterin anzusehende Dame, Madame Bizenko, offenbar eine ziemlich geistlose Fanatikerin, erzählte dem Prinzen Leopold von Bayern beim Diner, […], aufs ausführlichste, wie sie den Anschlag ausgeführt hatte. Sie zeigte, eine Menükarte in der linken Hand haltend, wie sie den Generalgouverneur – ‚er war ein böser Mann‘, fügte sie erläuternd hinzu – eine umfangreiche Denkschrift überreicht und ihn gleichzeitig mit einem in der rechten Hand gehaltenen Revolver in den Bauch schoss. Prinz Leopold in seiner gewohnten freundlichen Höflichkeit hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu, als interessiere ihn der Bericht der Mörderin aufs lebhafteste.“65

62 D.G. Fokke, Na scene i za kulisami Brestskoj tragikomedii. Memuary uþastnika BrestLitovskich mirnych peregovorov, in: G.V. Gessen (Hg.), Archiv russkoj revoljucii, Bd. 20, Berlin 1930, Nachdruck in: Slavistic Printings and Reprintings 129/20, The Hague 1970, S. 5–207, hier S. 16–17. 63 Fokke, Na scene i za kulisami, S. 21. 64 Baden, Erinnerungen und Dokumente, S. 186. 65 Kühlmann, Erinnerungen, S. 530–531.

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Czernin entschied, Memoiren aus der Zeit der Französischen Revolution zu lesen, um diese Menschen besser zu verstehen: „Eine sehr zeitgemäße Lektüre in Anbetracht dessen, was in Russland ist und in ganz Europa kommen dürfte.“66 TRIUMPH DES ALTEN DIPLOMATISCHEN MITEINANDER Mit dem Machtantritt der Bol’ševiki war Diplomatie zu einem kulturellen Abenteuer geworden. Das musste die Seite des Vierbunds nur allzu deutlich spüren, die selbst aus Prinzen, Grafen, Aristokraten und hochdekorierten Offizieren bestand. Rein äußerlich hätte der Unterschied nicht eklatanter sein können: Am Konferenztisch saßen auf der einen Seite die schlecht gekleideten, leicht schmuddeligen russischen Revolutionsvertreter und ihnen gegenüber glänzten und blitzten Goldtressen, Orden und Abzeichen. Czernin schrieb: „Das Bild, welches dieses Diner bietet, ist wohl eines der merkwürdigsten, das man sehen kann. Prinz von Bayern präsidiert. Neben dem Prinzen saß der Führer der russischen Delegation, ein erst vor kurzem aus Sibirien entlassener Jude namens Joffe, an ihn schlossen sich die Generäle und die übrigen Delegierten.“67

Die neue Weltordnung zeigte sich auch darin, dass es keine einheitliche Konferenzsprache gab, sondern jede Nation auf ihrem eigenen Idiom bestand. Französisch und Englisch, die bislang dominierenden Sprachen der Diplomatie, spielten in Brest-Litovsk keine Rolle – abgesehen davon, dass die Mittelmächte unter sich nach wie vor Französisch sprachen.68 Der Vertrag wurde in fünf verschiedenen Sprachen ausgefertigt: deutsch, ungarisch, bulgarisch, türkisch und russisch.69 Weiter ist bemerkenswert, dass sich die Delegationen der Mittelmächte von den sonderbaren Erscheinungsformen der russischen Delegation nicht provozieren oder aus der Fassung bringen ließen. Weder Kühlmann noch Prinz von Baden verloren die Contenance, sondern blieben bei ihrer professionellen Höflichkeit, die sie einer Mörderin genauso wie der Zarin hätten zuteil werden lassen. „Es fehlte nicht an Komplimenten. Der bulgarische Justizminister Popow bescheinigte der russischen Delegation, dass sie das Rechtsgefühl des großen russischen Volkes verkörpere. Um diesem Gedanken Ausdruck zu verleihen, übergab sodann Popow […] den Vorsitz an den Führer der russischen Delegation Joffe. Hatti-Pascha entließ die russischen Herren mit den Worten, sie seien gute Diplomaten und gute Staatsmänner, und bezeugte ihnen, dass sie während der Verhandlungen viel Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit und viel praktischen Sinn gezeigt hätten.“70

Die alten Diplomaten gaben damit den Ton an – und die revolutionären Delegierten folgten ihnen. Offenbar war die russische Seite auf so viel professionelle Höflichkeit nicht vorbereitet bzw. hatte dieser „Waffe“ der Diplomatie nichts entge66 67 68 69 70

Czernin, Im Weltkriege, S. 310. Ebd., S. 303. Ebd., S. 317. Art. 13, The Peace of Brest-Litovsk, in: Wheeler-Bennett, Brest-Litovsk, S. 408. Baden, Erinnerungen und Dokumente, S. 189.

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gen zu setzen. Der bloße Fakt, dass sie Revolutionäre, Mörder und Ex-Häftlinge waren, brachte ihr Gegenüber nicht aus der Fassung, und eine Strategie einer „revolutionären Verhandlungsführung“ war nicht existent. Die Vertreter des Vierbunds servierten das Essen – und sie bestimmten den Ton. Mit Argwohn beobachteten Trockij und Lenin aus Petrograd, dass Joffe und seine Delegation sich von den Profi-Diplomaten umgarnen ließen und keine revolutionäre Rhetorik zur Anwendung brachten. Nicht nur richtete der Oberstkommandierende der Ostfront, Prinz Leopold von Bayern, zur Begrüßung der russischen Delegation ein Essen aus. Auch die täglichen Mahlzeiten wurden von deutschen Soldaten zubereitet und serviert.71 Die Speisen und Menüfolgen aber waren in Kriegs- und Revolutionszeiten durchaus geeignet, die russischen Delegierten zu beeindrucken: Hier gab es „Austern-Pastetchen“, „Gänsebraten mit Kartoffelsalat“ und „Eis in Gläsern mit Gebäck“, dazu Jahrgangsweine, Sekt, Obst und Kaffee.72 Das vertrauliche, ungezwungene Miteinander der beiden Delegationen sahen Lenin und Trockij als großes Problem an: „Zu Mittag und zu Abend aßen alle Delegationen gemeinsam. […] Die Deutschen setzten sich in gemischter Reihe mit den Unsrigen und waren bestrebt, ‚freundschaftlich‘ das, was sie brauchten, herauszuangeln. Zu der ersten russischen Delegation gehörten ein Arbeiter, ein Bauer und ein Soldat. Das waren zufällige Figuren, die solchen Intrigen nicht gewachsen waren. Den alten Bauern pflegte man beim Mittag sogar etwas betrunken zu machen.“73

Ihnen missfiel, dass sich Joffe in der Form der höflichen-herkömmlichen Sprache der Diplomatie anpasste und sein Verhandlungsstil keineswegs revolutionär war. Tatsächlich stammte Joffe aus einer bürgerlichen jüdischen Familie aus Simforopol’, hatte in Berlin und Wien Medizin studiert und zuletzt in Sibirien – dem Ort seiner Verbannung – als Arzt praktiziert. Trockij hatte ihn als einen seiner engsten Vertrauten, mit dem er einst in Wien die Pravda herausgegeben hatte, ins Außenamt geholt. 74 Ottokar Czernin urteilte: „Der Führer der russischen Delegation ist ein erst vor kurzem aus Sibirien entlassener Jude namens Joffe. Nach dem Essen hatte ich meine erste lange Unterredung mit dem Herrn Joffe. Seine ganze Theorie basiert darauf, das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf breitester Basis in der ganzen Welt einzuführen und diese befreiten Völker zu veranlassen, sich gegenseitig zu lieben. Ich machte ihn aufmerksam, dass wir eine Nachahmung der russischen Verhältnisse nicht unternehmen würden und uns jede Einmengung in unsere internen Verhältnisse kategorisch verbitten. Wenn er weiter an diesem utopischen Standpunkt, seine Ideen auch auf uns zu verpflanzen, festhalte, dann sei es besser, er würde gleich mit dem nächsten Zug wieder abreisen, denn dann sei der Friede nicht zu machen. Herr Joffe blickte mich erstaunt mit seinen sanften Augen an, schwieg eine Weile und sagte dann in einem mir für immer unvergesslichen freundlichen, fast möchte ich sagen bittenden Ton: ‚Ich hoffe doch, dass es uns gelingen wird, auch bei Ihnen die Revolution zu entfesseln.‘“

Hier wird sehr deutlich, dass Joffe seine revolutionären Forderungen in brave Konversation goss. Mit seinem Pince-nez und Straßenanzug mit Krawatte wirkte 71 72 73 74

Haffner, Teufelspakt, S. 24. Fokke, Na scene i za kulisami, S. 133. Trotzki, Mein Leben, S. 314. Nadežda Joffe, Moj otec Adol’f Abramoviþ Joffe, Moskau 1996, S. 29–33.

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er eher wie ein gutbürgerlicher Mann, der sich selbstverständlich den Gepflogenheiten der hohen Herrschaften anpasste. DIE SPRACHE DER SOLDATEN Mit der Abreise Joffes am 28. Dezember 1917 waren im Prinzip die Verhandlungen beendet: Zum einen war für die Bol’ševiki in den nur sieben gemeinsamen Tagen in Brest klar geworden, dass die deutsche Seite von ihren Gebietsforderungen nicht abrücken würde und damit eine einvernehmliche Einigung so gut wie ausgeschlossen war. Zum anderen war Lenin und Trockij deutlich geworden, dass Joffe der falsche Mann für Brest war. Er spielte das Spiel der alten Diplomaten mit. Sie aber wollten einen Spielverderber nach Brest schicken, der, wenn schon auf der inhaltlichen Ebene nichts mehr zu gewinnen war, wenigstens auf der Ebene der diplomatischen Formen und Codes die alten Diplomaten aufschreckte und ihre saturierte Welt durcheinander wirbelte. Trockij wurde nicht zum Verhandeln nach Brest geschickt, sondern um den Mittelmächten eine Lektion in Sachen revolutionärer Diplomatie zu erteilen. Tatsächlich ging es nun nicht mehr um das Resultat der Verhandlungen, sondern einzig darum, die Welt aufzurütteln und die proletarischen Massen zur Revolution zu rufen. „‚Für die Verschleppung der Verhandlungen ist ein Verschlepper nötig‘, sagte Lenin. Auf sein Drängen hin begab ich mich nach Brest-Litowsk“,

schreibt Trockij.75 Auch der ausgewechselte Joffe befand: „Für die Revolutionierung der Massen war es nötig, die Verhandlungen maximal in die Länge zu ziehen und sie mit besonderer Polemik und dialektischer Meisterschaft zu führen. Zu diesem Zwecke wurde an die Spitze der sowjetischen Delegation L.D. Trotzki gestellt, und Brest-Litovsk wurde zur Arena eines Wortgefechts um Scharfsinn und Spitzfindigkeit, in dem, wie sogar unsere Gegner (später) zugeben mussten, ‚niemand auch nur annähernd Trotzki das Wasser reichen konnte‘ […].“76

Tatsächlich schrieb Czernin über Trockij: „Trotzki ist zweifellos ein interessanter, gescheiter Mensch und sehr gefährlicher Gegner. Er hat eine ganz hervorragende Rednergabe, eine Schnelligkeit und Geschicklichkeit der Replik, wie ich sie noch selten gesehen habe, und dabei die ganze Frechheit, die seiner Rasse entspricht.“77

Allerdings war diese „Frechheit“ weniger der „Rasse“ geschuldet als der revolutionären Diplomatie, die Trockij verfolgte. Er hatte 1914 beschrieben, was er jetzt anwenden konnte:

75 Trotzki, Mein Leben, S. 314. 76 Joffe, Brest-Litovsk, S. 141. 77 Czernin, Im Weltkriege, S. 319.

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Schon sein Äußeres unterschied sich vom bürgerlichen Joffe, wie es der deutsche Verhandlungsführer Kühlmann beschrieb: „Er war aus ganz anderem Holz geschnitten als Joffe. Sein scharf geschnittenes, sehr charakteristisch jüdisches Gesicht war durch das Spiel sämtlicher Muskeln in fortwährender Bewegung. Die nicht sehr großen, scharfen und stechenden Augen hinter scharfen Brillengläsern sahen sein Gegenüber andauernd durchdringend und kritisch an. Sein Gesichtsausdruck verriet deutlich, dass er am liebsten den ganzen, ihm höchst unsympathischen Verhandlungen durch ein paar Handgranaten über den grünen Tisch hinüber ein rasches und gründliches Ende bereitet hätte […].“79

Die Attribute „scharf“ und „stechend“ machen deutlich, dass sich dieser Mann gegen den freundlich-sanften Joffe abhob und einen Typ Mensch verkörperte, der normalerweise nicht in Konferenzzimmern anzutreffen war. Tatsächlich wählte Trockij vom Tag seiner Ankunft in Brest am 7. Januar 1918 an eine neue Sprache, die die alten Codes des freundlichen Miteinander unterlief und in eine klare Konfrontation überführte. Zunächst verweigerte er den Antrittsbesuch beim deutschen Oberkommandierenden: „In der Eigenschaft des Vorsitzenden der Sowjetdelegation beschloss ich, die familiären Beziehungen schroff abzubrechen, […]. Durch unsere Militärs gab ich zu verstehen, dass ich nicht die Absicht hätte, mich dem bayerischen Prinzen vorzustellen. Das wurde zur Kenntnis genommen.“80

Alsbald verfügte er ein Ende der gemeinsamen Mahlzeiten: „Trotzki bat, dass die Delegation in ihren Quartieren verpflegt werde und verbot im Übrigen jeden privaten Verkehr und jede Unterhaltung.“81

Um sich nicht korrumpierbar zu machen, verbot er schließlich seiner Delegation, weiterhin die von den Deutschen zur Verfügung gestellten Automobile für Spazierfahrten zu nutzen.82 Der österreichische Verhandlungsführer Czernin notierte in sein Tagebuch: „Am Vormittag sind die ganzen Russen unter Führung Trotzkis angekommen. Sie haben sofort sagen lassen, sie bitten zu entschuldigen, wenn sie nicht mehr zu den gemeinsamen Mahlzeiten erscheinen. Auch sonst sieht man sie nicht, und es scheint ein wesentlich anderer Wind zu wehen als das letzte Mal.“83

Wenn es keine Koketterie ist und man Trockij glauben will, dann war ihm der Umgang mit den Profi-Diplomaten keineswegs geheuer:

78 79 80 81

Leo Trotzki, Der Krieg und die Internationale. Kühlmann, Erinnerungen, S. 530. Trotzki, Mein Leben, S. 316. Karl Friedrich Nowak (Hg.), Die Aufzeichnungen des Generalmajors Max Hoffmann, Bd. 2, Berlin 1930, S. 207. 82 Czernin, Im Weltkriege, S. 321. 83 Ebd., S. 316.

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„Ich gestehe, ich fuhr hin wie zu einer Folter. Das Milieu fremder und ferner Menschen hat mich stets geschreckt, hier ganz besonders. Ich kann jene Revolutionäre absolut nicht verstehen, die gern Botschafter werden und im neuen Milieu wie ein Fisch im Bassin schwimmen.“84

Vielleicht war auch er sich nicht sicher, ob nicht auch er nolens volens der Macht der Sprache der Diplomatie erliegen würde. Jedenfalls zeigte sich Trockij erleichtert und auch hämisch darüber, wie „primitiv“ und durchschaubar die Diplomaten gewesen seien. „Mit diesem Kreis Menschen kam ich hier zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht zusammen. Es ist unnötig zu sagen, dass ich mir auch früher keine Illusionen in Bezug auf sie gemacht hatte. Ich vermutete längst, dass es nicht Götter sind, die die Töpfe brennen. Aber immerhin, ich gebe zu, ich hatte mir das Niveau höher vorgestellt. Den Eindruck der ersten Begegnung könnte ich mit den Worten formulieren: Diese Menschen schätzen die anderen sehr billig ein, aber auch sich selbst nicht sehr teuer.“85

Als äußerst plump empfand er den Versuch des deutschen Verhandlungsführers Kühlmann, ihm zu schmeicheln: „Er stellte sich selbst vor und fügte dabei gleich hinzu, dass er ‚sehr froh‘ sei über meine Ankunft; denn es sei besser, mit dem Herrn als mit dessen Abgesandten zu tun zu haben. Sein Mienenspiel bewies, wie zufrieden er mit diesem ‚feinen‘, auf die Psychologie eines Parvenüs berechneten Schachzug war. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich in Schmutz getreten. Ich zuckte sogar unwillkürlich einen Schritt zurück. Kühlmann begriff seinen Fauxpas, er gab sich einen Ruck und wurde sofort trockener. […] In der Wiedergabe von Lobhudelein an eine bestimmte Adresse erwiesen die Diplomaten ohne Zweifel einander Dienste. Flattez, flattez, il en restera toujours quelque chose.“86

Trockij lehnte die schmeichelnde Sprache der Diplomaten ab und ersetzte sie durch eine „Sprache der Soldaten“, wie er es selbst nannte: direkt, klar, ohne Umschweife, zuweilen brutal. Ihm fiel es leichter, mit dem Vertreter der Obersten Heeresleitung Hoffmann zu sprechen, der ein alter Haudegen war und zudem fließend russisch las, als mit den feinsinnigen Diplomaten Kühlmann und Czernin. Trockij schreibt, während Hoffmann eine klare Sprache der Fakten gesprochen und sich dabei immer auf die Kriegskarte bezogen habe, wäre Kühlmann immer bemüht gewesen, noch den Schein irgendwelcher „edler Prinzipien“ zu wahren. „Um die Bedeutung der Hoffmannschen Erklärungen abzuschwächen, sagte Kühlmann einmal, der Soldat sei gezwungen, sich kräftiger auszudrücken als der Diplomat. Ich antwortete: ‚Wir, Mitglieder der russischen Delegation, gehören nicht zur diplomatischen Schule, sondern wir können eher als Soldaten der Revolution gelten und zögen deshalb die grobe Sprache der Soldaten vor. […] Wir sind Revolutionäre‘, erklärte ich Kühlmann, ‚aber auch Realpolitiker, und wir ziehen es vor, offen von Annexionen zu sprechen, als den wahren Namen durch ein Pseudonym zu ersetzen.‘“87

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Trotzki, Mein Leben, S. 314. Ebd., S. 317. Ebd. Ebd., S. 323.

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Hoffmann sei ihm auf eine bestimmte Art sehr sympathisch gewesen – offenbar war jedenfalls die Zeichensprache gleich: So, wie sie ihre Worte lieber schlicht und direkt wählten, hielten sie es auch mit ihrer Kleidung: „General Hoffmann […] brachte eine erfrischende Note in die Verhandlungen hinein. Ohne jegliche Sympathie für diplomatische List, legte der General einige Male seine Soldatenstiefel auf den Tisch, um den herum sich die Debatten entwickelten. Wir unsererseits zweifelten keinen Augenblick daran, dass gerade der Stiefel des Generals Hoffmann die einzige ernste Realität bei diesen Verhandlungen darstellte.“88

Hoffmann hat seinerseits in seinen Memoiren festgehalten, dass er eine klare Sprache bevorzugte und er es gewesen sei, der durchgesetzt hätte, der russischen Delegation unmissverständlich zu sagen, dass der Verzicht auf gewaltsame Annexionen keineswegs bedeute, dass sich die deutschen Truppen hinter die Grenzen von 1914 zurückziehen würden.89 Er hegte keine Sympathie für Trockij, war aber eindeutig von ihm beeindruckt: „Trotzki war unzweifelhaft die interessanteste Persönlichkeit der neuen russischen Regierung: klug, vielseitig gebildet, von großer Energie und Arbeitskraft und Redegewandtheit machte er den Eindruck eines Mannes, der genau weiß, was er will und vor keinem Mittel zurückschreckt, das gewollte Ziel zu erreichen.“90

Dem Freund der klaren Worte Hoffmann überließ Kühlmann nur dann das Wort, wenn er selbst mit seinem Diplomaten-Latein am Ende war und ob Trockijs Frechheiten nur noch mit Mühe Contenance bewahren konnte.91 Tatsächlich hatte Hoffmann von General Ludendorff den Auftrag, „die Verhandlungen abzukürzen und in reale Bahnen zu leiten“.92 Während Kühlmann und Czernin taktierten und die Balance zwischen ihren Regierungen einerseits und den Militärs andererseits zu halten hatten93 sowie den Bol’ševiki so viel Territorium wie möglich abhandeln wollten, dabei aber als Völkerbefreier dazustehen versuchten, hielt Hoffmann von soviel Kalkül wenig und wollte, wie Ludendorff es andeutete und Trockij befürchtete, lieber „Soldatenstiefel“ sprechen lassen. DIPLOMATIE ALS PROPAGANDASCHLACHT Während Trockij also mit Hoffmann „Soldatensprache“ sprach – wenn Kühlmann Letzteren ließ –, „begann nun der mehrere Wochen dauernde, zu nichts führende Redekampf zwischen Trockij und Kühlmann“.94 Was sich in Brest-Litovsk entspann, war weit entfernt von traditionellen Friedensverhandlungen; Gegenstand der Diskussionen waren nicht ökonomische, strategische oder territoriale Interes88 89 90 91 92 93 94

Ebd., Mein Leben, S. 322. Nowak (Hg.), Aufzeichnungen des Generalmajors, S. 201. Ebd., S. 206. Ebd., S. 209. Ebd., S. 210. Kühlmann, Erinnerungen, S. 524. Nowak (Hg.), Aufzeichnungen des Generalmajors, S. 208.

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sen. Es fand ein rein ideeller, wenn auch überhaupt nicht selbstloser, Streit darüber statt, wer sich das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf die Fahnen schreiben dürfte. Trockij hielt „Reden für ganz Europa“, so Czernin95, und Hoffmann urteilte: „Erst allmählich wurde es allen Beteiligten klar, dass der Hauptzweck, den Trotzki verfolgte, die Verkündigung der bolschewistischen Lehre sei, dass er nur zum Fenster hinaus sprach, irgendeinen Wert auf sachliche Arbeit aber nicht legte. Hand in Hand mit seinen Reden gingen Funksprüche an ‚alle‘, die zum Umsturz, zu Ungehorsam, zur Ermordung der Offiziere aufforderten.“96

Kühlmann erklärt in seinen Erinnerungen, er habe sich von vornherein auf eine propagandistische Auseinandersetzung mit Trotzki eingestellt. Das aber hieße, dass beide Seiten weniger zum Verhandeln als zum Kampf der Weltanschauungen angetreten wären. „In einer bis zur Heftigkeit gesteigerten Rede erklärte er [Trotzki] uns, wir spielten ein falsches Spiel, wir wollten Annexionen und gäben diesen Annexionen den Mantel des Selbstbestimmungsrechtes“,

so Czernin.97 Eben dieses „falsche Spiel“ wollte auch Kühlmann den Bol’ševiki nachweisen. Wenn schon jede Sitzung mit stenographiert und in alle Welt getragen wurde, dann wollte auch er diese Plattform nutzen: „Der Bolschewismus war für die Welt als Ganzes eine neue Lehre, die von vielen mit Interesse, von manchen vielleicht nicht ohne Sympathie begrüßt wurde, denn die Bolschewiken haben es von der ersten Stunde ihrer Machtergreifung an verstanden, eine höchst gräuelvolle Wirklichkeit mit wohlklingenden Phrasen zu verschleiern. […] Ich betrachtete es als einen großen Diskussionstriumph, als mir Trotzki in öffentlicher Sitzung zugeben musste, der Bolschewismus beruhe auf keinerlei demokratischen Prinzip, sondern auf der Macht der Waffen.“98

Folgt man Kühlmann, dann war ihm durchaus bewusst, dass in Brest mit Trockij auf zwei Ebenen gleichzeitig verhandelt wurde: Einerseits ging es um eine Einigung am Konferenztisch, andererseits ließ er sich auf eine Propagandaschlacht in der Weltöffentlichkeit ein: Bolschewismus gegen Kapitalismus, Völkerschinder versus Völkermessias. Für Kühlmann waren beide Ebenen entscheidend, weil er auf eine Verhandlungslösung hoffte, die Deutschland Gebietszuwächse bescheren würde, die als Ausdruck des freien Völkerwillens erscheinen sollten. Er war daher sehr bemüht, sich nicht in der Rolle des gewalttätigen Aggressors zu zeigen, in der Trockij ihn gern gesehen hätte: „Trotzkis einziger Wunsch war, ich sollte in Brest-Litowsk diktatorisch auftreten, mit der Faust auf den Tisch schlagen und auf die Kriegskarte hinweisen. Ich tat ihm den Gefallen

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Czernin, Im Weltkriege, S. 319. Nowak (Hg.), Aufzeichnungen des Generalmajors, S. 208. Czernin, Im Weltkriege, S. 320. Kühlmann, Erinnerungen, S. 523–524.

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Susanne Schattenberg nicht, denn das hätte ihm gefährliche Waffen geliefert, um mir im Rücken in Deutschland die Linksparteien auf den Hals zu hetzen.“99

Kühlmann schreibt: „Mein Plan war, Trotzki in eine rein akademische Diskussion über das Selbstbestimmungsrecht der Völker und seine mögliche praktische Anwendung zu verstricken […]. Dass Trotzki diese meine Verhandlungsart als höchst peinlich empfand, geht schon daraus hervor, dass er mir später, als die Dinge zur Entscheidung drängten, durch einen seiner Vertrauten sagen ließ, ich möchte doch diese furchtbare Quälerei beenden und einfach die deutschen Forderungen bekannt geben.“100

Czernin bestätigt, dass Kühlmann so manch einen Punktsieg holte. Denn der Forderung Trockijs, Vertreter Polens, Kurlands und Litauens nach Brest zu laden, damit sie für sich selbst sprächen, stimmte der Vierbund unter der Bedingung sofort zu, dass dann deren Meinung maßgeblich sein müsse. „Es ist charakteristisch, zu beobachten, wie gerne Trotzki das zurückgenommen hätte, was er gesagt.“101

Ganz anders sah es Max von Baden: Kühlmanns Kalkül sei nicht aufgegangen; im Gegenteil sei er der Neo-Diplomatie Trockijs nicht gewachsen gewesen. „Am 28. Dezember 1917 begingen wir den nicht wieder gutzumachenden Fehler: Wir erweckten vor der ganzen Welt und vor den deutschen Massen den Eindruck, als ob im Gegensatz zu dem russischen Verhalten unsere Zustimmung zu dem Selbstbestimmungsrecht der Völker unaufrichtig war und Annexionsabsichten dahinter lauerten. Wir lehnten die russische Forderung nach freier und ungehemmter Volksabstimmung in den besetzten Gebieten mit der Begründung ab: die Kurländer, Litauer, Polen hätten bereits über sich selbst bestimmt. Niemals durften wir die willkürlich eingesetzten oder erweiterten Landesräte als berufene Volksvertretung ansprechen.“102

Trockij habe es geschafft, die Deutschen in der Weltöffentlichkeit als Unterdrücker der Völker dastehen zu lassen: „Wir durften den Russen nicht anders gegenübertreten als in kühler, geschäftsmäßiger Haltung, jederzeit bereit, zum Angriff gegen den Weltbeglücker Trotzki überzugehen, dessen erklärtes Ziel die Revolutionierung der deutschen Massen war. Wir aber begegneten den Russen mit einer beflissenen Höflichkeit, die es uns im gegebenen Augenblick erschwerte, die Rolle des moralischen Anklägers zu übernehmen. Die deutsche Diplomatie hat tatsächlich Trotzkis Prestige vor seinem Volke, vor den alliierten Völkern und vor den deutschen Massen befestigt.“103

Trockij tat dies, indem er auch Freiheit für die deutschen Kolonien forderte, was Kühlmann mit dem Argument abwehrte, über die Befreiung der Kolonien müsste mit den Alliierten zusammen entschieden werden.104 Dies war eine weitere Steilvorlage für Trockij, der sich nun quasi im Namen der Deutschen an die Alliierten 99 100 101 102 103 104

Ebd., S. 524. Ebd., S. 524–525. Czernin, Im Weltkriege, S. 321. Baden, Erinnerungen und Dokumente, S. 191. Ebd., S. 189. Ebd., S. 187; Trotzki, Mein Leben, S. 325.

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wandte, um diese zum Einstieg in die Verhandlungen zu bewegen. Max von Baden erregte sich, dass die deutsche Seite Trockij immer wieder die Möglichkeit gegeben hätte, sich als Vertreter der „Sache der Menschheit“ aufzuspielen: „[…] die undurchsichtigen Methoden, mit denen unsere Verhandlungen geführt wurden, brachten es fertig, Deutschland als Feind und Russland als Beschützer der kleinen Nationen vor die Welt hinzustellen. Trotzki, Lloyd George und Wilson eilten, die Blöße auszunützen, die wir uns gegeben hatten.“105

Tatsächlich kam die anti-deutsche Propaganda Trockijs den Kriegsgegnern Deutschlands sehr gelegen, die eine düstere Zukunft für Belgien und ElsaßLothringen unter deutscher Knute entwarfen.106 Der US-Präsident verstieg sich zu der Huldigung: „Die Russen haben sich geweigert, um der eignen Sicherheit willen andere im Stich zu lassen.“107

Es war ein – für Max von Baden – unerträglicher Triumph der Bol’ševiki, dass sie den public-relation-Kampf gewonnen und sich erfolgreich als Schützer der Völkerrechte, Deutschland aber als knechtende Kolonialmacht dargestellt hatten. Die Neo-Diplomatie hatte über die traditionelle Diplomatie im Konferenzzimmer gesiegt. COUP-DE-THÉÂTRE Zunächst schien es tatsächlich, als habe Trockij auf ganzer Linie gesiegt. Als er am 10. Februar den Vertretern des Vierbunds sein „Weder Krieg noch Frieden“ verkündete, waren diese wie vom Donner gerührt. „Sprachlos saß der ganze Kongress nach Abgabe von Trotzkis Erklärung. Die Verblüffung war allgemein.“108 Kühlmann fiel nur eine juristische Antwort ein: „dass der durch die Trotzkische Mitteilung entstandene Zustand völkerrechtlich nicht existiere. Eine Tür könne nur offen oder geschlossen sein“.109 Es war nicht nur das Überraschungsmoment, sondern auch die tollkühne Dreistigkeit und Unverfrorenheit, die in der Geschichte ihresgleichen suchte. Johannes Kriege, Leiter der Rechtsabteilung im Außenamt, war so konsterniert, dass ihm nur einfiel, im Archiv nach historischen Präzedenzfällen dieser Art Verweigerung zu suchen; er fand aber nur einen einzigen derartigen Fall in der Antike.110 Für einen Moment erschien es, als würde Trockijs Kalkül aufgehen und der Vierbund die Kriegshandlungen nicht wieder aufnehmen. Diese Option wurde aber schnell v.a. auf Drängen der Obersten Heeresleitung verworfen, und am 18. Februar begann die Operation „Faustschläge“, die tief 105 106 107 108 109 110

Baden, Erinnerungen und Dokumente, S. 193. Baden, Erinnerungen und Dokumente, S. 196. Ebd. S. 197–198. Nowak (Hg.), Aufzeichnungen des Generalmajors, S. 214. Kühlmann, Erinnerungen, S. 545. Debo, Survival and Revolution, S. 113.

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Susanne Schattenberg

und nahezu ohne auf Widerstand zu treffen ins Landesinnere des ehemaligen Zarenreichs vordrang und die Fakten schuf, die in der dritten Verhandlungsrunde am 3. März in Brest von den Bol’ševiki anerkannt wurden.111 Trockij hatte auch diesen Ausgang in sein Propagandaprojekt einkalkuliert: „Wir unterschreiben den Frieden unter den Bajonetten. Das Bild wird der ganzen Welt klar sein.“112 Auch Max von Baden war der Meinung, dass der Sieg auf der Propaganda-Ebene Trockij gehörte: „Er verließ als Märtyrer des Selbstbestimmungsrechts BrestLitwosk, wir als Vergewaltiger der kleinen Nationen.“113 Lenin allerdings, der von vornherein das Wagnis für zu groß gehalten und für die Annahme des deutschen Ultimatums plädiert hatte, hielt die Trockijsche Neo-Diplomatie für einen Fehler, wenn nicht für existenzgefährdend. Kaum hatten die Deutschen ihren Vormarsch begonnen, ersetzte er Trockij durch ýiþerin. Brest-Litovsk war ein Experiment, ein Laboratorium der Neo-Diplomatie mit Trockij als virtuosem Zauberlehrling, dem Lenin anschließend das Handwerk legte. Brest-Litovsk war der Urknall der sowjetischen Diplomatie, der das ganze Repertoire des Drohens, Verschleppens, vor den Kopf Stoßens hervorbrachte, das später je nach Bedarf mit Elementen der alten Diplomatie kombiniert wurde. Es kann also festgehalten werden, dass eine revolutionäre Politik nicht automatisch eine revolutionäre Diplomatie nach sich zieht, sondern sich auch Revolutionäre, Diktatoren oder totalitäre Staaten sehr unterschiedlicher Formen von Diplomatie bedienen können. Die Entwicklung der sowjetischen Diplomatie war keineswegs geradlinig, aber es lässt sich die These wagen, dass die vollkommene Abkehr von der herkömmlichen Diplomatie im November 1917 binnen nur zwei Monaten eben so radikal zurückgenommen wurde. Erst nach zwei Jahrzehnten wurde mit Molotov im Mai 1939 wieder ein Außenminister berufen, der seinen westlichen Kollegen in seinen Umgangsformen ähnlich fremd war wie einst Trockij.114 Molotov war nicht der scharfzüngige Propagandist wie Trockij, sondern präsentierte sich als stoischer Bürokrat.115 Er wollte die Diplomatie nicht mehr abschaffen, aber er war der Überzeugung, dass die bolschewistische Politik die beste Ausbildung in Diplomatie sei.116 Während die westliche Diplomatie nur eine Norm kannte, war die sowjetische Diplomatie wesentlich vielfältiger, flexibler und speiste sich je nach Bedarf und je nach Charakter aus sehr unterschiedlichen Sprachcodes und Verhaltensrepertoires. Der Westen akzeptierte nur den eigenen Standard, die sowjetischen Diplomaten dagegen waren Meister der Abweichungen.

111 Ebd., S. 125; Nowak (Hg.), Aufzeichnungen des Generalmajors, S. 215; Kühlmann, Erinnerungen, S. 548. 112 Trotzki, Mein Leben, S. 332. 113 Baden, Erinnerungen und Dokumente, S. 204. 114 Strang, Home and Abroad, S. 165. 115 Roetter, The Diplomatic Art, S. 108; E.L. Woodward et al. (Hg.), Documents on British Foreign Policy 1919–1939, 3rd Series, Vol. V, London 1952, S. 722; Hans von Herwarth, Zwischen Hitler und Stalin. Erlebte Zeitgeschichte 1931–1945, Frankfurt am Main 1989, S. 163 116 Simon Sebag Montefiore, Stalin. Am Hof des Roten Zaren, Frankfurt am Main 2006, S. 344.

DER WAHLSIEG DER SUDETENDEUTSCHEN PARTEI 1935 UND DIE MACHT DER DISKURSE Dietmar Neutatz 1. PROBLEMSTELLUNG Am 19. Mai 1935 fanden in der Tschechoslowakei Parlamentswahlen statt. Die Sudetendeutsche Partei unter ihrem Vorsitzenden Konrad Henlein, die zum ersten Mal bei einer Wahl antrat, erhielt auf Anhieb 1,25 Millionen Stimmen. Mehr als 60 % der Sudetendeutschen hatten sie gewählt. Damit wurde die Henleinpartei, knapp vor den tschechischen Agrariern, zur stärksten politischen Kraft der Tschechoslowakei. Dieser Erdrutschsieg markierte einen Wendepunkt. Die bis dahin unter den Sudetendeutschen dominierenden Parteien (Deutsche christlichsoziale Volkspartei, Bund der Landwirte, Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei) büßten gegenüber den Wahlen von 1929 bis zur Hälfte ihrer Stimmen ein.1 Die Sudetendeutsche Partei wurde bereits damals von vielen Zeitgenossen als nationalsozialistisch eingestuft, bekannte sich drei Jahre später offen zum Nationalsozialismus und zum Anschluss an Deutschland und stellte sich 1938 Hitler als Instrument bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei zur Verfügung. Dabei hatte es in den zwanziger Jahren so ausgesehen, als könnten sich die etwa dreieinhalb Millionen Sudetendeutschen in der Ersten Tschechoslowakischen Republik arrangieren. Ihre politischen Vertreter hatten zwar bei der Gründung der Tschechoslowakei unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker gegen die Einbeziehung ihrer Siedlungsgebiete in den neuen Staat protestiert, sich aber in den zwanziger Jahren mehrheitlich damit abgefunden, was ab 1926 in der Regierungsbeteiligung sudetendeutscher Parteien zum Ausdruck kam. Zunächst traten die Deutsche christlichsoziale Volkspartei und der Bund der Landwirte in die Regierung ein, 1929 auch die Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Diesen sog. „aktivistischen“ standen die „negativistischen“, nämlich die Deutsche Nationalpartei und die Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei (DNSAP), gegenüber, die eine Mitarbeit im Staat ablehnten. Bis zu Beginn der dreißiger Jahre dominierten die aktivistischen Parteien. Bei den Parlamentswahlen 1929 hatten sie zusammen etwa 75 % der deutschen Stimmen erhalten.2

1 2

Ronald M. Smelser, Das Sudetenproblem und das Dritte Reich 1933–1938: Von der Volkstumspolitik zur Nationalsozialistischen Außenpolitik, München 1980, S. 110. Vgl. Fritz Peter Habel, Die Sudetendeutschen, München 1992, S. 41.

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Die völkisch-rechten Parteien waren demgegenüber in den zwanziger Jahren in der Wählergunst deutlich abgeschlagen gewesen. Bei der DNSAP handelte es sich ursprünglich nicht um einen Zweig der reichsdeutschen NSDAP, sondern um eine selbständige Partei mit eigenen Traditionen. Sie war 1918 aus der 1904 gegründeten Deutschen Arbeiterpartei entstanden, hatte anfangs einen demokratischen Charakter und dehnte sich im Laufe der zwanziger Jahre auf kleinbürgerlich-mittelständische Bevölkerungsschichten aus.3 Die Partei erfuhr im Zuge der Weltwirtschaftskrise großen Zuspruch. Ihre Mitgliederzahl stieg 1930–1932 von 30 000 auf 100 000. Damit verbunden war ein Rechtsruck, der die Partei der reichsdeutschen NSDAP zunehmend ähnlicher machte. Sie wandelte sich von einer völkischen Arbeiterpartei zu einer nationalsozialistischen Bewegung, mit dem typischen Dualismus von etablierter Partei und massenmobilisierenden Formationen: In Nachahmung der SA gründete man eine paramilitärische Organisation namens „Volkssport“ sowie einen Nationalsozialistischen Jugendverband und den Deutschen Nationalsozialistischen Studentenbund. Die drei Verbände verzeichneten seit 1930 enormen Zulauf.4 Der Volkssportverband wuchs bis 1932 auf 40 000 Mitglieder, wurde 1932/33 Gegenstand eines Prozesses und zusammen mit den beiden anderen Organisationen der DNSAP verboten. Letztlich drohte der Partei selbst das Verbot. Die DNSAP kam dem Verbot zuvor und löste sich Anfang Oktober 1933 auf. Ihrem Beispiel folgte die Deutsche Nationalpartei.5 Einen Tag zuvor hatte Konrad Henlein, der bis dahin in keiner Partei aktiv gewesen war, sich aber als Führer des Deutschen Turnverbandes profiliert hatte, zur Gründung einer „Sudetendeutschen Heimatfront“ aufgerufen. Die zeitliche Übereinstimmung legt den Schluss nahe, dass es sich bei der Sudetendeutschen Heimatfront um ein Auffangbecken für die aufgelösten Parteien handelte. Die Verhältnisse liegen aber komplizierter. Die Sudetendeutsche Heimatfront stand in der Tradition des völkisch ausgerichteten Turnverbandes und des sogenannten „Kameradschaftsbundes“, einer elitären, am Gedankengut des österreichischen Ständestaatstheoretikers Othmar Spann orientierten, Gruppierung. Sie war von Henlein als eine nationale Sammlungsbewegung konzipiert und sollte als etwas qualitativ Neues an die Stelle der bisherigen Parteienvielfalt treten. Dennoch kann man sagen, dass sie das durch den Wegfall der beiden Parteien im rechten Lager entstandene Vakuum füllte und viele ehemalige Mitglieder und Wähler der DNSAP und der Deutschen Nationalpartei um sich scharte.6 Inwieweit Henleins Bewegung, die 1935 in Sudetendeutsche Partei umbenannt werden musste, um an den Wahlen teilnehmen zu dürfen, schon seit ihrer Gründung einen nationalsozialistischen Charakter hatte und Henleins Beteuerun-

3 4 5 6

Klaus Sator, Anpassung ohne Erfolg. Die Sudetendeutsche Arbeiterbewegung und der Aufstieg Hitlers und Henleins 1930–1938, Darmstadt 1996, S. 121. Andreas Luh, Die Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei im Sudetenland: völkische Arbeiterpartei und faschistische Bewegung, in: Bohemia, 1991, 32, S. 23–38, hier S. 23, 29– 32. Smelser, Sudetenproblem, S. 48–52. Ebd., S. 56–60.

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gen, demokratisch und staatstreu zu sein, nur Tarnung waren, ist umstritten.7 Als irredentistische „fünfte Kolonne“ Hitlers kann die Partei sicherlich nicht von Beginn an bezeichnet werden, wohl aber gab es unter ihren Mitgliedern zahlreiche ehemalige (und künftige) Nationalsozialisten.8 Mindestens ebenso interessant wie diese schon erschöpfend hin und her gewendete Frage erscheint die nach den Gründen für den Wahlerfolg von 1935: Warum und wie gelang es Henlein, seine neugegründete Bewegung als die Sammlungspartei mit Alleinvertretungsanspruch durchzusetzen? Warum erlebten die etablierten Parteien einen derart dramatischen Absturz? Die bisherige Forschung hat diesbezüglich vor allem politik-, wirtschafts- und sozialgeschichtlich argumentiert. Wenig Berücksichtigung haben kulturgeschichtlich-diskursive Faktoren gefunden. Das gilt nicht nur für das Schlüsseljahr 1935, sondern generell für die Problematik der Deutschen in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Wir wissen zwar Bescheid über die Richtungskämpfe innerhalb der Sudetendeutschen Partei, über die Politik der anderen Parteien und über die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, aber über alltagsgeschichtliche und lebensweltliche Aspekte, sowie darüber, wie die sudetendeutsche Bevölkerung die Umorientierung mental vollzog, ist wenig Stichhaltiges bekannt. Wie ergiebig die Frage nach dem subjektiven Erleben durch die Zeitgenossen und die damit verbundenen Meinungsbildungsprozesse unter der Bevölkerung sein kann, hat jüngst eine auf lokalem Archivmaterial fußende Studie zu einem anderen Schlüsseljahr – 1938 – eindrücklich bewiesen.9 Für 1935 liegt keine vergleichbare Untersuchung vor.10 Über die Wirkung der Wahlpropaganda und der beständigen Beeinflussung durch Zeitungen, Zeitschriften und andere meinungsbildende Faktoren ist nichts über Mutmaßungen Hinausgehendes bekannt.11 Im Rahmen des vorliegenden Beitrags soll auf der Grundlage publizierten Materials exemplarisch eine Fragestellung herausgegriffen werden, nämlich die nach der Macht der Diskurse. Es soll gezeigt werden, dass der Wahlsieg Henleins diskursiv schon in der Art und Weise angelegt war, wie die deut7

Vgl. Smelser, Sudetenproblem, S. 94–108. Vgl. Christoph Boyer / Jaroslav Kuþera, Alte Argumente im neuen Licht, in: Bohemia, 1997, 38, S. 358–368, hier S. 273, 358. Vgl. Smelser, Sudetenproblem; Václav Kural, Zwischen Othmar Spann und Adolf Hitler, in: Bohemia, 1997, 38, S. 371–376, Ralf Gebel, Zwischen Volkstumskampf und Nationalsozialismus, in: Bohemia, 1997, 38, S. 376–385. Vgl. Jens-Hagen Eschenbächer, Zwischen Schutzbedürftigkeit und Alleinvertretungsanspruch: Die Beziehungen der Sudetendeutschen Heimatfront zu den traditionellen bürgerlichen deutschen Parteien in der Tschechoslowakei 1933–1935, in: Bohemia, 1998, 39, S. 323–350. 8 Vgl. Volker Zimmermann, Die Sudetendeutschen im NS-Staat. Politik und Stimmung im Reichsgau Sudetenland 1938–1945, Essen 1999, S. 40. 9 Detlef Brandes, Die Sudetendeutschen im Krisenjahr 1938, München 2008. 10 Als erster, aber bislang nicht weiter verfolgter Ansatz in Richtung auf eine mikrogeschichtliche Analyse der Maßnahmen und Mittel, mit denen es der Sudetendeutschen Partei 1935 gelang, die Wähler für sich zu gewinnen: Marco Zimmermann, Die SHF/SdP vor dem Wahlsieg von 1935, unveröffentlichte Magisterarbeit Universität Düsseldorf 2007. 11 Vgl. Ferdinand Seibt, Deutschland und die Tschechen. Geschichte einer Nachbarschaft in der Mitte Europas, München 1993, S. 321–323, 331–334.

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schen Politiker in der Ersten Tschechoslowakischen Republik während der zwanziger Jahre sprachen, dachten und ihre subjektive Realität strukturierten. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die Sprache nicht nur ein Mittel darstellt, um Gedanken auszudrücken, sondern dass sie Grundstrukturen vorgibt, innerhalb derer sich das Denken bewegt, dass sie eine mitbestimmende Wirkung auf die Realität ausübt. Der Diskurs als System angewandter und institutionalisierter Redeweisen, die kraft der Wirkungsmächtigkeit der Sprache auch zu Wahrnehmungs- und Handlungsweisen werden und das soziale Leben regelnd bestimmen, kann somit dazu beitragen, die politische Wende von 1935 zu verstehen. Hierzu sollen die Wahlkämpfe von 1929 und 1935 sowie die Publizistik der verschiedenen politischen Lager unter den Sudetendeutschen analysiert werden. Es geht dabei nicht um eine erneute Suche nach der „Wahrheit“, also um die Frage, ob das, was Henlein 1933–35 öffentlich äußerte, seinen wirklichen Absichten entsprach oder diese eher verschleierte, sondern es geht um den dadurch verkörperten Diskurs und seine Wirkungsmächtigkeit. 2. ERKLÄRUNGEN FÜR DEN ERFOLG DER SUDETENDEUTSCHEN PARTEI Die bisherige Forschung hat verschiedene Erklärungen für den Erfolg der Sudetendeutschen Partei anzubieten: 1. Der Aufstieg der Sudetendeutschen Heimatfront / Partei war eine Folge der Wirtschaftskrise. Die Krise traf die Tschechoslowakei stark und dauerte dort besonders lange. Die sudetendeutsche Wirtschaft war stärker betroffen als die tschechische, weil sie auf den Export von Konsumgütern ausgerichtet war und von den Rüstungsaufträgen des Staates nicht profitierte. Daher traf die Arbeitslosigkeit die Sudetendeutschen am stärksten. Von den im Jahre 1936 registrierten 846 000 Arbeitslosen waren 525 000 Deutsche, also 62 %, – bei einem Bevölkerungsanteil der Deutschen von 22 %. Das Zusammenfallen der Krisenregionen mit dem deutschen Siedlungsgebiet suggerierte vielen eine bewusste Diskriminierung der Randgebiete durch das tschechisch dominierte Zentrum.12 2. Die aktivistischen Parteien hatten im Zuge ihre Regierungsbeteiligung zu wenig erreicht und waren in den Augen vieler Wähler gescheitert. Die Regierung ihrerseits versäumte es, die kooperationsbereiten deutschen Parteien durch Zugeständnisse zu stärken.13 Hinzu kam, dass die aktivistischen Parteien ein unattraktives, altmodisches und bürokratisches Erscheinungsbild boten, das vor allem die Jungwähler nicht ansprach. Am Beispiel der Sozialdemokraten ist das eindrücklich gezeigt worden: Das Durchschnittsalter der sozialdemo12 Vgl. Habel, Sudetendeutsche, S. 52. 13 Vgl. Reinhard Schmutzer, Der Wahlsieg der Sudetendeutschen Partei: Die Legende von der faschistischen Bekenntniswahl, in: Zeitschrift für Führung und Organisation, 1992, 41, S. 345–385, hier S. 353f.

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kratischen Abgeordneten lag bei 52 Jahren, während die Kandidaten der Sudetendeutschen Partei 20–36 Jahre alt waren. Sozialdemokratische Parteiveranstaltungen litten unter erstarrten Ritualen, langweiligen Referaten und einer phrasenhaften Argumentation auf niedrigem intellektuellen Niveau. Die innerparteiliche Opposition beklagte den „peinlichen Schwachsinn der offiziellen Referate“, die „lähmende Müdigkeit“, das „tödliche Vorherwissen jedes Wortes“, den „ewig gleichbleibenden Phrasenaufwand“. Die Reden des Parteivorsitzenden Ludwig Czech wurden als „langweiliges Gemisch von hohlem Pathos und statistischen Zahlen, die in der Jahresbilanz eines Käsegeschäftes am Platze gewesen wären“ verunglimpft.14 Auch die Politiker der anderen aktivistischen Parteien stießen nach all den Jahren, in denen sie trotz Regierungsbeteiligung wenig erreicht hatten, auf Misstrauen und Gleichgültigkeit. Henlein hingegen, der sich geradezu als Anti-Politiker gerierte und darauf verwies, sich nie mit Politik befasst zu haben, schaffte es auf diese paradoxe Weise, eine neue Politisierung in die Bevölkerung zu tragen und Menschen anzusprechen, die von der Partei, die sie 1929 gewählt hatten, enttäuscht waren.15 Henleins Sudetendeutscher Partei gelang es 1934/35 Initiative und Dynamik zu verkörpern, die traditionellen Parteien in die Defensive zu drängen und unzufriedene Protestwähler auf sich zu ziehen.16 3. Die Dynamik des Nationalsozialismus und der sichtbare wirtschaftliche Aufschwung im benachbarten Deutschen Reich übten eine Sogwirkung aus, die sich schon vor 1935 im Erstarken der sudetendeutschen Nationalsozialisten äußerte. Der erdrutschartige Sieg Henleins 1935 relativiert sich, wenn man den Aufschwung der sudetendeutschen Nationalsozialisten bis zur ihrem Verbot 1933 berücksichtigt: Ihre Mitgliederzahl war sprunghaft angestiegen und die DNSAP hatte bei den Gemeindewahlen von 1930/31 beträchtliche Stimmengewinne erzielt.17 Nun wäre es sicherlich verfehlt, die Stimmenmehrheit für die Sudetendeutsche Partei 1935 dem „Nationalsozialismus“ zuzurechnen. Man kann aber davon ausgehen, dass ein Teil derjenigen, die 1935 Henlein wählten, tatsächlich nationalsozialistisch oder zumindest völkisch orientiert war und dass ein anderer Teil in den Bann der aus Deutschland über die Grenze dringenden Erfolgsmeldungen geriet. Nach den von vielen als Demütigung empfundenen Jahren der Weimarer Republik präsentierte sich Deutschland seit 1933 mit neuem Selbstbewusstsein, was auf die Deutschen jenseits der Grenzen ausstrahlte.18 4. Auch die tschechischen Wähler tendierten 1935 gegenüber 1929 nach rechts, allerdings nicht in diesem Ausmaß. Die einzigen tschechischen Parteien, die 14 Vgl. Sator, Anpassung ohne Erfolg, S. 306 und Emil Franzel, Sudetendeutsche Geschichte. Eine volkstümliche Darstellung, München 61978, S. 353. 15 Vgl. Franzel, Sudetendeutsche Geschichte, S. 368f. 16 Vgl. Smelser, Sudetenproblem, S. 111. 17 Sator, Anpassung ohne Erfolg, S. 121. 18 Rudolf Jaworski, Die deutschen Minderheiten in Polen und in der Tschechoslowakei während der Zwischenkriegszeit, in: Österreichische Osthefte (Themenheft), 1991, 33, S. 59–76, hier S. 264.

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1935 Stimmen hinzugewannen, waren die Gewerbepartei, die Nationale Vereinigung und die Nationale Faschistengemeinde. Besonders stark war der Rechtsruck an der südlichen, östlichen und nördlichen Peripherie Böhmens, also in Regionen, die sozioökonomisch dem benachbarten Siedlungsgebiet der Deutschen ähnelten. Man kann also den Sieg der Sudetendeutschen Partei als Teil eines übernationalen Protestes von Krisenregionen interpretieren, die von hoher Arbeitslosigkeit (Norden) bzw. Landflucht (Süden) gekennzeichnet waren. Das Wahlverhalten der Deutschen unterschied sich demnach nicht grundsätzlich von dem der Tschechen, wenngleich der quantitative Unterschied beträchtlich ist: Die Sudetendeutsche Partei wurde zu einer Massenbewegung, die tschechischen Rechtsparteien blieben mittelgroß.19 5. Konrad Henlein war keine charismatische Führerfigur, aber er verkörperte so etwas wie einen Durchschnitts-Sudetendeutschen, in dem sich viele seiner Wähler wiedererkennen konnten. Sein Erfolgsrezept waren nicht aufwühlende Tiraden und Hetzreden; ihm gelang es vielmehr, auf eher undramatische, aber volksnahe Weise, Probleme, Ängste und Hoffnungen zu thematisieren, die seine Zuhörer bewegten, und ihnen den Eindruck zu vermitteln, einer von ihnen zu sein.20 6. Der Wahlkampf der Sudetendeutschen Partei war aufwendig organisiert und modern inszeniert; die Kundgebungen vermittelten den Teilnehmern ein emotional positiv aufgeladenes Massenerlebnis und ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und Einigkeit. Sie hatten eine Ausstrahlungskraft, die den anderen Parteien längst verloren gegangen war.21 All diese Erklärungen sind plausibel und sollen hier nicht in Frage gestellt, wohl aber um einen vernachlässigten Aspekt ergänzt werden. Während in der bisherigen Betrachtung eher die Zäsur hervorgehoben wurde, die das Auftreten Henleins als politische Figur bedeutete, soll im vorliegenden Beitrag gefragt werden, inwieweit nicht das, was Henlein verkörperte und was seinen Erfolg mit bedingte, schon in den zwanziger Jahren, vor dem Wirksamwerden der durch die Weltwirtschaftskrise ausgelösten Massenarbeitslosigkeit, diskursiv angelegt war. 3. DER WAHLKAMPF HENLEINS ALS DISKURS Die Reden und Publikationen Henleins und seiner Mitstreiter kennzeichnete eine spezifische Sprache. Sein Diskurs bestand aus wenigen Elementen, die immer wiederkehrten. Bereits der erste Aufruf Henleins vom 1. Oktober 1933 enthielt die wichtigsten Punkte: Henlein sprach von der „furchtbaren Notzeit“, an der der „Partei-Egoismus“ Schuld sei. Das Volk habe das Parteiwesen satt und sehne sich nach der „Volks19 Schmutzer, Wahlsieg, S. 359–362; 371f., 378, 381. 20 Vgl. Smelser, Sudetenproblem, S. 65. 21 Vgl. die umfassende Analyse des Wahlkampfs der Sudetendeutschen Partei bei Zimmermann, SHF/SdP vor dem Wahlsieg, S. 94–96.

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gemeinschaft“, der „Überwindung des Partei- und Klassenkampfes und nach einem friedlichen Zusammenleben der Völker in diesem Staate“. Henlein rief daher zur „Sammlung des gesamten Sudetendeutschtums“ auf. Die „Sudetendeutsche Heimatfront“ erstrebe „die Zusammenfassung aller Deutschen in diesem Staate, die bewusst auf dem Boden der Volksgemeinschaft und der christlichen Weltanschauung stehen“. Sie bekenne sich zur „deutschen Kultur- und Schicksalsgemeinschaft“ und erblicke ihre Hauptaufgabe in der „Sicherung und dem Ausbau unseres Volksbesitzstandes“. Sie fordere eine „gerechte Lösung der sozialen und wirtschaftlichen Fragen aller Stände“, insbesondere des Arbeiters. Sie anerkenne den Staat, „in den uns das Schicksal gestellt hat“, und sie bekenne sich zu den „demokratischen Grundforderungen, vor allem der Gleichberechtigung der Kulturvölker“. Sie werde „auf ständischer Grundlage“ aufgebaut.22 Nicht nur die Aussagen, sondern auch das Vokabular dieses kurzen, aber prägnanten Aufrufs war bezeichnend: Die Wörter „Tschechoslowakei“, „Tschechen“ oder „tschechisch“ kamen überhaupt nicht vor. Henlein sprach statt dessen nur von „diesem Staate“ und von „Völkern“ bzw. „Kulturvölkern“. „Sudetendeutsche“ und „sudetendeutsch“ verwendete er hingegen sechsmal, „Volk“ siebenmal, Zusammensetzungen mit „Volk“ siebenmal und „Volksgemeinschaft“ zweimal. Den Begriff „Demokratie“ stellte er hier und auch in anderen Reden in den Zusammenhang mit der Gleichberechtigung der Völker, das heißt Henlein sagte zwar „Demokratie“, aber er meinte damit eigentlich Gleichberechtigung der Deutschen im Staat, also sinngemäß Demokratie auf Ebene der Völker, verbunden mit „Achtung der Volkspersönlichkeit“. Subjekt der Demokratie war in diesem Verständnis also nicht der Einzelne, sondern das Volk als „imagined community“. Die zahlreichen Reden und schriftlichen Äußerungen Henleins der Jahre 1933–1935 können grosso modo als Variationen dessen, was der erste Aufruf abgesteckt hatte, begriffen werden. Henlein brandmarkte den „unseligen Parteienkampf“, dem er die Schuld für alles Übel zuwies und stilisierte sich und die Sudetendeutsche Heimatfront in Abgrenzung von den traditionellen Parteien als positiven Pol einer Dichotomie „alt-neu“: „Ich stehe an der Spitze einer vollständig neuen Bewegung, die nichts hat, als das Vertrauen, das ihr weite Kreise der sudetendeutschen Öffentlichkeit entgegenbringen.“23

Da die Sudetendeutsche Heimatfront schnell in den Geruch einer nationalsozialistischen Tarnorganisation geriet, die insgeheim den Anschluss der Sudetengebiete an Hitlerdeutschland anstrebe, sah sich Henlein genötigt, seine demokratische Grundhaltung und die Loyalität zum tschechoslowakischen Staat hervorzuheben. Bereits wenige Tage nach der Gründung der Sudetendeutschen Heimatfront versicherte Henlein in Prag vor Vertretern der Presse, er stehe nicht für Irredentismus, sondern für positive Mitarbeit im tschechoslowakischen Staat, einschließlich der 22 Konrad Henlein, Aufruf vom 1.10.1933, in: Rudolf Jahn (Hg.), Konrad Henlein spricht. Reden zur politischen Volksbewegung der Sudetendeutschen, Karlsbad 1937, S. 9f. 23 Rede Henleins vor den Vertretern der Presse am 8. Oktober 1933 im Hotel „Blauer Stern“ in Prag, in: Jahn (Hg.), Henlein spricht, S. 11f.

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Bereitschaft zur Mitwirkung an der Regierung. Er bekannte sich zur Demokratie, verengte sie jedoch abermals zur „Gleichberechtigung der Völker“. Den Tschechen billigte er großzügigerweise zu, „eine allen Völkern Mitteleuropas gleichwertige Kulturnation“ zu sein. Als Kern seiner Bewegung beschrieb er die „Wiedergesundung unseres Volkskörpers“ auf der Grundlage einer „christlichen und deutschen Weltanschauung“ durch eine berufsständische Gliederung und die Herstellung einer „Volksgemeinschaft“ anstelle von Klassenkampf und Eigennutz: „Denn Arbeiter, Bauer und Bürger, Arbeitnehmer und Arbeitgeber in allen Berufszweigen stehen in Wirklichkeit einander nicht als Todfeinde gegenüber, sondern sind auf Leben und Tod aufeinander angewiesen. Die Gemeinsamkeit der berufsständischen Belange steht höher als die Klassen- und Kastenschichtung. Gelingt es aber, in allen arbeitenden Menschen wieder diesen Sinn der Standeszugehörigkeit und Standesehre zu wecken, dann ist ein entscheidender Schritt zur Wiedergesundung unseres Volkskörpers getan. Unbedingte Voraussetzung dafür ist aber auch, daß sich die Unternehmerschaft aller Berufsgruppen nicht nur von ihrem persönlichen Eigennutz leiten läßt, sondern in menschlicher Hilfsbereitschaft und Verbrüderung gleichsam mit dem Arbeiter die Not der Gegenwart trägt. Wer sich aber aus privater Selbstsucht weigert, der Volksgemeinschaft auch persönliche Opfer zu bringen, hat in unseren Reihen keinen Platz.“24

In einer von der Parteileitung sorgfältig redigierten Rede vom Oktober 1934, die das drohende Verbot der Sudetendeutschen Heimatfront abwenden sollte, distanzierte er sich deutlich vom Nationalsozialismus, bekannte sich dezidiert zur Demokratie und hob hervor, dass er an keiner Grenzrevision interessiert sei.25 Zieht man eine Bilanz aus den Äußerungen Henleins und der Sudetendeutschen Partei, kommt man zu einem Destillat folgender immer wiederkehrender diskursiver Elemente: Notzeit; Überwindung von Partei-Egoismus, Zersplitterung des Volksganzen und Klassenkampf; Sammlung, Einheit, Volksgemeinschaft; Gleichberechtigung der Kulturvölker, gleiches Volks- und Lebensrecht; Wahrung und Ausbau des Volksbesitzstandes; christliche Weltanschauung; deutsche Kultur- und Schicksalsgemeinschaft; gerechte Lösung der sozialen Fragen, v.a. der Arbeiter; ständischer Aufbau der Bewegung; Loyalität zum Staat, in den uns das Schicksal gestellt hat; demokratische Grundforderungen; Anständigkeit und Sauberkeit; straffe Führung der Organisation. Besonderen Wert legte er dabei stets auf die Abgrenzung von den „alten“ Parteien. Die zentralen Elemente sind die Beschwörung der Notzeit, die Dichotomie „Partei-Egoismus, Zersplitterung und Klassenkampf“ versus „Sammlung, Einheit und Volksgemeinschaft“, sowie der Anspruch auf gleiche „Volks- und Lebensrechte“ wie die Tschechen. Es ging im Selbstverständnis Henleins nicht darum, Forderungen zu stellen, sondern sein natürliches Recht zu bekommen. Das sei jedoch nur über die Einheit und Volksgemeinschaft möglich: „Nur durch den Zusammenschluß und die Anspannung aller unserer Kräfte wird es gelingen, aus der Not herauszukommen, oder wir gehen in Uneinigkeit und Elend zugrunde. […] Es

24 Rede Henleins vor den Vertretern der Presse am 8. Oktober 1933 im Hotel „Blauer Stern“ in Prag, in: Jahn (Hg.), Henlein spricht, S. 15. 25 Rede Henleins in Böhmisch-Leipa, 21. Oktober 1934, in: Jahn (Hg.), Henlein spricht, S. 22f.

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muß uns klar bewußt sein, daß wir niemals zu unserem Rechte kommen werden, wenn wir so wie bisher uneinig und in Parteien zersplittert bleiben.“26

4. EINIGUNGSBESTREBUNGEN VOR 1933 Henleins „Sammlungsbewegung“ entstand 1933 nicht im luftleeren Raum, sondern ihr Initiator griff eine Idee auf, die unter den nichtmarxistischen deutschen Parteien der Tschechoslowakei schon seit längerem im Schwange war. Die sudetendeutschen Parteien, ausgenommen die Sozialdemokraten und Kommunisten, hatten schon während der zwanziger Jahre versucht, eine „nationale Einheitsfront“ zu bilden. Man war allgemein überzeugt, dass die Interessen der Sudetendeutschen nur dann erfolgreich vertreten werden könnten, wenn es gelänge, die Parteien in einer gemeinsamen Plattform zusammenzufassen.27 Es gab mehrere Ansätze in diese Richtung, die aber an den Partikularinteressen der Parteien scheiterten. Bereits 1920 hatten Abgeordnete der deutschen bürgerlichen Parteien über die Bildung eines „nationalen Blocks“ beraten. Die DNSAP forderte sogar die Einbeziehung der Sozialdemokraten, damit der „deutsche Block“ auch die Arbeiter gebührend repräsentiere. Am 14. Mai 1920 wurde schließlich – ohne die Nationalsozialisten und Sozialdemokraten – von Parlamentariern der bürgerlichen Parteien der „Deutsche parlamentarische Verband“ ins Leben gerufen. Die DNSAP trat dem Verband einige Monate später bei, gründete aber 1922 zusammen mit der Deutschen Nationalpartei eine Unterorganisation namens „Kampfgemeinschaft“, weil über die grundsätzliche Linie gegenüber den Tschechen keine Einigung herzustellen war. Daraufhin löste sich der Verband wieder auf.28 1925 versuchten der Bund der Landwirte, die Deutsche christlichsoziale Volkspartei, die DNSAP, die Deutsche Gewerbepartei und die Politische Organisation der Deutschen in der Slowakei eine „Völkische Einheitsfront“ zu bilden, um im Parlament bei allen nationalen Belangen gemeinsam zu agieren. Als auch dieser Versuch scheiterte, machten sich die Parteien gegenseitig dafür verantwortlich. „Wo sitzen die Totengräber der deutschen Einheit?“, waren im November 1925 zwei Artikel in der christlichsozialen „Deutschen Presse“ übertitelt.29 Ab 1927/28 wurden abermals Versuche unternommen, eine gemeinsame politische Plattform zu errichten, diesmal anknüpfend an das 1919 als Koordinationsstelle der sudetendeutschen nicht-sozialdemokratischen Parteien ins Leben gerufene „Deutsch-politische Arbeitsamt“. Beim „Deutsch-politischen Arbeitsamt“ bildete sich ein vorbereitender Ausschuss zur Gründung einer Einheitsfront.30 26 Wahlrede Henleins 1935, in: Jahn (Hg.), Henlein spricht, S. 73. 27 Werner Dietl, Die Deutsche Christlichsoziale Volkspartei in der Ersten Tschechoslowakischen Republik 1918–1929, München 1991, S. 214. 28 Ebd., S. 214, 248. 29 Ebd., S. 271. 30 Andreas Luh, Der Deutsche Turnverband in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Vom völkischen Vereinsbetrieb zur volkspolitischen Bewegung, München 22006, S. 207.

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Während des Wahlkampfs zu den Parlamentswahlen rief im Oktober 1929 eine Delegation der mährisch-schlesischen Landschaftsräte zur „Organisation der Volksfront“ auf: „Trotz der äußerlichen Zersplitterung des deutschen Lagers […] hat der Gedanke der Organisation der Volksfront stille Fortschritte gemacht, die sich um das Deutschpolitische Arbeitsamt und um die Landschaftsräte zu kristallisieren begonnen haben. Die Neuwahlen machen es uns zur Pflicht, an die verantwortlichen Führer im Wege der Presse zu appellieren, […] daß jede volksdeutsche Partei oder Wahlgruppe einen Mann zur Wahl stellt, der von Partei wegen Auftrag und Vollmacht hat, an der weiteren Entwicklung einer gemeinsamen sudetendeutschen Volksfront, an der Volksorganisation und allen Werken der Volksgemeinschaft im Einvernehmen mit […] den Vertretern der anderen Parteien und Wahlgruppen zu arbeiten und diese seine Sonderstellung für die Verbindung von Partei und Volksganzem einzusetzen.“31

Auch diese Bemühungen hatten keinen Erfolg. Die Idee der Volksfront wurde zwar weiterhin immer wieder propagiert, die Gegensätze zwischen den Parteien selbst innerhalb des bürgerlichen Lagers erwiesen sich aber als stärker. Was jedoch an diesem Aufruf bereits deutlich wird, ist die Übereinstimmung mit Vokabeln, die vier Jahre später von Henlein verwendet wurden: „Zersplitterung“, „gemeinsame Front“, „Volksgemeinschaft“, „Volksganzes“ – hier werden Kernelemente des Henleinschen Diskurses vorweggenommen. Ein neuerlicher Anlauf scheiterte 1932 an der DNSAP, die sich angesichts des Aufstiegs der NSDAP in Deutschland stark genug wähnte, um einen eigenen Weg zu gehen. Erst als sich das Verbot der DNSAP abzeichnete, schwenkte die Partei wieder auf die Idee der Einheitsfront ein.32 Im März 1933 beschloss die Jahreshauptversammlung des „Deutsch-politischen Arbeitsamtes“, aus Vertretern der Parteien und Verbände einen „Sudetendeutschen Volksrat“ zu bilden. Da die Parteien aber auf ihrer Unabhängigkeit bestanden, blieb dieser „Volksrat“ handlungsunfähig.33 Kurz darauf versuchte Hans Krebs, der Führer der DNSAP, im Juli 1933 eine „Sudetendeutsche Volksfront“ aus allen nichtmarxistischen Parteien zu schmieden. Letztere wollten sich aber nicht im Gefolge der von der Auflösung bedrohten DNSAP wiederfinden, so dass auch dieser Anlauf im Sommer 1933 scheiterte. Wenige Wochen später folgte dann Henleins Initiative zur Gründung der „Sudetendeutschen Heimatfront“. Was den Parteien nicht gelungen war, brachte nun der parteilose Henlein zustande: eine Sammlungsbewegung mit dem Anspruch auf Interessenvertretung der Sudetendeutschen in ihrer Gesamtheit.34

31 32 33 34

Deutsche Zeitung Bohemia, Nr. 228, 1. Oktober 1929, S. 3. Luh, Turnverband, S. 206f. Ebd., S. 206. Vgl. ebd., S. 208.

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5. DIE VORWEGNAHME DER SAMMLUNGSBEWEGUNG IM DISKURS DER ZWANZIGER JAHRE Mit den Bemühungen um einen gemeinsamen nationalen Block bzw. eine gemeinsame „Front“ korrespondierte ein massiver und die (bürgerlichen) politischen Lager überspannender Diskurs von „Einheit“ und „Geschlossenheit“, der sich im Laufe der zwanziger Jahre entwickelte und in den Wahlkämpfen zu den Parlamentswahlen von 1925 und 1929 bereits deutlich ablesbar ist. Die Christlichsozialen hatten von Anfang an für sich beansprucht, im Gegensatz zu den übrigen Parteien, die jeweils nur bestimmte Klassen und Interessengruppen repräsentierten, eine echte Volkspartei zu sein, in der sich alle Schichten der Bevölkerung wiederfinden könnten. Sie schrieben sich „ein einträchtiges Zusammenleben aller Völker, Konfessionen und Berufsstände im Staate“35 auf die Fahnen und verstanden sich als eine über den Klassen stehende Volkspartei auf christlich-nationaler Grundlage.36 In ihrem Parteiprogramm stand ausdrücklich: „Die Deutsche christlichsoziale Volkspartei ist eine Volkspartei. In dem neuen Staat muß zuerst an das ganze deutsche Volk in diesem Raum gedacht werden. Wenn das ganze Volk leidet, können einzelne Gruppen, Klassen oder Stände nicht in einem Sonderdasein gedeihen.“37

Der Begriff „Volksgemeinschaft“ gehörte damals noch nicht zum Vokabular der Christlichsozialen, doch ihre Propaganda tendierte sinngemäß in eine ähnliche Richtung: „Unserm ganzen Volke gilt ihr heißes Bemühen, nicht nur einem einzelnen Stande. Alle, die ehrlich arbeiten, sollen auch die Früchte ihrer Arbeit genießen, der Landwirt, der Handel- und Gewerbetreibende, der Industriearbeiter, der Beamte und Angestellte, der geistige wie der körperliche Arbeiter. Wir verwerfen jedes gewissenlose Demagogentum, das einen Stand gegen den anderen hetzt und mit unerfüllbaren Versprechungen statt Hilfe nur Unzufriedenheit schafft.“38

Was die Christlichsozialen 1929 diesbezüglich schrieben, war nicht weit von dem entfernt, was Henlein einige Jahre später – erfolgreicher – propagierte. De facto war es allerdings so, dass die Deutsche christlichsoziale Volkspartei stark klerikal-katholisch geprägt war und als Mittelstands- und Bauernpartei galt. Ihre Kandidatenliste bestand überwiegend aus Beamten, Professoren, Gewerbetreibenden,

35 Hans Schütz, Die Deutsche Christlichsoziale Volkspartei in der Ersten Tschechoslowakischen Republik, in: Karl Bosl (Hg.), Die Erste Tschechoslowakische Republik als multinationaler Parteienstaat. Vorträge der Tagungen des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 24. bis 27. 11. 1977 und vom 20. bis 23. 4. 1978, München 1979, S. 271–290, hier S. 276. 36 Vgl. Deutsche Christlichsoziale Volkspartei (DCVP), in: Frank Wende (Hg.), Lexikon zur Geschichte der Parteien in Europa, Stuttgart 1981, S. 680–681. 37 Schütz, Volkspartei, S. 276. Karl Hilgenreiner, Die Politik der katholischen Sudetendeutschen, in: Heinrich Donat (Hg.), Die deutschen Katholiken in der Tschechoslowakischen Republik. Eine Sammlung von Beiträgen zur geistigen und religiösen Lage des Katholizismus und des Deutschtums, Warnsdorf 1934, S. 299–303. 38 Deutsche Presse, Nr. 232, 10. Oktober 1929, S. 1.

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Angestellten, einigen Bauern, aber nur sehr wenigen Arbeitern.39 Dementsprechend sprach und schrieb sie häufig von „Mittelstandspolitik“.40 Analysiert man den Diskurs der Christlichsozialen, wie er sich in ihrer Publizistik und in den Wahlkämpfen darstellte, dann dominiert klar der Katholizismus, allerdings finden sich bereits in den zwanziger Jahren wesentliche Elemente dessen, was ab 1933 zum Kernbestand von Henleins Reden gehörte: Ausgehend vom Bekenntnis zur katholischen Kirche und den Werten des Christentums wandten sich die Christlichsozialen gegen den Sozialismus, aber auch gegen den Liberalismus bzw. die „Hydra des Freisinns“ und traten für die „sittliche Reinhaltung unseres Volkes“ und die „religiöse Durchdringung des öffentlichen Lebens“ ein, verbunden mit einer Kritik an den vom „jüdischen Element“ inspirierten „ungehemmten egoistischen Erwerbsinteressen“.41 Das lief weitgehend parallel zu dem, was Henlein gegen Sozialismus und Liberalismus ins Treffen führte, mit dem Unterschied, dass die Christlichsozialen aus der absoluten Priorität des Religiösen ihr Bekenntnis zum Deutschtum vom „Freisinn“ der Deutschnationalen abgrenzten42 und bei Henlein das antisemitische Motiv eine untergeordnete Rolle spielte. Wie später Henlein auch sprachen die Christlichsozialen in den zwanziger Jahren davon, dass die Deutschen einen Anspruch auf „Gleichberechtigung im Staate“ hätten und die Tschechen ihnen dieses Recht verweigern würden.43 Die „Wahrung des deutschen Besitzstandes“ gehörte 1929 genauso wie die „Zeit der Not“ zum Diskurs der Christlichsozialen. Eine zentrale Stelle nahm hier wie da die Rede von Einheit und Gemeinsamkeit und der Schädlichkeit der parteipolitischen Zersplitterung ein. Was bei Henlein später die „Heimatfront“ wurde, nahmen die Christlichsozialen 1929 sinngemäß und semantisch vorweg, wenn sie davon sprachen, dass die deutschen Parteien eine „einheitliche Front“44 bilden sollten. Im Vorfeld der Parlamentswahlen von 1929 befürworteten sie eine „gemeinsame Wahlfront aller aktivistischen Parteien“, wozu es aber aufgrund der unterschiedlichen Interessen nicht kam: „Die gemeinsame aktivistische Richtung legte auf deutscher Seite eine gemeinsame Wahlfront aller aktivistischen Parteien nahe. Es ist nicht dazu gekommen; wir Christlichsozialen tragen auch diesmal keine Schuld daran,“

beklagte Ernst Hilgenreiner in der „Deutschen Presse“.45 Der christlichsoziale Senator Ledebur-Wicheln hatte schon 1925 im selben Blatt geschrieben, die Deutschen müssten eine zielbewusste gemeinsame Politik verfolgen, statt sich in parteipolitischen Rivalitäten gegenseitig zu bekämpfen. Er beklagte, dass es zu viele

39 Deutsche Presse, Nr. 233, 13. Oktober 1929, S. 2. 40 Deutsche Presse, Nr. 237, 16. Oktober 1929, S. 1. 41 Deutsche Presse, Nr. 234, 13. Oktober 1929, S. 1; vgl. Deutsche Presse, Nr. 241, 20. Oktober 1929, S. 1; vgl. Deutsche Presse, Nr. 243, 23. Oktober 1929, S. 1. 42 Deutsche Presse, Nr. 234, 13. Oktober 1929, S. 1. 43 Deutsche Presse, Nr. 225, 2. Oktober 1929, S. 1; Nr. 232, 10. Oktober 1929, S. 1. 44 Deutsche Presse, Nr. 229, 6. Oktober 1929, S. 1. 45 Ebd.

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Parteien und zu viel „Parteigeist“ gebe. Die Parteien sollten wenigstens nach der Wahl „Schulter an Schulter marschieren, um später vereint schlagen zu können.“46 Der Bund der Landwirte, die zweite aktivistische Partei des nichtmarxistischen Lagers, war auf die ländliche Klientel orientiert.47 Der Bund der Landwirte hatte somit zwar einen berufsständischen Charakter, befürwortete aber dessen ungeachtet ebenfalls das Zusammengehen der deutschen Parteien. 1929 schloss der Bund der Landwirte ein Wahlbündnis mit der Deutschen Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft, die ihrerseits einen Zusammenschluss der Liberalen mit der Interessenvertretung der Wirtschaft darstellte. Sie hatte sich im Juli 1928 aus Abgeordneten der Deutschen Nationalpartei, die mit deren grundsätzlichen Negativismus nicht mehr einverstanden waren, und der liberal-großbürgerlich-jüdisch geprägten Deutschdemokratischen Freiheitspartei formiert. Eines ihrer Hauptanliegen war ebenfalls die Überwindung der politischen Zersplitterung der Sudetendeutschen.48 In der „Reichenberger Zeitung“ rief sie 1929 „zur Sammlung der Bürger und Parteien bei dieser Wahl auf; denn jedermann muß heute deutlich erkennen, daß die Parteienzersplitterung sowohl unserem nationalen, wie unserem wirtschaftlichen Leben fortgesetzt nur Nachteile bringt.“49

Hier tritt also schon explizit der Terminus „Sammlung“ auf, der später zu einem der Schlüsselwörter in Henleins Diskurs werden sollte. Das Gleiche gilt für den Begriff der „Volksgemeinschaft“, den sich die Deutsche Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft als „oberstes Prinzip auf die Fahnen geschrieben“ hatte.50 „Zusammenschluß ist auch hier die Losung! Die Wohlfahrt aller Bevölkerungsschichten ist das Ziel! Weg mit der unheilvollen Parteienwirtschaft […]! Nicht Kampf der bürgerlichen Schichten gegen einander, sondern Zusammenschluß des Bürgertums zu einträchtigem Schaffen! Zurück das Trennende – voran was eint! Die Deutsche Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft ruft zur Sammlung der Bürger und Parteien.“51

Die „Sammlung“ war also zwar auf einen „Zusammenschluß des Bürgertums“52 verengt, und auch bei der „Volksgemeinschaft“ stand die „Zusammenfassung aller Schichten des deutschen städtischen Bürgertums“ im Vordergrund – dennoch: Der grundsätzliche Anspruch auf „Sammlung und Einigung“, auf „verständnisvolle Zusammenarbeit aller Stände“ für „die Wohlfahrt aller Schichten“ war ausdrücklich formuliert: „Das Trennende zurück – das Einigende in den Vordergrund!“53 Die Zusammensetzung ihrer Kandidatenliste hinkte diesem Anspruch allerdings 46 Dietl, Deutsche Christlichsoziale Volkspartei, S. 269–271. 47 Bund der Landwirte (BdL), in: Frank Wende (Hg.) Lexikon zur Geschichte der Parteien in Europa, Stuttgart 1981, S. 677–678, Eschenbächer, Zwischen Schutzbedürftigkeit und Alleinvertretungsanspruch, S. 327. 48 Deutsche Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft (DAWG), in: Wende (Hg.), Lexikon zur Geschichte, S. 679–680. 49 Reichenberger Zeitung, Nr. 92, 18. April 1929, S. 2. 50 Deutsche Zeitung Bohemia, Nr. 247, 22. Oktober 1929, S. 2. 51 Reichenberger Zeitung, Nr. 97, 24. April 1929, S. 3. 52 Vgl. auch z. B. Reichenberger Zeitung, Nr. 95, 21. April 1929, S. 2. 53 Reichenberger Zeitung, Nr. 94, 20. April 1929, S. 2–3.

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hinterher: Es handelte sich vor allem um Rechtsanwälte, Beamte, Journalisten, Professoren und Gewerbetreibende.54 Im Wahlbündnis mit dem Bund der Landwirte erweiterte man die Klientel auf „Bürger und Bauer“, wie die gemeinsame Wahlparole lautete, die Arbeiter sprach man jedoch direkt nicht an.55 Die in Prag in hoher Auflage erscheinende „Deutsche Zeitung Bohemia“, das einflussreiche Sprachrohr des deutschen und deutsch-jüdischen liberalen Großbürgertums, kommentierte im Oktober 1929 das Wahlbündnis der „Bürger und Bauern“ mit Worten, wie sie Konrad Henlein hätte formulieren können: „Bürger und Bauer. Nichts ist im Laufe der Jahre […] von der deutschen Bevölkerung bitterer empfunden worden als die unheilvolle Zersplitterung des Volksganzen in die verschiedensten Parteien und Interessengruppen; nichts hat dem Deutschtum in der Tschechoslowakei in seinem schweren nationalen Daseinskampf mehr Schaden zugefügt als der Luxus der Kanonade in die eigenen Reihen […]. Darum […] ist im deutschen Volke selbst der Wunsch nach einer Abkehr und nach einer Sammlung aller Kräfte lauter und dringender geworden. Aber immer größere Resignation bemächtigt sich der deutschen Öffentlichkeit, da die Zähigkeit und Verbissenheit des Parteien-Egoismus ein schier nicht zu überwältigendes Hindernis, ein unheilbares Dogma unseres politischen Katechismus zu sein schien. Dieses Dogma ist seit heute gründlich erschüttert. Zwei deutsche nationale Parteien, die bisher getrennt marschierten, haben sich zu positiver Arbeit zusammengefunden; ein wichtiger Anfang ist gemacht.“56

An „Bürger und Bauer“ konnte Henlein in seinem ersten Aufruf direkt anknüpfen. Er erweiterte die Parole zu „Arbeiter, Bürger und Bauern! Schließt die Reihen!“57 Auch andere seiner Redeweisen waren 1929 schon vorhanden: In den Wahlveranstaltungen der Deutschen Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft, wie sie die „Deutsche Zeitung Bohemia“ wiedergab, findet sich bereits die später von Henlein verwendete Kombination der Diskurselemente „Notlage“, „Selbstbestimmungsrecht“, „Zusammenfassung der Stände“ und „Volksgemeinschaft“.58 „Parteienüberfluß“, „Parteienegoismus“, „Zusammenschluß“ und „Volksgemeinschaft“ kombinierte die „Bohemia“ an anderer Stelle59. Die Christlichsozialen nahmen den Slogan der Deutschen Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft polemisch aufs Korn: „‚Bürger und Bauer‘ – das klingt gut und schön, aber hat es der Bauer notwendig, unter dieser Spitzmarke, die ihm die A.-u.W.-Gemeinschaft umgehängt hat, sich vom jüdischen Großkapital mißbrauchen und übertölpeln zu lassen?“

Sie charakterisierten die DAWG als Repräsentation der Industrie, das Handels und der liberalen Juden.60 Die Sozialdemokraten, bis 1935 immerhin die stärkste Partei der Sudetendeutschen, sprachen und dachten nicht in der Kategorie der Überwindung von Klassengegensätzen, sondern im Gegenteil in jenen des Klassenkampfes. Gemein54 55 56 57 58 59 60

Deutsche Zeitung Bohemia, Nr. 239, 12. Oktober 1929, S. 3. Deutsche Zeitung Bohemia, Nr. 233, 5. Oktober 1929, S. 1. Ebd. Henlein, Aufruf vom 1.10.1933, in: Jahn (Hg.), Henlein spricht, S. 10. Deutsche Zeitung Bohemia, Nr. 244, 18. Oktober 1929, S. 2. Deutsche Zeitung Bohemia, Nr. 242, 16. Oktober 1929, S. 1. Deutsche Presse, Nr. 230, 8. Oktober 1929, S. 1.

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sam mit den Nichtmarxisten war ihnen nur die Forderung nach Gleichberechtigung der Deutschen im Staat und die Beschwörung der Not, wobei Letzteres klar auf die Arbeiter bezogen war.61 Die Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei lehnte gemeinsame Aktionen mit den deutschen bürgerlichen Parteien ab und suchte statt dessen ein Bündnis mit den tschechoslowakischen Sozialdemokraten.62 Ihre Wahlwerbung war auf Gruppen bezogen, die im weiteren Sinne als „proletarisch“ angesehen werden können: Arbeiter, Angestellte, Kleinbauern, Kleingewerbetreibende, Beamte auf den unteren Ebenen. Die Kandidatenliste der Sozialdemokraten für die Parlamentswahl von 1929 umfasste vor allem Beamte, Angestellte, Arbeiter und Berufsfunktionäre.63 Man gab sich betont antiklerikal, antikapitalistisch und antibürgerlich und verhöhnte den „Bürgerblock“ und seine Einheitsbestrebungen und Wahlbündnisse ebenso wie die in Prag regierende sog. „Herren-Koalition“ der bürgerlichen Parteien aller Nationalitäten: „??Das Ende des Klassenkampfes?? Nein, Ihr Herren, für uns fängt er mit der Konzentration des Bürgertums erst richtig an!“64

Im „Kampf gegen das absolutistische deutsch-tschechische Bürger-Regime“ gebe es keinen Kompromiss, „sondern nur den Daumen aufs Auge und die Knie an die Brust“65. Der „deutsch-tschechische Bürgerblock“ sei vom „Haß gegen das arbeitende Volk“ getragen.66 Dem gegenüber stehe der „im Herzen unseres Proletariats verankerte Wunsch nach möglichster Kampfgemeinschaft des deutschen und tschechischen Proletariats“.67 Neben dieser internationalistischen Linie verfolgten die Sozialdemokraten aber durchaus auch eine auf Wahrung der deutschen Interessen bedachte, indem sie auf „Selbstbestimmung unseres Volkes“68 pochten und dem „deutsch-tschechischen Bürgerblock“ vorwarfen, die „Tschechisierung“ des Schulwesens zu verschärfen.69 Wenn die Sozialdemokraten in der Diskussion um den Mieterschutz darauf hinwiesen, dass „die Rettung des Deutschtums […] in der Sicherung der Lebensgrundlage des deutschen Volkes, vor allem des arbeitenden Volkes“ liege,70 dann grenzten sie sich damit einerseits von den bürgerlichen Parteien ab, denen sie vorwarfen, mit ihrer unsozialen Politik in Wirklichkeit dem Deutschtum zu schaden, beteiligten sich aber andererseits durchaus – wenn auch mit Einschränkungen – an einem deutschnationalen Diskurs. Zum Diskurs der Sozialdemokraten gehörte zwar auch die Vokabel „Einheit“, aber die damit in Zusammenhang stehenden Versuche, den Arbeiterbegriff weiter 61 Sozialdemokrat. Zentralorgan der Deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik, Nr. 233, 5. Oktober 1929, S. 4. 62 Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik (DSAP), in: Wende (Hg.), Lexikon zur Geschichte, S. 682–684. 63 Sozialdemokrat, Nr. 233, 5. Oktober 1929, S. 1. 64 Sozialdemokrat, Nr. 235, 8. Oktober 1929, S. 3. 65 Sozialdemokrat, Nr. 233, 5. Oktober 1929, S. 5. 66 Ebd., S. 4. 67 Ebd., S. 5. 68 Ebd., S. 4. 69 Vgl. Sozialdemokrat, Nr. 238, 11. Oktober 1929, S. 3. 70 Ebd.

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zu fassen, standen in Widerspruch zu der klassenkämpferischen Rhetorik: Die Parole „Einheit der Arbeitenden in Stadt und Land, Einheit der Kopf- und Handarbeiter! Einheit auch über die Nationsgrenzen hinweg!“ konkurrierte eben mit Sprüchen wie „Beachte ein für allemal: Dein Todfeind ist das Kapital, und seine Diener, die getreuen, das sind die Bürgerblockparteien […].“71 Man verstand sich klar als Interessenvertretung der kleinen Leute: „Wer sind die Christlichsozialen? Im mährisch-schlesischen Landtag vertritt sie der Generaldirektor Sonnenschein der Witkowitzer Eisenwerke. Sie sind eine Partei des klassenbewußten Besitzbürgertums. Sie sind weder christlich, noch sozial. Wer wählt die Knödelsozialisten, die Kongruachristen? Der Bankier, der Verwaltungsrat, der Kongruapfarrer, der Fabrikant. Der Arbeiter, Angestellte, Beamte wählt sozialdemokratisch.“72

Noch deutlicher wurde man im Wahlkampf 1935, angesichts des Zulaufs, den Henleins Bewegung verzeichnete: „Die Herrenfront und ihr Führer, der Gast von Fürsten, Grafen und Industriellen, die Bonzenfront der Volksausbeuter, die Hitlerfront der Kriegs- und Katastrophenpolitik will euch ans Messer des Fascismus [sic] liefern und jedes Mittel ist ihr recht dazu. Schlagt sie! Jagt sie! Schützt die Heimat vor Brandstiftern, Kriegshetzern und Terrorbanden! […] Ausbeuter wählen das Henlein-Gewächs, der Lohnempfänger wählt Liste 6!“73

6. DIE SUDETENDEUTSCHE PARTEI ALS DISKURSIVE SAMMLUNGSBEWEGUNG Der Rückblick auf die zwanziger Jahre zeigt, dass es im nichtmarxistischen Lager einen parteienübergreifenden gemeinsamen Diskurs von der Schädlichkeit von „Parteienzersplitterung“ und der Notwendigkeit von „Einheit“ gab. Dieser Diskurs war 1929 bereits in hoher Verdichtung präsent und beinhaltete die Ablehnung des Klassenkampfes und Parteienstreits, das Bekenntnis zur „Volksgemeinschaft“ mit ständischer Gliederung, das Beklagen einer Notzeit, die Forderung nach Wahrung des nationalen Besitzstandes und nach nationaler Gleichberechtigung. Auf diese Sprechweise, die offensichtlich einen Grundkonsens repräsentierte, konnte Henlein ab 1933 erfolgreich aufbauen. Seine Sprache war nicht einfach die der völkischen Organisationen, sondern eine breitere Synthese, in der sich das gesamte Spektrum der bürgerlichen Parteien – und partiell sogar die Klientel der Sozialdemokraten – wiederfinden konnte. Die Sudetendeutsche Heimatfront verkörperte insofern auch diskursiv das, wovon die Nichtmarxisten schon seit Jahren gesprochen, es aber nie zustande gebracht hatten. Es ist kein Zufall, dass Henlein zu keinem Zeitpunkt über ein ausformuliertes Programm verfügte, auf das man ihn hätte festlegen können.74 Seine Bewegung definierte sich weniger über konkrete Inhalte als über einen integrati71 72 73 74

Sozialdemokrat, Nr. 249, 24. Oktober 1929, S. 4. Sozialdemokrat, Nr. 251, 26. Oktober 1929, S. 5. Sozialdemokrat, Nr. 114, 16. Mai 1935, S. 2. Boyer / Kuþera, Argumente, S. 273.

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ven Diskurs, der im Wesentlichen dem gemeinsamen Nenner der bestehenden nichtmarxistischen Diskurse entsprach, einschließlich der griffigen Parole von der Volksgemeinschaft, die ebenfalls schon über breite Akzeptanz verfügte und Ende der zwanziger Jahre als Alternative zur Parteienvielfalt, die für die Misserfolge verantwortlich gemacht wurde, attraktiv schien. Mit diesem Diskurs gab Henlein die Denkkategorien vor, die jeder nach seinem Geschmack mit einem konkreten Programm ausfüllen konnte. Vom sozialdemokratischen Diskurs übernahm Henlein immerhin auch die Begriffe der „Ausbeutung“, der „Not“ und der „Gleichberechtigung“. Im Übrigen setzte er darauf, die sozialdemokratischen Arbeiter über die in pathetischen Worten beschworene Solidarität der Volksgemeinschaft anzusprechen: „Die ungeheure Not des Arbeiters zu brechen, vermag aber der bisher gepredigte Klassenhass und Klassenkampf nicht. […] Die Not des Arbeiters zu wenden, kann nur die Angelegenheit des ganzen Volkes sein: sie wird die vornehmste Aufgabe unserer Volksbewegung bleiben. […] Und Dir, deutscher Arbeiter, der Du […] Dein mühsames Tagewerk schaffst, Dir geben wir […] ein heiliges Versprechen, […] dass wir […] immer und rücksichtslos dafür eintreten werden, dass Du befreit werdest von Ausbeutung und Elend; dass wir nicht ruhen und rasten werden, bis Du ganz bei uns stehst; denn was wäre eine Gemeinschaft des Volkes, wenn Du in ihr fehltest?“75

Der Erfolg der Sudetendeutschen Partei von 1935 beruhte also unter anderem auf der Breite und Konsensfähigkeit ihres Diskurses, auf dem Verzicht auf radikale Forderungen und auf dem Vermeiden detaillierter programmatischer Aussagen. Viele Sudetendeutsche konnten ihre Vorstellungen wiedererkennen und fühlten sich angesprochen. Die Henleinpartei verschreckte auch die bürgerlichen „Honoratioren“ nicht mit radikalen staatsfeindlichen Sprüchen, sondern warb für die gemeinsame Durchsetzung legitimer Interessen. Im nonverbalen Bereich konnte die Henleinpartei allerdings ganz anders wahrgenommen werden. Beschreibungen von Wahlkampfveranstaltungen Henleins lassen eine Mehrdeutigkeit der ausgesendeten Zeichen erkennen: Das, was er sagte, war betont versöhnlich, maßvoll, demokratisch und staatsloyal. Der Rahmen der Veranstaltung konnte völlig konträr gedeutet werden. Die Auftritte Henleins waren ähnlich inszeniert wie die Hitlers: Er kam zu Großkundgebungen, von Tausenden erwartet, mit einer Autokolonne an, zog mit einer Musikkapelle in den Veranstaltungssaal, begrüßt von brausendem Beifall und Heilrufen.76 Ein (sozialdemokratischer) Beobachter notierte sarkastisch: „Man glaubte in einer Hitlerversammlung dritter Garnitur zu sein, wie sie ausgesehen hätte, wenn sich die Nazis vor der deutschen Republik so gefürchtet hätten, wie die Henleins vor der tschechoslowakischen. Die ordinärsten Propagandamittel getraut man sich nicht zu verwenden. Es gibt also weder jene sexuelle Judenhetze, bei der sich die deutschen Männer wohlfühlen, noch eine Beschimpfung des ‚Systems‘. Das Wort Juden und das Wort Tschechoslowakei wird von keinem Redner ausgesprochen. Dagegen sprachen sämtliche Redner von der ‚Heimat‘, als ob sie einen selbständigen Kanton der Tschechoslowakei bildete. 75 Rede Henleins, 1. Mai 1934, in: Jahn (Hg.), Henlein spricht, S. 80f. 76 Vgl. die Beschreibung einer Wahlkundgebung der Sudetendeutschen Partei in Reichenberger Zeitung, Nr. 105, 5. Mai 1935, S. 2.

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Dietmar Neutatz Die subtilen Mittel der Henlein-Agitation sind deutsches Fabrikat und zweifellos wirksam. Da ist zunächst der verkappte Militarismus. Die Ordner bilden eine hohle Gasse. Sie tragen weiße Hemden, rote Armbinden und da alle Hosen dunkel sind, zeigen sie die Farben schwarz-weiß-rot. Die Ankunft des Parteivorsitzenden wird mit dem Kommando ‚Habtacht!‘ angekündigt. Ein Knall der Schuhe und ein donnerndes Heil begrüßt den Turnlehrer. […] Anspielungen an die regierende deutsche Bruderpartei im Reich werden gelegentlich serviert. Alles kichert, wenn Andeutungen fallen. […] Aber da ertönt aus den Lautsprechern, zum Abschluß, der Fehrbelliner Marsch. Einige junge Leute stehen sofort auf; die werden bald Professoren der deutschen Universität in Prag sein. Aber nun steht alles auf, denn der Turnlehrer verläßt mit seinem ‚Stab‘ den Saal durch die zusammenknallenden Absätze der Ordner, während das Heil der Massen seinem abfahrenden Auto folgt.“77

Sieht man von der Ausschmückung der Veranstaltungssäle mit tschechoslowakischen Staatsflaggen ab, so signalisierten der Stil und die Rituale der Wahlkundgebungen Henleins eine deutliche Nähe zum reichsdeutschen Nationalsozialismus. Wer wollte, konnte diese Zeichen empfangen, auch wenn die verbale Botschaft eine ausdrücklich nicht-nationalsozialistische und staatstreue war. Wer wollte, konnte aber auch darüber hinwegsehen und sich an das gesprochene und geschriebene Wort halten. Auf diese Weise war es Henlein möglich, sowohl gemäßigte Sudetendeutsche als auch die wachsende Schar der mit dem Nationalsozialismus Sympathisierenden und nach Deutschland Blickenden für sich zu gewinnen. Eine Analyse der Wahlergebnisse von 1935 zeigt, dass die Sudetendeutsche Partei als einzige Partei in allen sozialen Schichten maßgeblich vertreten war, und zudem überall mit großem Abstand als stärkste Partei, am stärksten unter den Arbeitern mit 75 %, gefolgt von den Beamten und Angestellten mit 70 %. Die Sozialdemokraten kamen hingegen unter ihrer Stammwählerschaft, den Arbeitern, nur mehr auf 16 % und verloren gegenüber 1929 fast die Hälfte der Stimmen. Die Christlichsozialen beschränkten sich mehr noch als früher auf die Gewerbetreibenden und deutsch-mährischen Bauern und der Bund der Landwirte auf die Bauern. Beide verloren noch dramatischer als die Sozialdemokraten an Stimmen.78 7. ERGEBNISSE Es hat sich also recht klar gezeigt, dass der Erfolg Henleins – unbeschadet anderer Faktoren – auch auf der Macht der Diskurse beruhte. Die Sudetendeutsche Partei prägte einen spezifischen Diskurs, mit dem sie die sozialen Beziehungen umgestaltete und neue politische Verhältnisse schuf. Die Elemente dieses Diskurses musste Henlein aber nicht erst erfinden, sondern sein entscheidender Kern war der bei allen nichtmarxistischen Parteien anzutreffende Konsens von „Sammlung“, „Einheit“ und „Volksgemeinschaft“. 77 Sozialdemokrat, Nr. 109, 10. Mai 1935, S. 5. 78 JiĜí Sláma / Karel Kaplan, Die Parlamentswahlen in der Tschechoslowakei 1935–1946–1948. Eine statistische Analyse, München 1986, S. 17f.

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Die bürgerlichen Parteien hatten sich durch diesen Einheit-Diskurs im Grunde schon in den zwanziger Jahren selbst in Frage gestellt. Ihre Existenz war, gemessen an ihren eigenen Denkkategorien, ein Widerspruch in sich. Sie wurden Gefangene ihrer eigenen Sprech- und Denkweise als Henlein mit seiner Sammlungsbewegung auftrat. Man konnte nicht gut gegen die Einheitsfront und für die eigene Partei argumentieren, wenn man eigentlich im Prinzip gegen „Parteienzersplitterung“ und für „Einheit“ war. Indem Henlein den Einheit-Diskurs absolut setzte und die Sammlung und Einheit an sich zum Programm machte, stellte er sich über die Parteien. Der Diskurs von Notzeit, Sammlung, Einheit und Volksgemeinschaft war in der Bevölkerung offenbar inzwischen so populär geworden, dass er als Ersatz für ein Programm ausreichte. Die Parteienvielfalt war – nicht erst durch Henleins Agitation – in der sudetendeutschen Öffentlichkeit mit einem negativen Vorzeichen belegt. Die Dominanz des von der Sudetendeutschen Partei besetzten Diskurses drängte allmählich die grundsätzliche Alternative, nämlich die Marxisten, ins Abseits. Die Sozialdemokraten lehnten die Idee von Einheit und Volksgemeinschaft ab und stellten ihr konsequent die Parole vom Klassenkampf entgegen. Sie benutzten somit eine andere Sprache als die, in der die Mehrheit der Bevölkerung inzwischen dachte. Die Niederlage der sozialdemokratischen Alternative ist ein Indiz für die Kraft der diskursiven Formation „Volksgemeinschaft“. Die bisherige Forschung hat in der Volksgemeinschaft meist nur eine Propagandaformel gesehen, deren Umsetzung aufgrund der real existierenden sozialen Klassenunterschiede gar nicht möglich gewesen sei. Aus der diskursorientierten Perspektive ist jedoch auch die Kategorie „Klasse“ keine vorgegebene objektive Struktur, sondern ein sprachliches Konstrukt – genauso wie die „Volksgemeinschaft“. Sowohl Klasse als auch Volksgemeinschaft sind nicht als objektive Realität, sondern nur als Bewusstsein zu fassen. Entscheidend war, ob man davon sprach, damit in der jeweiligen Kategorie dachte und an deren Existenz glaubte. In der sudetendeutschen Gesellschaft der dreißiger Jahre setzte sich offensichtlich die diskursive Formation „Volksgemeinschaft“ gegen die diskursive Formation „Klasse“ durch. Die Verwurzelung des Henlein-Diskurses in der sudetendeutschen Bevölkerung ist allerdings noch nicht wirklich untersucht. Für diesen Beitrag wurden Zeitungen und Wahlkampfpublizistik ausgewertet. Um die Sprech- und Denkweisen breiter Schichten beurteilen zu können, müssten erst entsprechende lebensweltliche Studien unternommen werden.

DAS BEIL ÜBERLEBT SEINEN HERRN. DAS JAHR 1937 UND DIE ERINNERUNG AN DIE STALINISTISCHE DIKTATUR Jörg Baberowski „Sicher kann das Gegenwärtige das Vergangene verursachen und verändern! Nur die, welche nicht verstanden haben, dass das ganze Universum im Grunde auf einmal gegenwärtig ist, glauben, dass Ursachen nur in die eine Richtung gehen. Wie oft habe ich nicht gesehen, dass Ereignisse, beispielsweise am Ende der achtziger Jahre, Dinge zutiefst beeinflusst haben, die mir in den fünfziger Jahren zugestoßen sind.“1

In einer Moskauer Wohnung sprechen zwei Frauen miteinander über die stalinistische Vergangenheit: die weißrussische Journalistin Svetlana Aleksieviþ und die 59-jährige Architektin Anna, deren Vater einst erschossen und deren Mutter nach dem Krieg in ein Lager nach Kazachstan verschleppt worden war. Anna erzählt von ihrer Kindheit, von der Hölle im NKVD-Kinderheim, in das sie nach der Verhaftung der Mutter gebracht worden war, vom Sterben in den Lagern, wo die Toten von Ratten angefressen wurden, davon, wie es war, als Aussätzige leben und nach dem Tod Stalins in die Gesellschaft zurückfinden und ein Teil von ihr werden zu müssen. Sie erzählt von der Angst, die niemals vergeht, und von der Trauer, die sie überkommt, wenn sie daran denkt, dass die alte Sowjetunion untergegangen ist. Dann schreit es aus ihr heraus: „Wen interessiert das heute noch? Ich frage Sie, wen interessiert das? Das will doch schon lange keiner mehr wissen. Unser Land gibt es nicht mehr, das kommt nie wieder, aber wir sind noch da … alt und abstoßend … mit schrecklichen Erinnerungen und gehetztem Blick … Wir sind noch da! Aber was ist denn noch übrig von unserer Vergangenheit? Nur, dass Stalin unser Land in Blut getaucht hat, dass Chruschtschow darauf Mais pflanzte und daß über Breschnew alle lachten. Und unsere Helden? Über Zoja Kosmodemjanskaja schreiben die Zeitungen heute ganz anders … Daß sie angeblich seit einer Meningitis, die sie als Kind hatte, schizophren war und gern Häuser anzündete. Und Alexander Matrosov soll sich nur vor das deutsche MG geworfen haben, weil er betrunken war und nicht, um seine Kameraden zu retten. Na, und Pavlik Morozow – der hat seinen eigenen Vater denunziert. Was sind das schon für Helden? Sklaven sind das, Rädchen … sowjetische Zombies. Und heute, wer sind da die Helden? Die Kerle in den weinroten Jacketts im Mercedes? Ich träume bis heute vom Lager … Ich kann bis heute keine Schäferhunde sehen und habe Angst vor jedem Milizionär, vor jedem Uniformierten. Ich halte das nicht aus … Ich habe den Gashahn aufgedreht, alle vier Flammen … Hab das Fenster geschlossen und die Vorhänge vorgezogen. Ich hatte nichts mehr, weswegen ich Angst gehabt hätte vorm Tod … Warum ist das alles passiert? Na ja, noch zwanzig oder fünfzig Jahre, dann ist das alles zu Staub getrampelt, als hätte es uns nie 1

Lars Gustafsson, Frau Sorgedahls schöne weiße Arme, München 2009, S. 42.

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Jörg Baberowski gegeben. Solschenizyn kommt langsam aus der Mode, und auch seine Sicht der Geschichte … Früher wurde man für den Archipel GULAG eingesperrt. Die Leute lasen das Buch heimlich, nachts … Sie tippten es ab, reichten es von Hand zu Hand. Ich glaubte … Ich glaubte, wenn Tausende Menschen es gelesen hätten, würde sich alles ändern. Die Menschen würden bereuen … Und was ist passiert? Alles, was früher für die Schublade geschrieben wurde, ist nun gedruckt; alles, was früher nur heimlich gedacht wurde, ist laut ausgesprochen worden. Und? Diese Bücher liegen an Bücherständen haufenweise herum und verstauben … Und die Leute gehen daran vorbei.“2

Und wer spricht über die Täter? Wer hat je über sie gesprochen oder von ihnen gehört, wie sie die Welt gesehen haben? Als Svetlana Aleksieviþ wenig später den Sohn Annas trifft, um mit ihm über seine Erfahrungen zu sprechen, bekommt sie eine Geschichte zu hören, die das Blut in den Adern gefrieren lässt. An einem Abend, so erzählt er, habe ihm der kranke Großvater seiner Verlobten, den Tod vor Augen, plötzlich eröffnet, dass er in der Stalin-Zeit beim NKVD gewesen sei. „Als ich die Stelle beim NKVD bekam, war ich unheimlich stolz. Vom ersten Gehalt kaufte ich mir einen guten Anzug. Der Krieg war für mich Erholung … Wenn ich einen Deutschen erschoß, dann schrie der auf deutsch. Die anderen dagegen, die schrien auf russisch … Das waren irgendwie die eigenen Leute … Auf Litauer und Polen zu schießen, war leichter. Aber die Russen, die schrien auf Russisch … Am Ende waren wir immer voller Blut, wir wischten uns die Hände an den eigenen Haaren ab … Manchmal bekamen wir Lederschürzen … Unsere Arbeit war kein Zuckerschlecken! Wenn einer nicht gleich tot war, fiel er um und quiekte wie ein Schwein … spuckte Blut … Gebrüll und Fluchen auf beiden Seiten … Essen durfte man vorher nichts … Ich jedenfalls konnte es nicht. Am Ende der Schicht brachte man uns immer zwei Eimer – einen voll Wodka und einen voll Kölnischwasser … Mit dem Kölnischwasser wuschen wir uns den ganzen Oberkörper. Blut hat einen intensiven Geruch … einen ganz spezifischen Geruch … So ähnlich wie Sperma … Ich hatte immer einen Schäferhund, der ging mir immer aus dem Weg, wenn ich von der Arbeit kam. … Wenn einer der Soldaten Spaß am Töten hatte, wurde er aus dem Erschießungskommando genommen und versetzt. Solche Leute mochten wir nicht. Aber die gab es auch … Viele von uns kamen vom Lande, wie ich, Leute vom Lande halten mehr aus als Städter … Aber an diese Sache wurden wir langsam herangeführt … Die ersten Tage schauten die Neuen nur zu bei den Hinrichtungen oder bewachten die Verurteilten. Manchmal wurde einer verrückt. Ist ja auch nicht so einfach … Selbst um einen Hasen zu töten, braucht man Übung, das kann nicht jeder … Du läßt den Verurteilten niederknien, dann ein Schuß ganz aus der Nähe in den Kopf, links überm Ohr … Wir hatten Nagant-Pistolen. Ich bin auf dem rechten Ohr fast taub … Man schießt ja mit rechts … Ich setzte bei den Vorgesetzten zweimal in der Woche eine Massage des rechten Arms und des rechten Zeigefingers durch. Obligatorisch für alle. Wir bekamen Urkunden … Darin stand: ‚Für die Erfüllung eines Spezialauftrages der Partei.‘ Von diesen Urkunden, auf bestem Papier gedruckt, habe ich einen ganzen Schrank voll. Zweimal im Jahr wurden wir mit unserer Familie in ein gutes Sanatorium geschickt. Die Verpflegung dort war ausgezeichnet … Viel Fleisch … Gute Kuranwendungen … Viel Fleisch. Einmal luden wir Verurteilte auf Barkassen und fuhren mit ihnen hinaus aufs offene Meer … Auf dem Rückweg waren die Barkassen leer … Es herrschte Grabesstille. Alle hatten nur einen Gedanken: Wenn wir an Land kommen, werden wir auch … So haben wir gelebt. Ich hatte immer einen gepackten Sperrholzkoffer unterm Bett: Wechselwäsche, Zahnbürste, Rasiermesser. Und eine Pistole unterm Kopfkissen. Um mir eine Kugel in den Kopf zu schießen. So haben wir gelebt … Alle lebten so! Ob Soldat oder Marschall … Darin herrschte Gleichheit. … Nach dem Sieg wurde 2

Svetlana Alexijewitsch, Henker und Beil. Vom Ende des roten Menschen. Sowjetische und russische Lebensläufe, in: Lettre International, 2008, 82, S. 20–30, hier S. 22, 25.

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ich verhaftet. Die NKVD-Leute hatten spezielle Listen … Ich bekam sieben Jahre! Die habe ich vollständig abgesessen. Bis heute … verstehst Du, bis heute wache ich früh um sechs auf, wie im Lager. Wofür ich gesessen habe? Wofür ich gesessen habe, das hat man mir nicht gesagt. … Wofür? … Man wird Stalin noch einmal einen großen Mann nennen. Das Beil überlebt seinen Herrn.“3

Stalin war ein Tyrann, dessen Mordlust Millionen Menschen zum Opfer fielen. Niemand bezweifelt diese Wahrheit, nicht einmal die Täter haben je bestritten, Massenmörder gewesen zu sein. Aber sie haben das große Morden des Jahres 1937 später als unumgängliche Prophylaxe ausgegeben. Stalin sei ein großer Stratege gewesen, behaupteten Vjaþeslav Molotov und Lazar’ Kaganoviþ später, er habe Feinde und Verräter beseitigen lassen, um die Sowjetunion vor dem Schlimmsten zu bewahren. 1937, im Schreckensjahr des Großen Terrors, als Hunderttausende getötet oder in Lager verschleppt wurden, sei die Sowjetunion auf den bevorstehenden Krieg vorbereitet worden.4 Ohne Terror kein Sieg, kein Sieg ohne Terror. Überall, wo Menschen im Auftrag von Regierungen getötet oder gefoltert werden, berufen sich Anstifter und Vollstrecker auf höhere Ideale. Nicht aus Leidenschaft, Bösartigkeit oder Gewinnsucht hätten sie getötet, sondern aus Einsicht. Kein Mord konnte schlimm genug sein, um nicht im Dienst des Notwendigen und Unvermeidlichen gerechtfertigt zu werden. Niemand wird überrascht sein, dass Molotov und Kaganoviþ sich rechtfertigten und versuchten, der Gewalt einen Sinn zu geben, der auch 20 Jahre nach Stalins Tod noch verstanden wurde. Warum aber sprechen auch die Opfer über die Vernichtungsgewalt so, als sei das Unrecht, das ihnen angetan worden war, gerechtfertigt gewesen? Das Beil überlebt seinen Herrn. So könnte die Überschrift für jene Geschichte lauten, wie sie in der postsowjetischen Öffentlichkeit Tag für Tag als Wirklichkeit ausgestellt wird. Helden, die Kriege gewannen, Staudämme errichteten und Imperien erschufen, Feinde erledigten und Länder eroberten, ein Diktator, der es gut mit den Menschen meinte, der Russland groß und die Feinde klein werden ließ. In solchen Inszenierungen ist der Diktator überhaupt nur als weiser Staatenlenker, nicht aber als Mörder und Tyrann darstellbar. Stalin wird in Filmen, Buchreihen und Ausstellungen verherrlicht und gepriesen. Niemand wundert sich darüber, dass Volkskommissare und Tschekisten auf Wodkaflaschen abgebildet oder auf der Homepage des Inlandsgeheimdienstes FSB als Vorgänger Putins vorgestellt werden.5 Als das Jurij-Levada-Zentrum für Demoskopie im Januar 2005 in einer Umfrage von den Bürgern wissen wollte, wen sie sich als politischen Führer für ihr Land wünschten, antworteten mehr als 42 % der Befragten, sie wünschten sich einen Führer vom Schlage Stalins. Unter den Rentnern waren es mehr als 60 %, die eine solche Antwort gaben. Inzwischen ist auch Unzweideutiges wieder möglich: Im Mai 2010 errichteten die Kommunisten anlässlich des Jahrestages des

3 4 5

Alexijewitsch, Henker und Beil, S. 28. F. ýuev, Sto sorok besed s Molotovym, Moskau 1991, S. 392; G. A. Kumanev, Rjadom so Stalinym: Otkrovennye svidetel’stva, Moskau 1999, S. 79. http://www.fsb.ru/fsb/history/leaders.htm

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sowjetischen Sieges im Zweiten Weltkrieg in der ukrainischen Stadt Zaporož’e (auf ukrainisch: Zaporižžja) ein Stalin-Denkmal.6 Niemand wird bestreiten wollen, dass auch in Russland Menschen ihre Stimme erheben und den Schrecken der Vergangenheit einen Namen geben: Die Gesellschaft Memorial, die die Zeugnisse der Überlebenden sammelt und archiviert und den Opfern zu ihrem moralischen Recht verhilft, Historiker, die Bücher schreiben und den Mythos entzaubern, der die Stalin-Zeit in der Öffentlichkeit umgibt, Ausländer, deren Bücher übersetzt und deren Thesen diskutiert werden, mutige Kritiker, die sagen, was sie über die Stalin-Zeit sagen müssen. Jedermann kann lesen, was über den Stalinismus gesagt und geschrieben worden ist.7 Aber wer interessiert sich überhaupt dafür? Was man als Empfindung zu seiner Verfügung hat, wenn man sich erinnert, ist die gefühlte Geschichte. Sie ist, wenn niemand hören will, was man gefühlt hat, in der Öffentlichkeit ohne Wirkung. Jeder muss mit dem, was er erinnert, selbst ins Reine kommen, so wie es die Architektin Anna und ihr Sohn auf je verschiedene Weise versuchen.8 In der Empfindung des Augenblicks ist man mit seinen Erinnerungen an das Erlebte allein, weil man es nicht mit jenen teilen kann, die nicht erlebt haben, was man selbst erlitten hat. Man kann es auch anders sagen: Es ist unmöglich, sich an eine Vergangenheit zu erinnern, die man nicht hatte. In der veröffentlichten Erinnerung, die darauf besteht, dass sich ihr alle individuellen und kollektiven Erinnerungen zu unterwerfen haben, kommen die Erfahrungen der Opfer nicht vor, weil sie die Inszenierungen der wiedergewonnenen Größe Russlands stören. Und dennoch ist die gestiftete Erinnerung darauf angewiesen, das man ihr Glauben schenkt. Deshalb präsentiert sie das Leiden als ein Opfer, das dem Ruhme des Imperiums dargebracht wurde, ein Leiden, das einen Sinn hatte und nicht vergeblich gewesen ist. Nur so finden die Geschichten der Opfer einen Platz in der Geschichte der Helden.9 Ist es den Opfern ein Trost, dass sie Teil einer Geschichte sind, die nicht die Opfer, sondern die Täter rühmt und in der ihr Leiden rückwirkend einen Sinn erhält, der Täter und Opfer in einer Schicksalsgemeinschaft miteinander verbindet? Nun ist diese Integration des Leidens in das sowjetische Heldenepos nicht für jedermann ein Trost. In den baltischen Republiken, in der Ukraine oder im Kaukasus werden andere Geschichten erzählt als im Zentrum des untergegangenen Imperiums. Und auch in Russland leben Menschen, die nicht wollen, dass man sich ihrer und ihrer Vorfahren auf eine solche Weise erinnert. Aber es besteht kein Zweifel, dass jene Integrationsgeschichte, die den Stalinismus als ein Projekt repräsentiert, das jedes Leiden rechtfertigte, in Russland derzeit ohne Konkurrenz ist. Es gibt in Russland keine öffentliche Aufarbeitung der Vergangenheit, jeden6 7 8 9

Lev Gudkov, Die Fesseln des Sieges. Rußlands Identität aus der Erinnerung an den Krieg, in: Osteuropa, 2005, 55, H. 4–6, S. 56–73, hier S. 65. Vgl. exemplarisch Elke Fein, Die Gesellschaft „Memorial“ und die postsowjetische Erinnerungskultur in Russland, in: Lars Karl / Igor Poljanski (Hg.), Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland, Göttingen 2009, S. 165–186. Martin Walser, Die Verwaltung des Nichts. Aufsätze, Reinbek 2004, S. 253–262. Vgl. Orlando Figes, Die Flüsterer, Berlin 2008, S. 837–916.

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falls keine solche, wie es sie in Deutschland gegeben hat. Wer darin nur einen Akt staatlicher Bevormundung oder einen Mangel an Aufklärung und wissenschaftlicher Belehrung zu erkennen vermag, hat von den Möglichkeiten, Erlebtes hinter sich zu lassen, überhaupt nichts verstanden. Wie Ereignisse erinnert und verarbeitet werden, das hängt nicht nur von den politischen Möglichkeiten und dem eigenen Willen ab, sondern von den Umständen, unter denen das Erlebte erfahren und erinnert wird. Menschen sind gezwungen, sich der Welt anzupassen, in der sie leben. Eine andere haben sie nicht. Jede Gesellschaft neigt dazu, „aus ihrem Gedächtnis alles auszuschalten, was die einzelnen voneinander trennen, und die Gruppen voneinander entfernen könnte.“10 Die Erfahrung der totalen Gewalt ermöglichte die Praxis der totalen Absolution. Worin bestand diese Erfahrung und wie wird sie erinnert? DIE DAUER DER DIKTATUR Wer nichts anderes kennt als die Diktatur, entwickelt andere Bewertungsmaßstäbe für das Geschehen, dessen Teil er ist. Der russische Schriftsteller Lev Kopelev erinnerte sich, seine Mutter habe in den 50er Jahren von der Friedenszeit vor dem großen Krieg gesprochen. Aber diese Friedenszeit lag in ihrer Erinnerung sehr weit zurück. Sie habe an die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gedacht, wenn vom Frieden die Rede gewesen sei. Seine Mutter hatte die Epoche des Stalinismus also als eine Zeit des Krieges erlebt. Der Stalinismus war eine dauerhafte Gewalterfahrung für Millionen Menschen, eine Naturkatastrophe, die in wiederkehrenden Terrorwellen neue Gruppen erfasste und verschlang. Wahrscheinlich gab es in der Sowjetunion keine Familie, die von sich hätte sagen können, sie sei nicht auch Opfer von Gewalt gewesen. Alles, was nach dem Tod Stalins noch geschah, wird nur auf der Folie dieser allumfassenden Gewalterfahrungen verständlich. Solange die Ziele des Regimes nicht erreicht, die Kontrollbedürfnisse und der Zerstörungsdrang Stalins und seiner Helfer nicht befriedigt waren, konnte es kein Ende der Gewalt geben. Denn der Stalinismus war eine Erziehungsdiktatur totalitären Anspruchs, die das Ziel verfolgte, das agrarische Vielvölkerreich zu verstaatlichen, zu industrialisieren und seine Bevölkerung zu unterwerfen und zu homogenisieren. Aus Bauern sollten Kommunisten, aus alten neue Menschen werden, die Stahl härteten, Staudämme errichteten und Panzer produzierten. Das alte Russland der „Ikonen und Kakerlaken“ (Trockij) sollte für immer verschwinden. Aber nichts dergleichen geschah: Der Lebensstandard sank, die Mehrheit der Bevölkerung lebte in bitterer Armut und litt unter den Gewaltexzessen. Bauern wurden zu Sklaven, die nach Belieben für die Zwecke des Regimes mobilisiert werden konnten. Ohne die permanente Androhung und Anwendung exzessiver Gewalt hätte sich der bolschewistische Staat nicht durchsetzen können. Denn er 10 Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt am Main 1985, S. 382.

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war schwach und konnte seinen Herrschaftsanspruch nur im Medium ständig wiederkehrender Gewaltkampagnen in Erinnerung rufen. Loyalität war unter solchen Bedingungen nicht zu haben, noch schwerer war es für die Führer, sie zu erzwingen. Die Dauer der Gewalt ergab sich also aus der Schwäche des Staates, der auf Repressionen erst verzichten konnte, als er von den Untertanen schon nicht mehr erzwingen musste, was er von ihnen erwartete. Wer seiner Macht nicht sicher sein kann, aber große Aufgaben verwirklichen will, wird gegenüber jedermann misstrauisch sein. So war es auch in der Sowjetunion. Stalin und seine Handlanger sahen eine Welt, die von Feinden und Spionen bewohnt wurde. Sie richteten sich eine Welt ein, der sie nicht mehr entkamen und in der sie sich nur noch zu den Bedingungen der Gewalt bewegen konnten. Wer Millionen Menschen auf dem Gewissen hat, kann nicht einfach aufhören, zu töten und zu verletzen. Denn ein Terrorstaat, vor dem niemand mehr Angst hat, verliert seine Autorität. Das Ende der Angst aber ist auch das Ende der Tyrannei. Niemand wusste dies besser als Stalin selbst, der die Gewalt auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sprechen ließ, weil er sich eine andere Form der Regierung nicht vorstellen konnte.11 Der stalinistische Terror richtete sich nach innen, er war Unterwerfungsgewalt, eine Form des internen Kolonialismus, während der Nationalsozialismus seine schlimmsten Exzesse jenseits der deutschen Grenzen verübte. Deshalb kam die Gewalt zu keinem Ende, Feind um Feind musste dem Sicherheitsinteresse des Regimes und dem Verfolgungswahn Stalins und seiner Helfer geopfert werden.12 Von den diktatorischen Praktiken der sozialistischen Regime Ostmitteleuropas war dieser Terror weit entfernt. In der DDR, in Ungarn und in Polen gab es keine Massenvernichtung, keine maßlose und willkürliche Terrorisierung der Bevölkerung. Ihre Bürger lebten in einer Diktatur, die Widerspruch und Kritik bestrafte, deren Repressionen aber mehr oder weniger geregelten Verfahren folgten. Viele Menschen konnten sich noch an die Zeit vor der Diktatur erinnern. Dieses Wissen ermöglichte es ihnen, Alternativen miteinander zu vergleichen. Solch eine Erinnerung konnte es in der Sowjetunion nicht geben, weil sich kaum jemand noch eine andere Ordnung als die sowjetische vorstellen konnte. DIE INTENSITÄT DER VERFOLGUNG Der stalinistische Terror fraß sich durch alle Schichten der sowjetischen Gesellschaft, niemand wurde von ihm verschont, weder Kommunisten noch Arbeiter und Bauern. Er erzeugte Furcht und Schrecken, um Gehorsam zu erzwingen, nicht nur in den Bauerndörfern und an den Rändern des Imperiums, sondern auch in 11 Vgl. exemplarisch: Jörg Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, Frankfurt am Main 42008; Gerd Koenen, Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus?, Berlin 1998. 12 Michael Geyer / Sheila Fitzpatrick (Hg.). Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared, Cambridge 2009; Jörg Baberowski, Totale Herrschaft im staatsfernen Raum. Stalinismus und Nationalsozialismus im Vergleich, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 2009, 57, S. 1013–1028.

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den Partei- und Staatsapparaten, die von unzuverlässigen Satrapen und ihren Gefolgschaften beherrscht wurden. Es gab keine Behörde, keine Parteizelle, keine Fabrik und kein Dorf, die von den Terrorwellen verschont geblieben wären, keinen Menschen, der die Diktatur nicht als andauernde Gewaltherrschaft erlebt hätte. Die Gewalt produzierte Aussätzige und Stigmatisierte. Wer keine Lebensmittelkarten mehr bekam, Wohnung und Arbeit verlor, aus der Partei ausgeschlossen worden war, geriet am Ende der 30er Jahre in Lebensgefahr. Mehr als zwei Millionen Bauern wurden als Kulaken aus ihren Dörfern vertrieben, ethnische Minderheiten deportiert und diskriminiert, soziale Randgruppen kriminalisiert und Angehörige der alten Oberschicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Mehrere Millionen Menschen lebten als Häftlinge oder Verbannte in Konzentrationslagern oder Sondersiedlungen. Die stalinistische Diktatur war eine Apartheid-Gesellschaft, die Bauern in Arbeitssklaven verwandelte und zu Menschen zweiter Klasse degradierte, die nach Belieben deportiert, mobilisiert oder getötet werden konnten. Zehntausende Bauern wurden erschossen, weil sie Ähren auf Feldern eingesammelt, Millionen verhungerten, weil die Einsatzkommandos des Regimes sie um Hab und Gut gebracht hatten. Zur Apartheid-Gesellschaft des Stalinismus gehören auch die Häftlinge im Arbeitssklavenheer des GULag, deren Zahl seit dem Beginn der 1930er Jahre stetig zunahm und die, selbst wenn sie aus den Lagern entlassen wurden, nicht wieder in die Gesellschaft zurückkehren konnten. Lagerhäftlinge und verbannte Kulaken standen auf der untersten Stufe der stalinistischen Sozialhierarchie, und sie blieben es für lange Zeit.13 Der Stalinismus war eine Stigmatisierungs-Diktatur, die die Zahl der Aussätzigen Jahr um Jahr vermehrte: Kinder von Kulaken und erschossenen Volksfeinden, von den deutschen Besatzungsbehörden nach Deutschland verschleppte Ostarbeiter, Soldaten, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren, Koreaner, Tschetschenen, Deutsche, Krimtataren, Kalmücken und Angehörige anderer nationaler Minderheiten, die als Feindvölker aus ihrer Heimat vertrieben und nach Zentralasien deportiert worden waren. Sie alle mussten mit dem Kainsmal des Feindes leben und schweigen, manche bis zum Ende des kommunistischen Regimes. Die stalinistische Diktatur vernichtete nicht nur Menschen, sie versuchte auch, das Gedächtnis der Untertanen von Altem zu leeren, vor allem in den asiatischen Republiken der Sowjetunion. Hier war der Terror auch ein Kampf um Deutungshoheit, der auf beiden Seiten mit großer Erbitterung geführt wurde. Die Bol’ševiki konnten in dieser Auseinandersetzung nur siegen, wenn sie die Symbole und Repräsentanten der Gegenkultur eliminierten und das Gedächtnis der Untertanen vom „Unrat“ vergangener Zeiten leerten. Diesem Zweck diente die Ermordung und Vertreibung von Adligen, nationalen Intellektuellen und Geistlichen, die Abschaffung der arabischen Schriftzeichen, die Zerstörung von Moscheen und Kult13 Vgl. exemplarisch: Lynne Viola, The Unknown Gulag. The Lost World of Stalin’s Special Settlements, Oxford 2007; Nicolas Werth, Die Insel der Kannibalen. Stalins vergessener Gulag, München 2006; Golfo Alexopoulos, Stalin’s Outcasts. Aliens, Citizens, and the Soviet State, 1926–1936, Ithaca 2003.

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stätten und die Vernichtung von Büchern. Das kulturelle Erbe des Islam wurde unzugänglich, der Koran unlesbar. Spätere Generationen sollten sich an ein Leben vor dem Stalinismus nicht mehr erinnern. Überall, wo Menschen vertrieben oder ermordet wurden, versuchte das Regime, alle Erinnerungsspuren zu verwischen. Nach der Deportation der Tschetschenen aus dem Kaukasus wies Stalin die Behörden an, alle Orts- und Straßennamen zu ändern, Moscheen zu zerstören und die Friedhöfe der Deportierten einzuebnen. Niemand sollte sich daran erinnern, dass dort einmal Tschetschenen gelebt hatten.14 Diese Gewalt sprach nicht nur zu den Opfern. Sie war auch eine Mitteilung an all jene, die noch nicht ausgeschlossen worden waren. Aussätzige und Feinde wurden in Schauprozessen, in der Presse, auf Betriebsversammlungen öffentlich ausgestellt und erniedrigt. Selbst der Geringste konnte sich in seinem Elend noch über die Ausgestoßenen erheben. Allein zwischen Juli 1937 und November 1938 wurden in der Sowjetunion mehr als 680 000 Menschen auf Anweisung des Diktators als „Volksfeinde“ registriert und nach Quoten erschossen. Die Partei zerstörte sich selbst, nur wenige prominente Kommunisten überlebten das Jahr 1939, tausende von NKVD-Leuten, die in den Jahren 1937 und 1938 das blutige Handwerk der Menschenvernichtung betrieben hatten, wurden am Ende des Großen Terrors erschossen oder in Lager eingesperrt, in denen sie nur geringe Überlebenschancen hatten.15 In seiner Monstrosität war der stalinistische Terror für niemanden berechenbar, er konnte jeden zu jeder Zeit um Freiheit oder Leben bringen. Es gab in der Stalin-Zeit kein Privileg auf Leben. Wer war Täter, wer Opfer, wer trug die Verantwortung für diese Gewalt, wenn sie jeden jederzeit vernichten konnte? Auf diese Frage wussten nur wenige eine Antwort zu geben, die nicht zugleich die Paranoia des Regimes widergespiegelt hätte. „Die Logik war simpel und genial: Opfer und Henker, und der Henker wurde am Ende ebenfalls zum Opfer. Das ist doch … Das kann doch kein Mensch erdacht haben. … Das Rad dreht sich, und niemand ist schuld“.16 Jedermann wusste nun, was geschehen konnte, wenn man in die Fänge der Staatssicherheit geriet. Auf einem Empfang für die Deputierten des Obersten Sowjet im Kreml am 21. Januar 1938 gab Stalin auch in der Öffentlichkeit bekannt, wie sehr er die Arbeit seines Terrorapparates schätzte, als er einen Toast auf die Staatssicherheit und ihren ersten Diener ausbrachte: „Auf den Organisator und Chef aller Tschekisten, auf den Genossen Ežov!“17 Stalin und seine Helfer priesen die Gewalt als unverzichtbares Beiwerk der neuen Zeit, die Mordarbeit der Tschekisten als Ehrendienst. Niemand konnte also darauf vertrauen, dass der 14 Jörg Baberowski, Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München 2003. 15 Vgl. Rolf Binner / Marc Junge, „S etoi puiblikoi tseremonit’sia ne sleduet“. Die Zielgruppen des Befehls Nr. 00447 und der Große Terror aus der Sicht des Befehls Nr. 00447, in: Cahiers du Monde Russe, 2002, 43, S. 181–228. 16 Alexijewitsch, Henker und Beil, S. 28. 17 Oleg V. Chlevnjuk (Hg.), Stalinskoe politbjuro v 30-e gody, Moskau 1995, S. 159; Vladimir N. Chaustov (Hg.), Lubjanka. Stalin i glavnoe upravlenie gosbezopasnosti NKVD 1937–1938, Moskau 2004, S. 249, 434, 464.

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Führer von all dem nichts gewusst, die Gewalt nur ein böser Einfall der Staatssicherheit gewesen sei. Sie war im Gegenteil ein unverzichtbarer Teil der Stalinschen Machtstrategie, Furcht und Schrecken zu verbreiten. Denn in seiner Unberechenbarkeit zerstörte der Terror Erwartungssicherheit und säte Misstrauen. Der Terror, schrieb Hannah Arendt, „ersetzt den Zaun des Gesetzes, in dessen Umhegung Menschen in Freiheit sich bewegen können, durch ein eisernes Band, das die Menschen so stabilisiert, dass jede freie, unvorhersehbare Handlung ausgeschlossen ist.“ Es ist als seien „alle zusammengeschmolzen in ein einziges Wesen von gigantischen Ausmaßen.“18 Nur noch zu den Konditionen der Staatsmacht durften die Untertanen einander begegnen, nur mit ihr noch kommunizieren. Wo der Terror wütete, konnte es keine horizontale Kommunikation, keine Gesellschaft mehr geben, sondern nur noch das Misstrauen verschreckter Untertanen. Niemand konnte sich gegen die Allgegenwärtigkeit der Gewalt schützen, die das Leben dauerhaft mit Hass und Misstrauen kontaminierte. Und weil der Terror scheinbar zufällig und blind zuschlug, weil er am Ende auch die Vollstrecker verschlang, wurde, was im Jahr 1937 in der Sowjetunion geschah, von den Überlebenden als eine Naturkatastrophe erinnert, die keinen Urheber hatte. Täter wurden zu Opfern. Auf dem Donskoe-Friedhof in Moskau wurde nicht nur die Asche der Terroropfer verscharrt, sondern auch Stalins Henker, Vasilij Blochin, bestattet. Noch im Tod waren Täter und Opfer miteinander verbunden. Die Nachgeborenen scheinen daran keinen Anstoß zu nehmen.19 Und dennoch versuchen Menschen, dem scheinbar Sinnlosen einen Sinn zu geben, damals wie heute. Sie reden sich ein, dass bösartige und verschlagene Feinde für ihr Unglück verantwortlich sind, weil sie nicht glauben wollen, dass der Zufall das Leben eines Menschen auslöscht. Sie werden ihrem Leiden einen Sinn geben, mit dem sie weiterleben können, ohne verrückt zu werden, so wie es Julija Pjatnickaja, die Ehefrau des Komintern-Funktionärs Osip Pjatnickij versuchte. Als ihr Mann 1937 verhaftet und im Jahr darauf erschossen wurde, weil Stalin eine Todesliste abgezeichnet hatte, auf der sein Name stand, geriet sie in einen Zustand der Verzweiflung. An einen Zufall mochte sie nicht glauben, schon gar nicht hielt sie es für möglich, dass Stalin Pjatnickij umgebracht hatte, weil es ihm gefiel, Menschen zu töten.20 Der gewaltsame Tod sollte einen verstehbaren Grund haben, Menschen sollten nicht umsonst gemordet haben und umsonst gestorben sein. Wer Opfer sinnloser und brutaler Gewalt geworden ist, wird die Hoffnung nicht aufgeben, dass alles, was einem widerfährt, nur ein unglückliches Missverständnis ist. Millionen Menschen mussten diese Erfahrung machen, ohne dass sie 18 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Bd. 3, Totale Herrschaft, Frankfurt am Main 1975, S. 245, 248. 19 Arsenij Roginskij, Nach der Verurteilung. Der Donskoe-Friedhof und seine österreichischen Opfer, in: Stefan Karner / Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Stalins letzte Opfer. Verschleppte und erschossene Österreicher in Moskau 1950–1953, Wien 2009, S. 97–139, hier S. 135. 20 Figes, Die Flüsterer, S. 450–461.

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jemals darüber hätten Auskunft geben können, welchem Zweck sie eigentlich zum Opfer gefallen waren. Wie hätte eine „Aufarbeitung“ aussehen sollen, die der Monstrosität dieser Gewalt gerecht geworden wäre? DIE ÜBERLAGERUNG DER VERFOLGUNG DURCH DIE KRIEGSGEWALT Nach dem Zweiten Weltkrieg war für alle alles anders geworden. Denn die stalinistischen Terrorwellen verschmolzen mit dem Massenterror und den Vernichtungsexzessen der nationalsozialistischen Eroberer. Sie veränderten die Erfahrungen von Millionen, die den Krieg als eine Katastrophe empfanden, die unverschuldet über sie gekommen war. Alles, was die sowjetischen Untertanen zuvor erlebt und erlitten hatten, verblasste angesichts der Vernichtungsgewalt der Kriegsmaschine. Nicht einmal während des Krieges hörte der stalinistische Terror auf: Stalin ließ Generäle erschießen, die im Kampf gegen die Wehrmacht versagt hatten, die Armeeführer schickten Millionen von Bauern-Soldaten bedenkenlos in den Tod, weil sie glaubten, auf militärische Strategie und Taktik verzichten zu können. Selbst bei den Kämpfen um die Stadt Berlin im April 1945 kamen mehr als 30 000 Soldaten der Roten Armee ums Leben. Die Soldaten bekamen keinen Fronturlaub, sie wurden von NKVD-Sperrkommandos am Rückzug gehindert, mehr als 300 000 Soldaten, die 1941 aus deutscher Umzingelung entkommen waren, wurden in Filtrationslager eingewiesen, fast eine Million Rotarmisten von Militärgerichten abgeurteilt, mehr als 150 000 von ihnen erschossen, 1,5 Millionen sowjetische Soldaten mussten in Strafbataillonen dienen. Während des Krieges setzte sich auch der Terror gegen die Zivilbevölkerung fort. Auf dem Rückzug brannten die abziehenden Verbände Dörfer nieder und vernichteten die Ernte, damit sie den vorrückenden Deutschen nicht in die Hände fiel, Tschekisten ermordeten Kritiker und potentielle Feinde, im Sommer 1941 töteten NKVDEinheiten alle Gefangenen, die sich noch in den Gefängnissen in Frontnähe befanden. 1941 wurden alle Russland-Deutschen nach Kazachstan deportiert, 1943 und 1944 folgten ihnen Krimtataren, Kalmücken und Tschetschenen. Nach dem Krieg nahm das Regime Rache an Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen, die gegen ihren Willen nach Deutschland verschleppt worden waren.21 Aber der Krieg eröffnete auch neue Möglichkeiten: Er förderte die Selbständigkeit von Offizieren und Soldaten, er ermöglichte Gemeinschaftserlebnisse und 21 Vgl. die Beispiele in: Antony Beevor / Luba Vinogradova (Hg.), A Writer at War. Vasily Grossman with the Red Army, 1941–1945, New York 2005; Catherine Merridale, Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939–1945, Frankfurt am Main 2006, S. 145; Jörg Ganzenmüller, Das belagerte Leningrad 1941–1944. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern, Paderborn 2005, S. 279–313; Amir Weiner, Something to Die for, a Lot to Kill for: The Soviet System and the Barbarization of Warfare 1939–1945, in: George Kassimeris (Hg.), The Barbarization of Warfare, London 2006, S. 101–125; Anthony Beevor, Berlin 1945. Das Ende, München 2002; Norman Naimark, Fires of Hatred. Ethnic Cleansing in TwentiethCentury Europe, Cambridge 2001.

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Leistungen, die nicht als Werk der Partei und ihres Führers besungen werden mussten. Bauern konnten als Soldaten Sowjetbürger werden, die sich im Kampf bewährten und die erlittenen Demütigungen und Gewalttaten auf den deutschen Aggressor umleiteten. Die Gewalt blieb, aber die Bauern waren nicht mehr nur ihre Opfer. Sie hatten selbst Waffen getragen und sie waren zum ersten Mal in ihrem Leben Rächer und Sieger gewesen. Alles, was vor 1941 geschehen war, wurde jetzt im Licht der Kriegserfahrungen, neu erinnert. Der Terror verblasste gegenüber den apokalyptischen Schrecken des Krieges, die Kommunisten und Bauern gemeinsam durchgestanden hatten. „Wer das Grauen der Blockade überlebt hatte“, erinnerte sich der Literaturwissenschaftler Dmitrij Lichaþev, der Zeuge der Belagerung Leningrads gewesen war, „den konnte nichts mehr schrecken. Uns war schwerlich noch Angst zu machen.“22 Es waren die Kommunisten selbst, die diese Veränderungen für sich und ihre Herrschaftszwecke nutzbar machten. ERINNERN IN DER DIKTATUR Als Nikita Chrušþev den Entschluss fasste, Stalins Verbrechen beim Namen zu nennen, Häftlinge aus den Lagern zu entlassen, Deportierten die Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen und Opfer zu rehabilitieren, gestand die Führung überhaupt zum ersten Mal ein, dass Menschen zu Unrecht um Freiheit und Leben gebracht worden waren, und sie gab zu, dass die Regierenden dafür die Verantwortung trugen. Chrušþev ließ den Chef der Staatssicherheit, Lavrentij Berija, und seinen Helfer aus dem Kaukasus, erschießen, aber er verzichtete darauf, andere Täter zu bestrafen. Denn er selbst war einer von ihnen gewesen. Die Entstalinisierung ermöglichte es Intellektuellen, Kritik an den stalinistischen Exzessen zu üben, aber sie war keine schonungslose Aufarbeitung der Vergangenheit. Denn es hatte nach Stalins Tod keinen Regimewechsel gegeben, es regierten die Täter von einst, die begriffen, dass sie Denunzianten nicht mit ihren Opfern, Rückkehrer nicht mit den Dagebliebenen konfrontieren konnten, wenn sie an der Macht bleiben wollten. Es gab für die Opfer keine öffentlichen Räume zur Darstellung und Ausstellung ihrer Erinnerungen an die Zeit des Schreckens. Jede Erinnerung an die Vergangenheit der Diktatur war eine Erinnerung in der Diktatur, die Schweigen produzierte: Weil die Opfer über ihre Erfahrungen nicht sprechen konnten, weil sie nicht die Kraft fanden, über das furchtbare Geschehen zu sprechen, ohne Schaden an der eigenen Seele zu nehmen, weil sie vergessen mussten, um nicht verrückt zu werden, weil sie nicht sprechen durften und weil niemand wusste, ob die Gewalt nicht doch noch einmal in den Alltag zurückkehren würde, ob man dem Frieden trauen durfte. Manchmal kam es in den 50er und frühen 60er Jahren zwar zu Gegenüberstellungen, in deren Verlauf Opfer Täter identifizieren konnten, aber nur selten wur-

22 Dmitri S. Lichatschow, Hunger und Terror. Mein Leben zwischen Oktoberrevolution und Perestroika, Ostfildern 1997, S. 301.

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den Täter auch angeklagt oder verurteilt.23 Täter wie Opfer mussten sich verpflichten, für immer zu schweigen. Erst zu Beginn der 90er Jahre konnten die meisten Opfer überhaupt über ihre Erlebnisse öffentlich sprechen. Deshalb hatten sie keine andere Wahl, als sich mit der Diktatur und den Menschen, die mit und in ihr lebten, zu arrangieren. Niemand kann es ertragen, von allem ausgeschlossen zu sein, wenn keine Hoffnung besteht, dass die Diktatur, in der man lebt, jemals enden wird. Das war die Realität in der poststalinistischen Sowjetunion, und man konnte in ihr leben, weil die Willkür, der Terror und die Massenvernichtungsexzesse nicht wiederkehrten. Die Diktatur war berechenbar geworden. Vor allem aber konnte sich Opfer wie Täter mit jener offiziellen Erinnerung identifizieren, die den Großen Vaterländischen Krieg als zweiten Gründungsmythos der Sowjetunion repräsentierte. In ihr waren alle Leiden der Vorkriegsjahre gerechtfertigt, das scheinbar sinnlose Morden erhielt einen höheren Sinn und im gemeinsamen Leiden von Millionen konnten sich Täter und Opfer als Angehörige einer unauflösbaren Gemeinschaft verstehen, als Dazugehörige.24 Einmal in ihrem Leben durften Bauern Sieger sein. Warum hätten sie unter den Umständen das Angebot der Diktatur ablehnen und darauf bestehen sollen, stets nur Opfer gewesen zu sein? Der blutige Alltag des Krieges verschwand aus der Erinnerung. Alle waren Helden gewesen, und wer Schreckliches erlebt hatte, sollte für immer schweigen. Das war der Preis, der für die Neugründung der Sowjetunion gezahlt werden musste.25 Alles, was nach dem Stalinismus kam, wurde als Verbesserung der Lebensumstände wahrgenommen, als Möglichkeit, Frieden zu schließen und sich in die große Erzählung der Überlebenden einzureihen. In den unlängst erschienenen Erinnerungen eines ehemaligen Rotarmisten, der in deutscher Kriegsgefangenschaft und danach in den stalinistischen Lagern gewesen war, wird der Fatalismus der Davongekommenen auf beeindruckende Weise zum Ausdruck gebracht. Was uns wie eine Aneinanderreihung von Unglücksfällen erscheint, weil wir es nach den Maßstäben einer Demokratie und eines Lebens bemessen, das es in Russland niemals gegeben hatte, das erscheint aus der Perspektive eines Menschen, der die Terrorexzesse des Stalinismus zufällig überlebte, während Millionen anderer Menschen starben, als eine Aufzählung von Glücksfällen. „Ich habe immer außerordentliches Glück gehabt, besonders in den schwierigen Zeiten meines Lebens. 23 Hiroaki Kuromiya, The Voices of the Dead. Stalin’s Great Terror in the 1930s, New Haven 2007, S. 248–249. 24 Bernd Bonwetsch, Der „Große Vaterländische Krieg“ und seine Geschichte, in: Dietrich Geyer (Hg.) Die Umwertung der sowjetischen Geschichte, Göttingen 1991, S. 167–187; Nina Tumarkin, The Living and the Dead. The Rise and Fall of the Cult of World War II in Russia, New York 1994; Martin Hoffmann, Der Zweite Weltkrieg in der offiziellen sowjetischen Erinnerungskultur, in: Helmut Berding / Klaus Heller / Winfried Speitkamp (Hg.), Krieg und Erinnerung. Fallstudien zum 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 129–143; Corinna Kuhr-Korolev, Erinnerungspolitik in Russland. Die vaterländische Geschichte und der Kampf um historisches Hoheitsgebiet, in: Neue Politische Literatur, 2009, 54, S. 369–384. 25 Gudkov, Die Fesseln des Sieges; Boris Dubin, Erinnern als staatliche Veranstaltung. Geschichte und Herrschaft in Russland, in: Osteuropa, 2008, 58, H. 6, S. 57–65.

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Ich hatte Glück, weil mein Vater nicht verhaftet wurde; weil die Lehrer in meiner Schule gut waren; weil ich nicht in den Krieg gegen Finnland ziehen musste; weil ich nie von einer Kugel getroffen wurde; weil ich das schwerste Jahr meiner Gefangenschaft in Estland verbrachte; weil ich bei der Arbeit in den deutschen Bergwerken nicht starb; weil ich nicht wegen Desertion erschossen wurde, als die Sowjetbehörden mich verhafteten; weil ich bei den Verhören nicht gefoltert wurde; weil ich auf der Fahrt ins Arbeitslager nicht starb, obwohl ich bei 1,80 Meter Körpergröße nur 48 Kilo wog; weil ich in ein sowjetisches Arbeitslager kam, als die Gräuel des Gulag sich bereits abschwächten. Meine Erfahrungen haben mich nicht verbittert, und ich habe gelernt, das Leben so zu akzeptieren, wie es wirklich ist.“26 ERINNERUNG NACH DEM ENDE DES KOMMUNISMUS Der Zweite Weltkrieg ist auch heute noch jenes Bedeutungsfeld, auf dem die öffentlichen Erinnerungen an den Stalinismus abgehandelt und aufgearbeitet werden. Als sinnvolle Erinnerung an die Diktatur und die Gewalt im 20. Jahrhundert ist der Krieg auch in der Gegenwart ohne Alternative. Am 9. Mai wird nicht der Opfer gedacht und die Gewalt geächtet. Am 9. Mai wird der Sieg des Imperiums gefeiert und das armselige und traurige Leben von Millionen aufgewertet. Deshalb ist der Zweite Weltkrieg auch nur als russischer Krieg in der öffentlichen Erinnerung präsent, es scheint, als habe es in diesem Krieg überhaupt keine Verbündete gegeben. Diese Form der öffentlich inszenierten Erinnerung schafft Einigkeit, sie erfüllt bisweilen selbst die ehemaligen Häftlinge, die sich nach ihrer Haft in der Nähe der Lager niederlassen mussten, mit patriotischem Stolz auf das Geleistete. In Noril’sk, einer Industriestadt in Sibirien, die von Häftlingen errichtet wurde, sind die Bewohner stolz auf die Leistungen der Gefangenen, die zur Größe und Stärke des Imperiums beigetragen haben. Die Opfer bekommen Anerkennung und die Obrigkeit kann mit einem Identifikationssystem operieren, das Zustimmung nicht mehr mit nackter Gewalt erzwingen muss. Dass dabei all jene Stimmen unterdrückt werden, die von der dunklen Seite der Macht sprechen, versteht sich in diesem Szenario schon fast von selbst. Man kann also die Vernichtung der Kulaken beweinen und ein Bewunderer Stalins sein.27 Russlands Erinnerungskultur erwuchs aus Erfahrungen, die Polen, Ungarn und Deutsche mit Russen und Ukrainern nicht teilen. Es gab nach mehr als 40 Jahren stalinistischer Herrschaft keine konkurrierenden Deutungseliten mehr, keine katholische Kirche, keine Emigration mit Stimme, keine Erinnerung an die Zeit vor dem Kommunismus, kein Westfernsehen, keine „Brüder und Schwestern“ im Ausland und keine Besatzer, die man für Elend und Unterdrückung verantwortlich machen konnte. Diese Möglichkeit gab es nur in den baltischen Republiken, die 1940 von der Roten Armee gegen ihren Willen besetzt wurden und in Grenzen 26 Zitiert in Figes, Die Flüsterer, S. 851. 27 Gudkov, Die Fesseln des Sieges.

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auch in der Ukraine.28 Die Sowjetunion wurde aufgelöst, sie zerfiel, weil ihre Eliten ihren Zerfall zuließen. Aber es gab keine Revolution, keine ausländische Intervention, keine Umerziehung. Zu Beginn der 90er Jahre hatte der russische Präsident Boris El’cin noch mit dem Gedanken gespielt, einen Prozess gegen die Kommunistische Partei der Sowjetunion zu inszenieren. Aber er sah wahrscheinlich ein, dass ein solches Verfahren alle Grenzen überschritten hätte, denn Kommunisten waren alle gewesen, die sich zur Elite zählten, nicht zuletzt El’cin selbst. Das Imperium flirtete mit der Freiheit, schreibt der ukrainische Schriftsteller Jurij Andruchovyþ. „Aber es war ein Fehler, die Haut wechseln zu wollen. Die weggeworfene war, wie sich zeigte, die einzige gewesen.“29 Denn es hat auch nach 1989 in der Sowjetunion keinen Elitenwechsel gegeben, keine liberale Opposition und keinen äußeren Anpassungsdruck, wie er etwa von der Europäischen Gemeinschaft und ihren politisch korrekten Erinnerungsverordnungen in Ostmitteleuropa ausgeht. Der sowjetische Kosmos ist immer noch der Resonanzboden der russischen Erinnerung. In ihm wird das Imperium bejubelt und der Machtstaat gepriesen. Nach dem Zusammenbruch des Vielvölkerreiches ist dieses Bedürfnis nach nostalgischer Verklärung des sowjetischen Machtstaates sogar noch gewachsen. „Der Sieg ist die Stalin-Zeit“, schreibt Arsenij Roginskij, „aber auch der Terror ist die Stalin-Zeit. Diese beiden Bilder der Vergangenheit zu verbinden war schlechterdings unmöglich – es sei denn um den Preis, dass eines von ihnen verdrängt oder erheblich modifiziert würde. Das Endergebnis war genau dieses: Die Erinnerung an den Terror trat in den Hintergrund. Sie ist nicht völlig verschwunden, aber sie spielt im kollektiven Bewusstsein nur noch eine marginale Rolle.“30

Für die Leiden der Opfer ist in dieser Erinnerung nur Platz, wenn sie sich mit Lobgesängen verbinden lassen. Der russische Soziologe Lev Gudkov sprach von den „Fesseln des Sieges“, weil der Sieg die Verbrechen des stalinistischen Regimes rechtfertigte und autoritären Regierungen Legimität verschafft. Solange militärische Siege und imperiale Größe das Gedächtnis beherrschen, wird das au-

28 Vgl. exemplarisch: Katja Wezel, „Okkupanten“ oder „Befreier“? Geteilte Erinnerung und getrennte Geschichtsbilder in Lettland, in: Osteuropa, 2008, 58, H. 6, S. 147–157; Karsten Brüggemann, Denkmäler des Grolls. Estland und die Kriege des 20. Jahrhunderts, in: Osteuropa, 2008, 58, H. 6, S. 129–146; Gerhard Simon, Holodomor als Waffe. Stalinismus, Hunger und der ukrainische Nationalismus, in: Osteuropa, 2004, 54, H. 12, S. 37–56. 29 Juri Andruchowytsch, Moscoviada, Frankfurt am Main 2006, S. 34, zitiert in: Margareta Mommsen / Angelika Nußberger, Das System Putin. Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Russland, München 2007, S. 95. 30 Arsenij Roginskij, Fragmentierte Erinnerung. Stalin und der Stalinismus im heutigen Russland, in: Osteuropa, 2009, 59, H. 1, S. 37–44, hier S. 41. Jörg Ganzenmüller zeigt am Beispiel St. Petersburgs, dass es inzwischen auch in Russland Versuche von Bürgern gibt, sich vom staatlichen Gedenkdiktat abzuwenden und der Opfer des Krieges zu gedenken. Vgl. Jörg Ganzenmüller, Identitätsstiftung und Trauerarbeit: Sowjetische Kontinuitäten in der russischen Erinnerung an die Belagerung Leningrads, in: Karl / Poljanski (Hg.), Geschichtspolitik, S. 271–285, hier S. 280–281.

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toritäre Regime leichtes Spiel haben, seinen Bürgern einzureden, dass die gelenkte die eigentliche Demokratie sei.31 So gesehen ist Stalin immer noch nicht tot. Das Beil überlebt seinen Herrn.

31 Gudkov, Die Fesseln des Sieges, S. 64; Maria Feretti, Unversöhnliche Erinnerung. Krieg, Stalinismus und die Schatten des Patriotismus, in: Osteuropa, 2005, 55, H. 4–6, S. 45–55, hier S. 54; Michail Ryklin, Mit dem Recht des Stärkeren. Russische Kultur in Zeiten der „gelenkten Demokratie“, Frankfurt am Main 2006; Mommsen / Nußberger, Das System Putin. S. 12–31.

DIE SOWJETUNION ANNO 1940: ERSTE SYMPTOME DER ERNÜCHTERUNG ODER „WECHSEL DER WEGZEICHEN“ IN THEORIE, IDEOLOGIE UND PROPAGANDA Ⱥleksandr ýubar’jan Die durch komplizierte Verflechtungen gekennzeichnete und äußerst dramatische Zeit von Ende August 1939 bis Juni 1941 wurde von grundsätzlichen Veränderungen in der theoretischen Konstruktion und der ideologischen Begründung der sowjetischen Außenpolitik begleitet. Die allgemeine Entwicklung hin zur Annäherung an Deutschland, die bereits seit Frühjahr/Sommer 1939 zu beobachten war, wirkte sich bis Anfang September auf die ideologische Ausrichtung der sowjetischen Propaganda und auf die theoretische Interpretation der Entwicklung in der Weltpolitik und den internationalen Beziehungen kaum aus. Als Hauptmaxime der sowjetischen Bewertung galt weiterhin die Verurteilung des Faschismus, der als Hauptgefahr für die Welt und für den Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion betrachtet wurde. Die Gesamtbewertung des deutschen Faschismus als einer „Ausgeburt der Monopolbourgeoisie“ und als einer Stoßkraft des internationalen Imperialismus, ja als eines „Hauptfeindes der Werktätigen“, die in vielen Dokumenten der bolschewistischen Partei und in den Beschlüssen der Komintern festgehalten wurde, bewahrte weiterhin ihre Gültigkeit und Stoßrichtung. Zur gleichen Zeit, wenn auch zuweilen mit etwas geringerem Nachdruck, setzte sich die Kritik an den sogenannten „demokratischen Regimen“ fort, vor allem an Großbritannien und Frankreich, die gleichermaßen als Gegner der Arbeiterklasse auf der ganzen Welt betrachtet wurden. Unter den Bedingungen des Sommers 1939, als die Verhandlungen über politische und militärische Fragen zwischen den Vertretern der Sowjetunion, Großbritanniens und Frankreichs stattfanden, ließ die Intensität der Propagandaaktionen gegen diese Länder etwas nach; man muss jedoch ausdrücklich betonen, dass die Gesamtbewertung des Imperialismus, seines „aggressiven volksfeindlichen Wesens“ und die Notwendigkeit eines Kampfes gegen ihn nach allen Richtungen weiterhin die Hauptlinie des sowjetischen Theoriedenkens und der Ideologie bestimmte. Sie ergab sich aus der Idee der Weltrevolution, wurde nach 1917 verfolgt und Anfang der 1930er Jahre wieder aufgenommen, nachdem die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland übernommen hatten, und wurde in den Beschlüssen der Parteitage, in den Reden Stalins und anderer Partei- und Staatsführer mehrfach in ihrer Gültigkeit bestätigt.

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Eine wichtige theoretische Maxime der sowjetischen Außenpolitik und der Propaganda war die Vorstellung von der UdSSR als einer „belagerten Festung“, die sich in einer feindlichen kapitalistischen Umwelt behaupten muss. Und diese Hauptlinie wurde ungeachtet all der Veränderungen in der Außenpolitik in der Bewertung verschiedener bürgerlicher Parteien und ihrer Führer aufrechterhalten. Die Interpretation des Imperialismus im Allgemeinen, die scharfe Verurteilung des Faschismus, die harsche Kritik am „britisch-französischen Kapitalismus“, besonders nach dem Münchner Abkommen, stellte die Essenz der ganzen sowjetischen Ideologie dar. Der „Kurze Lehrgang der Geschichte der VKP(b)“ sowie andere Werke des „theoretischen und ideologischen Denkens“, die ganze Propaganda und Agitation, Lehrbücher und Unterrichtshilfen für Mittel- und Hochschulen waren durchdrungen von Aufrufen zum Kampf gegen Imperialismus und Faschismus. Während der Schauprozesse der 1930er Jahre lieferte die Verbindung der Angeklagten „zur internationalen Bourgeoisie“, ihre vermeintliche „Geheimdiensttätigkeit“ für das eine oder das andere kapitalistische Land, stets das Hauptargument für die Legitimation der Massenrepressionen. Für viele Tausend Menschen, die in den ideologischen Einrichtungen arbeiteten, ja auch für Millionen „einfacher“ Bürger, schienen die theoretischen Maximen, die sich auf der Ideologie des Marxismus-Leninismus sowie auf den behaupteten Besonderheiten der Weltentwicklung und der Eigenart des Faschismus gründeten, unerschütterlich zu sein und die Grundannahmen der sowjetischen Theorie und Ideologie zum Ausdruck zu bringen. Es ist außerdem bekannt, dass sich die Spitze der Entlarvungskampagnen stets auch gegen die internationale Sozialdemokratie richtete, die zum Hauptfeind der kommunistischen Parteien und zum Protagonisten der bourgeoisen Ideen in den Reihen der Arbeiterklasse erklärt wurde. Doch nach einer gewissen Überbewertung der Ereignisse, die mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten verbunden waren, setzte der VII. Weltkongress der Komintern entsprechend den Beschlüssen des Politbüros des CK der VKP(b) die Akzente in der Kritik an der Sozialdemokratie und der Linken etwas anders, und brachte die Idee einer vereinigten Volksfront vor. Man ging davon aus, dass diese Volksfronten zu einem Instrument werden könnten, die politischen Kräfte auf breiterer Basis im Kampf gegen die faschistische Bedrohung zu vereinen. Diese Ausrichtung und Form der bolschewistischen Theorie und Praxis spiegelte die stalinsche Auslegung der Ideologie der Weltrevolution und die Zielsetzung des Aufbaus des Sozialismus und des Kommunismus im Inneren der Sowjetunion wider. Eine genaue Betrachtung und Interpretation der zahlreichen Artikel und Reden Stalins aus den 1920er und 1930er Jahren bietet einen Anlass für die Schlussfolgerung, dass für ihn (wahrscheinlich anders als für Lenin und für eine Reihe weiterer Kampfgenossen Stalins) die Ideologie und die Praxis des Internationalismus und des Kommunismus in vielen Fällen eher nur ein Mittel zum Zweck darstellten als diesen Zweck selbst, und dass seine Prioritäten sich am Nationalismus und den pragmatischen Interessen der nationalen Politik ausrichteten, die somit an die erste Stelle gerückt waren.

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Der ständige Dualismus der internationalistischen Ideologie und der realpolitischen Interessen, der für die sowjetische Theorie und Praxis in vielen Fällen charakteristisch war, wurde zugunsten der „real politic“ aufgelöst. Dennoch wurden die vielfältigen Zickzacklinien in der sowjetischen Außenpolitik selbstverständlich immer mit allgemeinen Interessen des Kampfes gegen den Imperialismus und die bourgeoise Ideologie gerechtfertigt. Die Bol’ševiki vergriffen sich niemals an diesen „heiligen Maximen“, die mit der Kritik am Imperialismus – und in den 1930er Jahren auch am Faschismus als der Hauptstoßkraft des Imperialismus – verbunden waren. Jede Abweichung von den Grundvorgaben wurde als Ausdruck des „Revisionismus“ oder einer parteifeindlichen Haltung aufgefasst, und jene, die sich dieser Vergehen schuldig machten, verurteilt und verfolgt. Bevor wir zur Betrachtung der Ereignisse übergehen, die in Verbindung mit der Unterzeichnung des Vertrages mit Deutschland stehen, sei angemerkt, dass in der sowjetischen Ideologie und der außenpolitischen Praxis über Jahre hinweg die „Anglophobie“ fortwährte. Im Allgemeinen stießen die liberal-demokratischen und sozialdemokratischen Staaten bei den Bol’ševiki seit den Zeiten Lenins und in den Herrschaftsjahren Stalins oft auf eine größere Ablehnung und Nichtakzeptanz als die rechten und autoritären. In diesem Zusammenhang ist an Lenins scharfe Kritik an Lloyd George und dem „Lloyd-Georgismus“, an die Angriffe gegen die britische Administration in den Kolonien und die „Mörder“ der Kolonialvölker, gegen die britischen Liberalen und die Mitglieder der Labour Party wegen ihrer versiert volksfeindlichen Politik zu erinnern. Einer vergleichbaren Kritik unterwarfen die sowjetischen Ideologieinstanzen die USA für ihre „pseudodemokratischen“ Parolen und eine Politik, die in Wirklichkeit die Interessen der mächtigsten Monopole vertrete, die den Interessen der Werktätigen in allen Ländern der Welt entgegenstünden. Genauso verbreitet war die harte Kritik an die Adresse der französischen Sozialisten und der „bürgerlichen Radikalen“, die das französische Volk mit ihren pseudodemokratischen Parolen und ihrer Demagogie betrügen würden. Gleichzeitig war noch seit den Zeiten der Revolution von 1917 und Rapallo die Germanophilie unter der sowjetischen Elite ziemlich verbreitet. Unter den Bedingungen einer Wende hin zur Kritik am Faschismus wuchs jedoch die Missbilligung des „volksfeindlichen Wesens“ des deutschen Nationalsozialismus und seiner Ideologie sowie des expansionistischen Charakters des deutschen Imperialismus durch die sowjetischen Politiker und Ideologen. Was die ideologische Indoktrination der Bevölkerung anging, so überwog in der sowjetischen Propaganda während der 1930er Jahre die Idee eines potentiellen Krieges, an dem die Sowjetunion teilzunehmen gezwungen sein werde. Diese Idee wurde eigentlich aus der Vorstellung von der UdSSR als einer „belagerten Festung“ abgeleitet, die sich in einer feindseligen kapitalistischen Umgebung befinde. Sowjetische Menschen sollten begreifen, dass ihr Land jederzeit angegriffen werden könnte; deshalb wurden „Pazifismus“ und ein „Nachlassen der Wachsamkeit“ in der sowjetischen Ideologie stets getadelt. Gleichzeitig jedoch wurden diese Menschen im Glauben an die Macht und Stärke der sozialistischen Sowjetunion sowie an ihre Fähigkeit erzogen, jeden Eindringling zurückzuwerfen. Damit sich

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diese Überzeugung verfestigte, wurden sowohl die historische Erfahrung als auch die Traditionen der russischen Vergangenheit instrumentalisiert, in der das Land den Angriffen des Feindes erfolgreich widerstanden und ihn niedergeworfen hatte. Heldentum und Selbstlosigkeit der sowjetischen Menschen wurden auch in Kunst und Belletristik propagiert. Die „Theorie der permanenten Krise des Imperialismus“, „der Verschärfung seiner inneren Gegensätze“, „seiner Schwächung im Vergleich zur sozialistischen Sowjetunion“ nahm eine bedeutende Stelle in der sowjetischen Ideologie und der Propaganda ein. Die Zuversicht in den Endsieg des Sozialismus stützte sich vor allem auf den Nachweis der inneren Schwäche des Imperialismus. In der Vorkriegszeit fehlte eigentlich die Idee einer Erweiterung des sozialistischen Einflussbereichs auf Kosten irgendeines benachbarten oder jedes anderen Territoriums. Die Komintern legte die kommunistischen Parteien auf Zersetzungsarbeit unter den kapitalistischen Regimen in ihren Ländern, auf die Entlarvung ihres „volksfeindlichen Wesens“ fest. Die ganze Tätigkeit der Komintern wurde überwiegend von der Idee bestimmt, die Sowjetunion zu unterstützten: ihren Kurs in der internationalen Politik ebenso wie ihre konkreten außenpolitischen Maßnahmen. In der Geschichtswissenschaft werden bereits seit vielen Jahren heftige Diskussionen darüber geführt, ob die außenpolitische Strategie der Sowjetunion einen offensiven oder einen defensiven Charakter trug. Was die Ideologie betrifft, so scheinen diese Debatten in einem bedeutenden Maße müßig zu sein: Die ideologische Doktrin der Sowjetunion vertrat stets eine Offensivstrategie. In theoretischen Abhandlungen war in der Regel davon die Rede, dass Kritik am Kapitalismus im offensiven Geist zu führen sei, wobei alle Erscheinungsformen des Imperialismus ständig und umfassend zu entlarven seien. Seit Beginn der 1930er Jahre gehörte die Kritik am Faschismus, seiner Ideologie und Praxis zu den unabdingbaren Attributen dieser Entlarvungen. Von jedem Kommunisten in der Sowjetunion und von allen kommunistischen Parteien verlangte man Aktivitäten, die darauf zielten, die Errungenschaften des sozialistischen Landes zu demonstrieren und die tiefen Widersprüche und Krisen der Länder des Kapitals und des Systems des Imperialismus als Ganzes analytisch freizulegen. In ihrem Theorievorrat hatten die kommunistischen Parteien auch eine Begründung für die tiefen Gegensätze zwischen den verschiedenen kapitalistischen Staaten sowie zwischen den Gruppen und „Mächten der Bourgeoisie“; zudem gab es darin eine Anleitung dafür, wie man diese Gegensätze im Interesse der sozialistischen Sowjetunion und der kommunistischen Bewegung im Allgemeinen nutzen könnte. Alle diese theoretischen und ideologischen Konzeptionen wurden als unerschütterlich, als Ableitungen aus Grundsätzen des Marxismus-Leninismus sowie aus der konkreten Weltlage in den 1930er Jahren betrachtet.

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1. In diesem Zusammenhang ist die Frage angebracht, inwiefern und auf welche Weise sich die sowjetische Strategie und Ideologie nach der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages samt dessen Zusatzdokumenten am 23. August 1939 änderten. Diese Frage beinhaltet noch eine weitere, nämlich, ob die sowjetische Führung tatsächlich einen derart entschiedenen „Wechsel der Wegzeichen“ und der Orientierung vorbereitet hatte. Es scheint offensichtlich zu sein, dass ungeachtet der Wende in Moskau hin zur Annäherung an Deutschland, die sich bereits im Frühjahr und im Sommer 1939 abgezeichnet hatte, für die sowjetischen Führer kein Anlass zu irgendeiner Revision ihrer theoretischen und ideologischen Positionen bestand. Es war noch nicht ganz klar, welchen Ausgang die deutsch-sowjetischen Kontakte nehmen würden, und außerdem liefen auch die trilateralen Verhandlungen zwischen der Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich weiter. Deshalb verfolgten die ideologischen Institutionen (die Presse, die wissenschaftlichen Filmproduktionen, die Rundfunkpropaganda) den gleichen Kurs weiter, den sie in den 1930er Jahren eingeschlagen hatten und der sich auf die beständigen Stereotype der sozialistischen Theorie stützte. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sowohl die Vertragsunterzeichnung als auch insbesondere die Geheimen Zusatzprotokolle zum Vertrag in gewisser Weise für Stalin selbst und für seine Mitstreiter unerwartet kamen. Sie brauchten erst einige unruhevolle Tage, vielleicht sogar Wochen, um sich über die Richtlinien ihrer Außenpolitik zu einigen. In den ersten Wochen waren sowohl langfristige Ziele als auch rein pragmatische Belange der Stunde für die Ausarbeitung der weiteren Vorgehensweise ausschlaggebend. In noch größerem Maße galt das für die Theorie und die Ideologie. Jeder Grundsatzwandel dieser Art verlangte danach, lange vorbereitet zu werden, wenn er dauerhaft begründet und in der Langzeitperspektive gültig bleiben sollte. Das, was hinter den Kulissen des Kremls im September und Oktober 1939 passierte, zeigt, dass die sowjetische Führung im Prinzip für eine neue Strategie sowie für einen „Wechsel der Wegzeichen“ in der Theorie und in der Ideologie reif war. Offensichtlich hatte sich Stalin, als er sich für die prodeutsche Wende entschieden hatte, auch überlegt, was diese Wende für die Theorie und die Ideologie bedeuten würde. Doch in welcher Form das geschehen würde, wurde erst klar, nachdem gleich im Anschluss an die Vertragsunterzeichnung intensive Diskussionen stattgefunden hatten. Der Kremlführer wurde vor allem mit der Notwendigkeit konfrontiert, dem eigenen Volk und der ganzen Welt (hauptsächlich der kommunistischen Bewegung) die Gründe für eine derart scharfe Wende hin zur Einigung mit dem faschistischen Deutschland zu erklären, dessen Entlarvung und Bekämpfung bisher zu den Hauptaufgaben der Sowjetunion und der „kommunistischen Parteien und aller Kräfte des Fortschritts“ gehörte.

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Eine weitere Frage, die im Kreml zur Diskussion hätte stehen können, war, wieweit die sowjetischen Führer in ihren Beziehungen zu Nazideutschland gehen wollten. Im Grunde genommen konnte es hier unterschiedliche Varianten geben. Moskau konnte sich darauf beschränken, den Vertrag mit Deutschland (einschließlich der entsprechenden Zusatzprotokolle) zu unterzeichnen, seine Hauptprobleme zu lösen, dem Konflikt zwischen den „imperialistischen Staaten“ fernzubleiben, und Beziehungen zu Großbritannien und Frankreich zu wahren, ohne seine ideologische Strategie im Allgemeinen zu verändern, sondern nur seine bisherige antifaschistische und antideutsche Ausrichtung etwas zurückzunehmen. Hätte man sich für diese Möglichkeit entschieden, so wären die Nachteile, die sich aus der Vertragsunterzeichnung für die öffentliche Meinung in der Welt sowie für das Ansehen im eigenen Volk ergaben, nicht so groß gewesen. Auch eine andere Variante war möglich. Die sowjetische Ideologie passte sich der veränderten Situation an bei gleichzeitiger Wahrung der Distanz gegenüber den theoretisch-ideologischen Grundsätzen des Nationalsozialismus, veranlasste jedoch die kommunistischen Parteien anderer Länder und die kommunistische Bewegung im Allgemeinen nicht dazu, ihre Positionen zu verändern. Doch in Moskau überlegte man es sich anders, was auch Stalins Bewertung des soeben abgeschlossenen Vertrags mit Deutschland zum Ausdruck brachte. Kaum hatten die Abmachungen mit Berlin ihre ersten Folgen gezeigt, als man im Kreml begann, einen grundsätzlichen ideologischen „Wechsel der Wegzeichen“ in die Wege zu leiten. Offensichtlich sorgte die Euphorie, die in der letzten Augustwoche 1939 (insbesondere dank der Unterzeichnung der Geheimen Zusatzprotokolle, die Moskau so unerwartet die Kontrolle in Osteuropa überließen) in Moskau herrschte, bei Stalin für das Vertrauen zu Hitler sowie für die Zuversicht in die weitere Zusammenarbeit. Die erste Reaktion auf den Vertragsschluss kam von Seiten der Komintern, und Stalin vernahm sofort deutliche Zeichen der Verlegenheit und Ratlosigkeit, in die die Führer der kommunistischen Parteien in Europa geraten waren. Am 27. August 1939 richteten Georgij Dimitrov und Dmitrij Manuil’skij einen Brief an Stalin, in dem sie ihm mitteilten, dass die kommunistischen Parteien „die richtige Position vertreten und den deutsch-sowjetischen Pakt unterstützen“; doch diese Parteien, so hieß es in dem Brief weiter, hatten offensichtlich gehofft, dass sie diese Unterstützung „mit der Fortsetzung der Kritik an der faschistischen Aggression verbinden könnten“1. Einige Tage später, nachdem Großbritannien und Frankreich als Reaktion auf den deutschen Überfall auf Polen Hitlers Reich den Krieg erklärt hatten, wurde die Lage noch komplizierter. Selbstverständlich hatten die kommunistischen Parteien ihre Taktik im Umgang mit den Regierungen ihrer Länder festzulegen. Darum ging es in den Anfragen, die die Kominternführung, vor allem die Führer der französischen und belgischen KPs, die Führer der Kommunistischen Parteien Großbritanniens, der USA und anderer Länder nach Moskau schickten. Sie 1

Siehe Komintern i vtoraja mirovaja vojna, Teil I, Ɇoskau 1994, S. 7f.

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musstem außerdem ihre Reaktion auf den deutschen Angriff gegen Polen zum Ausdruck bringen, und waren, folgt man den ersten Reaktionen der kommunistischen Parteien in einigen Ländern Europas, bereit, sie (gemeint ist die Aggression) zu verurteilen.2 Der gesunde Menschenverstand hätte Stalin und Dimitrov auf den Gedanken bringen müssen, dass es angebracht gewesen wäre, zumindest in der ersten Zeit keine eiligen Schritte zu unternehmen, den kommunistischen Parteien die Chance zu geben, ihr „Gesicht zu wahren“, und den früheren Kurs nach einigen Änderungen weiter zu fahren. Doch Dimitrov hatte wie immer Angst, die Entscheidung in dieser Frage zu übernehmen, und richtete bereits am 5. September an den Sekretär des CK der VKP(b), Andrej Ždanov, einen Brief, in dem er ihm mitteilte, dass ein Dokument zur Taktik der kommunistischen Parteien unter den Bedingungen des soeben begonnenen Krieges ausgearbeitet werde, und dringend um eine Audienz bei Stalin bat.3 Am 7. September fand das berühmte Treffen Dimitrovs mit Stalin in Anwesenheit von Vjaþeslav Molotov und Ždanov statt. Bei diesem Treffen setzte Stalin im Grunde genommen den Sinn der Wende auseinander, die nun soeben Realität wurde. Bereits diesen ersten Einweisungen Stalins war zu entnehmen, dass man sich in Moskau tatsächlich für die radikalste Lösung entschieden hatte. Zu Beginn wiederholte Stalin die übliche Meinung, der Krieg werde zwischen zwei Gruppen kapitalistischer Länder um die Umverteilung der Welt, um die Weltherrschaft geführt: „Wir haben nichts dagegen, dass sie sich gründlich prügeln und gegenseitig schwächen. Es wäre nicht schlecht, wenn die Situation der reichsten kapitalistischen Länder (insbesondere Großbritanniens) mit den Händen Deutschlands zerrüttet wäre. Ohne es zu wissen und zu ahnen, zerstört Hitler die Grundlagen des kapitalistischen Systems.“4

Und weiter hieß es: „Wir können manövrieren, die eine Seite gegen die andere ausspielen, damit sie sich besser prügeln können.“ Obwohl Stalin erklärte, dass der Nichtangriffspakt in gewisser Weise Deutschland zur Hilfe komme, hatte er für die nächste Zeit vor, dessen Gegner gegen dieses aufzustacheln.5 Diese Worte des sowjetischen Führers hatten nichts Außergewöhnliches an sich. In einer stark vereinfachenden Form (all dies war bereits bekannt, jedoch nicht aus Sitzungsprotokollen, sondern aus den Tagebüchern von Dimitrov) referierte Stalin die bekannten Thesen des Marxismus-Leninismus über die Ausnutzung der Gegensätze im kapitalistischen Lager. Doch dann brachte Stalin das zum Ausdruck, was eine konkrete Vorgabe sowohl für die kommunistische Weltbewegung als auch für die ideologische Wende in der Sowjetunion enthielt. Stalin erklärte, dass unter den Bedingungen eines 2 3 4 5

Siehe Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social’no-politiþesckoj istorii (RGASPI), f. 495, op. 2. d. 2, ll. 15–17, 30. Siehe RGASPI, f. 495, op. 18, d. 1292, l. 8–9. The Diary of Georgi Dimitrov, New Haven 2003, S. 115f.; außerdem: Georgi Dimitrov, Dnevnik. 9 mart 1933 – 6 fevruari 1949, Sofia 1997, S. 181f.; Komintern i vtoraja mirovaja vojna, Teil I, S. 10. Siehe Komintern i vtoraja mirovaja vojna, Teil I, S. 11.

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Krieges zwischen den imperialistischen Mächten die Einteilung der Länder in faschistische und demokratische bereits falsch sei, und dass die Kommunisten „ihre Regierungen und den Krieg entschieden bekämpfen“ sollten. Er schlug vor, die Parole der Volksfront auf das Abstellgleis zu stellen und sprach sich für die Einstellung des Kampfes gegen den Faschismus aus.6 Besonders scharf verurteile der sowjetische Führer Polen, das er als einen „faschistischen Staat“ bezeichnete, der die Ukrainer, die Weißrussen und andere Völker unterdrücke: „Die Vernichtung dieses Staates hätte unter gegenwärtigen Bedingungen bedeutet, dass es einen bourgeoisen faschistischen Staat weniger gäbe. Was wäre schlecht daran, wenn wir infolge der Zerschlagung Polens das sozialistische System auf neue Territorien und Völker ausweiten würden.“7

Zwei Wochen nach der Unterzeichnung des Nichtangriffsvertrags formulierte Stalin bereits die Richtlinie, die Kritik am Faschismus einzustellen (wobei er dafür eine theoretische Begründung abgab), und legte für die kommunistischen Parteien in Europa und den USA als Ziel fest, den Krieg, den Großbritannien und Frankreich gegen Deutschland führten, sowie die Politik ihrer Regierungen zu verurteilen. Auf diese Weise brachte Stalin die kommunistischen Parteien in einen Konflikt mit der öffentlichen Meinung in den europäischen Ländern und lieferte den Anlass dafür, dass ihnen Antipatriotismus und Missachtung nationaler Interessen unterstellt wurden. Der sowjetische Führer machte mit einem Wisch alle Anstrengungen zur Bildung von einheitlichen Volksfronten zunichte, in denen Kommunisten und Sozialdemokraten zusammenarbeiteten. Diese Taktik der Missachtung der Interessen und der Situation der kommunistischen Parteien entbehrte in gewissem Sinne auch des gesunden Menschenverstandes, da somit jene Kräfte in den europäischen Ländern lahmgelegt wurden, die Moskau im Bedarfsfall im eigenen Interesse als Gegengewicht zu Deutschland hätte verwenden können. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass Stalin sich bereits die Chance genommen hatte, seine weiterhin bestehenden Beziehungen zu Großbritannien und Frankreich als Druckmittel gegen Deutschland einsetzen zu können. Und jetzt brachte er sich auch noch um die öffentliche Meinung sowie um das Potential der kommunistischen Parteien in den europäischen Ländern. Letzten Endes begann Stalin zum ersten Mal seit vielen Jahren die Parole der „Erweiterung des Sozialismus“ zu begründen. Eigentlich hatte die Idee des Exports der Weltrevolution in der einen oder anderen Weise immer zum Bestand der sowjetischen Politik gehört, doch jetzt wurde sie in einem ganz anderen Kontext artikuliert, nämlich im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des deutschsowjetischen Paktes. Der überwiegenden Mehrheit der Nichteingeweihten konnte dies sogar merkwürdig vorkommen, zieht man jedoch die Geheimen Zusatzprotokolle über die Aufteilung der politischen Einflussbereiche in Europa in Betracht, 6 7

Ebd. Ebd.

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so besaßen Stalins Andeutungen durchaus einen bestimmten Sinn und konnten mit ganz konkretem Inhalt gefüllt werden. Entsprechend diesen Vorgaben Stalins wurde bereits in den folgenden Tagen des 8. und 9. Septembers im Namen des Sekretariats des EKKI eine neue Direktive für die kommunistischen Parteien verabschiedet. Im Grunde genommen wiederholte das Dokument fast wörtlich die Äußerungen, die Stalin kurz zuvor gemacht hatte. Die einzige Ergänzung bestand in der drohenden Ermahnung an die kommunistischen Parteien Frankreichs, der USA und Belgiens, die gegen diese Vorgaben handelten. Sie wurden angehalten, ihre politische Linie wieder in Einklang mit ihnen zu bringen.8 Die kommunistischen Parteien Frankreichs, Belgiens, Großbritanniens und Kanadas zeigten sich jedoch mit den Direktiven der Komiternführung nicht auf Anhieb einverstanden und vertraten weiterhin die Idee eines Kampfes an zwei Fronten. Das Präsidium des EKKI befasste sich wiederholt mit diesem Problem am 19. und 20. Oktober.9 Erst Ende Oktober 1939 war es der Kominternführung gelungen, die „Fehler auszubessern“, die eine Reihe von kommunistischen Parteien begangen hatte. Offensichtlich nach Absprache mit Stalin begann Dimitrov an seinem programmatischen Beitrag „Der Krieg und die Arbeiterklasse“ (Vojna i raboþij klass) zu arbeiten, den Stalin einige Male korrigierte, wobei er dem Autor weitere „Empfehlungen“ gab. Eigentlich hat Stalin es bis April 1940 vermieden, irgendwelche öffentlichen Erklärungen abzugeben. Die ganze Arbeit der Darstellung seiner eigens formulierten neuen Vorgaben übertrug er Dimitrov und Molotov. Zu diesem Zeitpunkt war Hitler dabei, seinen Feldzug gegen Polen und somit auch die Niederwerfung dieses Landes zum Abschluss zu bringen. Nun unterbreitete er den Vorschlag eines Friedensschlusses. Es lag klar auf der Hand, dass diese demagogische Erklärung keine reale Substanz beinhaltete, sondern lediglich das Ziel verfolgte, die negativen Reaktionen auf die Besetzung Polens zu dämpfen. Doch völlig unterwartet lieferte diese ideologische Demarche der Nationalsozialisten der sowjetischen Führung neue Argumente sowohl für konkrete Maßnahmen als auch für die Formulierung einer neuen theoretischen Annäherungsweise. Die Propaganda in Moskau behauptete mit Nachdruck, die Regierungskreise Großbritanniens und Frankreichs seien die schlimmsten Kriegstreiber und widersetzten sich dem Frieden, während Deutschland seinen Friedenswillen beweise. Gleichzeitig wies die Kominternführung auf direkte Anweisung Stalins auch die Versuche der deutschen Kommunisten zurück, den Kampf gegen das Naziregime und für eine Volksrepublik fortzusetzen. Stalin und Ždanov drängten Dimitrov, einen Beitrag dazu zu verfassen, und am 25. Oktober fand im Kreml ein neues Treffen zwischen Stalin, Ždanov und Dimitrov statt, bei dem der sowjetische Führer ihnen die neuen theoretischen Vorgaben noch einmal auseinandersetzte. Dimitrov berichtete, Stalin habe ihn 8 9

Ebd., S. 88f. Ebd., S. 14.

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unvermittelt darauf hingewiesen, „wir werden keine Handlungen gegen die Regierungen vornehmen, die für den Frieden eintreten“, womit er vor allem Deutschland meinte, und wiederholte nochmals, dass man Chamberlain nicht unterstützen sollte.10 Stalin lieferte eine Begründung für seine Auslassungen, indem er erklärte, dass man nur die Parolen vertreten sollte, die der neuen, aktuellen Situation entsprächen. Um seiner Position Nachdruck zu verleihen, unterwarf er die Haltung der Bol’ševiki während des „ersten imperialistischen Krieges“ einer Kritik, weil sie die Parole aufgestellt hätten, der imperialistische Krieg solle in einen Bürgerkrieg verwandelt werden. Er machte die Anwesenden insbesondere darauf aufmerksam, dass es notwendig sei, die Sowjetunion zu unterstützen, womit er vor allem die Befürwortung der neuen sowjetischen Beziehungen zu Deutschland meinte. Diese These wiederholte Stalin noch einmal während des Empfangs im Kreml nach der Militärparade und der Demonstration auf dem Roten Platz am 7. November 1939. Dabei kam er wieder auf die Ereignisse des Ersten Weltkrieges zurück, und erklärte, auch damals habe die Parole der „Verwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg“ nur den russischen Zuständen Rechnung getragen, nicht jenen in den europäischen Ländern. Als er zur aktuellen Lage sprach, erklärte Stalin, „kleinbürgerliche Nationalisten“ in Deutschland (er meinte damit offensichtlich die Nationalsozialisten) legten Flexibilität und Fähigkeit zur radikalen Wende an den Tag, im Unterschied zu bourgeoisen Politikern wie Chamberlain seien sie an keinerlei kapitalistische Traditionen gebunden. Er rief dazu auf, die früher festgelegten Prinzipien und die routinierte Vorgehensweise aufzugeben und stattdessen neue Prinzipien zu formulieren, was auch die veränderte Lage der Stunde diktiere.11 In dieser Form versuchte die sowjetische Führung, die von ihr eingeleitete außenpolitische Wende theoretisch zu begründen und die kommunistische Bewegung, vor allem in den europäischen Ländern, dazu zu zwingen, sie zu akzeptieren. Während Stalins Gespräche mit Dimitrov und seine Bemerkungen zur Haltung der Komintern für die Außenwelt bestimmt waren, war Molotovs Vortrag auf der Sitzung des Obersten Sowjets am 31. Oktober 1939 für den Gebrauch im Inneren gedacht. Als er die Zwischenbilanz der sowjetischen Außenpolitik im September-Oktober 1939 zog, bewertete Molotov nicht nur die Freundschaft mit Deutschland und die Kooperation zwischen den beiden Staaten auf der festen Grundlage der gegenseitigen Interessen hoch, darunter auch die Unterzeichnung des Grenz- und Freundschaftsvertrages am 28. September, sondern auch die sowjetischen Maßnahmen gegenüber Polen sowie den Vertrag mit den baltischen Staaten. Doch der sowjetische Regierungschef und Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten beließ es nicht dabei. Er wiederholte fast wörtlich das, was Stalin während der Gespräche mit Dimitrov gesagt hatte, unter anderem, dass „alte 10 Dimitrov, Dnevnik, S. 184f. 11 Ebd.

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Formeln ganz offensichtlich ausgedient haben und jetzt nicht mehr akzeptabel sind“.12 In diesem Zusammenhang erklärte er, dass solche Begriffe wie „Aggression“ und „Aggressor“ eine neue Bedeutung bekommen hätten, und dass Deutschland sich in einer Situation befinde, die es ein bald mögliches Ende des Krieges und einen Friedensschluss wünschen lasse, während Großbritannien und Frankreich, die noch gestern gegen die Aggression vorgingen, heute für die Fortsetzung des Krieges und gegen den Friedensschluss stünden. Anschließend verurteilte er scharf die Maßnahmen Großbritanniens und Frankreichs zur Verteidigung Polens und mehr. Doch das sowjetische Regierungsoberhaupt blieb dabei nicht stehen. Er wandte sich den ideologischen Problemen zu und unterstellte den Regierungskreisen Großbritanniens und Frankreichs, sie hätten dem Hitlerismus so etwas wie einen „ideologischen Krieg“ (in der Art der Religionskriege des Altertums) erklärt. Molotov meinte: „Ein Krieg dieser Art ließe sich jedoch nicht rechtfertigen. […] Die Ideologie des Hitlerismus sowie jedes andere ideologische System kann man anerkennen oder ablehnen, das ist eine Frage der politischen Anschauung. Jeder Mensch begreift jedoch, dass man eine Ideologie mit Gewalt nicht ausrotten kann, dass man ihr durch den Krieg kein Ende setzen kann.“13

Diese Stelle aus der Rede des sowjetischen Volkskommissars stand für Vieles. In ihrem Bemühen, die Wende in der Außenpolitik zu rechtfertigen, überschritten die sowjetischen Führer alle Grenzen. Regierungschefs und diplomatische Vertretungen konnten die Vertragsunterzeichnung und außenpolitische Maßnahmen in Schutz nehmen, doch in die Rolle eines Verteidigers des „Hitlerismus“ als Ideologie zu schlüpfen, war nicht nur sinnlos und unerklärlich, sondern auch von größtem Schaden für die Sowjetunion selbst. Vor allem soll daran erinnert werden, dass Molotov zwei Wochen zuvor, als er eine Erklärung für den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Polen abgab, auf einer Politik der Neutralität bestanden hatte; jetzt aber ging er daran, die nationalsozialistische Ideologie zu verteidigen, die die Sowjetunion jahrelang nach allen Richtungen angegriffen und auf allen Ebenen verurteilt hatte. Indem es Hitlers Ideologie rechtfertigte, erweckte Moskau den Eindruck, als ob es sich bewusst der ganzen Welt sowie der Öffentlichkeit in den europäischen Ländern und auf anderen Kontinenten entgegenstellen würde – was am meisten überraschte, weil es im politisches Interesse der Sowjetunion gar nicht notwendig gewesen wäre. Es fällt schwer, irgendeine rational nachvollziehbare Erklärung dafür zu finden, umso mehr, weil kein vergleichbarer „Wechsel der Wegzeichen“ in der Ideologie der NS-Führung stattgefunden hatte. Selbstverständlich waren alle antisowjetischen und antibolschewistischen Klischees und Beschuldigungen aus den Druckerzeugnissen und offiziellen Reden 12 Vjaþeslav Molotov, Doklad na zasedanii Verchovnogo Soveta SSSR, 31. Oktober 1939, in: Pravda, 1. November 1931. 13 Vjaþeslav Molotov, Doklad za zasedanii Verchovnogo Soveta SSSR, 31. Oktober 1939, in: Kommunistiþeskij Internacional, 1939, Nr. 8–9, S. 11.

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verschwunden, doch auch ein Lobgesang auf die ideologische Doktrin des Bolschewismus ließ sich vermissen. Und selbst wenn es solche Anspielungen gab, so war es der Versuch, den neuen Ton der sowjetischen Propaganda zu treffen. Über die Kanäle der Komintern wurde den kommunistischen Parteien zwischen Oktober 1939 und etwa Mai 1940 ständig „empfohlen“, die außenpolitischen Maßnahmen der Sowjetunion zu unterstützen, darunter auch die Position der UdSSR während des „Winterkrieges“ gegen Finnland. Die meisten Schmerzen bereiteten die Anweisungen der Komintern der deutschen KP. Ende Dezember 1939 ließ ihr die Kominternführung ihre Überlegungen hinsichtlich der „Politischen Plattform der KP Deutschlands“ zukommen, in denen sie darauf hinwies, dass in Deutschland zwei Fronten entstanden seien. Die eine sei die Front des herrschenden Regimes, das einen Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion abgeschlossen hatte (selbst wenn er keine konsequente Freundschaft mit der UdSSR garantierte), die andere umfasse einige Kreise der Bourgeoisie, der katholischen Kirche und der Sozialdemokratie. Diese Front richte sich unmittelbar gegen den Pakt und die Freundschaft mit der UdSSR und „heuert[e] beim britisch-französischen Militärblock an, wobei sie sich sowohl gegen das deutsche Volk als auch gegen das Volk der Sowjetunion“14 wandte. Der kommunistischen Partei Deutschlands wurde der Vorschlag unterbreitet, ihren Kampf gegen das Naziregime einzustellen und stattdessen gegen jene (hauptsächlich gemäßigten) Kräfte anzutreten, die auf ein britisch-französisches Bündnis hinarbeiteten. In Übereinstimmung mit diesen Anweisungen hatten die deutschen Kommunisten den Kampf gegen jene einzustellen, die gegen die Kommunisten hetzten und ihre Verfolgung organisierten, die mehrere tausend aktive Mitglieder der KPD verhaftet hatten und Ernst Thälmann, den Generalsekretär der KPD, hinter Gittern festhielten. In ihren Bestrebungen, Hitler für sich zu stimmen und ihm ihre Freundschaft unter Beweis zu stellen, war also die sowjetische Führung sogar bereit, die Sache der deutschen Kommunisten auf die Opferbank zu legen. In diesem Fall ging es bereits nicht mehr um irgendeinen „Internationalismus“, und nicht einmal um einen elementaren gesunden Menschenverstand. Moskau machte dem Naziregime den Weg sowohl inner- als auch außerhalb des Landes frei und erleichterte ihm auf diese Weise die Umsetzung seines Programms zur Unterdrückung der demokratischen Kräfte in Deutschland sowie die Propagierung seiner Idee der Weltherrschaft. Als Abschluss für diese Schilderung der Lage in der internationalen Politik, sei darauf hingewiesen, dass die sowjetische Führung sich mit ihrer harten Kritik auch auf die Funktionäre der Sozialdemokratie stürzte: In seinem Beitrag „Der Krieg und die Arbeiterklasse“ widmete Dimitrov der Entlarvung der Tätigkeit der II. Internationale, darunter auch ihrer alten Sünden, einen besonderen Abschnitt.15

14 Komintern i vtoraja mirovaja vojna, Teil I, S. 18f. 15 Siehe Georgij Dimitrov, Vojna i raboþij klass, in: Kommunistiþeskij Internacional, 1939, Nr. 8–9, S. 32.

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Seine wichtigste Schlussfolgerung formulierte der Autor des Beitrags mit äußerster Aufrichtigkeit: „Die Kommunisten können keine Einheitsfront mit jenen Kräften bilden, die auf der gleichen Seite der Front wie die Imperialisten kämpfen und den verbrecherischen Krieg des Feindes gegen das Volk unterstützen.“16

Dem Redaktionsbeitrag in der Nummer 5 der gleichen Zeitschrift des Jahres 1940 war wieder eine ihrem Ton nach äußerst scharfe Verurteilung der „Führer der Sozialdemokratie“ zu entnehmen.17 Der allgemeinen Kritik an der Sozialdemokratie schloss sich auch Molotov an. In seinem Vortrag auf der Sitzung des Obersten Sowjets der Union der SSR vom 29. März 1940 erklärte er in dem ihm eigenen Stil: „[I]m wütenden Gegröle der Feinde der Sowjetunion waren die ganze Zeit die jaulenden Stimmen der sich prostituierenden ‚Sozialisten‘ aus der II. Internationale zu vernehmen [...] – der Lakaien des Kapitals, die sich an die Kriegshetzer verkauft haben.“18

Die Führung der Sowjetunion und der Komintern nahm also ihre Politik vom Anfang der 1930er Jahre wieder auf, als sie die Sozialdemokratie zum „Sozialfaschismus“ erklärt hatte. Die Ironie des Schicksals bestand darin, dass man sie diesmal nicht beschuldigte, den deutschen Faschismus zu unterstützen, sondern dass sie nun zum Kampf gegen den gleichen deutschen Faschismus aufrief, der sich vom Hauptfeind zum Verbündeten der Sowjetunion gewandelt hatte. Wie man weiß, wurde die Komintern 1943 unter ganz anderen Bedingungen aufgelöst, seit dem Herbst 1939 brachte sie sich jedoch durch ihre Vorgehensweise in den Augen der Weltöffentlichkeit und der kommunistischen Weltbewegung in Misskredit und unterschrieb gleichzeitig ihr eigenes Todesurteil. 2. Alle oben genannten Maßnahmen richteten sich an die internationale Welt, doch auch innerhalb der Sowjetunion fand unerwartet eine ideologische Wende statt. Bereits wenige Tage nach der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Vertrags erschienen in der zentralen sowjetischen Presse erste Kommentare dazu, die unmissverständliche Anspielungen auf die „Freundschaft der Völker der UdSSR und Deutschlands“ enthielten. Am 31. August erklärte Molotov auf der außerordentlichen Sitzung des Obersten Sowjets der UdSSR, früher habe es „einige kurzsichtige Menschen“ gegeben, die sich zu sehr von der „primitiven antifaschistischen

16 Ebd., S. 33. 17 [Redaktionsbeitrag], in: Kommunistiþeskij Internacional, 1940, Nr. 5, S. 7. 18 Vjaþeslav Molotov, Doklad na zasedanii Verchovnogo Soveta Sojuza SSR, 29. März 1940, in: Kommunistiþeskij Internacional, 1940, Nr. 3–4, hier S. 6.

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Propaganda“ mitreißen hatten lassen.19 Damit wurde die Parole für einen Wandel nicht nur in der Außenpolitik, sondern auch in der Ideologie ausgegeben. Der russische Historiker Vladimir Nevežin zitiert den Schriftsteller Il’ja Ơrenburg, der meinte, diese Worte Molotovs hätten ihn „unangenehm getroffen. In diesem Winter musste ich mir eine ‚Brille‘ besorgen, doch ich konnte mich nicht für ‚kurzsichtig‘ erklären: die Eindrücke aus dem Spanischen Bürgerkrieg waren noch zu frisch, der Faschismus blieb für mich der Hauptfeind.“20

Die Worte, die Molotov nur scheinbar nebenbei dahinsagte, waren wohlüberlegt. Wie die weiteren Ereignisse zeigen, plante die sowjetische Führung eine unterwartete Wende auf der theoretischen Ebene des ganzen Systems der Propaganda und Agitation. Sie sah ein, dass diese Wende bei vielen Sowjetbürgern eine Schockwirkung auslösen würde, und gerade deshalb machte sie zunächst den Weg für einen „Wechsel der ideologischen Wegzeichen“ frei. Lange Zeit wurde den Menschen und der öffentlichen Meinung in der Sowjetunion eingeschärft, dass der Faschismus (der vor allem mit dem Hitlerregime gleichgesetzt wurde) der Hauptfeind und dass gegen ihn ein kompromissloser Kampf auf allen Ebenen der Theorie und der Ideologie zu führen sei. Zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen und Darstellungen für ein Massenpublikum waren gefüllt mit analytischen Auslassungen zu Ursprüngen und Wesen des Faschismus, der, wie es hieß, die „Stoßkraft des internationalen Imperialismus“ darstelle. Nun muss noch einmal wiederholt werden, dass, während sich über die außenpolitischen Folgen des Vertrags mit Deutschland, seine Vorteile und Nachteile streiten ließ, die Notwendigkeit einer derart scharfen (innerhalb von wenigen Tagen erfolgten) Umkehr im Bereich der Ideologie schwer zu erklären war. Sogar viele Staatsmänner im Westen registrierten die Verunsicherung in unterschiedlichen Kreisen der sowjetischen Öffentlichkeit. Davon berichteten viele ausländische Diplomaten und Journalisten. Alexander Werth schrieb, „Millionen Russen zeigten sich über das Geschehene geschockt.“21 Dies betraf sowohl die Tatsache der Vertragsunterzeichnung an sich als auch deren propagandistische Begleitung. Unter den Bedingungen in der Sowjetunion, wo in der Regel auf Versammlungen und Meetings Beschlüsse gefasst wurden, die die Politik des eigenen Staates, darunter auch den Vertragsschluss mit Deutschland, willkommen hießen, war eine Kritik an den Maßnahmen der sowjetischen Führung unvorstellbar. Und gerade in dieser Hinsicht sind jene im Russländischen Archiv für Sozial- und Politikgeschichte (Rossijskij gosudarstvennyj archiv social’no-politiþeskoj istorii, RGASPI) aufbewahrten Sammlungen der „Briefe der Werktätigen“ äußerst aufschlussreich, die an Molotov gerichtet waren und unter anderem auch den Pakt mit Deutschland bewerteten. Für Molotov wurden selbstverständlich besonders 19 Siehe Vjaþeslav Molotov, Doklad za zasedanii Verchovnogo Soveta SSSR, 31. August 1939, in: Pravda, 1. September 1939. 20 Il’ja Ơrenburg, Ljudi, gody, žizn’. Vospominanija, Bd. 2, Leningrad 1990, S. 443; Vladimir Nevežin, Sindrom nastupatel’noj vojny, Moskau 1997, S. 55. 21 Nevežin, Sindrom nastupatel’noj vojny, S. 55.

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interessante Briefe herausgesucht, die nicht die üblichen Lobgesänge auf die sowjetische Politik enthielten. Hier seien nur einige dieser Briefe erwähnt. Am 24. August 1939 schrieb eine gewisse Rodina an Molotov anlässlich des Paktabschlusses zwischen der Sowjetunion und Deutschland: „Der Vertrag ist kurz, aber inhaltlich dicht, was mich jedoch überrascht, ist, dass darin folgender Punkt nicht vorgesehen wurde: ‚Sollten die Länder Art. I, II und IV verletzen, wird der Vertrag automatisch mit dem Tag aufgelöst, an dem seine direkte oder indirekte Verletzung eingetreten ist‘, da alle wissen, dass Deutschland, seiner dummen ‚Gewohnheit‘ folgend, selbst die geringste Unklarheit ausnutzt.“22

Der Meister des Betriebes „Kompressor“, Petrov, äußerte in einem Brief, der am 19. September eintraf, das heißt nach dem Beginn des Polenfeldzugs, seine Unzufriedenheit damit, dass den Deutschen ein Teil der Ukraine und Weißrusslands überlassen worden sei, den sich „Hitler unter den Nagel gerissen“ habe. Der Autor verlangte den Anschluss ganz Galiziens und Weißrusslands sowie der Städte Krakau, Lublin, Brest-Litovsk, Biaáystok, Grodno und Wilna an die UdSSR.23 Ohne dass er etwas vom Geheimen Zusatzprotokoll zum Pakt ahnte, rief der Verfasser des Briefes dazu auf, Bessarabien in die UdSSR einzugliedern und „unsere Blutsbrüder in Finnland“ zu befreien.24 „Die allgemeine Meinung ist, das Baltikum muss uns gehören, die baltischen Staaten sollen als gleichberechtigte Republiken unserer Völkerfamilie beitreten. Man soll nicht vergessen, wie viel russisches Blut vergossen wurde, um das Fenster nach Europa aufzustoßen. Auch Bessarabien gehört uns. Wozu abwarten – wenn es notwendig sein wird, werden sich alle in den großen Kampf stürzen.“25

Der Autor des Briefes äußerte die Bitte an Molotov, dass der Generalstab ausführlicher über den Verlauf der Kämpfe der Roten Armee und über die Reaktionen von Seiten Großbritanniens, Frankreichs und der USA auf die sowjetischen Schritte berichten solle.26 Interessant dabei ist, dass all das bereits am 19. September geschrieben wurde, das heißt vor dem Beginn der Verhandlungen und dem Abschluss der Verträge mit den baltischen Staaten. Der Komsomolze Polkanov aus Kursk reagierte am 21. September auf den deutsch-sowjetischen Pakt in einer ganz besonderen Art und Weise, indem er Molotov dazu anhielt, Hitler zu sagen: „[W]enn er in allen Hinsichten mit der Sowjetunion eins sein will, muss er ein Kommunist werden. Denn wie man es auch nimmt: Die Erdkugel muss zwei Farben haben – das Wasser muss blau, das Land rot sein.“27

22 23 24 25 26 27

RGASPI, f. 5446, op. 82, d.110, l. 66. RGASPI, f. 5446, op. 82, d. 110, l. 145ob. RGASPI, f. 5446, op. 82, d. 110, l. 144. RGASPI, f. 5446, op. 82, d. 110, l. 144ob. RGASPI, f. 5446, op. 82, d. 110, l. 147. RGASPI, f. 5446, op. 82, d. 110, l. 147.

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Ein gewisser Vedkov hieß in seinem Brief Molotovs Worte willkommen, dass die Sowjetunion die Angriffe Japans zurückschlagen werde, doch gleichzeitig schrieb er: „[W]enn wir mit den baltischen Staaten Frieden schließen und ihre Selbstständigkeit anerkennen, gehen wir nicht davon aus, dass sie das nächste Opfer des Faschismus und das Sprungbrett für den Angriff gegen uns werden…“

Deshalb schlug er vor, eine Erklärung abzugeben: „Es werden in keinem Fall irgendwelche Übergriffe auf die Freiheit dieser Kleinstaaten geduldet. Diese Erklärung, die gerade zur rechten Zeit kommt, gibt die Möglichkeit, in der Zukunft mehr als einen Rubel zu sparen, da die Eroberung der mit uns benachbarten baltischen Länder zusätzliche Rüstungsausgaben verlangen würde.“28

Sogar diesen wenigen Briefen ist also zu entnehmen, dass die Reaktionen der „einfachen“ Sowjetbürger auf eine derart plötzliche Wende in der sowjetischen Außenpolitik sehr, sehr unterschiedlich waren. Besonders groß war das Unverständnis in den Kreisen der Intelligencija – unter den Schriftstellern, Wissenschaftlern und Journalisten. Viele von ihnen konnten offensichtlich die Einstellung jeder Kritik an Hitler und Goebbels, an jenen Führern des Nationalsozialismus, gegen die so viele Jahre lang ein Propagandakrieg geführt worden war, weder begreifen noch akzeptieren. Selbst die kleinste kritische Bemerkung über Deutschland, sogar über seine Geschichte, und über den Faschismus wurde jetzt durch die Zensur gestrichen. Weil es die Wissenschaftler und Publizisten „nicht geschafft hatten“, sich rechtzeitig „umzustellen“, verschwand das deutsche Thema aus den Zeitungen und Zeitschriften, aus Film und Rundfunk fast vollständig. Dafür wurden ganz unterschiedliche Beiträge zu Großbritannien, Frankreich und den USA veröffentlicht. War ihre Darstellung schon früher nicht objektiv, so wurden jetzt alle Veröffentlichungen als scharfe Polemik formuliert, gleich ob es sich um Geschichte oder Gegenwart handelte. Blättert man zeitgenössische Zeitschriften zu Fragen der Geschichte und der internationalen Politik durch, so stellt sich heraus, dass sie Ende 1939 bis Anfang 1940 mehrere Dutzend Beiträge zu Geschichte und aktueller Politik der Länder Europas, Asiens, Amerikas und Afrikas brachten, auf Deutschland jedoch fast gar nicht eingingen. Sogar in den Abschnitten, die der Kritik am Kolonialismus gewidmet waren, wurde kein Wort über die deutsche Politik gegenüber den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens verloren. Da jedoch bei vielen Redaktionen Beiträge eingingen, die Kritik am Faschismus enthielten, musste Stalin persönlich intervenieren. Er führte ein Gespräch mit Lev Mechlis über einige Versuche dieser Art seitens der Zeitung „Krasnaja zvezda“. Stalin gab die Anweisung, die Publikation der Beiträge, die den Faschismus kritisierten, unverzüglich einzustellen. Wie es bereits öfters der Fall war, wollten viele ihre Loyalität gerade im Bereich der Ideologie unter Beweis stellen und übertrieben mit ihrem Eifer, Deutsch28 RGASPI, f. 5446, op. 82, d. 67, l. 83.

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land als den „ewigen Freund der Sowjetunion“ darzustellen. Kein Wort konnte dagegen darüber verloren werden, dass Deutschland eventuell wieder zum Feind wird. Nachdem der Krieg in Polen begonnen hatte, erschienen mit Einverständnis Ždanovs Veröffentlichungen, in denen dieses als ein Staat mit teilweise faschistischen Zügen dargestellt wurde. Ždanov selbst veröffentlichte einen Beitrag unter dem Titel „Zu den innenpolitischen Gründen der militärischen Niederlage Polens“ (O vnutrennich priþinach voennogo poraženija Pol’ši), im dem er polnische Regierungskreise dafür anprangerte, dass sie Menschen anderer Nationalität unterdrücken würden.29 In diesem Zusammenhang verdienen jene zahlreichen Direktiven Beachtung, die die Führung der VKP(b) und die Politische Verwaltung der Roten Armee an Militärkreise ausgab. Fast alle Truppeneinheiten besaßen ihre eigenen Zeitungen. Ihnen wurde die Anweisung erteilt, Beiträge im Sinne der allgemeinen ideologischen Vorgaben zu veröffentlichen. Das hatte zu bedeuten, dass auch in der Roten Armee jede Kritik am Faschismus und die Vorstellung von Deutschland als einem potentiellen Feind verboten war. Genau genommen besaß diese Vorgehensweise noch einen weiteren negativen Aspekt: Man lieferte den Truppen keine ideologische Begründung für einen möglichen Krieg mit Deutschland mehr. Stattdessen startete man in den Truppeneinheiten eine Propagandakampagne gegen Großbritannien und Frankreich, was in militärischer Hinsicht jeden Sinn vermissen ließ, da keine Rede von irgendwelchen Kriegshandlungen gegen sie war. Im Zusammenhang mit dem Polenfeldzug der Roten Armee im September 1939 stellte die sowjetische Propaganda die These einer „Befreiungsmission der Sowjetunion“ auf. Alle Nachrichten- und Propagandastrukturen erhielten die Anweisung, möglichst viel über die „sowjetischen Befreier“ zu schreiben, die den „von der polnischen Bourgeoisie unterjochten Ukrainern und Weißrussen zu Hilfe kamen“. Im Unterschied zu den Parolen, die den Faschismus reinwuschen, stieß dieses Thema bei den Sowjetbürgern, darunter bei der Intelligencija, auf offene Ohren. In einigen sowjetischen Darstellungen wurden zahlreiche Äußerungen und Auszüge aus Briefen der Teilnehmer des Polenfeldzuges sowie aus solchen der sowjetischen Schriftsteller und Journalisten zitiert, die die „Befreiungsmission“ der Sowjetunion im Grunde genommen ganz und gar guthießen und unterstützten. Im Nachhinein, als Nachrichten von „Sowjetisierung“ und Kollektivierung, von Verhaftung und Verbannung der unerwünschten Personen in den „befreiten“ Gebieten eintrafen, wurde der Ton der Publikationen etwas „gesetzter“, doch die Idee der „Befreiung“ als Ganzes hatte einen bedeutenden Platz im Bestand der sowjetischen Ideologie eingenommen. Im Vergleich dazu hielt sich der Enthusiasmus hinsichtlich der „Befreiungsmission“ der Sowjetunion in Finnland in Grenzen. Das hing mit dem zähen Widerstand der Finnen und den beträchtlichen Verlusten der Roten Armee zusam29 Siehe Andrej Ždanov, O vnutrennich priþinach voennogo poraženija Pol’ši, in: Pravda, 14. September 1939.

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men. Die „Befreiungsidee“ an sich hätte viel mehr Unterstützung erfahren, wenn das ganze Unternehmen keine derart großen Opfer gefordert hätte. In seinem bereits genannten Buch zitiert Vladimir Nevežin eine Aussage des verantwortlichen Redakteurs der Zeitung „Krasnaja zvezda“, Boltin: Die Sowjetunion sei in den Krieg gegen Finnland unter der Parole gegangen, die Rote Armee müsse ihre internationalen Verpflichtungen wahrnehmen; doch die Erfahrungen des Feldzugs hätten die Führung zur Einsicht gebracht, dass sich diese Parole, mit der man sich an die Rotarmisten wandte, als falsch herausgestellt habe, und dass man sie durch eine andere ersetzen müsste, die auf die realen Begebenheiten mehr zuträfe, nämlich durch die der Verteidigung der Nordwestgrenze der UdSSR und der Stadt Leningrad.30 Die Idee der Befriedung und der Befreiungsmission, die seit September 1939 Verbreitung fand, wandelte sich im Sommer 1940 zur Theorie der „Erweiterung des Sozialismus“. Sie war auf natürliche Art und Weise mit der ständigen Behauptung verbunden, die UdSSR sei eine „belagerte Festung“, die sich in der „kapitalistischen Umkreisung“ befinde. Insofern stießen alle Maßnahmen zur Erweiterung des sozialistischen Einflussbereichs bei Sowjetbürgern auf Verständnis. Dimitrov wiederum bezeugte, dass Stalin noch bei ihrem Gespräch in der Nacht vom 7. auf den 8. September 1939 erklärt habe, dass er nichts Schlechtes daran finde, dass das „sozialistische System eine Erweiterung […] auf neue Territorien und Völker“ erfahre, selbst wenn der polnische Staat dabei untergehe.31 In seinem Vortrag vom 6. November 1939 erklärte Molotov, mit dem Anschluss der Westukraine und Westweißrusslands „musste die kapitalistische Welt zusammenrücken und den Rückzug antreten, während sich der Territorialbestand der UdSSR erweiterte und ihre Bevölkerungszahl um 13 Millionen Menschen gewachsen ist.“32

In einem weiteren Vortrag, vom 1. August 1940, kam Molotov wieder auf dieses Thema zurück und erklärte, nach der Eingliederung der baltischen Staaten in die UdSSR und dem Anschluss Bessarabiens und der Nordbukowina sei die Bevölkerungszahl der Sowjetunion um 10 Millionen Menschen gewachsen, rechne man jedoch noch die Bevölkerung der Westukraine und Westweißrusslands dazu, so seien es mehr als 23 Millionen.33 Molotov betonte, dass 19 bis 20 % dieser Bevölkerung früher zur Sowjetunion gehört hätten, durch die „imperialistischen Mächte des Westen“ jedoch mit Gewalt von der UdSSR weggebracht worden seien, als es dieser an militärischer Stärke gemangelt habe. Jetzt müsse diese Bevölkerung mit der Sowjetunion wiedervereint werden. In der Öffentlichkeit stellte man das Ganze so dar, als ginge es sowohl um die Rückgabe der ureigenen russischen Gebiete als auch um die Erweiterung des So30 Siehe RGALI, f. 1038, op. 1, d. 1401, l. 5. 31 Siehe Dimitrov, Dnevnik, S. 182. 32 Vjaþeslav Molotov, Doklad za zasedanii Verchovnogo Soveta SSSR, 6. November 1939, in: Pravda, 8. November 1939. 33 Siehe Vjaþeslav Molotov, Doklad za zasedanii Verchovnogo Soveta SSSR, 1. August 1940, in: Kommunistiþeskij Internacional, 1940, Nr. 7, S. 7.

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zialismus, von der Stalin noch am 7./8. September 1939 im engen Kreis und Molotov in seinen öffentlichen Reden in den Sitzungen des Obersten Sowjets sprach. Dementsprechend blieb all dies ein zentrales Thema der sowjetischen Propaganda. Man muss sagen, dass der ganzen Propagandaarbeit im Zusammenhang mit der Umsetzung der Parole der „Erweiterung des Sozialismus“ mindestens zwei Besonderheiten zu Eigen waren: Erstens brachte die Bevölkerung, die von den Geheimvereinbarungen mit Deutschland nichts wusste, die Erweiterung des sowjetischen Territorialbestandes ganz und gar nicht mit den deutschsowjetischen Beziehungen in Verbindung. Zweitens konnten sowjetische Ideologen, da die Linie des totalen Schweigens über die von Seiten Deutschlands bestehende Kriegsgefahr verfolgt wurde, keinen Gebrauch von der These machen, die Angliederung der neuen Territorien diene dazu, das deutsche Vordringen nach Osten aufzuhalten (was die Mitglieder des sowjetischen Diplomatenkorps in Gesprächen mit Vertretern Großbritanniens und anderer Länder andeuteten). Wie gesagt, der Schwerpunkt der sowjetischen Propagandakampagnen lag auf der Verurteilung Großbritanniens, und zwar sowohl wegen ihrer ununterbrochenen Kolonisationspolitik als auch wegen ihrer „Doppelzüngigkeit“ gegenüber der Sowjetunion in München sowie in der Zeit der trilateralen Verhandlungen im Sommer 1939. Während des sowjetisch-finnischen Krieges wurde eine umfassende ideologische Offensive gestartet, die eine Kritik an der „finnischen Bourgeoisie“ beinhaltete; dabei wurde häufig über das Thema der britischen und französischen Interessen und politischen Intrigen in Finnland spekuliert, doch kein Wort darüber verloren, dass deutsche Führungskreise, darunter auch die militärischen, am finnischen Territorialbesitz stets interessiert waren. 3. Etwa seit dem Frühjahr 1940 machten sich erste Anzeichen für die Spannungen in den deutsch-sowjetischen Beziehungen bemerkbar. Wie man weiß, zeigten sie sich zunächst in den Wirtschaftsbeziehungen, da beide Seiten mit der Erfüllung der durch die jeweilige Gegenseite übernommenen Verpflichtungen unzufrieden waren. In Privatgesprächen äußerten sowjetische Führer verschiedener Ränge immer häufiger ihre Unzufriedenheit mit der deutschen Vorgehensweise und machten Andeutungen, dass Deutschland ein potentieller Feind ihres Landes bleiben werde. Und obwohl die Presse und die Fachzeitschriften weiterhin jenem Kurs folgten, der im September/Oktober 1939 avisiert worden war, wurde der Ton der wissenschaftlichen Publikationen und der Propagandaartikel zurückhaltender. Es war offensichtlich, dass die frühere Euphorie im Kreml zunehmend in den Hintergrund trat. Lobhudelei auf die faschistische Ideologie hatte keinen Platz mehr, vom Hitlerregime ganz zu schweigen. Es kam häufig vor, dass anonyme Pauschalkritik an die Adresse des Imperialismus sowohl Großbritannien als auch Deutschland meinte.

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Vladimir Nevežin gibt die Worte Stalins wieder, die dieser im März 1940 im Gespräch mit General Petrov fallen ließ: „Merken Sie sich: Obwohl wir den Vertrag mit Deutschland unterzeichnet haben, war und bleibt das faschistische Deutschland unser größter Feind.“34 Als die berühmte polnische Schriftstellerin Vanda Vasilevskaja im Frühjahr 1940 Moskau besuchte, erklärte Stalin im Gespräch mit ihr am 28. Juni 1940, der Krieg gegen die Deutschen werde früher oder später ausbrechen. Solche Erklärungen, Andeutungen oder Halbandeutungen wurden im Sommer 1940 immer häufiger gemacht. Es besteht kein Zweifel, dass die sowjetische Prominenz unterschiedlicher Ränge (Schriftsteller, Wissenschaftler, Mitarbeiter der Volkskommissariate, Leiter der Presseorgane) sich dies nur unter einer Bedingung leisten konnte – sie wusste von den Stimmungen des Kremls. Auch wenn es hierzu keinen speziellen Beschluss gab, war aus den Äußerungen Molotovs, Ždanovs und schließlich auch Stalins persönlich die wachsende Unzufriedenheit Moskaus mit dem Verhalten der deutschen Führung zu entnehmen, die nach allen Seiten zeigte, dass die Wirtschaftbeziehungen zwischen den beiden Staaten gestört waren, und die ohne Rücksprache mit Moskau auf eigene Faust auf unterschiedlichen Schauplätzen der Weltpolitik handelte. Die Unruhe in Moskau wurde noch viel größer, nachdem Frankreich in einem Blitzkrieg zerschlagen worden war, und somit Stalins Hoffnungen auf einen Dauerkonflikt zwischen Deutschland und seinen Gegnern in Europa gescheitert waren. Die Entwicklung in der Komintern war vergleichbar. Am 8. Juni 1940 wurden Anweisungen an die Kommunistische Partei der Niederlande ausgegeben, die die „Empfehlung“ enthielten, den Widerstand gegen die deutsche Besatzungsherrschaft zu verstärken.35 Aus zahlreichen Dokumenten der Komintern vom Sommer 1940 folgte, dass in dieser Zeit zweifellos eine Neuorientierung dieser Organisation Platz griff. Ähnliche „Empfehlungen“, wie an die Kommunistische Partei der Niederlande, ergingen auch an andere kommunistische Parteien.36 Von großer Bedeutung waren Diskussionen innerhalb der Komintern im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der neuen politischen Position der französischen KP. Nach mehrfachen Abstimmungen mit dem Kreml wurde beschlossen, dass der weitere Kampf gegen die Bourgeoisie im eigenen Land mit dem Kampf gegen die fremde, das heißt deutsche, Besatzungsmacht zu verbinden war. Beachtenswert ist auch jene Lageeinschätzung, die die deutschen Kommunisten am 24. Mai 1940 gaben. Darin war die Rede (ohne Zweifel mit der Billigung Moskaus) von „imperialistischen Gewalttaten der deutschen Bourgeoise“, von der Solidarität der deutschen Kommunisten mit den Völkern Dänemarks, Norwegens, Belgiens, Luxemburgs, mit dem unterjochten polnischen, tschechischen und österreichischen Volk.37 Laut

34 35 36 37

Siehe Nevežin, Sindrom nastupatel’noj vojny, S. 129. Komintern i vtoraja mirovaja vojna, Teil I, S. 356. Ebd. Ebd., S. 347–352.

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Archivangaben wurden Stalin, Molotov und Ždanov mit dieser Erklärung bekannt gemacht. In einer Reihe von Dokumenten der kommunistischen Parteien hatten scharfe Urteile über die Regierungskreise Großbritanniens und Frankreichs weiterhin Platz, nur dass sie sich jetzt (was früher nicht erlaubt war) mit einer offensichtlichen Kritik am „deutschen Imperialismus“ und seiner Besatzungspolitik verbanden. Bereits im November 1940 meinte Dimitrov zu Molotov, die Komintern steuere „den Kurs der Zersetzungsarbeit unter den deutschen Truppen in verschiedenen Ländern“. Er fragte Molotov, ob das denn der sowjetischen Außenpolitik nicht schade, worauf Molotov antwortete: „Natürlich muss man das tun. Wir wären keine Kommunisten, wenn wir diesen Kurs nicht verfolgt hätten. Man muss es jedoch tun, ohne Aufsehen zu erregen.“38 Gleichzeitig benutzte Moskau die Komintern, um die deutsche Politik, zum Beispiel im Zusammenhang mit der zweiten Wiener Arbitrage wegen der Vorgehensweise Hitlers in der Balkanfrage, zu verurteilen.39 Dabei ist auch aufschlussreich, dass in einer Reihe von Kominterndokumenten Ende 1940/Anfang 1941 wieder die Frage aufgeworfen wurde, ob es möglich sei, nationale antifaschistische Fronten zu bilden. Dabei war die Rede von Italien,40 Frankreich und möglicherweise auch von anderen Ländern.41 Nach Molotovs erfolglosem Berlinbesuch nahm die Kritik an Deutschland zu. Ein Beispiel dafür, wie man versuchte, ideologischen Druck auf Deutschland auszuüben, ist die Publikationsgeschichte der Beiträge des deutschen Schriftstellers Lion Feuchtwanger, der für seine kritische Einstellung gegenüber dem Nationalsozialismus bekannt war, in der Zeitung „Trud“ im Januar 1941. Auf diese Weise wollte Moskau seine Unzufriedenheit mit der Position der deutschen Vertreter in den Gesprächen über die Handelsbeziehungen zwischen der UdSSR und Deutschland demonstrieren. Bekannt ist, unter anderem auch aus diplomatischen Quellen, dass Goebbels’ Propagandaministerium sich mit dieser Veröffentlichung in der Sowjetunion unzufrieden zeigte. Was letztlich auch der Grund gewesen sein mag, die Deutschen legten schließlich bei den Gesprächen mehr Defätismus an den Tag. Die Veröffentlichung Feuchtwangers wurde unverzüglich storniert.42 Es verdient besondere Hervorhebung, dass viele der hier genannten Maßnahmen (sowohl im Rahmen der Komintern als auch im Rahmen der sowjetischen Institutionen für Ideologie und Propaganda) eins zeigten: Die sowjetische Führung durchlebte eine Phase der Ernüchterung, gab Schritt für Schritt, obwohl auch ziemlich verhalten und vorsichtig, ihren bisherigen Kurs der Freundschaft mit Deutschland, der Rechtfertigung des Faschismus und seiner Ideologie, des Verzichtes auf jede Kritik am Faschismus (sowohl an seiner Ideologie als auch insbe-

38 39 40 41 42

Ebd., S. 40. Ebd., S. 411–421, 343ff. Siehe RGASPI, f. 495, op. 18, d. 1331, l. 89. RGASPI, f. 495, op. 10ɚ, d. 124, l. 2–3. Siehe Nevežin, Sindrom nastupatel’noj vojny, S. 129f.

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sondere an der Herrschaftspraxis seines Besatzungsregimes) sowie auf jede Kritik an der deutschen Vorgehensweise auf. All das blieb jedoch der Öffentlichkeit vorenthalten. Natürlich waren die deutschen Regierungsstellen von diesen Veränderungen unterrichtet. Doch in der Regel zeigten sie darauf keine Reaktion, weil man in Berlin offensichtlich bereits den Beschluss fasste, in Vorbereitungen für den Krieg gegen die Sowjetunion zu treten. Die sowjetische Propaganda verfolgte in der Öffentlichkeit keine antideutsche Linie; Publikationen zu Deutschland (darunter zur deutschen Geschichte) blieben weiterhin rar, trugen allgemeinen und defätistischen Charakter. Der lobende Tenor dieser Publikationen aber wurde eindeutig zurückgeschraubt. Die Unzufriedenheit des Kremls mit einigen Handlungen Deutschlands, die häufige Missachtung der sowjetischen Interessen seinerseits, wirkte sich offensichtlich sowohl auf den Inhalt als auch auf die Form der sowjetischen Propaganda und Agitation aus. Im Inneren gingen bei der sowjetischen Elite seit Sommer/Herbst 1940 Alarmzeichen ein und rüttelten etwas an der stereotypen Vorstellung eines Freundschaftsverhältnisses mit Deutschland, die sich seit Herbst 1939 verfestigt hatte. Damit entstand noch kein „zukünftiges Feindbild“, doch es handelte sich um Andeutungen in diese Richtung. Jedenfalls zerstörten sie den Mythos einer „ewigen und unverbrüchlichen deutsch-sowjetischen Freundschaft und Zusammenarbeit“. Es wurden weiterhin optimistische Artikel in der Presse gedruckt und Rundfunksendungen ausgestrahlt, die von guten politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland zu berichten wussten und für Millionen Sowjetmenschen bestimmt waren. Nach Siegesmeldungen und Berichten über die Erweiterung des sozialistischen Einflussbereichs und über den Anstieg des sowjetischen Machtpotentials konnten jedenfalls keine großen Zweifel an Richtigkeit und Erfolg dieser Zielrichtung der sowjetischen Außenpolitik bestehen – am Abschluss von Verträgen und an der Entwicklung der Zusammenarbeit und freundschaftlicher Beziehungen mit NS-Deutschland. (Übersetzung aus dem Russischen: Lilia Antipow)

DIE UDSSR, DEUTSCHLAND UND DER WESTEN IM SCHICKSALSJAHR 1941 Leonid Luks 1. DAS NS-REGIME UND DIE PLANUNG EINES „WELTANSCHAULICHEN VERNICHTUNGSKRIEGES“ Am 18. Dezember 1940 unterschrieb Hitler die „Weisung Nr. 21: Fall Barbarossa“, die Folgendes postulierte: „Die deutsche Wehrmacht muss darauf vorbereitet sein, auch vor der Beendigung des Krieges gegen England Sowjetrussland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen.“ Als Operationsziel wurde festgelegt: Die Masse des sowjetischen Heeres im Westen der Sowjetunion solle vernichtet werden. Als Endziel der Operation wurde die Eroberung der Territorien bis zur Linie Volga-Archangel’sk genannt. Das letzte der UdSSR verbliebene Industriegebiet am Ural sollte „erforderlichenfalls“ durch die Luftwaffe ausgeschaltet werden.1 Der Krieg gegen die Sowjetunion wurde von Hitler bewusst als Krieg neuer Art, als weltanschaulicher Vernichtungskrieg konzipiert. Dabei muss man hervorheben, dass der Wille zu einer völligen Vernichtung der russischen Staatlichkeit wie auch der staatstragenden Eliten Russlands, etwas qualitativ Neues in der Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen darstellte. Versuche, eine Art Kontinuität zwischen der Russlandpolitik des Wilhelminischen Reiches und derjenigen des NS-Regimes zu konstruieren, sind daher wenig überzeugend.2 Dies ungeachtet der Tatsache, dass bereits der Erste Weltkrieg sowohl in Deutschland als auch in Russland als „schicksalhafter Kampf zwischen Germanentum und Slawentum“ wahrgenommen wurde und man schon damals zur Dämonisierung des jeweiligen Kriegsgegners neigte. Was die Besatzungspolitik des Wilhelminischen Reiches in Osteuropa anbetrifft, so unterschied sich hier die Wirklichkeit von den Propaganda-Bildern der Kriegsgegner Deutschlands. Insbesondere nach der bolschewistischen Revolution galten die von den Deutschen besetzten Territorien des ehemaligen Russischen Reiches als Gebiete, in denen die für das Überleben der Bevölkerung erforderlichen Strukturen besser funktionierten als in den von den Bol’ševiki beherrschten Teilen des Imperiums. Die Erinnerung an die damalige deutsche Besatzung wurde nach dem Hitlerschen Überfall auf die Sowjetunion zum Verhängnis für unzählige Menschen der Region, die in Parallelen dachten 1 2

Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933–1945, Berlin 1986, S. 655; Horst Boog et al., Der Angriff auf die Sowjetunion, Frankfurt am Main 1996, S. 292. Siehe dazu unter anderem: Jörg Baberowski / Anselm Doering-Manteuffel, Ordnung durch Terror. Gewaltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und im stalinistischen Imperium, Bonn 2006, S. 19ff., 32ff.

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und im Kurs der Nationalsozialisten eine Art Neuauflage der Wilhelminischen Besatzungspolitik sahen. Sehr schnell begriffen sie aber, dass es sich beim Vorgehen des NS-Regimes im Osten keineswegs um eine Besatzungspolitik im traditionellen Sinne handelte, sondern um eine Vernichtungspolitik. Diese Strategie wurde sorgfältig durch eine Reihe von Führerbefehlen und Erlassen vorbereitet. Im Erlass über die Kriegsgerichtsbarkeit in Russland vom 13. Mai 1941 konnte man lesen: „Für Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht und des Gefolges gegen feindliche Zivilpersonen begehen, besteht kein Verfolgungszwang, auch dann nicht, wenn die Tat zugleich ein militärisches Verbrechen oder Vergehen ist“.3

Zu den berüchtigtsten Dokumenten, die den am 22. Juni 1941 begonnenen weltanschaulichen Vernichtungskrieg antizipierten, gehörten bekanntlich die „Richtlinien für die Behandlung der politischen Kommissare“, die am 6. Juni 1941 vom Oberkommando der Wehrmacht formuliert wurden: „Im Kampf gegen den Bolschewismus ist mit einem Verhalten des Feindes nach den Grundsätzen der Menschlichkeit oder des Völkerrechts nicht zu rechnen. Insbesondere ist von den politischen Kommissaren aller Art als den eigentlichen Trägern des Widerstandes eine haßerfüllte, grausame und unmenschliche Behandlung unserer Gefangenen zu erwarten“.

Die politischen Kommissare seien daher, „wenn im Kampfe oder Widerstand ergriffen, grundsätzlich sofort mit der Waffe zu erledigen“.4 Hitler habe nun nicht mehr taktische Lösungen, sondern nur „Endlösungen“ gesucht, so der HitlerBiograph Joachim C. Fest.5 2. STALINS APPEASEMENTPOLITIK Seit Herbst 1940 wurde Moskau fortwährend vor einem bevorstehenden Überfall Hitlers gewarnt.6 Neben zahlreichen sowjetischen Agenten im Ausland gehörten auch führende britische Politiker und Diplomaten zu den Warnern. So berichtete der britische Botschafter in Moskau, Cripps, am 6. März 1941 im Gespräch mit dem stellvertretenden Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten,

3

4 5 6

Gerd Ueberschär / Wolfram Wette (Hg.), „Unternehmen Barbarossa“. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941. Berichte, Analysen, Dokumente, Paderborn 1984, S. 306f.; siehe dazu auch Johannes Hürter, Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42, München 2007, S. 249f.; Felix Römer, „Im alten Deutschland wäre solcher Befehl nicht möglich gewesen“. Rezeption, Adaption und Umsetzung des Kriegsgerichtsbarkeitserlasses im Ostheer 1941/42, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 2008, 56, S. 53–99. Boog et al., Der Angriff auf die Sowjetunion, S. 522. Joachim C. Fest, Hitler. Eine Biographie. Berlin 1973, S. 885. V. Vinogradov et al. (Hg.), Sekrety Gitlera na stole u Stalina, Moskau 1995, S. 11.

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Vyšinskij, von Gerüchten über den bevorstehenden Überfall Hitlers auf die Sowjetunion.7 Wie reagierte die Moskauer Führung auf die immer akuter werdende Gefahr eines deutsch-sowjetischen Krieges? Der Kurs, den sie verfolgte, war zweigleisig. Einerseits versuchte sie, Berlin zu beschwichtigen, suchte nach Kompromissen bei strittigen Fragen, kam ihren Verpflichtungen, die sich aus dem deutschsowjetischen Handelsabkommen ergaben, zuverlässig und pünktlich nach. So lieferte die Sowjetunion an Deutschland strategisch wichtige Rohstoffe und Lebensmittel – bis zum Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges gelangten z. B. 2,2 Millionen Tonnen Getreide, Mais und Hülsenfrüchte nach Deutschland, eine Million Tonnen Mineralölprodukte, 140 000 Tonnen Baumwolle, 185 000 Tonnen Manganerz, 23 000 Tonnen Chromerz und andere Rohstoffe. Und für das Jahr 1942 wurden sogar 5 Millionen Tonnen Getreide versprochen.8 Auf der anderen Seite versuchte Moskau seine strategischen Positionen in dem sich anbahnenden Konflikt mit Deutschland zu verbessern und rüstete ununterbrochen auf. Die Lage der UdSSR wurde nach der Zerstörung des europäischen Gleichgewichts infolge des Zusammenbruchs Frankreichs immer bedrohlicher. Weitere Staaten traten nun dem Dreimächtepakt bei, der formell zwar gegen Großbritannien, in Wirklichkeit aber auch gegen Moskau gerichtet war – Ungarn (20. November 1940), Rumänien (23. November 1940), Slowakei (24. November 1940), Bulgarien (1. März 1941) und schließlich am 25. März 1941 auch Jugoslawien. Dieser Siegeszug Hitlers in Osteuropa wurde nur in einem Fall kurz unterbrochen. Am 27. März 1941 fand in Belgrad ein Staatsstreich statt. Die neue Führung dort war antideutsch gesinnt und wandte sich nach Moskau um Hilfe. Am 5. April 1941 wurde in Moskau ein sowjetisch-jugoslawischer Freundschaftsvertrag unterzeichnet, den Berlin als beispiellose Provokation empfand. Am 6. April 1941 begann der gegen Jugoslawien und Griechenland gerichtete Balkanfeldzug des Dritten Reiches. Am 17. April 1941 kapitulierten die jugoslawischen Streitkräfte.9 So führte die sowjetische Appeasementpolitik dem Dritten Reich gegenüber zu ähnlichen Resultaten wie ihr westliches Pendant in den Jahren 1934–1938. Sie steigerte nur die Aggressivität Hitlers und fügte den Verfechtern der Beschwichtigungspolitik eine Niederlage nach der anderen bei. Nach der Kapitulation Jugoslawiens versuchte Moskau den deutschen Diktator milder zu stimmen. Am 8. Mai 1941 brach die UdSSR diplomatische Bezie7 8

9

Beseda pervogo zamestitelja Narodnogo kommissara inostrannych gel SSSR A.Ja. Vyšinskogo s poslom Velikobritanii v SSSR R.S.Crippsom, in: Dokumenty vnešnej politiki SSSR, Bd. 23.2, Moskau 1998, S. 452–458, hier S. 452f. Heinrich Schwendemann, Die wirtschaftliche Zusammenarbeit des Deutschen Reiches mit der Sowjetunion von 1939 bis 1941, Berlin 1993, S. 350; Boog et al., Der Angriff, S. 125; Ian Kershaw, Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg, München 2008, S. 355. Gabriel Gorodetsky, Grand Delusion. Stalin and the German Invasion of Russia, New Haven 1999, S. 137–154.

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hungen mit einigen von Deutschland besetzten Staaten ab – Jugoslawien, Belgien, Norwegen. Am 13. Juni 1941 erklärte die sowjetische Nachrichtenagentur TASS, dass Gerüchte über einen „nahenden Krieg zwischen der UdSSR und Deutschland“ völlig absurd seien. Die Gerüchte würden von sowjetfeindlichen und antideutschen Kräften verbreitet, die an einer Ausweitung des Krieges interessiert seien.10 Diese Beschwörung der deutsch-sowjetischen Freundschaft machte keinerlei Eindruck auf Hitler, wirkte aber verheerend auf die eigene Bevölkerung, die sich innerlich auf die bevorstehende Auseinandersetzung mit dem gefährlichsten außenpolitischen Feind Russlands in der gesamten neueren Geschichte nicht vorbereiten konnte. Die öffentlichen Versuche, das Dritte Reich zu beschwichtigen, stellten indes nur einen Aspekt der sowjetischen Politik am Vorabend des deutsch-sowjetischen Krieges dar. Unterschwellig, zwischen den Zeilen oder außerhalb der Öffentlichkeit setzte sich die sowjetische Führung immer intensiver mit Deutschland auseinander. Zu den anschaulichsten Beispielen einer solchen Auseinandersetzung gehörte die Rede, die Stalin am 5. Mai 1941 im Kreml vor den Absolventen der Moskauer Militärakademien hielt. Diese Rede, um die jahrzehntelang unzählige Gerüchte kursierten, wurde erst 1990 veröffentlicht. In einem für ihn typischen Frage und Antwort-Spiel fragte Stalin, ob die deutsche Armee wirklich unbesiegbar sei und beantwortete diese Frage dann folgendermaßen: „Nein. Es gibt und gab auf der Welt keine unbesiegbaren Armeen. […] Die Deutschen meinen, dass ihre Armee die idealste, beste, unbesiegbarste ist. Das stimmt nicht. Eine Armee muss tagtäglich vervollkommnet werden. Jeder Politiker, […] der ein Gefühl der Selbstzufriedenheit zulässt, kann mit einer Überraschung konfrontiert werden wie Frankreich mit der Katastrophe.“11

Bei dem anschließenden Empfang korrigierte Stalin einen General, der auf die „friedliche Stalinsche Außenpolitik“ ein Glas heben wollte, und meinte: „Wir sind dazu verpflichtet, unser Land mit Hilfe einer Offensivtaktik zu verteidigen […] Die Rote Armee ist eine moderne Armee und moderne Armeen sind auf Angriff programmiert.“12

Auch im Kurs der Komintern tauchten seit Herbst 1940 erneut, ähnlich wie vor August 1939, antideutsche und „antifaschistische“ Akzente auf. Den einzelnen Sektionen der Komintern, vor allem in Südosteuropa, empfahl die KominternZentrale die behutsame Propagierung eines antideutschen Kurses. Dies sollte allerdings nicht allzu plakativ geschehen.

10 Soobšþenie TASS, in: Leonid Rešin et al. (Hg.), 1941 god, Bd. 2, Moskau 1998, S. 361; Gorodetsky, Grand Delusion, S. 287–292. 11 Vystuplenie General’nogo Sekretarja CK VKP(b) I.V. Stalina pered vypusknikami voennych akademij RKKA v Kremle, in: Dokumenty vnešnej politiki, Bd. 23.2, S. 648–651, hier S. 651. 12 Vystuplenie General’nogo Sekretarja CK VKP(b) I.V. Stalina pered vypusknikami voennych akademij RKKA v Kremle, in: Rešin et al. (Hg.), 1941 god, Bd. 2, S. 158–162, hier S. 162.

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Ermutigt durch neue Akzente in der Stalinschen Politik entwarf der damalige sowjetische Generalstabschef Žukov am 15. Mai 1941 gemeinsam mit einigen anderen Generälen „Überlegungen zum Plan eines strategischen Aufmarsches der bewaffneten Streitkräfte der Sowjetunion“.13 Kurz vor dem Ausbruch des deutschsowjetischen Krieges waren in den westlichen Militärbezirken der Sowjetunion etwa 2,9 Millionen Soldaten stationiert, die über 14 000–15 000 Panzer, und beinahe 9 000 Kampfflugzeuge verfügten. Ihnen standen mehr als 3 Millionen Soldaten der Wehrmacht und etwa 600 000 aus den verbündeten Staaten (Rumänien, Finnland, Ungarn) gegenüber. Die Deutschen verfügten über etwa 3 600 Panzer, über mehr als 2 500 Flugzeuge, ihre Verbündeten über etwa 900 Kampfflugzeuge.14 Plante Stalin eine Art Präventivkrieg? Wollte er Hitler, dessen Entschluss, die UdSSR anzugreifen, bereits seit Juli 1940 festgestanden hatte, zuvorkommen? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion wurde von der nationalsozialistischen Propaganda in der Tat als Reaktion auf sowjetische Angriffsabsichten gerechtfertigt.15 Handelte es sich also beim Hitlerschen Überfall auf die Sowjetunion seinerseits um eine Art Präventivkrieg? Gegen diese These spricht eindeutig die Einschätzung der damaligen Lage durch den deutschen Generalstabschef Halder. Auf der Besprechung mit den Heeresgruppen- und Armeechefs am 4. Juni 1941 beurteilte er den sowjetischen Aufmarsch als defensiv. Eine Großoffensive der Roten Armee hielt er für „wenig wahrscheinlich“, für „Unsinn“.16 Hitlers größte Ängste bezogen sich damals nicht auf die Stärke der Roten Armee, sondern darauf, dass Stalin seinen Plan, die Sowjetunion zu zerschlagen, im letzten Moment durch eine allzugroße Kompromissbereitschaft durchkreuzen könnte. Er hielt die Sowjetunion keineswegs für einen ebenbürtigen Gegner des Deutschen Reiches, sondern, wie viele frühere potentielle Eroberer Russlands, für einen „Koloss auf tönernen Füßen“.17 Trotz seines energischen und offensiven Auftritts vor den Absolventen der sowjetischen Militärakademien am 5. Mai 1941 bemühte sich Stalin auch weiterhin unermüdlich um die Beschwichtigung Hitlers.18 Über das Schicksal des im sowjetischen Generalstab am 15. Mai 1941 entstandenen Plans eines Präventivschlags gegen die Wehrmacht berichtete Žukov 13 Zapiska Narkoma Oborony SSSR i Naþal’nika Genštaba Krasnoj Armii Predsedatelju SNK SSSR I.V. Stalinu s soobraženijami po planu strategiþeskogo razvertyvanija vooružennych sil Sovetskogo Sojuza na sluþaj vojny s Germaniej i ee Sojuznikami, in: Rešin et al. (Hg.), 1941 god, Bd. 2, S. 215–220, hier S. 216. 14 Boog et al., Der Angriff, S. 61, 105, 108f. 15 Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945, Bd. II, Würzburg 1963, S. 1731. 16 Boog et al., Der Angriff, S. 61; Kershaw, Wendepunkte, S. 94. 17 Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente, hg. von Elke Fröhlich, Teil I, Aufzeichnungen 1924-1941, Bd. 4, 1.1.1940–8.7.1941, München 1987, S. 694f. 18 Nezavisimaja gazeta, 18. Juni 1991, S. 5; siehe dazu auch Feliks ýuev, Sto sorok besed s Molotovym, Moskau 1991, S. 31f., 39ff.; Kershaw, Wendepunkte, S. 340f.

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dem sowjetischen Militärhistoriker Viktor Anfilov: Gemeinsam mit dem Volkskommissar für Verteidigung hätten sie diesen Plan Stalin vorgelegt. Stalin sei empört gewesen: „Seid ihr verrückt geworden, wollt ihr die Deutschen provozieren?“19 Der Plan sei danach ad acta gelegt worden. Von ähnlichen Reaktionen Stalins auf Versuche sowjetischer Militärs, die Truppen in den Grenzregionen in erhöhte Gefechtsbereitschaft zu setzten, berichtete Marschall Vasilevskij, der 1940/41 im sowjetischen Generalstab für die Entwicklung von Operationsplänen zuständig war. Stalin habe an den unmittelbar bevorstehenden Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges nicht geglaubt, er habe gehofft, man werde mit Hilfe von diplomatischen und politischen Maßnahmen den Ausbruch des Krieges eine Zeitlang verzögern können. Er habe es auch abgelehnt, die Grenztruppen auf den Angriff vorzubereiten, um Hitler nicht zu provozieren. Als die Befehlshaber des Kiever und des Weißrussischen Militärbezirks Anfang Juni 1941 versuchten, Gegenmaßnahmen gegen den deutschen Aufmarsch zu treffen, wurden sie von der Moskauer Zentrale scharf gerügt. Zu den wenigen Militärführern, die ungeachtet der Verbote der Zentrale ihre Truppen auf einen eventuellen deutschen Angriff einstellten, so der russische Militärhistoriker und General Solnyškov, gehörte der Oberbefehlshaber des Militärbezirks von Odessa, N. Sacharov. Am 15. Juni 1941 berichtete der sowjetische Top-Spion, Richard Sorge, aus Tokio, dass der deutsche Angriff am 22. Juni erfolgen werde. Stalin versah diesen Bericht mit dem Kommentar: „Eine deutsche Desinformation“.20 Am 21. Juni 1941 schrieb der Leiter der sowjetischen Sicherheitsorgane, Berija, an Stalin: „Ich bestehe […] auf der Abberufung und Bestrafung unseres Botschafters in Berlin, Dekanozov, der mich weiterhin mit Desinformationen über einen angeblich von Hitler vorbereiteten Überfall auf die UdSSR bombardiert. Er teilt mit, daß dieser Angriff morgen beginnt.“21

Berija erinnerte in diesem Zusammenhang an die „weise Voraussage“ Stalins: „Hitler wird uns im Jahre 1941 nicht angreifen.“.22 Angesichts dieser Stalinschen „Vogel-Strauß-Politik“ stellt sich nun erneut die Frage, ob die propagandistische These der NSDAP, der deutsche Angriff auf die Sowjetunion sei lediglich ein Präventivkrieg gewesen, vertreten werden kann. Diese These wurde nämlich 1985 vom ehemaligen Offizier des sowjetischen Nachrichtendienstes und Amateurhistoriker Viktor Suvorov (V. Rezun) wieder aufgewärmt. Suvorov nennt sogar das Datum eines von Moskau angeblich geplanten Angriffs – 6. Juli 1941. Von der überwältigenden Mehrheit der Militärhistori-

19 Iz neopublikovannych vospominanij Maršala Sovetskogo Sojuza G.K. Žukova, in: Rešin et al. (Hg.), 1941 god, Bd. 2, S. 500–508, hier S. 501f. 20 Dmitrij Volkogonov, Sem’ voždej. Galereja liderov SSSR v 2-ch knigach, Bd. 1, Moskau 1995, S. 213; Kershaw, Wendepunkte, S. 342–349, 354–361; Gorodetsky, Grand Delusion, S. 294–299. 21 Der Spiegel, Nr. 24, 7. Oktober 1991, S. 146. 22 Izvestija, 11. Juni 1991, S. 4.

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ker, wenn man von einigen Ausnahmen, wie Joachim Hoffmann, absieht, wird diese These als wissenschaftlich nicht haltbar verworfen.23 Im Gegensatz zu Hitler war Stalin in der Außenpolitik kein Va-banqueSpieler. Er griff in der Regel nur solche Gegner an, die der Sowjetunion eindeutig unterlegen waren, so dass das Risiko auf ein Minimum reduziert war. Als der deutsche Botschafter in Moskau, Schulenburg, am 22. Juni 1941 Molotov die deutsche Kriegserklärung überreicht hatte, soll Molotov gesagt haben: „Das haben wir nicht verdient“ (so der Bericht des deutschen Diplomaten Gustav Hilger).24 Laut sowjetischem Stenogramm, das erst vor kurzem veröffentlicht wurde, lauteten die abschließenden Worte Molotovs etwas anders: „Wozu hat Deutschland den Nichtangriffspakt unterzeichnet, wenn es ihn derart bedenkenlos bricht?“25 Schulenburg unterstrich, dass er sich sechs Jahre lang um freundschaftliche Beziehungen zwischen den beiden Ländern bemüht habe, aber gegen das Schicksal könne er nicht ankämpfen. Schenkt man dem hohen Funktionär des sowjetischen Geheimdienstes Sudoplatov Glauben, so versuchte die sowjetische Führung sogar nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion die NS-Führung zu beschwichtigen. Sudoplatov sollte Ende Juni 1941 im Auftrag Lavrentij Berijas mit dem bulgarischen Botschafter in Moskau Stamenov die Bedingungen sondieren, die Hitler zu einer Beendigung des Krieges veranlassen könnten. Stamenov sollte sich bei den Deutschen erkundigen, ob sie sich mit solchen Gebieten wie „das Baltikum, die Ukraine, Bessarabien, Bukowina und die karelische Landenge begnügen würden. Wenn nicht, welche zusätzlichen Gebiete würde Deutschland beanspruchen?“26 Es ist nicht ausgeschlossen, dass Hitler sich auf dieses Angebot Stalins bezog, als er im Führerhauptquartier am 12. Juli 1941 Folgendes sagte: „Dieser schlaue Kaukasier ist bereit, das europäische Russland dranzugeben, wenn er fürchten muß, sonst das ganze zu verlieren“.27 Sollte der Bericht Sudoplatovs der Wirklichkeit entsprechen, würde dies erneut beweisen, wie sehr Stalin die ideologischen Zwänge, die das Verhalten Hitlers bestimmten, unterschätzte.

23 Boog et al., Der Angriff, S. 68. 24 Gustav Hilger, Wir und der Kreml. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1918–1941. Erinnerungen eines deutschen Diplomaten, Frankfurt am Main 1956, S. 313. 25 Beseda Narkoma Inostrannych Del SSSR V.M. Molotova s poslom Germanii v SSSR F. Šulenburgom, in: Rešin et al. (Hg.), 1941 god, Bd. 2, S. 431f, hier S. 432; ýuev, Sto sorok besed, S. 48ff. 26 Iz ob”jasnitel’noj zapiski P.A. Sudoplatova v Sovet Ministrov SSSR, in: Rešin et al. (Hg.), 1941 god, Bd. 2, S. 487–490, hier S. 488; Iz neopublikovannych vospominanij maršala Sovetskogo Sojuza G.K. Žukova, in: ebd. S. 500–508, hier S. 507f. 27 Adolf Hitler. Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944, aufgezeichnet von Heinrich Heim, hg. von Werner Jochmann, München 2000, S. 42.

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3. MOSKAU UND DIE ANGELSÄCHSISCHEN DEMOKRATIEN IM JAHR 1941 – EINE WIDERSPRÜCHLICHE ALLIANZ Von den westlichen Demokratien wurde die Auflösung der am 23. August 1939 entstandenen totalitären Allianz zwischen Hitler und Stalin als ein „wahres Gottesgeschenk“ begrüßt. In diesem Sinne äußerte sich z. B. der ehemalige Botschafter der USA in Moskau, Joseph Davies. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass einer der größten Verächter der freiheitlich verfassten Staaten zum Retter der westlichen Demokratien wider Willen wurde. Die demokratischen Sieger des Ersten Weltkrieges befanden sich seit Sommer 1940 in einer äußerst prekären Situation. Die Tatsache, dass die Wehrmacht im Mai/Juni 1940 den Widerstand Frankreichs noch schneller brechen konnte als denjenigen Polens einige Monate zuvor, zeigte, welche Ausmaße die innere Korrosion dieser einstigen Großmacht, die im Ersten Weltkrieg noch ein unüberwindliches Hindernis für die deutsche Militärmaschinerie dargestellt hatte, bereits erreichte. Das Kräftereservoir der demokratisch verfassten Staaten erwies sich nun als sehr begrenzt. 1918 konnten sie noch, ungeachtet der Unzuverlässigkeit ihres russischen Verbündeten, den Ersten Weltkrieg als überlegene Sieger beenden. In der Zwischenzeit hatte sich aber das globale Kräfteverhältnis eindeutig zugunsten der Diktaturen verlagert. Im Alleingang waren die Demokratien nicht mehr imstande, das 1939 erneut einsetzende globale Ringen zu gewinnen. Nur die Auflösung der im August 1939 entstandenen totalitären Allianz konnte die äußerst bedrohliche Situation des Westens lindern. Sowohl Franklin D. Roosevelt als auch Winston Churchill, der am 10. Mai 1940 Chamberlain, die Symbolfigur der Appeasementpolitik, ablöste, wünschten nun sehnsüchtig einen Bruch zwischen Moskau und Berlin herbei. Der Faktor Russland begann in ihren strategischen Überlegungen eine zentrale Rolle zu spielen. Die Bezwingung Hitlers war ohne Stalin in der Tat nicht möglich. Deshalb begannen die beiden einflussreichsten Politiker der westlichen Welt um den sowjetischen Diktator zu werben und damit die bis dahin klaren Fronten im globalen Ringen um die Neuordnung der Welt zu verwischen. Ein ähnlich triumphaler Sieg der Demokratien wie nach dem Ersten Weltkrieg war mit einem solchen Verbündeten wie Stalin nicht mehr möglich. Dennoch hatte der Westen aufgrund seiner militärischen Schwäche zu diesem Zeitpunkt keine andere Wahl, als der stalinistischen Despotie ein Mitspracherecht bei der Gestaltung der neuen Weltordnung einzuräumen. Dieses Dilemma der Demokratien wird von George F. Kennan folgendermaßen charakterisiert: Der Westen habe sich so geschwächt, dass er nicht mehr in der Lage gewesen sei, einen der beiden totalitären Gegner ohne die Hilfe des anderen zu bezwingen. Ein moralisch einwandfreier Sieg sei für den Westen nicht mehr möglich gewesen.28 Als Hitler am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, um sich seinen langgehegten Traum von der Eroberung des Lebensraumes im Osten noch zu seinen Lebzeiten zu erfüllen, hatten Churchill und Roosevelt keine Zweifel, welchen der beiden sich nun befehdenden Tyrannen sie unterstützen sollten. Bereits am 28 George F. Kennan, Russia and the West under Lenin and Stalin, Boston 1961, S. 314f.

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12. Juli 1941 wurde ein britisch-sowjetisches Beistandsabkommen unterzeichnet, in dem beide Seiten sich verpflichteten, keinen Seperatwaffenstillstand oder frieden mit Deutschland zu schließen. Der UdSSR wurden britische Hilfsgüter versprochen. Auch die formell noch neutralen Vereinigten Staaten erklärten sich bereit, Moskau zu unterstützen. Dies vor allem nach der Reise eines der engsten Berater Franklin D. Roosevelts, Harry Hopkins, in die Sowjetunion. Hopkins widersprach der bis dahin in den militärischen Kreisen der USA verbreiteten Meinung von der militärischen Schwäche der Sowjetunion und schätzte die Verteidigungsmöglichkeiten der UdSSR positiv ein. Am 2. August 1941 erklärte die USRegierung, der militärische Widerstand der Sowjetunion liege nun im Interesse der eigenen nationalen Verteidigung und sicherte Moskau umfangreiche wirtschaftliche Unterstützung zu. Am 1. Oktober 1941 wurde zwischen der UdSSR und den angelsächsischen Mächten ein Lieferungsabkommen (Pacht- und Leihabkommen) unterzeichnet, das der Sowjetunion eine monatliche Lieferung von 400 Kampfflugzeugen, 500 Panzern und Hilfsgüter anderer Art versprach – vor allem von Transport- und Lebensmitteln. Diese Lieferungen trugen zum Sieg der Sowjetunion über das Dritte Reich nicht unwesentlich bei. Kriegsentscheidend waren dabei nicht die westlichen Waffen, denn die sowjetische Rüstungsproduktion war durchaus imstande, die Rote Armee in ausreichendem Ausmaß mit hochwertigen Waffensystemen zu versorgen. Engpässe bestanden vielmehr in anderen Bereichen, die nun mit Hilfe westlicher Lieferungen überwunden werden konnten. So erhielt die UdSSR während des Krieges mehr als 400 000 Lastkraftwagen, 2 000 Lokomotiven, 4,5 Millionen Tonnen Fleischkonserven, 15 Millionen Paar Schuhe und so weiter. 1991 bezifferten sowjetische Autoren den Gesamtwert der westlichen Lieferungen auf 11 Milliarden Dollar.29 Die Aktionen der angelsächsischen Mächte und der Sowjetunion waren während des gesamten Krieges wesentlich besser koordiniert als die Aktionen ihrer Gegner – der Achse Berlin-Rom-Tokio. Dies ungeachtet gewaltiger ideologischpolitischer Gegensätze zwischen der Sowjetunion und den westlichen Demokratien, wie sie innerhalb der „Achse“ nicht bestanden. Diese mangelnde Koordination war insbesondere für das deutsch-japanische Verhältnis charakteristisch. So unterschrieb der japanische Außenminister, Matsuoka, ausgerechnet am Vorabend des deutsch-sowjetischen Krieges am 13. April 1941 einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion. Trotz mehrfacher Aufforderungen Berlins war Tokio nicht bereit, diesen Pakt zu brechen und richtete seinen imperialen Drang auf Südostasien und den Pazifischen Raum. Hier betrachtete Japan die angelsächsischen Mächte als seine größten Konkurrenten. Für das Schicksal des deutsch-sowjetischen Krieges, nicht zuletzt für den Ausgang der Schlacht vor Moskau im Dezember 1941, war es nicht unerheblich, dass sowjetische Agenten in Tokio, in erster Linie Richard Sorge, Moskau davon informierten, dass Tokio keinen Angriff auf die Sowjetunion, sondern auf briti-

29 Sergejj Kulešov, Naše oteþestvo, Bd. 2, Moskau 1991, S. 415.

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sche und niederländische Kolonien in Südostasien plane.30 Diese Informationen ermöglichten der sowjetischen Führung, zahlreiche Divisionen aus dem Fernen Osten und aus Sibirien an die deutsch-sowjetische Front zu verlagern. Dazu kamen noch viele Truppen aus den inneren Militärbezirken, aus Mittelasien und Transkaukasien bzw. neu aufgestellte Einheiten. Mit Hilfe dieser zweiten strategischen Staffel von Reservearmeen vermochte die sowjetische Führung am 5. Dezember 1941 eine Gegenoffensive gegen die siegesgewohnte deutsche Wehrmacht zu beginnen. Zwei Tage später griff die japanische Luftwaffe den amerikanischen Flottenstützpunkt in Pearl Harbour an. Am 12. Dezember 1941 erklärte Hitler den USA den Krieg. Nun befanden sich alle Mächte der beiden Koalitionen im Krieg. Nur an einer Stelle war diese Kette nicht geschlossen. Der sowjetisch-japanische Nichtangriffspakt vom April 1941 wurde von den beiden Seiten im Wesentlichen respektiert.31 Obwohl die Aktionen der Anti-Hitler-Koalition wesentlich besser koordiniert waren als diejenigen der Achsenmächte, traten auch hier Spannungen auf. Der erste wesentliche Streitpunkt bezog sich auf die Frage der sogenannten zweiten Front, die von der Moskauer Führung bereits einige Wochen nach dem Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges aufgeworfen wurde. Bereits am 18. Juli 1941 forderte Stalin von Churchill die Eröffnung einer „zweiten Front“ in Westeuropa. Er meinte, fast alle militärischen Kräfte Deutschlands seien nun an der Ostfront konzentriert. England solle dies für eine Invasion in Frankreich ausnutzen. Churchill lehnte dies kategorisch ab. England habe ein ganzes Jahr lang allein gegen Hitler gekämpft. Seine Kräfte seien verbraucht. In der Frage der zweiten Front hatten die Westmächte ein permanentes schlechtes Gewissen Moskau gegenüber. Sie waren sich darüber im Klaren, dass die UdSSR die Hauptlast des Krieges trug, dass alles „von der Entwicklung des gigantischen russisch-deutschen Ringens“ abhing (Churchill April 1942). Und dieses schlechte Gewissen der britischen und der amerikanischen Führung trug zu ihrer Nachgiebigkeit in vielen anderen Punkten bei. Dies betraf zunächst die Frage der Nachkriegsgrenzen der UdSSR, denn Stalin war fest entschlossen, territoriale Gewinne, die er in der Zeit der Freundschaft mit dem Dritten Reich erzielt hatte, als integralen Bestand der Sowjetunion für immer zu behalten. Diese Frage stand im Zentrum der Gespräche, die der britische Außenminister, Eden, im Dezember 1941 in Moskau mit der sowjetischen Regierung führte. Die deutschen Truppen befanden sich damals in der unmittelbaren Nähe Moskaus, das Schicksal des sowjetischen Staates als solcher stand auf dem Spiel, trotzdem hielt Stalin es für wichtig, den genauen Verlauf der künftigen polnisch-sowjetischen Grenze festzulegen. Polen hatte auf seine ehemaligen Ostgebiete, die seit September 1939 von der 30 V. Karpov (Hg.), Politika Japonii v otnošenii SSSR v 1941 g. po materialam Archiva Služby Vnešnej Razvedki RF, in: Novaja i novejšaja istorija, 1996, H. 1, S. 92–103, hier S. 98, 100. 31 Gebrochen wurde er von der Sowjetunion, und zwar drei Monate nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches (gemäß der internen Absprache der Anti-Hitler-Koalition auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945). Am 9. August 1945 griff die Rote Armee die japanischen Streitkräfte in der Mandschurei an und eroberte in wenigen Tagen Südsachalin und die Kurilen-Inseln. Am 2. September 1945 kapitulierte Japan.

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Sowjetunion okkupiert waren, zu verzichten, dafür sollte es durch deutsche Territorien bis zur Oder und durch Ostpreußen kompensiert werden. Eden wollte sich nicht festlegen. Immerhin war die Verteidigung Polens der unmittelbare Anlass für den Eintritt Großbritanniens in den Krieg gewesen.32 Das Thema der polnisch-sowjetischen Grenze wurde auch im Gespräch zwischen Stalin und dem Chef der polnischen Exilregierung in London, General Sikorski, Anfang Dezember 1941 behandelt. Stalin schlug Sikorski „winzig kleine Änderungen“ der polnisch-sowjetischen Grenze vor. Sikorski war allerdings nicht bereit, darüber zu diskutieren. Die polnisch-sowjetischen Beziehungen, die am 30. Juli 1941 offiziell wiederhergestellt worden waren, verschärften sich zusätzlich, als in der von den Deutschen besetzten Smolensker Region – bei Katyn’ – ein Massengrab mit 4 400 erschossenen polnischen Kriegsgefangenen gefunden wurde. Als die polnische Exilregierung von der Sowjetunion eine Aufklärung des Falles verlangte, brach Moskau am 25. April 1943 die diplomatischen Beziehungen mit der Exilregierung ab. Obwohl diese Regierung für die Westalliierten weiterhin als die einzige legitime Vertretung Polens galt, existierte sie für Stalin nicht mehr. Am Schicksal dieser Regierung spiegelt sich das Schicksal aller anderen osteuropäischen Gruppierungen wider, die nicht bereit waren, auf ihre Eigenständigkeit zu verzichten und ein Vasallendasein im Schatten Moskaus zu führen. Sie wurden vom Westen praktisch im Stich gelassen. Nachdem die Westmächte durch ihre Appeasementpolitik der 1930er Jahre zum Aufbau der Hitlerschen Kriegsmaschine wesentlich beigetragen hatten, war die Bezwingung des Dritten Reiches ohne das Bündnis mit der Stalinschen Sowjetunion nicht mehr möglich. Und dieses Bündnis forderte seinen Preis, den in erster Linie die Völker Osteuropas zahlen mussten. Bereits im März 1942 schrieb Churchill an Roosevelt, dass es wohl unumgänglich sein werde, Russland in jenen Grenzen anzuerkennen, „die es im Augenblick des deutschen Überfalls de facto besaß“.33 Stalin versuchte seinerseits, seine westlichen Partner davon zu überzeugen, dass der Export des Kommunismus für Moskau keine vorrangige Bedeutung mehr habe. Dies ungeachtet der Tatsache, dass nach dem Ausbruch des deutschsowjetischen Krieges die kommunistische Weltbewegung eine neue Renaissance erlebte. Sie konnte den 1939 unterbrochenen antifaschistischen Feldzug erneuern; dies wurde von unzähligen Kommunisten als innere Befreiung erlebt.34 Die Kommunisten konnten sich nun, anders als zur Zeit der Hitler-Stalin-Allianz, mit gutem Gewissen in die antifaschistische Front in den besetzten Ländern einreihen und gehörten zu den aktivsten Widerstandskämpfern.

32 Georgij Kynin / Joachim Laufer / Viktor Knoll (Hg.), Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948. Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation, Bd. 1, 22. Juni 1941 bis 8. Mai 1945, Berlin 2004, S. 19–25; U. Ržeševskij, Vizit Ơ. Idena v Moskvu v dekabre 1941 g. Peregovory s I.V. Stalinym i V.M. Molotovym, in: Novaja i novejšaja istorija, 1994, H. 2, S. 85–102, hier S. 94. 33 Boog et al., Der Angriff, S. 947. 34 Julius Braunthal, Geschichte der Internationale, Bd. 2, Berlin 1978, S. 544.

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Für Stalin wurde die Komintern in immer stärkerem Ausmaß zu einer Belastung. „Das Geschwätz von der Weltrevolution hilft nur Hitler und verhindert die Vereinigung aller hitlerfeindlichen Kräfte“, schrieb die Komintern-Zentrale am 25. Juni 1941 an die französische KP.35 Bereits im April 1941 – also noch vor dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges – spielte Stalin mit dem Gedanken, die Komintern aufzulösen. Kommunistische Parteien sollten sich in nationale Parteien verwandeln.36 Nach dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges wurde dieser Plan vorübergehend ad acta gelegt. Erst Mitte 1943 sollte er verwirklicht werden. Die Komintern rief bei den Verbündeten Moskaus lediglich Misstrauen hervor. Durch ihre zentralisierte Struktur verhindere sie die eigenständige Entwicklung einzelner kommunistischer Parteien, erklärte Stalin am 8. Mai 1943. Diese Überlegungen führten einige Tage später zur Auflösung einer Organisation, die 1943 immer noch eine weitverzweigte Weltbewegung darstellte, und zwar per Anordnung von oben.37 Deutschland nahm verständlicherweise bei allen Überlegungen der Alliierten über die Nachkriegsordnung eine Sonderposition ein. Im Dezember 1941, bereits einige Monate nach dem Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges, entwickelte Stalin im Gespräch mit dem englischen Außenminister Eden, seine Zukunftsvorstellungen und plädierte für eine nachhaltige Schwächung Deutschlands, vor allem aber Preußens. Österreich und eventuell Bayern sollten als selbständige Staaten wiederhergestellt werden. Von Preußen sollten Ostpreußen, das Rheinland und alle Gebiete östlich der Oder abgetrennt werden. Eden reagierte skeptisch auf diesen Plan und meinte, die Teilung Deutschlands werde dort zur Entstehung einer Nationalbewegung führen, die das Land erneut einigen würde. Stalin erwiderte, dass „eben derartige Erwägungen zum gegenwärtigen Krieg geführt hatten. Wünsche denn Eden einen neuerlichen Überfall von seiten Deutschlands?“38

35 Ebnd., S. 26. 36 Georgi Dimitroff, Tagebücher 1933–1943, Bd. 1, hg. von Bernhard H. Bayerlein, Berlin 2000, S. 374. 37 Braunthal, Geschichte der Internationale, Bd. 2, S. 545f. 38 Kynin / Laufer / Knoll (Hg.), Die UdSSR und die deutsche Frage, Bd. 1, S. 25; Im Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter in London, Majskij, entwickelte Churchill Thesen, die denjenigen Stalins durchaus ähnelten. Churchill erklärte, „daß die Hauptaufgabe darin bestehe, ein für allemal die deutsche Gefahr zu beseitigen. Dazu sei die vollständige Abrüstung Deutschlands wenigstens für die Dauer einer Generation ebenso erforderlich wie die Aufspaltung Deutschlands in einzelne Teile; insbesondere Preußen müsse von den übrigen Teilen Deutschlands getrennt werden“. Churchill hielt es allerdings für kontraproduktiv, offen über die Teilung Deutschlands zu sprechen. Dies werde den deutschen Widerstand gegen die Alliierten nur verstärken (Kynin / Laufer / Knoll (Hg.), Die UdSSR und die deutsche Frage, Bd. 1, S. 17). Je deutlicher sich die Niederlage des Dritten Reiches abzeichnete, desto größer war allerdings die Sorge Churchills, dass nach dem Zusammenbruch Deutschlands ein Machtvakuum im Zentrum Europas entstehen könnte, das die Sowjetunion zur alleinigen Beherrscherin des Kontinents machen würde. Der britische Ministerpräsident kehrte allmählich zum traditionellen englischen Gleichgewichtsdenken zurück und sprach sich gegen eine allzu radikale Schwächung Deutschlands aus.

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Stalinistische Propagandisten versuchten unmittelbar nach dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges an die Klasseninstinkte der deutschen Proletarier, auch der Soldaten der Wehrmacht, zu appellieren, um sie zum Sturz des eigenen Regimes zu bewegen. Als diese Hoffnung auf die Klassensolidarität ihren illusionären Charakter offenbarte, konzentrierte sich die sowjetische Propaganda dann in erster Linie auf die Schürung des Hasses gegen die deutschen Invasoren.39 Stalin beschränkte sich allerdings in seiner Kriegspropaganda nicht nur auf die Schürung des Deutschenhasses. Er spielte wie so oft mit mehreren Optionen, und eine von ihnen hieß: Appell an das deutsche Nationalgefühl, um einen Zwist zwischen dem NS-Regime und den national gesinnten Gruppierungen in Deutschland zu säen.40 4. DER „ERSTE“ DEUTSCH-SOWJETISCHE KRIEG UND SEIN ENDE: VON HITLERS ÜBERFALL AUF DIE UDSSR BIS ZUR SCHLACHT VON MOSKAU Das stalinistische Regime, das seit Anfang der 1930er Jahre einen grausamen Krieg gegen imaginäre Volksfeinde geführt hatte, wurde am 22. Juni 1941 mit wirklichen Feinden konfrontiert. Vieles sprach dafür, dass es diese harte Bewährungsprobe nicht überstehen würde. Der deutsch-sowjetische Krieg bestand praktisch aus zwei Kriegen, die sich grundlegend voneinander unterschieden. Und im „ersten“ Krieg, der sich im Sommer und im Herbst 1941 abspielte, erlitt die Rote Armee eine verheerende Niederlage. In einer Reihe von Kesselschlachten gelang es den Deutschen, den Großteil der sowjetischen Streitkräfte, die den ersten Schlag der Wehrmacht auf sich genommen hatten, zu zerreiben. In der Kesselschlacht von Biaáystok-Minsk (Anfang Juli) wurden 329 000 Rotarmisten gefangen genommen, in der Nähe von Uman’ (Anfang August) 106 000, bei Kiev (um den 20. September) 656 000, bei Brjansk und Vjaz’ma (Mitte Oktober) 663 000.41 Insgesamt fielen bis Ende 1941 3,8 Millionen sowjetische Soldaten in Gefangenschaft (demgegenüber betrug die Zahl der deutschen Soldaten, die während des gesamten deutsch-sowjetischen Krieges in die sowjetische Gefangenschaft gerieten 3,15 Millionen). Darüber hinaus verlor die Rote Armee bis Ende 1941 etwa 25 000 Flugzeuge und 20 000 Panzer.42 1941/42 vermochten die Deutschen beinahe 2 Millionen Quadratkilometer des sowjetischen Territoriums zu besetzen, die vor dem Krieg von mehr als 80 Millionen Menschen bewohnt worden waren (etwa 40 % der Bevölkerung). In den von den Deutschen besetzten Gebieten wurden vor dem Krieg etwa 58 % des 39 Dimitroff, Tagebücher, Bd. 1, S. 641. 40 Iosif Stalin, Doklad na Toržestvennom zasedanii Moskovskogo Soveta deputatov trudjašþichsja s partijnymi i obšþestvennymi organizacijami g. Moskvy 6 nojabrja 1941 goda, in: ders., Soþinenija, Bd. 15, 1941–1945, Stanford 1967, S. 11–31, hier S. 21. 41 Kulešov, Naše oteþestvo, Bd. 2, S. 400ff. 42 Ebd., S. 402.

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Stahls, 65 % des Aluminiums, 71 % des Gusseisens, 38 % des Getreides produziert, 63 % der Steinkohle gefördert. 43 Lässt sich dieses Debakel darauf zurückführen, dass Stalin bis zuletzt Hitler zu beschwichtigen suchte und die von seinen Generälen geforderten militärischen Gegenmaßnahmen nicht zuließ? Oder war es mit dem Überraschungseffekt des deutschen Angriffs ursächlich verbunden? Selbst wenn diese Erklärungen für die Niederlage der Roten Armee in der ersten Phase des Krieges nicht von der Hand zu weisen sind, war auch die Tatsache nicht weniger wichtig, dass der Roten Armee 1941 Tausende von Offizieren fehlten, die Stalin 1937–1939 hatte ermorden lassen.44 Die Tatsache, dass die sowjetischen Militärs derart kopflos auf den deutschen Vormarsch zu Beginn des Krieges reagierten, dass es damals zu zahlreichen Kesselschlachten mit Millionen von Kriegsgefangenen gekommen war, war nicht zuletzt auf die Unbeholfenheit und mangelnde Erfahrung des „erneuerten“ Offizierskorps zurückzuführen. Nur 7 % der sowjetischen Offiziere verfügten damals über eine militärische Hochschulbildung, 75 % der Offiziere hatten zu Beginn des Krieges ihren Posten nicht länger als ein Jahr inne. Die Atmosphäre der Angst, die der Große Terror in der Armee verbreitete, lähmte die Eigeninitiative auch derjenigen Offiziere, die den Terror überlebten. Aber auch dieser Umstand stellt keine ausreichende Erklärung dafür dar, dass es der Wehrmacht, die weder zahlenmäßig noch technisch der Roten Armee wesentlich überlegen war, gelang, innerhalb von sechs Monaten 3,8 Millionen sowjetischer Soldaten gefangen zu nehmen und bis Moskau vorzudringen. Das Debakel der Roten Armee war wohl auch durch die erschreckend niedrige Kampfmoral vieler sowjetischer Soldaten zu Beginn des Krieges bedingt. Der brutale Terror der 1930er Jahre, der sich praktisch gegen alle Schichten der Gesellschaft gerichtet hatte, musste sich zwangsläufig verheerend auf die Moral der Bevölkerung auswirken. In vielen sowjetischen Dörfern, und zwar nicht nur in den 1939–1940 annektierten Gebieten, sondern auch in manchen altsowjetischen Regionen erhielten die Deutschen nicht selten wohlwollende Aufnahme, wurden manchmal sogar als Befreier begrüßt. Die defätistische Stimmung, die einige Teile der sowjetischen Bevölkerung und sogar der Armee erfasste, war nicht zuletzt dadurch bedingt, dass diese Gegner des sowjetischen Regimes sich zunächst über die Absichten der nationalsozialistischen Führung nicht im Klaren waren. Sie mussten, ähnlich wie früher viele westliche und sowjetische Verfechter der Appeasementpolitik Hitler gegenüber, aber auch wie viele deutsche Konservative, einen Lernprozess durchlaufen, um zu begreifen, dass eine partielle Identifizierung mit dem Nationalsozialismus nur Hitler nutzt, für seine Verbündete aber verheerende Folgen nach sich zieht. 43 Boog et al., Der Angriff, S. 867ff. 44 Im deutsch-sowjetischen Krieg sind etwa 600 sowjetische Generäle gefallen. Im Krieg Stalins gegen die Rote Armee in den Jahren 1937–1939 fielen dreimal so viele Generäle bzw. dem Generalsrang Gleichgestellte zum Opfer, vgl. Bernd Bonwetsch, „Die Geschichte des Krieges ist noch nicht geschrieben“. Die Repression, das Militär und der „Große Vaterländische Krieg“, in: Osteuropa, 1989, 39, S. 1021–1038, hier S. 1022.

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Hitlers Monologe im Führerhauptquartier geben Aufschluss darüber wie der deutsche Diktator sich die Zukunft des eroberten Ostens vorstellte. Einige Beispiele sollten genügen. Am 17. Oktober 1941 führte Hitler aus: „Die Eingeborenen? Wir werden dazu übergehen, sie zu sieben. Den destruktiven Juden setzen wir ganz aus […] In die russischen Städte gehen wir nicht hinein, sie müssen vollständig ersterben. Wir brauchen uns da gar keine Gewissensbisse zu machen […] [Wir] haben überhaupt keine Verpflichtungen den Leuten gegenüber“.45

Kurz nach dem Beginn des Russlandfeldzugs teilte Hitler der Heeresleitung seinen „feststehenden Entschluss“ mit: „Moskau und Leningrad dem Erdboden gleich zu machen, um zu verhindern, dass Menschen darin bleiben, die wir dann im Winter ernähren müssten“.46 In den von der Abteilung Wehrmachtpropaganda herausgegebenen „Mitteilungen für die Truppe“ vom Juni 1941 konnte man Folgendes lesen: „Was Bolschewiken sind, daß weiß jeder, der einmal einen Blick in das Gesicht eines der roten Kommissare geworfen hat […] Es hieße die Tiere zu beleidigen, wollte man die Züge dieser zu einem hohen Prozentsatz jüdischen Menschenschinder tierisch nennen. Sie sind die Verkörperung des infernalischen, persongewordenen wahnsinnigen Hasses gegen alles edle Menschentum. In der Gestalt dieser Kommissare erleben wir den Aufstand des Untermenschen gegen edles Blut.“47

In den ersten Wochen des Russlandfeldzugs fielen Tausende von sowjetischen Politoffizieren dem Kommissarbefehl zum Opfer. Sie wurden von den übrigen Kriegsgefangenen abgesondert und erschossen. Seit Mitte August 1941 mehrten sich allerdings in der Wehrmacht Proteste gegen diesen Befehl. Er wurde als „Mitursache des zähen feindlichen Widerstandes“ bezeichnet. Der Kommissarerlass wurde jedoch erst im Frühjahr 1942 im Operationsgebiet ausgesetzt, „um bei den sowjetischen Soldaten die Neigung zum Überlaufen […] zu fördern“.48 Dessen ungeachtet wurde der Feldzug der nationalsozialistischen Terrororgane gegen die politischen Funktionäre und andere Hoheitsträger in den Reihen der sowjetischen Kriegsgefangenen fortgesetzt. Tragisch war allerdings nicht nur das Schicksal der gefangenen Politfunktionäre, sondern auch das der einfachen Rotarmisten. 60 % der im Verlaufe des Jah45 Adolf Hitler. Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944, S. 90. Diese „programmatischen“ Äußerungen des „Führers“ prägten auch im Wesentlichen den Charakter des Russlandfeldzuges. Siehe dazu unter anderem Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941–1944, Hamburg 1999; Klaus Jochen Arnold, Die Wehrmacht und die Besatzungspolitik in den besetzten Gebieten der Sowjetunion. Kriegführung und Radikalisierung im „Unternehmen Barbarossa“, Berlin 2004; Hürter, Hitlers Heerführer; Dieter Pohl, Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933– 1945, Darmstadt 2003; Boog et al., Der Angriff; Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945, Stuttgart 1978; Helmut Krausnick / Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskriegs. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938–1942, Stuttgart 1981. 46 Hürter, Hitlers Heerführer, S. 484. 47 Boog et al., Der Angriff, S. 528. 48 Ebd., S. 1263.

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res 1941 gefangenen sowjetischen Soldaten (also etwa 2 Millionen Menschen) waren am 1. Februar 1942 nicht mehr am Leben. Sie verhungerten oder wurden vom Fleckfieber dahingerafft.49 Unmittelbar nach dem Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges wurde vom Reichskommissariat für die Festigung des deutschen Volkstums, das Heinrich Himmler leitete, der sogenannte „Generalplan Ost“ vorgelegt. Er sah die Besiedlung des Baltikums, Ostpolens, Weißrusslands und eines Teils der Ukraine durch Deutsche vor, die Vertreibung von mehr als 30 Millionen „rassisch unerwünschten Fremdvölkischen“ aus diesen Gebieten nach Westsibirien. Nur 14 Millionen Menschen, die als „rassisch wertvoll“ eingestuft wurden, durften in ihren Wohnsitzen bleiben.50 Neben der Lösung der Lebensraum- und der Bolschewismusfrage wollte Hitler nun auch seinen dritten großen Traum erfüllen, und zwar sofort – es ging um die sogenannte Endlösung der Judenfrage. Unmittelbar nach dem Angriff auf die Sowjetunion begannen die Einsatzgruppen des Sicherheitsdienstes, mehrere Bataillone der Ordnungspolizei und andere Truppen einen immer brutaler werdenden Feldzug gegen die Juden. Hunderttausende von Juden in den eroberten sowjetischen Gebieten wurden bereits in den ersten Monaten des Krieges ermordet. Der schnelle Vormarsch der Wehrmacht im Russlandfeldzug im Sommer/Herbst 1941 war mit der Radikalisierung der nationalsozialistischen Judenpolitik eng verknüpft. Der massenhaften Ermordung der jüdischen Männer in den besetzten Gebieten folgte etwa acht Wochen nach dem Beginn des Russlandfeldzuges die Ausdehnung dieser Vernichtungsaktion auf die gesamte jüdische Bevölkerung, also auch auf Frauen und Kinder.51 Auch diese Aktionen riefen keine allzu großen Widerstände der konservativen Verbündeten Hitlers hervor. Einige Militärführer versuchten sie sogar in ihren Befehlen zu rechtfertigen. Als sich die Brutalität des deutschen Besatzungsregimes in voller Deutlichkeit zeigte, nahm die defätistische Stimmung in der sowjetischen Bevölkerung eindeutig ab. Immer weniger Soldaten der Roten Armee sahen es als Ausweg an, in deutsche Kriegsgefangenschaft zu geraten. Es blieb ihnen nicht verborgen, was sie dort erwartete. Und dieser Umschwung im gesellschaftlichen Bewusstsein trug nicht unwesentlich zum späteren Sieg der UdSSR über das Dritte Reich bei. Trotzdem blieb die Bereitschaft einiger politischer bzw. nationaler Gruppierungen, mit dem nationalsozialistischen Regime zu kollaborieren, weiterhin bestehen. Nach den Berechnungen des russischen Exilhistorikers Aleksandr Nekriþ 49 Ebd., S. 1196. 50 Boog et al., Der Angriff, S. 662; siehe dazu auch Rolf-Dieter Müller, Hitlers Ostkrieg und die deutsche Siedlungspolitik. Die Zusammenarbeit von Wehrmacht, Wirtschaft und SS, Frankfurt am Main 1991. 51 Vgl. dazu unter anderem: Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998, S. 580; Philippe Burrin, Hitler und die Juden. Die Entscheidung zum Völkermord, Frankfurt am Main 1993, S. 118f.; Saul Friedländer, Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden, München 2006, S. 244f.; Kershaw, Wendepunkte, S. 566–588.

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dienten kurz vor Kriegsende in verschiedenen Formationen der Wehrmacht etwa 1 Million Sowjetbürger unterschiedlicher Nationalitäten. Davon etwa 110 000 Kaukasier, 110 000 bis 170 000 Bewohner der zentralasiatischen Republiken, 20 000 Krimtataren, 5 000 Kalmücken und einige Hunderttausend Russen.52 General Vlasov, der zu den begabtesten sowjetischen Militärführern zählte, wurde nach seiner Gefangennahme im Juni 1942 an der Volchov-Front (in der Nähe von Leningrad) zur Symbolfigur der Kollaboration mit dem Dritten Reich.53 Vlasov erlag, ähnlich wie viele westliche Verfechter der Appeasementpolitik in den Jahren 1934–1938, aber ähnlich wie auch Stalin in den Jahren 1939–1941, der Illusion, dass Kompromisse mit dem Dritten Reich möglich seien. Die überwiegende Mehrheit der Landsleute Vlasovs hatte sich indes von dieser Illusion bereits Ende 1941 befreit. Man muss in diesem Zusammenhang hervorheben, dass der Lernprozess bei der sowjetischen Bevölkerung sich wesentlich schneller vollzog, als dies bei den früheren Verfechtern der Kompromisse mit Hitler der Fall gewesen war. Sie benötigte nicht Jahre, sondern nur Monate, um sich von ihren Illusionen zu befreien. Der Krieg wurde nun von ihr in einem immer stärkeren Ausmaß als Verteidigung des Vaterlandes aufgefasst. Mit dem feinen Gespür des Überlebenskünstlers appellierte Stalin in seiner Rede vom 3. Juli 1941, mit der er sich zum ersten Mal an das Volk wandte, nun an den russischen Patriotismus, an eine Kraft also, die bereits vielen Moskauer Herrschern geholfen hatte, tödliche Gefahren zu überstehen.54 Um vom Dritten Reich nicht hinweggefegt zu werden, musste die stalinistische Clique, die sich bis dahin auf die Terrorisierung der eigenen Bevölkerung konzentriert hatte, das bestehende Unterdrückungssystem modifizieren, es etwas flexibler machen. Der Krieg war paradoxerweise mit einer gewissen Lockerung des Regimes verbunden. Es kam zu einer Art Kompromiss zwischen der bis dahin drangsalierten Gesellschaft und den Machthabern. Viele Offiziere, Ingenieure und Wissenschaftler, die während der Säuberungen verhaftet worden waren, wurden nun aus den Gefängnissen und Straflagern entlassen und erhielten nicht selten erneut führende Positionen in der Armee oder Industrie (einige wurden bereits kurz nach dem Sturz Ežovs [1939–1940] freigelassen, so der spätere Marschall Rokosovskij). 1941 wurden 600 000 Häftlinge freigelassen, 175 000 von ihnen wurden in die Armee eingezogen. Bis Herbst 1943 befanden sich bereits 900 000 ehemalige Häftlinge in der Roten Armee.55 Einige bis dahin offiziell abgelehnte Schriftsteller und Dichter durften wieder publizieren, z. B. die Dichterin Anna Achmatova, die Zensur wurde gelockert. Die 52 Michail Geller / Aleksandr Nekriþ, Utopija u vlasti. Istorija Sovetskogo Sojuza s 1917 goda do našich dnej, Bd. 2, London 1982, S. 149–152. 53 Vgl. dazu unter anderem: Ekaterina Andreeva, General Vlasov i russkoe osvoboditel’noe dviženie, London 1990; Joachim Hoffmann, Die Tragödie der „Russischen Befreiungsarmee“ 1944/45. Wlassow gegen Stalin, München 2003; Oleg Višlev, General Vlasov v planach gitlerovskich služb, in: Novaja i novejšaja istorija, 1996, H. 4, S. 130–146, hier S. 135f. 54 Vystuplenie I.V. Stalina po radio 3 ijulja 1941 g., in: Rešin et al. (Hg.), 1941 god, Bd. 2, S. 448–452, hier S. 452. 55 Kulešov, Naše oteþestvo, Bd. 2, S. 418f.

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in den 1920er und 1930er Jahren brutal verfolgte Russisch-Orthodoxe Kirche erhielt nun neue Betätigungsmöglichkeiten. Das Amt des Moskauer Patriarchen, das seit dem Tode des Patriarchen Tichon im Jahre 1925 verwaist gewesen war, wurde im September 1943 wieder besetzt. Zum neuen Patriarchen wurde Metropolit Sergij gewählt, der 1927 eine Loyalitätserklärung gegenüber dem Regime abgegeben hatte, wodurch die Kirche in eine beinahe gänzliche Abhängigkeit vom atheistischen Staat geriet. Diese Untertänigkeitsgeste hatte damals die Kirche nicht vor einer noch härteren Welle von Verfolgungen bewahrt. Nach dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges konnte man allerdings eine Art Annäherung zwischen „Thron und Altar“ beobachten. Der Moskauer Historiker Michail Gefter spricht im Zusammenhang mit den damaligen Entwicklungen sogar von einer „spontanen Entstalinisierung“, die sich 1941 ereignete.56 Der polnische Dichter und profunde Russlandkenner, Aleksander Wat, der sich zur Zeit des Zweiten Weltkrieges in der UdSSR befand, meinte, kaum jemand habe damals damit gerechnet, dass die Rückkehr zu der gespenstischen stalinistischen Wirklichkeit der Vorkriegszeit möglich sei.57 Kühne Zukunftsvisionen entwarfen in den Kriegsjahren sogar derart treue Diener Stalins wie der populäre Schriftsteller Aleksej Tolstoj. Am 22. Juli 1943 schrieb er in sein Notizbuch: „Das Volk wird nach dem Krieg vor nichts mehr Angst haben. Es wird neue Forderungen stellen und Eigeninitiative entwickeln […]. Die chinesische Mauer zwischen Russland […] [und der Außenwelt] wird fallen.“58

Die von der Front zurückkehrenden Soldaten, die allerhand gesehen hätten, würden nun ganz neue Maßstäbe im Lande setzen, so der Dichter Aseev im Oktober 1944.59 Die vorübergehende Lockerung der stalinistischen Kontrollmechanismen kam nicht nur den Intellektuellen, sondern auch breiteren Bevölkerungsschichten zugute, nicht zuletzt den Kolchosbauern, deren Bewegungsfreiheit seit der Kollektivierung der Landwirtschaft, insbesondere aber seit der Einführung der Inlandspässe im Dezember 1932 erheblich eingeschränkt war. Kurz nach Kriegsausbruch fand in Russland eine wahre Völkerwanderung statt. Wat, der Ende 1941 aus dem NKVD-Gefängnis entlassen wurde, berichtet darüber: „Ein großer Prozentsatz der Bevölkerung durfte die [jeweilige] Region nicht ohne einen Passierschein vom NKVD verlassen. Aber plötzlich wurde das alles hinfällig, die Wogen des Krieges rissen diese Schranken weg, und Russland war in Bewegung.“60

56 57 58 59

Michail Gefter, Iz tech i ơtich let, Moskau 1991, S. 418. Ebd., S. 590f. Hier zitiert nach: Jurij Okljanskij, Roman s tiranom, Moskau 1994, S. 69. Denis Babiþenko, Pisateli i cenzory. Sovetskaja literatura 1940-ch godov pod politiþeskim kontrolem CK, Moskau 1994, S. 98. 60 Ebd., S. 568.

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Der sowjetische Schriftsteller Konstantin Simonov bezeichnete viele Jahrzehnte später – in der Zeit der sogenannten Brežnevschen „Stagnation“ – den Krieg als den einzigen lichten Fleck in der sowjetischen Geschichte der letzten Jahrzehnte.61 Man muss sich vorstellen, wie grauenhaft die sowjetische Wirklichkeit vor dem 22. Juni 1941 gewesen sein muss, wenn einer der grausamsten Kriege in der Geschichte der Menschheit als ein lichter Fleck, als eine Art innere Befreiung empfunden wurde. Man darf nicht vergessen, dass auch nach dem Ausbruch des Krieges Millionen von Menschen sich weiterhin im „Archipel Gulag“ befanden. Ganze Völker wurden ins Innere der Sowjetunion deportiert, weil man sie der Kollaboration mit dem Feind bezichtigte, wobei Tausende von Menschen von den Terrororganen ermordet wurden. Zu den ersten Völkern, die kollektiv bestraft wurden, gehörten die Russlanddeutschen. Am 28. August 1941 begann die Deportation der Wolgadeutschen, die sich später auf die deutsche Minderheit in anderen Gebieten der UdSSR erstreckte – insgesamt wurden etwa 815 000 Russlanddeutsche von der Deportation betroffen. Zu den bestraften Völkern gehörten die Tschetschenen (387 000), Inguschen (91 000), Karatschajer (70 000), Balkaren (37 000), Kalmücken (93 000), Mescheten (90 000) und die Krimtataren (190 000), die gänzlich aus ihren Territorien verbannt wurden. Auch hunderttausende von Polen, Ukrainern, Balten und Vertreter anderer Völker ergänzten das Kontingent der Deportierten oder der Bewohner des Archipel Gulag.62 Mit äußerster Härte wurden von der Kremlführung auch die eigenen Soldaten behandelt. Dies betraf vor allem die sowjetischen Kriegsgefangenen, die als Landesverräter behandelt wurden. Der von Stalin am 16. August 1941 unterzeichnete berüchtigte Befehl Nr. 270 ordnete an: „Die Kommandeure und Politkader, die […] sich dem Feind gefangengeben, sind als böswillige Deserteure anzusehen, deren Familien als Familien von eidbrüchigen und landesverräterischen Deserteuren zu verhaften sind […] Alle übergeordneten Kommandeure […] sind verpflichtet, derartige Deserteure an Ort und Stelle zu erschießen.“63

Von 5,7 Millionen sowjetischen Soldaten, die während des deutsch-sowjetischen Krieges gefangen genommen wurden, sind 3,3 Millionen in der deutschen Gefangenschaft umgekommen. Das Los der Überlebenden war indes ebenfalls äußerst tragisch. Sie waren für ihr ganzes Leben stigmatisiert – erst nach der Auflösung der Sowjetunion wurden sie von diesem Stigma befreit. Hunderttausende von ihnen, die aus den deutschen Konzentrationslagern befreit worden waren, landeten unmittelbar danach im Archipel Gulag. Viele Rotarmisten, die noch während des Krieges aus der Kriegsgefangenschaft oder aus der deutschen Einkesselung sich befreit hatten, wurden in Speziallagern des NKVD überprüft. Bis zum 1. Oktober 1944 wurden mehr als 350 000 Rotarmisten einer solchen Überprüfung unterzo61 Pravda, 20. Juni 1991, S. 3. 62 Kulešov, Naše oteþestvo, Bd. 2, S. 426. 63 Prikaz Stavki Verchovnogo Glavnokomandovanija Krasnoj Armii „O sluþajach trusosti i sdaþi v plen i merach po preseþeniju takich dejstvij”, in: Rešin et al. (Hg.), 1941 god, Bd. 2, S. 476–479, hier S. 478.

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gen. 250 000 von ihnen kehrten in die Armee zurück, 18 000 gerieten in die Strafbataillone, deren Angehörige nur geringe Überlebenschancen hatten. Mit äußerster Strenge wurden auch die sowjetischen Industriearbeiter, vor allem in den rüstungsrelevanten Sektoren, behandelt. Bereits am Vorabend des Krieges – im August 1940 – wurde in der Sowjetunion ein drakonischer Arbeitskodex verabschiedet, der den Arbeitern die freie Wahl des Arbeitsplatzes verbot und jeden, auch den geringsten Verstoß gegen die Arbeitsdisziplin hart bestrafte. Nach dem Ausbruch des Krieges wurde dieser Arbeitskodex zusätzlich verschärft. Mit dem Dekret vom 26. Dezember 1941 wurden die Arbeiter in der Rüstungsindustrie zwangsmobilisiert und wie Soldaten behandelt. Das eigenmächtige Verlassen der Betriebe wurde als Fahnenflucht betrachtet. Der Urlaub wurde für die Dauer des Krieges gestrichen, der Arbeitstag auf zehn bis zwölf Stunden verlängert. In den Städten, die sich in Frontnähe befanden, z. B. in Leningrad, war der Arbeitstag unbegrenzt. Da 31 Millionen Sowjetbürger während des gesamten Krieges in die Armee eingezogen wurden, mussten alle noch vorhandenen Arbeitsreserven mobilisiert werden. Dienstverpflichtet wurde beinahe die gesamte Bevölkerung – Kriegsinvaliden, Pensionäre, Jugendliche, in erster Linie aber Frauen. Vor allem der Frauenarbeit verdankte die sowjetische Rüstungsindustrie ihre immer höhere Produktivität. Der Anteil der Frauen in den Industriebetrieben erhöhte sich während des Krieges von 41 % auf 52 %. In den ersten Monaten des Krieges vermochte die sowjetische Führung ungeachtet des militärischen Debakels an der Front mehr als 1 500 Industriebetriebe, davon 1 360 große Rüstungswerke, aus den von den deutschen gefährdeten Gebieten ins Innere der Sowjetunion zu evakuieren. Nicht zuletzt dieser Leistung verdankte die sowjetische Rüstungsindustrie ihre außerordentliche Effizienz. In der zweiten Hälfte des Jahres 1941 konnte der unbesetzt gebliebene Teil der Sowjetunion doppelt so viele Kampfflugzeuge und mehr als doppelt so viele Panzer produzieren wie die gesamte Sowjetunion in den ersten sechs Monaten des Jahres. Im Jahre 1942 stieg die Zahl der produzierten Panzer gegenüber dem Vorjahr von etwa 6 500 auf mehr als 24 000, die Zahl der Kriegsflugzeuge von etwa 12 000 auf mehr als 21 000 und die der Geschütze und Granatwerfer aller Art von 71 000 auf 127 000 an. Die Rüstungsproduktion der UdSSR überstieg in mehreren Sparten diejenige des Dritten Reiches und seiner Satellitenstaaten.64 Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in den unbesetzt gebliebenen Teilen der Sowjetunion fand sich mit der Verschärfung der Arbeitsdisziplin und mit den zusätzlichen Bürden, die das Regime ihr nach dem Ausbruch des Krieges auferlegte, in der Regel ab. Angesichts der tödlichen Gefahr, die das russische Staatswesen als solches bedrohte, sah man die Notwendigkeit dieser verschärften Maßnahmen im Wesentlichen ein. Sie waren durch reale und nicht durch imaginäre Gefahren wie in den 1930er Jahren verursacht. Das stalinistische System wiederum – diese Verkörperung des Absurden – musste gewisse Konzessionen an die Realität machen und schon allein dies machte es in den Augen der Bevölkerung etwas erträglicher. 64 Kulešov, Naše oteþestvo, Bd. 2, S. 415; Boog et al., Der Angriff, S. 870.

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Dieser Kompromiss zwischen Regime und Bevölkerung wurde zur wichtigsten Ursache dafür, dass der „erste“ deutsch-sowjetische Krieg im Dezember 1941 zu Ende ging. Am 5. Dezember 1941 – kurz vor Moskau – wurde der deutsche Vormarsch gestoppt und zurückgeschlagen. Der „zweite“ deutsch-sowjetische Krieg hatte nun begonnen, der im Mai 1945 im zertrümmerten Berlin sein Ende fand.

KRIEGSWENDE UND FRIEDENSVISIONEN 1943: ANTIFASCHISMUS UND FÖDERALE IDEEN FÜR EUROPA UND JUGOSLAWIEN Eduard Winkler 1. KRIEGSWENDE: OSTEUROPA UND MITTELMEER 1943 Am 31. Januar / 2. Februar 1943 kapitulierte Hitlers 6. Armee unter der Führung von Generalfeldmarschall Paulus in Stalingrad. Der Ort war der östlichste Punkt des Vernichtungskrieges des nationalsozialistischen Deutschland in der Sowjetunion. Der Zweite Weltkrieg oder der Große Vaterländische Krieg, wie er im russischen Sprachraum bezeichnet wurde, nahm eine entscheidende Wendung: von nun an rollte die Kriegsmaschinerie der Roten Armee unaufhaltsam Richtung Westen und Berlin.1 In Nordafrika begann am 23. Oktober 1942 die britische 8. Armee unter Montgomery mit überlegenen Kräften eine Offensive gegen die deutschitalienischen Verbände, welche bis Ende Juni 1942 bis El-Alamein, 100 km westlich von Alexandria, gelangten. Anfang November wurde Rommels Afrikakorps zum Rückzug nach Libyen gezwungen. Am 7./8. November 1942 erfolgte die Landung amerikanisch-britischer Truppen unter Eisenhower in Marokko und Algerien. Die deutsch-italienischen Einheiten reagierten mit der Bildung eines Brückenkopfes in Tunesien, um den Rückzug des Afrikakorps abzuschirmen. Am 23. Januar 1943 eroberten die Alliierten Tripolis. Im Mai schließlich kapitulierten das Afrikakorps und die Einheiten der italienischen Armee. Wenige Wochen später, im Juli 1943, landeten die Alliierten in Sizilien, um dann Anfang September auch das süditalienische Festland bei Tarent, Messina und Salerno zu erreichen.2 Massenstreiks im März 1943 und der äußere militärische Druck veranlassten den Großen Faschistischen Rat am 24. Juli, Mussolini das Vertrauen zu entziehen. König Vittorio Emmanuelle III. ließ daraufhin den Duce verhaften. Die neue italienische Regierung unter Marschall Badoglio schloss mit den Alliierten am 3. September einen Waffenstillstand und erklärte Deutschland den Krieg. Das Renversement des alliances veranlasste Hitler seine Truppen in Nord- und Mittelitalien massiv zu verstärken und er ließ die italienischen Verbände im Mutterland, 1

2

Zum Einstieg in die Thematik: Jürgen Förster (Hg.), Stalingrad. Ereignis, Wirkung, Symbol, München 1992. Neue Forschungsergebnisse sind zu erwarten aus dem Projekt des Deutschen Historischen Instituts (DHI) Moskau in Zusammenarbeit mit dem Institut für Russische Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften: In den Schützengräben von Stalingrad, http://www.dhi-moskau.org/seiten/forschung/projekt6.html. Einen Überblick bietet: Gerhard L. Weinberg, A World At Arms. A Global History of World War II, Cambridge 1994.

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in Frankreich und auf dem Balkan entwaffnen. Den deutschen Fallschirmjägern gelang am 12. September ein Coup, als sie den Duce am Gran Sasso d’Italia im Apennin befreien konnten. In der Folge wurde Mussolini Chef einer Regierung von Deutschlands Gnaden, der Repubblica Sociale Italiana mit Sitz in Salò am Gardasee. In vielen Teilen Italiens öffneten sich 1943 die Kerkertore für die Antifaschisten und sie schlossen sich mit Wort und Tat der Resistenza, der italienischen Widerstandsbewegung, an. Innerhalb eines Jahres erreichte sie einen Umfang von 200 000 aktiven Kämpfern. Die Resistenza war eine heterogene Bewegung, in der Kommunisten, Sozialisten, linksliberale Radikale, Katholiken, und weitere autonome Gruppen ihren Platz fanden. Einige Antifaschisten warfen damals ihren politischen Zukunftsblick über den nationalen Tellerrand hinaus. Sie gründeten im August 1943 die Europäische Föderalistische Bewegung (Movimento Federalista Europeo, MFE), die zu einer der Triebkräfte des späteren europäischen Einigungsprozesses wurde.3 Das Vordringen der anglo-amerikanischen Kräfte im mediterran-adriatischen Raum veranlasste Hitler auch die jugoslawische Kriegszone zu verstärken. Das jugoslawische Territorium war seit April 1941 Beute der Achsenmächte und achsenfreundlicher Kollaborateure geworden. Grob gezeichnet sah die territoriale Gliederung wie folgt aus: Slowenien wurde unter Deutschland, Italien und Ungarn aufgeteilt. Italien kontrollierte zugleich Teile Dalmatiens, Montenegros, Kosovos und Mazedoniens. Ungarn annektierte auch die Regionen Baranja und Batschka. Bulgarien bemächtigte sich einiger Teile Südserbiens und eines großen Stücks Mazedoniens. Kernserbien mit dem Banat unterstand der deutschen Militärverwaltung. Kroatien und Bosnien-Herzegowina bildeten den Unabhängigen Staat Kroatien. Jede der aufgezählten Mächte besaß einen militärisch-polizeilichen Repressionsapparat, der in einer seit Jahrhunderten multinational, multisprachlich und multikonfessionell geprägten Region – je nach eigener Interessenlage und politisch-ideologischer Grundhaltung – gegen unliebsame Widersacher vorging. Gegen die neuen Kräfte bildete sich ein militanter Untergrund: die monarchistischserbischen Freischärlertruppen, die Tschetniks (þetnici) und die Partisanenbewegung unter kommunistischer Führung. Die Vielfalt der Kriegsakteure führte auch zu einer Vielfalt von längeren oder kurzfristigen Kriegsallianzen, einem bellum omnium contra omnes – dazwischen die unbewaffnete Zivilbevölkerung, die den Kriegsalltag zu bewältigen hatte. 1943 zeichnete sich ab, dass die Partisanenbewegung, unter der Führung des Kommunisten Josip Broz Tito, zu einem dominanten militärisch-politischen Faktor werden sollte. Sie war straff organisiert, multinational, Männer und Frauen integrierend, stützte sich zum großen Teil auf die bäuerliche Bevölkerung und schloss ebenso Arbeiter und bürgerliche Kräfte ein. Sie bekannte sich zu einem einheitlichen, föderalen Jugoslawien. Dies wurde im bosnischen Jajce im November 1943 bei der 2. Sitzung des Antifaschistischen 3

Über Faschismus und Widerstand siehe Luigi Salvatorelli / Giovanni Mira, Storia d’ltalia nel periodo fascista, Mailand 1972; Roberto Battaglia, Storia della Resistenza italiana, Turin 1970.

1943 – Kriegswende und Friedensvisionen

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Rats der Nationalen Befreiung Jugoslawiens (Antifašistiþko vijeüe narodnog osloboÿenja Jugoslavije, AVNOJ) konkretisiert.4 2. EUROPÄISCHE FÖDERALISTISCHE BEWEGUNG: ITALIEN, AUGUST 1943 Eine Gruppe von italienischen Antifaschisten – darunter Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und Eugenio Colorni – organisierte in Mailand am 27./28. August 1943 ein konspiratives Treffen in der Wohnung von Mario Alberto Rollier, in der Via Poerio, und gründete dort den MFE. Die neue Organisation stützte sich auf die Grundsätze des „Manifestes von Ventotene“, benannt nach einer Insel im Tyrrhenischen Meer vor der Küste Kampaniens. Dort verbrachten die Gründungsmitglieder des MFE einige Jahre in faschistischer Haft. Vor dem Hintergrund der europäischen Kriegskatastrophe waren die in Mailand Versammelten zum Schluss gekommen, dass nur eine übernationale, überparteiliche, föderalistische Bewegung die Fähigkeit besaß, den Kontinent wieder politisch zu stabilisieren und zurück in die internationale Politik zu führen. Die Inhalte des Ventotene-Manifestes sind eng mit dem politischen Werdegang der MFE-Gründer verbunden. Altiero Spinelli war zunächst von den sozialistischen Ideen seines Vaters beeinflusst, von denen er sich später distanzierte. Im Jahr 1924, als Giacomo Matteotti, einer der führenden Mitglieder der reformistischen Sozialistischen Einheitspartei (Partito Socialista Unitario, PSU), von den Faschisten ermordet wurde, trat er in die Kommunistische Partei (Partito Comunista, PC) ein. Es war die Zeit, als die Faschisten bereits die Macht ergriffen hatten und die Kommunisten gezwungen waren in den Untergrund zu gehen. Bereits 1927 wurde er festgenommen; es folgten Aufenthalte in verschiedenen Gefängnissen bis zu seiner Befreiung 1943. In den 16 Jahren ohne Freiheit lernte er Russisch und Spanisch, um die politischen Entwicklungen in der Sowjetunion und im spanischen Bürgerkrieg besser zu verstehen, und entfernte sich zugleich vom dogmatischen Kommunismus. Er wandelte sich zum unorthodoxen Marxisten. Seit 1937 war er Gefangener auf der Insel Ponza, seit 1939 auf dem Ventotene Eiland. In der Verbannung lernte er auch Sandro Pertini, den späteren italienischen Staatspräsidenten, kennen. Entscheidend wurde jedoch die politische Freundschaft mit den Mitinhaftierten Rossi und Colorni. Ergebnis der politischen Gespräche war das 1941 heimlich verfasste „Manifest von Ventotene“.5 Ernesto Rossi war der Koautor des Manifestes. Seine politischen Anfänge lagen in der italienisch-nationalistischen Bewegung, er war Mitarbeiter des Presseorgans „Italienisches Volk“ (Popolo d'Italia) 1919–22, das von Mussolini geleitet wurde. Später kam er in Kontakt mit dem sozialistisch und antiklerikal denkenden Florentiner Historiker Gaetano Salvemini. Daraus entstand eine langjährige 4 5

Vgl. Holm Sundhaussen, Geschichte Jugoslawiens 1918–1980, Stuttgart 1982, S. 130–135. Vgl. Altiero Spinelli, Come ho tentato di diventare saggio, Bologna 1999; Piero S. Graglia, Altiero Spinelli, Bologna 2008.

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Freundschaft. Sie konkretisierte sich 1925 in der Herausgeberschaft des Untergrundorgans „Nicht Aufgeben“ (Non Mollare). Rossi führte auch die Widerstandsgruppe „Recht und Freiheit“ (Giustizia e Libertà) an. Er wurde gefasst, zu zwanzig Jahren Haft verurteilt und landete in Ventotene. Seine politische Einstellung war linksliberal, antiklerikal, laizistisch. Er war Gegner der monopolistischen italienischen Wirtschaftskonglomerate, die eng mit dem Faschismus verzahnt waren.6 Eugenio Colorni entstammte einer italienisch-jüdischen Familie. Er studierte in Mailand Literatur und Philosophie und schloss seine Studien 1930 mit der Arbeit „Entwicklung und Bedeutung des Leibnizschen Individualismus“ ab; 1934 gab er eine italienische Übersetzung der „Lehrsätze über die Monadologie“ heraus. Er baute eine starke Verbindung zum deutschen Kulturraum auf. 1932–33 war er Dozent für Italienisch an der Universität Marburg, kehrte aber aufgrund des Aufstiegs des Nationalsozialismus nach Italien zurück. 1935 heiratete er die Berliner Jüdin Ursula Hirschmann. Seit 1934 engagierte er sich in den sozialistischen Kreisen Mailands, publizierte im Organ „Sozialistische Politik“ (Politica socialista) und im „Neuen Vorwärts“ (Nuovo Avanti). Anfang September 1938 wurde er im Zuge der faschistischen Rassenpropaganda verhaftet und nach Ventotene gebracht. Colorni organisierte mit seiner Frau den konspirativen Transport des Manifestes, welches vermutlich auf Zigarettenpapier geschrieben wurde, auf das Festland; dort wurde es der Resistenza zugänglich gemacht.7 Das „Manifest von Ventotene“8 entstand im Juni 1941, als Mussolini seine Politik der Restauration des Imperium Romanum im Mittelmeer, dem Mare Nostrum, durch die Expansion nach Südostfrankreich, Jugoslawien, Albanien, Griechenland forcierte. Im 1. Teil des Manifestes wird die „Gesellschaftskrise der Gegenwart“ analysiert. Als Fundament der modernen Kultur setzt man das „Prinzip der Freiheit“ voraus und sieht den Menschen „als autonome, in sich geschlossene Einheit“, die in einen historisch-dialektischen Prozess bei der Bildung und Entwicklung von Nationalstaaten involviert ist: „Anerkannt wurde das gleiche Recht für alle Nationen, unabhängige Staaten zu bilden. Jedes Volk, gekennzeichnet als solches durch seine ethnischen, geographischen, sprachlichen und historischen Wesensmerkmale, sollte in diesem staatlichen, eigens und entsprechend seiner politischen Konzeption geschaffenen Organismus das geeignete Werkzeug finden, um seine Bedürfnisse aufs beste und unabhängig von fremder Einmischung zu befriedigen. Die Ideologie der nationalen Unabhängigkeit wurde zu einem höchst wirksamen Sauerteig des Fortschrittes. Sie überwand die engstirnige Kirchturmpolitik zugunsten einer weiter gefassten Solidarität im Kampf gegen fremde Unterdrücker. Sie entfernte zahlreiche Hindernisse auf dem Weg zur ungehinderten Bewegungsfreiheit der Menschen und Waren. Sie dehnte innerhalb des neugeschaffenen staatlichen Raumes die Institutionen zivilisierterer Gesellschaftsordnun-

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Vgl. Giuseppe Fiori, Una storia italiana. Vita di Ernesto Rossi, Turin 1997. Vgl. Leo Solari, Eugenio Colorni, Venedig 1980. Das Manifest von Ventotene (1941), dt. Übersetzung, in: Centre Virtuel de la Connaissance sur l’Europe (CVCE), European Navigator, http://www.ena.lu/manifest_ventotene _1941-3-971.

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gen auf unterentwickelte Bevölkerungsschichten aus. Sie barg jedoch in sich die Keime des kapitalistischen Imperialismus, den unsere Generation ins Riesenhafte wachsen sah, bis zur Bildung totalitärer Staaten und dem Ausbruch zweier Weltkriege.“9

Die Verfasser blickten 1941 auf die jüngere Vergangenheit zurück und beschrieben eindringlich die Militarisierung der Gesellschaften in den 1930er Jahren, die dem Krieg unmittelbar vorausging: „Selbst in Friedenszeiten – die als Ruhepause und Vorbereitung auf kommende unvermeidliche Kriege betrachtet werden – überwiegt heutzutage der Einfluss militärischer Kreise gegenüber den zivilen und erschwert so zusehends das Funktionieren freiheitlicher politischer Ordnungen: Schule, Wissenschaft, Produktion, Verwaltungsapparat dienen hauptsächlich der Steigerung des kriegerischen Potenzials. Mütter sind nur noch Gebärmaschinen zukünftiger Soldaten und werden mit den gleichen Kriterien prämiert, die auf das Zuchtvieh Anwendung finden. Die Kinder werden bereits im zartesten Alter zum Waffendienst und zum Hass gegen die Fremden erzogen. Die individuellen Freiheiten werden auf Null gesetzt im Moment, da jeder militarisiert ist und jederzeit zu den Waffen gerufen werden kann. Immer neue Kriege zwingen die Menschen dazu, die Familie zu verlassen, den Arbeitsplatz, Hab und Gut, und das Leben hinzugeben für Objektive, deren Wert im Grunde genommen niemandem einleuchtet. In wenigen Tagen zerstört man die Anstrengungen von Jahrzehnten, die zur Hebung des allgemeinen Wohlstandes gemacht worden sind.“ 10

Die gesellschaftliche Situation der jüngeren Vergangenheit wird durch einen Antagonismus von „Besitzlosen“ und „privilegierten Klassen“ beschrieben. Die „Besitzlosen“ hätten einen politischen Emanzipationsprozess durchlaufen (z. B. Pressefreiheit, allgemeines Wahlrecht, gerechtere Fiskalpolitik, kostenlose öffentliche Schulen), den die „Privilegierten“ (zum Beispiel Grundbesitzer, Rentiers, Trusts, Plutokraten) mit Hilfe „totalitärer Regime“ stoppen und umkehren wollten.11 Das Manifest wendet sich gegen einen autoritären, dogmatischen Klassenkampfbegriff und spricht sich für „den permanenten Wert des kritischen Verstandes“ und eine Geisteshaltung ohne Vorurteile aus.12 Es wagt auch eine optimistische Kriegsprognose: Die totalitären Regime hätten „den Höhepunkt erreicht und können fortan nur mehr verfallen. Die Mächte, die sich ihnen entgegenstellen, haben bereits ihr Tief überwunden und sind im Aufstieg begriffen.“ Schließlich erfolgt ein Appell an die Arbeiter, Intellektuellen und Unternehmer sich gegen den Faschismus aufzulehnen.13 Im 2. Teil beschäftigt sich das Papier mit der Nachkriegszeit und der Schaffung der europäischen Einheit, welche ein revolutionäres Ziel darstelle. Träger der Revolution seien danach antifaschistische Demokraten, Kommunisten, Arbeiter. Als Gegner der Revolution und Stützen des Faschismus werden ausgemacht: der monopolistische Kapitalismus, die Großgrundbesitzer, die hohe Geistlichkeit, die Dynastien; sie werden als reaktionäre Kräfte definiert, welche die Wiederherstel-

9 10 11 12 13

Ebd., S. 2. Ebd., S. 3. Ebd., S. 3f. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6f.

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lung der Nationalstaaten beabsichtigten. Ziel der revolutionären Bewegung sei die Beseitigung der politischen und der territorialen Grenzen.14 Den eigentlichen Kern des politischen Antagonismus erklärt das Papier folgendermaßen: „Der Trennungsstrich zwischen den fortschrittlichen und den reaktionären Parteien verläuft demnach nicht mehr längs der formalen Linie ihrer größeren oder geringeren Demokratie, des Ausmaßes, in dem der Sozialismus eingeführt werden soll; der Bruch vollzieht sich zwischen denen, die immer noch das alte Endziel im Auge haben, nämlich die Eroberung der nationalen politischen Macht […] und den anderen, denen die Schaffung eines soliden internationalen Staates als Hauptaufgabe am Herzen liegt […]“.15

Nach den Verfassern des Manifestes sollen die zu gründenden „Vereinigten Staaten Europas“ auf einer „republikanischen Verfassung all ihrer Bundesstaaten beruhen“ und eine gemeinsame Streitmacht besitzen. Ferner „soll den Staaten jene Autonomie belassen werden, die eine plastische Gliederung und die Entwicklung eines politischen Lebens gemäß den besonderen Wesensmerkmalen der verschiedenen Völker gestattet.“ Eine europäische Föderation böte die Garantie einer friedlichen Kooperation mit anderen Völkern der Welt; Endziel eines solchen Prozesses sollte die „politische Einheit aller Völker des Erdballs“ sein.16 Im 3. Teil des Manifestes wird die Reform der Gesellschaft skizziert. Es wird eine sozialistische Umgestaltung postuliert mit dem Ziel der „Emanzipation der arbeitenden Klassen und für die Schaffung humanerer Lebensbedingungen.“ Der Weg dorthin sollte aber undogmatisch sein und das „Privateigentum muss von Fall zu Fall abgeschafft, beschränkt, korrigiert, erweitert werden […]“.17 Im Einzelnen geht es dabei um die Zerschlagung monopolistischer Konzerne (Energieunternehmen, Großbanken, Rüstungsindustrien) und monopolistischer Gewerkschaften; die Reform der nicht verstaatlichten Industrie, welche den Besitz der Arbeiter erweitern würde (Genossenschaftsverwaltung, Aktienanteile für Arbeiter); die Agrarreform, welche die Anzahl der Grundbesitzer erhöht; die Förderung des öffentlichen Schulsektors und Steigerung der Bildungschancen; die Sicherung des Existenzminimums (Wohnung, Essen, Kleidung); unabhängige Justizbehörden; Presse und Vereinsfreiheit; die Errichtung eines laizistischen Staates, was zum Beispiel für Italien auch die Abschaffung des Konkordates mit der katholischen Kirche beinhaltet. Als Träger der Umgestaltung der Gesellschaft werden die Arbeiter und Intellektuellen ausgemacht.18

14 15 16 17 18

Ebd., S. 7–10. Ebd., S. 12. Ebd. Ebd., S. 13. Ebd., S. 13–16.

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3. ANTIFASCHISTISCHER VOLKSBEFREIUNGSRAT JUGOSLAWIENS: BOSNIEN, NOVEMBER 1943 1943 konnte sich die Volksbefreiungsarmee Jugoslawiens (Narodnooslobodilaþka vojska Jugoslavije) gegen ihre Gegner zunehmend durchsetzten: im Januar am Neretva Fluss, gegen die monarchistischen Tschetniktruppen, im Mai/Juni 1943 im Sutjeska Raum, gegen die Deutschen. Im Frühsommer 1943 waren die größten Teile Bosnien-Herzegowinas, Montenegros und Sandschaks befreit; auch in Teilen Kroatiens und Sloweniens bildeten sich befreite Gebiete. Die Kapitulation Italiens begünstigte zusätzlich den Vormarsch von Titos Kampftruppen. Die Volksbefreiungsarmee zählte Ende des Jahres etwa 300 000 Kämpfer und war in 27 Divisionen und 9 Armeekorps aufgeteilt. 1943 markierte den Wendepunkt im Kampfgeschehen auf dem jugoslawischen Kriegsschauplatz. Diese Entwicklung hatte auch zur Folge, dass auf der Teheraner-Konferenz vom 28. November bis 1. Dezember 1943 Roosevelt, Stalin und Churchill Hilfsmaßnahmen für die Partisanenarmee vereinbarten und so diese als Bundesgenossen der Alliierten anerkannten.19 Die positive militärische Entwicklung des Partisanenwiderstandes wurde durch politische Maßnahmen flankiert. Auf der 2. Sitzung des AVNOJ – dem provisorischen Parlament aus Kommunisten und Bürgerlichen – am 29./30. November 1943 im bosnischen Jajce beschloss man die Gründung eines neuen, föderativen Jugoslawien.20 Dabei konstituierte sich auch das Nationale Komitee der Befreiung Jugoslawiens (Nacionalni komitet osloboÿenja Jugoslavije, NKOJ) als provisorische Regierung des Demokratischen Föderativen Jugoslawien (Demokratska Federativna Jugoslavija). Damit erreichte man auch eine Delegitimierung der jugoslawischen Exilregierung und ein Verbot der Rückkehr König Peters II. aus dem Exil bis zum Ende des Krieges. Man forderte ebenso den Anschluss der nordadriatischen Gebiete mit slowenisch-kroatischer Bevölkerung, die nach dem Ersten Weltkrieg unter Italien blieben, an den neuen Staat. Schließlich wurde Tito zum Marschall Jugoslawiens ernannt. Auf diese Weise stellte der AVNOJ einen Herrschaftswechsel dar und bildete das Fundament einer neuen Staatsordnung.21 In der Deklaration des AVNOJ heißt es: „Die Völker Jugoslawiens benötigten in ihrem Kampf gegen die Besatzer nicht vorheriger Abmachungen über die Gleichberechtigung usw. Sie ergriffen die Waffen, begannen unser Land zu befreien und damit erreichten sie nicht nur, sondern sicherten sie das Recht auf Selbstbestimmung, eingeschlossen das Recht auf Abspaltung oder Vereinigung mit anderen Völkern […] Damit sind nicht nur die materiellen und allgemeinpolitischen, sondern auch alle moralischen Bedingungen für die Errichtung der zukünftigen brüderlichen, demokrati-

19 Vgl. Enciklopedija Jugoslavije, Bd. 6, Jap–Kat, Zagreb 1990, S. 288f. 20 Die erste Sitzung des AVNOJ fand am 26./27. November 1942 in Bihaü, Nordbosnien, statt. Zur Thematik siehe Branko Petranoviü, AVNOJ – revolucionarna smena vlasti 1942–1945, Belgrad 1976; Vlado Strugar, Rat i revolucija naroda Jugoslavije 1941–1945, Belgrad 1962; Prvo i Drugo zasjedanje AVNOJ-a, Zagreb 1963. 21 Vgl. Enciklopedija, S. 290.

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Eduard Winkler schen, föderativen Gemeinschaft unserer Völker, des neuen Jugoslawien, aufgebaut auf der Gleichberechtigung ihrer Völker, geschaffen.“ 22

In der „Entscheidung über den Ausbau Jugoslawiens auf föderativem Prinzip“ (Odluka o izgradnji Jugoslavije na federativnom principu) wird die neue Staatsordnung präzisiert: „1. Die Völker Jugoslawiens haben niemals anerkannt oder anerkennen die Zerstückelung Jugoslawiens seitens der faschistischen Imperialisten und sie haben im gemeinsamen Kampf ihren festen Willen nachgewiesen, dass sie weiterhin in Jugoslawien vereint bleiben. 2. Damit das Prinzip der Souveränität der Völker Jugoslawiens verwirklicht wird, damit Jugoslawien die wahre Heimat aller seiner Völker darstellt und damit sie niemals die Domäne irgendeiner hegemonistischen Clique werden sollte, wird Jugoslawien auf föderativem Prinzip aufgebaut und aufgebaut werden, welches die völlige Gleichberechtigung der Serben, Kroaten, Slowenen, Mazedonier und Montenegriner, beziehungsweise der Völker Serbiens, Kroatiens, Sloweniens, Mazedoniens, Montenegros und Bosnien-Herzegowinas sichert […] 4. Den nationalen Minderheiten in Jugoslawien werden alle nationalen Rechte gewährleistet.“23

Folgt man diesen Ausführungen, so besitzt jedes der fünf genannten konstituierenden jugoslawischen Völker eine besondere territoriale Einheit. Nur die Existenz Bosnien-Herzegowinas fußt nicht ausschließlich auf einer nationalen Grundlage. Es stellte eine besondere föderale Einheit dar aufgrund der historischen Entwicklung der drei dort lebenden Völker: Moslems im nationalen Sinne (heute Bosniaken), Serben, Kroaten; keines dieser Völker besaß eine absolute Mehrheit.24 Trotz der Zusicherung des Schutzes der Rechte der nationalen Minderheiten, wurde der Weltkrieg für die Deutschen in Jugoslawien (vor allem im Banat, in der Batschka, in Syrmien und in Slowenien) und die Italiener in Istrien und Dalmatien zu einer Katastrophe. Sie gerieten zwischen die Fronten deutsch-italienischer Expansionspolitik und jugoslawischer Gegenwehr. Unter ihnen gab es aktive Nazis und Faschisten, opportunistische Kriegsprofiteure, zwangsrekrutierte Soldaten, religiös motivierte Antifaschisten, Partisanen. Es gab ebenso viele einfache Menschen in passiver Opposition, denen ihre langjährigen südslawischen Nachbarn viel wichtiger waren als die nationalsozialistische bzw. faschistische Ordnung. 1944–1946 stand die deutsche und italienische Bevölkerung unter existenziellem Druck: Sie wurde Opfer von Evakuierungen, Vertreibungen, Deportationen, Misshandlungen, Massaker. Diese wurden zum Teil durch Verordnungen legitimiert, die im November 1944 auf der Grundlage der AVNOJ Beschlüsse gefasst wurden. Von den ca. 500 000 Jugoslawiendeutschen der Vorkriegszeit leben heute im postjugoslawischen Raum noch etwa 10 000. Über 300 000 Italiener verließen nach 1945 den istrisch-dalmatinischen Raum; heute leben dort noch etwa 20 000.25 Die deutsche und italienische Bevölkerung war symbolisch und räum22 23 24 25

Hier zitiert nach: Ebd., S. 323. Ebd. Vgl. ebd. Über die Komplexität des menschlichen Seins im Krieg und danach siehe die Lebenserinnerungen des Banater und Erlanger Slawisten Joseph Schütz, Aus einem Dorf in Banat, Mün-

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lich die nächstmögliche, greifbare Kompensation für die enormen physischen und materiellen Verluste des Krieges auf jugoslawischen Territorium: etwa 1 700 000 Tote, davon 300 000 unter den Partisanen.26 4. EUROPA UND POSTJUGOSLAWIEN: EIN ESSAY 4.1. Europa und föderale Finalität Die politischen Träume der drei Protagonisten des „Manifestes von Ventotene“ und Gründer der Europäischen Föderalistischen Bewegung – Altiero Spinelli, Ernesto Rossi, Eugenio Colorni – haben sich teilweise verwirklicht. Ihre persönlichen Anstrengungen waren außerordentlich. Colorni wurde im Mai 1944 im toskanischen Livorno Opfer einer faschistischen Terrorgruppe und erlebte das Kriegsende nicht mehr. Rossi entwickelte sich in der Nachkriegszeit zu einem der führenden Köpfe der Zeitung „Die Welt“ (Il Mondo) und engagierte sich für die linksliberale, laizistische Radikale Partei (Partito Radicale). Zugleich blieb er ein treuer Verfechter der Einheit Europas und des europäischen Föderalismus. Spinelli widmete sich sehr stark der europäischen politischen Praxis. Er musste jedoch akzeptieren, dass die gesamte proeuropäische Bewegung nach 1945 eine konföderale Richtung einschlug. Die Schaffung des europäischen Bundesstaates erwies und erweist sich als ein langwieriger, schrittweiser Prozess. Spinelli, unorthodoxer Marxist, stand der Italienischen Kommunistischen Partei nahe, bewahrte jedoch seine politische Unabhängigkeit. Er wurde Mitglied der Europäischen Kommission und Abgeordneter des italienischen und europäischen Parlaments. Er war einer der umtriebigsten Lobbyisten der europäischen Idee. Ein Gebäude des Europäischen Parlaments in Brüssel trägt heute seinen Namen. Der MFE ist heute Teil der Union der Europäischen Föderalisten (UEF), der mitgliederstärksten, parteiübergreifenden, proeuropäischen Vereinigung. Die UEF ist eingebunden in die föderalistische Dachorganisation Europäische Bewegung international.27 Um 2000 gewann der europäische Föderalismus neuen Schwung; das Ziel war die Schaffung einer europäischen Verfassung.28 Heute, nach dem Vertrag von Lissabon von 2007, ist die Europäische Union ein Staatenbund auf dem Weg zum Bundesstaat, ein sogenannter Staatenverbund. Fast 70 Jahre nach Entstehung des „Manifestes von Ventotene“ sind sich die Europäer näher gekommen. Der Weg

chen 1997. Ferner: Slobodan Mariþiü, Folksdojþeri u Jugoslaviji. Susedi, dželati i žrtve, Belgrad 1995; Zdravko Troha, Koþevski Nemci – partizani, Ljubljana 2004; Tito Favaretto, Ettore Greco (Hg.), Il confine riscoperto. Beni degli esuli, minoranze e cooperazione economica nei rapporti dell’Italia con Slovenia e Croazia, Mailand 1997; Sema Paolo, La lotta in Istria 1890–1945. Il movimeto socialista e il Partito comunista Italiano, Trieste 1971. 26 Enciklopedija, S. 293. 27 Siehe http://www.mfe.it; http://www.federaleurope.org; http://www.europeanmovement.eu. 28 Joschka Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität der Europäischen Integration, Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 12. Mai 2000.

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der Einheit soll jedoch weiterführen bis zur föderalen Vollendung, den Vereinigten Staaten Europas. 4.2. Postjugoslawien und Deföderalisierung: Skizzen einer Malaise Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 hat sich die Europäische Union deutlich nach Osteuropa verschoben und zählt inzwischen 27 Mitglieder. Auch die jugoslawischen Nachfolgestaaten drängen in die EU hinein und wollen dem Beispiel Sloweniens von 2004 folgen. Im Rückblick auf die vergangenen zwei Jahrzehnte hat sich auf dem postjugoslawischen Territorium ein dreiphasiger staatlicher Prozess der föderalen Dekonstruktion und Konstruktion vollzogen: 1. Auflösung der sozialistisch-jugoslawischen Föderation und Verabschiedung von den AVNOJ-Prinzipien von 1943; 2. Bildung von Nationalstaaten; 3. Drängen der Nationalstaaten in den europäischen Staatenverbund. Auf dem sehr fragmentierten Territorium Postjugoslawiens hat sich gegenwärtig ein riesiger militärisch flankierter, politischer Bürokratiekomplex gebildet, der hier nur grob skizziert werden kann: Aus einer regionalen Föderation mit sechs Republiken (Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Mazedonien) haben sich im Zuge des Zerfalls Jugoslawiens vorläufig sieben kleine Republiken – Kosovo kam zuletzt dazu – herauskristallisiert. Innerhalb Serbiens existiert noch die autonome Provinz Vojvodina. In einer erweiterten, realpolitischen Betrachtung könnte man auch von acht Staatsformationen sprechen, wenn man Bosnien-Herzegowina zweigeteilt sieht, in die bosniakischkroatische Föderation und die serbische Republika Srpska; hinzu kommt der kleine Sonderdistrikt von Brþko im Nordosten Bosniens. Realpolitisch kontrollieren die Albaner den Großteil der neuen Republik Kosovo; im kleineren Nordkosovo dominieren die Serben. Ein Teil der Welt hat die Unabhängigkeit Kosovos anerkannt, ein anderer Teil nicht. Selbst in der Europäischen Union gibt es diesbezüglich diametral unterschiedliche Positionen. Im Kosovo sind ferner vertreten: Die United Nations Interim Administration Mission in Kosovo (UNMIK), die European Union Rule of Law Mission in Kosovo (EULEX Kosovo), die NATO mit der Kosovo Force (KFOR), aufgeteilt in fünf Militärdistrikte (Frankreich, Vereinigtes Königreich, USA, Deutschland, Italien). In Bosnien-Herzegowina schließlich ist die internationale Gemeinschaft auf der Grundlage des Daytoner Friedensvertrages von 1995 mit dem Office of the High Representative (OHR) vertreten, der zugleich die Funktion des EU Special Representative (EUSR) hat. Dazwischen existiert ein kaum wahrnehmbarer Regional Cooperation Council (RCC).29 Hinzu kommen noch unzählige weitere staatliche und nicht staatliche Organisationen. Inzwischen ist eine regelrechte peacemaking economy entstanden. Jede der sieben neuen postjugoslawischen Republiken hat auch eine Vielzahl von Ministerien und öffentlichen Institutionen. Das Ganze kann man als eine enorme regiona29 Siehe http://www.unmikonline.org; http://www.eulex-kosovo.eu; http://www.nato.int/kfor; http://www.ohr.int; http://www.eusrbih.org; http://www.rcc.int.

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le Bürokratieblase beschreiben. Zwischen den internen Akteuren (postjugoslawische Republiken) und externen Spielern (Staaten der internationalen Gemeinschaft) haben sich darüber hinaus politisch-ökonomische Klient-PatronVerhältnisse herausgebildet, die deutliche neokoloniale Züge aufweisen. Heute besitzt der deföderalisierte postjugoslawische Raum eine morsche politische Statik. Es ähnelt einem Mehrparteienhaus nach einer selbst gezündeten Explosion der Bewohner mit anschließend notdürftig reparierten Wohnungen und der Hoffnung, dass das Ganze irgendwie hält. Die einen leben etwas besser, die anderen etwas schlechter, viele ganz schlecht, weil sie die Kellerwohnungen zugewiesen bekommen haben. Manche, die Glück hatten, haben das Weite gesucht. Von außen kam Hilfe, die sich aber langfristig als sehr teuer erweist und inzwischen die Eigeninitiative der Bewohner lähmt. Durch die Türspione und hinter den Vorhängen beobachtet jeder jeden und überlegt, wer mit wem welche Allianz gebildet hat; man zieht Schlüsse und denkt über die nächsten taktischen Züge nach. Die externen Helfer haben genügend eigene Probleme, man beachte zum Beispiel die aktuelle Finanzkrise, und sind froh, dass das Haus hält, nicht einstürzt oder gar die Nachbarhäuser durch einen destruktiven Dominoeffekt mit in den Abgrund reißt. Denken heißt vergleichen, und so ähnelt Postjugoslawien dem Nahen Osten, wo seit Jahrzehnten sich nichts bewegt, und in den letzten Jahren alles noch schlimmer geworden ist. Und überall schwebt der offene oder verdeckte territorial-politische Revisionismus. Die Folgen der Jugoslawienkriege, die demographische Degression, Emigration, die radikalliberale Wirtschaftstransformation und die Neokolonialisierung, massive Deindustrialisierung und auch Deagrarisierung, die ökonomische Deföderalisierung mit dem Verlust der regionalökonomischen Synergien haben die gesellschaftliche Situation dramatisch verschärft. Die globale ökonomische Krise der Gegenwart ist schließlich nur die Spitze einer destruktiven Entwicklung, die man als Wüstung des postjugoslawischen Raumes beschreiben kann. Auch in Slowenien, dem sogenannten Musterland, gibt es soziale Verlierer. Man lebt von der eiserenen Reserve, den Transferleistungen der Diaspora und Konsumkrediten, die nicht zurückbezahlt werden können. Die griechischen Nachbarn, die in Mazedonien als Großinvestoren auftraten, sind pleite. Griechenland ist zugleich im Fokus von Finanzspekulanten, was den gesamten Euroraum bedroht. Deswegen muss die europäische Politik massiv und einheitlich gegen die sogenannten Märkte vorgehen und schnellstmöglich eine europäische Wirtschaftsregierung installieren; dies wäre ein weiterer, krisenbedingter Föderalisierungsschritt. Ein ganz anderes Feld ist die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte Jugoslawiens und Postjugoslawiens, die sich zum Teil in der methodologischen Falle des cultural turn befindet und den Blick für das gesellschaftliche Ganze verloren hat; diese Entwicklung zeigt auch Züge eines postmodernen Wissenschaftseskapismus. Die Politikberatung analysiert indes hauptsächlich den gigantischen bürokratischen Komplex nationaler und übernationaler staatlicher Institutionen. Provokant ausgedrückt: Die Wissenseliten beschäftigen sich mit sich selbst und verschließen die Augen, bewusst oder unbewusst, vor den harten Alltagsproble-

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men der Normalbürger. Tonnen von wissenschaftlichem Papier sind inzwischen geschrieben worden. Vieles davon kann als offene oder subtile Apologie der eigenen nationalen oder sozialen Interessen betrachtet werden. Schon um 2000 urteilte hingegen die interdisziplinär und empirisch-statistisch arbeitende Soziologie: „It is clear that economic differences, differences of social power and differences in the distribution of a variety of goods and services affecting life chances have been a persisting feature of Yugoslav life. The experience of Communism has not reduced these appreciably, and the indications are that, since the break-up of the federation, if anything, these discrepancies have been generally increasing.“30

Die sozialen Verwerfungen im Zeitraum 1990–2010 beschreibt das uralte bosnische Sprichwort „Geld aufs Geld, Laus aufs Armenhaus“ (para na paru, uš na fukaru) sehr plastisch.31 Soziologisch wiederum übersetzt heißt dies: Abstieg der ehemaligen Unterschicht in das subproletarische Bettlertum, Erosion und Verarmung der Mittelschicht, Entstehung und Behauptung einer kleinen Oberschicht mit großer Kapitalakkumulation. 4.3. Postjugoslawien und die Vision einer Genesung: Sommer 2014, Stunde Null Postjugoslawien benötigt eine politische Stunde Null, einen Big Bang, einen Komplettabriss des gegenwärtigen Hauses und einen erdbebensicheren Neubau. Richtfest sollte im Sommer 2014 sein, 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges 1914, der seine Ursprünge auf dem Balkan hatte. Es folgten in Europa weitere Kriege, territoriale Revisionen und Revisionen der Revisionen. Große Friedenspolitik braucht große Friedenssymbole. Kleine Politik lebt von großen Bürokratien. Um die offenen postjugoslawischen Fragen endlich zu lösen, benötigt Europa eine große Balkankonferenz, bei der die territoriale Gliederung antirevisionistisch und nachhaltig zu aller Zufriedenheit gelöst wird. Nach dem Motto: „Wolf satt und Ziege ganz“ (vuk sit i koza þitava).32

30 John B. Allcock, Explaining Yugoslavia, London 2000, S. 195. Für weitere wichtige Literaturhinweise zum Verständnis der sozioökonomischen Situation Jugoslawiens und Postjugoslawiens: Branko Horvat, The Political Economy of Socialism. A Marxist Social Theory, Armonk 1982; Ekonomska cena rata. Fondacija za mir i rešavanja kriza, Paris 1996; Rudy Weißenbacher, Jugoslawien. Politische Ökonomie einer Desintegration, Wien 2005; Ivan T. Berend, Globalisierung und ihre Auswirkungen auf Industrie-, Transformations- und Entwicklungsländer, in: Südosteuropa Mitteilungen, 2005, 45, H. 3, S. 4–15; Kirk Mildner, Der westliche Balkan in den Fängen der Finanzkrise, in Südosteuropa Mitteilungen, 2009, 49, H. 1, S. 7–15. 31 Aus dem Arabischen über das Türkische in das Bosnische (ehemals Serbokroatische) übertragene Begriffe „fukara / fukaraluk / fukaraština“ (der Arme / die Armut / die Armen), siehe Abdulah Škaljiü, Turzismi u srpskohrvatskom jeziku, Sarajevo 1989, S. 285f. 32 Bosnisch / Serbisch / Kroatisch.

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Dieses Wunder ist tatsächlich möglich, wenn alle postjugoslawischen Spieler, interne und externe, gleichzeitig an einem runden Tisch sitzen und jeder von seinem hohen Ross herabsteigt und moderne Geopolitik als nachhaltige Friedenspolitik begreift. Nur synchrone, multilaterale, zielgerichtete Verhandlungen mit einem Zeitlimit und winkender Belohnung eines gemeinsamen Eintritts in die europäische Familie im Sommer 2014 haben einen Sinn. Gleichzeitig muss überlegt werden, wie ein Schuldenerlass organisiert werden kann und wie die Bürger wieder an den Produktionsmitteln beteiligt werden können. Der Schlüssel einer finalen nachhaltigen Lösung heißt: synchron-multilaterale Implementierung einer antirevisionistischen Regionalpolitik des Ausgleichs. Dies ist der axiomatische Metamaßstab bei allen politischen Verhandlungen und Entscheidungen. Nachhaltige Politik orientiert sich seit Jahrhunderten nach der politischen Ethik des Vernünftigen, des Maßes und der Mitte (altgr. mesótƝs).33 Dieses Ideal des Aristoteles ist die effizienteste Waffe gegen die politischen Dämonen des Extremen, die das 20. Jahrhundert in Überfülle heimsuchten.34 Ein Gelingen ist möglich. Auf dieser Basis könnte auch eine, wie auch immer geartete „Jugo-Union“ entstehen, welche die beste Prophylaxe gegen einen hobbesianischen bellum omium contra omnes ist und damit gegen archaische Naturzustände. Europa braucht für die eigene Statik mehrere makroregionale Kooperationen, die historisch gewachsen sind und sich in der politischen Praxis auch bewährt haben: Baltische Staaten, die Schweiz, Skandinavien, Iberischer Raum, Jugoslawien, etc. Um nach vorne zu kommen, muss man auch nach Lösungen in der Vergangenheit schauen, um eine neue und demokratische „pax jugoslava“ innerhalb einer „pax europea“ herzustellen.35 Was Postjugoslawien weiter braucht, ist eine gemeinsame historische Kommission. Sie sollte ein Gesamtwerk erarbeiten, in dem jede Nationalität aus ihrer Perspektive die Entstehung, den Verlauf und die Folgen der Bürgerkriege der 1990er Jahre darstellt. Dies wäre die Wiedergeburt einer Kultur des gegenseitigen Verstehens. Die Opfer der Kriege sollten dabei stets im Mittelpunkt stehen, aber genauso soll über die Frage nach einer Amnestie oder Teilamnestie der Täter im Bürgerkrieg nachgedacht werden. Einen guten Orientierungspunkt dafür bietet die Wahrheits- und Versöhnungskommission im multinationalen Südafrika.36 Schließlich benötigt die Region ein multimediales, mehrsprachiges Kommunikationsmedium, etwa „Yucom“ genannt, aus TV, Radio, Zeitung, Internet, nach dem Beispiel des ARTE TV, dem Sender der ehemaligen Erbfeinde Deutschland und Frankreich.37

33 Vgl. Otfried Höffe (Hg.), Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005. 34 Eric J. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995. 35 Vgl. Boris I. Vukobrat, Proposals for a new Commonwealth of the Republics of ExYugoslavia, Zug 1992. 36 Vgl. South African Truth and Reconciliation Commission (TRC), http://www.justice.gov.za/trc/. 37 Als Beispiel für eine interkulturelle Plattform: http://www.novajugoslavija.org.

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All das Genannte eröffnet gerade der Generation der Jüngeren und Jüngsten, die zwischen 1980 und 2010 geboren wurden und noch geboren werden, eine unbelastete interkulturelle Entwicklung, eine europäische Normalität, eine Leichtigkeit des Seins.

A FROZEN „TURNING POINT“ 1945/46? DIE UDSSR, DER NÜRNBERGER HAUPTKRIEGSVERBRECHERPROZESS UND DER HOLOCAUST* Lilia Antipow ROTE FAHNE ÜBER DEM JUSTIZPALAST: „DIE SOWJETS“ KOMMEN NACH NÜRNBERG Es war der 20. November 1945. Ein grauer, ein verregneter Tag. Im fränkischen Nürnberg, der Stadt der „Nürnberger Gesetze“ und der „Reichsparteitage“, im Gebäude des sogenannten Justizpalastes, begann der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess. Richter und Anwälte aus vier Staaten – den USA, der Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich – saßen zu Gericht über den deutschen Nationalsozialismus und dessen führende Vertreter. Der Kreis der Geschichte schloss sich: Die „Wiege des Faschismus“, der Ort, an dem das NS-Regime seine Macht und Stärke in Szene gesetzt und die kommende Weltherrschaft des Nationalsozialismus verkündet hatte, wurde zum Ort des Gerichts, in dem der Sieg über dieses Regime erfahrbar wurde, den Siegern Genugtuung verschaffte und sie mit Stolz auf das eigene Land erfüllte. „Hitler verkündete einst – es war noch in der Zeit seiner Erfolge –, dass er das Tausendjährige Reich errichten werde. Es gingen nur fünf Jahre vorbei – und im einstigen Zentrum des ersten Deutschen Reiches, in Nürnberg, nicht weit vom Justizpalast, der sich in den Burgfelsen über der Stadt und das ganze riesige Tal herum drängte, nahm der russische Soldat Stellung“,

so schilderte der sowjetische Schriftsteller Vsevolod Višnevskij seine Eindrücke, als er den sowjetischen Wachposten vor dem Eingang zum Justizpalast erblickte.1 Auch für die sowjetische Seite – nicht nur für die Westalliierten – war es ein Prozess von einer „überragenden historischen Bedeutung“, wie der sowjetische

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Dieser Beitrag stützt sich auf meine Darstellung Die UdSSR und der Nürnberger Prozeß: Vorbereitung, Durchführung, Rezeption (1945-2008), die im Rahmen des Ausstellungsprojekts „Saal 600 - Memorium Nürnberger Prozesse“ des Dokumentationszentrums „Ehemaliges Reichsparteitagsgelände“ der Stadt Nürnberg entstanden ist, bei dem ich die Ehre hatte, mitwirken zu dürfen. Ich danke Hans-Christian Täubrich (Leiter des Dokumentationszentrums), Henrike Zentgraf (M.A.), Dr. Eckart Dietzfelbinger, Dr. Rainer Huhle, Dr. Alexander Schmidt und Thorsten Lehmann für dieses Jahr einer anregenden, inhaltsreichen und kollegialen Zusammenarbeit im Ausstellungsteam; außerdem Herrn Jörn Petrick (M.A.) für zahlreiche Anregungen zu diesem Beitrag. Vsevolod Višnevskij, Iz zala suda, in: Pravda, Nr. 290, 6. Dezember 1945, S. 3.

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Hauptankläger, Roman Rudenko, in seiner Eröffnungsrede feststellte.2 Der NSMassenmord an den europäischen Juden war eines der Verbrechen des nationalsozialistischen Herrschaftsregimes, dessen (völker)strafrechtliche Aufarbeitung der Hauptkriegsverbrecherprozess leisten wollte und über die in den kommenden zehn Monaten an der Fürther Straße in Nürnberg verhandelt wurde. SOWJETBÜRGER, ZIVILISTEN? – JUDEN! DIE KONFRONTATION MIT DEM HOLOCAUST 1941–1945 Dabei war die Haltung der Alliierten zum Holocaust während des Zweiten Weltkrieges mehr als problematisch. „Die Alliierten kümmerten sich nicht um die Juden“, so Raul Hilbergs bitteres Fazit. „Die alliierten Mächte, die gegen Deutschland Krieg führten, kamen den Opfern Deutschlands nicht zu Hilfe. Die Juden Europas hatten keine Verbündeten.“3 Auch auf einen anderen Umstand wies Hilberg hin, nämlich darauf, dass die jüdischen Opfer von den Alliierten häufig anderen Opferkategorien zugeordnet wurden, so dass ihre jüdische Herkunft nicht mehr erkennbar war.4 Das galt für die Westalliierten, erst recht aber für die problematische Haltung der Sowjetunion gegenüber dem nationalsozialistischen Judenmord. Der Krieg gegen die Sowjetunion sei eine Befreiungsmission, ein „Feldzug gegen den Judeo-Bolschewismus“, hieß es in der NS-Propaganda.5 Die Massenvernichtung der Juden auf dem sowjetischen Territorium setzte bereits in den ersten Wochen des Krieges ein. Die aktuelle Bilanz dieser Rassen- und Vernichtungspolitik auf dem Staatsgebiet der Sowjetunion gibt Tabelle 1 wieder. Die sowjetische Partei- und Staatsführung war bereits kurz nach Kriegsbeginn über die angelaufene Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung durch Berichte von Parteistellen auf dem besetzten Territorium, der Roten Armee und des NKVD in Kenntnis gesetzt worden.6 Bezeichnend war dabei, dass in diesen Informationen zunächst nicht erwähnt wurde, dass die Judenvernichtung einen besonderen Schwerpunkt in der nationalsozialistischen Besatzungspolitik darstellte. Erst der Bericht des NKVD vom 6. Dezember 1942 „Über Gräueltaten der Deutschen an der jüdischen Bevölkerung auf dem vom Feind zeitweilig besetzten Ter-

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Roman Rudenko, [Rede], in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. November 1945 – 1. Oktober 1946, Bd. 7, Amtlicher Text in deutscher Sprache. Verhandlungsniederschriften 5. Februar 1946 – 19. Februar 1946, Nürnberg 1947, S. 166. Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 3, Frankfurt am Main 1994, S. 1118. Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 3, S. 1129. Wolfram Wette, Juden, Bolschewisten, Slawen, in: Bianka Pietrow-Ennker (Hg.), Präventivkrieg. Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion, Frankfurt am Main 2000, S. 37–56. Vgl. Il’ja Al’tman, Opfer des Hasses. Der Holocaust in der UdSSR 1941-1945, Gleichen 2008, S. 458–461.

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1945/46 – A frozen „turning point“? TABELLE 1: OPFER DES HOLOCAUST AUF DEM TERRITORIUM DER SOWJETUNION Nr. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Republik Ukraine Weißrußland Moldavien Litauen RSFSR Lettland Estland Insgesamt

1941 – Jan. 1942 540 000 250 000 130 000 180 000 – 185 000 69 000 – 90 000 72 000 – 74 000 1 000 1 242 000 – 1 270 000

Febr. 1942 – Okt. 1943 860 000 550 000 – 25 000 75 000 – 80 000 2 000 – 1 512 000 – 1 517 000

Quelle: Al’tman, Opfer des Hasses, S. 367.

ritorium der UdSSR“ sprach explizit davon, dass „alle Repressionsmaßnahmen der Nazisten sich ausschließlich gegen die Juden richten“.7 Doch der öffentliche Umgang mit dem NS-Massenmord an Juden war für die sowjetische Führung von Anfang an ein Problem. Dessen Kernfrage lautete, wie man das deutsche Kriegsverbrechen darstellen und dessen Opfer bezeichnen sollte, wobei neben dem herrschafts- und identitätspolitischen innersowjetischen Diskurs auch die völkerrechtliche Dimension zu berücksichtigen war. Die Einsicht der sowjetischen Partei- und Staatsführung in das Mobilisierungspotential des Nationalen steigerte ihre Bereitschaft, auf die nationalen Interessen der Völker der Sowjetunion einzugehen, und hatte eine verstärkte Förderung ihres Patriotismus und Nationalismus zur Folge. Im Falle der Juden wies diese Politik eine Besonderheit auf: Sie zielte zugleich auf die Mobilisierung der Juden im Westen und den USA für die Kriegsziele der Sowjetunion. Zu diesem Zweck wurde im Frühjahr 1942 das Jüdische Antifaschistische Komitee (EAK) als Organ der staatlichen Kriegspropaganda auf Betreiben des NKVD gegründet,8 das den Aufbau von Kontakten zu jüdischen Kreisen im Ausland betrieb. Und zu den Inhalten dieser Politik gehörte auch die öffentliche Auseinandersetzung mit dem NS-Massenmord an den Juden. Unabhängig davon kam es bereits 1943 zu ersten öffentlichen, sowjetischen Kriegsverbrecherprozessen in Krasnodar (14.– 17. Juli 1943) und Char’kov (15.–18. Dezember 1943), die auch Gräueltaten an den Juden ahndeten. Der sowjetische Umgang mit dem Holocaust hatte jedoch bereits relativ früh – etwa seit dem Frühjahr 1942 – eine zweite Seite: Die Mobilisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft für den Krieg gegen NS-Deutschland und die innere Konsolidierung in der Sowjetunion, die für die sowjetische Führung eine prioritäre politische Zielsetzung darstellten, waren nur zu leisten, wenn dieser Krieg als gemeinsame Bedrohung für alle Völker der Sowjetunion erschien, wenn diese 7 8

Vgl. ebd., S. 469f. Siehe zur Geschichte des EAK Gennadij Kostyrþenko, Tajnaja politika Stalina. Vlast’ i antisemitizm, Moskau 2001, S. 231, 236–242.

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Völker, vor allem die Slawen und unter ihnen die Russen, sich gemeinsam als seine Hauptopfer erfuhren. Die Tatsache, dass die NS-Propaganda den Krieg gegen die Sowjetunion als „Feldzug gegen den Judeo-Bolschewismus“ darstellte, arbeitete ausgerechnet diesem Ziel entgegen. Dabei war sich die sowjetische Führung auch stets bewusst, dass der Antisemitismus und die Gleichsetzung zwischen Sowjetmacht und Juden, die Darstellung der Sowjetmacht als „jüdische Herrschaft“ eine mächtige Waffe in den Händen ihrer Gegner war, dass sie die Autorität und Legitimität der Führung und den Konsens zwischen Partei, Staat und Gesellschaft zerstörte. Sie war sich ebenso dessen bewusst, dass beim verbreiteten Antisemitismus in der Sowjetunion mitunter eine subversive Systemkritik mitschwang. Sie war sich dessen bewusst, dass es sich bei Protesten gegen die Privilegierung der Juden um einen Machtkampf handelte (um sozialen Aufstieg, um Verteilung von Privilegien, Einfluss und Prestige), um die Artikulation von Sozialneid und Minderwertigkeitsgefühle. Und dass dieser Antisemitismus bei einer sich bietenden Gelegenheit in offene Gewalt umschlagen konnte. Nun erkannte sie sehr bald (und Molotovs Note vom 27. April 1942 sprach dafür mit aller Deutlichkeit9), dass die Nationalsozialisten den Antisemitismus instrumentalisierten, um die sowjetischen Anstrengungen zur innenpolitischen Konsolidierung und Kriegsmobilisierung zu vereiteln und den Zusammenschluss der Völker und Ethnien des multinationalen Staates im Kampf gegen den Feind zu verhindern. Um die Kampfbereitschaft der Sowjetbevölkerung zu steigern, hatte die sowjetische Kriegspropaganda über den Krieg und seine Opfer in einer Art und Weise zu berichten, dass sich jeder Sowjetbürger in ihnen wiedererkannte, sich mit ihnen identifizierte und bereit war in den Kampf zu ziehen und sich für sie zu rächen. So setzte die sowjetische Propaganda dem nationalistischen Antisemitismus und seinem „Befreiungszug gegen den „Judeo-Bolschewismus“ die Parole vom „Großen Vaterländischen Krieg“ entgegen. Als Hauptopfer dieses „Großen Vaterländischen Krieges“ sollten das Sowjetvolk, alle Nationen und Ethnien des multinationalen Staates, vor allem jedoch dessen slawische Titularnationen und die Russen erscheinen. Die sowjetische Deutung unterschlug damit zugleich die öffentliche Anerkennung des besonderen Charakters des NS-Antisemitismus und der Vernichtungsaktionen an der jüdischen Bevölkerung. Seit dem ersten Kriegsjahr waren das tatsächliche Wissen der sowjetischen Führung über den NS-Massenmord an Juden und die Berichterstattung darüber zu keinem Zeitpunkt deckungsgleich, ging doch das Wissen bei Weitem über die Berichterstattung hinaus. In den Stellungnahmen der sowjetischen Partei- und Staatsführer und in den Publikationen der offiziellen Presse erschienen die Juden als eine von vielen, jedoch keine singuläre, ausschließliche und zahlenmäßig be9

Nota Narodnogo komissara inostrannych del SSSR tov. V.M. Molotova „Ɉ þudovišþnych zlodejanijach, zverstvach i nasilijach nemecko-fašistskich zachvatþikov v okkupirovannych sovetskich rajonach i ob otvetstvennosti germanskogo pravitel’stva i komandovanija za ơti prestuplenija“, 27. April 1942, in: Dokumenty obvinjajut, Bd. 1, Moskau 1943, S. 9–32, hier S. 22.

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deutendste Gruppe der NS-Opfer.10 Immerhin sprach eine sowjetische Note vom 18. Dezember 1942, die einen Tag später in der „Pravda“ veröffentlicht wurde, von 4 000 000 Juden, die gemäß den Plänen der Nazis nach Polen zur Vernichtung gebracht werden sollten. Doch schon während des Krieges wurden Statistiken zum NS-Massenmord an Juden für den Nachweis der horrenden Ausmaße der NS-Vernichtungspolitik gegen „Sowjetbürger“ verwendet. Der NS-Massenmord an den Juden wandelte sich durch den sowjetischen Diskurs zum NS-Massenmord an den „Sowjetbürgern“. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung 1943/1944, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als sich den offiziellen Stellen im Zuge der Befreiung der besetzten sowjetischen Gebiete der Maßstab des Holocaust erst recht zu erschließen begann. Die „Mitteilungen der ýGK“11 zu den Städten Krasnodar, Smolensk (22. Oktober 1943), Orel (7. September 1943), Stalino/Doneck (13. November 1943), Char’kov (13. Dezember 1943), Rostov-am-Don (März 1943), Kiev (Februar 1944), Ozariþi (3. April 1944), Novgorod (5. Mai 1944), Slavuta (3. August 1944), Majdanek (16. September 1944) – hier sind nur einige Beispiele genannt – sprachen von den Opfern als „Sowjetbürgern“, obwohl man wusste, dass der überwiegende Teil dieser Opfer, deren Zahl in die Zehntausende ging, Juden waren. Geradezu exemplarisch für diesen Umgang mit dem NS-Massenmord an den Juden in den Jahren 1943–1945 steht der Fall Auschwitz.12 Während die ersten Berichte an die übergeordneten Stellen, die nach der Befreiung des Lagers von der politischen Abteilung der 60. Armee verfasst wurden, noch die Zahl der dort ermordeten Juden nannten und sie als Hauptgruppe der Opfer bezeichneten, verschwanden sie schon auf der nächsthöheren Ebene in den Berichten der politischen Abteilung der Front an die Politische Hauptverwaltung der Roten Arbeiter- und Bauernarmee (Glavnoe politiþeskoe upravlenie Raboþe-krest’janskoj Krasnoj Armii, GlavPURKKA) und das CK der VKP(b). Die offizielle Mitteilung der ýGK „Über grausame Verbrechen der deutschen Regierung in Auschwitz“, die am 8. Mai 1945 in der „Pravda“ und in weiteren Zeitungen, wie „Krasnaja zvezda“, veröffentlicht wurde, sprach nur noch von „nicht weniger als 4 Millionen Bürgern der UdSSR, Polens, Frankreichs, Jugoslawiens, der Tschechoslowakei, Rumäniens, Ungarns, Bulgariens, Hollands, Belgiens und anderer Länder“, die in Auschwitz umgebracht worden seien, und erwähnte Juden nur ein einziges Mal – als Zeugen der Verbrechen.13 Das Verschweigen der jüdischen Identität der Opfer und im Gegenzug die Identifizierung der Opfer als „Sowjetbürger“ wirkte sich letzten Endes auf die 10 Siehe dazu auch Frank Grüner, Patrioten und Kosmopoliten. Juden im Sowjetstaat 1941– 1953, Köln 2008, S. 425. 11 ýGK steht für: Außerordentliche Staatskomission zur Feststellung und Untersuchung der Gräueltaten der deutsch-faschistischen Besatzer und des von ihnen der Sowjetunion zugefügten Schadens (ýrezvyþajnaja Gosudarstvennaja komissija po ustanovleniju i rassledovaniju zlodejanij nemecko-fašistskich zachvatþikov i priþinennogo imi ušþerba Sovetskomu Sojuzu). 12 Siehe dazu Fedor Sverdlov, Dokumenty obvinjajut. Cholokost: Svidetel’stva Krasnoj Armii, Moskau 1996, S. 111–118. 13 Al’tman, Opfer des Hasses, S. 485.

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Dokumentierung des Massenmords auf dem Territorium der Sowjetunion durch die ýGK aus. Im ersten Stadium der Dokumentierung vor Ort enthielten die Protokolle oft Hinweise auf die jüdischen Opfer, doch schon auf der zweiten Stufe, bei der Aufstellung eines zusammenfassenden Schlussberichts, wurden sie gestrichen und die Betroffenen zu „Sowjetbürgern“ erklärt.14 Die Protokolle der ýGK waren somit nur im Sinne des stalinistischen Herrschafts- und Geschichtsdiskurses authentisch. Auf der Grundlage dieser Schlussfassungen der ýGK wurden die besagten öffentlichen „Mitteilungen der ýGK“ zusammengestellt. Diese Politik entsprach den politischen Usancen der stalinistischen Sowjetunion. Die Betonung der Singularität des jüdischen Leidens im Krieg hätte das Leiden anderer Sowjetvölker in den Schatten gerückt, die Hierarchie in der sowjetischen Gesellschaft zerstört, die für die Stellung der Völker und Ethnien in der Sowjetunion konstitutiv war, die Selbsterfahrung der sowjetischen Bevölkerung als Schicksalsgemeinschaft der Kriegsopfer verhindert. Dieser Umgang der sowjetischen Führung mit dem Massenmord entsprach auch ihrem „Kampf gegen den jüdischen bourgeoisen Nationalismus“. Sein Anstieg war für die offiziellen Stellen nicht zuletzt in den Reaktionen der Juden auf den Holocaust, nämlich in der Betonung seiner Singularität, greifbar.15 Wenn die offiziellen Stellen statt von „Juden“ von „Zivilbevölkerung“ / „friedlicher Bevölkerung“ (mirnoe naselenie) und „Zivilpersonen“ / „friedlichen Bürgern“ (mirnye graždane) sprachen, so hatten sie im Übrigen auch das humanitäre Völkerrecht im Sinn und qualifizierten die deutschen „Kriegsverbrechen“ nach dessen Normen. Sie verwiesen damit darauf, dass diese Verbrechen die Völkergemeinschaft als Ganze betrafen, nicht nur die Sowjetunion, um sich selbst als Teil dieser Völkergemeinschaft zu präsentieren und von der „übrigen Welt“ mehr Engagement für den Krieg gegen NS-Deutschland einzufordern. Die Folge dieser Entwicklung war: In den letzten zwei Kriegsjahren verlagerte sich der Schwerpunkt des innersowjetischen Diskurses über den NSMassenmord auf die Ebene des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, wo auch die Vorbereitung des „Schwarzbuches“ über den Genozid an den sowjetischen Juden begann.16

14 Das Prozedere ist beschrieben in: Icchak Arad, Otnošenie sovetskogo rukovodstva k Cholokostu, in: Vestnik Evrejskogo Universiteta v Moskve, 1995, Nr. 2 (9), S. 4–36, hier S. 26. 15 Grüner, Patrioten und Kosmopoliten, S. 429. 16 Il’ja Al’tman, K istorii ‚ýernoj knigi‘, in: Neizvestnaja ýernaja kniga, Moskau 1993, S. 16–29.

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„DIE AUSROTTUNG DER JUDEN DER WELT BIS ZUM LETZTEN MANNE GEPLANT“: DIE UDSSR UND DER NS-MASSENMORD AN DEN JUDEN IN NÜRNBERG Erst während des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses und in seinem Umfeld änderte sich die Situation. Der Nürnberger Prozess, ein Schlüsselereignis der Jahre 1945–1946, das in seiner Bedeutung nur noch durch das Ende des Zweiten Weltkrieges übertroffen wurde, war der erste internationale Prozess, der sich mit dem NS-Massenmord an den Juden auseinandersetzte und diejenigen strafrechtlich belangte, die diesen Massenmord politisch und militärisch zu verantworten hatten. „It was, however, a turning point”, bringt der kanadische Historiker Michael R. Marrus die Bedeutung des Hauptkriegsverbrecherprozesses hinsichtlich der justiziellen, öffentlichen und historiographischen Aufarbeitung des Massenmordes auf den Punkt.17 Eine der Großmächte, die in Nürnberg zu Gericht saß, war die Sowjetunion. Im Vorfeld und während des Nürnberger Prozesses änderte die sowjetische Partei- und Staatsführung ihre Haltung zum Holocaust. Dabei traten die Interessen der sowjetischen Innenpolitik hinter ihre außenpolitischen Interessen zurück. Mit dem neuen, konsensorientierten Kurs reagierte die Partei- und Staatsführung auf die komplizierte Wirtschaftssituation in der Sowjetunion und auf die Schwäche ihrer politischen Machtstellung in Osteuropa und versuchte damit, eine direkte Konfrontation mit den Westmächten, allen voran den USA, zu vermeiden. Im Mittelpunkt stand für sie nun nicht mehr das Bild des einheitlichen „Sowjetvolkes“ mit dem „großen russischen Volk“ als dessen Zentrum, sondern der Artikel des IMT-Statuts über die „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, in der Anklageschrift auch als „Verbrechen gegen die Humanität“ bezeichnet. Dennoch beeinflusste das alte Interpretationsmuster der sowjetischen Innenpolitik weiterhin die strafrechtliche Verfolgung der NS-Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg, da sie die Qualifikation der Straftaten durch die sowjetische Anklage mitprägte. Nichtsdestotrotz gilt: Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess stellte hinsichtlich des sowjetischen Umgangs mit dem Holocaust im Vergleich zur Kriegszeit eine Wende dar. Die Sowjetunion betrat Neuland, was die (völker)strafrechtlichen Formen und den Umfang der Aufarbeitung dieses Verbrechens, die Erkenntnis seiner historischen Besonderheit und die Breitenwirkung der öffentlichen Auseinandersetzung damit im Land selbst betraf, und ging damit über die während des Krieges selbstgesetzten Grenzen hinaus. Im Vorfeld des Prozesses, während der Verhandlungen über das IMT-Statut in London, standen die Diskussionen über den Anklagepunkt „Verbrechen gegen 17 Vgl. Michael R. Marrus, The Holocaust at Nuremberg, in: David Cesarani (Hg.), Holocaust. Critical Concepts in Historical Studies, Bd. VI: The End of the ‚Final Solution‘ and its Afermaths, London 2004, S. 158–184, hier S. 166. Siehe zum Thema „Der Holocaust und der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess“: Lawrence Douglas, The Memory of Judgment. Making Law and History in the Trials of the Holocaust, Yale 2001; Ludwig Rosenthal, „Endlösung der Judenfrage“: Massenmord oder „Gaskammerlüge“? Eine Auswertung der Beweisaufnahme im Prozeß gegen Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg vom 14. November 1945 bis 1. Oktober 1946, Darmstadt 21980.

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die Menschlichkeit“ (Art. 6 c), der auch die Rechtsgrundlage für die Anklage des Massenmordes an den Juden bildete,18 für die sowjetische Seite im Hintergrund.19 Sehr viel mehr beschäftigten sie die Anklagepunkte „Teilnahme an der Verschwörung oder am gemeinsamen Plan“, „Verbrechen gegen den Frieden“ und „Kriegsverbrechen“ sowie die Diskussionen über die Strafprozessordnung. Sie willigte erst gegen Ende der Verhandlungen in die Aufnahme des Anklagepunkts „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in das Statut ein; das hatte freilich weniger mit dessen anfänglicher Ablehnung zu tun als mit seiner engen Anbindung an den Anklagepunkt „Teilnahme an der Verschwörung oder am gemeinsamen Plan“. Da hiermit unter anderem die brisante Rolle der Sowjetunion in der Vorkriegspolitik und beim Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes zur Sprache kommen konnte, lehnten ihn die sowjetischen Vertreter bei den Verhandlungen in London ab. Nachdem die Sowjetunion ihren Widerstand gegen den Anklagepunkt „Teilnahme an der Verschwörung oder am gemeinsamen Plan“ aufgegeben hatte, konnte man sich jedoch auf Schlussfassung des Verbrechenskomplexes „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, dem amerikanischen Entwurf folgend, schnell einigen. Aufgrund eines Beschlusses des Komitees der Ankläger, das nach der Unterzeichnung des Londoner Abkommens und des IMT-Statuts am 8. August 1945 die Anklageschrift vorzubereiten hatte, übernahm die sowjetische Seite die Vorformulierung der Anklage nach den Punkten „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ für Osteuropa, darunter zur Massenvernichtung der Juden. Diese Aktivitäten wurden von einer am 5. September 1945 durch den Beschluss des Politbüros des CK der VKP(b) und des Rates der Volkskommissare eigens dafür eingerichteten Kommission unter dem Vorsitz Andrej Vyšinskijs koordiniert.20 Sie war auch bei der Auswahl des sowjetischen Beweismaterials federführend, das von der ýGK, GlavPURKKA und dem sowjetischen Sicherheitsdienst bereitgestellt wurde. Was die Anklageschrift in den Punkten „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ beinhaltete, war somit in einem nicht unerheblichen Maße von der sowjetischen Vertretung im Anklageteam mitbestimmt, mit Ausnahme jener Aspekte, die mit der Anklage wegen der „Teilnahme am gemeinsamen Plan oder Verschwörung“ unmittelbar zusammenhingen und von den amerikanischen Anklägern ausgearbeitet wurden. Was nach den Diskussionen in London und anschließend in Berlin herauskam, war die Prozessanklage. Aufgrund der Aufteilung der Kompetenzen auf der 18 Siehe zur Geschichte dieses Anklagepunktes P. Klark / Ju. Rešetov, Prestuplenija protiv þeloveþnosti, in: Njurnbergskij process: Pravo protiv vojny i fašizma, Moskau 1995, S. 160– 186. Zur Entstehung der Anklage wegen des Massenmords an Juden, darunter auch zur Rolle der jüdischen Organisationen: Kerstin Marienburg, Die Vorbereitung der Kriegsverbrecherprozesse, Teilbd. I, Hamburg 2008, S. 566f., 608f. 19 Siehe dazu Klark / Rešetov, Prestuplenija protiv þeloveþnosti, S. 160; Kerstin Marienburg, Die Vorbereitung der Kriegsverbrecherprozesse im II. Weltkrieg, Teilbd. II, Hamburg 2008, S. 657. 20 Siehe zur Tätigkeit dieser Kommission Natal’ja Lebedeva, SSSR i Njurnbergskij process, in: dies. / Viktor Išþenko (Hg.), Njurnbergskij process. Uroki istorii. Materialy meždunarodnoj nauþnoj konferencii. Moskva, 20–21 nojabrja 2006 g., S. 139–166, hier S. 151.

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Ebene des Komitees der Ankläger spielten die sowjetischen Anwälte – neben den amerikanischen – bei der Präsentation der Anklage wegen des Massenmords an den Juden eine entscheidende Rolle. Der sowjetische Hauptankläger, Wirklicher Justizstaatsrat Roman Rudenko, ging darauf in seinem Eröffnungsvortrag ein, der Nebenankläger, Oberster Justizrat Lev Smirnov, übernahm die Aufbringung der Beweise. Was sie über den NS-Massenmord an den Juden zu sagen hatten, stand im Einklang mit den Vorstellungen der offiziellen Stellen in Moskau: Denn der Inhalt aller Vorträge der sowjetischen Anklage wurde zwischen November 1945 und Januar 1946 mit Vyšinskijs Kommission und den übergeordneten Partei- und Staatsstellen, mit Molotov, Malenkov, Berija, Ždanov, Mikojan, Goršenin, Merkulov, Goljakov und Abakumov abgestimmt.21 Der Nürnberger Prozess setzte neue Maßstäbe nicht nur für die (völker)strafrechtliche, sondern auch die historische Aufarbeitung des Holocaust. Der NS-Massenmord an den Juden wurde vor dem IMT in erster Linie im Rahmen der Anklage „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verhandelt, die wiederum mit der Anklage wegen „Verschwörung gegen den Frieden“ verbunden wurde.22 Raul Hilberg unterstellte seinerzeit den, wie er sich ausdrückte, „Londoner Delegierten“, sie „wollten die Vernichtung der europäischen Juden als ein Verbrechen sui generis nicht anerkennen.“23 Qualifizierte man den Mord an den Juden nach den von den historischen Zusammenhängen abstrahierenden Artikeln des Völkerstrafrechts, so waren sie vor allem „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, und solche konnten sich außer gegen Juden auch gegen andere Opfergruppen richten, wie zum Beispiel gegen Kommunisten, Zeugen Jehovas und so weiter. Das heißt, mit diesem Artikel des Völkerstrafrechts war der Besonderheit des Holocaust als Verbrechen eigener Art und singulärem historischen Phänomen nicht beizukommen. Doch gerade die Tatsache, dass „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ als selbständiger Artikel in Abgrenzung und Differenz von den „Kriegsverbrechen“ im IMT-Statut definiert wurden, wurde zur Voraussetzung dafür, dass der NSMassenmord an Juden von der Anklage zumindest annähernd in seiner Besonderheit gefasst wurde. Die Notwendigkeit, die besondere Schwere dieses Verbrechens nachzuweisen, führte zur ausführlichen Darlegung seines Ausmaßes. Die Anwälte und Rechtswissenschaftler der vier Mächte deuteten den Massenmord an den Juden aus der Sicht des Völkerstrafrechts in erster Linie als Mittel der Macht- und Herrschaftsbehauptung, als ein Mittel zur Umsetzung der „Verschwörung gegen den Frieden“, nicht als Selbstzweck und bloßen Ausdruck des 21 Ebd., S. 159f. 22 Siehe Anklagepunkt 4 „Verbrechen gegen die Humanität“, Punkt B: „Verfolgung aus politischen, rassischen und religiösen Gründen in Ausführung von und in Zusammenhang mit dem in Anklagepunkt eins erwähnten gemeinsamen Plan“ in der Anklageschrift, in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. November 1945 – 1. Oktober 1946, Bd. 1, Amtlicher Wortlaut in deutscher Sprache. Einführungsband, Nürnberg 1947, S. 29-99, hier S. 71ff. Zur Kritik an diesem Konzept: Klark / Rešetov, Prestuplenija protiv þeloveþnosti, S. 183; Marrus, The Holocaust at Nuremberg, S. 164, 178f., 181. 23 Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 3, S. 1137.

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nationalsozialistischen Rassenwahns und Antisemitismus. Diese Interpretation hob historisch vor allem auf die politische Funktion des NS-Antisemitismus ab. Dagegen traten die Rassen-, vor allem jedoch die Klassenmodelle in der Erklärung der Judenfeindlichkeit zurück; auch kulturgeschichtliche Ansätze zu ihrer Erklärung, sofern sie vor allem auf ihre europäischen Bezüge eingingen, fanden in der Anklage keinerlei Niederschlag. Die um juristische Präzision bemühte, sachlich und differenziert argumentierende Feststellung der persönlichen Schuld der Angeklagten und des „verbrecherischen“ Charakters der Gruppen und Organisationen des NS-Staates beinhaltete zugleich die historische Rekonstruktion des politischen Mechanismus, der den Holocaust steuerte. Sie setzte bei der ideologischen, politischen, wirtschaftlichen und militärischen Spitze des NS-Staates an und reichte bis hinunter zu den Vollstreckern der Gestapo, des SD, der SS und des „Korps der politischen Leiter der NSDAP“. Das geschah in einem Umfang, in dem es die innersowjetischen Kriegsverbrecherprozesse gar nicht leisten konnten, obwohl sie sich mit der Frage nach den politisch Verantwortlichen für den Massenmord ebenfalls befasst hatten. Die Anklage präsentierte eine zusammenfassende und konzise, chronologisch und strukturell geordnete Darstellung der Geschichte des Antisemitismus, der Verfolgung der Juden und des Massenmords seit der Gründung der NSDAP, vor allem jedoch in den 1930er Jahren und während des Zweiten Weltkriegs, einschließlich des Angriffskrieges gegen die Sowjetunion. Dabei erschien dieser Massenmord an den Juden als europaweit angelegtes, vorsätzlich und planmäßig, systematisch und bedingungslos im großen Maßstab umgesetztes Verbrechen, begangen im Auftrag einer Staatsführung mit Hilfe des gesamten deutschen Staatsapparats, der Justiz, der Armee und der Sonder- und Sicherheitspolizei, gestützt auf die Loyalität des „Nazi-Beamten“ (so der amerikanische Hauptankläger Robert H. Jackson) sowie der neuesten Erfindungen der Technik. Was sich der Öffentlichkeit vor dem Prozess noch in Form von verstreuten Einzelereignissen präsentiert hatte, wurde jetzt in einen kausalen Zusammenhang gesetzt und als Teil eines mörderischen Ganzen präsentiert. Von den anfänglichen Verfolgungen im Dritten Reich zwischen 1933 und 1939 bis hin zu der seit 1939 unter Beteiligung Görings avisierten und seit Sommer 1941 umgesetzten „Endlösung“ – alle tragischen Schlüsselereignisse der Judenpolitik des NS-Staates kamen im Prozess zur Sprache. Insbesondere die Genese der „Endlösung“ (von ihrer programmatischen Entwicklung in Hitlers „Mein Kampf“ bis hin zur perfekt organisierten Massenvernichtung während des Zweiten Weltkrieges) versuchte man in Nürnberg zu beschreiben und zu erklären. Die Männer, die die „Endlösung“ planten und umsetzten (Heydrich, Eichmann, Globocnik) wurden seit Nürnberg als Drahtzieher des Völkermords bekannt. Doch es kamen auch jene Vertreter verschiedener Gesellschaftskreise zur Sprache, die quer durch alle soziale Schichten zu Nutznießern des Holocaust wurden. Ausführlich wurde die Entwürdigung und Ghettoisierung der jüdischen Männer, Frauen und Kinder, Alten wie Jungen, die rücksichtlose Ausbeutung ihrer Arbeitskraft, ihre Aushungerung und anschließende Vernichtung unter der NS-Besatzungsherrschaft erörtert. Die Vollstreckung der „Endlösung“ erfolgte im Zuge der Massenerschießungen durch die Einsatzgrup-

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pen und -kommandos, in den Gaswägen und schließlich in den speziell dafür errichteten Vernichtungslagern – Cheámno, Treblinka, Sobibór, Majdanek, Auschwitz. Mit der Thematisierung eines Phänomens wie der Kollaboration, das vor allem aus den Einsatzgruppenberichten rekonstruierbar war, warf der Hauptkriegsverbrecherprozess zugleich ein Licht auf den Umgang mit dem Judentum in den von NS-Deutschland besetzten Ländern selbst: Die Tatsache, dass so viele Bürger dieser Länder, so viele Nichtdeutsche, darunter auch Angehörige der slawischen Völker, an der Vernichtungspolitik mitgewirkt hatten, zeigte, wie tief verwurzelt der Antisemitismus selbst in solchen Gesellschaften wie der sowjetischen war, die bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten den Internationalismus und die Völkerfreundschaft auf ihre Fahnen geschrieben und der Judenfeindlichkeit den Kampf erklärt hatte. Für die Darstellung des Ausmaßes des Massenmords war die Erweiterung seiner Topographie von Belang: Die Nürnberger Anklage – die westliche wie die sowjetische – brachte neue Orte (und Länder) der Massenvernichtung der Juden zur Sprache, die während des Krieges in der sowjetischen Presse und in Publikationen als solche nicht erwähnt worden waren, selbst wenn der sowjetischen Seite dazu Informationen vorlagen (Tabelle 2). Abgesehen von den in anderen europäischen Ländern liegenden KZs gehörten Bobrujsk, ýernigov, Cherson, Grodno, Kaunas, LiepƗja, Mogilev, Vitebsk auf dem Territorium der UdSSR zu Orten mit einer enormen Zahl von Opfern. Andere Orte jedoch, die in der sowjetischen Presse und anderen Publikationen Erwähnung gefunden hatten, wurden durch die Nürnberger Anklage als Orte der Massenvernichtung nicht thematisiert. Einige von ihnen, wie Artemovsk, Bereza-Kartuskaja, Char’kov, Dyvin, Kobrin, Krasnodar, Maloryta, Ponary, Salaspils, Smolensk, Sumy, Syþevka fanden sich jedoch in der Anklage wegen „Kriegsverbrechen“ wieder. Die Anklage erweiterte nicht nur die Topographie des Holocaust, sie nannte auch neue Zahlen zu den Opfern. Smirnov hatte bereits in seinem Vortrag über „Kriegsverbrechen“ die Massenmorde allein in Polen auf 3 000 000 Juden beziffert.24 Weitere statistische Angaben folgten in Smirnovs Vortrag zu „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“: Von den 118 000 Juden in der Tschechoslowakei seien, so Smirnov, nach dem Ende des Krieges nur 6 000 am Leben geblieben;25 von den 15 000 jüdischen Kindern dieses Landes sind nur 28 zurückgekehrt; von 80 000 Juden in Jugoslawien überlebten nur 10 000 die NS-Besatzung26. Der sowjetische Zeuge Rajzman berichtete von 1 000 000 Juden, die bis Januar 1943 in Treblinka getötet wurden.27 Die Anklageschrift hielt in Zahlen fest, was die Hauptkriegsverbrecher zu verantworten, organisiert und durchgeführt hatten: 24 Lev Smirnov, [Rede], in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. November 1945 – 1. Oktober 1946, Bd. 7, S. 518. 25 Lev Smirnov, [Rede], in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. November 1945 – 1. Oktober 1946, Bd. 8, Amtlicher Text in deutscher Sprache. Verhandlungsniederschriften 20. Februar 1946 – 7. März 1946, Nürnberg 1947, S. 330. 26 Ebd., S. 332. 27 Ebd., S. 360.

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Lilia Antipow „Von den 9 600 000 Juden, die in Gebieten Osteuropas unter Nazi-Herrschaft lebten, sind nach vorsichtiger Schätzung 5 700 000 verschwunden, von denen die meisten absichtlich von den Nazi-Verschwörern ums Leben gebracht worden sind. Nur Reste der jüdischen Bevölkerung Europas sind übrig geblieben.“28

Das, was man 1942 erst ahnte, wurde 1945/46 in Nürnberg zur Gewissheit. Gerade die zeitgleiche Präsentation der Daten zur Topographie und Opferstatistik des Massenmords vermittelte den Eindruck eines kausal und strukturell zusammenhängenden Ganzen, eines Verbrechenskomplexes. Da mehrere Stellen in der Sowjetunion die NS-Verbrechen an den Juden dokumentiert hatten, konnte auch die sowjetische Anklagevertretung in Nürnberg Beweismaterial für den nationalsozialistischen Judenmord beisteuern.29 Außer den „Dokumenten der Täter“ aus amerikanischen Beständen wie das Tagebuch von Hans Frank, stützte sich die sowjetische Seite beim Anklagepunkt „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ unter anderem auf den Bericht der Einsatzgruppe A, die im sogenannten „Ostland“ die Mordaktionen ausgeführt hatte (Dokument USSR-57), auf den Abschlussbericht des Kommandeurs einer Kompanie des 12. (nach anderen Angaben des 15.) Polizeiregiments, das das gleiche im Ghetto von Pinsk getan hatte (Dokument USSR-119 (a)), auf die Mitteilung der Jugoslawischen Staatskommission zur Feststellung der Verbrechen der faschistischen Besatzer und ihrer Helfershelfer (Dokument USSR-36), auf den amtlichen Bericht der Regierung der Tschechoslowakischen Republik über Gräueltaten, die von den Hitleristen in der Tschechoslowakei begangen wurden (Dokument USSR-60) und so weiter. Die Materialien des „Schwarzbuches“ fanden darin kaum Berücksichtigung. Zu den seltenen Ausnahmen gehörte der Abschiedsbrief von Zlata Višnjackaja (Dokument USSR-216).30 Am 26. und 27. Februar 1946 rief Smirnov – neben anderen sowjetischen Belastungszeugen – den jiddischen Schriftsteller Abram Suckever, die polnische Schriftstellerin Seweryna Szmaglewska und den Finanzprüfer Samuel Rajzman auf. Sie sagten jeweils zu Vernichtungsaktionen unter den Juden im Ghetto von Vilnius sowie in den KZs Auschwitz und Treblinka aus. Der Nürnberger Prozess stand auch am Anfang der bis heute anhaltenden Debatte über die Singularität des Holocaust als historisches Ereignis. Selbst wenn die (völker)strafrechtlichen Normen des IMT-Statuts dazu wenig beitrugen, beschrieben die Vorträge der Anklage die Einzigartigkeit dieses Verbrechens in seinem Maßstab, seiner Systematik, seiner Konsequenz und seiner Totalität. Es war wohl diese Einzigartigkeit, die den sowjetischen Hauptankläger Roman Rudenko als auch den Nebenankläger Lev Smirnov dazu veranlasste, von den Juden als „Hauptopfer“ der NS-Vernichtungspolitik, vor allem bei den „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, zu sprechen. Es war eine Feststellung, zu der sich die offizi-

28 Anklageschrift, S. 36f. 29 Rudenko, [Rede], S. 202, 193f. 30 Der Brief ist veröffentlicht in Wassili Grossman / Ilja Ehrenburg (Hg.), Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 370ff.

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ellen sowjetischen Stellungnahmen und Publikationen während des Krieges nicht durchgedrungen hatten.31 Doch in der Darstellung der sowjetischen Anklage waren die Juden nur eines der Hauptopfer. Denn für sie gab es noch ein zweites: die Slawen. Der Massenmord wurde in den Kontext der Rassen- und Vernichtungspolitik des NSBesatzungsregimes in der Sowjetunion gestellt, der über die Grenzen der Ausrottung der Juden hinausging. In der Darstellung der sowjetischen Anklage betrafen die „Kriegsverbrechen“ nicht nur die Juden: Im Falle der Sowjetunion (so bereits die Interpretation der Anklageschrift) hatten sie ihre Opfer auch unter Angehörigen anderer Völker und Ethnien, vor allem der slawischen Titularnationen. Ähnliches galt auch für die „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Was vor allem diese Interpretation unterstützte, war eine entsprechende Qualifikation der Tatbestände durch die sowjetische Anklage. Wurden Straftaten, die an der slawischen Bevölkerung begangen worden waren, als rassisch motivierte „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ qualifiziert, erschienen nicht nur Juden, sondern auch Angehörige der slawischen Völker als deren Opfer. Auf der anderen Seite jedoch qualifizierte die sowjetische Anklage zahlreiche Verbrechen an den Juden nur als „Kriegsverbrechen“ an „Sowjetbürgern“, an der „sowjetischen Zivilbevölkerung“ oder auch – an Bürgern aller europäischen Länder.32 So tauchten in der Topographie der „Kriegsverbrechen“ Orte auf, wie Artemovsk, Bikernieki, Brest, Char’kov, Izjaslav, Janovskij-Lager bei L’vov, Kloga, Kobrin, Krasnodar, Kremenec, Ponary, Rostov, Salaspils, Sevastopol’, Sumy und Trostjanec, die entweder in der sowjetischen Presse oder in den Behördenakten vor 1945 als Orte der Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung erwähnt worden waren (Tabelle 2). Der sowjetische Nebenankläger nannte horrende Zahlen der Opfer von „Kriegsverbrechen“, wobei alle diese Zahlen die Zahl der Todesopfer im KZ Auschwitz überstieg: 4 000 000.33 Im Rahmen der Anklage wegen der „Kriegsverbrechen“ wurde jedoch weder die jüdische Identität der Opfer genannt, noch wurden diese Orte als Orte des Holocaust kenntlich gemacht. Als er die Massenvernichtungsaktionen in den Konzentrationslagern schilderte, meinte Smirnov: „Ich nehme an, dass es dem Gerichtshof schon genügend klar ist, dass in den Konzentrationslagern Bürger aller Länder Europas vernichtet wurden“.34 Mit an31 In der Rekonstruktion der Genese des mörderischen Plans gab es selbstverständlich Lücken. Auch die Darstellung des Holocaust auf dem Territorium der Sowjetunion, nicht nur seines Bezugs zur Umsetzung der „Verschwörung zum Angriffskrieg“, sondern auch seiner rassischen Dimension sowie seiner besonderen, ideologischen Verankerung in die Vorstellung vom Krieg gegen die UdSSR als „Feldzug gegen den Judeo-Bolschewismus“, stand in Nürnberg erst am Anfang. 32 Klark und Rešetov weisen allerdings darauf hin, dass die „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ weder in der Klassifizierung der Verbrechen noch in ihrer Qualifikation durch das Tribunal eine bemerkenswerte Rolle spielten (Klark / Rešetov, Prestuplenija protiv þeloveþnosti, S. 167f.). 33 Smirnov, [Rede], in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 7, S. 647. Die jüdischen Opfer von Vilnius, Kaunas und Auschwitz wurden dann in anderen Teilen der Anklage zur Sprache gebracht. 34 Smirnov, [Rede], in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 7, S. 640.

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deren Worten: In einer Vielzahl von Fällen, die vom sowjetischen Anklägerteam als „Kriegsverbrechen“ qualifiziert wurden, handelte es sich gleichzeitig um „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, deren Opfer vor allem Juden waren. Dieser Umstand wurde jedoch in den durch die sowjetische Seite vorbereiteten Teil der Anklage mit keinem Wort erwähnt. Das spezielle, rassische Motiv der Tat, die jüdische Herkunft ihrer Opfer war aus den von der sowjetischen Anklage vorgelegten Dokumenten nicht erkennbar. Bei diesen Dokumenten handelte es sich in anderthalb Dutzend von Fällen eben um die berühmt-berüchtigten „Mitteilungen der ýGK“ aus dem Jahr 1943 und 1944 – zu Stalino (Dokument USSR-2), Slavuta (Dokument USSR-5), JanovskijLager (Dokument USSR-6ɫ), Auschwitz (Dokument USSR-8), Kiev (Dokument USSR-9), der Estnischen SSR, darunter Kloga (Dokument USSR-39), der Lettischen SSR (Dokument USSR-41), Krasnodar (Dokument USSR-42), Orel (Dokument USSR-46), Odessa (Dokument USSR-47), Kerþ’ (Dokument USSR-63,6) und so weiter.35 Diese „Mitteilungen der ýGK“ schilderten Massenverbrechen an den Juden. Das wusste die sowjetische Seite bereits zum damaligen Zeitpunkt. Sie wusste ebenso, dass aufgrund politischer Vorgaben der sowjetischen Führung die Hinweise auf die jüdische Identität der Opfer im Zuge der Entstehung der „Mitteilungen der ýGK“ gestrichen worden war. Mit anderen Worten: Mit Dokumenten, die den Massenmord an Juden verschleierten, wurden „Kriegsverbrechen“ an den „Sowjetbürgern“ und der „sowjetischen Zivilbevölkerung“ bewiesen. Eine Authentizitätsprüfung dieser Dokumente wurde vom Gerichtshof nicht durchgeführt; auch die westliche Anklage verließ sich auf die Angaben der sowjetischen Seite. Der Massenmord an den Juden wurde zum Teil als „Kriegsverbrechen“, als Mord an „Sowjetbürgern“, an „sowjetischen Zivilisten“ qualifiziert, angeklagt und strafrechtlich geahndet. Im Gegenzug wurde nur ein Teil der Straftaten der Hauptkriegsverbrecher an den Juden als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ qualifiziert, diese Verbrechen wurden somit in ihrer Besonderheit und in ihrem Umfang nur partiell durch die Anklage und den Gerichtshof rekonstruiert, strafrechtlich geahndet und historisch entsprechend eingeordnet. Die Abgrenzung der „Kriegsverbrechen“ von den „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ war bereits aufgrund ihrer Definition im IMT-Statut schwer. In der Anklageschrift hieß es: „Die Anklagebehörde wird auch die im Anklagepunkt Drei [‚Kriegsverbrechen‘] vorgetragenen Tatsachen als gleichzeitig Verbrechen gegen die Humanität darstellend geltend machen.“36 Ferner enthielt sie den pauschalen Hinweis: Von „den unter Ziffer VIII A der Anklage [es ist der Punkt „Ermordung und Misshandlung der Zivilbevölkerung von oder in besetzten Gebieten und auf Hoher See“, das heißt die „Kriegsverbrechen“] erwähnten ermordeten und misshandelten Menschen waren Millionen von Juden.“37 Doch im Fall der sowjetischen Anklage wurden die entsprechenden Tatbestände, von wenigen 35 Einige Hinweise in: Lev Bezymenskij, Informacija po-sovetski, in: Znamja, 1998, Nr. 5, elektronische Version: http://magazines.russ.ru/znamia/1998/5/bezym.html. 36 Anklageschrift, S. 71. 37 Ebd., S. 71f.

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Ausnahmen abgesehen, wie zum Beispiel Kamenec-Podol’skij, Mineral’nye Vody, Riga, Kiev und Dnepropetrovsk, nicht als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ qualifiziert. Was war der Grund dafür? Es waren weder die Beschaffenheit des materiellen Rechts noch die Beweislage. Der mangelnde Willen der sowjetischen Anklage, das durch das IMT-Statut geschaffene Recht anzuwenden und die Straftaten an Juden als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu qualifizieren, war auf die Fortwirkung der sowjetischen Innenpolitik der Kriegszeit zurückzuführen. Eines dieser Dokumente, die die sowjetische Seite als Beweisstücke für „Kriegsverbrechen“ am „Sowjetvolk“ und an der sowjetischen „Zivilbevölkerung“ im Rahmen des Anklagevortrags von Smirnov am 19. Februar 1946 vorlegte, war der Film „Die von den deutsch-faschistischen Invasoren in der UdSSR verübten Gräueltaten“ (Dokument USSR-81).38 Seine Produktion leitete der sowjetische Regisseur und Kameramann Roman Karmen, dessen Dokumentarfilme – um einen Ausdruck von Dziga Vertov zu gebrauchen – eine „kommunistische Dekodierung der Wirklichkeit“ waren,39 und mit dessen Augen mehrere Generationen Sowjetbürger die Geschichte ihres Landes sahen. Er stand auch dem sowjetischen Kamerateam auf dem Prozess vor. Zwar hielten zahlreiche Filmsequenzen Orte und Opfer der Massenvernichtungsaktionen an der jüdischen Bevölkerung fest – Kloga, Riga, Salaspils, Char’kov (Drobickij Jar), Kerþ’, Pjatigorsk, Taganrog, Kiev (Babij Jar), Izjaslav, Kremenec und Višnevec, Slonim. Doch diese Bilder, selbst jene, die Roman Karmen persönlich im Konzentrationslager Majdanek aufgenommen hatte, waren als „Bilder des Holocaust“, ihre Opfer als Juden nicht mehr erkennbar. Auch die meisten Filmbilder aus dem befreiten Konzentrationslager Auschwitz stellen in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Denn ein Bild an sich kann kein Zeugnis ablegen: Es braucht häufig einen Text, der seine visuelle Aussage unterstützt. Im sowjetischen Beweisfilm schwieg sich der Text des Filmkommentars über die jüdische Identität der Opfer aus, sprach statt dessen wieder von „Sowjetbürgern“, von „friedlichen Bürgern“, von „Kriegsgefangenen“, von „Männern, Frauen, Kindern und Greisen“, von „Häftlingen“ und „Hungeropfern“, von „Gelehrten von europäischem Ruf“ und so weiter. In anderen Fällen nannte der Film nur die Namen der Opfer, die eindeutig auf ihre jüdische Herkunft hinwiesen. Die einzige Ausnahme war eine Sequenz über das Konzentrationslager Auschwitz, die eine Gruppe von jüdischen Häftlingen hinter dem Stacheldraht zeigte und sie auch als solche benannte. Zwar legte der sowjetische Nebenankläger, bevor der Beweisfilm gezeigt wurde, sein Textbuch sowie die eidesstattliche Erklärung der Kameramänner vor, doch diese bestätigten nur die Authentizität der Filmaufnahmen. Die Bedeutung der Filmbilder als „Bilder des Holocaust“ er38 Smirnov, [Rede], in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 7, S. 661. Siehe dazu ausführlich mit Beispielen der Filmsequenzen Lilia Antipow, Verlust des Bildes: Der sowjetische Dokumentarfilm im Widerstreit der spätstalinistischen Holocaust-Erinnerung, in: dies. / Jörn Petrick / Matthias Dornhuber (Hg.), Glücksuchende? Conditio Judaica im sowjetischen Film, Würzburg 2010 (in Vorbereitung). 39 Sergej Drobašenko, Roman Karmen. Put’ v iskusstve, in: Roman Karmen v vospominanijach sovremennikov, Moskau 1983, S. 68.

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schloss sich dem Zuschauer im Saal 600, wenn überhaupt, so aus dem Kontext des Gerichtsverfahrens – aus dem Vortrag der westlichen und der sowjetischen Anklage. Im Fall solcher Orte, wie Kloga, Salaspils, Char’kov, Izjaslav, Kremenec und Višnevec, Barvenkovo erwähnte allerdings weder die westlichen noch die sowjetische Anklage die jüdischen Opfer (Tabelle 2). In dem Maße, in dem das sprachliche Zeugnis des Holocaust im O-Ton oder K-Ton oder der prozessspezifische Rezeptionskontext verschwand, verlor der Film seine Bedeutung als „Bild des Holocaust“, lieferte er keinen Beweis dafür mehr. Umgekehrt galt, dass es in der Sowjetunion ein „Verlust des Bildes“ des Holocaust gab; dass der bildliche und filmische Beweis für den Massenmord an den Juden verloren ging; dass Bilder, die im westlichen Kulturkreis als „Bilder des Holocaust“ verstanden, hier nur als „Bilder der NS-Gräueltaten“ gesehen wurden.40 Doch die sowjetische Seite – und das gilt auch für ihre Anklagevertretung in Nürnberg – hatte nicht nur in diesen Fällen gewusst, dass vor allem Juden den NS-Verbrechen zum Opfer gefallen worden waren. Ihr Wissen ging weit über den Umfang dessen hinaus, was sie während des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses präsentiert hatte. Die bei weiten nicht vollständige Aufstellung in Tabelle 2 vermittelt einen ersten Eindruck davon, in welchem Verhältnis das Wissen der offiziellen sowjetischen Stellen über den Massenmord an Juden, die sowjetische Berichterstattung darüber während des Großen Vaterländischen Krieges sowie die Darstellung der NS-Vernichtungspolitik im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und die öffentliche Berichterstattung darüber zueinander standen. TABELLE 2: DISKRIMINIERUNG UND VERNICHTUNG DER JUDEN Republikt/Staat/Ort Sowjetunion Estland Kloga Vajvara Lettland Bikernieki Daugavpils LiepƗja Riga Salaspils Litauen Alytus Kaunas Marijampole Ponary Prienai Šiauliai

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40 Siehe dazu Antipow, Verlust des Bildes; für die Fortsetzung dieser Interpretationsgeschichte in den 1960er Jahren: Johannes Kuck, „Der gewöhnliche Faschismus“ und die sowjetische Mauer des Schweigens, in: Antipow / Petrick / Dornhuber, Glücksuchende?.

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1945/46 – A frozen „turning point“? Republikt/Staat/Ort Svencionys/Svenþjany Telsiai Trakai Viliampol Vilnius Moldavien Kišinev Russland Armavir Bel’skoe Brjansk Chislaviþi Džankoj Dzeržinsk Essentuki Evpatorija Jalta Feodosija Kerþ’ Kislovodsk Kletnja Klincy Krasnogvardejsk/Gatþina Krasnodar Kursk Ladožskaja Leningrad Ɇajkop Mineral’nye Vody Nal’þik Novgorod Novorossijsk Novozybkov Novyj/Staryj Oskol Odessa Orel Pjatigorsk Pskov Rostov Sevastopol’ Simferopol’ Smolensk Stalingrad Starodub Stavropol’ Syþevka Taganrog Teberda Železnovodsk Ukraine Artemovsk

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Lilia Antipow Republikt/Staat/Ort Barvenkovo Berdiþev Berezno ýernigov ɋhar’kov Czernowitz Cherson Chmel’nickij/Proskurov Chorol Dnepropetrovsk Doneck/Stalino Dubno Izjaslav Jarmolincy Kamenec-Podol’skij Kiev Konotop Korostyšev Kostopol’ Kovel’ Kremenec L’vov L’vov, Janovskij Lager L’vov, Lissenickij-Wald Luck Mariupol’ Nikolaev Pervomajsk Pirjatin Poltava Rava-Russkaja Rokitno Rovno Sarny Slavuta Stalislav/Ivano-Frankovsk Sumy Ternopol’ Tal’noe Uman’ Vinnica Višnevec Žitomir Weißrussland Baranoviþi Bereza-Kartuskaja Biaáystok Bobrujsk Borisov Brest ýernjany

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1945/46 – A frozen „turning point“? Republikt/Staat/Ort Dolginovo Dubrovo Dyvin Gomel’ Gorodnja Grodno Kobrin Krugloe Liozno Lida Maloryta Mar’ina Gorka Minsk Mogilev Molodeþno Mozyr’ Mstislav Orša Ozariþi Pinsk Polock/Glubokoe Pružany Šklov Sluck Slonim Smorgon’ Štolin Talka Tatarsk Trostjanec Vitebsk Volkovysk Voložin Zabrudz Belgien Bulgarien Dänemark Deutschland Dachau Hamburg Nürnberg Tilsit/Sovetsk (Ostpreußen) Finnland Frankreich Straßburg Griechenland Italien Jugoslawien Kroatien

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Lilia Antipow Republikt/Staat/Ort Banjica (bei Belgad) Jasenovac Sajmište Niederlande Norwegen Österreich Wien Polen Auschwitz Cheámno CzĊstochowa Danzig Kielce Majdanek Petrokowo Radom Siedlce Sobibór Tomaszów Treblinka Warschau Rumänien Tschechoslowakei Theresienstadt Slowakei Ungarn Gesamt

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In der Tabellenüberschrift stehen: 1 – für sowjetische Informationen vor 1945, 2 – für die Anklageschrift, 3 – für die westliche Anklage, 4 – für die sowjetische Anklage, 5 – für Dokumente, 6 – für das Urteil, 7 – für Presseveröffentlichungen zum Prozess.41 In der Tabelle selbst bedeuten: S – Sowjetische Angaben zum NS-Massenmord an Juden, im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess auch sowjetische Anklage, P – Veröffentlichungen in der sowjetischen Presse, U – Angaben der Anklage der USA, Großbritanniens und Frankreichs zum NS-Massenmord an den Juden, J – Angaben zum NS-Massenmord an den Juden im Urteil, W – Beweise zu „Kriegsverbrechen“ ohne Nennung der jüdischen Herkunft der Opfer, H – Beweise zu „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ mit Nennung der jüdischen Herkunft der Opfer. Die Schreibweise der Ortsnamen folgt der Schreibweise in den benutzten Quellen.

Als sich der Gerichtshof Anfang September 1946 zur Urteilsfindung zurückzog, hatte er auch darüber zu befinden, ob sich die angeklagten Hauptkriegsverbrecher dieser Massenverbrechen an Juden schuldig gemacht hatten.42 Obwohl die Ankla41 Siehe zu den Orten des Holocaust auf dem Territorium der Sowjetunion Cholokost na territorii SSSR. Ơnciklopedija, Moskau 2009. 42 Siehe zur Rolle der Richter aus den einzelnen Ländern bei der Abfassung des Urteils Telford Taylor, Die Nürnberger Prozesse. Hintergründe, Analysen und Erkenntnisse aus heutiger Sicht, München 31992, S. 632–678; Lebedeva, SSSR i Njurnbergskij process, S. 164.

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geschrift den Hauptkriegsverbrechern den Massenmord zu Last gelegt und anhand zahlreicher Dokumente versucht hatte, ihre Schuld daran zu beweisen, war seine Bedeutung für den Schuldspruch und den Ausgang des Prozesses keineswegs entscheidend.43 Das Urteil setzte den Schwerpunkt auf den Angriffskrieg,44 während der Massenmord an den Juden, wie die „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ im Allgemeinen, bei der Feststellung der Schuld der Angeklagten an zweiter Stelle rangierten. Da der Gerichtshof feststellte, dass es der Anklage nicht gelungen war, die Verbindung zwischen den „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vor 1939 und der „Teilnahme an der Verschwörung oder dem gemeinsamen Plan“ zu beweisen, berücksichtigte er in seiner Entscheidung über das Strafmaß in erster Linie jene „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ beziehungsweise Verbrechen gegen die Juden, die in die Zeit des Krieges fielen.45 Allerdings setzten sich gerade die sowjetischen Richter, die an einer möglichst umfassenden Bestrafung der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Elite des NS-Staates interessiert waren, für die stärkere Berücksichtigung jener Handlungen der Angeklagten bei der Bestimmung des Strafmaßes ein, die in die Zeit vor 1939 fielen, darunter der Verbrechen an den Juden. In dieser Hinsicht bezeichnend war die Argumentationsweise des sowjetischen Richters, des Oberstleutnants der Justiz Aleksandr Volþkov, bei der Diskussion über das Urteil für Heß: Als Unterzeichner der Nürnberger Gesetze habe sich Heß der Ermordung von Millionen Juden, das heißt der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, schuldig gemacht.46 Die Urteilsschrift des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses ging in gleichzeitig mehreren Abschnitten, darunter in einem besonderen Abschnitt „Die Judenverfolgung“, auf den Massenmord ein, wobei sie die Vernichtung der Juden in der Sowjetunion als einen besonderen Fall in dessen Geschichte darstellte.47 Tabelle 3 zeigt das Urteil in den Sachen einzelner Angeklagter. Außerdem stellte das Urteil die Schuld der für „verbrecherisch“ erklärten Gruppen und Organisationen des NS-Deutschlands, des „Korps der politischen Leiter der NSDAP“, der Gestapo und des SD sowie der SS, nicht jedoch des OKW und des Generalstabs, an der Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung fest.48 Die sowjetischen Richter, Generalmajor der Justiz Iona Nikitþenko und Volþkov, setzten ihre Unterschrift unter das Urteil. Laut Artikel 26 des Londoner Statuts war dieses Urteil des IMT nicht anfechtbar.

43 Vgl. dazu auch Arkadij Poltorak, Njurnbergskij process. (Osnovnye pravovye problemy.), Moskau 1966, S. 220. 44 Bradley F. Smith, Der Jahrhundert-Prozeß. Die Motive der Richter von Nürnberg. Anatomie einer Urteilsfindung, Frankfurt am Main 1979, S. 165. 45 Vgl. Urteil, in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. November 1945 – 1. Oktober 1946, Bd. 1, S. 189–387, hier S. 285f.; siehe dazu Marrus, The Holocaust at Nuremberg, S. 176, 180. 46 Siehe dazu Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 646. 47 Siehe dazu: Urteil, S. 200, 277–283, 299. 48 Siehe die einzelnen Urteile in: Urteil, S. 280–382.

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Anschließend sprach sich jedoch Generalmajor Nikitþenko in seinem mit Moskau abgestimmten Sondervotum gegen Teile des Urteils aus.49 Als er gegen den Freispruch einiger Angeklagter wie Schacht, Fritzsche und von Papen, gegen die aus seiner Sicht zu milden Strafen für weitere Angeklagten (wie Heß) sowie gegen die Nichtverurteilung der Reichsregierung, des OKW und des Generalstabs der Wehrmacht als „verbrecherisch“ plädierte, führte er als Argument für ein höheres Strafmaß ihre Verwicklung in die Verbrechen an den Juden ins Feld.50 OHLENDORF IN DER „PRAVDA“ Zwischen November 1945 und Oktober 1946 berichtete die Zeitung „Pravda“ im Zusammenhang mit dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess über 80-mal über NS-Verbrechen an den Juden. Die öffentliche Repräsentation des Holocaust machte aus diesem historischen Ereignis eine kulturelle und gesellschaftliche Tatsache. Dabei stand hinter der neuen Quantität der Berichterstattung eine neue Qualität. Selbstverständlich war die Darstellung des Prozesses in der „Pravda“ in vielerlei Hinsichten durch den mustergültigen Herrschaftsdiskurs verformt. In ihrem Bestreben, den Prozess im sowjetischen Welt- und Geschichtsbild zu verankern, war sie zweifellos simplifizierend und beschrieb dieses Schlüsselereignis nach dem Muster der Schauprozesse der 1930er Jahre, was das IMT in der Wirklichkeit nicht war. Zuweilen artete sie zu einer Machtdemonstration der stalinistischen Partei- und Staatsführung aus, die Berichte führten eine abstrakte, pauschale und pathetische Anklage gegen den Faschismus, denn deren Verfasser beschuldigten, bewiesen und verurteilten. Auch richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf die Ankläger und Richter als Hauptakteure des Prozesses und Inkarnationen des Guten, gleichzeitig jedoch ebenso auf die Angeklagten als ihre faszinierend „bösen“ Gegenspieler, die für die „Pravda“-Journalisten zum Gegenstand einer „negativen Faszination“ wurden. Die Opfer der NS-Vernichtungspolitik verdienten kein vergleichbares Interesse der sowjetischen Journalisten. Dennoch trug das zentrale Presseorgan der Partei im Rahmen der Prozessberichterstattung zu einer umfassenden, allseitigen, und ihre Ubiquität, Quantität, Systematik und historischer Verortung angemessene Thematisierung des Massenmords – vor allem auf dem Territorium der UdSSR – bei (Tabelle 2). Am 19. Oktober 1945 druckte „Pravda“ die Anklageschrift ab, wobei sie ausführliche Zitate aus dem Abschnitt zum Anklagepunkt „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ brachte. Jeder „Pravda“-Leser konnte darin die Sätze finden: „Diese Verfolgungen richteten sich gegen die Juden“; „die Juden wurden in

49 Der Text des Sondervotums „Abweichende Meinung des sowjetischen Mitglieds des internationalen Militärgerichtshofes“ ist abgedruckt in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. November 1945 – 1. Oktober 1946, Bd. 1, S. 387–411. 50 Siehe jeweils: Abweichende Meinung, S. 394, 395, 398f., 401, 404, 410f.

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1945/46 – A frozen „turning point“? TABELLE 3: DER NS-MASSENMORD AN JUDEN IM PROZESSURTEIL

Göring Heß Ribbentrop Keitel Kaltenbrunner Rosenberg Frank Frick Streicher Funk Sauckel Jodl Seyß-Inquart Speer von Neurath Ley Bormann von Schirach Raeder Dönitz Schacht von Papen Fritzsche

1 I X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X X

II X X X X X X

III X X X X X X X X

X X X X X X X

X X X X X X X X

X X X X

X X X

IV X X X X X X X X X X X X X X X X X X

X

2 I X X X X

3 II X X X X

III X

IV X

4

X

Todesstrafe Lebenslänglich X X X Todesstrafe X X Todesstrafe X X X Todesstrafe X X X X X Todesstrafe X X X Todesstrafe X X X X Todesstrafe X X Todesstrafe X X X X Lebenslänglich X X Todesstrafe X X X X Todesstrafe X X X X Todesstrafe X X 20 Jahre X X X X X 15 Jahre Kein Urteil, da Selbstmord begangen X X X Todesstrafe X X 20 Jahre X X X Lebenslänglich X X 10 Jahre Freispruch Freispruch Freispruch

Quellen: Angeklagte, Anklagepunkte und Urteile, in: Smith, Der Jahrhundert-Prozeß, S. 335; Tabelle 91: Urteile des Internationalen Militärgerichtshofes, in: Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 1142. In der Tabellenüberschrift stehen: 1 – für Anklage, 2 – für Urteil, 3 – für Teilnahme an antijüdischen Maßnahmen als erkennbarer Faktor bei der Urteilsfindung, 4 – für Strafmaß. Die römischen Ziffern stehen für die Anklagepunkte: I – Gemeinsamer Plan oder Verschwörung, II – Verbrechen gegen den Frieden, III – Kriegsverbrechen, IV – Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Deutschland und in allen besetzten Ländern massenweise vernichtet“.51 In den täglich erscheinenden, umfangreichen und detaillierten offiziellen Prozessberichten sowie in den Reportagen und Skizzen der beim Prozess anwesenden sowjetischen Journalisten, mit denen die Zeitung im darauf folgenden Jahr ihre Leser belieferte, war der Holocaust eines der Hauptthemen. Wenige Ausgaben nach dem Abdruck der Anklageschrift ließ sie den amerikanischen Nebenankläger Walsh zu Wort kommen: „Eine besondere Grausamkeit legten die Hitlerführer gegenüber der jüdischen Bevölkerung an den Tag.“52 Sie ließ keinen Zweifel darüber beste51 K sudebnomu processu nad glavnymi voennymi prestupnikami. Meždunarodnyj voennyj tribunal. Obvinitel’noe zakljuþenie, in: Pravda, Nr. 250, 19. Oktober 1945, S. 2–3. 52 Process glavnych voennych prestupnikov v Njurnberge, in: Pravda, Nr. 297, 15. Dezember 1945, S. 3.

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hen, dass die Vernichtung der Juden als total angelegt gewesen war. Sie zitierte den amerikanischen Hauptankläger Jackson, der meinte, von 9 000 000 Juden, die auf dem von den Deutschen besetzten Territorium Europas wohnten, seien 60 % vernichtet worden.53 Schließlich beschrieb sie, unter Bezugnahme auf Dokumente der sowjetischen Anklage, den Massenmord auf dem sowjetischen Territorium seit 1941. In ihrem Abdruck der Rede des sowjetischen Hauptanklägers Roman Rudenko gab sie auch seinem Satz wieder: „Eine besondere Stellung unter den unerhörten Gräueltaten der Hitleristen hat ihre blutige Abrechnung mit den slawischen und jüdischen Völkern.“54 Als Beweis zitierte die „Pravda“ aus den Berichten der Einsatzgruppen, gab die Vernehmung von Otto Ohlendorf wieder, der als Leiter der Einsatzgruppe D die Ausrottung der jüdischen Bevölkerung in der Südukraine anführte, brachte wiederholt Opferstatistiken zu einzelnen Orten in der Sowjetunion sowie zu den meisten osteuropäischen Ländern.55 Weder zuvor noch danach war eine vergleichbare öffentliche Berichterstattung möglich. Gerade darin, und nicht nur in der Thematisierung der Katastrophe, lag die Besonderheit der öffentlichen Repräsentation des Prozesses. Auf diese Weise wurde ein erster – und vorläufig letzter Schritt – zum gesellschaftlichen Lernprozess hinsichtlich des Holocaust in der sowjetischen Gesellschaft getan, zu seiner Verankerung in ihrem kollektiven Gedächtnis. KEIN WORT, KEIN BILD – KEIN EREIGNIS? SOWJETUNION UND DER HOLOCAUST NACH NÜRNBERG 1952 fand in der Sowjetunion der Gerichtsprozess gegen die führenden Mitglieder des EAK statt. Zwölf von ihnen wurden unter anderem für die Mitarbeit im Redaktionsgremium des „Schwarzbuches“ zu Tode verurteilt. Der Prozess symbolisierte den Höhepunkt einer Politik, mit der bereits während des Hauptkriegsverbrecherprozesses begonnen worden war: die Politik der Verurteilung und Verfolgung der Thematisierung der Singularität des NS-Massenmords an den Juden in der Öffentlichkeit und des Einsatzes für eine Institutionalisierung des kollektiven Gedenkens daran als Ausdruck des jüdischen „bourgeoisen Nationalismus“.56 Sie war ein Auswuchs des stalinistischen Verschwörungsdenkens, der allgemeinen Xenophobie des beginnenden Kalten Krieges sowie der nationalitätenpolitischen Restauration dieser Jahre. Vorbei war es mit dem in den 1930er Jahren auf dem Höhenpunkt der sozialistischen Nationalbildung verkündeten „Aufblühen der sowjetjüdischen Nation“: Jetzt favorisierte man im Kreml die „jüdische Assimilation“. Was die sowjetische Partei- und Staatsführung vor allem verhindern wollte, 53 Process glavnych voennych prestupnikov v Njurnberge, in: Pravda, Nr. 51, 1. März 1946, S. 4. 54 Process glavnych voennych prestupnikov v Njurnberge. Vstupitel’naja reþ’ Glavnogo obvinitelja ot SSSR, tov. R.A. Rudenko, in: Pravda, Nr. 35, 10. Februar 1946, S. 4ff., hier S. 4. 55 Process glavnych voennych prestupnikov v Njurnberge. Vstupitel’naja reþ’ Glavnogo obvinitelja ot SSSR, tov. R.A. Rudenko, in: Pravda, Nr. 3, 4. Januar 1946, S. 6. 56 Siehe dazu Al’tman, Opfer des Hasses, S. 490–494.

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war, dass der Holocaust die „jüdische Opfer- und Märtyrerrolle in der Geschichte“ bestätigte und eine staatenübergreifende, gemeinsame nationale Identität der Juden auf der ganzen Welt stiftete. Was sie jedoch erreichte, war nicht nur die Zerstörung der Kontinuität der historischen Erinnerung an den Holocaust in der UdSSR – es war auch die moralische Verurteilung der Juden und ihre Ausgrenzung aus der sowjetischen Gesellschaft als Schicksalsgemeinschaft der Kriegsopfer, in der diese Leiden und Martyrien als symbolisches Kapital die Machtposition in Staats- und Gesellschaftshierarchie legitimierten. Von dieser Wende in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre unbetroffen war die nach außen getragene, offizielle sowjetische Haltung zum Holocaust. Im außenpolitischen Interesse erkannte man den Massenmord als einen besonderen Teil der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik an.57 Seit den 1950er Jahre versuchte die Sowjetunion, für die die Bestrafung der Kriegsverbrecher, auch der Mittäter im Holocaust, stets ein Politikum blieb, im internationalen Rahmen darauf Einfluss zu nehmen, wie zum Beispiel 1963–1965 im ersten Auschwitz-Prozess.58 Im Inneren der Sowjetunion standen jedoch die politischen Zeichen im Umgang mit dem Holocaust Ende der 1940er Jahre auf Sturm. Das zeigte sich bereits in der Anfangsphase der Rezeptionsgeschichte des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses. Zwar enthielt bereits die erste, zweibändige Edition der Prozessakten einige Schlüsseldokumente zur Geschichte der NS-Vernichtungspolitik an der jüdischen Bevölkerung, wie die Zeugenaussagen von Ohlendorf. Doch sie verschwand schon in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre aus der öffentlichen Erinnerung an den Prozess. Das zeigt der sowjetische Film „Das Gericht der Völker“, Stalin-Preisträger des Jahres 1947.59 Wie der sowjetische Beweisfilm beim Prozess wurde auch diese Dokumentation unter maßgeblicher Beteiligung von Roman Karmen produziert. Man findet in dem aus Fragmenten der deutschen „Wochenschauen“, Kriegsaufnahmen der sowjetischen Kameraleute und Karmens eigenen Originalaufnahmen im Nürnberger Gerichtssaal zusammengeschnittenen Kompilationsfilm, der den Anspruch erhob, eine authentische Reportage über den Internationalen Gerichtshof zu sein, weder einen Hinweis auf den NSMassenmord an den Juden noch auf dessen Behandlung vor dem Nürnberger Tribunal. In seinem Bild des Hauptkriegsverbrecherprozesses, das er für Generationen sowjetischer Bürger bewahrte, gab es diesen Massenmord nicht einmal als ein kurzes Fragment. Wurde der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess – da er in der Sowjetunion langfristig gesehen keine politische Anerkennung des NSMassenmords an den Juden, keine öffentliche Berichterstattung darüber, keine Maßnahmen zu dessen Memoralisierung und historischen Aufarbeitung einleitete – zum frozen „turning point“?

57 Siehe dazu ebd., S. 492. 58 So stellte die sowjetische Seite im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess dem Gericht Beweismaterial zur Verfügung. 59 Siehe dazu Antipow, Verlust des Bildes.

DIE ABSCHOTTUNG DER STÄDTE IM JAHRE 1956: SOWJETISCHE GESCHICHTE ALS URBANISIERUNGSGESCHICHTE Thomas M. Bohn Der 20. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956 erregte durch das Bekanntwerden von Nikita S. Chrušþevs Geheimrede „Über den Personenkult und seine Folgen“ die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Chrušþev öffnete einem kulturpolitischen „Tauwetter“ die Tore und erlangte dadurch den Nimbus eines Vordenkers der Perestrojka. Realiter intendierte „Entstalinisierung“ á la Chrušþev nicht nur eine Restauration des Leninismus, sondern auch eine Stabilisierung des bestehenden Herrschaftssystems.1 Eine wesentliche Voraussetzung hierfür war die Bändigung der sowjetischen „Treibsandgesellschaft“ (Moshe Lewin), mithin die Kontrolle der Migrationsströme, die für die Fluktuation an den Arbeitsplätzen und die Tradierung dörflicher Werte verantwortlich waren.2 Der von westlichen Sowjetologen wenig rezipierte Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU, den Chrušþev vor dem 20. Parteitag verlas, hält diesbezüglich fest: „Die Frage der Verbesserung der Wohnverhältnisse in solchen Großstädten wie Moskau, Leningrad, Kiev usw. hängt auf das engste mit dem Bevölkerungszuwachs zusammen, der durch den Zuzug aus anderen Teilen des Landes erfolgt.“ Unter dem Beifall der Parteitagsdelegierten zog Chrušþev daraus weitreichende Konsequenzen: „Deshalb muß man Schluß machen damit, Arbeitskräfte aus anderen Gegenden in die Städte zu holen, und muß den entstehenden Bedarf der großen Städte an Arbeitskräften aus der dort ansässigen Bevölkerung decken.“3 Nahezu unbemerkt verwiesen der sowjetische Geograph Boris S. Chorev und der emigrierte Soziologe Victor Zaslavsky Mitte der siebziger und Anfang der achtziger Jahre auf die Tatsache, dass Chrušþev mit seiner Forderung der Entstalinisierungspolitik eine gänzlich neue Dimension verliehen hatte. Denn die dauerhafte „‚Schließung‘ der Großstädte“ (‚zakrytie‘ gorodov) sollte die Entwicklung der

1 2 3

Vgl. Helmut Altrichter, Nikita Sergejewitsch Chruschtschow. Vom Karrieristen zum Kritiker des Stalinismus, in: ders. (Hg.), Persönlichkeit und Geschichte, Erlangen 1997, S. 193–229; William Taubman, Khrushchev. The Man and his Era, New York 2003. Vgl. Moshe Lewin, The Making of the Soviet System. Essays in the Social History of Interwar Russia, London 1985, S. 12–21; ders., The Gorbachev Phenomenon. A Historical Interpretation, Expanded Edition, Berkeley 1991, S. 13–42. Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XX. Parteitag. Referat vom Genossen N. S. Chruschtschow, dem Ersten Sekretär des ZK der KPdSU, gehalten am 14. Februar 1956, Berlin 1956, S. 101.

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Sowjetunion nachhaltiger bestimmen als das vorübergehende kulturpolitische „Tauwetter“ (ottepel’).4 Chrušþev sprach in seinem Rechenschaftsbericht nämlich ein Grundproblem des sozialistischen Weges in die Moderne an: Industrialisierung und Urbanisierung hatten sich in der Sowjetunion binnen weniger Jahrzehnte zu vollziehen. In der Folge offenbarten sich mannigfache Versorgungsengpässe, an deren Überwindung sich die Leistungsfähigkeit des Staates messen lassen musste. Letzten Endes wurden die Stabilität des Sozialgefüges und die Effizienz der Planwirtschaft durch eine exorbitante Landflucht in Frage gestellt. Wird die in den Modernisierungsschüben der dreißiger und der fünfziger Jahre nahezu schlagartig erfolgende Verwandlung eines Agrarlandes in einen Industriestaat in Betracht gezogen, ist die sowjetische Geschichte jenseits der demographischen Katastrophen und des stalinistischen Terrors als Urbanisierungsgeschichte zu lesen. Unter diesem Blickwinkel erfährt auch das ansonsten durch die Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes und die Wiederaufnahme der Kirchenverfolgung gekennzeichnete Schlüsseljahr 1956 eine adäquate Würdigung. Zweifelsohne trachtete der neue Parteiführer in seiner Geheimrede danach, seinen Machtanspruch zu legitimieren, indem er Stalin und Berija zu Sündenböcken stilisierte. Über die eigentliche Bedeutung der Entstalinisierung ließ sich Chrušþev jedoch erst in seinem allzu oft verkannten Rechenschaftsbericht aus. Es ging ihm nur mittelbar um die Ablösung des Personenkults durch das Prinzip der kollektiven Führung. Das wesentliche Ziel bestand darin, den Ansturm der ländlichen Bevölkerung auf die Städte zu bewältigen. Folgerichtig fungierten fortan die Begrenzung des Stadtwachstums und der Massenwohnungsbau als Patentrezepte für den Aufbau der kommunistischen Gesellschaft. Unter dieser Prämisse gilt es, Antworten auf die folgenden Fragen zu finden: Welche Spezifika wies die Urbanisierung im Zarenreich und der Sowjetunion auf? Handelte es sich bei der typischen vorrevolutionären Stadt um einen „Moloch aus Stein“ oder um ein „Großes Dorf“? Wie wurde das „Projekt sozialistische Stadt“ realisiert? Stand der Städtebau im Zeichen des Moskauer Generalplans oder im Zeichen des Mikrorayons? Warum war das „System der geschlossenen Städte“ erforderlich? Dehnte sich die urbane Lebensweise auf das flache Land aus oder trat eine Ruralisierung der urbanen Zentren ein? 1. „MOLOCH AUS STEIN“ ODER „GROSSES DORF“? Während im westlichen Europa die Stadtentwicklung seit dem Mittelalter durch ökonomische Interessen vorangetrieben wurde und die arbeitsteilige Differenzierung zur Herausbildung ständischer Korporationen und politischer Autonomie 4

B.S. Chorev, Problemy gorodov. (Urbanizacija i edinaja sistema rasselenija v SSSR), Moskau 21975, S. 78–87; Victor Zaslavsky, The Neo-Stalinist State. Class, Ethnicity, and Consensus in Soviet Society, Armonk 1982, with a new Introduction, Armonk 1994, S. 130– 164.

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führte, verschob sich der Antriebsfaktor in der Kiever Rus’ und im Moskauer Reich allmählich vom Fernhandel auf das sich in administrativen und militärischen Funktionen niederschlagende imperiale Interesse. Beeinflusst durch die autokratische Tradition, bedingt durch die territoriale Expansion und infolge der mit der Leibeigenschaft einhergehenden Bindung der Bauern an die Landumteilungsgemeinde (mir bzw. obšþina) blieben der Grad der Verstädterung und die Dichte des Siedlungsnetzes im Petersburger Imperium seit der Frühen Neuzeit weit hinter den westeuropäischen Verhältnissen zurück. Tatsächlich waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch ein Viertel aller Städte reine Agrarsiedlungen. Die Gesamtzahl der Städte betrug am Vorabend des Ersten Weltkrieges immerhin 932. Allerdings blieben Großstädte eher die Ausnahme. Über mehr als 100 000 Einwohner verfügten 1863 drei Städte, 1897 13 Städte und 1914 29 Städte.5 Mit einem die 80 %-Marke weit übersteigenden Anteil der ländlichen an der Gesamtbevölkerung blieb das Zarenreich bis zu seinem Untergang ein Agrarland. Die Stadtbewohner vermehrten sich absolut und in Relation zur Gesamtbevölkerung von 328 000 (3,0 %) im Jahre 1724 über 1,6 Mio. (4,1 %) im Jahre 1812, 6,1 Mio. (9,2 %) im Jahre 1878 und 16,3 Mio. (13,0 %) im Jahre 1897 auf 26,8 Mio. (15,0 %) im Jahre 1914. Dabei zeichnete sich eine Tendenz zur Verdichtung der Bevölkerung in den Großstädten ab. Während sich der Anteil der Stadtbevölkerung, der in Städten unter 20 000 Einwohnern lebte, zwischen 1782 und 1910 von 82,4 % auf 23,0 % verringerte, erhöhte sich der Anteil derjenigen, die in Städten über 100 000 Einwohner lebten, von 11,1 % auf 40,0 %. Aufs Ganze gesehen, blieb die sich auf ein rasantes städtisches Wachstum gründende „urbane Revolution“ (Daniel R. Brower) im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf wenige administrative und industrielle Zentren beschränkt.6 Städtewachstum, Verstädterung und Urbanisierung im Russischen Reich weisen daher einige Besonderheiten auf. Zum einen lässt sich der Prozess der Verstädterung nicht unmittelbar auf die Industrialisierung zurückführen. Fabriken und gewerbliche Unternehmen konzentrierten sich nicht unbedingt auf die Städte, sondern waren über das ganze Land verteilt. 1897 lebten 52 % der im Gewerbe und 61 % der in der Industrie Beschäftigten außerhalb von Städten. Lediglich in elf von 54 Städten mit über 50 000 Einwohnern waren mehr als 30 % der Beschäftigten im Gewerbe tätig. Zum anderen prägten Bauern das Bild der Städte in erheblichem Maße. 1897 gehörten 6,5 Mio. oder 38,8 % der städtischen Einwohner dem Bauernstand an. Der Anteil der „Saisonarbeiter“ (otchodniki), die ihre Familien vorübergehend im Dorf zurückgelassen hatten, belief sich auf ein Sechzehntel der berufstätigen Bevölkerung in den Städten. Ferner ist auf die ethnische 5

6

Vgl. Michael F. Hamm (Hg.), The City in Russian History, Lexington 1976; ders., The City in Late Imperial Russia, Bloomington 1986; Guido Hausmann (Hg.), Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Selbstverwaltung, Assoziierung und Geselligkeit in den Städten des ausgehenden Zarenreichs, Göttingen 2003. Vgl. Thomas Stanley Fedor, Patterns of Urban Growth in the Russian Empire During the Nineteenth Century, Chicago 1975.

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Dominanz der Russen in Städten außerhalb des traditionellen großrussischen Siedlungsgebietes hinzuweisen. In diesen Regionen blieben die Angehörigen der Titularnation der agrarischen Tätigkeit auf dem Land verhaftet. 1897 waren die ukrainischen Städte nur zu einem Drittel von Ukrainern, die weißrussischen Städte gar nur zu einem Sechstel von Weißrussen bewohnt. Schließlich äußerten sich als Folge der rudimentären Urbanisierung Defizite auf dem Gebiet der politischen Kultur. Städtische Gruppen, die auf eine Emanzipation der Gesellschaft vom Staat drängten, gewannen erst nach der Jahrhundertwende an Einfluss. Angesichts der Tatsache, dass sich städtebauliche Investitionen auf das Zentrum beschränkten und an der Peripherie Holzhausviertel ohne jegliche Infrastruktur vorherrschten, legten auch die bedeutenderen Städte ihren von urbanen und ländlichen Lebenswelten geprägten dualen Charakter niemals ab. In der Regel glichen vorrevolutionäre Städte großen Dörfern. Während sich Investitionen auf das Zentrum beschränkten, dominierten an den Rändern Holzhausviertel ohne jegliche Infrastruktur. Der „Moloch aus Stein“, die „kapitalistische Stadt“ des Westens, fand im Zarenreich – von den Hauptstädten vielleicht abgesehen – keine Entsprechung. Eine Trennung zwischen Stadt und Land wurde im Moskauer Reich weder in rechtlicher noch in sozioökonomischer Hinsicht begründet. Bürgertum und Arbeiterklasse waren im ausgehenden Petersburger Imperium nur in Ansätzen vorhanden.7 Stadtplanung und Stadtsanierung sollten in der Sowjetunion daher auf irregeleiteten Projektionen beruhen. Den Bol’ševiki ging es um die Errichtung von Industriestädten und die Schaffung eines Proletariats. Nicht die Revitalisierung rudimentärer bürgerlicher Traditionen oder die Emanzipierung bis dato unselbständiger urbaner Subjekte standen auf der Tagesordnung, sondern die Nivellierung und Homogenisierung der Gesellschaft. Letzten Endes ging es um die Implementierung eines Gegenmodells zu London und Paris in die sowjetische Stadtlandschaft. 2. DAS PROJEKT „SOZIALISTISCHE STADT“ Angesichts der Tatsache, dass die Klassiker des Marxismus-Leninismus keine Stadtutopie entwickelt hatten, handelte es sich bei der „sozialistischen Stadt“ eher um ein Schlagwort als um einen Fachterminus. Karl Marx und Friedrich Engels begriffen die Großstädte ihrer Zeit als „Krisenherde“. Diese Phobie gegenüber der urbanen Welt prägte in der Folge die sozialistische Publizistik. Obgleich in der Sowjetunion Stadtplanung und Verstädterung unmittelbar mit der staatlich forcierten Industrialisierung in Zusammenhang standen, galt „Urbanisierung“ noch bis zum Zweiten Weltkrieg als Unwort, das sich nur auf die „kapitalistische Stadt“ anwenden lasse. Daraus erschlossen sich zwei Definitionen für die „sozialistische Stadt“, die in der Folge allerdings zu Klischees verkamen. Zum einen sollte der 7

Joseph Bradley, Muzhik and Muscovite. Urbanization in Late Imperial Russia, Berkeley 1985; Manfred Hildermeier, Bürgertum und Stadt in Russland 1760–1870. Rechtliche Lage und soziale Struktur, Köln 1986; Daniel R. Brower, The Russian City between Tradition and Modernity, 1850–1900, Berkeley 1990.

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für den Feudalismus und den Kapitalismus als signifikant erachtete, in Russland aber nie wirksam gewordene „Antagonismus zwischen Stadt und Land“ durch die Begrenzung des städtischen Wachstums und durch die Mechanisierung des Dorfes überwunden werden. Zum anderen implizierte die Losung „Sozialhygiene durch Auflockerung der Bebauung“ einen Bruch mit dem für die alteuropäischen Städte maßgeblichen Prinzip „Urbanität durch Dichte“.8 Historizität erlangte die „sozialistische Stadt“ auf zwei unterschiedlichen Gebieten: Der erste Komplex umfasst die in der Sowjetunion an der Wende von den zwanziger zu den dreißiger Jahren geführte Debatte zwischen den Anhängern einer kompakten Siedlungsweise, den Urbanisten, und den Fürsprechern einer linearen Siedlungsweise, den Desurbanisten, welche die Auflösung der Familie und die Realisierung kollektiver Lebensformen zum Inhalt hatte. Der zweite Komplex bezieht sich auf das einheitliche städtebauliche Leitbild im östlichen Europa, das nachhaltig von der dem Moskauer Generalplan von 1935 zugrunde liegenden Radial-Ring-Struktur geprägt wurde. Die dahinter stehenden Prinzipien („Grün, Luft, Licht“) und die damit verbundene zonale Gliederung der Stadt („Arbeit, Wohnen, Freizeit“) ließen sich allerdings weder aus dem Kommunistischen Manifest noch aus dem Parteiprogramm der KPdSU ableiten, sondern entsprachen eher der von den Protagonisten der „Kongresse für moderne Architektur“ (CIAM) 1933 verabschiedeten Charta von Athen. So gesehen gestaltete sich die „sozialistische Stadt“ weniger als marxistisch-leninistische Utopie denn als Projekt der Moderne.9 Architekturgeschichtlich lässt sich die Geburt der „sozialistischen Stadt“ mit den folgenden Schritten umschreiben: 1. Die Keimzelle bildete der „Socgorod“ (Abkürzung für „sozialistische Stadt“). Sein vom Konstruktivismus getragenes Konzept stützte sich auf Sachlichkeit und Rationalität. Es visierte die Schaffung des „neuen Menschen“ an. 2. Als Embryo entpuppte sich die „stalinzeitliche Stadt“, die Stadt des „sozialistischen Realismus“. Inspiriert durch den Klassizismus bestach sie durch Symmetrie und Monumentalität. Alle Zeichen waren auf die Unterordnung des Individuums unter die von der Führung vorgegebenen Verheißungen ausgerichtet. 3. Am Ende erblickte die eigenartige Kreatur der „sowjetischen“ oder „kommunistischen Stadt“ das Licht der Welt. Ein neuer Funktionalismus diktierte Bewegung und Rhythmus. Die Progapierung des technischen Fortschritts diente als Wechsel auf eine glückliche Zukunft. Egalisierung und Homogenisierung der Gesellschaft wurden vorgegaukelt. Stadttypologisch sind im Endeffekt die folgenden Merkmale einer „sozialistischen Stadt“ heranzuziehen: a) die Gestaltung des städtischen Raumes ohne Rücksichtnahme auf die Eigentumsverhältnisse, b) die Strukturierung der Stadt durch geradlinige Magistralstraßen 8 9

Vgl. R.A. French / F.E. Ian Hamilton (Hg.), The Socialist City. Spatial Structure and Urban Policy, Chichester 1979; Henry W. Morton / Robert C. Stuart (Hg.), The Contemporary Soviet City, Ann Arbor 1984. Vgl. Helmut Altrichter, „Living the Revolution”. Stadt und Stadtplanung in Stalins Russland, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 57–75; Harald Bodenschatz / Christiane Post (Hg.), Städtebau im Schatten Stalins. Die internationale Suche nach der sozialistischen Stadt in der Sowjetunion 1929–1935, Berlin 2003.

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und markante Hochhäuser, c) die Errichtung monumentaler Verwaltungs- und Regierungsviertel im Zentrum, d) die Anlage öffentlicher Plätze mit zeremonialem Charakter, e) die Eröffnung von Kultur- und Erholungsparks mit sozialistischen Denkmälern, f) der Bau von Wohngebieten aus identischen Einheiten, g) die Herausbildung sozialer Segregation in Abhängigkeit von der mit Patronageund Klientel-Verhältnissen in Zusammenhang stehenden Wohnungsverteilung, h) das weitgehende Fehlen von Suburbanisierung und Agglomeration.10 Nachdem in den dreißiger Jahren eine Preisgabe utopischer Lebensentwürfe erfolgt war, erlebte die „sozialistische Stadt“ in konzeptioneller Hinsicht eine Metamorphose, in deren Folge nicht mehr der Inhalt, das heißt die Organisation des Alltags im Sinne des Menschen, den Ton angab, sondern nur noch die Form, das heißt der Ausbau der Infrastruktur im Interesse der Produktion. Maßnahmen zur Lösung der Wohnungsfrage wurden daher erst nach Stalin ergriffen. In diesem Zusammenhang verschob sich das Herz der „sozialistischen Stadt“ vom repräsentativen Zentrum zum Mikrorayon, zur sozialistischen Siedlung mit Kleinwohnungen in Plattenbauten und Dienstleistungseinrichtungen in Fußnähe. Anspruch und Wirklichkeit der „sozialistischen Stadt“ drifteten jedoch zunehmend auseinander. Einerseits entbehrte das Versprechen des Parteiprogramms von 1961, jede Familie mit einer Wohnung zu versorgen, in der Praxis jeglicher Grundlage. Andererseits untergrub die Bevölkerungsdynamik bei weitem die Planziffern, welche von 200 000 Einwohnern als idealer Stadtgröße ausgingen.11 3. DAS „SYSTEM DER GESCHLOSSENEN STÄDTE“ Vor dem Hintergrund der forcierten Industrialisierung verwandelte sich die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg in ein „Land von Großstädten“ (Chauncey Harris). Die Zahl der Städte mit über 100 000 Einwohnern vermehrte sich von 32 im Jahre 1926 über 146 im Jahre 1959 auf 309 im Jahre 1989; diejenige der Millionenstädte erhöhte sich im selben Zeitraum von 3 auf 23. Insgesamt gesehen durchlief die Sowjetunion einen Verstädterungsprozess, der in seinen Ausmaßen in der europäischen Geschichte ohne Beispiel ist. Die Stadtbevölkerung vergrößerte sich absolut und in Bezug zur Gesamtbevölkerung von 26,3 Mio. (17,9 %) im Jahre 1926 über 56,1 Mio. (32,9 %) im Jahre 1939 und 100,0 Mio. (47,9 %) im Jahre 1959 auf 188,8 Mio. im Jahre 1989 (65,8 %). Je nach dem industriellen Entwicklungsgrad verlief der Modernisierungsprozess in den einzelnen Sowjetrepubliken phasenverschoben. Die 50 %-Marke, die der Verstädterungsgrad auf Unionsebene 1962 erreichte, überschritten Estland 1952, Lettland 1954, die 10 Vgl. Alexej Tarchanow / Sergej Kawtaradse, Stalinistische Architektur, München 1992; Peter Noever (Hg.), Tyrannei des Schönen. Architektur der Stalin-Zeit, New York 1994; R. Antony French, Plans, Pragmatism and People. The Legacy of Soviet Planning for Today’s Cities, London 1995. 11 Vgl. James H. Bater, The Soviet City. Ideal and Reality, London 1980; Gregory D. Andrusz, Housing and Urban Development in the USSR, London 1984.

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RSFSR 1958, Armenien 1959, die Ukraine 1965, Azerbajdžan 1968, Litauen und Kazachstan 1970, Georgien 1976 und Weißrussland 1978. Allerdings erlangten bis zum Untergang der Sowjetunion lediglich Estland, Lettland und die RSFSR die 70 %-Marke, die in der Forschung gemeinhin als Ausdruck einer urbanen Gesellschaft erachtet wird. Von 1926–1989 erhöhte sich der Anteil der in Großstädten mit mehr als 100 000 Einwohnern lebenden Stadtbevölkerung von 36,1 % auf 60,6 %; der Anteil der in Millionenstädten lebenden Stadtbevölkerung stieg in den Jahren 1959–1989 von 9,1 % auf 21,8 %.12 Zur Regulierung der Binnenwanderung standen der politischen Führung zwei Mechanismen zur Verfügung: die Registrierung der Bevölkerung (1) und die Dezentralisierung der Industriestandorte (2): 1. Die Einführung der Inlandspässe in den Städten und Grenzgebieten der Sowjetunion Anfang der 1930er Jahre stand in unmittelbarem Zusammenhang mit der Verfolgung der während der Zwangskollektivierung als Kulaken (wörtl. „Fäuste“) bezeichneten Mittelbauern. Theoretisch sollte die Eintragung eines „Meldestempels“ (propiska) in die Personalpapiere sowohl eine Erfassung der Bevölkerung als auch ihre Bindung an den Wohnort gewährleisten. Realiter wurde damit die Landflucht zwar eingeschränkt, keineswegs aber verhindert. Als wirksames Instrument zur Begrenzung des Stadtwachstums fungierte das so genannte Passregime signifikanterweise erst nach Stalins Tod. Seit Oktober 1953 war die Aufenthaltserlaubnis in Großstädten für Neusiedler an den Nachweis einer Wohnfläche gebunden, die einer sanitären Norm von 9 m2 pro Kopf in Wohnhäusern, von 6 m2 pro Kopf in Studenten-Wohnheimen und von 4,5 m2 pro Kopf in Arbeiter-Wohnheimen entsprach. Angesichts der allgemeinen Wohnraumknappheit blieb diese, in verschiedenen Großstädten unterschiedlichen Erhöhungen unterliegende Norm in der Praxis für Zuwanderer unerschwinglich. 2. Um der Anziehungskraft der Ballungszentren zu begegnen, wurden darüber hinaus bereits im Laufe der 1930er Jahre in den bedeutendsten Großstädten sukzessive die Ansiedlung neuer Fabriken und die Ausweitung bestehender Betriebe staatlicherseits verboten. Als der sowjetischen Bevölkerung nach dem 20. Parteitag das 1940 entzogene Kündigungsrecht wieder zugestanden wurde, entstand im Interesse einer rationellen Verteilung der Arbeitskräfte erneut Handlungsbedarf. Im Anschluss an Chrušþevs Rechenschaftsbericht untersagte die Staatliche Planungsbehörde (Gosplan) noch im Jahre 1956 quasi allen Städten mit über 200 000 Einwohnern den Ausbau ihrer Industrieanlagen. Alles in allem schufen das rigide Meldeverfahren und die Maßnahmen zur Begrenzung des städtischen Wachstums ein latentes „System geschlossener Städte“. Jedoch sorgten der Arbeitskräftebedarf der Betriebe und der Studienaufenthalt an 12 Vgl. Chauncey D. Harris, Cities of the Soviet Union. Studies in Their Function, Size, Density, and Growth, Chicago 1970; Georgij M. Lappo / Fritz W. Hönsch, Urbanisierung Russlands, Berlin 2000; A.S. Senjavskij, Urbanizacija Rossii v XX veke. Rol’ v istoriþeskom processe, Moskau 2003.

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Fachhochschulen und Universitäten neben dem Pfusch in den Behörden oder den Missbräuchen auf dem Wohnungsmarkt immer wieder dafür, dass junge Leute am Rande der Legalität den Weg vom Land in die Stadt fanden.13 Sozial gesehen evozierte das Passregime eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, indem es die Landbevölkerung in eine „zweite Leibeigenschaft“ trieb. Die Mitglieder der „Kollektivwirtschaften“ (kolchozy) blieben bis in die zweite Hälfte der siebziger Jahre de jure an die Scholle gebunden, weil ihnen die Ausgabe eines Passes verwehrt wurde und ein Arbeitsplatzwechsel von der Zustimmung des Kolchozvorsitzenden abhing. Weil sich das Leben in der Großstadt zu einem Standesprivileg entwickelte, welches für die Entstehung eines Subproletariats verantwortlich war, das sich aus den von Betrieben mit Zeitverträgen und befristeten Aufenthaltserlaubnissen ausgestatteten „Kontingentarbeitern“ (limitþiki) rekrutierte, verdient das Modell der „wohnortbedingten Schichtung“ (Victor Zaslavsky) in der Sowjetunionforschung mehr Beachtung. Hinsichtlich des Einkommens, des Warenangebots, der Bildungseinrichtungen, des Gesundheitswesens und der Freizeitmöglichkeiten gab es eine abfallende Linie von der Haupt- und Großstadt über die Mittel- und Kleinstadt bis zum Dorf. Segregation innerhalb des Wohnortes resultierte unmittelbar aus dem Wohnungsmangel und den damit in Zusammenhang stehenden Verteilungskämpfen. Als Bestimmungsfaktoren lassen sich die Qualität und die Lage des Wohnhauses mit den entsprechenden Lebensbedingungen heranziehen. Die Bausubstanz kennzeichnete nicht nur das private Holzhaus oder das staatliche Mietshaus aus solidem Mauerwerk respektive marodem Plattenbau, sondern stand auch für die Abstufung vom primitiven Gehöft zur komfortablen Neubauwohnung. Darüber hinaus determinierten die Wohnverhältnisse, deren Spannweite von der Untervermietung bis zum Wohnheimplatz reichte, die Spielräume für die Ausübung sozialer Kontrolle einerseits und den Rückzug ins Private andererseits.14 4. ZUSAMMENFASSUNG Abschließend ist festzuhalten, dass die Bol’ševiki zweifellos den Anspruch vertraten, mit der „sozialistischen Stadt“ über einen Gegenentwurf zur „kapitalistischen Stadt“ zu verfügen. Paradoxerweise verkehrten sie dabei die einzige auf Marx und Engels zurückgehende Parole ins Gegenteil. Anstatt für die Begrenzung des Stadtwachstums und die Mechanisierung des Dorfes zu sorgen, schufen sie durch 13 Vgl. Mervyn Matthews, The Passport Society. Controlling Movement in Russia and the USSR, Boulder 1993; Thomas M. Bohn, Das sowjetische System der geschlossenen Städte. Meldewesen und Wohnungsmangel als Indikatoren sozialer Ungleichheit, in: Friedrich Lenger / Klaus Tenfelde (Hg.), Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert. Wahrnehmung – Entwicklung – Erosion, Köln 2006, S. 373–385. 14 Zaslavsky, The Neo-Stalinist State, S. 139–141. Vgl. auch Graham Smith, Privilege and Place in Soviet Society, in: Gregory Derek / Rex Walford (Hg.), Horizons in Human Geography, Houndmills 1989, S. 320–340; Thomas M. Bohn, Minsk – Musterstadt des Sozialismus. Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945, Köln 2008, S. 254.

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die Zwangskollektivierung und den Inlandspass einen bis dato unbekannten Antagonismus zwischen Stadt und Land. Obgleich oder gerade weil die Kolchozmitglieder von einer „zweiten Leibeigenschaft“ betroffen waren, konnte sowohl in den 1930er als auch in den 1950er und 1960er Jahren eine massenhafte Landflucht nicht verhindert werden. Um dem Wachstum der Großstädte entgegenzuwirken, forderte Chrušþev auf dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 zwar eine rationelle Verteilung der Industrie und eine Regulierung der Migrationsströme. Das zivilisatorische Gefälle zwischen Stadt und Land und die rechtliche Abschottung der Städte sorgten aber dafür, dass sich die jungen Leute an die den sowjetischen Normen zuwiderlaufende Devise „Stadtluft macht frei“ hielten. Daher vermochte das „System der geschlossenen Städte“ dem Zuzug in die urbanen Zentren zwar einen Riegel vorzuschieben, wegen der Findigkeit der Migranten beileibe aber nicht alle Schleusen abzudichten.15 Vor diesem Hintergrund vollzog sich mit Stalins Tod in städtebaulicher Hinsicht ein konzeptioneller Übergang von der kompakten Stadt zur funktionellen Stadt, vom Gesamtkunstwerk zur Produktionsstätte. Gleichzeitig verlagerte sich der Schwerpunkt der Stadtplanung vom Zentrum auf den Mikrorayon, von der Herrschaftsrepräsentation auf den Wohnungsbau. Auf dieser Grundlage begann unter Chrušþev ein Wandel der urbanen Lebensform von der „Wohngemeinschaft“ (kommunalka) zur abgeschlossenen Kleinwohnung. Die Interaktion von Stadtsowjets und Betrieben, die Verschränkung von Aufenthaltsberechtigung und Wohnungsvergabe, führte zunehmend dazu, dass sich die sowjetische Gesellschaft über Patron-Klientel-Verhältnisse und durch eine wohnortbedingte Schichtung strukturierte. So gesehen führte das Jahr 1956 in doppelter Hinsicht zu einer Wende in der sowjetischen Geschichte: Die vorübergehende Öffnung der Gesellschaft war von einer dauerhaften Abschottung der Städte begleitet. Das Unterlaufen der Zensurbestimmungen durch die „Untergrundliteratur“ (samizdat) der Dissidenten und das Unterminieren der Aufenthaltsbeschränkungen durch die „Petitionen“ (žaloba) der kleinen Leute sollten in der Folge für eine Aushöhlung des sowjetischen Herrschaftssystems sorgen. Damit rückt die Frage auf die Tagesordnung, ob die geschlossenen Städte eigendynamisch zivilgesellschaftliche Eigeninitiative provozierten.

15 Vgl. Thomas M. Bohn, „Sozialistische Stadt“ versus „Europäische Stadt“. Urbanisierung und Ruralisierung im östlichen Europa, in: Comparativ, 2008, 18, S. 71–86.

JANUAR 1986: SPANIENS BEITRITT ZU DEN EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN Walther L. Bernecker Der 1. Januar 1986 war ein kalter, klarer Wintertag. Wie jedes Jahr hatten die Spanier bis weit in die Silvesternacht gefeiert, und entsprechend ruhig ging es am Vormittag des 1. Januar auf den Straßen der Städte zu. Erst um die Mittagsstunde füllten sich die Kneipen und Cafés wieder. Das war so wie jedes Jahr. Einen erheblichen Unterschied gab es allerdings zu den Neujahrstagen der vergangenen Jahre: Seit einigen Stunden war Spanien Mitglied der EG, und viele Gespräche drehten sich an diesem ersten Tag des Jahres 1986 um die Frage, was die europäische Mitgliedschaft dem Land südlich der Pyrenäen bringen würde. Zwar hatten die Spanier diesen Tag wie kaum einen anderen herbeigesehnt; zugleich aber mischte sich in ihre vielfältigen Hoffnungen, die sie mit dem EG-Beitritt verbanden, ein weit verbreitetes Unbehagen und Bangen vor einer ungewissen Zukunft. HOFFNUNGEN UND BEFÜRCHTUNGEN IN ZUSAMMENHANG MIT DEM EG-BEITRITT Als Ende März 1985 nach langwierigen Verhandlungen die letzten Hürden für einen EG-Beitritt Spaniens und Portugals beseitigt waren, atmeten vor allem die Vertreter der iberischen Staaten auf. Rein quantitativ nahm sich die Erweiterung imposant aus: Die um Spanien und Portugal erweiterte EG wurde zum größten Markt der westlichen Welt und die mit Abstand größte Handelsmacht der Erde. Über 30 % des Bruttosozialprodukts aller westlichen Industrieländer wurden in EG-Europa erarbeitet. Zu den zuvor 272 Millionen Einwohnern kamen weitere 48 Millionen dazu; zusammen war das mehr als jede der beiden Supermächte USA und UdSSR hatten. Alle im spanischen Parlament vertretenen Parteien, die Gewerkschaften und der Arbeitgeberverband begrüßten die in Brüssel erzielte Einigung.1 Die meisten Politiker äußerten sich zufrieden, dass Spanien schließlich nach 25 Jahre währenden Bemühungen den Anschluss an die Europäischen Gemeinschaften erreicht hatte. Selbst der Generalsekretär der kommunistisch gepräg1

Die folgenden Einschätzungen sind der spanischen und der deutschen Tagespresse der Jahre 1985/86 entnommen. Zur „Stimmung“ 1985 in Zusammenhang mit der Perspektive der Süderweiterung der EG vgl. auch Werner Weidenfeld, Die Bilanz der europäischen Integration 1985. Das Ende der Strukturreformen?, in: Jahrbuch der Europäischen Integration, 1985, S. 13–27.

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ten Gewerkschaft Arbeiterkommissionen (Comisiones Obreras), Marcelino Camacho, beurteilte im Großen und Ganzen den bevorstehenden EG-Beitritt Spaniens positiv – wenn er auch einschränkend hinzufügte, dass er und seine Genossen eigentlich „dieses Europa der Händler“ so nicht gewollt hatten. Die Regierung Felipe González gab sich euphorisch, der Sprecher der konservativen Oppositionspartei Volksallianz (Alianza Popular) sprach von einem „Fest für alle Spanier“. Die großen Madrider Zeitungen „El País“ und „ABC“ räumten ihre gesamten Titelseiten und mehrere Seiten im Innern der Blätter für das Brüsseler Beitrittsabkommen ein. Allerdings zeigten sich nicht alle gesellschaftlichen Kräfte von der erzielten Lösung begeistert. Proteste kamen vor allem von Bauern und Fischern. Die asturischen Landwirte sprachen vom Ruin der spanischen Milcherzeugung. Auf der kanarischen Insel Tenerife kam es zu Demonstrationen von Landwirten und Viehzüchtern. Die baskischen Bauern bezeichneten die wirtschaftliche Existenz von 500 000 Höfen als gefährdet. Ganzseitige Anzeigen füllten in Nordspanien die Regionalzeitungen, in denen die verheerenden Folgen für den Milch- und Fleischsektor beschrieben wurden, wenn die EG mit ihrer Überschussproduktion auf den spanischen Markt drängte. Land auf, Land ab klagten die Bauern die Zentralregierung in Madrid an, ihre Interessen vernachlässigt zu haben, um auf anderen Sektoren von der EG Zugeständnisse zu erhalten. Konservative Kreise kritisierten schon bei der Vertragsunterzeichnung, Ministerpräsident Felipe González habe sich zu sehr auf den 1. Januar 1986 als Beitrittsdatum festgelegt und wichtige spanische Wirtschaftsinteressen geopfert, um mit dem Beitrittsvertrag einen Trumpf für die Parlamentswahlen im Herbst 1986 präsentieren zu können. Der damalige Staatssekretär für die Beziehungen Spaniens zur EG und spätere Finanzminister Pedro Solbes zeigte sich unmittelbar vor dem Beitritt Spaniens „besorgt“; viele Bürger äußerten die Befürchtung, dass „alles teurer“ werde – schon allein deshalb, weil Spanien mit dem Eintritt in die EG die Mehrwertsteuer einführen musste. Die jahrzehntelang durch Zollgrenzen geschützten Unternehmer mussten sich auf heftige internationale Konkurrenz einstellen. Zwar sah der Beitrittsvertrag Übergangszeiten vor, bis die letzten Zollmauern für EG-Produkte fielen. Ob aber die sieben Jahre, die etwa für Industrieprodukte vorgesehen waren, für die Modernisierung der spanischen Wirtschaft ausreichen würden und ob die Vorteile, die der spanische Agrarsektor aus dem Beitritt ziehen würde, die Bedrohung der Industrie aufwiegen konnte, wagte in Madrid niemand vorherzusagen. Die Wirtschaft jedenfalls klagte, der Vertrag sei unausgewogen; es sei beispielsweise ein schwerer Fehler gewesen, für die spanischen Zitrusfrüchte eine Übergangszeit von zehn Jahren zu akzeptieren, bis sie zollfrei in die EG eingeführt werden könnten. Schwere Zeiten befürchtete vor allem Spaniens Norden, nachdem die dortigen Milcherzeuger kaum der Konkurrenz Frankreichs und Deutschlands würden standhalten können. Große Verluste standen zu erwarten, nachdem auch die Erleichterung des Exports nach Portugal die Einbußen kaum ausgleichen würde. Das Baskenland, Asturien und Galicien befürchteten ernsthafte Einschränkungen für ihre Fischerei, denn von den 300 Fischkuttern, die für „Europa“ lizensiert werden

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sollten, durften nur 150 gleichzeitig ihre Netze im Gemeinschaftsmeer auswerfen. Vom Fischereisektor hingen allein in Spanien (mittelbar und unmittelbar) rund 700 000 Personen ab – in der gesamten EG waren es nur 600 000. Auf spanischen Schiffen arbeiteten damals 110 000 Fischer, in der gesamten EG waren es mit 120 000 nur geringfügig mehr. Die spanische Fischereiflotte brachte rund 70 % der Tonnage der gesamten EG-Fangflotte auf die Waage. Hinzu kam, dass die EG den Zugang der Spanier zu den Gemeinschaftsgewässern und die Fangquoten ständig verringert hatte. In der Schlussphase der Verhandlungen hatte sich gezeigt, dass die wirtschaftlichen Konsequenzen und die Kosten der Aufnahme der zwei iberischen Länder erheblich unterschätzt worden waren. Was sieben Jahre zuvor, als Spanien und Portugal ihre Aufnahmeanträge stellten, noch eine lösbare Aufgabe zu sein schien, war Mitte der 80er Jahre unter veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen nur sehr viel schwieriger zu schaffen. Die Gemeinschaft lebte am Rande der finanziellen Auszehrung. Die für die Aufnahme der iberischen Länder vorgesehene Erhöhung der Finanzmittel von 1986 an würde in starkem Maße zur Aufrechterhaltung der bestehenden Zehnergruppe in Anspruch genommen werden müssen. Es fehlten somit die Mittel, die zusätzlichen Belastungen zu tragen. Die Angelegenheit wurde dadurch erschwert, dass nicht alle Mitgliedstaaten gleichermaßen daran interessiert waren, Spanien und Portugal in der EG zu haben. Für die Bundesrepublik und mehrere andere europäische Staaten war es von Anfang an ein vorrangig politisches Ziel gewesen, die von den autoritären Regimen befreiten Länder durch Einbeziehung in die Gemeinschaft demokratischer Staaten zu unterstützen. Für andere EG-Mitgliedsländer aber war Spanien ein übermächtiger Konkurrent, der die eigenen Absatzchancen für bestimmte Agrarprodukte gefährdete. Das galt insbesondere für Frankreich, Italien und Griechenland. Die südfranzösischen Bauern, die italienischen Winzer und die griechischen Landwirte sahen ihre Existenz gefährdet und übten gewaltigen Druck auf ihre jeweiligen Regierungen aus, Schaden von ihnen abzuwenden. Durch die Erweiterung um Spanien nahm nämlich allein die landwirtschaftliche Nutzfläche der EG um 30 % zu, die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe um 32 %, die Erzeugung von Gemüse um 25 %, die von frischem Obst um 50 %, die Produktion von Olivenöl gar um 59 %. Dabei waren die Möglichkeiten, die eine intensive Bewässerung der spanischen Böden mit sich bringen könnte (wie sie später auch tatsächlich, vor allem in den Provinzen Murcia und Almería, praktiziert wurde), noch nicht berücksichtigt. Die letzten Verhandlungsrunden der Zehn waren ohne Spanien und Portugal vonstatten gegangen. Die EG-Mitglieder waren ganz und gar damit beschäftigt, um die Bedingungen zu feilschen, unter denen die iberischen Länder aufgenommen werden konnten. Einige benahmen sich dabei so, dass mitunter der Verdacht auftauchte, sie trieben ihre Forderungen bewusst hoch, um das Beitrittsunternehmen zum Scheitern zu bringen. Mögliche Risiken sollten ohnehin auf die gemeinsame EG-Kasse abgewälzt werden, in die Deutschland am meisten einbezahlte. Bald wurde klar, dass die ursprünglichen Kostenberechnungen für die Neuaufnahmen überholt waren.

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In den Jahren 1985/86 – so viel lässt sich zusammenfassend sagen – waren die Meinungen im Hinblick auf die Erweiterung der Gemeinschaft sowohl in Spanien als auch in den EG-Staaten ausgesprochen disparat. Die Ambivalenzen bezogen sich primär auf ökonomische Aspekte, auf die Frage, wer aus dem Beitritt der iberischen Staaten Nutzen ziehen und wer Schaden davontragen würde. Der EGBeitritt Spaniens wurde aber keineswegs nur unter wirtschaftlichen Fragestellungen betrachtet. Seit Jahrzehnten beschäftigte die Spanier die Beziehung ihres Landes zu „Europa“ auf das intensivste, wobei unter „Europa“ keineswegs nur (oder primär) die „Wirtschaftsgemeinschaft“ verstanden wurde. Von alters her blickten die Spanier auf Europa nördlich der Pyrenäen und charakterisierten die Differenz ihres Landes zu dem sich rapide entwickelnden Kontinent immer wieder dichotomisch als Rückständigkeit versus Fortschritt. Ende des 19. Jahrhunderts sollte die dichotomische Interpretation erneut voll durchschlagen: VON DER 1898ER KRISE ZUM BÜRGERKRIEG Auslöser war der Verlust der letzten spanischen Überseekolonien (Kuba, Puerto Rico, Philippinen) im Krieg von 1898 gegen die USA. Wohl kein zweites Ereignis wirkte sich auf die weitere Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert nachhaltiger aus als der Verlust dieser letzten Kolonien. Es ging dabei keineswegs nur um das Ende Spaniens als Kolonialmacht; der koloniale Niedergang wurde vielmehr bereits von Zeitgenossen als Zusammenbruch des politischen Systems, von vielen Systemvertretern gar als eine Art finis Hispaniae gedeutet; die vielzitierte spanische „Dekadenz“ und der „Verlust der Größe Spaniens“ erhielten in der Kriegsniederlage von 1898 ihren symbolhaften Ausdruck. Schlagartig wurde Intellektuellen und Politikern deutlich, dass Spanien an einem Tiefpunkt angelangt war und politisch ebenso wie geistig und moralisch grundlegende Änderungen vorgenommen werden mussten. Dabei wurde von vielen spanischen Beobachtern schnell ein Zusammenhang zwischen den historisch, kulturell und religiös bedingten Unterschieden in der Einstellung zu „modernen“ Werten, zu Rationalität und Fortschritt auf der einen Seite und dem Zusammenbruch des „Weltreiches“ auf der anderen Seite hergestellt und als Aufeinanderprallen der angelsächsisch-germanischen mit der lateinisch-romanischen „Rasse“ gedeutet, wobei letztere materiell und geistig dem „nördlichen“ Zivilisationskreis unterlegen sei, möglicherweise die „Fähigkeit zur Moderne“ gänzlich entbehre. Das Erwachen aus dem imperialen Traum löste in Spanien eine gewaltige Bewegung aus, die teils geistig-literarisch, teils politisch-reformerisch orientiert war. Philosophen und Schriftsteller erblickten Spanien in einer tiefen Krise, aus der entweder die Rückbesinnung auf das „wahre Wesen“ oder die „Europäisierung“ des Landes herausführen konnten. Die nationale Hoffnungslosigkeit der „Generation von 1898“ (La generación del 98) führte allerdings zu den unterschiedlichsten Zukunftsvisionen, Zielprojektionen und politischen „Ratschlägen“. Im Spannungsfeld zwischen Regeneration durch Besinnung auf die eigenen Werte

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oder durch eine kritische Öffnung nach Europa lassen sich Widersprüche und Gemeinsamkeiten der „98er“ erfassen.2 Auch für die Generation von 1898 gilt, dass ihre nationale Selbstbesinnung und Selbstkritik als Funktion ihres Verhältnisses zu Europa gesehen werden müssen, dass Europa zumeist den Maßstab allen Handelns und Denkens abgab. Dabei kommt die Zerrissenheit des Landes sowohl in Anbetracht der Katastrophe von 1898 als auch im Hinblick auf die Europa gegenüber einzunehmende Haltung in den extrem voneinander abweichenden Stellungnahmen der 98er zum Ausdruck: sei es im antieuropäisch-isolationistischen Rezept von Angel Ganivet3 oder in der frühen Europabegeisterung Ramiro de Maeztus, sei es in den Schwankungen Miguel de Unamunos zwischen Europäisierung Spaniens und Hispanisierung Europas, sei es schließlich in den differierenden politischen Stellungnahmen der Spanier zu den verschiedenen Seiten im Ersten Weltkrieg. Zu den Erben der 98er Generation gehörte auch José Ortega y Gasset (1883– 1955), dessen gesonderte Erwähnung insofern gerechtfertigt erscheint, als er wie kaum ein zweiter Spanier im 20. Jahrhundert die „Europäisierung“ Spaniens und den Anschluss des Landes an den „Fortschritt“ Westeuropas gefordert hat. Gründe für diese Forderung gab es, Ortega y Gasset zufolge, mehr als genug, war er doch der Meinung: „Die ganze Geschichte Spaniens […] ist die Geschichte einer Dekadenz gewesen.“ Insbesondere die letzten drei Jahrhunderte waren nur „Schlaf, Verblödung, Egoismus“.4 Dabei kam der Kulturphilosoph als Sprachrohr des europäisierenden Traditionsbewusstseins den Interessen der spanischen Bourgeoisie entgegen. 1914 hielt Ortega y Gasset seinen berühmten Vortrag über „alte und neue Politik“, in dem er ein „vitales, aufrichtiges, rechtschaffenes“ Spanien einem „offiziellen Spanien“ gegenüberstellte, „das darauf beharrt, die Gesten eines abgeschlossenen Zeitalters zu verlängern.“ Dabei prophezeite er: „Ein ganzes Spanien – mit seinen Regierenden und Regierten –, mit seinen Missbräuchen und Bräuchen, liegt im Sterben.“5 Die Abrechnung mit der Heuchelei der alten Politik fand 1921 in Ortegas Essay „Spanien ohne Rückgrat“ (España invertebrada) statt; die Forderung nach Regenerierung an europäischen Vorbildern mündete allerdings in eine elitär gefärbte „Germanisierungsthese“. Vor allem aufgrund seines Essays „Der Aufstand der Massen“ (La rebelión de las masas) wurde der Philosoph als Herold der Einigung Europas gefeiert, der schon früh die Möglichkeiten der wirtschaftlichen Integration des Kontinents erkannt habe. Einschränkend muss hinzugefügt werden, 2

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Zum spanischen Schwanken zwischen Abkehr von und Hinwendung zu Europa im 19. und 20. Jahrhundert vgl. die verschiedenen Beiträge in Teresa Pinheiro (Hg.), Iberische EuropaKonzepte. Nation und Europa in Spanien und Portugal seit dem 19. Jahrhundert, Berlin 2009. Angel Ganivet, Obras completas, Bd. I, Idearium español (1897), Madrid 1933, S. 139–151; deutsche Übersetzung von F. Attl in: Hans Hinterhäuser (Hg.), Spanien und Europa. Texte zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, München 1979, 229f. Hier zitiert nach: Pedro Laín Entralgo, España como Problema, Madrid 1948, S. 113 bzw. Ernst R. Curtius, Kritische Essays zur europäischen Literatur, Bern 1950, S. 250. José Ortega y Gasset, Obras completas, Bd. 1, Madrid 1943, S. 91.

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dass Ortegas Rolle als Prophet einer europäischen Einigung schon in zeitgenössischer Perspektive viel bescheidener gesehen wurde; vor allem erblickte der elitäre Ortega angesichts der Bedeutung von Faschismus und Kommunismus für Europa nur dann eine Hoffnung, „wenn das Schicksal des Kontinents wahrhaft ‚zeitgemäßen‘ Menschen anvertraut würde, die ihr Herz am Puls der Vergangenheit hätten“.6 Der politische Konsens, von dem die Zweite Spanische Republik in den 30er Jahren getragen wurde, war äußerst brüchig. Die Reformpolitiker wollten einen laizistischen und liberalen Staat schaffen, der den bürgerlichen Vorstellungen Ausdruck verlieh. Erstrebt wurde daher eine demokratische Verfassung, eine Militärreform, die Beschränkung der Macht der Kirche, eine Bildungsreform. Die Durchführung dieser Reformmaßnahmen hatte sowohl eine soziale als auch eine ideologische Polarisierung im Land zur Folge. Die Agrarreformen und der laizistische Staat wurden von der grundbesitzenden Oligarchie bzw. von der Kirche als frontaler Angriff auf ihre säkularen Rechte verstanden; das „traditionale“ und das „moderne“ Modell standen sich unversöhnlich gegenüber. Da das parlamentarische System den traditionellen Eliten keine Mechanismen zur Bewahrung ihrer privilegierten Position an die Hand gab, rekurrierten sie auf das Militär zur gewaltsamen Wiederherstellung ihrer vordemokratischen Stellung. Der Bürgerkrieg von 1936 besiegelte sodann das Scheitern des modernisierend-“europäisierenden“ Reformismus. In der franquistischen Zone wurde die Rückkehr zu Strukturen ideologischer und sozialer Beherrschung der Restaurationsära erstrebt. Es ging nicht nur um die Beendigung der Revolution, die in der republikanischen Zone um sich gegriffen hatte, sondern um die endgültige Eliminierung des Erbes der liberalen Tradition. Erstrebt wurde die Rückkehr zu Strukturen ideologischer und sozialer Beherrschung der Restaurationsära, somit des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Darin sahen die Sieger den eigentlichen Sinn des Bürgerkrieges, dessen Ergebnis zu einem sofortigen Ende der Modernisierungsimpulse der Zweiten Republik und zu einer Abwendung von Europa führte. Der Sieg des nationalistischen Lagers unter Franco – ein Sieg, der ohne die massive faschistische Unterstützung aus Deutschland und Italien nicht hätte errungen werden können – war auch eine Niederlage der europäischen Kultur und ihrer freiheitlichen Traditionen. POLITISCHER SONDERWEG UND WIRTSCHAFTLICHE EUROPÄISIERUNG IM FRANQUISMUS Der Ausgang des Bürgerkrieges sollte das spanisch-europäische Verhältnis jahrzehntelang prägen und jenen „Sonderweg“ bedingen, den das franquistische Spanien bis in die 60er Jahre hinein propagierte. Hatte im Bürgerkrieg die Linke die Hoffnung gehegt, Spanien als zweites sozialistisches Land der Geschichte installieren zu können, so machte die Rechte bewusst die glorreiche spanische Vergan6

Martin Franzbach, Die Hinwendung Spaniens zu Europa. Die generación del 98, Darmstadt 1988, S. 139.

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genheit zum Leitstern ihrer Bestrebungen. Die franquistische Propaganda setzte fortan Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus und Freimaurerei – die modernisierungswilligen und Europa zugewandten Kräfte der Zweiten Republik – mit dem ewigen „Antispanien“ gleich, verkündete die konservative Ideologie vom einmaligen Sonderweg Spaniens und seiner kreuzfahrerischen Mission in der Zeit der Säkularisierung und der Ausbreitung des Sozialismus und machte nahezu alle Modernisierungsmaßnahmen des vorangegangen Jahrfünfts rückgängig. Franco selbst bezeichnete sein Regime als eine „Rückkehr zu den ureigensten Elementen des spanischen Wesens“, die in den Jahrzehnten des großen weltpolitischen Aufbruchs Spaniens unter den Katholischen Königen die Geschichte bestimmten. Die bewusste „Abkoppelung“ der politischen Entwicklung Spaniens von den westlichen Gesellschaften und die Betonung spanischer Geschichte und Tradition als Grundlage des „Neuen Staates“ stellten fortan Charakteristika der ideologischen Argumentationsstruktur Francos dar.7 Politisch und ökonomisch schlug Spanien nach Bürgerkrieg und Weltkrieg somit einen „Sonderweg“ ein, der teils freiwillig gewählt war, teils von außen auferlegt wurde. Der in den 60er Jahren von den Regime-Propagandisten zur Lockung sonnenhungriger Mittel- und Nordeuropäer entwickelte Tourismusslogan „Spanien ist anders“ stellte auch ein bewusst vorgetragenes ideologischpolitisches Selbstbekenntnis dar. Der politische Sonderweg, der das franquistische Spanien von der westeuropäischen Entwicklung unterschied, sollte bis zum Tode des Diktators beibehalten werden: Hatte Franco bereits wenige Wochen nach Beendigung des Bürgerkrieges programmatisch Spaniens Beziehungen zur Außenwelt als Defensivhaltung gegen eine weltweite Verschwörung charakterisiert, so sollte das Regime von dieser Grundeinschätzung nie abweichen. 1961 schrieb Admiral Carrero Blanco, der engste Vertraute Francos, in einem vertraulichen Brief an den damaligen Außenminister Fernando María de Castiella: „Die drei Totalitarismen [der Kommunistischen Internationale, der Sozialistischen Internationale und der Freimaurerischen Internationale] verfolgen zwar unterschiedliche Endziele, aber alle drei – die im Geistlichen atheistisch sind und im politischen Bereich die Welt zu beherrschen versuchen – haben das gemeinsame Ziel, die Regime beiseitezuschaffen, die, wie das unsrige (katholisch, antisozialistisch, antikommunistisch, antikapitalistisch und bis aufs letzte unabhängig), ihrer Beherrschungsstrategie widerstehen.“8

Und 1975, noch wenige Wochen vor seinem Tod, machte Franco abermals eine „linke freimaurerische Verschwörung in Gemeinschaft mit terroristischer kommunistischer Subversion“ für die Feindschaft des Auslandes seinem Regime gegenüber verantwortlich. Wie sehr das repressive System des Franquismus den „europäischen“ Werten entgegenstand, lässt sich schon der Tatsache entnehmen, dass in jenen Jahren das Nachdenken der spanischen Intellektuellen über Europa zumeist ein Plädoyer für 7 8

Archiv der Gegenwart, 13. Mai 1943, S. 5935. Vgl. auch E. Ramón Arango, The Spanish Political System: Franco’s Legacy, Boulder 1978, S. 111–120. Hier zitiert nach: Angel Viñas, Apertura exterior y modernización democrática, in: España, Francia y la Comunidad Europea, Madrid 1989, S. 265–277, hier S. 270.

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eine Öffnung des Landes war. Europa wurde zum Maßstab, und der Hinweis auf diese europäische Vielfalt zur Kritik an der aufgezwungenen politischen und kulturellen Uniformität Spaniens. Der Bezug auf Europa war (direkt oder verklausuliert) Ausdruck von Diskonformität und Perspektive ermutigender Hoffnung auf Freiheit und Demokratie. Die Vision war nicht auf wirtschaftliche Besserstellung, sondern auf soziale, politische und kulturelle Entwicklung gerichtet. Dass das in seiner Frühphase stark faschistisch inspirierte Regime politisch bis 1975 überleben konnte, hing mit zwei Faktoren zusammen: In der gefährlichsten Phase, zwischen 1945 und 1950, verstand es Franco, sich geschickt der veränderten Weltsituation anzupassen und die Konjunktur des Kalten Krieges zu nutzen; und als sein Regime ungefähr zehn Jahre später als Folge der Autarkiepolitik vor dem ökonomischen Kollaps stand, vollzog die Regierung eine wirtschaftspolitisch radikale Kehrtwendung und entschied sich für ökonomische Liberalisierung und Öffnung nach Europa. Eine wesentliche Rolle für die Zunahme an internationaler Akzeptanz des Franco-Regimes spielten der Katholizismus und die damit eng verknüpfte Abendland-Ideologie. Seit Beginn des Bürgerkrieges war die katholische Amtskirche eine tragende Säule des neuen Regimes, die nach 1939 zur innenpolitischen Gegnerin der Falange wurde und nicht unerheblich dazu beitrug, dass der „Neue Staat“ nicht vollständig faschisiert wurde. Nach dem Bürgerkrieg gaben Einheit und Katholizität dem staatlichen Gefüge Festigkeit, sie wurden zur Legitimationsinstanz des politischen Regimes. Die Bischöfe und die katholische Presse lobten Franco in theologisch-messianischen Tönen als Retter der Nation, Verteidiger der christlichen Zivilisation und Vorkämpfer religiös-kirchlicher Rechte, der das Reich Gottes in Spanien wiederherstellen würde. Dieser Ideologie zufolge war die aus dem Krieg hervorgegangene katholische Restauration die Verwirklichung des Gottesreiches auf Erden; darin lag letztendlich der tiefste Grund, der die Legitimation des Regimes durch die Kirche erklärt.9 Der Katholizismus war es, der nach 1945 im Ausland den Gedanken der Vorbildlichkeit Spaniens für eine europäische Neuordnung belebte und bei der konservativen Grundgestimmtheit der 50er Jahre wesentlich zur Aufwertung des franquistischen Regimes beitrug. Spanien wurde wieder bruchlos in die christliche Einheit Europas eingeordnet, die Wallfahrt nach Santiago de Compostela als Bindeglied abendländischer Gemeinschaftsidee verherrlicht, der Gedanke der europäischen Einheit und die Idee des christlichen Abendlandes gleichgesetzt. Die internationale Ächtung Spaniens sollte durch die Berufung auf eine mittelalterliche, religiöse Reichsidee und Sendung überspielt werden; Spaniens Europäertum wurde herausgestellt.10 Seit Beginn der 50er Jahre stieg Spanien zum Partner und Verbündeten europäischer Staaten auf; in Büchern wurde auf die physischen und moralischen Reserven Spaniens hingewiesen. Reinhold Schneider verkündete 1953 in der Zeitung „Christ und Welt“ unmissverständlich: „Spanien gehört zu 9 Vgl. etwa die Ausführungen in der Jesuitenzeitschrift Razón y Fe, 1939, 498/499, S. 235ff. 10 Dietrich Briesemeister, Spanien in der deutschen Essayistik und Zeitungsberichterstattung, in: Hispanorama, 1988, Nr. 50, S. 83–90 (dort die folgenden und weitere Belege).

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Europa.“ Das Land war als Verteidiger der Universitas Christiana, als antikommunistischer „Vorposten des Abendlandes“ längst von den europäischen Staaten wieder aufgenommen worden, als das Franco-Regime politisch noch von internationalen Gremien ausgeschlossen bleiben musste. Die Regierungsumbildung von 1957, durch die zum ersten Mal Vertreter des Opus Dei in das Kabinett aufgenommen wurden, stellte einen grundlegenden Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik, eine Veränderung der Entscheidungs- und Lenkungsmechanismen auf wirtschaftlichem Gebiet und den Erwerb einer neuen Legitimitätsbasis für das autoritäre Regime dar. Durch starke Betonung des Arbeits- und Pflichtethos erlangte die Opus-Doktrin im Spanien der 60er Jahre große Bedeutung für die Überlagerung vorkapitalistischer Strukturen und Einstellungen durch eine kapitalistische Wirtschaftsgesinnung. Das Opus Dei forcierte die wirtschaftliche Modernisierung des Landes auf Kosten politischer Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. Der wirtschaftliche Aufschwung der 60er Jahre zog gewaltige Veränderungen im sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Bereich nach sich. Die Demographie nahm immer ausgeprägter die Muster entwickelter Industrienationen an: Erhöhung der Lebenserwartung, Nachlassen der Geburtenhäufigkeit, Anwachsen der älteren Bevölkerung, Rationalisierung des generativen Verhaltens. Die Wanderungsbewegungen führten zu hochgradiger Verdichtung der spanischen Bevölkerung in wenigen Provinzen, zu gewaltigen Verschiebungen im Siedlungsgefüge und in deren Gefolge zu einer hohen Urbanisierungsrate. Die Erwerbsstruktur passte sich mit ihrem Übergewicht an Beschäftigten im tertiären und sekundären Bereich gegenüber der Landwirtschaft weitgehend der anderer Industriegesellschaften an. Im Gefolge der Industrialisierung und Arbeitsplatzspezialisierung nahm die Professionalisierung und intergenerative Berufsmobilität in nahezu allen Bereichen deutlich zu. Die Alphabetisierung erreichte Quoten, die in etwa jenen der entwickelten Industrienationen entsprachen. Bildungspolitisch waren die Jahre nach 1960 ein Übergang von einem zuvor noch massiven Analphabetentum zu einer soziokulturellen Differenzierung. Die Familienstruktur entwickelte sich immer deutlicher auf die sogenannte Kernfamilie hin, die Erwerbsquoten der Frauen stiegen rasch. Das Wertesystem (Einstellung zur Ehescheidung, Sexualität, Emanzipation) war fundamentalen Wandlungen unterworfen; der reale Säkularisierungsprozess der Bevölkerung schritt weit voran; Leistung und Erfolg zählten bald zu den „positiven“ Werten in der spanischen Gesellschaft. Hatte das Regime notgedrungen unter der jahrzehntelang wiederholten Devise „Spanien ist anders“ die These der radikalen Inkompatibilität der politischen Institutionen Spaniens und der kulturellen Werte des Landes mit dem restlichen Europa zu einer offiziösen Metaphysik hochstilisiert und die Distanz von wirtschaftlichen wie ideologischen Modellen westlicher Demokratien betont, so war diese bewusste Distanzierung in den 60er Jahren bereits einer deutlichen Annäherung an den Westen auf dem Gebiet der Wirtschaft und der Konsummentalität gewichen. In vielerlei Hinsicht widersprach damit das Ergebnis der franquistischen Politik den ursprünglichen Intentionen: Am Ende der Franco-Herrschaft war die spanische Gesellschaft politisierter, urbanisierter und säkularisierter denn je, die Ar-

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beiter und Studenten waren so aufsässig wie noch nie, die Autonomie- und Selbständigkeitsbewegungen der Regionen ausgeprägter als zu jedem anderen Zeitpunkt der neueren spanischen Geschichte, Sozialisten und Kommunisten bei den ersten Wahlen nach Francos Tod erfolgreicher als je zuvor, die spanische Wirtschaft finanziell und technologisch vom internationalen Kapital in geradezu beängstigendem Ausmaß abhängig. Nie zuvor in seiner Geschichte dürfte Spanien wirtschaftlich und sozial so „europäisch“ gewesen sein wie im Übergang zur Demokratie nach dem Ende des autoritären Regimes. DER LANGE WEG IN DIE EUROPÄISCHE GEMEINSCHAFT Spanien mag zwar am Ende der Franco-Ära ökonomisch und sozial weitgehend europäisiert gewesen sein; politisch befand es sich allerdings nicht in der Europäischen Gemeinschaft, obwohl seine Bemühungen um engeren Anschluss an die EWG weit zurück reichten. Bis zur Unterzeichnung der Römischen Verträge (1957) hatte Spanien der europäischen Integrationsbewegung kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Erst nach Gründung der EWG handelte die spanische Regierung, die eine interministerielle Kommission einsetzte und 1962 selbst einen Beitrittsantrag an die EWG richtete. Brüssel reagierte auf den damaligen Assoziierungsantrag mit dem Ziel der Vollmitgliedschaft ausgesprochen zurückhaltend, nachdem eine wesentliche Voraussetzung für die Mitgliedschaft – eine demokratische Grundordnung – in Spanien fehlte. Erst 1970 schlossen die EWG und Spanien schließlich ein PräferenzHandelsabkommen ab, nachdem jahrelange und schwierige Verhandlungen vorausgegangen waren, bei denen Spanien zuerst eine Antwort auf sein Beitrittsgesuch von 1962 verlangte, sodann sich mit Gesprächen über ein Handelsabkommen zufrieden gab, dessen Aushandlung sich mehrere Jahre hinzog.11 Parallel zu den politischen und wirtschaftlichen Aktivitäten der 60er Jahre begannen die spanischen Intellektuellen eine kulturelle Europa-Debatte, die von Julián Marías’ europäischem Entwurf bis hin zur ungestümen Europa-Kritik Juan Goytisolos reichte. Die überwiegende Begeisterung für die europäische Integration wurde bei den spanischen Intellektuellen auch von der Kritik am eigenen, nicht-demokratischen und somit „nicht-europäischen“ System gespeist. Bestehen blieb bis zum Ende der Franco-Ära der Widerspruch zwischen der politischen Aufrechterhaltung der dichotomischen Weltbetrachtung – im Ausland lauern die Feinde Spaniens! – und der ökonomischen Öffnung nach Europa und damit zu

11 Zu den ersten Annäherungsversuchen Spaniens an die EWG Ende der 50er / Anfang der 60er Jahre (und der dabei von den USA gespielten Rolle) vgl. Antonio Marquina Barrio, La primera aproximación a las comunidades europeas, in: España, Francia y la Comunidad Europea, S. 125–143.

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eben jener politisch so leidenschaftlich abgelehnten Welt; diese Öffnung führte nicht zu einer demokratischen Modernisierung im Innern.12 Als in der Übergangszeit nach Francos Tod die außenpolitischen Weichenstellungen vorgenommen wurden, stand Spanien vor der Entscheidung, ob es sich stärker an (West-) Europa anlehnen, ob es die außereuropäische, vor allem die lateinamerikanische und die nordafrikanische Karte spielen, oder ob es sich eine blockfrei-neutralistische Ausrichtung geben sollte. Mit der Übergabe des offiziellen Beitrittsgesuchs am 28. Juli 1977 vollzog das inzwischen demokratische Spanien die eindeutige Hinwendung zu Europa. Im gleichen Jahr noch wurde der iberische Staat in den Europarat aufgenommen, zwei Jahre später unterzeichnete Madrid die Europäische Menschenrechtskonvention.13 Als von spanischer Seite 1977 der erneute Beitrittsantrag gestellt wurde, geschah dies im Bewusstsein, eine historische Weichenstellung vorzunehmen. In Spanien setzte eine neue Phase der Diskussion über Europa ein: Die erhoffte EGMitgliedschaft wurde mit Rückkehr zur „Normalität“ und in das „gemeinsame Haus“ Europa, mit wirtschaftlicher Modernisierung, mit Verhinderung einer politischen Involution gleichgesetzt. Der Beitritt zur Gemeinschaft sollte – so der Christdemokrat Joaquín Ruiz Giménez – zu einer „offeneren, dynamischeren und professionelleren Mentalität“ führen, die Perspektiven erweitern, die Innovationsbereitschaft stärken. Für Spanien stellte der Beitritt primär ein politisch erwünschtes Ziel dar, für das es bereit war, ökonomisch einen Preis zu zahlen; mit der Beitrittsfrage standen die spanische Würde, die Anerkennung durch die Europäer und die Ebenbürtigkeit Spaniens zur Diskussion. Die Öffnung Spaniens nach Europa und die zunehmende Akzeptanz durch Europa auf der einen sowie der Prozess des innerspanischen Wandels auf der anderen Seite bedingten sich gegenseitig. Es bestand somit eine Korrelation zwischen dem inneren Demokratisierungsprozess und dem Bestreben, die außenpolitische Isolierung aufzubrechen.14 Als während der Beitrittsverhandlungen von seiten der Gemeinschaft wirtschaftliche Fragen überbetont wurden und nahezu ausschließlich von Agrarpreisen und Lieferkontingentierungen die Rede war, wo die Antragsteller eine politische Stellungnahme und kollektive Illusion erwarteten; als es nicht mehr um die hohen Ideale eines gemeinsamen „Projektes Europa“, sondern nurmehr um für alle Vertragspartner möglichst günstige Austauschbeziehungen für Orangen, To12 Stefan A. Musto, Spanien und die Europäische Gemeinschaft. Der schwierige Weg zur Mitgliedschaft, Bonn 1977. 13 Zur Außenpolitik nach 1975 vgl. Gerlinde Freia Niehus, Außenpolitik im Wandel. Die Außenpolitik Spaniens von der Diktatur Francos zur parlamentarischen Demokratie, 2 Bde., Frankfurt am Main 1988, sowie die eher konventionelle Überblicksdarstellung von José Mario Armero, Política Exterior de España en Democracia, Madrid 1989. Zum Verhältnis SpanienEG und den Erwartungen zum Zeitpunkt von Francos Tod vgl. die Sondernummer Spanien des Forum Europa, 1975, H. 7/8. 14 Zum Zusammenhang zwischen Demokratisierung und intendierter Integration Spaniens in die EG in der Phase der Transition (1975–1982) vgl. Julio Crespo MacLellan, La política española hacia la Comunidad Europea, 1975–1982, in: Javier Tusell et al. (Hg.), La política exterior de España en el siglo XX, Madrid 1997, S. 557–572.

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maten, Automobile oder Videorecorder ging, begannen die Spanier, zwischen Europa und der EG einen Unterschied zu machen.15 Europa war mehr und etwas anderes als die Europäische Gemeinschaft. Vor allem unter den Intellektuellen fand erneut eine intensive Diskussion statt, die von der vorbehaltlosen Zustimmung zu Europa als geistig-moralischer Idee bis hin zur skeptischen Ablehnung eines von supranationalen Wirtschaftsinteressen beherrschten und dem westlichen Militärbündnis angegliederten Vereins reichte.16 Im Verlauf der Beitrittsverhandlungen veränderten sich die spanischen Vorstellungen Europa gegenüber zumindest in drei Kernbereichen:17 Wurde die EG zunächst als eine Art Schutzbeauftragter der noch schwachen spanischen Demokratie gesehen, so überwog allmählich immer deutlicher die Vorstellung, die spanische Demokratie habe sich ohne nennenswerte Einflüsse von außen stabilisiert und die EG sei keineswegs ein Garant für die Sicherung der Demokratie. Im Hinblick auf den Modernisierungsimpuls durch die Gemeinschaft wich die ursprüngliche Vorstellung einer von außen einwirkenden ökonomischen Wandlungsstrategie der Überzeugung, Modernisierung sei eine weit über die Wirtschaft hinausreichende Aufgabe der eigenen Gesellschaft. Und galt bezüglich der Regionalismusproblematik Europa als Inbegriff von Vielfalt und Dezentralisierung, so führten die Zweifel über die föderalen Wirkungsmöglichkeiten der Gemeinschaft zur Umkehrung der ursprünglichen Vorstellungen; schließlich galt Spanien als Beispiel für andere Länder Europas. Die Enttäuschungen und Unsicherheiten über Europa haben sogar Spekulationen über isolationistische spanische Sonderwege wieder zum Leben erweckt.18 In der Schlussphase wurden die Beitrittsverhandlungen durch ein weiteres Problem erheblich belastet. Für die EG ging es bei der zweiten Süderweiterungsrunde nämlich nicht nur um Fragen der Integrationspolitik und der wirtschaftlichen Interessen, sondern darüber hinaus um sicherheitspolitische Erwägungen, präsentierte sich Spanien doch als wichtiges Operationsgebiet zwischen den Kanarischen Inseln und den Pyrenäen. Immer deutlicher verschmolzen EG-Beitritt und Verbleib in der NATO politisch zu einem Projekt, was sich hinsichtlich der Akzeptanz des spanischen EG-Beitritts durch die Öffentlichkeit als höchst problematisch erweisen sollte, denn während Europa eigentlich bei der Mehrheit der Spanier unumstritten war, lehnten sie einen NATO-Verbleib ebenso deutlich ab. Die Vermengung beider Fragen musste notwendigerweise zu einer stärkeren Dis-

15 Zur „Vorbereitung“ Spaniens auf die Verhandlungen mit der EG vgl. Reinhold Büskup et al. (Hg.), Spanien und die Europäischen Gemeinschaften, Bern 1982. 16 Hierzu: Beate Kohler, Politischer Umbruch in Südeuropa. Portugal, Griechenland, Spanien auf dem Weg zur Demokratie, Bonn 1981; Christian Deubner, Spanien und Portugal. Der unsichere europäische Konsens, Baden-Baden 1982. 17 Zu verschiedenen Aspekten des Verhältnisses Spanien–Europa in den Übergangsjahren zur Demokratie nach Francos Tod vgl. Alvaro Soto Carmona et al. (Hg.), Historia de la transición y consolidación democrática en España (1975–1986), Bd. 2, Madrid o. J. 18 Peter Frey, Spanien und Europa. Die spanischen Intellektuellen und die europäische Integration, Bonn 1988.

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tanzierung von Europa führen, das als Erpressung empfundene Junktim wurde scharf abgelehnt. Die Wahlen von 1982 hatte die Sozialistische Partei auch wegen ihrer AntiNATO-Parolen gewonnen; sie hatte in Aussicht gestellt, dass sie im Falle der Regierungsübernahme ein Referendum über den Verbleib des Landes in der Atlantischen Verteidigungsgemeinschaft abhalten würde. Nachdem Felipe González Ministerpräsident geworden war, merkte er rasch, dass die angestrebte Zugehörigkeit zur EG vom Verbleib in der Verteidigungsallianz nicht zu trennen war. Die europäischen Mächte und die USA legten aus geostrategischen Gründen größten Wert auf einen Verbleib Spaniens in der NATO. Es war auch kein Geheimnis, dass die Sicherheitserwägungen eine wesentliche Rolle bei der Zustimmung zur Aufnahme in die EG spielten. Damit geriet die spanische Regierung in eine politische Zwickmühle, da einerseits die Alliierten keinen Zweifel am engen Zusammenhang zwischen EG- und NATO-Mitgliedschaft ließen, andererseits die Sozialisten vor der Regierungsübernahme für einen NATO-Austritt plädiert hatten. Entscheidend für den Meinungsumschwung des spanischen Regierungschefs zugunsten des Verbleibs in der NATO dürfte schließlich der „Druck“ von außen gewesen sein: das faktische EG-NATO-Junktim; der Hinweis der USA, dass ohne einen Verbleib Spaniens im Bündnis die wirtschaftliche und technologische US-Hilfe drastisch reduziert werden müsse; das Argument der EG-Staaten, dass Profit in der Wirtschaftsgemeinschaft mit Engagement im Verteidigungsbündnis zu kompensieren sei. Immer mehr Sozialisten wurden daraufhin zu Vernunft„Atlantikern“. Die Sozialisten verzögerten das erwartete Referendum Monat um Monat. Im November 1985 demonstrierten schließlich in allen wichtigen Städten des Landes Hunderttausende gegen die NATO und für ein „klares Referendum“. Mit dem ihnen eigenen Zynismus mutmaßten viele Spanier, das NATOReferendum werde schließlich schon stattfinden, allerdings zu der Frage, ob die Uniform der spanischen Soldaten in der NATO grün oder braun sein solle. Und andere wünschten sich, dass folgende Option zur Abstimmung stehen solle: „Ich bin für den Beitritt Spaniens zur NATO – bei meiner Gegenstimme.“ Schließlich wurde das Referendum für das Frühjahr 1986 angesetzt. Die Regierung betonte in der Abstimmungskampagne immer wieder, dass ein Verbleib in der NATO erforderlich sei, wenn Spitzeninvestitionen nicht ausbleiben sollten, der Anschluss an die modernen Industriegesellschaften nicht verlorengehen und Spanien nicht wieder in der Isolation versinken solle. Das gefährliche Referendum über Spaniens Verbleib in der NATO gewann González mit dem ausdrücklichen Hinweis auf Spaniens Zukunft in Europa; in einem Interview unmittelbar vor dem Abstimmungstermin führte er aus: „Wir stehen heute in Spanien vor einer historischen Entscheidung: Entweder nehmen wir mit all unserer Kraft und Effizienz am Aufbau Europas teil oder wir bleiben abermals isoliert.“19

19 Hier zitiert nach: Fundación Friedrich Ebert, Elecciones al Parlamento Europeo 1987, Madrid 1987, S. 83.

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Mit solchen primär politischen und kulturellen Argumenten wurde 1986 für Spanien zum Jahr der endgültigen Integration in die EG und in die NATO.20 SPANIEN IN EUROPA Seit dem Übergang Spaniens in die Demokratie stand für die Mehrzahl der Politiker und Bürger fest, dass die Zukunft des Landes in Europa lag. Verstärkt worden war diese Überzeugung während der langen Regierungszeit von Ministerpräsident Felipe González, dessen Politik von Anfang an auf Integration Spaniens in die europäischen Strukturen ausgerichtet war. In engem Zusammenwirken mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem französischen Präsidenten François Mitterrand bewerkstelligte die sozialistische Regierung den Eintritt Spaniens in die EG. Die Ära González (1982–1996) repräsentiert gewissermaßen das spanische Modell der Konstruktion Europas: enge Anlehnung an Deutschland und Frankreich, Erweiterung der EG-Politik auf den Mittelmeerraum, Einbeziehung Lateinamerikas in die außenpolitische Dimension Europas, Friedensinitiativen in Nahost. Da Spanien zugleich von den Regional- und Kohäsionsfonds der EG enorm profitierte, kann von einer harmonischen Phase der Beziehungen zwischen dem iberischen Land und Europa gesprochen werden. Sicherlich ist die finanzielle Unterstützung Spaniens durch die EG/EU nicht das einzige, vielleicht nicht einmal das entscheidende Kriterium zur Bewertung der Beziehungen zwischen dem iberischen Land und der Gemeinschaft. Die Zahlen aber sind trotzdem beeindruckend: Seit 1987 bis heute sind Jahr für Jahr im Durchschnitt 0,8 % des spanischen BIP auf Nettozahlungen der EU zurückzuführen. 90 % aller ausländischen Investitionen in Spanien kommen aus EU-Ländern. Jährlich werden knapp 300 000 Arbeitsplätze in Spanien dank EU-Mitteln geschaffen; vier von zehn spanischen Autobahn- und Schnellstraßenkilometern sind mit EU-Mitteln gebaut worden; 87 % der (jährlich über 52 Millionen) SpanienTouristen kommen aus EU-Ländern; 74 % der spanischen Exporte gehen in EULänder, 66 % der spanischen Importe kommen aus EU-Ländern; 24 % der spanischen Einnahmen aus der Landwirtschaft sind auf direkte EU-Hilfen zurückzuführen; seit dem EG-Beitritt Spaniens (1986) sind bis 2004 die Überweisungen von EU-Agrarsubventionen an Spanien um das 30-Fache gestiegen; zwischen 2000 und 2003 haben 16 Millionen Spanier direkt von den EU-Sozialfonds profitiert; 46 % der in den Fischfang fließenden EU-Fördermittel gingen (im Zeitraum 2000–2006) nach Spanien.21 Tabelle 1 lässt den für jedes Jahr einzeln ausgewiesenen Nettosaldo Spaniens mit der EU erkennen.

20 Vgl. das umfangreiche Dossier zum EG-Beitritt (Zeitungsausschnitte, Beitrittsvertrag etc.) der Fundación Friedrich Ebert, Elecciones al Parlamento Europeo 1987, Madrid 1987. 21 Vgl. La Constitución europea, en las urnas, in: El País, 20. Mai 2005, S. 19.

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1986 – Spaniens Beitritt zur EG TABELLE 1: FINANZSALDO SPANIENS MIT DER EU 1986-2005 (IN MIO. EURO) Jahr

Einzahlungen Spaniens

Zuwendungen der EU

1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005

666,52 825,19 1 340,26 1 726,71 2 251,99 3 280,32 3 893,36 4 451,10 4 828,53 3,702,23 4 441,48 5 409,11 5 234,82 5 028,67 6 650,06 6 776,93 8 193,28 8 496,65 9 275,14 10 130,21

616,04 1 043,36 2 298,27 2 813,94 2 970,80 5 618,26 5 861,67 6 787,83 6 913,44 10 535,74 9 928,72 10 403,52 11 136,75 10 489,46 10 961,19 12 287,20 15 320,16 16 858,81 16 179,46 15 759,58

-50,49 218,17 958,01 1 087,23 718,81 2 337,94 1 968,31 2 336,74 2 084,91 6 833,51 5 487,24 4 994,41 5 901,94 5 460,80 4 311,13 5 510,27 7 126,88 8 362,16 6 904,32 5 629,37

Saldo

Insgesamt

96 602,56

174 784,20

78 181,64

Quelle: El País, 18. Juni 2005, S. 3.

Als José María Aznar von der konservativen Volkspartei (Partido Popular, PP) 1996 die Regierung übernahm, bezeichnete er die Konvergenz mit Europa als einen zentralen Bereich seiner Außenpolitik, in dem er vor allem auf Kontinuität setzte. Diese Kontinuität äußerte sich primär in der Beibehaltung der europapolitischen Ziele von der sozialistischen zur konservativen Regierung.22 Die beiden wichtigsten lauteten: Zugehörigkeit Spaniens zu den Kernländern der für 1999 vorgesehenen Währungsunion; und Wahrung der spanischen Position als Kohäsionsland auch nach der geplanten EU-Osterweiterung. Zugleich setzte der PP aber auch neue außenpolitische Akzente: Es ging darum, die transatlantischen Beziehungen der Europäischen Union zu intensivieren und die Rolle Spaniens in der NATO neu zu definieren. Spanische Außenpolitik sollte in der ersten Liga der 22 Zur Frage von Kontinuität und Wandel der spanischen Europapolitik (von González zu Aznar und Zapatero) vgl. Olaf Jörgens, Zwischen Kontinuität und Wandel. Zwanzig Jahre spanische Europapolitik unter Felipe González, José María Aznar und José Luis Rodríguez Zapatero, Bonn 2007.

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internationalen Politik stattfinden, in die Aznar mit Unterstützung der USA aufsteigen wollte. So sah er Spanien bereits in einer Mittlerrolle bei der Schaffung einer Freihandelszone zwischen den USA und Europa bis 2013. Spanien als achtgrößte Wirtschaftsnation, mit einer Weltsprache, die von 400 Millionen Menschen gesprochen wird, und einer herausragenden geopolitischen Position sollte wieder zu einem zentralen internationalen Akteur werden. Der eingeschlagene Weg einer Allianz mit den USA ging zu Lasten anderer traditioneller Felder spanischer Außenpolitik, die vor allem in Europa, dem Mittelmeerraum und Lateinamerika liegen. Im europäischen Kontext nahm die Regierung Aznar bewusst die Funktion eines Protagonisten des „Neuen Europa“ wahr. Statt zur Achse Frankreich-Deutschland suchte sie die Nähe zu Großbritannien und den EU-Beitrittsländern, vor allem zu Polen, um ihrem neuen Rollenverständnis Geltung zu verschaffen. Im Jahr 2000 gewann die konservative Volkspartei die Parlamentswahlen mit absoluter Mehrheit. Seither war die Politik Aznars von der Absicht geprägt, Spanien zu einer der stärksten Mächte Europas zu machen, in den Kreis der G-7Staaten aufgenommen zu werden, als nicht-ständiges Mitglied im UNSicherheitsrat vertreten zu sein. Ein strategischer außenpolitischer Plan sah vor, dass Spanien eine führende Rolle in der EU zu übernehmen habe, dass das wirtschaftliche und kulturelle Gewicht Spaniens im lateinamerikanischen Bereich zu stärken sei, dass das Land sich allen Regionen der Welt zu öffnen habe und dass in der globalisierten Welt von heute eine solidarische Haltung besonders wichtig sei, daher vor allem Anstrengungen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit unternommen werden müssten. Mit diesem Plan überschritt Spanien deutlich die traditionellen Grenzen früherer Politik.23 Was die originäre Zugehörigkeit Spaniens zur Euro-Zone betrifft, so entwickelten sowohl die sozialistische als auch die konservative Regierung aufgrund der historisch begründeten Angst Spaniens vor einer zu großen Distanz zu Europa eine Zukunftsvision, bei der der Beitritt zur Währungsunion für Spanien mit Wohlergehen, Beschäftigung und Zukunftschancen gleichgesetzt wurde. Aznar präsentierte die Teilnahme Spaniens an der Wirtschafts- und Währungsunion als eine historische Wende für sein Land. Während der ersten Legislaturperiode der konservativen Regierung (1996–2000) wurde Spaniens Verhältnis zu Europa von Kritikern als eine Politik der reinen „Gewinnoptimierung“, des Nettoempfangs und der Nutznießung interpretiert; das Wort vom „Bettelsyndrom“ machte die Runde. Aus den 1992 eingerichteten Kohäsionsfonds erhielt Spanien zwischen 1994 und 1999 nicht weniger als 55 % sämtlicher Mittel. Jeder EU-Versuch, den spanischen Anteil zu reduzieren, wurde von seiten Madrids mit der Drohung beantwortet, die Reform der EU zu blockieren. Auf dem Berliner EU-Gipfel von 1999 konnte Aznar in einem persönlichen nächtlichen Duell mit Bundeskanzler

23 Zu Spaniens Anspruch auf einen Platz unter den europäischen Führungsnationen in der Regierungszeit Aznars vgl. Tina Bühler / Helmut Wittelsbürger, Spanien und seine neue Rolle in Europa, in: Konrad-Adenauer-Stiftung-Auslandsinformationen, 2000, H. 9, S. 12–19.

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Gerhard Schröder schließlich sogar durchsetzen, dass Spanien fortan 62 % des Kohäsionsfonds zurückerhielt.24 Zu den grundlegenden europapolitischen Zielen der Regierung Aznar gehörte die Anerkennung Spaniens als „großes“ Mitgliedsland der EU und die Forderung, Empfänger von Regionalfonds zu bleiben. Letzteres Ziel wurde zu einem Konfliktthema in Zusammenhang mit der geplanten Osterweiterung der EU. Denn obwohl die spanischen Regierungen ebenso wie die Mehrheit der Spanier die Erweiterung befürworteten, hielt Madrid an zwei substantiellen Vorstellungen fest: an der vollständigen Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes und an der Verpflichtung, sich innerhalb der finanziellen Perspektiven zu bewegen, die 1999 beim Europäischen Rat von Berlin beschlossen worden waren. Das Festhalten am Status quo wurde von spanischer Seite vor allem wegen des Kohäsionsprinzips und seiner Konsequenzen befürwortet – immerhin machen die europäischen Subventionen über 1 % des spanischen Bruttosozialproduktes aus. Schon im April 2001 legte die spanische Regierung ein Memorandum vor, in dem die Union in Betracht ziehen sollte, dass die Osterweiterung einen „statistischen Effekt“ hervorrufen würde, durch den einige spanische Regionen über 75 % des Bruttosozialprodukts erreichen und so den Anspruch auf Hilfe verlieren würden. Da die Einnahmen in diesen Regionen nicht wirklich, sondern nur durch einen einfachen „statistischen Effekt“ steigen würden, forderte das spanische Memorandum, diese Regionen weiterhin zu unterstützen. Hiermit eröffnete Spanien das Thema der Haushalts-Budgetierung in Zusammenhang mit der Osterweiterung zu einem Zeitpunkt, zu dem noch keine Verhandlungen diesbezüglich anstanden. Deutschland und andere Länder, etwa Frankreich, waren radikal dagegen, Spanien Garantien einzuräumen, die diesen Effekt relativieren bzw. aufheben würden. Allerdings beschloss Brüssel, um diesen statistischen Nachteil auszugleichen, das neue Zielprogramm „Konvergenz und Konkurrenzfähigkeit“, demzufolge die betroffenen Regionen in einer Übergangszeit weiterhin 66 % der Beihilfen erhalten, die sie bekommen hätten, wenn sie noch Ziel-1-Regionen wären. Der Berliner Gipfel von 1999 hatte den Spaniern mehr als 56 Milliarden Euro aus den Regional- und Kohäsionsfonds der EU für die Jahre 2000–2006 gebracht; fast 40 % der gesamten EU-Strukturförderung fließen seitdem in spanische Bauprojekte. Damit ist das Land zum mit Abstand größten Nettoempfänger der EU geworden. Im Finanzzeitraum 2007–2013 dürfte Spanien mindestens 30 % dieser Fonds verlieren. Durch die drohende Streichung des Kohäsionsfonds würde Spanien ersatzlos auf rund zwölf Milliarden Euro verzichten müssen. Deshalb strebt das Land langjährige Übergangsfristen an, bevor die Förderung endgültig ausläuft. Im Frühjahr 2005 ließ sich die Luxemburger EU-Ratsführung auf den spanischen Vorschlag ein, Übergangslösungen für den Kohäsionsfonds für die Zeit nach 2006 vorzusehen. In den Folgejahren erhielt Spanien weiterhin (wenn auch weniger) Mittel aus diesen Fonds. Allerdings wird in den nächsten Jahren der 24 Zur spanischen EG-Politik in den 1990er Jahren vgl. Esther Barbé, La política europea de España, Barcelona 1999.

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8 733 03

5 389

5 673

6 958

5 346

8 000

6 000

02

7 738

10 000

8 880

ABBILDUNG 1: FINANZSALDO DER EU-MITTEL FÜR SPANIEN (IN MIO. EURO)

08

2000 01

04

05

06

09

10

11

-135

0

0

0

239 07

1 276

1 702

2 000

1 883

4 000

12

13

Quelle: El País, 4. März 2005, S. 67. Die Differenz in den Angaben zwischen dieser Graphik und der vorhergehenden Tab. 1 sind auf unterschiedliche Berechnungsmethoden zurückzuführen; der Trend weist aber in die gleiche Richtung.

spanische EU-Beitrag in jedem Fall drastisch steigen: von 9,8 Milliarden Euro im Jahr 2005 auf 15,8 Milliarden Euro im Jahr 2013. Rechnet man die spanischen Mindereinnahmen aus der EU-Kasse und die spanischen Mehrausgaben in die EU-Kasse zusammen, dann ergibt sich eine Differenz von rund sechs Milliarden Euro, die Spanien seit 2007 pro Jahr einbüßt. Der Nettosaldo der Finanzflüsse zwischen Spanien und der EU zwischen 2000 und 2006 betrug 48 Milliarden Euro zugunsten Spaniens; für den Zeitraum 2007 bis 2013 ist ein Nettosaldo von nurmehr fünf Milliarden Euro vorgesehen. Ab 2013 wird Spanien zu einem Nettozahler. Die Negativauswirkungen auf das Wirtschaftswachstum dürften gewaltig sein. Folgt man den EU-Finanzplanungen für die Periode 2007–2013, dann soll Spanien 30 % der bisher erhaltenen Kohäsionsfonds verlieren. Die EUErweiterung von 2004 hat Madrid somit knapp 40 Milliarden Euro gekostet, rund 0,6 % des spanischen BIP. Die Entwicklung der EU-Mittel für Spanien zwischen 2000 und 2013 lässt sich aus Abbildung 1 ablesen (seit 2007 handelt es sich vorerst nur um den vorgeschlagenen Finanzentwurf der EU-Kommission).

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SPANIENS KONVERGENZ MIT DER EUROPÄISCHEN UNION In den Jahren, die auf den EG-Beitritt Spaniens folgten, wuchs die Europhilie in dem iberischen Land stetig an. Als 1989 durch die friedlichen Revolutionen in Mittel- und Osteuropa und die damit zusammenhängenden Veränderungen im internationalen Kontext die Gefahr entstand, dass das „Projekt der Vertiefung der Europäischen Gemeinschaften“ aufgehalten werde, äußerte die spanische Regierung wiederholt ihre diesbezüglichen Sorgen: Europäische Integration und Modernisierung Spaniens waren für die politisch Verantwortlichen in Spanien praktisch zu Synonyma geworden. Folgt man dem Katalanen Lluis Racionero,25 so war mit Spaniens EG-Beitritt nicht nur der politisch-intellektuelle Dauerstreit über das Verhältnis Spaniens zu Europa definitiv beendet. Spanien sei vielmehr, am Ende seines „konfliktiven Zeitalters“, das „europäischste“ aller Länder der Gemeinschaft, da es aufgrund seiner regionalen Vielfalten das vorexerziere, was Europa insgesamt sein sollte oder könnte. Nicht mehr das isolationistische „Spanien ist anders“ des Franquismus mache die Wesensart Spaniens aus, sondern die Vielfalt der Regionen, Völkerschaften und Kulturen.26 Glaubt man den Angaben des „World Values Survey“, so hat in keinem Land der Erde in den vergangenen zwanzig Jahren ein so radikaler Wertewandel wie in Spanien stattgefunden. Üblicherweise ist eine derartige Neuorientierung die Folge tiefgreifender Veränderungen in der Wirtschafts- und Sozialstruktur eines Landes. Und in der Tat: Kein anderes europäisches Land erlebte so schnell so weitreichende gesellschaftliche Umstrukturierungen wie Spanien. Spielte das Land während eines Großteils des franquistischen Regimes in Europa eine allenfalls marginale Rolle, so wandelte es sich im Gefolge der Transition zu einem festen Bestandteil der EG. Es bestehen zwar nach wie vor einige Spuren des „alten“ Spanien; diese beziehen sich aber eher auf bestimmte Lebensformen als auf das grundlegende Wertesystem, auf das Einkommen oder auf die Organisation des Arbeitsmarktes. Seit 1982 bestimmte der PSOE unter der Führung von Felipe González unangefochten die Geschicke des Landes. Die entscheidenden Modernisierungsmaßnahmen waren unter sozialistischer Ägide erfolgt, das Land hatte sich grundlegend gewandelt: im ökonomischen Bereich, im gesellschaftlichen Sektor, im Hinblick auf die politische Kultur. Die wirtschaftliche Entwicklung war, vor allem seit dem Beitritt des Landes zur EG 1986, eine Erfolgsgeschichte: Die zweite Hälfte der 80er und der Beginn der 90er Jahre lassen sich als eine Phase des steti25 Vgl. Lluis Racionero, España en Europa. El fin de la „edad conflictiva“ y el cambio de rumbo de la sociedad española, Barcelona 1987. 26 Jahrzehntelang war in Spanien darüber gestritten worden, ob es sich bei der Entwicklung des Landes um einen „Sonderweg“ handle oder ob Spanien eine „gesamteuropäische“ Entwicklung durchlaufen habe. Neuerdings wenden sich Historiker immer deutlicher von der Sonderwegsthese ab. Zu Spanien als einer Variante mehr der europäischen Entwicklung der Neuzeit (unter besonderer Berücksichtigung der wirtschaftlichen Modernisierung und der wissenschaftlichen Europäisierung des Landes) vgl. José Luis García Delgado et al., España y Europa, Barcelona 2008 (= Historia de España, 11).

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gen wirtschaftlichen Aufholens beschreiben.27 Hatte 1985 das spanische ProKopf-Einkommen im europäischen Vergleich (EG = 100 %) noch bei 70,4 % gelegen, so lag es 1993 bereits bei 78,1 %. Der Verbrauch der privaten Haushalte hatte eine rasche Steigerung erlebt. Der private Verbrauch (etwas mehr als 63 % des Bruttoinlandprodukts) war der eigentliche Motor des Aufholprozesses jener Phase. Bis 1994 erfolgte eine Anpassung der spanischen Wirtschaft an ihre neue europäische Umgebung. In den meisten Fällen waren es konvergierende Prozesse. Es handelte sich um eine in die Europäische Union integrierte Volkswirtschaft, deren Entwicklung immer mehr im Rhythmus der anderen Mitgliedsstaaten verlief. Außerdem hing sie deutlich von den führenden Volkswirtschaften der EU ab. Es handelte sich darüber hinaus um eine offene Wirtschaft, die auch nominell konvergierend war, da sie ihr Preis- und Zinsgefälle sowie ihr Haushaltsdefizit im Vergleich zu den Kernländern der EU wesentlich verringert hatte. Die spanische Wirtschaft wies Mitte der 90er Jahre einen hohen Entwicklungsstand mit einer deutlichen Abhängigkeit im Technologiebereich auf: Kapitalgüter beliefen sich auf 13 % der Exporte und 15 % der Importe, während Hilfsgüter (Rohstoffe und halbfertige Produkte) das Gros der Importe (mit durchschnittlich 55 % der Gesamtimporte) und Konsumgüter das Gros der Exporte mit etwas mehr als 45 % ausmachten. Die Konvergenz der spanischen Wirtschaft mit dem europäischen Durchschnitt ließ sich Mitte der 90er Jahre besonders gut erkennen, wenn man die sektorielle Verteilung der Produktion nach dem Bruttomehrwert und nach der Zahl der Beschäftigten betrachtete. Spanien unterlag dem gleichen Tertiarisierungsprozess wie die meisten europäischen Länder. Allerdings beruhte die Tertiarisierung des Bruttoinlandprodukts weniger auf einem Zurückdrängen der Industrie als vielmehr auf dem seit den 60er Jahren fortschreitenden Rückgang der Landwirtschaft. Mitte der 90er Jahre war die Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten unter eine Million gefallen und betrug damit weniger als die Hälfte der Beschäftigtenzahl der Landwirtschaft im Jahr des EG-Beitritts (1986). Trotz ihrer zunehmenden Konvergenz mit dem Durchschnitt der EU besaß die spanische Wirtschaft Mitte der 90er Jahre auch weiterhin divergierende Züge. Dazu gehörten vor allem das Pro-Kopf-Einkommen und die Arbeitslosenquote. 1993 lag das spanische Pro-Kopf-Einkommen – wie oben ausgeführt – bei nur 78,1 % des durchschnittlichen EU-Wertes, was vor allem auf den geringen Beschäftigungsgrad in Spanien zurückzuführen war. Die mittlere Erwerbsquote war mit 60 % die niedrigste der gesamten OECD (Deutschland: über 67 %; skandinavische Länder: ca. 80 %), was mit dem niedrigeren Durchschnittsalter der Bevölkerung, der geringeren und späteren Einbindung der Frau in den Arbeitsmarkt (Erwerbsquote 1994: 43,4 %) und der anhaltend hohen Arbeitslosenquote (1994: 23,8 %; EU: 11, 4 %) zusammenhing. Letztere war auf den Anstieg der Lohnkos27 Zu Folgendem vgl. Gabriel M. Pérez-Alcalá, Die spanische Wirtschaft auf dem Weg nach Maastricht, in: Walther L. Bernecker / Klaus Dirscherl (Hg.), Spanien heute, Frankfurt am Main 1998, S. 225–265.

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ten, die nicht ausreichende Nachfrage der Unternehmen und das steigende Angebot an Arbeitskräften vor dem Hintergrund starrer Marktstrukturen, die durch normative Tarifverträge und fehlenden Wettbewerb bedingt waren, zurückzuführen. In den 90er Jahren sprachen Historiker und Sozialwissenschaftler davon, dass Spanien in der Vergangenheit eine „historische Frustration“ gewesen sei, inzwischen aber mit einem relativen, früher unvorstellbaren Optimismus in die Zukunft blicke. Diese Meinung, die allenthalben zu lesen war, entspreche dem Zeitgefühl der Mehrheit. Der historische Pessimismus habe sich in der Überzeugung artikuliert, in Spanien sei immer alles zu spät und außerdem schlecht erfolgt: vom Aufbau einer funktionierenden Verwaltung bis zur Entstehung einer Mittelschicht, von effizienten Staatsstrukturen bis zu einer modernen Gesellschaft. Solche Urteile aber gehörten endgültig der Vergangenheit an. Zwischen dem Lamento der Regenerationisten-Generation und der Intellektuellen, die „Spanien als Problem“ (Pedro Laín Entralgo) sahen, liege jene Modernisierungsphase, in der Spanien einen radikalen und unumkehrbaren Wandel durchlaufen und sich in Europa integriert habe. Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Franco-Diktatur hatte das Land den Anschluss an Europa auch in den Kategorien realer Konvergenz geschafft. Der Transformationsprozess von einer ebenso abgeschotteten wie zurückgebliebenen Staatsverwaltungswirtschaft zur wettbewerbsfähigen, offenen Marktwirtschaft war allerdings lange und mühsam; und ohne die massive Hilfe und Rückendeckung der Europäischen Union wären Wohlstandssprung und Wirtschaftswandel kaum möglich gewesen. Auch in der Regierungszeit Aznars blieb Spanien der größte Nettoempfänger von EU-Mitteln (vor allem aus dem Kohäsions- und Strukturhilfefonds). Die Süderweiterung der Gemeinschaft hat sich im Rückblick für alle Beteiligten gelohnt. Die besondere Qualität der spanischen Rückkehr nach Europa liegt freilich nicht in der Inanspruchnahme der Struktur- und Kohäsionsfonds. Der Aufbruch in die Moderne bedeutete für das Land vor allem Abschiednehmen vom übermächtigen Staat – politisch wie wirtschaftlich. Spanien hatte unter den verschiedenen Varianten des alten Etatismus gelitten, die bis zum alles regulierenden Zentralismus einer langwährenden Diktatur reichten. Spanien konnte Ende des Jahrhunderts ohne große Probleme die Maastrichter Konvergenzkriterien erfüllen. Im Konvergenzbericht der Europäischen Kommission von 1998 hieß es, das Land habe einen hohen Grad an dauerhafter Konvergenz erreicht. Im Bericht wurde auch darauf hingewiesen, dass Spanien sein Zentralbankrecht bereits 1994 reformiert habe und die Unabhängigkeit der Zentralbank von der Regierung sowie Preisstabilität als oberstes Ziel der Geldpolitik festgelegt worden sei. In den Jahren nach dem Machtantritt der Konservativen (1996) war die Wirtschaftsentwicklung Spaniens außerordentlich günstig. Die Währung hatte sich an den Märkten als stabil erwiesen, die Staatsverschuldung lag im Verhältnis zum Sozialprodukt unter dem EU-Durchschnitt, die Devisenreserven (56 Milliarden Dollar) hatten erheblich zugenommen. Die Stabilitätsfortschritte waren unverkennbar. Auslandsgelder (vor allem aus der EU und den USA) strömten wieder massiv ins Land. Die Finanzwelt blickte mit großen Erwar-

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tungen der geplanten Währungsunion entgegen. „Euroforia“ wurde zum Schlüsselwort an Spaniens Börsen, die Aktienkurse kletterten von einem historischen Rekord zum anderen, der Markt für Peseten-Auslandsanleihen boomte. SPANIENS EUROPÄISCHE IDENTITÄT Welchen historischen Stellenwert hat der Beitritt Spaniens zu den Europäischen Gemeinschaften 1986? Für die Spanier gingen während der Beitrittsverhandlungen und danach – auch wenn primär über wirtschaftliche Angleichungsprobleme diskutiert wurde – die kulturellen und politischen Aspekte der EG-Mitgliedschaft nie verloren. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass der spanische Beitritt zur EG ökonomisch, politisch und kulturell drei bedeutende historische Funktionen erfüllt: Zum einen beschleunigte die Beteiligung an den Institutionen der Gemeinschaft – im ökonomischen Bereich – die Außerkraftsetzung der traditionellen Funktionsprinzipien der spanischen Wirtschaft. Die volle Teilhabe an den Mechanismen der internationalen Arbeitsteilung in Westeuropa öffnete die spanische Wirtschaft einem breiten, dynamischen Konkurrenzmarkt, was zwar einerseits zu schmerzhaften Anpassungsprozessen führte, andererseits jedoch die ökonomischen Abschottungsversuche der Vergangenheit endgültig zu einem Relikt der Erinnerung verkommen ließ. Zum anderen wurde Spanien – im politischen Bereich – in den Prozess multilateraler Zusammenarbeit integriert und erhielt damit Informationen und Mitwirkungsrechte an Entscheidungen, die die Zukunft Europas und damit der Welt mitbedingen. Zum dritten schließlich führte die Mitsprache in Europa – im Hinblick auf nationale Identitätsfindung – zu einer stärkeren Solidarisierung mit europäischen Geschicken; Spanien fand damit zu seinem europäischen Schicksal zurück, von dem es zuletzt durch den Franquismus fast ein halbes Jahrhundert lang ferngehalten worden war.28 Am Tag der spanischen Vertragsunterzeichnung erklärte König Juan Carlos den nach Madrid angereisten Staats- und Regierungschefs, sie verkörperten das, „was das spanische Volk unter Europa versteht: die Grundsätze von Freiheit, Gleichheit, Pluralismus und Gerechtigkeit, die auch die spanische Verfassung beseelen“29. Und die Tageszeitung „El País“ kommentierte: „Die Bindung […] an Europa besitzt die historische Bedeutung, uns zu erlauben, mit den schwerwiegenden Lastern unserer unzivilen, eigenbrödlerischen und intoleranten Traditionen zu brechen und den kommenden Generationen neue kulturelle Horizonte zu erschließen.“30

Kein Zweifel: Für Spanien bedeutete der Eintritt in die EG nach langen Phasen bewusst-erwünschter oder abgrenzend-erzwungener Isolierung einen tiefen histo-

28 Vgl. hierzu den Artikel Comunidades Europeas, in: Walther L. Bernecker et al. (Hg.), Spanien-Lexikon, München 1990, S. 74–78. 29 ABC, 13. Juni 1985, S. 1. 30 El País, 12. Juni 1985, S. 11.

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rischen Einschnitt, eine geradezu säkulare Zäsur in seinen außenpolitischen Beziehungen und eine geistige Umorientierung bedeutenden Ausmaßes.31 Der Verweis in „El País“ auf die „unzivilen Traditionen“ der spanischen Geschichte enthält einen möglichen Erklärungsansatz für die spanische Öffnung nach Europa und die lange Zeit vorherrschende Europa-Euphorie. Die Aufnahme in die EG wurde in Spanien als Ende einer historischen Epoche betrachtet, die eng mit dem Bürgerkrieg und seinen unmittelbaren Folgen zusammenhängt: Der Bürgerkrieg gilt in der spanischen Debatte über die „Rückständigkeit“ des Landes als das historische Ereignis, das die Abkoppelung Spaniens von der europäischen Entwicklung am deutlichsten zum Ausdruck brachte, als Schlusspunkt in einer ganzen Reihe fehlgeschlagener Modernisierungsversuche. Die Folge des Kriegs waren Minderwertigkeitsgefühle der Spanier Europa gegenüber, Isolierung des Landes und scharfe gesellschaftliche Spaltung. Die Öffnung des Landes nach 1975 zur Demokratie, zum Fortschritt und zu Europa stellte eine bewusste Abkoppelung von dieser unerwünschten Vergangenheit dar. Nicht umsonst sahen in den 80er Jahren einer Umfrage zufolge 73 % der Spanier im Bürgerkrieg eine beschämende Epoche in der Geschichte des Landes, die besser vergessen werden sollte; sie drückten mit dieser Meinung ihr Interesse daran aus, nicht auf den Krieg und seine isolationistischen Folgen zurück-, sondern in die europäische Zukunft vorauszublicken.32 Wie groß der Wunsch der Spanier ist, als Europäer zu gelten, lassen mehrere Umfragen der beiden letzten Jahrzehnte erkennen. Aus ihnen geht der Grad an politisch-gesellschaftlicher „Normalität“ hervor, den Spanien inzwischen erreicht hat. Diesen Umfragen zufolge sind die meisten Spanier politisch als Skeptiker einzuschätzen, die vom Staat wenig erwarten und ihren Interessenschwerpunkt im individuellen und privaten Bereich haben. Die politische Aufbruchstimmung aus den Jahren der transición ist verblasst, gesamtgesellschaftlich herrscht eher Passivität vor, für die großen Probleme – Arbeitslosigkeit, Terrorismus, Delinquenz – werden keine überzeugenden Lösungen mehr erwartet. Glück und Zufriedenheit werden mit Familie, Kindern und Arbeitsplatz identifiziert. Nach den Ergebnissen dieser Umfragen ist Spanien heute ein Land, das den anderen Ländern Westeuropas immer ähnlicher sieht, dessen Bewohner in ihren Attitüden eher vorsichtig sind, die den angestrebten Reformen durchaus offen begegnen, aber keine radikalen Änderungen wünschen; im Hinblick auf ihr eigenes Leben sind die Spanier optimistisch und zufrieden, im Hinblick auf die Politik illusionslos, dem Staat und seinen Institutionen gegenüber verhalten sie sich skeptisch; ihre größere Sorge bezieht sich auf die persönliche Sicherheit, die sie für 31 Vgl. die Rede von Ministerpräsident Felipe González anlässlich der Unterzeichnung des spanischen Beitrittsvertrags am 12. Juni 1985, abgedruckt in: Rüdiger Hohls et al. (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart 2005, S. 352f., und den einführenden und erläuternden Essay zu dieser Rede von Joaquín Abellán: Der Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft in den 1980er Jahren, oder: Warum die Spanier für Europa votierten, in: ebd., S. 349ff. Vgl. auch die online Version im Themenportal Europäische Geschichte, erreichbar unter http://www.europa.clio-online.de. 32 Cambio 16, Nr. 616–619, 26. September bis 10. Oktober 1983.

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gefährdet halten, weniger auf die allgemeine Freiheit, die sie als gesichert betrachten. Der Einschätzung seiner Bewohner zufolge ist Spanien somit nicht mehr „anders“, sondern längst ein Land mehr in Westeuropa. Dass Spanien heute zweifellos ein demokratisches und europäisches Land ist, bedeutet in historischer Perspektive, dass das lange Zeit ungelöste politische Problem dieses Landes sowie die Frage seiner Identität als europäische Nation als geklärt betrachtet werden können.33 Die europäische Modernität Spaniens lässt sich an vielen Indikatoren aufzeigen: Mitte der 90er Jahre wies das Bruttoinlandsprodukt Spanien als die Nummer 8 in der Weltskala der Staaten aus; im Hinblick auf den Human Development Index (Lebenserwartung, Alphabetisierungs- und Einschulungsquote, Pro-Kopf-Einkommen) war es das neunte Land der Welt; die Lebenserwartung bei Geburt liegt für Männer bei etwas über 73 und für Frauen bei etwas über 81 Jahren. Der Urbanisierungsgrad beträgt 76 %. Die Hälfte der Erwerbsbevölkerung ist im Dienstleistungssektor tätig, während die Beschäftigten im Agrarbereich nur noch 8,3 % der Erwerbsbevölkerung, ungefähr eine Million Menschen, betragen. Die Landwirtschaft trägt nur noch 3,4 % zum Bruttoinlandsprodukt bei. Spanien verfügt über rund 60 Universitäten mit 1,5 Millionen Studierenden; seit Mitte der 80er Jahre studieren mehr Frauen als Männer; Frauen betragen ungefähr 50 % der Erwerbsbevölkerung. Im Jahr 1976, zu Beginn der Demokratisierungsphase, fuhren rund fünf Millionen Autos in Spanien, 1994 waren es 13,5 Millionen. In dem traditionellerweise katholischen Land sank die Zahl der kirchlichen Hochzeiten zwischen 1976 und 1985 um rund 100 000, während die der standesamtlichen Trauungen im gleichen Zeitraum um rund 48 000 zunahm. 1978 wurde der Verkauf von Empfängnisverhütungsmitteln legalisiert, 1981 die Ehescheidung, 1985 die Abtreibung. Von den knapp 40 Millionen Einwohnern unternahmen im Jahr 1995 über 21 Millionen eine Auslandsreise. Kein Zweifel: Spanien hat eine Gesellschaft mit klarer Dominanz der städtischen Mittelschichten und einem relativ hohen Lebensstandard. Die Probleme, denen sich Spanien ausgesetzt sieht, sind Probleme entwickelter Gesellschaften: die Finanzierung der Sozialsysteme, der städtische Verkehr, die Unsicherheit auf den Straßen, neue Formen der sozialen Marginalisierung, jugendliche Gegenkulturen, Drogenproblematik, Umweltgefährdung. Typisch moderne Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Pathologien und Krebs sind die häufigsten Todesursachen. Die überkommenen Stereotypen treffen somit schon längst nicht mehr auf Spanien zu. Seit Mitte der 80er Jahre wuchs die spanische Wirtschaft weit überdurchschnittlich schnell. Die Maastrichtkriterien wurden erfüllt, im Mai 1998 trat das Land der Europäischen Währungsunion bei. Seit gut zwei Jahrzehnten lässt sich Spanien als eine stabile Demokratie bezeichnen, die Monarchie als Staatsform wird von der überwiegenden Mehrheit der Bürger akzeptiert. In Übereinstimmung mit der Verfassung von 1978 ist Spanien kein zentralistischer Staat mehr, sondern ein Staat der Autonomen Gemeinschaften, deren Kompetenzen und Handlungsrahmen ständig erweitert wurden und 33 Zum Folgenden vgl. Amando de Miguel / Marta Escuin, ABC de la Opinión Española, Madrid 1997.

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Spanien faktisch als einen Bundesstaat erscheinen lassen. Die territoriale Neuordnung gehört zu den bedeutendsten politischen Reformen, die es je in Spanien gegeben hat, weil sie das Problem des Regionalismus und des ethnischen Nationalismus einer Lösung erheblich näherbrachte und damit zur Stabilisierung der politischen und institutionellen Ordnung beitrug. Trotz vieler kritischer Erscheinungen konnte Ende des 20. Jahrhunderts ein positives Fazit gezogen werden: Sämtliche Umfragen ließen erkennen, dass die meisten Spanier optimistisch und zukunftsorientiert waren. Ein Vergleich mit dem Ende des vorhergehenden Jahrhunderts ist aufschlussreich: Erlebte die spanische Öffentlichkeit das Jahr 1898 in einem Klima tiefer Krise und Depression, so war es 100 Jahre später gerade umgekehrt. Soziologen sprechen von einem Ende des Jahrhunderts des Pessimismus. Sahen die Intellektuellen von 1898 die Geschichte Spaniens als eine Aufeinanderfolge von irregeleiteten Sonderwegen, Dekadenz und Niedergang an, so war ein Jahrhundert später – bei aller realistischen Einschätzung der bestehenden Probleme – die Rede von Optimismus, wirtschaftlicher Dynamik, demokratischer Stabilität und europäischer Zugehörigkeit. Aus dieser Perspektive war Spanien längst in Europa angekommen.34

34 Zu dieser Interpretation vgl. neuerdings Walther L. Bernecker, Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, München 2010.

SICHERHEIT IN DER SOWJETUNION 1988/89. PERESTROJKA ALS MISSGLÜCKTER TANZ AUF DEM ZIVILISATORISCHEN VULKAN Klaus Gestwa ZUG IN FLAMMEN Oberst Vasin fuhr an die Front Mit seiner jungen Frau. Oberst Vasin rief sein Regiment zusammen Und sagte ihm: „Lasst uns nach Hause gehen!“ Wir führen schon siebzig Jahre lang Krieg, Uns wurde beigebracht, dass das Leben ein Kampf sei. Aber nach den letzten Ergebnissen des Geheimdienstes Haben wir mit uns selbst Krieg geführt. […] Dieser Zug steht in Flammen, und wir haben nichts mehr, um Gas zu geben. Dieser Zug steht in Flammen, Und wir können nirgendwohin mehr fliehen. Diese Erde war die Unsrige, solange wir uns nicht im Kampf verstrickt haben. Sie stirbt, wenn sie niemandem mehr gehört. Es ist Zeit, sich diese Erde zurück zu holen. Rundherum brennen Fackeln, Dies ist die Versammlung verstorbener Einheiten. Und Leute, die auf unsere Väter geschossen haben, machen nun Pläne mit unseren Kindern. Man hat uns unter dem Ton von Märschen geboren, Man hat uns mit Gefängnis gedroht. Aber es reicht, auf dem Bauch zu kriechen – Wir sind schon nach Haus zurückgekehrt.1

1. DAS ENDE DES SOWJETIMPERIUMS: INTERPRETATIONEN Niedergang und Fall von Imperien faszinieren, weil solche historische Dramen selten mit einem wehmütigen Seufzer ablaufen, sondern meistens mit einem lau1

Lied der bekannten Leningrader Rockgruppe Akvarium, geschrieben von Boris Grebenšikov für den erfolgreichen sowjetischen Spielfilm von Sergej Solov’ev „Die Schwarze Rose ist das Emblem für Trauer – die Rote Rose das Emblem für Liebe“ (1989).

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ten Knall.2 Nach allen Grausamkeiten im Inneren und allem revolutionären Ausgreifen nach außen ersparte die Sowjetunion der Welt des Kalten Krieges aber ein letztes Furioso und legte stattdessen nach 1989 einen fast bürokratisch geregelten weltgeschichtlichen Bankrott hin.3 Die Geschichte dieses bemerkenswerten Zusammenbruchs, des „seltsamen Todes des sowjetischen Kommunismus“4, ist sicherlich noch zu schreiben. Gleichwohl liegen schon einige aufschlussreiche Interpretationen vor. Viel bemüht wird Paul Kennedys eingängiges Urteil vom imperial overstretch: Dass nämlich die äußere weltpolitische Expansion der sowjetischen Supermacht, gestützt auf einen ressourcenverschlingenden rüstungsindustriellen Komplex, in ein gefährliches Missverhältnis zur inneren gesellschaftlichen Stagnation und ökonomischen Wachstumsschwäche geriet.5 In Anlehnung daran spricht Stefan Plaggenborg neuerdings von einem social overstretch, also von der Überdehnung des sowjetischen Sozialstaats. Als seit den 1970er Jahren die ideologische Ernüchterung und Sozialismus-Verdrossenheit zunehmend um sich griffen, war die Sowjetführung gezwungen, sich durch verbesserte Konsumleistungen und wohlfahrtsstaatliche Zugeständnisse politische Konformität oder zumindest Indifferenz von Seiten der Bevölkerung zu erkaufen. Dieser informelle Sozialpakt kam Moskau teuer, schließlich zu teuer zu stehen.6 Ökonomen rücken üblicherweise die mangelhafte Leistungskraft der sowjetischen Volkswirtschaft als Zerfallsursache derart in den Vordergrund, dass man argwöhnen könnte, die Sowjetunion wäre vermutlich nicht zusammengebrochen, wenn es in den 1980er Jahren die hohen Energie- und Rohstoffpreise von heute gegeben hätte.7 Robert 2 3

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Zuletzt Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005. Zur Zerfallsgeschichte der Sowjetunion vgl. Georg Simon / Nadja Simon, Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums, München 1993; Archie Brown, Der Gorbatschow-Faktor. Wandel einer Weltmacht, Oxford 1996; Maria Huber, Moskau, 11. März 1985. Die Auflösung des sowjetischen Imperiums, München 2002; Helmut Altrichter, Der Zusammenbruch der Sowjetunion, 1985–1991, in: Stefan Plaggenborg (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 5, Stuttgart 2002, S. 519–593; ders., Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München 2009. Kompakt und aufschlussreich auch Stephen Kotkin, Armaggeddon Averted. The Soviet Collapse 1970–2000, Oxford 2000. So lautet der Titel eines Themenheftes des National Interest im Jahr 1993 (Heft 1): The Strange Death of Soviet Communism. An Autopsy. Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000, Frankfurt am Main 1994. Zur Überdehnung vgl. auch schon Seweryn Bialer, The Soviet Paradox: External Expansion, Internal Decline, London 1985. Ferner Henry S. Rowen / Charles Wolf (Hg.), The Impoverished Superpower. Perestrojka and the Soviet Military Burden, San Francisco 1990. Stefan Plaggenborg, „Entwickelter Sozialismus” und Supermacht 1964–1985, in: ders. (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 5, Stuttgart 2002, S. 319–517; ders., Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt 2006. Zu den ökonomischen Zerfallsursachen vgl. bes. Anders Åslund, Gorbachev’s Struggle for Economic Reform, Ithaca 1991; Peter J. Boettke, Why Perestroika Failed. The Politics and Economics of Socialist Transformation, London 1993; Michael Ellman / Vladimir Kontorovich, The Destruction of the Soviet Economic System. An Insiders’ History, Armonk 1998; Philip Hanson, From Stagnation to Catastroika. Commentaries on the Soviet Economy,

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Conquests Diktum, dass im Kalten Krieg das kalifornische Silicon Valley mit seiner High Tech-Industrie die sowjetische Stahlmetropole Magnitogorsk mit ihren verrostenden Big Tech-Fabriken besiegte, ist ganz im triumphalen Ton der in den USA populären Reagan Victory School gehalten. Es verweist aber zurecht darauf, dass die Sowjetunion den postindustriellen technologischen Wandel verpasst hatte.8 Während Politologen die mangelnde Funktionalität des sowjetischen Herrschaftssystems problematisieren, das sich kaum mehr in der Lage zeigte, die komplexer werdende Industriegesellschaft und die sich zuspitzenden interethnischen Spannungslagen zu managen,9 behaupten Kulturwissenschaftler, die Sowjetunion sei untergegangen, weil sie ihre Bürger, vor allem die junge Generation, zu Tode gelangweilt hätte. Diese kulturwissenschaftliche Interpretation bringt damit auf den Punkt, dass die Sowjetunion im Rahmen von Massenkonsum und Kulturindustrie immer weniger vermochte, den westlichen Vorgaben etwas Konkurrenzfähiges entgegen zu halten, um die materiellen und kulturellen Wünsche seiner Bürger erfüllen zu können. Nicht nur der Klassenfeind hörte statt Marschmusik lieber Rockmusik (z. B. das oben zitierte Lied Zug in Flammen), trug Jeans und Minirock und begeisterte sich für Cola und Martini.10 2. SICHERHEIT ALS LEITBILD DER MODERNE In Ergänzung zu den vorliegenden Interpretationen werde ich im Folgenden ausloten, inwieweit Sicherheit als Analysekategorie dazu taugt, einen erkenntnisreichen Blick auf die sowjetische Zerfallsgeschichte zu werfen.11 Natürlich galten Frei1983–1991, New York 2001; ders., The Rise and Fall of the Soviet Economy. An Economic History of the USSR from 1945, London 2003. 8 Robert Conquest, Party in the Dock, in: Times Literary Supplement, November 1992, S. 7. 9 Klaus Segbers, Der sowjetische Systemwechsel, Frankfurt am Main 1989; Bohdan Nahaylo / Victor Swoboda, Soviet Disunion. A History of the Nationalities Problem in the USSR, New York 1990; Steven L. Solnick, Stealing the State. Control and Collapse in Soviet Institutions, Cambridge 1998; Jan Hallenberg, The Demise of the Soviet Union. Analysing the Collapse of a State, Aldershot 2002; Edward Walker, Dissolution. Sovereignity and the Breakup of the Soviet Union, Lanham 2003. 10 Richard Stites, Russian Popular Culture. Entertainment and Society Since 1900, Cambridge 1993; Svetlana Boym, Common Places. Mythologies of Everyday Life in Russia, Cambridge 1994; Thomas Cushman, Notes From the Underground: Rock Music Counterculture in Russia, Albany 1995; Hilary Pilkington, „The Future is Ours”. Youth Culture in Russia, 1953 to the Present, in: Catriona Kelly / David Shepherd (Hg.), Russian Cultural Studies, Oxford 1998, S. 368–385; Karen Laß, Vom Tauwetter zur Perestrojka. Kulturpolitik in der Sowjetunion (1953–1991), Köln 1999; George Faraday, Revolt of the Filmmakers. The Struggle for Artistic Autonomy and the Fall of the Soviet Film Industry, College Station 2000; Michael Urban, Russia Gets the Blues. Music, Culture, and Community in Unsettled Times, Ithaca 2004; Alexei Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2006. 11 Unter dem Paradigma „Sicherheit“ hat Eckart Conze jüngst eine vielbeachtete Gesamtdarstellung der Geschichte der Bundesrepublik geschrieben und „Sicherheit“ dabei als einen analytischen Leitbegriff für die moderne Politikgeschichte empfohlen, vgl. Eckart Conze, Die Suche

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heit, Demokratie, Wahrheit und Sozialismus als die maßgeblichen Leitideen oder Wortschablonen, um die während der Perestrojka-Zeit die gesellschaftlichen Debatten und Zuschreibungsstreitigkeiten kreisten. Aber im Windschatten dieser politischen Großbegriffe war im erhitzten Klima der Finalitätskrise des Sowjetkommunismus stets auch von Sicherheit die Rede, und das in neuen Sinnzusammenhängen. Zweifellos gehört Sicherheit zu den schillerndsten Begriffen der Neuzeit mit einer außerordentlich bewegten Karriere. Begriffsgeschichtlich ist überzeugend nachgewiesen, dass das Wort Sicherheit erst im Zuge der neuzeitlichen Gesellschafts- und Staatsentwicklung zu einer politischen Zentralkategorie geworden ist, weil es gegenüber dem lateinischen securus (sorglos) auch die Bedeutung von certus (gewiss), tutus (geschützt), salvus (unversehrt) und fidus (zuverlässig) in sich aufgenommen hat.12 Sicherheit ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Ihr hoher Wert ergibt sich aus der allgemeinen Erfahrung der Fragilität und Verwundbarkeit menschlicher Existenz sowie nicht zuletzt aus der hohen Sicherheitsbedürftigkeit moderner Industriegesellschaften. Das Sicherheitsstreben stellt damit eine zentrale Motivation menschlichen Handelns dar. Daher kommt es nicht von ungefähr, dass die Herstellung und Wahrung von Sicherheit zu den Konstitutionsprinzipien des modernen Staates gehört. Darüber haben schon Thomas Hobbes, John Locke, Baron de Montesquieu und andere kluge Köpfe ausführlich nachgedacht.13 In seinem anregenden Essay über Sicherheit brachte es Wolfgang Sofsky 2005 treffend auf den Punkt: „Nicht Wohlfahrt oder Glück sind die ersten Aufgaben des Staates, sondern die Garantie der Unverletzlichkeit und der Unversehrtheit seiner Bürger. […] Aus der Sehnsucht nach Sicherheit bezieht der Staat seine Legitimität.“14 Das Zusammenspiel wachsender staatlicher Aufgabenzuweisung und gesellschaftlicher Gewährleistungserwartung machte Sicherheit zu einem normativ überlasteten Grundwert des Politischen und zu einem gesellschaftlichen Leitbild der Moderne.15 Wer wegen der damit einhergehenden rhetorischen Nützlichkeit

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nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009. Zuvor auch schon ders., Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer „modernen Politikgeschichte“ der Bundesrepublik Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 2005, 53, S. 357–380. Werner Conze, Sicherheit, Schutz, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 831–862; Andrea Schrimm-Heins, Gewissheit und Sicherheit. Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe certitudo und securitas, in: Archiv für Begriffsgeschichte, 1991, 34, S. 123–213 und 1992, 35, S. 115–213. Gerhard Robbers, Sicherheit als Menschenrecht. Aspekte der Geschichte, Begründung und Wirkung einer Grundrechtsfunktion, Baden-Baden 1987. Wolfgang Sofsky, Das Prinzip Sicherheit, Frankfurt 2005, S. 83f. Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchung zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, Stuttgart 21973; Jutta Allmendinger (Hg.), Entstaatlichung und soziale Sicherheit, Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig 2002, Opladen 2003. Neuerdings Herfried Münkler / Matthias Bohlender / Sabine Meurer (Hg.), Sicherheit und Risiko. Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2010.

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und emotionalen Appellqualität aber meint, dass Sicherheit als All-InclusiveBegriff zur bloßen ideologischen Leerformel verkommt, übersieht zweierlei. Erstens gibt es in den Politikwissenschaften seit längerem eine bewegte Diskussion um neue Konzepte von Sicherheit. Bei den gegenwärtig erörterten Leitbegriffen der comprehensive security und human security geht es vor allem darum, die traditionellen, vornehmlich auf den Staat konzentrierten Vorstellungen deutlich zu erweitern und zu vertiefen.16 Deshalb stehen nun verstärkt gesellschaftliche und individuell-menschliche Sicherheitsbelange im Fokus der Forschung, – also sowohl die Fähigkeit einer Gesellschaft, ihren Charakter unter sich verändernden Gefährdungslagen beizubehalten, als auch die Fähigkeit der einzelnen Bürger, ein selbstbestimmtes Leben in Würde zu führen. Trotz der immer wieder geäußerten berechtigten Kritik an der definitorischen Unschärfe ist die Zahl der Studien zur gesellschaftlichen und menschlichen Sicherheit in den letzten Jahren geradezu explodiert. Besondere Aufmerksamkeit genießt dabei der Ansatz der „Versicherheitlichung“, der von der Kopenhagener Schule der critical security studies entwickelt worden ist. „Versicherheitlichung“ (securitization) umschreibt einen kommunikativen Akt, in dessen Rahmen ein Problem von sprachmächtigen Gruppen öffentlich als Sicherheitsfrage bezeichnet wird. Dadurch werden bislang verdeckte oder vernachlässigte Gefahrenlagen vergegenwärtigt und dramatisiert; sie erhalten größte Dringlichkeit und existentielle Wichtigkeit zugeschrieben. Überzeugend suggeriert wird: Lassen sich diese Probleme nicht bewältigen, geraten die bestehenden sozialen Ordnungen aus den Fugen. Diese Sicht ermächtigt Staat und Gesellschaft dazu, alles Notwendige zu unternehmen, um – auch in Form von Sonder- und Ausnahmehandlungen – entschieden gegen die definierten Bedrohungen vorzugehen.17 Zweitens ist bei aller berechtigten Kritik an der Weitläufigkeit der neuen Konzepte zu beachten, dass der moderne gesellschaftliche Wertbegriff Sicherheit zentrale Funktions- und Sinnebenen hat, die sich zu einem allgemeingültigen Merkmalskatalog zusammenfassen lassen: 1. In verfassungstheoretischer Hinsicht stellt Sicherheit ein wiederholt verbrieftes Grund- oder Menschenrecht dar, um das Freisein von Unterdrückung und Willkür, Furcht und Not einfordern zu können (= Daseinsvorsorge und Daseinsfürsorge).

16 Birgit Mohnkopf (Hg.), Globale öffentliche Güter – für menschliche Sicherheit und Frieden, Berlin 2003; Tobias Debiel / Sascha Werthes, Human Security – vom politischen Leitbild zum integralen Baustein eines neuen Sicherheitskonzepts?, in: Sicherheit und Frieden, 2005, 23, S. 7–14; Cornelia Ulbert / Sascha Werthes (Hg.), Menschliche Sicherheit. Globale Herausforderungen und regionale Perspektiven, Baden-Baden 2008. Kritisch dazu Roland Paris, Human Security: Paradigm Shift or Hot Air?, in: International Security, 2001, 26, S. 87–102. 17 Zum Konzept der „securitization“ vgl. Ole Waever, Securitization and Desecuritization, in: Ronnie D. Lipschutz (Hg.), On Security, New York 1995, S. 46–86; ders. / Barry Buzan / Japp de Wilde, Security. A New Framework for Analysis, Boulder 1997; Thierry Balzacq, The Three Faces of Securitization. Political Agency, Audience and Context, in: European Journal of International Relations, 2005, 11, S. 171–201.

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2. In institutioneller Hinsicht kommt es zur Ausbildung spezialisierter Sicherheitsbehörden (= Militär, Polizei, Gesundheitswesen, Zivil- und Katastrophenschutz etc.). 3. In sozialer Hinsicht geht es um die Gewährleistung des erreichten Lebensstandards, die Bewahrung der gesellschaftlichen Position und der gewohnten Lebensumstände, in denen sich Gruppen und Menschen eingerichtet haben (= Statussicherheit und Verlässlichkeit). 4. In ideeller Hinsicht dient Sicherheit angesichts der zunehmenden Überkomplexität (post)moderner Gesellschaften und des rasanten Wandels dazu, die Gewährleistung von Werthaftem in der Zukunft zu erreichen, um unzumutbare Erfahrungsverluste zu vermeiden und ein gewisses Maß an Zuverlässigkeit zu gewinnen (= Gewissheit und positive Zukunftsprognose). 5. In psychologisch-emotionaler Hinsicht geht es um Gefühle der Geborgenheit, die Verbundenheit und Zugehörigkeit schaffen. Sie wiederum sind notwendig für das, was heute allgemein als Identitätsbildung verstanden wird (= Gefühlsund Bewusstseinszustand). 3. BEZOPASNOST’ (GEFAHRLOSIGKEIT) IN DER PERESTROJKA? VON DER STAATSSICHERHEIT ZUR MENSCHLICHEN SICHERHEIT In der Sowjetunion tauchte der Begriff Sicherheit (bezopasnost’) vor allem auf, wenn es um den Schutz des Parteistaats gegen äußere und innere Feinde, gegen ausländischen Einfluss und gefährliche Ideen ging. Die starke Staatszentriertheit fand ihren machtvollen bürokratischen Ausdruck in den drei wohl nicht nur aus James Bond-Filmen bekannten Buchstaben KGB. Aufgeschlüsselt und übersetzt als „Komitee für Staatssicherheit“ (Komitet Gosudarstvennoj Bezopasnosti), bezeichnete KGB in der Sowjetunion einen weit verzweigten polizeistaatlichen und geheimdienstlichen Behördenapparat, dessen kleine Brüder sich in Rumänien als „Securitate“ und in der DDR als „Staatssicherheit“ (Stasi) gleichfalls einen unrühmlichen Namen gemacht haben. Wenn die Parteiführer von Sicherheit sprachen, ging es ihnen also nicht um die menschliche Sicherheit ihrer Bürger, um den Schutz ihrer Lebensführung gegenüber unverschuldeten Beeinträchtigungen, sondern um die möglichst reibungslose Integration der sozialistischen Untertanen in die Ordnungen des Parteistaates.18 Das änderte sich entscheidend mit Beginn der Perestrojka, der 1986 von der neuen Parteiführung unter Gorbaþev proklamierten Umbau-Politik. Gorbaþev strebte nun endlich einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz an; er sprach darum wiederholt von „sozialer Sicherheit“ und verkündete die „ehrliche Sorge um den Menschen“. Sein „neues Sicherheitsdenken“ zielte deshalb darauf, internationale und innergesellschaftliche Wandlungsprozesse miteinander zu verzahnen. Die verbesserte Zusammenarbeit mit dem Westen sollte die notwendigen Mittel freisetzen, um mehr auf die sozialen Sicherheitsbedürfnisse der Sowjetbür18 Conze, Sicherheit, S. 860ff.

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ger eingehen zu können. Mit dieser zweigleisigen Sicherheitsagenda hoffte Gorbaþev darauf, seiner Politik sowohl im In- als auch im Ausland zu Ansehen und Glaubwürdigkeit zu verhelfen.19 Der politische Zwilling von Perestrojka war Glasnost’, ein auf Transparenz, Offenheit und die Etablierung neuer Kommunikationskanäle zielender programmatischer Begriff. Glasnost’ stellte „von oben“ eine ehrliche Informationspolitik in Aussicht und räumte zugleich die Möglichkeit ein, „von unten“ Probleme in den Medien publik zu machen. Es kam sowohl zu einem Strukturwandel der Öffentlichkeit als auch zu einem „Strukturwandel durch Öffentlichkeit“20. Den Sowjetbürgern war es seit 1986 erlaubt, sie bewegende soziale Aspekte zu „versicherheitlichen“ und damit als regelungsbedürftig zu kommunizieren. Der Begriff Sicherheit wanderte aus der „Sprache der Macht“ in die „Sprache der Menschen“, um so wachsende Aufmerksamkeit für die machtintern schon längst bekannten ungelösten Erschöpfungsprobleme des erstarrten Sowjetsystems zu schaffen.21 Die zuvor eingeforderte Wegschaukultur und verordnete Tabuisierung brisanter Themen gingen zu Ende. Die sorgsam durchgeführten Umfragen des Moskauer Allunions-Zentrum zur Erforschung der öffentlichen Meinung zeigten, dass es zu Beginn der Perestrojka in der Sowjetbevölkerung eine weit verbreitete Ungewissheit über den Ausgang des neuen Reformprojekts gab. Viele Sowjetbürger begrüßten dennoch anfänglich Gorbaþevs Initiativen zum Aufbruch aus der erstarrten Vergänglichkeit der Brežnev-Zeit, weil sie weiter an die noch nicht ausgeschöpfte Dynamik des sozialistischen Projektes glaubten. Das änderte sich aber bald. Die Umfragewerte aus den Jahren 1988 und 1989 belegten dramatische Vertrauensverluste.22 Die anfängliche Ungewissheit hatte sich zur Unheilsgewissheit verschärft; das Prinzip Hoffnung erlosch. Mit Enthüllungsstories und Katastrophenerzählungen schuf der sich 19 Vgl. vor allem seinen globalen Bestseller Michail Gorbatschow, Perestroika – die zweite russische Revolution. Eine neue Politik für Europa und die Welt, München 1987. 20 Diesen Begriff übernehme ich von Altrichter, Russland 1989, S. 25. Ausführlich Vjaþeslav Igrunov, Öffentlichkeitsbewegungen in der UdSSR. Vom Protest zum politischen Selbstbewußtsein, in: Klaus Segbers (Hg.), Perestrojka. Zwischenbilanz, Frankfurt am Main 1990, S. 76–105; Paul Roth, Glasnost und Medienpolitik unter Gorbatschow, Bonn 1990; Geoffrey A. Hosking / Jonathan Aves / Peter J.S. Duncan, The Road to Post-Communism. Independent Political Movements in the Soviet Union 1985–1991, London 1992; Silvia von Steinsdorff, Rußland auf dem Weg zur Meinungsfreiheit. Die Pluralisierung der russischen Presse zwischen 1985 und 1993, Hamburg 1994; Joseph Gibbs, Gorbachev’s Glasnost. The Soviet Media in the First Phase of Perestroika, College Station 1995; Monika Müller, Zwischen Zäsur und Zensur. Das sowjetische Fernsehen unter Gorbatschow, Wiesbaden 2001. 21 Zur veränderten Sprache und zu den Begriffsumdeutungen während der Perestrojka vgl. Gassan Gussejnov, Materialien zu einem russischen gesellschafts-politischen Wörterbuch, 1992–1993. Einführung und Texte, Bremen 1994; Nancy Ries, Russian Talk. Culture and Conservation during Perestrojka, Ithaca 1997; Birgit Menzel, Bürgerkrieg um Worte. Die russische Literaturkritik der Perestrojka, Köln 2001. 22 Zum Popularitätsverlust Gorbaþevs seit 1988 vgl. Simon, Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums, S. 66f.; Brown, Gorbatschow-Faktor, S. 26–30, 444; Juri Levada, Die Sowjetmenschen. Soziogramm eines Zerfalls, München 1993.

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entfaltende Gefahrenjournalismus eine als bedrückend empfundene Risikowirklichkeit. Von „Gefahrlosigkeit“, so die buchstäbliche Übersetzung des russischen Sicherheitsbegriffes bezopasnost’, war das Leben in der Sowjetunion offensichtlich weit entfernt. Die „Versicherheitlichung“ drängender gesellschaftlicher Themen bewies vielmehr nachdrücklich, dass das politische System kaum mehr in der Lage war, die durch den Aufstieg der Sowjetmoderne geschaffenen hohen zivilisatorischen Risiken zu kontrollieren. Der Parteistaat erschien keineswegs als verlässlicher Sicherheitsgarant und umfassende Versicherungsanstalt; er erwies sich vielmehr als organisierte Unverantwortlichkeit mit hohem Katastrophenpotential. Die evidente Brüchigkeit der ideologischen Versprechungen offenbarte sich den Sowjetbürgern darum nicht nur in politischen Debatten und kulturellen Diskursen, sondern gerade in der immer wieder erfahrenen Unberechenbarkeit des Lebens, in der schweren Last drückender Alltagsprobleme. An fünf ausgewählten „versicherheitlichten“ Glasnost’-Themen werde ich im Folgenden verdeutlichen, wie die neuen Formen eines vergesellschafteten Sicherheitsdenkens maßgeblich zur Legitimationskrise des Sowjetsystems beitrugen und Gorbaþevs Sicherheitsagenda zur Makulatur werden ließen.23 4. GLASNOST’ UND DIE VERGESELLSCHAFTUNG VON SICHERHEIT: FÜNF FALLBEISPIELE 4.1. Das Erdbeben in Armenien: Von der Natur- zur politischen Katastrophe Am 7. Dezember 1988 erschütterte ein schweres Erdbeben den Norden Armeniens. Es zerstörte vier Städte und 350 Dörfer. Mindestens 25 000 Menschen starben; weitere 50 000 wurden verletzt und 700 000 obdachlos. Ein Drittel der Bevölkerung der armenischen Sowjetrepublik wurde damit zu Erdbebenopfern. Die Naturkatastrophe weitete sich zur nationalen Tragödie und zum politischen Desaster aus; das Erdbeben veranschaulichte den miserablen Zustand des chronisch unterfinanzierten sowjetischen Katastrophenschutzes und deckte schonungslos die Schwächen des armenischen Gesundheitswesens auf. Die Partei- und Staatsbehörden vor Ort waren mit der Situation völlig überfordert; sie ergaben sich in Hilflosigkeit, Ängstlichkeit und Passivität. Für besonderen Unmut sorgte, dass die Rote Armee mit ihren Soldaten und schweren Gerätschaften in den Kasernen verweilte und sich trotz wiederholter Aufforderungen nicht an den Rettungsmaß23 An erster Stelle der Sicherheitsdefizite und der „versicherheitlichten“ Probleme müssten eigentlich die Umweltschäden genannt werden. Sie wurden nach der nuklearen Großkatastrophe in ýernobyl’ im April 1986 von den sowjetischen Medien besonders thematisiert. Über die damals vehement eingeforderte „ökologische Sicherheit“ habe ich ausführlich an anderer Stelle publiziert, vgl. Klaus Gestwa, Ökologischer Notstand und sozialer Protest. Der umwelthistorische Blick auf die Reformunfähigkeit und den Zerfall der Sowjetunion, in: Archiv für Sozialgeschichte, 2003, 43, S. 349–384; ders., Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus. Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948–1967, München 2010, S. 500– 555. Vgl. auch Murray Feshbach / Alfred Friendly, Ecocide in the USSR, London 1992.

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nahmen beteiligte. Die Armenier griffen deshalb zur Selbsthilfe. Die Führungsrolle übernahm das Karabach-Komitee. Dies war eine parteiunabhängige gesellschaftliche Massenorganisation, die sich wenige Monate zuvor gebildet hatte, um das wachsende Nationalbewusstsein der Armenier, ihr Drängen auf Souveränität und Eigenständigkeit öffentlich zum Ausdruck zu bringen.24 Schon seit längerem gab es in der kaukasischen Sowjetrepublik wiederholte Massenproteste gegen die voranschreitende Umweltverschmutzung und den Betrieb eines Atomkraftwerkes vom Typ ýernobyl’. Im Februar 1988 kam es dann zum offenen Konflikt zwischen den Sowjetrepubliken Azerbajdžan und Armenien um die Enklave Berg Karabach. Nach einigem taktischen Lavieren entschloss sich Gorbaþev, den armenischen Gebietsansprüchen nicht nachzukommen. Deshalb etablierte sich das Karabach-Komitee in klarer Opposition zur Politik des Kreml. Als es sich dann nach der Erdbebenkatastrophe in die Rettungsmaßnahmen einschaltete und Kompetenzen der Partei- und Staatsbehörden für sich beanspruchte, reagierte Moskau und ließ 300 armenische Nationalaktivisten verhaften. Gorbaþev erlitt deshalb einen massiven Imageverlust. Dazu trug auch bei, dass er unmittelbar nach dem desaströsen Beben publikumswirksam versprochen hatte, die zerstörten Städte innerhalb von zwei Jahren wieder aufzubauen, die Erdbebenopfer jedoch in der Folgezeit sich selbst überließ. Die vollmundige Perestrojka-Politik erwies sich in Armenien als bloße Wortakrobatik; versprochene Hilfsgelder blieben aus oder versickerten im Sumpf der Korruption. Infolge dieser traumatischen Katastrophenerfahrung gewann die armenische Nationalbewegung merklich an Zuspruch. Sie wirkte im gesamtsowjetischen Kontext als eine der zentrifugalen Kräfte, die auf ein Auseinanderbrechen des Sowjetimperiums drängten.25 Weit über den armenischen Kontext hinaus stellte das Erdbeben das gesamte sowjetische Urbanisierungsprogramm auf den Prüfstand, weil die zerstörten nordarmenischen Städte typische sowjetische Retortenstädte darstellten. Unter der Wucht der Erdstöße waren die mehrstöckigen Gebäude im Plattenbaustil infolge von fahrlässigen Baumängeln wie Kartenhäuser zusammengestürzt. Die sowjetischen Medien verkündeten, dass es bei einem vergleichbaren Beben in Kaliforni24 Zu dem Erdbeben in Armenien, dem politischen Versagen und den hohen Schäden vgl. Altrichter, Russland 1989, S. 54–59; R. Giel, The Psychosocial Aftermath of Two Major Disasters in the Soviet Union, in: Journal of Traumatic Studies, 1991, 4, S. 381–392; Armen Goenjian, A Mental Health Relief Programme in Armenia After the 1988 Earthquake, in: British Journal of Psychiatry, 1993, 163, S. 230–239; Pierre Verluise, Armenia in Crisis: The 1988 Earthquake, Detroit 1995. 25 Zum Aufstieg der armenischen Nationalbewegung, des Karabach-Komitees und des Konfliktes um Berg-Karabach vgl. Elisabeth Cheauré, Armenien im Oktober 1988. Eine Momentaufnahme, in: Osteuropa, 1989, 39, H. 2/3, S. 199–217; Peter Rutland, Democracy and Nationalism in Armenia, in: Europe-Asia Studies, 1994, 96, S. 839–861; Ronald G. Suny, Looking toward Ararat. Armenia in Modern History, Bloomington 1993, S. 192–212, 231–246; George A. Bournoutian, A Concise History of the Armenian People, Costa Mesa 2003, S. 326–332; Marina Kurkchiyan, The Karabagh Conflict. From Soviet Past to post-Soviet Uncertainty, in: Edmund Herzig / Marina Kurkchiyan (Hg.), The Armenians. Past and Present in the Making of National Identity, London 2005, S. 147–165; Johannes Rau, Der Berg-Karabach-Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. Ein kurzer Blick in die Geschichte, Berlin 2007.

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en nur wenige Tote gegeben hätte, weil dort auf eine erdbebensichere Bauweise geachtet würde. Kritische Zeitungsartikel arbeiteten nun auch die verheerenden Erdbebenkatastrophen von 1948 im turkmenischen Aschchabad und von 1966 im uzbekischen Taschkent auf. Schon damals hätte sich gezeigt, dass die für Stadtplanung Zuständigen kaum Wert auf die Gebäudesicherheit legten. Sie hätten, um die Urbanisierung im Kaukasus und in Zentralasien im gewünschten Eiltempo voranzubringen, verheerende Katastrophen in der erdbebengefährdeten südlichen Peripherie des Sowjetimperiums billigend in Kauf genommen.26 Millionen von Sowjetbürgern litten damals unter der Angst, selbst bald Erdbebenopfer werden zu können, weil sich der Parteistaat nicht ausreichend um ihre Daseinsvorsorge zu bemühen schien. Unter dem Damoklesschwert drohender seismischer Erschütterungen verwandelten sich gesellschaftliche Lebensräume in potentielle Todeszonen. Die armenische Katastrophe verdeutlichte, dass die Sowjetmoderne auf tönernen Füßen stand, weil sie zivilisatorische Risiken eingegangen war, die sie kaum mehr zu kontrollieren und einzugrenzen vermochte. Unter diesem Blickwinkel erschien Gorbaþev weniger als weitsichtiger Reformer, vielmehr als glückloser Katastrophenmanager, als ein Getriebener seiner eigenen Versprechungen, der sich angesichts der ererbten Sicherheitsprobleme mit seinem ambitionierten Programm kaum Gehör verschaffen konnte, sondern sich in der kläglichen Politik des Brandaustretens, im fatalen Zirkel von Glaubwürdigkeitsverlusten und Entmachtung gefangen sah. Immer einen Tag zu spät und einen Rubel zu wenig; so kam nicht der Wandel, sondern das Chaos voran. 4.2. Verkehrssicherheit: Unfallstatistik und Liquiditätskrise Das hohe Gefahrenpotential der Sowjetmoderne unterstrichen auch die offiziellen Unfallstatistiken, die dank Glasnost’ erstmals veröffentlicht wurden. Allein im Jahr 1989 waren 60 000 Sowjetbürger Verkehrsunfällen zum Opfer gefallen; bezogen auf die Gesamtbevölkerung und die Verkehrsdichte damit deutlich mehr als in allen westlichen Industrieländern.27 Die sowjetischen Medien berichteten erstmals über tragische Flugzeug- und Eisenbahnunfälle und dokumentierten zugleich längst vergangene, bisher aber verschwiegene Verkehrskatastrophen.28 Die Un26 Ron McKay, Briefe aus der Sowjetunion. Alltag in der UdSSR. Leserzuschriften an „Argumenty i Fakty“, München 1991, S. 160. 27 McKay, Briefe aus der Sowjetunion, S. 71ff.; Simon, Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums, S. 52f.; Bruno Schönfelder, Zur Lage der Alten, Kranken und Behinderten in der Sowjetunion, in: Osteuropa, 1990, 40, H. 3, S. 229–239, hier S. 237. Vgl. allgemein zu den Problemen mit der Verkehrs- und Betriebssicherheit sowie mit dem Arbeitsschutz in der Sowjetunion Paul R. Josephson, Would Trotsky Wear a Bluetooth? Technological Utopianism under Socialism, 1917–1989, Baltimore 2010, S. 233–264. 28 Für großes Aufsehen sorgte vor allem die Gaspipeline-Katastrophe im Ural am 4. Juni 1989. Damals strömte Gas aus einer lecken Pipeline. Diese Gaswolke entzündete sich, als die beiden Fernzüge Novosibirsk-Adler, Adler-Novosibirsk in ihr aneinander vorbeifuhren und Funken hochschlugen. Eine Stichflamme verwandelte die Züge, in denen mehr als 1 000 Passa-

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fallursachen waren neben sträflicher Fahrlässigkeit, technischer Mängel und infrastrukturellem Verschleiß vor allem die unverantwortliche Trunksucht zahlreicher Verkehrsteilnehmer. Hier und nicht an den planwirtschaftlichen Strukturdefiziten versuchte die Perestrojka-Politik anzusetzen. Gorbaþev verschärfte den Kampf gegen den Alkoholismus. Im Volksmund wurde der neue Generalsekretär daraufhin zum „Mineralsekretär“. Anfänglich traf die Anti-Alkoholismus-Politik zwar auf Zustimmung, besonders bei den sowjetischen Frauen; der Moskauer Feldzug gegen das Trinken wurde aber zunehmend unpopulär, weil er äußerst bedenkliche Nebenfolgen hatte. So brachten illegale Brennereien minderwertigen Alkohol in Umlauf, der viele Konsumenten schwer erkranken oder sterben ließ. Die Produktsicherheit war kaum mehr gewährleistet. Zahnpasta, Schuhcreme, Zucker, Rasierwasser und andere Waren, aus denen sich irgendwie Alkohol destillieren ließ, verschwanden aus den Geschäften; zahllose Wohnungen und Datschen umhüllte der süßliche Geruch, der unweigerlich beim Schnapsbrennen entsteht. Zudem zeigte die halbherzige sowjetische Prohibition dieselben Auswirkungen wie die amerikanische mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor: Mafiabanden bildeten sich.29 Den größten Rückschlag erlitt die Nüchternheitspolitik der Perestrojka aber durch das riesige Loch im Staatshaushalt, das die sinkenden Einnahmen aus der Alkoholsteuer rissen. Nicht nur die sowjetischen Alkoholiker, sondern auch das Finanzministerium befand sich in einer akuten Liquiditätskrise. So fehlten dem Sowjetstaat unter anderem die Gelder für dringende Investitionen in das Gesundheitswesen, um die medizinische Sicherheit der Bürger zu sichern. Das führt zum nächsten versicherheitlichten Glasnost’-Thema: AIDS. 4.3. AIDS: Die tiefe Krise des sowjetischen Gesundheitswesens Anfang der 1980er Jahre war AIDS als neue globale Pandemie zu einem gesundheitspolitischen Schwerpunkt und zu einem Medienspektakel aufgestiegen. Zur ersten dokumentierten HIV-Infektion eines Sowjetbürgers kam es 1987. Im Fokus der AIDS-Gefahr thematisierten die Perestrojka-Medien nun die bedrohlichen giere saßen, und die gesamte Umgebung in ein Flammenmeer. Vgl. Altrichter, Russland 1989, S. 250ff. Andere (Beinahe-) Katastrophen wurden in Leserbriefen beschrieben. Siehe Marina Albee (Hg.), Die neue Freiheit. Gorbatschows Politik auf dem Prüfstand. Leserbriefe an die Zeitschrift „Ogonjok“ 1987–90, München 1990, S. 77f. 29 Zum Alkoholmissbrauch und zur politischen Kampagne gegen den Alkoholismus vgl. Brown, Gorbatschow-Faktor, S. 237–240; Bernd Knabe, Der Kampf gegen die Trunksucht in der UdSSR, in: Osteuropa, 1986, 36, H. 3, S. 173–197; Wolf Oschlies, Der Wodka hat Folgen wie ein mittlerer Krieg. Gorbatschows Kampagne gegen Alkoholismus und Drogenmißbrauch, in: Sowjetunion 1986/87, hg. von Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, München 1991, S. 74–81; UdSSR: Zwischenbilanz im Antialkoholkampf, in: Osteuropa, 1988, 38, H. 4, S. A216–A223; Boris S. Bratus, Alcoholism in Russia. The Enemy Within, in: Diane F. Halpern / Alexander E. Voiskounsky (Hg.), States of Mind. American and Post-Soviet Perspectives on Contemporary Issues in Psychology, New York 1997, S. 198–212; Stephen White, Russia goes Dry. Alcohol, State and Society, Cambridge 1995.

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Mängel des sowjetischen Gesundheitswesens. Sie berichteten davon, dass Geschlechtskrankheiten in der Sowjetunion ein weit verbreitetes soziales Übel seien, weil es sowohl an einer aufklärerischen Sexualerziehung als auch an Verhütungsmitteln mangelte. Die „verbrecherische Tatenlosigkeit“30 in diesem Bereich habe so zum beschämenden Massenphänomen der Abtreibung geführt, die Abermillionen von sowjetischen Frauen unter unwürdigsten Umständen über sich ergehen lassen mussten.31 Im internationalen Vergleich der Gesundheitssysteme war die Sowjetunion weit hinter den westlichen Industrienationen zurückgefallen; sie belegte in der Statistik der Weltgesundheitsorganisationen nunmehr einen Abstiegsplatz. Der desolate Zustand der medizinischen Versorgung ließ angesichts der drohenden AIDS-Pandemie Schlimmes erwarten. Im April 1989 wagte ein frustrierter Moskauer Gesundheitsexperte eine düstere Prognose und brachte darin die Sorgen vieler Sowjetbürger zum Ausdruck: „Ich fürchte, dass unser Land seinen eigenen Weg zur Aids-Krankheit gehen wird. Die Homosexualität ist die Hauptgefahr in den USA, die Bigamie in Afrika. Uns führt unsere altvertraute traditionelle Schlamperei zu Aids. Und vor dem Schlendrian sind alle gleich schutzlos, keiner ist dagegen versichert.“32

Daraufhin gründete im Sommer 1989 die Wochenillustrierte Ogonek, das Flaggschiff der Glasnost’ von unten, eine „Anti-AIDS-Organisation“ und rief ihre Leser zu Spenden auf. Der Sowjetunion stehe eine dramatische AIDS-Epidemie bevor, weil es an Präservativen, Einwegspritzen und gut ausgestatteten Labors fehle. Jeder Zahnarzt- oder Krankenhausbesuch könne mit einer unverschuldeten HIVInfektion enden. In einem Fall war in der Stadt Elista sogar eine Gruppe von Kleinkindern infiziert worden, weil Ärzte sie mit einer typischen Mehrwegspritze geimpft hatten, die zuvor verwendet worden war, um einem AIDS-kranken Drogensüchtigen Blut abzunehmen. Hier deutete sich schon an, was später traurige Realität werden sollte: Dass nämlich die explosionsartige Zunahme der Zahl der Drogensüchtigen nicht nur der organisierten Kriminalität, sondern auch dem AIDS-Virus den Weg in die Gesellschaft bereitete.33 30 Oleg Mores, SPID v Sovetskom Sojuze, in: Literaturnaja gazeta, 19. April 1989, S. 13. Hier zitiert nach: Simon, Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums, S. 259. 31 McKay, Briefe aus der Sowjetunion, S. 18, 155f; Adrian Geiges / Tatjana Suworova, Liebe steht nicht auf dem Plan. Sexualität in der Sowjetunion heute, Frankfurt am Main 1989; Renate Baum, Sexualität, Familienplanung, Abort – Tabuthemen in der sowjetischen Gesellschaft, in: Uta Grabmüller / Monika Katz (Hg.), Zwischen Anpassung und Widerspruch, Wiesbaden 1993, S. 63–76; Mary Buckley, Redefining Russian Society and Polity, Boulder 1993, S. 87–100. 32 Mores, SPID v Sovetskom Sojuze, S. 13. 33 Alla Alowa, Die Anti-Aids-Kampagne. Ein Spendenaufruf, in: Dirk Kretzschmar / Antje Leetz (Hg,), Ogonjok. Ein Querschnitt aus dem Perestroika-Magazin, Reinbek 1991, S. 97– 99. Ferner Simon, Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums, S. 259ff; McKay, Briefe aus der Sowjetunion, S. 132–136, 152f.; Albee, Neue Freiheit, S. 173–176. Zur Ausbreitung von AIDS in der Sowjetunion und im postkommunistischen Russland vgl. ausführlich Henrik Bischof, Gesellschaftspolitische Probleme im Realsozialismus. Aids, Prostitution, Drogen, Bonn 1989; Christopher Williams, AIDS in Post-Communist Russia and Its Successor States, Aldershot 1995; K. Dehne, The HIV Epidemic in Central and Eastern Europe,

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Sicherheit meint immer auch die Gewissheit, dass die bestehende Sozialordnung zukünftige Gefahren kontrollieren und beherrschen könne. Die Vergegenwärtigung der AIDS-Problematik verdeutlichte, dass in der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre kaum jemand mehr Vertrauen in die parteistaatlichen Ordnungskräfte hatte.34 4.4. Das Komitee der Soldatenmütter: Der Vertrauensverlust der sowjetischen Streitkräfte Wenn es um das Leben der Kinder geht, dann regt sich etwas, was es in Diktaturen sonst selten gibt: Protest. Neben HIV-infizierten Kleinkindern schockte Millionen sowjetischer Eltern vor allem der skandalöse Umgang der Roten Armee mit jungen Wehrdienstleistenden. 1988 gründete sich deshalb das „Komitee der Soldatenmütter“, eine bis heute bestehende, international viel beachtete Menschenrechtsorganisation. Ihr Aufstieg begann, als im Februar 1987 ein dramatischer Vorfall Aufsehen erregte. Ein Deserteur hatte drei ältere Soldaten erschossen, nachdem sie ihn zuvor nachweislich gepeinigt, gefoltert und vergewaltigt hatten. Die Perestrojka-Medien rückten nun die innermilitärischen Gewaltverhältnisse ins Licht der Öffentlichkeit. Sie sprachen davon, dass jährlich 8 000 Soldaten bei der Ableistung ihres Wehrdienstes zu Tode kamen, und zwar nicht auf den fernen Schlachtfeldern in Afghanistan, sondern daheim in den sowjetischen Garnisonen. Die Verstorbenen waren zumeist Opfer des exzessiven Kasernenterrors, der sogenannten dedovšþina. Wörtlich übersetzt meint dieser russische Begriff „Herrschaft der Großväter“. Er umschreibt eine informelle männerbündische Gewaltkultur, die es den dienstälteren Soldaten erlaubt, ihre jüngst einberufenen Kameraden willkürlich zu schinden und zu quälen. Während die verantwortlichen Generäle diese rechtswidrigen, entwürdigenden Verhältnisse bagatellisierten, zwangen die Soldatenmütter mit ihrer Medienpräsenz schließlich Gorbaþev dazu, sie im Kreml zu empfangen und eine Untersuchungskommission zu gründen. Sie zeichnete in ihGeneva 1999; Laetitia Altani et al., Social Change in HIV in the Former USSR. The Making of a New Epidemic, in: Social Science and Medicine, 2000, 50, S. 1547–1556; William E. Butler, Injecting Drug Use and HIV. Harm-Reduction Programs and the Russian Legal System, in: William Alex Pridemore (Hg.), Ruling Russia. Law, Crime, and Justice in a Changing Society, Lanham 2005, S. 205–225; Judyth L. Twigg / R. Skolnik, Evaluation of the World Bank’s Assistance in Responding to the AIDS Epidemic. Russia Case Study, Washington, D.C. 2005; Judyth L. Twigg (Hg.), HIV/AIDS in Russia and Eurasia, Bd. 2, New York 2006. 34 Zur Krise des sowjetischen Gesundheitssystems vgl. die kritischen Zeitschriftenartikel, Leserbriefe und Berichte in Alexander Minkin, Tödliche Seuche, in: Kretzschmar / Leetz (Hg,), Ogonjok, S. 217–222; McKay, Briefe aus der Sowjetunion, S. 109ff., 123–132, 153ff.; Simon, Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums, S. 52f. Ferner Schönfelder, Zur Lage der Alten, Kranken und Behinderten; Heinz-Müller-Dietz, Die Diskussion um die Entwicklung des sowjetischen Gesundheitswesen, in: Osteuropa, 1988, 38, H. 1, S. 35–44; M. Field / Judyth L. Twigg (Hg.), Russia’s Torn Safety Net. Health and Social Welfare during the Transition, New York 2000.

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rem Abschlussbericht ein erschütterndes Bild vom desolaten Zustand der Roten Armee.35 Wenn die Generäle noch nicht einmal die Unversehrtheit der in ihrer Obhut stehenden Wehrdienstleistenden garantieren könnten, wie sollten sie dann in der Lage sein, den Schutz des Landes zu gewährleisten, so die harsche öffentliche Kritik. Die sowjetischen Streitkräfte erschienen nicht mehr als mächtiger Sicherheitsgarant und Stolz des Parteistaates, sondern als potentieller Gefahrenraum und Schule der Gewalt. Millionen von sowjetischen Familien taten alles nur Erdenkliche, um ihren Söhnen die Einberufung zu ersparen. Der Generalstab und das Offizierskorps erlitten einen herben Image- und Vertrauensverlust; ihre Statussicherheit war akut gefährdet; die Rote Armee stürzte in eine tiefe Legitimationskrise.36 4.5. Privatisierung von Sicherheit: Privates Kleinunternehmertum, organisierte Kriminalität und gated communities Infolge wachsender ökonomischer Probleme konnte das zentralisierte Wirtschaftsund Verteilungssystem der Sowjetunion während der Perestrojka-Zeit nicht mehr die Versorgungssicherheit der Bürger gewährleisten. „Defizit“ avancierte in dieser Zeit zum inoffiziellen Unwort des Jahres; die endlose Menschenschlange wurde zum sozialen Ort, an dem man sich einander mitteilte oder aufeinander einschlug, um knappe Güter zu erstehen.37 Die neue Parteiführung unter Gorbaþev versuchte, die akuten Versorgungsengpässe dadurch zu lindern, dass sie privates und genossenschaftliches Kleinunternehmertum zuließ. In den sowjetischen Großstädten wuchsen sogenannte Kooperativen wie Pilze aus dem Boden. Sie boten von 35 Anatoly Kusnetzow, Innenansichten der Sowjetarmee, in: Simon, Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums, S. 267–274; Albee, Neue Freiheit, S. 168–173; McKay, Briefe aus der Sowjetunion, S. 230f., 241. Zum Komitee der Soldatenmütter, das 1996 den Alternativen Nobelpreis und 2004 den Aachener Friedenspreis erhielt, vgl. Wanda Wahnsiedler, Menschenrechte in der GUS-Armee. Berichte der Komitees der Soldatenmütter und der Eltern der zu Friedenszeiten getöteten Soldaten, Frankfurt am Main 1993; Eva Maria Hinterhuber, Die Soldatenmütter Sankt Petersburg. Zwischen Neotraditionalismus und neuer Widerständigkeit, Münster 1999; Marianna Butenschön, Die Soldatenmütter von St. Petersburg: „Schützen wir unsere Söhne“, in: Berichte des Bundesinstituts für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien, Köln 2000; Yelizaveta Bogoslovskaya et al., The Soldiers’ Mother of St. Petersburg. A Human Rights Movement in Russia, in: Stephen J. Cimbala (Hg.), The Russian Military into the Twenty-First Century, London 2001, S. 179–196. 36 Hans-Henning Schröder, Die Verlierer der Perestrojka. Das Militär und die Rüstungsindustrie, in: Wolfgang Eichwede et al. (Hg.), Revolution in Moskau. Der Putsch und das Ende der Sowjetunion, Reinbek 1991, S. 156–175; Manfred Sapper, Die Auswirkungen des Afghanistan-Kriegs auf die Sowjetgesellschaft. Eine Studie zum Legitimitätsverlust des Militärischen in der Perestroika, Münster 1994; William E. Odom, The Collapse of the Soviet Military, New Haven 1998. 37 Vgl. die literarische Verarbeitung der Erfahrung des „Schlangestehens“ bei Vladimir Sorokin, Die Schlange, Zürich 1990. Zu den Klagen über den alltäglichen Mangel und das nervenaufreibende Anstehen siehe die anschaulichen Leserbriefe in Albee, Neue Freiheit, S. 19–38, 48f.

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handwerklichen Dienstleistungen über die Lebensmittel- und Konsumwarenproduktion bis hin zum Wohnungsbau all das an, woran es den Sowjetbürgern angesichts ihrer Planwirtschaft ohne Plan mangelte.38 Dieses sich explosiv entwickelnde Kleinunternehmertum blühte vielfach in einer staatlicherseits nur unzureichend geregelten Sphäre auf und war deshalb vielfältigen Belästigungen und willkürlichen Behinderungen ausgesetzt. Zusammen mit dem privaten Unternehmertum entstanden darum kriminelle Schutzgeldbanden. Deren straff organisierte Mitglieder, die sogenannten raketơry, verschafften mit brutaler Gewalt und furchteinflößenden Drohhandlungen den Kleinunternehmern den notwendigen Freiraum, damit diese ihre Geschäftstätigkeit entfalten konnten. Sie waren damit einerseits Beschützer, anderseits Erpresser, weil sie den Kleinunternehmern keine andere Möglichkeit boten, als bei ihnen gegen die Zahlung beachtlicher Geldsummen um Hilfe nachzusuchen. Angesichts fehlender Rechtssicherheit boomte während der Perestrojka die organisierte Kriminalität. Das meist ungehinderte Treiben der Schutzgeldbanden unterlief das Gewaltmonopol des Staates und torpedierte damit die Autorität der Behörden. Es provozierte Ängste in der Bevölkerung, nachdem der blutig ausgetragene Bandenkrieg immer mehr unbeteiligte Opfer forderte. Ende der 1980er Jahre gehörten Schießereien in öffentlichen Räumen zum großstädtischen Alltag.39 In den 1990er Jahren begannen die Schutzgelderpresser ihr lukratives, aber gefährliches Geschäft zu legalisieren, indem sie Sicherheitsfirmen gründeten. Diese bemühten sich fortan offiziell mit Gewerbeschein um das Wohl ihrer Geschäftskunden. Darüber hinaus boten sie den Umbruchs- und Privatisierungsgewinnern zahlreiche Dienste im Bereich des Personenschutzes an, damit sich diese „neuen Russen“ vor machtgierigen Konkurrenten und der unzufriedenen Bevölkerung nicht zu fürchten brauchten. Die neuen Sicherheitsfirmen trugen maßgeblich dazu bei, mit den von ihnen überwachten „gated communities“ neue abgeschlossene Sicherheitszonen im urbanen Raum zu schaffen. In ihnen konnten sich fortan diejenigen ihr Leben einrichten, die es sich leisten konnten, als exklusive neue Elite unter sich zu bleiben. Hier kam es zu einer Kommerzialisierung und Privatisierung von Sicherheit.

38 Thomas C. Owen, Russian Corporate Capitalism from Peter the Great to Perestroika, Oxford 1995, S. 84–114. 39 René Ahlberg, Die Mafia in der UdSSR. Geschichte und Struktur des organisierten Verbrechens in der Sowjetunion, in: Osteuropa, 1990, 40, H. 2, S. 115–132; Wolf Oschlies, Alle anderthalb Stunden ein Mord. Sowjetische Kapitulation in Raten vor der Kriminalität, in: Sowjetunion 1990/91, hg. von Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, München 1991, S. 117–126; Andrej Illesch, Die Roten Paten. Organisiertes Verbrechen in der Sowjetunion, Reinbek 1992; Johan Bäckman, The Inflation of Crime in Russia. The Social Danger of the Emerging Markets, Helsinki 1998; Federico Varese, The Russian Mafia. Private Protection in a New Market Economy, Oxford 2001; David Satter, Darkness at Dawn. The Rise of the Russian Criminal State, New Haven 2003.

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5. FAZIT: GESCHEITERTE MODERNISIERUNG DER SOWJETMODERNE Die Sowjetunion ist sicherlich nicht wegen Erdbeben, Verkehrsunfällen, AIDS, Kasernenterrors und der organisierten Kriminalität implodiert. Aber im Fokus dieser ungelösten versicherheitlichten Probleme lässt sich anschaulich zeigen, dass die Perestrojka-Politik auf allen Funktions- und Sinnebenen von Sicherheit versagte. Die Sicherheitsbehörden wie der Katastrophenschutz, das Gesundheitswesen, die Streitkräfte und die Polizei waren heftig in die Kritik geraten; die Verlässlichkeit der Daseinsvorsorge und Daseinsfürsorge konnte kaum mehr glaubhaft vermittelt werden; liebgewonnene Gewissheiten und Identitäten lösten sich auf. Glasnost’ überflutete die Sowjetbürger mit Informationen zu gegenwärtig durchlebten, zu aufgearbeiteten vergangenen und zu zukünftigen Katastrophen; so kam es zu einer Verschmelzung und Verdichtung der Zeit- und Krisenhorizonte. Die neue Offenheit hatte damit nicht nur einen verbesserten Nachrichtenfluss zur Folge, sondern vermittelte auch die Vorstellung einer offenen Sowjetgesellschaft, die allen Schicksalsschlägen schutzlos ausgeliefert war. Der Begriff Fortschritt, einst die zuversichtlichste Ausdrucksform des ungebrochenen Moskauer Planungsoptimismus, verfiel im Delirium des fortschreitenden Vertrauensverlustes einer Kultur der Angst, der Empörung und des Zorns. Die Zukunft erschien vielen Sowjetbürgern nicht mehr als Zufluchtsort der Hoffnung auf ein besseres Leben, sondern als bedrohliche Gefahrenquelle. Ein fortgesetztes Unheilszenario hatte das politische Klima verdunkelt und eine Spirale des Misstrauens die Institutionen des Parteistaats zersetzt. Die in vielfältigen Lebensbereichen entsicherten Sowjetbürger setzten mit ihrer vehement vorgetragenen vergesellschafteten Sicherheitsagenda mächtige Kräfte in Bewegung.40 So gesehen waren Erdbeben, Verkehrsunfälle, AIDS, Kasernenterror und Kriminalität keineswegs nur „unangenehme Nebeneffekte“41 für Gorbaþevs Reformen, sondern politische Offenbarungsakte, die soziale Verwundbarkeiten und das zutiefst Prekäre der Sowjetmoderne sichtbar machten. Die angebliche klassenlose Sowjetgesellschaft, die ihren Bürgern kommunistisches Vollkasko versprochen hatte, stellte sich als eine extrem gefährdete Hochrisikogesellschaft heraus, in der die Erfahrung der zivilisatorischen Selbstgefährdung schmerzliche Gefühle des Ausgeliefertseins schürte. Kurzum: immerfort Alarm, fast niemals Entwarnung. Im Rückblick lässt sich die Perestrojka fraglos als der verzweifelte Versuch einer nachholenden Modernisierung der Sowjetmoderne deuten. Wenn Gorbaþev von der „dringenden Notwendigkeit radikaler Reformen für eine revolutionäre Veränderung“42 sprach, dann zielte der von ihm eingeleitete politische Renovierungsprozess auf den längst überfälligen Übergang zu einer reflexiven Moderne, die Systemfundamente überprüft und ideologische Glaubensaxiome kritisch hin40 William Moskoff, Hard Times. Impoverishment and Protest in the Perestroika Years. The Soviet Union 1985–1991, Armonk 1993. 41 So die Formulierung von Brown, Gorbatschow-Faktor, S. 29. 42 Gorbatschow, Perestroika, S. 67.

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terfragt, um Blockaden und Erstarrungen durch eine auf Dauer gestellte Neuerungsdynamik aufzubrechen.43 Allerdings schlug der Aufbruch seit 1989 mit aller Kraft in einen Umbruch, der Systemwandel in einen Systemwechsel um. Die reflexive Moderne der Perestrojka mutierte zu Beginn der 1990er Jahre zur fluiden postkommunistischen Moderne der Katastrojka, in der bestehende soziale Formen sich schneller auflösten, als neue an ihrer Stelle entstehen konnten. Der etwas prosaische Titel meines Beitrags „Perestrojka als missglückter Tanz auf dem zivilisatorischen Vulkan“44 verweist deshalb darauf, dass die verspätete Modernisierung der Sowjetmoderne letztlich auch scheiterte, weil die ambitionierte Reformpolitik angesichts der enormen Last von Transformationsproblemen und Strukturmängeln nicht in der Lage war, Sicherheit als die Grundvoraussetzung erfolgreicher politischer und gesellschaftlicher Entwicklung zu gewährleisten. „In der Sowjetunion führte eher die Reform zur Krise als umgekehrt.“45 Diese pointierte Aussage des bekannten britischen Politkwissenschaftlers Archie Brown, die gegenwärtig großen Zuspruch erhält, kann nicht unwidersprochen bleiben, wenn die bedrohlichen Sicherheitsprobleme der späten Sowjetgesellschaft in den Blick genommen werden. Die Häufung von Katastrophen (ýernobyl’, das Erdbeben in Armenien, die drohende AIDS-Pandemie, Umwelt- und Verkehrskatastrophen) und das kaum mehr zu übersehende Versagen des Parteistaats auf allen Ebenen von Sicherheit waren die zwangsläufige Folge struktureller Entwicklungsdefizite der Sowjetmoderne. Sie wurden in den 1980er Jahren immer sichtbarer und beschworen letztlich die sich zuspitzende Krisensituation herauf, aus der Gorbaþev mit seinen Reformen keinen Ausweg fand. Dass er nicht den „chinesischen Weg“ einer erneuten Knebelung und Unterdrückung der Bevölkerung einschlug, ist sicherlich eine Entscheidung, die ihm – wie dies heute leider in Russland viele tun – nicht als politische Inkompetenz und Fahrlässigkeit angerechnet werden darf. Als Gorbaþev (Oberst Vasin) die Sowjetbevölkerung endlich über den Ernst der Lage informierte (wir haben „mit uns selbst Krieg geführt“), befand sich das Land schon längst am Rand des Abgrunds (stand der Zug in

43 Zum Begriff der „reflexiven Moderne“ vgl. Ulrich Beck / Anthony Giddens / Scott Lash (Hg.), Reflexive Modernisierung, Frankfurt am Main 1994; Ulrich Beck / Christoph Lau, Theorie und Empirie reflexiver Moderne: Von der Notwendigkeit und den Schwierigkeiten, einen historischen Gesellschaftswandel innerhalb der Moderne zu beobachten und zu begreifen, in: Soziale Welt, 2005, 56, S. 107–135. Kritisch zu dieser sozialwissenschaftlichen Diagnose vgl. Klaus Dörre, Reflexive Modernisierung – eine Übergangstheorie. Zum analytischen Potential einer populären soziologischen Zeitdiagnose, in: SOFI-Mitteilungen, Juli 2002, S. 55–67; Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, S. 67–72. 44 Mit dem „Tanz auf dem zivilisatorischen Vulkan“ verwende ich hier eine Formulierung von Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986, S. 24, 101. 45 Archie Brown, Aufstieg und Fall des Kommunismus, Berlin 2009, S. 796. Ausführlich ders., Seven Years that Changed the World: Perestrojka in Perspective, Oxford 2007. Ähnlich Vladislav M. Zubok, A Failed Empire. The Soviet Union in the Cold War from Stalin to Gorbachev, Chapel Hill 2007, S. 303–335.

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Flammen).46 Die Reformen der Perestrojka waren daher nicht die Ursachen der Finalitätskrise der Sowjetunion; sie waren der verzweifelte, letztlich fehlschlagende Versuch, ihr zu entkommen. Insofern ging die tiefe Strukturkrise der Sowjetmoderne, der die kaum mehr zu verbergenden Katastrophen dramatische Evidenz verliehen, den Reformen doch voran. 6. AUSBLICK: PUTINS RE-VERSTAATLICHUNG VON SICHERHEIT UND DER HEISSE SOMMER 2010 Seit Ende der 1990er Jahren ist auf die Vergesellschaftung des Sicherheitsbegriffs während der Perestrojka eine erneute Verstaatlichung gefolgt. Ein Blick in den Ende 2007 veröffentlichten „Plan Putins“, der sowohl das Wahlprogramm der neuen Staatspartei „Geeintes Russland“ darstellt, als auch den zukünftigen Aufstieg Russlands zu neuer Größe darlegt, zeigt, dass die Moskauer Polittechnokraten heute den Begriff „Sicherheit“ wieder im klassischen Sinne von nationaler oder innerer Sicherheit vornehmlich auf den Staat beziehen. Die während der Perestrojka-Zeit öffentlich verhandelten Aspekte der sozialen und menschlichen Sicherheit werden im Sprachgebrauch des Kreml hingegen im Begriff „Stabilität“ (stabil’nost’) zusammengefasst, um sie mittels ihrer „Entsicherheitlichung“ als sekundäre Themen gesondert erörtern zu können. In Zeiten stets drohender terroristischer Attentate und eines rhetorisch gern heraufbeschworenen „neuen Kalten Krieges“ dient dieser semantische Trick dazu, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zum einen auf die Machtinteressen des russischen Staates zu lenken, zum anderen von den weiterhin ungelösten drückenden sozialen Problemen und den weithin existenten Bedrohungen abzulenken.47 Charakteristisch für die gegenwärtige Politik des Kreml ist ein im Juni 2008 ergangenes Urteil gegen das Komitee der Soldatenmütter. Seine engagierten Menschenrechtsaktivistinnen hatten zuvor aufgedeckt, dass in der homophoben russischen Gesellschaft Offiziere Rekruten regelmäßig zur Prostitution zwingen, um einerseits illegal Geld zu verdienen, anderseits mit sexuellen Gefälligkeiten männerbündische Netzwerke in Armee, Wirtschaft und Verwaltung zu unterhalten. Obwohl die Beweislage gegen die angeklagten Offiziere erdrückend war, verurteilte das zuständige russische Gericht die Zeitung, die es gewagt hatte, die Anschuldigungen zu veröffentlichen, zu einer hohen Geldstrafe, an der sie bankrott ging. Dem Komitee der Soldatenmütter wurde es fortan unter Androhung harter Sanktionen untersagt, das Ansehen der Roten Armee durch derartige Vorwürfe weiter zu beschädigen, um das Vertrauen der russischen Bevölkerung in ihre

46 Vgl. die Verse des zu Beginn zitierten Liedtexts Zug in Flammen. 47 Clifford G. Gaddis / Andrew C. Kuchins, Putin’s Plan, http://www.twq.com/08spring/ docs/08spring_gaddy.pdf. Vgl. ausführlich Margareta Mommsen / Angelika Nußberger, Das System Putin. Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Russland, München 2007.

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Streitkräfte als Garant von Sicherheit und Größe nicht zu untergraben.48 In der gelenkten Demokratie und Öffentlichkeit Russlands hat der Kreml offensichtlich wieder die Kontrolle darüber gewonnen, welche Themen versicherheitlicht werden und welches politische Handeln angeblich Sicherheitsprobleme schafft, um sich selbst so die Agenda für die eigene Politik zu setzen. Im heißen Sommer des Jahres 2010 steht nicht mehr der von der Rockgruppe Akvarium besungene Zug metaphorisch, sondern Russland tatsächlich in Flammen. Gigantische Torfflächen und Waldgebiete brennen lichterloh; verkohlte Dörfer vermitteln das Bild einer Kriegslandschaft. Der Notstand ist ausgerufen; Militäreinheiten werden in Marsch gesetzt, um wichtige Atomanlagen vor der herannahenden Feuersbrunst zu schützen. Moskau erstickt im Smog; ein beißender Brandgeruch legt sich über das Land; im undurchsichtigen Dunst gedeihen allerlei Gerüchte und Ängste. Der sonst so allmächtige Kreml wirkt merkwürdig machtlos; die Politiker stürzen sich in ungelenken Aktionismus und biedern sich den Fernsehzuschauern mit schönen Versprechungen an, um ihre Hilflosigkeit zu kaschieren. Die politischen Gemüter der Menschen erhitzen sich trotzdem an der gefährlichen Ignoranz der Mächtigen, die gemeint haben, den Forst- und Brandschutz bedenkenlos privatisieren und Expertenwarnungen in den Wind schlagen zu können. Die im Kreml ungeliebten Umweltschützer sind plötzlich gefragte Interviewpartner. Sie fordern, endlich wieder Mensch und Natur vor der Rücksichtslosigkeit und Fahrlässigkeit der Herrschenden zu schützen. Der Dunst in Moskau scheint so eine eigenartige gesellschaftliche Kraft zu entwickeln. Angesichts der offensichtlich gewordenen Unfähigkeit des russischen Staates, verheerende klimabedingte Katastrophen zu bewältigen, bleibt abzuwarten, ob der Begriff Sicherheit in Zukunft nicht erneut vergesellschaftet wird, um statt den Belangen des Staates den drückenden Nöten der Menschen Dringlichkeit und Aufmerksamkeit zuzuschreiben.

48 Kerstin Holm, Rekruten missbraucht, Presse geknebelt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 127, 3. Juni 2008, S. 38.

EPOCHENWECHSEL 1989/91 Horst Möller „Wende“: Dieser Begriff geht auf Egon Krenz zurück und hat sich – zumindest in den neuen deutschen Bundesländern – in der Alltagssprache zur Benennung des Umbruchs von 1989/91 durchgesetzt. Kaum je dürfte ein weltrevolutionärer Prozess wie der Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen und der weltpolitische Wandel mit einem derart laschen, ja nichtssagenden Wort belegt worden sein. Diese Begrifflichkeit erscheint noch kurioser, wenn man sich an den Regierungswechsel von 1982 erinnert: Auch damals war von einer Wende die Rede, Helmut Kohl erhob seinerseits den Anspruch, eine geistig-moralische Wende herbeizuführen: Wenn der Begriff „Wende“ für einen solchen Vorgang brauchbar ist, dann ist er offensichtlich für die epochale Zäsur von 1989/91 völlig verfehlt, zumal andere demokratische Regierungswechsel, beispielsweise der von 1969 von der Großen zur sozialliberalen Koalition, mit einem viel massiveren Wort – Machtwechsel – charakterisiert worden sind. 1. Die historisch-politische Sprache ist verräterisch, sie zeigt in diesem Fall ein überraschendes Unvermögen vieler Zeitgenossen, die historische Tragweite von Ereignissen zu erfassen, die sie selbst erlebt haben. Historiker machen diese Erfahrung immer wieder: Zeitgenossenschaft ist alles andere als historische Erkenntnis. Angemessene Begrifflichkeit hingegen ist ein Mittel des Begreifens. So halte ich den Begriff „Revolution“ für angemessen, um den Epochenbruch zu erfassen, auch wenn die modernen Revolutionen 1688 in England, 1776 in Nordamerika, 1789 in Frankreich, 1848/49 in vielen europäischen Staaten, 1917 in Russland und 1918/19 in Deutschland bzw. Österreich jeweils spezifische Ursachen besaßen und einen anderen Verlauf nahmen. Geschichtswissenschaft und Soziologie haben zahlreiche Definitionen und Interpretationen zum Phänomen neuzeitlicher Revolutionen geliefert. Entscheidend sind dabei die formalen Kriterien, nicht aber die unscharfen politischen oder ethischen Bewertungen, die für die einen die Revolution zum Traum, für die anderen aber zum Trauma machen. Zu diesen formalen Charakteristika eines historischsoziologischen Revolutionsbegriffs gehört die Diskontinuität der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung, darunter die Zerstörung des bestehenden politischen und verfassungsrechtlichen Systems – in diesem Sinne sind Revolutionen immer „illegal“. Sie müssen es sein, weil sie die Legitimität des bestehenden Zustands infrage stellen und anstelle der existierenden Legalität eine neue fordern –

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und im Erfolgsfall auch realisieren. Erfolgreiche Revolutionen stehen sodann vor dem Problem, der von ihnen geschaffenen neuen Ordnung bei der Bevölkerung Anerkennung zu verschaffen, sie also im Unterschied zu der des Ancien régime auch als legitim erscheinen zu lassen. Dies ist in der Regel ein längerfristiger Vorgang, dessen Gelingen nicht zuletzt vom wirtschaftlichen Erfolg der neuen Politik abhängt, der die materielle Lage der Bevölkerung verbessert. Neben dieser mittel- und langfristigen Komponente einer erfolgreichen Revolution gehört zum unmittelbaren Sieg der Wechsel des politischen Systems und der politischen Kultur, was ohne einen Elitenwechsel nicht möglich ist. Dabei müssen Elitenwechsel nicht zwangsläufig total sein, es können auch Angehörige früherer Funktionseliten zur neuen revolutionären Herrschaftselite gehören. In der Französischen Revolution von 1789 waren das unter vielen anderen beispielsweise der Graf Mirabeau oder der ehemalige Bischof Talleyrand. Gelingt der Systemund Elitenwechsel nicht, wie etwa in den einzelstaatlichen Revolutionen innerhalb des Deutschen Bundes 1848/49, dann bleibt der Revolution der unmittelbare Erfolg versagt. Gleichwohl können von solchen Revolutionen mittel- oder langfristige Wirkungen ausgehen: So blieben alle wesentlichen Themen und Ziele der Verfassungsberatungen der Frankfurter Paulskirche auf der Tagesordnung der deutschen Politik, und es dauerte nicht einmal eine Generation, bis sie in wesentlichen Zügen – wenngleich nicht mit den Mitteln einer Revolution – durch Bismarck 1871 realisiert wurden. Revolutionen sind normalerweise zeitlich und prozessual gestreckte Transformationsprozesse, oder sie sind zumindest mit ihnen verbunden, da ein gesellschaftlicher Strukturwandel nicht in einem oder einzelnen Akt(en) vollzogen wird. Dies wird bereits daran deutlich, dass revolutionären Eruptionen mehr oder weniger lang anhaltende Krisen vorausgehen. Auch der Wechsel der politischen Eliten erfolgt normalerweise in Schüben, nur selten bleibt die erste Garde der revolutionären Eliten dauerhaft im Besitz der Herrschaft: „Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder“ – dieser Erfahrungssatz von Wolfgang Leonhard muss nicht notwendig wörtlich und mörderisch verstanden werden, insgesamt aber trifft er zu. Damit stellt sich die Frage, ob eine Revolution zwangsläufig gewalttätig verlaufen bzw. Tote fordern muss. Dies ist zwar bei revolutionären Systemwechseln meist, keineswegs aber immer der Fall. Und auch bei den ost- bzw. mittelosteuropäischen Revolutionen zwischen 1989 und 1991 gab es unterschiedliche Beispiele – denkt man nur an die DDR oder Rumänien. Schwieriger sind die Inhalte zu definieren. Ist beispielsweise ein fundamentaler Wechsel der Wirtschaftsordnung charakteristisch für Revolutionen, wie es die marxistische Revolutionstheorie suggeriert? Nein, dies war weder bei der Amerikanischen Revolution von 1776 noch bei der deutschen von 1918/19 der Fall, allerdings gilt dies für die Revolutionen von 1989/91. Noch schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob eine fundamentale Veränderung des internationalen Systems zwangsläufig Konsequenz großer nationaler Revolutionen ist. Der Logik einer nationalen Revolution entspricht eine solche Wirkung nicht, und doch haben Revolutionen in großen Staaten nahezu immer nachhaltigen Einfluss auf die internationale Politik: Das galt zwar nicht für die englische Revolution von 1688, die

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in erster Linie eine Verfassungsrevolution in einem Land war, doch aber für die Amerikanische Revolution von 1776 und in ungleich stärkerem Ausmaß für die Französische Revolution, die zwischen 1789 und 1815 das gesamte europäische Staatensystem des Ancien régime durcheinanderwirbelte. Mag eine solche Wirkung der Russischen Oktoberrevolution von 1917 eher indirekt und langfristig gewesen sein, so erwies sich der Sturz der kommunistischen Diktaturen seit 1989 nicht bloß als Kette nationaler Revolutionen, sondern – mit dem Ende des Kalten Krieges und der Zweiteilung der Welt – als fundamentale Revolution des internationalen Systems und der nach 1945 entstandenen Nachkriegsordnung. Helmut Altrichter, der wie kein zweiter einen beträchtlichen Teil seines Œuvre der Erforschung russischer bzw. sowjetischer Revolutionen gewidmet hat, benutzt bzw. analysiert den Begriff „Revolution“ in seinen drei Büchern „Die Bauern von Tver. Vom Leben auf dem russischen Dorfe. Zwischen Revolution und Kollektivierung“1, „Staat und Revolution in Sowjetrußland 1917–1922/23“2 und vor allem seinem großen Werk „Rußland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst“3, in dem sich die fast hundertseitige Einleitung intensiv und generell mit dem Begriff „Revolution“ und speziell mit den Strukturbedingungen der russischen Revolution befasst. Doch in seinem jüngsten Meisterwerk „Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums“4 spielt der Begriff keine aufschließende Rolle für seine Interpretation des Umbruchs von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, sondern kommt eher beiläufig vor, wenn er etwa von der „samtenen Revolution“ in der Tschechoslowakei spricht. Viel spricht dafür, dass die Epochenzäsur von 1989/91 unsere Vorstellung von Revolution verändert bzw. erweitert hat. Darum geht es in diesem Beitrag. Die epochale Zäsur von 1989/91 lehrt die Historiker, in welchem Maße aus ihrer zeitgenössischen Standortgebundenheit Irrtümer erwachsen können: Man kennt eine Geschichte nur, wenn man ihr Ende kennt. Vor 1989 kannte man das Ende des Kommunismus nicht, das Ende der Nachkriegszeit nicht, das Ende der deutschen Teilung nicht – alle Äußerungen darüber blieben hypothetisch, viele Irrtümer in der Einschätzung der DDR, nicht nur von Politikern und Publizisten, auch von Wissenschaftlern, rührten daher, dass man ihr Ende nicht kannte. Zahlreiche vermeintliche Experten hatten damals nicht allein den wahren Charakter des DDR-Regimes und ihre wirtschaftliche Schwäche verkannt. Sie hatten manipulierten Statistiken vertraut und schließlich die Unzufriedenheit der Bevölkerung unterschätzt, zugleich aber die Entwicklungspotentiale kommunistischer Diktaturen überschätzt: Sie erwiesen sich als ebenso schlechte Diagnostiker wie als illusionäre Prognostiker. Heute wissen wir, dass auch der Reformkommunismus in

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Helmut Altrichter, Die Bauern von Tver. Vom Leben auf dem russischen Dorfe zwischen Revolution und Kollektivierung, München 1984. Helmut Altrichter, Staat und Revolution in Sowjetrußland 1917–1922/23, Darmstadt 21996. Helmut Altrichter, Rußland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn 1997. Helmut Altrichter, Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München 2009.

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Europa keinerlei Chancen besaß. Seien wir uns also bewusst, dass auch wir das Ende derjenigen Geschichte nicht kennen, deren Zeitgenossen wir sind. Was ist aus diesen Überlegungen zu schließen? Epochale Zäsuren wie die von 1989/91 verändern die Perspektiven, nicht allein die Perspektive auf die Zukunft, auch die auf die Vergangenheit. Komplexe historische Strukturen und Situationen sind nie so eindeutig, wie sie dem Zeitgenossen oft erscheinen, ihre Schichten können erst nach und nach, mit wachsendem Abstand und zunehmender historischer Erfahrung freigelegt werden. Einige bekannte Beispiele demonstrieren diesen Sachverhalt: Die schlichte Deutung des 8. Mai 1945 als Befreiung – die Politiker, Publizisten und große Teile der deutschen Bevölkerung ungefähr seit 1985 bejubelt haben – zeigt die Verkürzung nicht nur auf die deutsche, sondern sogar bloß auf die westdeutsche Perspektive. Es ist also kein Wunder, dass ein Pole normalerweise zwar den 27. Januar 1945 als Datum der Befreiung von Auschwitz ansieht, aber erst das Jahr 1989 als Jahr der Befreiung des gesamten Landes. Die Zäsur von 1989/91 rückt also das Ende des Zweiten Weltkrieges nicht in ein anderes, aber in ein helleres Licht. Auch für diese Urteile gilt: Erst die zeitliche Distanz erlaubt eine angemessene historische Beurteilung und die Einsicht, die vielen Zeitgenossen verstellt ist: Es musste nicht so kommen, wie es kam – eine teleologische Deutung wäre auch für 1989/91 verfehlt. Und ein solcher Befund gilt ebenfalls für das Jahr 1949 – das Jahr, in dem die deutsche Teilung verfassungsrechtliche, wenn nicht völkerrechtliche Signifikanz erhielt. Diese Teilung Deutschlands, Europas und der Welt vertiefte sich immer mehr: Je länger sie dauerte, desto weniger hielt man das Ende der Teilung für möglich. Und doch mehrten sich in den 1970er, vor allem aber den 1980er Jahren die Anzeichen, dass die Welt nicht so bleiben würde, wie sie war; ich nenne einige Indizien: – die KSZE-Konferenzen der 1970er Jahre mit dem berühmten Korb III der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975, die die Ostblockstaaten unter den Druck menschen- und bürgerrechtlicher Forderungen setzten – sie unterschätzten offensichtlich die Rückwirkungen der Verträge im eigenen Land; – den NATO-Doppelbeschluss vom Dezember 1979, der die Sowjetunion zur Modernisierung und Steigerung ihrer wirtschaftlichen Leistungskraft zwang; – SolidarnoĞü in Polen seit 1980; – die Nationalitätenprobleme und den wachsenden Reformdruck in der Sowjetunion, der seit Mitte der 1980er Jahre zu Gorbaþev, Glasnost’ und Perestrojka führte. Wie schon Alexis de Tocqueville erkannte: Der gefährlichste Augenblick eines schlechten Regierungssystems ist der Moment der Reform; – schließlich den bald nach dem Tode Titos beginnenden Zerfall Jugoslawiens. Die Geschichte beschleunigte sich, bis sich 1989/91 die Ereignisse überstürzten: Die Geschichte änderte ihren Rhythmus.

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2. Der Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen beendete in Europa nicht allein das Zeitalter der totalitären Ideologien; ihre Katastrophe dokumentierte das Scheitern geschichtsphilosophisch begründeter Zukunftshoffnungen, das Scheitern der utopischen Gegenentwürfe für Gesellschaft und Wirtschaft. Auch die kurzzeitigen Versuche, nach der endgültigen Entlarvung Stalins als massenmörderischen Diktator, die bereits auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 durch Chrušþev begann, Lenin als Hoffnung kommunistischer Heilserwartung wiederzubeleben, waren chancenlos: Lenin wurde als Begründer des bolschewistischen Terrorsystems erkannt und ebenfalls vom Sockel gestürzt; aus Leningrad wurde wieder Sankt Petersburg – Dialektik des Fortschritts oder Ironie der Geschichte? Die schwachen Bemühungen intellektueller Selbstimmunisierung, der historischen Erfahrung auszuweichen und an Stelle eines nicht mehr zu verteidigenden „realen“ einen „idealen“, also wahren Sozialismus zu konstruieren, blieben in Westeuropa auf wenige intellektuelle Zirkel beschränkt. In der Tat sind solche Konstrukte unangreifbar, weil sie wieder einmal die Welt auf den Gedanken, das heißt auf den Kopf stellen: Es gibt eben Prämissen, die nie für die Praxis, immer aber für die Theorie taugen. 3. Über einen Vergleich kommunistischer und nationalsozialistischer Diktaturen, über die all diesen Regimen gemeinsamen totalitären Herrschaftselemente, kann seit 1989/91 wieder sachlich diskutiert werden, nachdem mehr als zwei Jahrzehnte lang die komparative Analyse totalitärer Herrschaft als Produkt des Kalten Krieges von der Mehrzahl der einschlägig arbeitenden Historiker und Politikwissenschaftler sowie eines erheblichen Teils der öffentlichen Meinung verworfen worden war. Diktaturvergleich galt als „rechts“, warum bleibt unerfindlich. Heute betreiben ihn auch diejenigen, die vor 1989 schon die bloße Frage nach Ähnlichkeiten als anstößig empfanden. Stalin, der wie Mussolini 1922 an die Macht gelangt war, und Hitler, der sie 1933 eroberte, werden im Hinblick auf die terroristische Herrschaftstechnik, Skrupellosigkeit, Grauenhaftigkeit und das Ausmaß ihrer Verbrechen, schließlich ihr durch ideologischen Fanatismus aufgeladenes Hegemoniestreben und ihren Personenkult als die beiden vergleichbaren Pole personifizierter Inhumanität des 20. Jahrhunderts erkannt, zwischen denen zeitweilig die demokratischen Rechtsstaaten Mittel- und Osteuropas zerquetscht wurden. Als das nationalsozialistische Deutschland im Juni 1941 den Hitler-Stalin-Pakt brach, die Sowjetunion angriff und einen ideologischen und rassistischen Vernichtungskrieg ohnegleichen führte, um den Bolschewismus auszurotten, das Land zu unterjochen und sogenannten „Lebensraum“ im Osten Europas zu erobern, zeigten sich zwar Unterschiede des außenpolitisch vorsichtigen Stalin und der „Alles oder Nichts“-Mentalität Hitlers, doch spricht dies nicht gegen den Vergleich.

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Und ebensowenig wird der Vergleich dadurch überflüssig, dass beide Diktaturen einander gegensätzliche bzw. feindselige Ideologien verfochten, dass ihre Verbrechen durch Motive und Opfer jeweils singulär waren: Die Analogien diktatorischer Herrschaft und ihre wechselseitige historische Bezüglichkeit werden durch diese Fakten nicht gegenstandslos. Selbstverständlich bedeutet eine solche Erkenntnis weder Relativierung im ethischen Sinne noch Apologie im politischen: Keine der beiden Diktaturen ist durch die andere zu rechtfertigen, auch wenn sie in komplexer Weise aufeinander bezogen waren, zeitweilig kooperiert haben und schließlich verfeindet waren. Vielmehr handelt es sich hier um zwei unterschiedliche Argumentationsebenen, deren Vermischung immer wieder für Zündstoff sorgt: Die komparative, auf die wechselseitige Ursächlichkeit und die jeweiligen epochenspezifischen Entstehungsbedingungen rekurrierende Interpretation verfährt geschichtswissenschaftlich, sie „historisiert“ ihren Erkenntnisgegenstand. Die gegenteilige Richtung fürchtet aus gegenwartsbezogenen politischmoralischen Gründen einen solchen historisierenden Vergleich, hält ihn fälschlich für Gleichsetzung und in gewisser Weise für „volkspädagogisch“ gefährlich: Historisches „Verstehen“ (was keineswegs „entschuldigen“ bedeutet), einordnen und analysieren ist ihre Sache nicht. Die Kritiker des Vergleichs halten demgegenüber ausschließlich die permanente Beschwörung der deutschen NS-Vergangenheit für notwendig, um jede – zweifellos moralisch verwerfliche und politisch problematische – „Verdrängung“ der Vergangenheit aus dem kollektiven Bewusstsein der Gegenwart zu verhindern. Naturgemäß steht Verdrängung im Gegensatz zu jeglicher geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, insofern besteht in dieser Hinsicht gar kein Dissens. Und ebenso unbestreitbar ist, dass die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland als Lernprozess aus der Vergangenheit entwickelt wurde und das stets lebendige Bewusstsein der historischen Erblast die Demokratie in Deutschland stabilisiert, gegen Nationalismus immunisiert und den europäischen Weg der Bundesrepublik erleichtert hat. Dazu gehörte aber zugleich der viel beschworene, oft ironisierte und trotzdem fundamentale antitotalitäre Grundkonsens aller demokratischen Parteien der frühen Bundesrepublik. Trotzdem gilt: Geschichtswissenschaft bringt zwar Erkenntnisse, die für die politische Bildung in der Gegenwart genutzt werden müssen. Dieses Lernen aber ist stets ein indirekter Prozess, in gewisser Weise ein Nebeneffekt. Wie jede Wissenschaft muss sich auch die der Geschichte auf ihren Gegenstand richten – und der liegt nun einmal in der Vergangenheit und nicht in der Gegenwart. Und auch hier zeigt sich: Der das 20. Jahrhundert charakterisierende Kampf zwischen totalitären Diktaturen und liberalen rechtsstaatlichen Demokratien in Europa wurde nicht schon 1945, sondern erst 1989/91 entschieden. Dies ist der entscheidende Zuwachs an zeitgeschichtlicher Erfahrung. Dazu gehört nun aber auch, dass die deutsche Egozentrik transzendiert wird: Das Problem der historischen Erblast hat bei den Nachbarländern andere Inhalte als bei den Deutschen, oder genauer: Die Deutschen müssen zwei – wenn auch unterschiedliche – Diktaturerfahrungen im 20. Jahrhundert verantwortlich tragen.

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Diejenigen Nachbarstaaten, die bis 1945 Opfer des nationalsozialistischen Deutschland waren, lebten deshalb fünfundvierzig Jahre lang, also eineinhalb Generationen, mit einer verordneten kollektiven Unschuldsvermutung über die eigene Nachkriegsgeschichte. Auch sie aber werden ohne vorbehaltlose Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte ein Demokratie- bzw. Rechtsstaatsdefizit behalten. Und das gilt keineswegs nur für das Verhalten gegenüber deutschen Minderheiten, sondern für die innenpolitischen, gesellschaftlichen, moralischen und ökonomischen Folgen der kommunistischen Diktaturen. Dass aber auch die anderen Fragen aktuell bleiben, zeigt unter anderem die immer wieder auflebende Diskussion über die Beneš-Dekrete – auch in Tschechien selbst. Insgesamt werden die Massenvertreibungen, darunter die der Deutschen, als Charakteristikum des 20. Jahrhunderts erkannt und bleiben, auch da, wo ihre historischen Konsequenzen überwunden sind, ein zwar historisches, immer wieder in der Gegenwart aktualisiertes Thema: Es ist eben nicht dauerhaft möglich, die Geschichte zu segmentieren und sich – positiv oder negativ – nur den Teil aus dem Kuchen herauszuschneiden, der einem gerade für eine Instrumentalisierung in der aktuellen Situation zupasskommt. Insgesamt also gilt: Die national unterschiedlichen Vergangenheiten sind auch nach 1989/91 in zum Teil verschärfter Form reaktualisiert worden, der Zusammenbruch des Kommunismus ermöglicht nun auch in den von ihm bis dahin beherrschten Staaten seine historische Bewertung, seine europäische und weltpolitische Rolle kann angemessen analysiert werden, nicht allein, weil viele Quellen zugänglich geworden sind, sondern auch, weil wir nun das Ende kennen: „Le passé d’une illusion“ 5, „Das Ende einer Illusion“ lautete denn auch der bezeichnende Buchtitel des großen französischen Historikers François Furet, der selbst seit der sowjetischen Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn 1956 vom Kommunisten zum Liberalen geworden war. Dieses Werk über den Kommunismus im 20. Jahrhundert und die von ihm angerichteten Verheerungen konnte Furet aber erst nach dessen Zusammenbruch schreiben. Und natürlich gilt das auch für das „Schwarzbuch des Kommunismus“6, herausgegeben von Stéphane Courtois, das trotz mancher Mängel ebenfalls große Verdienste hat. Bezeichnend ist, dass solche Werke zwar auch in Deutschland großen Erfolg hatten, vergleichbare Darstellungen dort aber nicht geschrieben wurden. 4. Bis 1989 schien es, als ob die deutsche Teilung eine definitive Konsequenz der durch die nationalsozialistische Diktatur über Europa verbreiteten Barbarei, ihrer 5 6

Furet François, Le passé d’une illusion, essai sur l’idée communiste au 20e siècle, Paris 1995. Stéphane Courtois et al., Le Livre noir du communisme. Crimes, terreur, répression, Paris 1997; vgl. dazu Helmut Altrichter, „Offene Großbaustelle Russland“. Reflexionen über das „Schwarzbuch des Kommunismus“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1999, 47, S. 321–361.

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Niederlage im Zweiten Weltkrieg und der ideologischen bzw. machtpolitischen Teilung der Welt bleiben würde. Der fundamentale Widerspruch des 20. Jahrhunderts zwischen Demokratie und Diktatur schien auf deutschem Boden fest installiert. Der Riss ging durch die Nation selbst, die europäische Mittellage Deutschlands schien sich in der Zweiteilung einer westlichen und einer östlichen Einbindung aufzulösen. Beide Teilstaaten beendeten, in feindliche Blöcke einbezogen, alle deutschen „Sonderwege“, die die europäischen Nachbarn und die Welt in Angst und Schrecken versetzt hatten. Die Historiker, die vorschnell die Kategorie der Nation und des Nationalstaats auf den Müllhaufen überlebter Vergangenheit geworfen hatten, wurden durch die Nationalitätenkonflikte der 1980er Jahre und endgültig seit 1989 eines anderen belehrt. Wenngleich das wiedervereinigte Deutschland durch seine europäische Einbettung nicht einfach die Wiederherstellung des traditionellen Nationalstaats ist, so doch auch nicht der postnationale Staat, an den wir uns im Zeitalter der Zweistaatlichkeit gewöhnt hatten. Offensichtlich bedarf diese Frage einer vertieften Betrachtung. Die siebzig Jahre anhaltende Unterdrückung von ungefähr 80 Völkern durch die bolschewistische Herrschaft in der Sowjetunion hatte es offensichtlich nicht vermocht, dauerhaft die Nationalitäten gleichzuschalten. Auf dem Balkan kehrte überraschend fast eine analoge Situation wie vor dem Ersten Weltkrieg zurück, auf dem Boden der ehemaligen Tschechoslowakei entstanden zwei Staaten, und auch in westlichen Demokratien sind Autonomiebestrebungen, zum Teil in terroristischen Formen, wie im spanischen Baskenland, zu beobachten. Offenbar sind alle im 20. Jahrhundert erprobten Modelle, das Nationalitätenproblem zu lösen, gescheitert, so unterschiedlich sie auch waren: Das gilt für historisch gewachsene Organisationsformen, wie den autokratischen Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn, für politische Neugründungen, wie den Nationalitätenstaat Tschechoslowakei zwischen den Kriegen und nach 1945, für die Versailler Ordnung seit 1919, für die sowjetische Unterdrückung ganzer Völker und Länder – in der sich internationalistischer Sozialismus mit großrussischem Imperialismus verband – ebenso wie für rassistische Großraumpolitik des NS-Regimes mit der Versklavung ganzer Völker. Offensichtlich stehen wir seit den 1980er Jahren vor einer Re-Nationalisierung, insbesondere in der Sowjetunion bzw. ihrer Nachfolgestaaten sowie ihrer früheren Satelliten. 5. Wir sind damit an den Punkt gelangt, an dem es nicht mehr um die bisher behandelte Verquickung von Problemen der Vergangenheit mit denen der Gegenwart und Zukunft geht, sondern eindeutiger um die nach 1989/91 im Mittelpunkt stehenden konkreten Konsequenzen dieser Zäsur. Ist der innen- und außenpolitische Weg der meisten Völker und neuen Staaten erkennbar, die sich aus der sowjetischen Umklammerung und der kommunistischen Beherrschung befreit haben? Gingen die Nationalbewegungen seit dem

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19. Jahrhundert in der Regel eine Symbiose aus nationaler Emanzipation, zunehmender Konstitutionalisierung der Herrschaft, Parlamentarisierung und schließlich Demokratisierung ein, verbanden sich also die Staatsbildungsprozesse mit einer Modernisierung, so ist diese Symbiose nur in einem Teil der ehemaligen Ostblockstaaten bzw. Sowjetrepubliken evident. Die nationale Emanzipation aus sowjetischer Hegemonie brachte keineswegs überall Gleichberechtigung der Minoritäten, wie wir noch jetzt im Falle der Ungarn in der Slowakei direkt vor unserer Haustür sehen. Die Wiederherstellung der kleineren Staaten stellte nicht zwangsläufig eine konsequente Demokratisierung dar, an der es vielen Neugründungen ohnehin gebricht, denkt man beispielsweise an Weißrussland, die Ukraine oder die komplexen Probleme in der Kaukasusregion, von denen Tschetschenien nur eines, wenn auch das bekannteste ist. Dabei ist ungewiss, ob die kleineren Minoritäten überhaupt die staatsbildende Kraft besitzen, um lebensfähige Staaten aufzubauen. Mit anderen Worten: Von einer Konsolidierung sind größere Regionen noch weit entfernt. Die innen- und außenpolitische Destabilisierung, die der Zerfall der Sowjetunion bewirkte, leitete eine Entwicklung ein, schloss sie aber bis heute nicht ab. Demgegenüber schritt nach 1990 die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft in den ostmitteleuropäischen Staaten außerhalb der GUS sehr viel entschiedener voran, wenngleich überraschend oft in reformsozialistischen Nachfolgeparteien ehemalige Kommunisten wieder in politische Spitzenämter gelangt sind. Paradoxerweise bemühen sie sich meist um die Durchsetzung einer marktwirtschaftlichen, also antisozialistischen Wirtschaftsordnung: Sie alle müssen indes die Erfahrung machen, die auch den Deutschen nicht erspart bleibt. Die Abtragung einer 45-jährigen Altlast dauert mindestens eine Generation, zumal in vielen Staaten während der kommunistischen Herrschaft nicht einmal alle vorhergehenden Kriegsschäden beseitigt werden konnten. Personelle Kontinuitäten aus der reformerischen Schlussphase einzelner kommunistischer Regime bedeuten also nicht zwangsläufig Fortsetzung ihrer politischen Zielsetzung mit anderen Mitteln: Ungarn, in einem komplexen Mischungsverhältnis auch Polen, bilden dafür Musterbeispiele, während in den ersten Jahren nach der Neugründung die Slowakei mit Meþiar ein Gegenbeispiel vorführte. In jedem Fall, und das war in Deutschland nach dem Krieg nicht anders, braucht eine erfolgreiche Demokratiegründung Zeit: Die Weimarer Republik bildet ein warnendes Beispiel dafür, dass die Verbindung von Systemwechsel und schneller Lösung fundamentaler Probleme sowie Erblasten extrem schwierig ist. Die Transformationsfolgen, die der Weg aus einer Diktatur in eine Demokratie mit sich bringt, sind auch nach 1989/91 nur zu offensichtlich, nicht allein in der Wirtschaft, deren Liberalisierung schwere soziale Folgen hatte: Ihr stand eine Erwartungshaltung der Bevölkerung gegenüber, die nicht bzw. nicht schnell befriedigt werden konnte. Auch der Wechsel der politischen Eliten verlief weder konsequent noch reibungslos. Kollektive Mentalitäten zu ändern dauert Jahrzehnte, eine demokratische politische Kultur muss sich erst entwickeln.

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6. Zunächst waren seit den 1980er Jahren im Westen und Osten gegenläufige Tendenzen für die internationale Kooperation zu beobachten: Die erzwungene Zusammenarbeit unter sowjetischer Hegemonie schlug in ihr Gegenteil um, dieser Prozess der Re-Nationalisierung und Desintegration beschleunigte sich seit 1990. Im Westen hingegen hat sich seit der Grundlegung in den 1950er Jahren, die mit den Montanverträgen und den Römischen Verträgen von 1957 begann, die Internationalisierung und die (west-) europäische Integration verstärkt. Seit dem Ende der Sowjetunion 1991 bemühten sich eine Reihe ostmitteleuropäischer Staaten um einen Anschluss an den Westen. Der NATO-Beitritt Polens, Ungarns und Tschechiens 1999, die dann darüber hinausgehenden Erweiterungen der EU auf 27 Mitgliedsländer und die 25 Sicherheitspartnerschaften (mit dem 1997 geschaffenen NATO-Russland-Rat als ständigem Konsultationsforum) haben die bis 1991 bestehende Zweiteilung überwunden, wenngleich sie im Georgienkrieg und der Debatte über die Stationierung amerikanischer Raketen in Polen zeitweise wieder aufzutauchen schien. Die sicherheitspolitische Konstellation gegenüber dem Kalten Krieg und dem Gegensatz von NATO und Warschauer Pakt ist tatsächlich in kaum glaublichem Ausmaß revolutioniert worden. Die NATO ist in Europa als einziges Militärbündnis übriggeblieben, ihre Vormacht, die USA, die einzige Weltmacht; sie ist aber inzwischen ihrerseits durch den Krieg im Irak, ihr fortdauerndes militärisches Engagement dort und in Afghanistan sowie durch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008/09 geschwächt. Auch die Rolle der NATO hat sich verändert, sie ist tatsächlich kein reines Defensivbündnis mehr, als das sie 1949 gegründet wurde und was sie mehr als 40 Jahre auch gewesen ist. Durch die Beteiligung an UN-Kampfeinsätzen im ehemaligen Jugoslawien seit 1994 wurden sicherheitspolitische Aufgaben wahrgenommen, die nicht durch den Angriff auf eines der Mitglieder provoziert wurden, gleiches gilt natürlich auch für den Einsatz in Afghanistan. In diesem Rahmen hat sich zwangsläufig die Aufgabenstellung der Bundeswehr verändert, nachdem noch beim ersten Irakkrieg im Januar/Februar 1991 jegliche militärische Beteiligung des gerade wiedervereinigten Deutschlands auf heftigsten innenpolitischen Widerstand stieß. 7. Nicht allein in sicherheitspolitischer, sondern ebensosehr in wirtschafts- und finanzpolitischer Hinsicht, aber auch in bezug auf die Menschenrechte und die nationale Selbstbestimmung hat die Zäsur von 1989/91 eine Epochenwende gebracht. Die Wiedervereinigung veränderte nicht nur die innen- und außenpolitische Konstellation Deutschlands fundamental. Sie bedeutete auch in der Form eine geradezu revolutionäre Lösung der in Jahrhunderten immer wieder in militärische Konflikte mündenden „deutschen Frage“. Die Wiedervereinigung 1989/90 erfolg-

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te ausschließlich mit friedlichen, mit diplomatischen Mitteln; sie erfolgte nicht im Gegensatz zu den Nachbarstaaten, sondern im (teilweise mühsam erreichten) Einvernehmen mit ihnen; sie erfolgte im europäischen Kontext und zugleich als wesentlicher Beitrag zur europäischen Integration: Dies zählt zu den herausragenden Leistungen der euro-atlantischen Politik, insbesondere des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl. Erstmals in der europäischen Geschichte wurde ein vereinigtes Deutschland nicht zum Trauma für seine Nachbarn: Die Wiedervereinigung wurde nicht auf einem „deutschen“, sondern einem europäischen, einem weltpolitischen „Weg“ mit ausschlaggebender Unterstützung der USA erreicht. Die restlichen völkerrechtlichen oder machtpolitischen Hypotheken von 1945 wurden definitiv abgetragen. Ich nenne nur wenige Beispiele: Der von 1945 bis 1990 fehlende Friedensvertrag wurde in Form der 2+4-Vereinbarungen erreicht, die völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze erfolgte 1990, der Abzug der sowjetischen bzw. russischen Truppen aus Deutschland sowie den östlichen Nachbarstaaten wurde geregelt. Dieser Prozess eröffnete eine Reihe von Möglichkeiten, die in die Zukunft wiesen. Dies gilt für die Deutschen, aber auch für die bisherigen Staaten des Warschauer Paktes: Auch für sie galt nun das Prinzip der Volkssouveränität und der nationalen Unabhängigkeit nach innen und außen, die Menschen- und Bürgerrechte wurden nun auch im größten Teil Osteuropas nicht nur abstrakt anerkannt, sondern realisiert. Das Ende der Teilung Deutschlands, Europas, der Welt brachte durch die insbesondere von Helmut Kohl und François Mitterrand gewollte Dialektik von Wiedervereinigung und europäischer Integration eine Beschleunigung der seit Ende der 1980er Jahre in Aussicht genommenen Währungseinheit. Es ist keine Frage, dass die damals beschlossene und mit verschiedenen Vertragsschritten bis zum 2./3. Mai 1998 durchgesetzte Einführung des Euro neben zahlreichen anderen Schritten zur europäischen Integration – vom Beitritt Finnlands, Österreichs und Schwedens und dem Schengener Abkommen 1995 bis zum Amsterdamer Vertrag von 1997 – schließlich die erwähnte Osterweiterung, einen wesentlichen Schritt für die Integration Europas bedeutete. Österreich kann aufgrund der zwar lange zurückliegenden, doch Anknüpfungspunkte bietenden habsburgischen Tradition eine Scharnierfunktion in Ostmittel- bzw. Südosteuropa übernehmen. Offen bleibt trotz Lissabon-Vertrag: Wie gut kann die EU mit 27 Mitgliedsstaaten zum Teil sehr unterschiedlicher politischer, wirtschaftlicher und kultureller Natur funktionieren, wie funktionstüchtig ist die Währungsunion des Euro, wenn der haushaltspolitische Gleichklang in der Euro-Zone nicht gesichert ist? SCHLUSS Die Epochenwende 1989/91 löste zweifellos einen Globalisierungsschub für die Finanzmärkte und die Weltwirtschaft aus, dessen Konsequenzen wohl noch nicht abzusehen sind; jedenfalls hat die globale Finanzkrise erneut und schockartig gezeigt, in welchem Maße die nationale Wirtschaftspolitik an Einflussmöglichkeiten verliert. Und ebenso wenig klar ist heute, in welcher Weise das Selbstverständnis

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von demokratischen Gesellschaften betroffen ist, die sich nicht mehr durch den Gegensatz zur Diktatur definieren, sondern wieder stärker der Besinnung auf ihre eigenen Grundwerte bedürfen. An der nach wie vor defizitären europäischen Koordination der Außenpolitik der Regierungen, die in den letzten Jahren eher noch gewachsen ist, zeigt sich immer wieder: Selbst die traditionellen Kernstaaten der Europäischen Union untereinander besitzen nicht mehr eine so klare Rollendefinition wie in Zeiten des Kalten Krieges. Insofern bedarf es neuer Anstrengungen, auch die europäische Rolle Deutschlands im Verhältnis zu seinen Nachbarn zu definieren. Und zweifellos birgt der Transformationsprozess auch Gefahren für die politische Stabilität. Fatale Erfahrungen der Zwischenkriegszeit bilden ein warnendes Beispiel: Damals führten erfolglose Transformationen des politischen Systems in den meisten Einzelstaaten zur Zerstörung der gerade erst begründeten Demokratien.

DIGITALES ARCHIVGUT ALS RESSOURCE FÜR FORSCHUNG UND LEHRE Hartmut Weber Die Errungenschaften, aber auch die Erwartungen der Wissens- und Informationsgesellschaft stellen die Archive vor ganz neue Herausforderungen. Insbesondere die digitale Welt ist mit Risiken, aber auch mit neuen Chancen verbunden. Unsere Gesellschaft ist durch die digitale Verfügbarkeit von Informationen in relativ kurzer Zeit mehr in Bewegung gekommen als durch die bisherigen Modernisierungsprozesse. Zweifellos gilt dies für den Hochschulbereich in besonderem Maße. Die Rahmenbedingungen für Forschung und Lehre haben sich im Laufe der Zeiten durch technische Entwicklungen wie den Buchdruck mit beweglichen Lettern seit dem 16. Jahrhundert, die Fotografie und Mikrofilmtechnik seit mehr als 150 Jahren und die einfach verfügbare Xerokopie seit wenigen Jahrzehnten tiefgreifend verändert. In der Tendenz waren Lehrende und Lernende immer weniger genötigt, zu exzerpieren, sondern konnten mit gedruckten Quellenwerken, dann mit Filmen oder mit Kopien fern der Institution arbeiten, in der die fotografierten oder kopierten Vorlagen verwahrt wurden. Die digitale Revolution jedoch hat das Leben noch mehr verändert als alle technischen Entwicklungen zuvor – den Buchdruck eingeschlossen. Mit der Digitalisierung wurde erstmals in der Geschichte die Information unabhängig von einem bestimmten Informationsträger, ja von einem Informationsträger überhaupt. Informationen fließen immateriell und können gleichzeitig, jederzeit und an jedem Ort von beliebig vielen Interessenten abgerufen werden. Digitale Informationen sind unbegrenzt duplizierbar und spurlos veränderbar. Dadurch sind einerseits gewaltige Herausforderungen für die Stabilisierung von Wissen über lange Zeiträume entstanden, aber auch neue Möglichkeiten, Archivgut mit unikalem Charakter unabhängig vom Ort seiner sicheren Verwahrung und den Öffnungszeiten von Lesesälen über das Internet weltweit zugänglich zu machen. Archive vermessen ihre Bestände an Schriftgut in laufenden Metern. Sie haben davon meist Tausende, das Bundesarchiv beispielsweise mehr als 310 000 laufende Meter Akten. Ein laufender Meter kann bis zu 10 000 Blatt umfassen, das sind bis zu 20 000 Seiten, wenn sie vorder- und rückseitig beschrieben sind. Schon allein aus diesen Mengen ergibt sich, dass eine vollständige digitale Bereitstellung von Archivgut schlichtweg unmöglich ist. Auch wenn dies bei unvorstellbarem finanziellem und personellem Aufwand möglich wäre, wäre eine vollständige Digitalisierung beispielsweise des Archivguts des Bundesarchivs auch nicht wirtschaftlich vertretbar. Die Zugriffsfrequenz auf die Akten liegt durchschnittlich im Bereich von Jahrzehnten, auch wenn es einzelne Akten gibt, die

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jährlich zigmal verlangt werden. Für die Archive stellt sich daher vor der Digitalisierung von Archivgut für Forschung und Lehre die Frage der Auswahl und der Kriterien dafür, wenn sie denn durch entsprechende personelle und finanzielle Rahmenbedingungen in die Lage versetzt würden, Archivgut digital im Internet bereit zu stellen. Im Folgenden sollen, unter besonderer Berücksichtigung des Archivguts des Bundesarchivs, Möglichkeiten aufgezeigt werden, Forschung und Lehre durch die Digitalisierung archivalischer Quellen zu unterstützen. Weiterhin sollen die Erwartungen von Forschung und Lehre und die Realisierbarkeit einander gegenübergestellt werden. ERWARTUNGEN DER FORSCHUNG Um neue Informations-Infrastrukturen für Forschung und Lehre zu schaffen, haben der damalige Bibliotheksausschuss und die Kommission für Rechenanlagen der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Februar 1996 gemeinsam empfohlen, eine „Verteilte Digitale Forschungsbibliothek“ aufzubauen.1 Damit sollte wichtige Forschungsliteratur unmittelbar am PC-Arbeitsplatz des Wissenschaftlers verfügbar gemacht, der Mehrfachzugriff ermöglicht und das Leistungspotential dieser revolutionären Nutzungsform unter Beweis gestellt werden. Der Bibliotheksausschuss setzte zwei Facharbeitsgruppen ein, um in zügiger Arbeit, die bereits im Frühjahr 1996 aufgenommen wurde, Empfehlungen zur inhaltlichen Auswahl von Bibliotheksmaterialien für die Retrodigitalisierung auszusprechen und die Möglichkeiten der technischen Realisierung aufzuzeigen. Helmut Altrichter gehörte der Arbeitsgruppe „Inhalt“ an, die sich mit dem „Was“ der Digitalisierung beschäftigte, der Autor machte sich in der Arbeitsgruppe „Technik“ Gedanken über das „Wie“. Beide trafen erstmals dann im Unterausschuss zusammen, der die zahlreichen Projektanträge des neuen Förderprogramms „Retrospektive Digitalisierung von Bibliotheksbeständen“ zu begutachten hatte. Die Facharbeitsgruppe „Inhalt“ zeigte sich bei ihren Beratungen über die zweckmäßige Auswahl der Bibliotheksmaterialien für die Retrodigitalisierung so offen, dass sie unter den Textgattungen neben Enzyklopädien und biografischen Nachschlagewerken, Bibliografien, Sprachwörterbüchern, Handbüchern, historischen Quellen und literarischen Texten sowie Bildquellen auch „Archivalische Quellen“ als sinnvollen Baustein der zu schaffenden digitalen Forschungsbibliothek aufführte.2 Die Ausführungen zu dieser Gattung schränken dann allerdings gleich wieder ein: Modellhaft sollte untersucht werden, ob sich historisch kritische Editionstypen entwickeln ließen, bei denen die genetischen Apparate durch digitale Abbilder der Handschriften entlastet oder in ihrer Aussagekraft gesteigert werden könnten. Weiterhin sollten häufig benutzte und in der Erhaltung gefährde1 2

Retrospektive Digitalisierung von Bibliotheksbeständen. Berichte der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft einberufenen Facharbeitsgruppen ‚Inhalt‘ und ‚Technik‘, Berlin 1998, S. 1. Ebd., S. 21.

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te Autographen ergänzend zu den wissenschaftlichen Textausgaben als digitale Abbilder bereitgestellt werden. Als Beispiel wurden Teile des Goethe-Nachlasses benannt – kam doch der einzige Vertreter der Archive in dieser Arbeitsgruppe aus dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach. So sind die speziell bei der Textgattung „Archivalische Quellen“ genannten Kriterien für die Auswahl, übertragen auf das in den Archiven zugängliche Archivgut, nur begrenzt anwendbar. Allerdings hat die Arbeitsgruppe, bezogen auf die Bibliotheksmaterialien, allgemeine Kriterien für die Auswahl aufgestellt, die sich auf Archivgut übertragen lassen: Für Forschung und Lehre wichtige Objekte sind in der Regel solche, die besonders häufig benutzt werden und dadurch in ihrer Erhaltung auch mehr gefährdet sind als andere Objekte mit geringerer Nutzungsintensität.3 Auf Archivgut mit Unikatcharakter übertragen, dient die digitale Bereitstellung dem Schutz des Archivguts und der Zugänglichkeit gleichermaßen und erfüllt in besonderem Maße die Ziele der Verteilten Digitalen Forschungsbibliothek. Insofern gilt für Archivgut allgemein, was für die Handschriften und anderen unikalen Sonderbestände der Bibliotheken als Hauptargument für die digitale Bereitstellung gilt:4 Archivgut bleibt im sicheren Magazin und wird zugleich und unabhängig vom Verwahrort und von Öffnungszeiten des Lesesaals am PCArbeitsplatz des Wissenschaftlers zugänglich. Beliebig viele Forscher und Studenten können gleichzeitig auf wichtiges unikales Archivgut zugreifen. Auch schwer Zugängliches wird so für Forschung und Lehre ubiquitär und rund um die Uhr verfügbar. Insofern gilt das von der Arbeitsgruppe für die Retrodigitalisierung von Bildquellen Ausgeführte unmittelbar auch für Archivgut allgemein, nicht nur für Bildsammlungen, Karten, Pläne oder Plakatsammlungen. In der vordigitalen Welt blieb die Verbreitung von Faksimiles von archivalischem Schriftgut im Druck wegen der hohen Kosten auf Ausnahmen beschränkt. Die Digitalisierung eröffnet nun die Möglichkeit, durch bildliche Wiedergabe auch von Dokumenten ein höheres Maß an Authentizität zu vermitteln. Das bislang teure Tafelwerk mit Faksimiles von Kaiserurkunden kann so durch eine (fast) kostenlose „Volksausgabe“ ersetzt werden. ANGEBOTE DES BUNDESARCHIVS FÜR FORSCHUNG UND LEHRE IM INTERNET Bei der digitalen Bereitstellung von Archivgut im Internet hat das Bundesarchiv mit einer Quelle begonnen, deren Bedeutung für Forschung und Lehre über jeden Zweifel erhaben ist. Im Rahmen eines DFG-Projekts wurden im Jahre 2003 die ersten vier Bände der Online-Edition der Kabinettsprotokolle der Bundesregie-

3 4

Ebd., S. 14f. Vgl. Wolfgang-Valentin Ikas, Vom „prodesse et delectare“ der Digitalisierung – Sieben gute Gründe für die Überführung analoger Altbestandsmaterialien in Nullen und Einsen, in: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, 2010, 57, S. 5–14, hier S. 5f.

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rung im Berliner Bundeskanzleramt der Presse und den Medien vorgestellt.5 Da die nicht öffentlich zugänglichen Niederschriften der Kabinettssitzungen aufgrund des Kabinettsbeschlusses vom 20. Juni 1979 durch das Bundesarchiv nach dem Ablauf von 30 Jahren nach wissenschaftlichen Grundsätzen textkritisch zu bearbeiten, zu kommentieren und so der Öffentlichkeit zugänglich zu machen waren, erschienen seit 1982 Jahrgangsbände dieser Edition – und solche erscheinen auch nach der Online-Edition weiterhin. Ziel des Projektes war es, diese Bände einschließlich der wissenschaftlichen Apparate im Volltext im Internet bereit zu stellen. Insofern ist dieses Projekt nach den Kategorien der Arbeitsgruppe „Inhalt“ der Retrodigitalisierung von Bibliotheksmaterialien und speziell den gedruckten historischen Quellen zuzuordnen. Ohne Zweifel handelt es sich bei den Kabinettsprotokollen um eine herausragende Quellengattung der politischen und der sozialen Geschichte, deren Nutzung für die Rekonstruktion politischer Entscheidungsprozesse unverzichtbar ist. Sie vermitteln, wie es Christoph Kleßmann formulierte, „aus der Vogelperspektive konzentrierte Einstiege in die Geschichte der Bundesrepublik“, da es kaum ein relevantes übergreifendes Thema gäbe, das nicht im Kabinett angesprochen wurde.6 Derzeit sind die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung der Jahrgänge 1949 – 1964 und die Protokolle mehrerer Kabinettsauschüsse im Internet kostenfrei zugänglich. Mit dem Verlag ist vereinbart, dass 18 Monate nach Erscheinen der Druckausgabe die entsprechende Online-Edition bereitgestellt wird. Die Kabinettsprotokolle im Internet erfüllen aber auch die weiteren Forderungen der DFG-Arbeitsgruppe „Inhalt“, da die digitale Version gegenüber der Druckversion sich in ganz besonderer Weise durch einen Mehrwert auszeichnet. Schon die Einstiegseite ist mit wichtigen Hilfstexten wie Geschäftsordnung oder Benutzungshinweisen verknüpft, die in der Druckausgabe fehlen. Der Arbeitsplatz des Nutzers am Bildschirm sieht so aus, dass er auf dem Bildschirm im linken Fenster, dem Navigationsfenster durch die Protokolle, stets die Struktur der Protokolle in einer vom Nutzer bestimmbaren Tiefgliederung vor Augen hat, im rechten Fenster die jeweiligen Texte, die er durch ein Anklicken der Strukturelemente unmittelbar im rechten Fenster anzeigen lassen kann. Über dem rechten Fenster ist ebenfalls die Struktur abgebildet, so dass der Text im rechten Fenster ständig identifizierbar ist. Die Edition ist bis auf die Ebene der Tagesordnungspunkte strukturiert erschlossen. Diese erscheinen im linken Navigationsfenster deutlich übersichtlicher als im Druckbild des Inhaltsverzeichnisses der Bände. Abkürzungen im Text werden bei Berührung mit dem Mauszeiger unmittelbar angezeigt.7 Die erläuternden Fußnoten erscheinen in einem Fenster beim dazugehörigen Text, wenn der Verweis auf die Fußnote angeklickt wird. Die Anmerkungen sind unter5 6 7

Die Kabinettsprotokolle online. Präsentation im Bundeskanzleramt in Berlin, in: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv, 2003, 11, H. 3, S. 12–18; http://www.bundesarchiv.de/ kabinettsprotokolle. Ebd., S. 14f. Jörg Filthaut, Die Funktionalitäten der Online-Edition, in: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, 2010, 57, S. 18.

Digitales Archivgut

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einander so verknüpft worden, dass der Benutzer die Geschichte der Behandlung eines Themas verfolgen und Querverbindungen knüpfen kann. Dies ist auch bandübergreifend möglich. Der Benutzer kann selbstverständlich auch in den Texten blättern, kann Lesezeichen setzen, um eine ihm wichtige Stelle wieder zu finden, und kann den amtlichen Text der Niederschriften als Textdatei im sog. richtext-Format herunterladen und drucken oder auch in einem Textverarbeitungsprogramm weiter verarbeiten. Bereits diese Funktionen gestalten die Nutzung der Online-Edition der Kabinettsprotokolle äußerst komfortabel und stellen einen erheblichen Mehrwert gegenüber der Druckausgabe dar. Dieser wird aber durch die komfortable Suchmöglichkeit mit Boolschen Verknüpfungen und Einschränkungen des zu durchsuchenden Zeitraums noch weiter gesteigert. Ein grundlegender Unterschied zum bandbezogenen Index einer gedruckten Ausgabe besteht darin, dass über alle im Internet bereitgestellten Bände hinweg gesucht werden kann. Die Trefferdarstellung erfolgt anders als bei Google von vornherein mit Kontextinformationen und einer chronologischen Sortierung. Im Text sind die Treffer farbig markiert. Von einem so gefundenen Treffer aus kann der Nutzer beliebig weiter navigieren, beispielsweise einen Rückverweis in den Anmerkungen aufsuchen. In die Suche einbezogen sind selbstverständlich auch die Kurzbiografien. So können die Akteure wahlweise auf einen Jahrgang bezogen ermittelt oder bandübergreifend gesucht und aufgefunden werden. Der eigentliche Mehrwert der Online-Edition der Kabinettsprotokolle liegt in den Kombinationsmöglichkeiten von Navigation durch die Struktur der Edition und der Volltextsuche in den Niederschriften. Von diesen konnte hier nur ein Ausschnitt dargestellt werden. Der Nutzer der Edition wird sie auch nur im vollen oder in dem von ihm gewünschten Umfang nutzen können, wenn er sich mit den Möglichkeiten und ihren Kombinationen beschäftigt. Das Bundesarchiv hat daher von vornherein angestrebt, die Online-Edition der Kabinettsprotokolle als Referenzmodell all seinen künftig im Internet eingestellten Editionen zu Grunde zu legen, in der Hoffnung, dass die Art der Darstellung und die Funktionalitäten auch von anderer Seite bei Online-Editionen übernommen werden. Konsequent war es daher, auch das zweite große Projekt einer OnlineVolltext-Edition auf dem Modell der Kabinettsprotokolle aufzubauen. Wiederum von der DFG gefördert, stellte das Bundesarchiv in Zusammenarbeit mit der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im Jahr 2007 die 23 Bände der „Akten der Reichskanzlei der Weimarer Republik“ ins Internet.8 Die zwischen 1962 und 1990 von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und vom Bundesarchiv gemeinsam herausgegebene hoch geachtete Edition mit rund 4400 Dokumenten aus den 20 Kabinetten der Weimarer Republik mit umfangreicher Kommentierung ist eine einzigartige historische Quelle für die Weimarer Republik, die aber in der Druckausgabe nicht mehr lieferbar war. Erst die Online-Edition machte sie wieder zugänglich und zwar nicht nur mit dem Mehrwert an Navigations- und Suchmög8

http://www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/0000/index.html.

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lichkeiten wie bei den Kabinettsprotokollen. Neu bei diesem erweiterten Präsentationsmodell waren Verknüpfungen mit den Online-Findbüchern des Bundesarchivs sowie Verknüpfungen mit den Stenographischen Protokollen der Sitzungen des Reichstags (für 1919/1920 der Nationalversammlung) und der zugehörigen Drucksachen, die durch die Bayerische Staatsbibliothek München retrodigitalisiert und im Internet bereitgestellt wurden.9 Bei Verweisen auf das Reichsgesetzblatt ist eine Verknüpfung zu entsprechenden digitalen Angeboten der Gesetzestexte im Internet eingerichtet, bei Personen, deren Biografien sich in der digital vorliegenden „Allgemeinen Deutschen Biographie“, der „Neuen Deutschen Biographie“ oder in den digitalisierten Reichstagshandbüchern finden, wird entsprechend verknüpft, ebenso zum Online-Katalog der Deutschen Nationalbibliothek, wenn dort Literatur von oder zu der betreffenden Person nachgewiesen ist. Schließlich wird zum entsprechenden Eintrag in der Nachlassdatenbank des Bundesarchivs geleitet, wenn dort ein Nachlass zu der betreffenden Person dokumentiert ist. Mit einem Nutzungskomfort in einem Maße, wie er im Internet selbst bei kostenpflichtigen Angeboten selten ist, sind dem Nutzer dieser Online-Edition von einer Plattform aus eine Vielzahl digital vorliegender Informationen zugänglich und tragen in beispielhafter Weise zur Erschließung und zum Verständnis dieser 22 000 Seiten bei. Und wenn der Nutzer sich die Frage stellt, ob bestimmte Personen aus der Weimarer Zeit auch noch in der frühen Bundesrepublik eine Rolle spielten – die editionsübergreifende Recherche macht es möglich, in den Kabinettsprotokollen der Bundesrepublik und den Weimarer Akten der Reichskanzlei von einem Zugriffspunkt aus gleichzeitig zu recherchieren. Damit kann diese Edition nicht nur als Beispiel dafür gelten, welcher Nutzungskomfort bei Online-Editionen möglich ist, sondern kann auch aufzeigen, in welchem Maße – nicht zuletzt durch das Konzept der Verteilten Digitalen Forschungsbibliothek der DFG – heute bereits grundlegend wichtige Quellen- und Nachschlagwerke digital vorliegen und welcher zusätzliche hohe Nutzen sich bereits durch die Verknüpfung vorhandener digitaler Forschungsressourcen ergibt. Mit ihren Verweisen auf einschlägiges Archivgut in den Beständen des Bundesarchivs sind die beiden Editionen auch so etwas wie archivische Findmittel. Sie schlagen mit den edierten Dokumenten Schneisen in das Dickicht der Bestände und zeigen die archivalischen Quellen auf, mit deren Hilfe man tiefer in die Bestände und damit auch in die Sache einsteigen kann. Doch die die Bestände eines Archivs erschließende Funktion einer Edition ist nur ein erwünschter Nebenaspekt. Eine ähnliche Funktion der Hinführung zu Beständen erfüllt die schon auf der Internet-Startseite des Bundesarchivs10 zugängliche Abteilung „Historische Bilder und Dokumente“.11 Die sogenannten Galerien waren auch in zeitlicher Hinsicht 9

Matthias Reinert, Digitalisierung der Edition „Akten der Reichskanzlei, Weimarer Republik“ – ein Prototyp für die Präsentation im Internet, in: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv, 2006, 14, H. 2, S. 33–35. 10 http://www.bundesarchiv.de. 11 http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/index.html.de.

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im Zuge der Neugestaltung des Internet-Auftritts im Jahre 2002 das erste Format des Bundesarchivs, um retrodigitalisiertes Archivgut in Auswahl bereit zu stellen. Die Galerien sind themenbezogene Zusammenstellungen von Schrift- oder Bilddokumenten aus dem Archivgut des Bundesarchivs, die mit einer knappen Einführung versehen sind und jedes Dokument oder Bild kurz kommentieren. Die Galerien sprechen damit eine ähnliche Zielgruppe an, wie sie Helmut Altrichter für sein Projekt der digitalen Quelleneditionen von Schlüsseldokumenten zur russischen und sowjetischen Geschichte (1917–1991) sowie zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert definiert hat.12 Einer breiteren universitären und außeruniversitären Öffentlichkeit will das Bundesarchiv als Beitrag zur historischen Bildung mit authentischem Archivgut Entwicklungen der deutschen Geschichte vermitteln, zugleich aber darauf hinweisen, welche Schätze im Bundesarchiv zu finden und zu heben sind, wobei die Förderung einer Erwartungshaltung, dort wo diese Dokumente herstammen, noch mehr und andere zu finden, und daher das Archiv aufzusuchen, durchaus gewollt ist. In den Galerien tauchen nicht so sehr hochrangige Schlüsseldokumente auf, die wichtige Weichenstellungen in Staat und Gesellschaft dokumentieren, sondern vor allem Dokumente, die jeweils ein Stück deutscher Geschichte anschaulich illustrieren, wobei mitunter in einer Art mikroskopischer Perspektive Aspekte von Ereignissen herausgestellt werden, die bisher keine Beachtung fanden oder als nebensächlich abgetan wurden. Die derzeit 109 Galerien mit über 2000 Schrift- und Bilddokumenten ausschließlich aus dem Bundesarchiv umfassen Darstellungen zu Institutionen, zu Ereignissen oder zu Personen, werden an Jubiläen festgemacht oder werden ins Netz gestellt, wenn die Dokumente bei Erschließungsarbeiten oder bei der Recherchetätigkeit ins Blickfeld der Archivarin oder des Archivars gerückt wurden. So ist dem Reichskammergericht ebenso eine Galerie gewidmet wie der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin. Das Leben Robert Havemanns wird mit 27 Bild- oder Schriftzeugnissen aus dem Bundesarchiv ebenso nachgezeichnet wie die Biografie des Filmpioniers Max Skladanowsky oder des Rundfunkpioniers Eduard Roderich Dietze. Zu „50 Jahre Römische Verträge“ ist eine Galerie erschienen, zur Bereinigung der Guillaume-Affäre zwischen Bonn und Ost-Berlin im Jahre 1974 oder zur ersten Generation der RAF-Häftlinge im Stammheimer Gefängnis. Interessante Aufschlüsse geben auch Galerien über die deutsche „Prawda“ als Propagandainstrument im Krieg an der Ostfront oder die filmische Kriegspropaganda zum Polenfeldzug, ebenso der Streit zwischen Fritz Todt und dem Italiener Piero Puricelli über die Urheberschaft an der Idee der Autobahn. Längst auch von Zeitzeugen Vergessenes wird in die Erinnerung zurückgerufen, wie etwa die Affäre um die 1959 in der Tschechoslowakei verschollenen Düsenjäger der Bundeswehr oder die Gründung der Deutschen Kommunistischen Partei im Jahre 1968. Dokumen12 Helmut Altrichter / Lilia Antipow, Geschichte als Politik. Quelleneditionen „100(0) Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte (1917–1991)“ und „100(0) Schlüsseldokumente zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert“ im Internet, in: Helmut Neuhaus (Hg.), Erlanger Editionen. Grundlagenforschung durch Quelleneditionen: Berichte und Studien, Erlangen 2009, S. 471–493, hier S. 476f.

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tiert ist auch die politische Kultur in den beiden deutschen Staaten. So ist die erste Verleihung des Bundesverdienstkreuzes im Jahre 1951 in Schrift und Bild festgehalten und in einer Galerie über die Vorbereitung und Durchführung der Hasenjagd für Diplomaten in der DDR erfahren wir, dass bei Staatsjagden für die Jagdhelfer und Hundeführer „eine politisch-ideologisch und klassenmäßig richtige Einstellung“ unabdingbar war. Weitere Galerien sind im Informationsportal Zwangsarbeit im NS-Staat zu finden, welches das Bundesarchiv mit Unterstützung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ eingerichtet hat.13 Hier werden unter den Themen „Propagandaaufnahmen zum Einsatz ausländischer Arbeitskräfte“, „Kennzeichnung und Ausgrenzung“ sowie „Hier essen wir unser Brot mit den Augen“ Zeugnisse und Selbstzeugnisse zur Zwangsarbeit dargestellt. Selbstverständlich trägt jedes Bild- und Schriftdokument in den Galerien die gültige Signatur, um es identifizierbar und bestellbar zu machen. Gleichzeitig sind die Galerien aber mit Verweisen auf Bestände, Findbücher und weiteres einschlägiges Archivgut im Bundesarchiv verbunden, so dass der Betrachter der Galerien sich nicht nur über Personen, Institutionen oder Sachverhalte informieren kann, sondern zugleich einen ersten Einstieg vorfindet, falls er mit Hilfe der Findmittel und des Archivguts tiefer einsteigen möchte. Nicht wenige Benutzer des Bundesarchivs, die den Lesesaal aufsuchen oder Anfragen stellen, beziehen sich auf die Galerien. Insofern tragen die Galerien auch zur Erschließung der Bestände des Bundesarchivs bei und machen potentielle Benutzer auf die Vielfalt des im Bundesarchiv zugänglichen Archivguts aufmerksam. Ganz im Sinne der Empfehlungen der Facharbeitsgruppe „Inhalt“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist zweifellos die digitale Bereitstellung von Fotografien aus den sehr bedeutenden Bildbeständen des Bundesarchivs. Diese umfassen insgesamt mehr als 12 Millionen Fotografien, darunter die Bildsammlung des NSDAP-Hauptarchivs, rund 1,1 Millionen Aufnahmen der Propagandakompanien des Heeres, der Marine und der Waffen-SS sowie 1,1 Millionen Fotografien aus dem Bestand des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. Der bei weitem größte Bestand ist die geschlossene Bildüberlieferung der Allgemeinen Deutschen Nachrichtenagentur ADN der DDR mit rund 5,5 Millionen Bildern, in dem auch ältere Berliner Bildarchive aufgegangen waren. Seit 2003 hatte das Bildarchiv des Bundesarchivs damit begonnen, Fotobestellungen von Benutzern auf Wunsch auch digital auszuliefern. Damit wurde der Grundstock für ein digitales Bildarchiv gelegt, das jährlich um weitere 10 000 im Benutzerauftrag digitalisierte Fotografien anwuchs.14 Seit Ende 2004 wurde für Verwaltung und Recherche der Bildsammlung eine leistungsfähige Bilddatenbank eingesetzt. Der digitalisierte Bildbestand wurde durch systematische Digitalisierung besonders interessanter Fotografien und auch von Glasplattennegativen aus der deutschen Kolonialzeit und aus der Zeit der Weimarer Republik zunehmend vergrößert. Am 11. September 2007 war es dann soweit: Das Digitale Bildarchiv 13 http:/www.bundesarchiv.de/zwangsarbeit/. 14 Oliver Sander, Das Digitale Bildarchiv des Bundesarchivs, in: Archivar, 2008, 61, S. 20–25.

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wurde mit damals 60 000 Fotografien, Plakaten und Luftbildern als weiteres wichtiges Online-Angebot des Bundesarchivs im Bundeskanzleramt in Berlin vorgestellt und im Internet frei geschaltet.15 Heute kann in einem stetig weiter wachsenden digitalen Bestand von über 212 000 Bildern recherchiert werden. Davon stammen gegen 67 000 aus der Bundesbildstelle des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung, die seit November 2008 ihre auch ganz aktuellen Bilder beim Digitalen Bildarchiv des Bundesarchivs bereitstellt. Das Digitale Bildarchiv ermöglicht zunächst einmal komfortable Recherchen in einer tiefgegliederten Sachklassifikation oder in den Bildern von mehr als 58 000 Personen. Auf neu digitalisierte Bildbestände wird besonders aufmerksam gemacht. Die Rechercheergebnisse können eingegrenzt werden oder nach dem Datum auf- oder absteigend sortiert werden. Auch eine gezielte Suche nach bestimmten Fotografen oder Bildagenturen ist möglich. Neben den Bildern selbst können die Bildtexte angezeigt werden. Mit den Möglichkeiten des Browsers kann der Nutzer Bilder und Texte kopieren und in eigene Anwendungen einfügen. Das Digitale Bildarchiv hat aber auch die Funktion eines Kaufhauses für die angezeigten Bilder im Internet mit der Möglichkeit, Bilder in hochauflösender Qualität zu bestellen, dafür zu bezahlen und die Bilder sodann herunterzuladen. Wie alle Internet-Angebote des Bundesarchivs kann auch das Digitale Bildarchiv jeder nutzen, wobei es zwei Stufen des Zugangs gibt, den anonymen und den registrierten Nutzer. Der anonyme Nutzer kann im Bestand des Bildarchivs recherchieren, kann sich beliebig viele Bilder ansehen und kann diese auch in einer Qualität und Größe, die als Arbeitsunterlage taugt, mit dem eingeblendeten Wasserzeichen „Bundesarchiv“ herunterladen. Dies alles ist kostenlos. Ein registrierter Benutzer hat zusätzlich die Möglichkeit, Bilder auf bis zu drei „Leuchttischen“ abzulegen, um aus vielen selektierten Bildern eine Auswahl zu treffen. Registrierte Benutzer können sich pdf-Dateien von Bildern und Bildtexten erstellen, was insbesondere für wissenschaftliche Benutzer den Vorteil der Kontextualisierung der ausgewählten Bilder hat. Auch dies alles ist kostenfrei. Und registrierte Benutzer haben schließlich die Möglichkeit, sich Bilder in hoher Auflösung und ohne das eingeblendete Wasserzeichen herunterzuladen. Allein der Bezug von Bildern mit hoher, reproduktionsfähiger Auflösung ohne den Schutz des Wasserzeichens kann je nach Verwendungszweck kostenpflichtig sein. Das Digitale Bildarchiv mit seinem attraktiven Inhalt und dem Nutzungskomfort, verbunden mit der konsequenten Umsetzung des open-access-Gedankens war nach seiner Freischaltung eine kleine Sensation, selbstverständlich auch mit der Folge einer entsprechenden Zahl von Besuchern und Seitenabrufen und einer enormen Steigerung der Nachfrage nach Bildern überhaupt. Die Nachfrage hat sich noch einmal deutlich gesteigert, seitdem das Bundesarchiv im Herbst 2008 eine Vereinbarung mit Wikimedia Deutschland e.V. abgeschlossen hat. Dieser Vereinbarung zufolge stellt das Bundesarchiv, beispielsweise für die Nutzung in 15 http://www.bild.bundesarchiv.de/; zu den Funktionalitäten im Einzelnen: Ute Wrocklage, Das Bundesarchiv online. Wissen bereitstellen, Quellen erschließen, Geschichtsverständnis fördern, in: Rundbrief Fotografie, 2008, Bd. 15, S. 18–23.

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Wikipedia, Bilder in beschränkter Größe und Auflösung, die in aller Regel auch für die wissenschaftliche Auswertung ausreichen, Wikimedia zur nichtkommerziellen weltweiten Nutzung zur Verfügung. Wikipedia verwendet diese Bilder bei seinen Artikeln mit korrekter Herkunftsangabe und verweist und verlinkt im Gegenzug bei diesen Bildern unmittelbar auf das Digitale Bildarchiv des Bundesarchivs. Lange Zeit hatten Bilder hauptsächlich dazu gedient, historische Darstellungen zu illustrieren mit einer gewissen Beliebigkeit und mit mehr oder weniger Bezug zur konkreten inhaltlichen Aussage.16 Zunehmend haben sich aber Zeithistoriker dafür ausgesprochen, Fotografien als zeitgeschichtliche Quellen zu betrachten und die immer weiter verfeinerten quellenkritischen Methoden für audiovisuelle Zeugnisse zu modifizieren, eben „weil das Objektiv der Kamera ja nicht objektiv“ sei, wie es Hans Günter Hockerts formulierte.17 Doch erst mit der Diskussion um die Authentizität der Bilder in der ersten „Wehrmachtsausstellung“ im Jahre 1995 entwickelte sich eine quellenkritische Betrachtungsweise auch in Bezug auf Fotografien. Es genügte nicht mehr, dass ein Bild ein Ereignis als Typ illustrierte, beispielsweise ein beliebiges Foto von einer Erschießung von Zivilisten durch die Wehrmacht verwendet wird, um ein bestimmtes Kriegsverbrechen in der Ukraine anschaulich zu machen. Zu einer Fotografie als historischer Quelle gehören zwingend die Metainformationen wie Fotograf, Ort und Zeit der Aufnahme, Auftraggeber und Absicht. Weiterhin gehörten die Überlieferungsform und die Überlieferungsgeschichte dazu, um vor Fälschungen oder Verfälschungen sicher zu sein. Ist das Negativ noch vorhanden? Auf welchem Weg und wann sind die Fotografien und Negative ins Archiv gelangt? Diese Kontextualisierung der Bilder macht auch die Qualität des Bildarchivs im Bundesarchiv aus mit dem Bestreben, Bilder als historische Quellen zu erschließen und anzubieten. Dabei ist sich das Bundesarchiv der besonderen Verantwortung bewusst, die darin besteht, dass auch und gerade ein für Manipulationen noch eher anfälliges digitales Bild im Kontext seiner Entstehung, und sei es noch so aussagekräftig für allgemeine Phänomene, nur für einen bestimmten Moment, für ein bestimmtes Ereignis stehen kann und als Quelle in einem anderen zeitlichen oder örtlichen Kontext nicht tauglich ist. Für die Lehre an der Hochschule ist das Digitale Bildarchiv mit seiner großen Auswahl an Bildern, die exemplarisch für Ereignisse, für Akteure oder auch für einen Zeitabschnitt in der Geschichte stehen, zweifellos ein großer Fundus. Für die Forschung wäre es eher ein Zufall, wenn, abgesehen von Schlüsselereignissen, ein Bild als historische Quelle für eine bestimmte Fragestellung bereits im Digitalen Bildarchiv zu finden wäre. Daher kommt dem Digitalen Bildarchiv selbstver-

16 Wolf Buchmann, Über den Quellenwert von Fotografien, in: Revista Arhivelor. Archives Review, 2007, 84, H. 3–4, S. 97–113, hier S. 97f. 17 Hans Günter Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 29–30/93, 16. Juli 1993, S. 3–19, hier S. 8.

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ständlich auch die Funktion zu, auf die rund 98 % der Bildbestände hinzuweisen und neugierig zu machen, die (noch) nicht digital verfügbar sind. Dass es einmal möglich sein würde, neben Bildquellen auch Filme oder Filmsequenzen im Rahmen einer Verteilten Digitalen Forschungsbibliothek im Internet bereitzustellen, war für die Facharbeitsgruppe „Inhalt“ vor 14 Jahren aufgrund der damaligen Kenntnisse der technischen Leistungsfähigkeit des Internets offensichtlich nicht vorstellbar, jedenfalls spielten Filme als zu digitalisierende Gattung keine Rolle. Auch Helmut Altrichter hat sich noch Jahre später an dem Machbaren orientiert, als er bei seinem Projekt der Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte (1917–1991) ankündigte, „beim weiteren Ausbau – dem Medium Internet entsprechend – auch Bilder sowie Audio- und Videodokumente“ in die Edition aufzunehmen18. Allein und auf sich gestellt hätte das Bundesarchiv es zweifellos nicht gewagt, im Jahre 2002 ein Projekt anzugehen, mit dem Ziel, zeitgeschichtliche Dokumentarfilme erster Güte, wie sie Beiträge aus Wochenschauen darstellen, im Internet digital bereitzustellen. Doch im Kreise kompetenter Partner wie der Deutschen Wochenschau GmbH Hamburg, der Transit Film GmbH München, dem Progress Film-Verleih Berlin und der DEFAStiftung Berlin, welche die technische Expertise der Filmdigitalisierung und der digitalen Bereitstellung einbrachten und sich an den relativ hohen Kosten beteiligten, war es möglich, ein Projekt zu starten, in dem über 6 000 Wochenschaubeiträge aus 4000 Wochenschauausgaben mit insgesamt 100 Stunden Laufzeit einzeln erschlossen, digitalisiert und im Internet bereitgestellt wurden.19 Dem Bundesarchiv oblag dabei die konservatorische Aufbereitung der Filme, die Erschließung und die Koordination des Projekts. Auf die Filmbeiträge kann über Kategorien wie Erscheinungsjahr, Ort der Handlung, Sachthemen, Personen oder Titel der Wochenschau zugegriffen werden. Außerdem ist Volltext-Suche möglich. Neben der Filmdarstellung können die beschreibenden Erschließungsdaten zu jedem Beitrag abgerufen werden, und im sogenannten Storyboard können wesentliche Motive der Filmsequenz als Standbilder betrachtet werden. Obwohl die Zielrichtung der Präsentation der Wochenschaubeiträge im Internet durchaus auch kommerzielle Interessen verfolgte – die Kooperationspartner und das Bundesarchiv sind darauf angewiesen, Einnahmen aus der Verwertung dieser Filme zu erzielen, nicht zuletzt, um sie zu erhalten – konnte das Bundesarchiv erreichen, dass auch bei der Benutzung des Wochenschau-Archivs im Internet ein abgestuftes Konzept von Nutzungsrechten umgesetzt wurde. Jeder kann im Wochenschau-Archiv recherchieren und kann ohne Anmeldung im „Gast-Status“ kostenfrei alle Erschließungsinformationen abrufen und sich die Filme in einem relativ kleinen Fenster ansehen. Ein registrierter Benutzer kann die Filme kostenfrei in einem deutlich größeren Fenster betrachten. Dies wird in den meisten Fällen ausreichen, um sich wissenschaftlich mit den Wochenschaubeiträgen zu beschäftigen. Das Herunterladen der Filme ist jedoch nicht möglich. Um die Filme etwa für die Lehre in DVD-Qualität oder noch höhe18 Altrichter / Antipow, Geschichte als Politik, S. 479. 19 http://www.wochenschau-archiv.de.

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rer Auflösung zu erhalten, muss sich der Interessent mit dem jeweiligen Rechteinhaber in Verbindung setzen und wird dafür je nach Verwendungszweck in aller Regel neben den Auslagen für die Herstellung einer DVD zusätzliche Gebühren zu entrichten haben. Dennoch bleibt der Zugang zu dieser wichtigen und attraktiven zeitgeschichtlichen Quelle für Forschung und Lehre grundsätzlich für jeden möglich und kostenfrei. Doch auch beim digitalen Wochenschau-Archiv sei darauf hingewiesen, dass nur ein Bruchteil der vorhandenen Wochenschaubeiträge im Internet bereitsteht, wiederum mit der Absicht, die vielen anderen nicht außer Acht zu lassen, die es außerdem gibt. Online-Editionen, Galerien zur Zeitgeschichte mit Schrift- und Bilddokumenten, ein Digitales Bildarchiv, das Wochenschauarchiv mit Filmbeiträgen – alles zweifellos nützliche und auch attraktive Anwendungen für Forschung und Lehre. Wie aber sieht es mit dem Kerngeschäft des Bundesarchivs aus, Schriftgut von bleibendem Wert aus Regierung, Justiz und Verwaltung jedermann zur Nutzung im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften zugänglich zu machen – und dies wenigstens teilweise auch digital? Zur Erinnerung: Die Facharbeitsgruppe „Inhalt“ hatte zur Einbeziehung von Archivgut in die Retrodigitalisierung empfohlen, dieses modellhaft im Zusammenhang mit Editionen zu tun oder in den Fällen, in denen durch häufige Nutzung gefährdete Bestände dadurch zugleich geschützt und besser zugänglich zu machen sind. Empfehlungen dieser Art haben dem Bundesarchiv Spielräume für eigene strategische Überlegungen zur digitalen Bereitstellung von „klassischem“ Archivgut im Entstehungszusammenhang der jeweiligen Provenienz gelassen. Dabei hat es berücksichtigt, dass es sich bei der Digitalisierung, zumal bei der systematischen von Provenienzbeständen, in aller Regel um ein Massengeschäft handelt. Ein laufender Meter Archivgut besteht aus 8 000 bis 10 000 Blättern, die vorderund rückseitig beschrieben sein können, also aus bis zu 20 000 Digitalisaten. Diese wollen digitalisiert, mit Erschließungsinformationen verknüpft und in eine Anwendung eingebunden sein. Die Retrodigitalisierung von Archivgut ist also mit einem erheblichen Aufwand verbunden und legt nahe, die Relation des Aufwands zum Nutzen zu betrachten. Die weitere Überlegung schließt wieder an einen Grundsatz der Facharbeitsgruppe „Inhalt“ an: Die digitale Bereitstellung bildlicher Wiedergaben von Buchseiten oder Dokumenten muss mit erschließenden Strukturen verbunden sein.20 Die fachgerechte Erschließung von Archivgut ist in der Tat die unabdingbare Voraussetzung für die Digitalisierung. Die archivfachliche Erschließung aller Bestände oder zumindest möglichst vieler Archivbestände und die digitale Bereitstellung der Erschließungsinformationen im Internet muss im Interesse der Forschung jedoch Priorität haben vor der digitalen Präsentation eines nur kleinen Ausschnitts aus dem Archivgut selbst. Die strategische Faustformel lautet also: Bevor nicht 100 % der Erschließungsinformationen auf der beschreibenden Ebene der Beständeübersicht im Internet sind, ist es kaum sinnvoll, Online-Findbücher bereitzustellen, die Erschließungsinformationen zu iden20 Retrospektive Digitalisierung von Bibliotheksbeständen, S. 12.

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tifizierbaren und bestellbaren Akteneinheiten enthalten. Aber erst wenn 10 % der Findbücher im Internet recherchierbar verfügbar sind, kann man das weitere Ziel verfolgen, nämlich 1 % des Archivguts selbst digital bereitzustellen.21 Diese „100 zu 10 zu 1 %- Regel“ leitete auch die Handlungsweise des Bundesarchivs. Vor der Bereitstellung digitalen Archivguts rangiert die digitale Verfügbarkeit der Erschließungsinformationen. Vorrang vor der Digitalisierung von Archivgut hatte für das Bundesarchiv demgemäß die Retrokonversion von Findmitteln wie maschinenschriftlichen Findbüchern oder Findkarteien, die noch nicht digital vorlagen, mit dem Ziel, daraus Online-Findbücher im Internet herzustellen. Dieses Vorhaben wurde seit September 2005 durch ein eigens eingerichtetes Kompetenzzentrum für Retrokonversion und Digitalisierung von Archivgut mit erheblichem personellem und finanziellem Aufwand und später teilweise auch unter Nutzung des DFG-Programms zur Retrokonversion archivischer Findmittel vorangetrieben. Es wurde flankiert von einer durch die Abteilungsleiterkonferenz im Jahre 2006 verabschiedeten ausformulierten Digitalisierungsstrategie mit Grundsatzentscheidungen insbesondere zur Technik wie der Selbstbindung, konsequent vom Mikrofilm zu digitalisieren, oder der Festlegung auf das png-Format zur Präsentation der digitalen Abbilder.22 Bis zum Frühjahr 2010 wurden im Rahmen des Retrokonversionsprogramms 1,5 Millionen Titelaufnahmen digitalisiert, um sie anschließend provenienzgerecht in ein Online-Findbuch einzubinden. Vor allem galt es aber, die Infrastruktur für die Präsentation digitaler Ressourcen im Internet einschließlich der erforderlichen Software-Werkzeuge und der optimalen Arbeitsabläufe zu entwickeln. Um Erschließungsinformationen und Archivgut für Forschung und Lehre sowie für alle anderen interessierten Gruppen zur Verfügung stellen zu können, hat das Bundesarchiv in unterschiedlichen Realisierungsstufen eine eigene Rechercheplattform entwickelt. Diese integriert als Verbundfindmittel derzeit die beschreibende Übersicht zu über 6500 Archivbeständen des Bundesarchivs, Detailinformationen in über 1750 Online-Findbüchern zu Beständen mit mehr als 1,5 Millionen Titelaufnahmen und ermöglicht, jedes Online-Findbuch mit digitalisiertem Archivgut anzureichern.23 Seit Februar 2009 steht diese Rechercheplattform mit dem Namen ARGUS, ein Akronym für „Archivgutsuche“, im Internet zur Verfügung. ARGUS ermöglicht zunächst einmal die Recherche in den digital vorliegenden Erschließungsinformationen, wobei wahlweise nur auf der Ebene von Beständeübersichten oder auf der Ebene der Online-Findbücher oder kombiniert gesucht werden kann.24 Der Zugang ist wahlweise über die Struktur der Bestände und über die Gliederung der Findbücher möglich, oder aber über Volltextrecherche, wobei auch die Treffer im Kontext ihrer Struktur angezeigt werden. Ist man bei der einzelnen Titelaufnahme ange21 Vgl. Hartmut Weber, Virtuelles Praktikum und Digitaler Lesesaal, in: ARBIDO, 1999, H. 2, S. 10. 22 http://www.bundesarchiv.de/fachinformationen/01435/index.html.de. 23 Elrun Dolatowski / Kristina John / Angelika Menne-Haritz, Argus – die Entwicklung der archivischen Rechercheplattform und Erfahrungen mit ihrer Nutzung, in: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv, 2009, 17, H. 1, S. 15–21. 24 http://startext.net-build.de:8080/barch/MidosaSEARCH/search.htm.

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langt, die selbstverständlich auch im Kontext der Findbuchgliederung angezeigt wird, findet man dort, wo bereits digitalisiertes Archivgut vorliegt, den Hinweis auf die Möglichkeit „Akte einsehen“. Klickt man auf „Akte einsehen“, ist man beim Präsentationsmodell des Bundesarchivs zur Bereitstellung digitalisierten Schriftguts angekommen und kann in der Akte blättern. Wie andere Teile der Rechercheplattform und der Werkzeuge zur digitalen Aufbereitung der Online-Findbücher wurde das ausgefeilte Präsentationsmodell zum Navigieren in digitalisiertem Schriftgut im Rahmen eines von der Andrew W. Mellon Foundation New York geförderten Projekts zwischen Herbst 2004 und Ende 2006 erarbeitet. Dieses Projekt hatte das weitere Ziel, bei der digitalen Bereitstellung von Erschließungsinformationen und Archivgut im Internet die internationalen Fachstandards wie Encoded Archival Description EAD oder Metadata Encoding and Transmission Standard METS konsequent zu nutzen. Damit sollte von vornherein sichergestellt werden, dass die digitalen Ressourcen des Bundesarchivs auch in übergreifenden europäischen oder außereuropäischen Portalen zugänglich gemacht werden können. Die Besonderheit an der im Bundesarchiv entwickelten Präsentationsoberfläche von digitalisiertem Schriftgut ist die „Orientierungsansicht“ der digitalisierten Akten: Statt des oft üblichen Navigationseinstiegs in mehrseitige Dokumente über stark verkleinerte Wiedergaben der vollständigen Seiten wird zunächst eine gut lesbare Ansicht des oberen Drittels der Abbildungen der Schriftstücke als Orientierungsansicht angeboten. In der Orientierungsansicht lässt es sich blättern. Jederzeit kann man sich aus der Orientierungsansicht das Vollbild anzeigen lassen, in den Vollbildern blättern und auch wieder zur Orientierungsansicht zurückspringen und dort weiter blättern. Zur Orientierung im Präsentationsmodell trägt selbstverständlich auch bei, dass man weiß, in welcher Akte und an welcher Stelle man blättert. Im Zusammenhang mit dem erwähnten Mellon-Projekt wurden zwei kleinere gut erschlossene Bestände aus der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen im Bundesarchiv digitalisiert, um mit rund 23 000 Seiten die SoftwareWerkzeuge zur Aufbereitung der Digitalisate und das Präsentationsmodell zu testen. Dabei handelte es sich um die Sekretariate Helmut Lehmann und Paul Merker des Zentralkomitees der SED. Diese standen als erstes Angebot der provenienzgerechten und systematischen Digitalisierung von Archivgut des Bundesarchivs seit Herbst des Jahres 2005 sozusagen zunächst prototypisch im Internet bereit. Von da an wurden zunehmend auch andere Online-Findbücher mit Digitalisaten angereichert. Zu nennen sind die digital vorliegenden kleineren Bestände aus den Leitungsbüros des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes wie das Büro Bernhard Goering, das Büro Hans Jendretzky, das Büro Annelies Kimmel, das Büro Harry Tisch und das Büro Herbert Warnke. Auch der für die Disziplinierung von Parteimitgliedern und Funktionären der SED wichtige Bestand DY 30 Zentrale Parteikontrollkommission der SED steht ohne die personenbezogenen Unterlagen teilweise digital im Internet zur Nutzung bereit. Die Digitalisierung eines ersten größeren Bestandes wurde im März 2008 abgeschlossen. Im Rahmen eines Kooperationsprojektes wurden die beim Bundesar-

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chiv vorhandenen Protokolle des Nationalen Verteidigungsrates der DDR digital auf der Rechercheplattform des Bundesarchivs ins Internet gestellt.25 An diesem von der Bundesstiftung für die Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderten Projekt zur digitalen Bereitstellung einer einzigartigen Quelle zum Verhältnis von Partei und Staat sowie zur Struktur-, Militär- und Sicherheitspolitik der DDR beteiligten sich neben dem Bundesarchiv das Militärgeschichtliche Forschungsamt Potsdam und das Institut für Zeitgeschichte München und Berlin.26 Im gleichen Jahr wurde der Bestand NS 8 Kanzlei Rosenberg digital zugänglich und im Dezember 2009 der Bestand NS 30 Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg mit dem beim Bundesarchiv vorhandenen Teil des zentralen Archivguts zum Raub von Kulturgut in der NS-Zeit, der für die heutige Provenienzforschung unentbehrlich ist. An den Kosten der Digitalisierung beteiligte sich in diesem Fall die Claims Conference. Dieses Projekt wurde mit dem weiteren Ziel durchgeführt, in Verbindung mit anderen Archiven weltweit, wie den Nationalarchiven in Washington und London und dem Staatsarchiv der Ukraine in Kiev, Voraussetzungen für eine virtuelle Rekonstruktion der versprengten Unterlagen des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg zu schaffen. Im Januar 2010 konnte das bisher umfangreichste Digitalisierungsprojekt erfolgreich abgeschlossen werden, nämlich die Digitalisierung der Druckgenehmigungsakten für Belletristik im Bestand DR 1 des Ministeriums Kultur der DDR. Seitdem steht dieses einzigartige Archivgut in der üblichen Verbindung von Online-Findbuch und integrierten digitalisierten Akten im Umfang von 300 000 Seiten auf der Rechercheplattform ARGUS im Internet zur Verfügung und macht deutlich, mit welchen Mechanismen und Kriterien ein Staat, der in seiner Verfassung die Zensur ausschloss, gleichwohl dafür sorgte, dass „das richtige Buch zur richtigen Zeit in die richtigen Hände“ kam.27 Zum letzten Jahr der DDR nach dem Mauerfall wurde zunächst der Bestand DA 3 „Zentraler Runder Tisch“ mit Aufzeichnungen vom Dezember 1989 bis März 1990 digital verfügbar gemacht. Im Frühjahr 2010 konnten dann weitere wichtige Akten zur Umbruchsphase ins Internet gestellt werden: In einem Kooperationsprojekt mit dem Deutschen Bundestag wurden rechtzeitig zum 18. März 2010, dem zwanzigsten Jahrestag der Eröffnung der 10. Wahlperiode der Volkskammer, die erstmals aus freien Wahlen hervorgegangen war, die Akten dazu beim Bundesarchiv digitalisiert, 142 000 Seiten in das dazugehörige Online-Findbuch eingebunden und ins Internet gestellt. Fast gleichzeitig wurde auch das Archivgut eines weiteren wichtigen Büros des Zentralkomitees der SED, das Büro Walter Ulbricht, in gleicher Weise digital verfügbar gemacht.

25 http://www.bundesarchiv.de/fb_daofind/Zdaofind_DVW1_NVR/. 26 Hans-Joachim Harder, Der Nationale Verteidigungsrat der DDR – Schnittstelle von Partei und Armee, in: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv, 2008, 16, H. 2, S. 86–89; Projektwebsite: http://www.nationaler-verteidigungsrat.de/. 27 Johanna Marschall-Reiser, Projekt zur Digitalisierung der Druckgenehmigungsakten für Belletristik, Bestand DR 1 Ministerium für Kultur der DDR, in: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv, 2009, 17, H. 1, S. 40f.

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Die Vorstellung der Facharbeitsgruppe „Inhalt“, wonach recherchierbare Indizes oder Inhaltsverzeichnisse mit den einzelnen digitalen Abbildern verknüpft werden sollten, ist bei der digitalen Bereitstellung von Archivgut, zumal in größeren Mengen, kaum zu erfüllen. In einem einzigen Fall, dem Archivgut aus dem Sekretariat Helmut Lehmann, wurden die bildlich digitalisierten Akten auch im Volltext erfasst und die Präsentation so eingerichtet, dass in der Volltextakte im Hintergrund gesucht wird, die Treffer dann aber die Anzeige der einschlägigen bildlich digitalisierten Aktenseiten auslösen.28 An diesem Prototyp sollte der Aufwand für eine derartige Erschließung mit hohem Nutzungskomfort ermittelt werden, der sich erwartungsgemäß jedoch als unangemessen hoch erwies. AUSBLICK Mit den genannten Beständen stehen beim Bundesarchiv derzeit mehr als 700 000 Dokumentenseiten, eingebunden in die Kontextinformationen der Erschließung, digital zur freien Nutzung kostenlos im Internet zur Verfügung. Das Bundesarchiv hat damit die Experimentierphase hinter sich gelassen und sich Expertise erworben, um sich an nationalen Vorhaben wie der Deutschen Digitalen Bibliothek oder auf europäischer Ebene an der europeana zu beteiligen. Im Rahmen seiner Digitalisierungsstrategie und der personellen und finanziellen Möglichkeiten wird das Bundesarchiv in der digitalen Bereitstellung von Archivgut im Internet fortfahren. Referenzbestände, das heißt Archivgutbestände, die für viele Fragestellungen offen sind und zugleich auf andere einschlägige Bestände hinleiten, haben dabei Vorrang. Als weiteres Kriterium für die Auswahl kommt die virtuelle Rekonstruktion von Provenienzbeständen in Frage, die, insbesondere als Folge des Zweiten Weltkriegs, auf mehrere Archive in Europa oder darüber hinaus verteilt sind. Neben der Rekonstruktion der Überlieferung des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg wäre hier in Verbindung mit Frankreich und Belgien die virtuelle Zusammenführung des Archivguts des Militärbefehlshabers in Frankreich und Belgien ein reizvolles Projekt. Ein übergreifendes und allgemeines Ziel wird schließlich die Verbesserung der Zugänglichkeit (und zugleich des Schutzes) häufig benutzter und daher in der Erhaltung gefährdeter Archivbestände sein. Dies kann allerdings weiterhin nur in kleinen Schritten im Rahmen der begrenzten personellen und finanziellen Möglichkeiten oder mit Drittmitteln geschehen.

28 Das Vorbild dieses Verfahrens lieferte HELIOS, The Heinz Electronic Library Interactive Online System, das Helmut Altrichter und den Autor dieses Beitrags beim gemeinsamen Besuch der Carnegie Mellon University Libraries, Pittsburgh, in seiner aufwendigen Funktionalität besonders beeindruckte. Die nachgelassenen Papiere des 1991 tödlich verunglückten USSenators H. John Heinz III. wurden durch Hintergrundsuche in Volltexten so aufbereitet, dass auf die digitalen Abbilder der Schriftstücke über Volltextrecherche zugegriffen werden konnte; vgl. Elektronische Bibliotheken in den USA. Bericht über eine USA-Reise von Bibliothekaren und Wissenschaftlern im September 1998, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Berlin 1999, S. 34, 78.

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Retrospektiv digitalisiertes Archivgut im Internet in der Menge bereitzustellen, die erforderlich wäre, um die „kritische Masse“ zu erreichen, nämlich eine hinreichende Basis für die Bearbeitung einer Vielzahl denkbarer Fragestellungen abzugeben und für weitere künftige Fragestellungen offen und einschlägig zu sein, ist nicht nur eine schöne Vision, sondern zugleich eine Illusion. Trotz rationeller Möglichkeiten der Digitalisierung von Archivgut, der Bildoptimierung, der Verknüpfung der Digitalisate mit den Metadaten, die eine Präsentation im Entstehungszusammenhang erlauben, und einer Verwendung integrierter Modelle der digitalen Bereitstellung im Kontext der Erschließungsinformationen, bleibt die digitale Bereitstellung von Archivgut äußerst aufwendig. Im ersten deutschen archivischen Digitalisierungsprojekt, dem bekannten Projekt des Stadtarchivs Duderstadt, wurden in einem Zeitraum von 4 Jahren rund 74 000 Seiten für das Internet aufbereitet.29 Dies entspricht ungefähr einem Bestand von 6 – 8 laufenden Metern Akten, Urkunden und Amtsbüchern – einem Bruchteil der Bestände des Stadtarchivs. Beim Bundesarchiv stehen derzeit die bereits erwähnten rund 700 000 Aktenseiten digital bereit. Dies entspricht bei überwiegend modernen Beständen ungefähr 40 laufenden Metern Akten und macht gerade mal 1,3 Promille der Schriftgutbestände im Bundesarchiv aus. Auch wenn das Bundesarchiv nach dem Ablauf vieler Jahre mit rund 6 Millionen Seiten das vorläufige strategische Ziel von 1 % digital verfügbarem Archivgut erreichen würde, bleibt offensichtlich, dass dieser letztlich kleine Ausschnitt von Archivgut nicht für viele Fragestellungen offen sein kann und dass die Attraktivität begrenzter Mengen auch von sehr aussagekräftigem Archivgut mit zunehmender Auswertung abnimmt. So stellt sich die Frage, ob eine vollständige digitale Bereitstellung des in einem Archiv zugänglichen Archivguts, so sie denn möglich wäre, überhaupt sinnvoll ist und im Interesse der Forschung liegt? Will denn der forschende Archivbenutzer überhaupt mit archivalischen Quellen arbeiten, von denen er weiß, dass sie gleichzeitig weltweit alle anderen Interessenten auch sehen können? Ist das Gefundene dann noch eine Entdeckung? Der forschende Archivbenutzer kommt in den Lesesaal, um zu seiner Fragestellung Antworten im Archivgut zu finden oder um seine Arbeitshypothese mit Aussagen in Quellen zu stützen. Zumindest aber wird er im Koselleck’schen Sinne des Vetorechts der Quellen ausschließen wollen, dass sich im Archivgut nichts findet, was seiner Hypothese widerspricht. Der Forscher kommt weiterhin ins Archiv, um im Entstehungszusammenhang von Entscheidungsprozessen Motive zu ergründen, die bei den kommunizierten Entscheidungen nicht offensichtlich gemacht wurden. Archivarbeit hat dabei auch mit Freude am Aufspüren und Entdecken zu tun, auch mit der Genugtuung, ein Dokument im Archivgut gefunden zu haben, das erstmals überhaupt oder wenigstens erstmals im Kontext einer bestimmten Fragestellung ans Licht gehoben wurde. Gehört dazu nicht die Gewissheit, dass man ein Unikat vor sich sieht und sicher ist, dass es nicht gleichzeitig 29 Hans-Heinrich Ebeling, Das Digitale Archiv. Ein Projekt am Stadtarchiv Duderstadt, in: Hartmut Weber / Gerald Maier (Hg.), Digitale Archive und Bibliotheken, Stuttgart 2000, S. 261–267, hier S. 262f.

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Hartmut Weber

Tausende weltweit als digitale Kopie am Bildschirm betrachten können? Auch in Suchmaschinen des Internets oder in komplexen Rechercheplattformen wie in ARGUS lässt sich suchen, stöbern und entdecken. Dass das gefundene Dokument nicht dasselbe ist wie das Dokument in den Akten im Lesesaal, ist offensichtlich. Der haptische Eindruck fehlt auch denjenigen, welchen der Begriff der Aura oder der Anmutung eines Originals überhöht erscheinen mag. Durch die Möglichkeiten des Internets und die Anstrengungen der Archive, diese zu nutzen, ist die Forderung Droysens nach einer für beide Seiten gedeihlichen Symbiose zwischen akademischer Fachwissenschaft und Archiven näher gerückt: Für Forschung und Lehre stehen dauerhaft und unabhängig von Zeit und Ort und ohne aufwendige Editionstätigkeit so viele „bedeutsame“ Quellen zur Verfügung wie nie zuvor, erstmals selbst zunehmend audiovisuelle Quellen, deren Einsatz in der Lehre Helmut Altrichter besonders am Herzen liegt. Offen bleibt weiterhin die Frage, welche Quellen die bedeutsamsten sind.30 Helmut Altrichters ehrgeiziger Projektidee der „100(0) Schlüsseldokumente im Internet“ wird man noch einige Nullen in der Klammer zufügen müssen, um die bedeutsamsten im Konzert der bedeutsamen Quellen zu erfassen. Dennoch wird der Historiker für Forschung und Lehre in den Lesesälen der Archive stets auf mehr interessantes und relevantes Wissen stoßen als im Internet – quantitativ und qualitativ.

30 Helmut Altrichter, Universitäre Geschichtswissenschaft und Archiv, in: Angelika MenneHaritz / Rainer Hofmann (Hg.), Archive im Kontext. Öffnen, Erhalten und Sichern von Archivgut in Zeiten des Umbruchs, Düsseldorf 2010, S. 107–123, hier S. 112.

KURZBIOGRAPHIEN DER AUTORINNEN UND AUTOREN

LILIA ANTIPOW, *1970; M.A.; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg. Ausgewählte Schriften: Sterben als „heroische Tat“? Konstruktion des Jüdischen und Repräsentation des Holocaust in „Aufstand im Ghetto“ von Samuil Galkin, in: Frank Grüner / Urs Heftrich / Heinz-Dietrich Löwe (Hg.), „Zerstörer des Schweigens“. Formen künstlerischer Erinnerung an die nationalsozialistische Rassen- und Vernichtungspolitik in Osteuropa, Wien 2006, S. 99–115; Glücksuchende? Conditio Judaica im sowjetischen Film (hg. zusammen mit Jörn Petrick und Matthias Dornhuber), Würzburg, erscheint voraussichtlich 2010; Die UdSSR und der Nürnberger Prozeß: Vorbereitung, Durchführung, Rezeption (1945– 2008), Manuskript, Nürnberg 2010. JÖRG BABEROWSKI, *1961; Prof. Dr.; Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ausgewählte Schriften: Autokratie und Justiz, Frankfurt am Main 1996; Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München 2003; Der Sinn der Geschichte, München 2005. WALTHER L. BERNECKER, *1947; Prof. Dr.; Inhaber des Lehrstuhls Auslandswissenschaft (Romanischsprachige Kulturen) an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg. Ausgewählte Schriften: Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936–2006, Nettersheim 2008; Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert (zusammen mit Sören Brinkmann), München 2010; Die Welt im 20. Jahrhundert bis 1945 (hg. zusammen mit Hans Werner Tobler), Wien 2010. WERNER K. BLESSING, *1941; Prof. Dr.; Universitätsprofessor für Neuere Geschichte und Landesgeschichte i. R. an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Ausgewählte Schwerpunkte: Sozialgeschichte der ländlichen Welt in Süddeutschland im 19. Jahrhundert; Religionsgeschichte am bayerischen Beispiel vom 18. zum 20. Jahrhundert; Geschichte der politischen Kultur Bayerns im 20. Jahrhundert. THOMAS BOHN, *1963; Prof. Dr.; Inhaber des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte mit einem Schwerpunkt Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ausgewählte Schriften:

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Russische Geschichtswissenschaft von 1880 bis 1905. Pavel N. Miljukov und die Moskauer Schule, Köln 1998; Minsk – Musterstadt des Sozialismus. Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945, Köln 2008; Studienhandbuch östliches Europa, Bd. 2, Russisches Reich und Sowjetunion (hg. zusammen mit Dietmar Neutatz), 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage, Köln 2009. ALEKSANDR ýUBAR’JAN, *1931; Prof. Dr.; Direktor des Instituts für Allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau. Ausgewählte Schriften: Brestskij mir. 1918, Moskau 1963; Istorija XX veka (Novye metody issledovanija), Moskau 1997; Europakonzepte: von Napoleon bis zur Gegenwart, Berlin 1992. BEATE FIESELER, *1955; Prof. Dr.; Universitätsprofessorin für Geschichte und Kulturen Osteuropas an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ausgewählte Schriften: Kriegsbilder. Mediale Repräsentationen des ‚Großen Vaterländischen Krieges‘ (hg. zusammen mit Jörg Ganzenmüller), Essen 2010; Pobediteli i pobezhdennye. Perechod ot voennogo k mirnomu vremeni (hg. zusammen mit Nathalie Moine), Moskau 2010; „Arme Sieger“. Die Invaliden des ‚Großen Vaterländischen Krieges‘ der Sowjetunion 1941–1991, Köln (im Erscheinen). KLAUS GESTWA, *1963; Prof. Dr.; Direktor des Instituts und Inhaber des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Eberhard-KarlsUniversität Tübingen. Ausgewählte Schriften: Proto-Industrialisierung in Rußland. Wirtschaft, Herrschaft und Kultur in Ivanovo und Pavlovo 1741–1932, Göttingen 1999; Die „Stalinschen Großbauten des Kommunismus“. Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte 1948–1967, München 2010. CARSTEN GOEHRKE, *1937; Prof. Dr.; emeritierter Inhaber des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich. Ausgewählte Schriften: Frühzeit des Ostslaventums, Darmstadt 1992; Russischer Alltag. Eine Geschichte in neun Zeitbildern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart, 3 Bde., Zürich 2003– 2005; Russland. Eine Strukturgeschichte, Paderborn 2010. AXEL GOTTHARD, *1959, Prof. Dr.; apl. Universitätsprofessor (Frühneuzeitliche Geschichte) am Department Geschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Ausgewählte Schwerpunkte: konzeptionelle und strukturelle Voraussetzungen der vormodernen Bellizität; Räume in der Wahrnehmung vormoderner Menschen; Bedeutung der Konfession und von Säkularisierungsvorgängen für die europäische Geschichte. KLAUS HERBERS, *1951, Prof. Dr.; Inhaber des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften sowie First Deputy Director des Internationalen Forschungskollegs „Schicksal, Freiheit und Prognose“ an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Ausgewählte Schwerpunkte: Papstgeschichte, Hagiographie, Karolingerzeit.

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LEONID LUKS, *1947, Prof. Dr.; Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Ausgewählte Schriften: Katholizismus und politische Macht im kommunistischen Polen, Köln 1993; Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin, Regensburg 2000; Zwei Gesichter des Totalitarismus, Köln 2007. NIKOLAUS KATZER, *1952; Prof. Dr.; Direktor des Deutschen Historischen Instituts Moskau. Ausgewählte Schriften: Die Weiße Bewegung in Rußland. Herrschaftsbildung, praktische Politik und politische Programmatik im Bürgerkrieg, Köln 1999; „Eine Übung im Kalten Krieg“. Die Berliner Außenministerkonferenz von 1954, Köln 1994; Euphoria and Exhaustion: Modern Sport in Soviet Culture and Society, Frankfurt am Main 2010. JAN KUSBER, *1966; Prof. Dr.; Inhaber des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ausgewählte Schriften: Krieg und Revolution in Rußland. Das Militär im Verhältnis zu Wirtschaft, Autokratie und Gesellschaft, Stuttgart 1997; Eliten- und Volksbildung im Zarenreich während des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Studien zu Diskurs, Gesetzgebung und Umsetzung, Stuttgart 2004; Kleine Geschichte St. Petersburgs, Regensburg 2009. TRUDE MAURER, *1955 ; Prof. Dr.; apl. Universitätsprofessorin am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Universität Göttingen. Ausgewählte Schwerpunkte: Russische Sozial- und Bildungsgeschichte, Geschichte der Juden in Deutschland und Osteuropa, vergleichende Universitätsgeschichte (Deutschland, Ostmitteleuropa, Russland). HORST MÖLLER, *1943; Prof. Dr. Dr. hc. mult.; Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin und Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ausgewählte Schriften: Fürstenstaat oder Bürgernation. Deutschland 1763 – 1815, 4. Auflage als Taschenbuch, Berlin 1998; Weimar. Die unvollendete Demokratie, 9. aktualisierte Auflage, München 2008; Europa zwischen den Weltkriegen, 2. Auflage, München 2000. IGOR NARSKIJ, *1959; Prof. Dr.; Universitätsprofessor für Russische Geschichte und Direktor des Zentrums für Kulturgeschichte an der Staatlichen Universität des Südural in Tscheljabinsk. Ausgewählte Schwerpunkte: Erfahrungsgeschichte der Russischen Revolution, visuelle Geschichte der UdSSR, Geschichte der sowjetischen Kindheit. HELMUT NEUHAUS, *1944; Prof. Dr.; emeritierter Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Geschichte I an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Ausgewählte Schriften: Reichsständische Repräsentationsformen im 16. Jahrhundert. Reichstag – Reichskreistag – Reichsdeputationstag, Berlin 1982; Das Reich in der Frühen Neuzeit, 2. Auflage, München 2003; 150 Jahre Histori-

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sche Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Eine Chronik, München 2008. DIETMAR NEUTATZ, *1964; Prof. Dr.; Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Osteuropäische Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Ausgewählte Schriften: Die „deutsche Frage“ im Schwarzmeergebiet und in Wolhynien. Politik, Wirtschaft, Mentalitäten und Altag im Spannungsfeld von Nationalismus und Modernisierung (1856–1914), Stuttgart 1993; Die Moskauer Metro. Von den ersten Plänen bis zur Großbaustelle des Stalinismus (1897–1935), Köln 2001; Studienhandbuch Östliches Europa. Bd. 2, Russisches Reich und Sowjetunion (hg. zusammen mit Thomas M. Bohn), 2. Auflage, Köln 2009. GERTRUD PICKHAN, *1956; Prof. Dr.; Inhaberin des Lehrstuhls für Geschichte Ostmitteleuropas am Osteuropainstitut der Freien Universität Berlin. Ausgewählte Schriften: „Gegen den Strom“. Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund ‚Bund‘ in Polen 1918–1939, Stuttgart 2001; Von Hitler Vertrieben, von Stalin verfolgt. Der Jazzmusiker Eddie Rosner (zusammen mit Maximilian Preisler), Berlin 2010; Transit und Transformation. Osteuropäisch-jüdische Migranten in Berlin 1918– 1939 (hg. zusammen mit Verena Dohrn), Göttingen 2010. MALTE ROLF, *1970; Prof. Dr.; Juniorprofessor für Osteuropäische Geschichte an der Leibniz Universität Hannover. Ausgewählte Schriften: Das sowjetische Massenfest, Hamburg 2006; Rausch und Diktatur. Inszenierung, Mobilisierung und Kontrolle in totalitären Systemen (hg. zusammen mit Árpád von Klimó), Frankfurt am Main 2006; Zwischen partei-staatlicher Selbstinszenierung und kirchlichen Gegenwelten: Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs (hg. zusammen mit Gabor Rittersporn und Jan Behrends), Frankfurt am Main 2003. SUSANNE SCHATTENBERG, *1969; Prof. Dr.; Universitätsprofessorin für Zeitgeschichte und Kultur Osteuropas und Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Ausgewählte Schriften und Schwerpunkte: Stalins Ingenieure. Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren, München 2002; Die korrupte Provinz? Russische Beamte im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2008; DFG-Projekt zur Kulturgeschichte der Außenpolitik. MATTHIAS STADELMANN, *1967; Priv.-Doz. Dr.; Akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhl Osteuropäische Geschichte. Ausgewählte Schriften: Isaak Dunaevskij, Sänger des Volkes. Eine Karriere unter Stalin, Köln 2003; Die Romanovs, Stuttgart 2008; Großfürst Konstantin Nikolaeviþ. Der persönliche Faktor und die Kultur des Wandels in der russischen Autokratie, Habilitationsschrift, Erlangen 2010. GEORG SEIDERER, *1961; Prof. Dr.; Universitätsprofessor für Neuere Bayerische und Fränkische Landesgeschichte und Volkskunde an der Friedrich-

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Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Ausgewählte Schriften: Formen der Aufklärung in fränkischen Städten. Ansbach, Bamberg und Nürnberg im Vergleich, München 1997; Paul Wolfgang Merkel (1756–1820). Kaufmann. Reformer. Patriot (= Ausstellungskataloge des Stadtarchivs Nürnberg, 16), Nürnberg 2006; Liberalismus und Neoabsolutismus. Verfassungspolitik und Verwaltungsreform unter Alexander (von) Bach 1849–1859, Habilitationsschrift, München 2004. HARTMUT WEBER, *1945; Prof. Dr.; Präsident des Bundesarchivs; Lehraufträge an der Archivschule Marburg und an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Beiräte, Hochschulratsvorsitzender. EDUARD WINKLER, *1966; Dr. phil.; Nürnberg; Historiker und Berater für Kommunikation, Marketing, Werbung. Ausgewählte Schriften: Wahlrechtsreformen und Wahlen in Triest 1905–1909. Eine Analyse der politischen Partizipation in einer multinationalen Stadtregion der Habsburgermonarchie, München 2000; gegenwärtig Vorbereitung einer Gesellschaftsgeschichte Jugoslawiens und PostJugoslawiens. WOLFGANG WÜST, *1953; Prof. Dr.; Inhaber des Lehrstuhls für Bayerische und Fränkische Landesgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Ausgewählte Schriften: Reichskreis und Territorium: die Herrschaft über der Herrschaft? Supraterritoriale Tendenzen in Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Vergleich süddeutscher Reichskreise, Sigmaringen 2000; Geistlicher Staat und Altes Reich: Frühneuzeitliche Herrschaftsformen, Administration und Hofhaltung im Augsburger Fürstbistum, 2 Teilbde., München 2001; Die „gute“ Policey im Reichskreis. Zur frühmodernen Normensetzung in den Kernregionen des Alten Reiches, 4 Bde., Berlin 2001–2008.

VERZEICHNIS AUSGEWÄHLTER SCHRIFTEN DES JUBILARS

I. MONOGRAPHIEN 1. Konstitutionalismus und Imperialismus. Der Reichstag und die deutschrussischen Beziehungen 1890–1914 (= Erlanger Historische Studien, 1), Frankfurt am Main 1977, 426 S. 2a. Staat und Revolution in Sowjetrußland 1917–1922/23 (= Erträge der Forschung, 148), Darmstadt 1981, 214 S. 2b. dito, 2. erw. Ausgabe, Darmstadt 1996, 276 S. 3a. Die Bauern von Tver. Vom Leben auf dem russischen Dorfe zwischen Revolution und Kollektivierung, München 1984, 373 S. 3b. dito, gekürzte und broschierte Sonderausgabe, mit einem Vorwort von Lew Kopelew, München 1984, 240 S. 4a. Kleine Geschichte der Sowjetunion 1917–1991, München 1993, 254 S. 4b. dito, Übersetzung ins Koreanische. 1997, 279 S. 4c. dito, zweite, erweiterte Auflage, München 2001, 266 S. 4d. dito, dritte Auflage, München 2007. 5. Rußland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn/München/Wien/Zürich 1997, 605 S. 6. Geschichte Europas im 20. Jahrhundert (zusammen mit Walther L. Bernecker), Stuttgart 2004, 448 S. 7. Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München 2009, 448 S. II. SAMMEL- UND DOKUMENTENBÄNDE (HERAUSGEBER/MITHERAUSGEBER) 1. „Modernisierung“ versus „Sozialismus“. Formen und Strategien sozialen Wandels im 20. Jahrhundert, Erlangen 1983, 361 S. (hg. und Einleitung zusammen mit K.-H. Ruffmann).

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2. Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod, Band 1, Staat und Partei. Dokumente (= dtv-dokumente 2948), München 1986, 359 S.; [als Volltext jetzt auch im Internet unter http://mdz.bib-bvb.de/digbib/ Sowjetunion] 3. Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod, Band 2, Wirtschaft und Gesellschaft. Dokumente (= dtv-dokumente 2949), München 1987, 556 S. (hg. zusammen mit Heiko Haumann); [als Volltext jetzt auch im Internet unter http://mdz.bib-bvb.de/digbib/Sowjetunion]. 4. Kriegsausbruch 1939. Beteiligte, Betroffene, Neutrale, München 1989, 290 S. (Hg. zusammen mit Josef Becker). 5. Bilder erzählen Geschichte (= Rombach Historiae, 6), Freiburg 1995, 354 S. (Hg. und Einleitung). 6. Das Ende von Großreichen (= Erlanger Studien zur Geschichte, 1), Erlangen 1996, 312 S. (Hg. und Einleitung zusammen mit Helmut Neuhaus). 7. Persönlichkeit und Geschichte (= Erlanger Studien zur Geschichte, 3), Erlangen 1997, 260 S. 8. Mythen in der Geschichte (= Rombach Historiae, 16), Freiburg 2004, 573 S. (hg. und Vorwort zusammen mit Klaus Herbers und Helmut Neuhaus). 9. GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozeß Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 61), München 2006, 326 S. 10. Adenauers Moskaubesuch 1955. Eine Reise im internationalen Kontext (= Rhöndorfer Gespräche, 22), Bonn 2007, 294 S. III. AUFSÄTZE, ARTIKEL, SAMMELREZENSIONEN 1. Agrarstruktur und Agrarpolitik in Sowjetrußland am Vorabend der Kollektivierung, in: Geschichte und Gesellschaft, 1979, V/2, S. 378–397. 2. Die Dorfsowjets im Gouvernement Tver’. Eine Fallstudie zur Entwicklung des Dorfes 1925–1932, in: Gernot Erler / Walter Süß (Hg.), Stalinismus. Probleme der Sowjetgesellschaft zwischen Kollektivierung und Weltkrieg, Berlin 1982, S. 25–45. 3. Ernst Reuter, in: Walther L. Bernecker / Volker Dotterweich (Hg.), Persönlichkeit und Politik in der Bundesrepublik. Politische Porträts, Band 2, Göttingen 1982, S. 120–132. 4. Die verhinderte Neuordnung? Sozialisierungsforderungen und Parteienpolitik in den Westzonen 1945–1948, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 1984, XXXV/6, S. 351–364.

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5. Sozialismus oder Marktwirtschaft? Die Diskussion um die wirtschaftliche Neuordnung in den Westzonen 1945–1948, in: Karl-Heinz. Ruffmann / Helmut Altrichter (Hg.), „Modernisierung“ versus „Sozialismus“, S. 187–227. 6. Artikel: Anti-Partei-Gruppe; Antisowjetischer Block der Rechten und Trotzkisten; Antisowjetisches Trotzkistisches Zentrum; Antonov-Aufstand; ÄrzteKomplott; Beisitzer des Volkes; Bürgerkrieg; Bürgerrechte; Cμernobyl; Demokratischer Zentralismus; Diktatur des Proletariats; DOSAAF; Fernöstliche Republik; GULAG; Industrie-Partei; Intourist; Junge Garde; Justiz; Kameradschaftsgerichte; „Kastanien-Rede“ Stalins; Kollektive Führung; Komitees der Armen; „Kommunist“; Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR; Kriegskommunismus; Kronstädter Aufstand; Kulturrevolution; Lenin-Mausoleum; Lenin-Preis; Lettische Schützen; Linke Kommunisten; Linke Opposition; „Literaturnaja gazeta“; Militärkommissare; Miliz; Ministerien; Ministerrat; Neopopulismus; Neue Ökonomische Politik; Neulandkampagne; Nomenklatur; „Novyj mir“; Oberster Sowjet; Orden; Orgbüro; Osoaviachim; Parteien; Parteikontrollkommission; Parteitage; Partisanen; Politbüro; Politruk; „Pravda“; Presse; Präsidium des Obersten Sowjet; Proletkul’t; Putsch; RAPP; Rat der Arbeiter- und Bauernverteidung; Rat der Arbeit und Verteidigung; Rat der staatlichen Vereinigung Rußlands; Rätekongreß; Rechte Opposition; Revolutionstribunal; ROSTA-Fenster; Samizdat; Säuberungen; Schiedsgericht; Sekretariat des ZK; Schriftstellerverband; Sowjet; Sowjetunion; Sozialismus in einem Lande; Sozialistischer Realismus; Sputnik; Staatskontrolle; Streitkräfte; TASS; Testament Lenins; Todesstrafe; Ufa-Direktorium; Union für die Befreiung der Ukraine; Unionssowjet; Verfassung; Westukrainische Volksrepublik; Ždanov-Ära; Zentrales Exekutivkomitee; Zentralkomitee, in: HansJoachim Torke (Hg.), Historisches Lexikon der Sowjetunion 1917/22 bis 1991, München 1993. 7. Insoluble Conflicts. Village Life between Revolution and Collectivization, in: Sheila Fitzpatrick / Alexander Rabinowitch / Richard Stites (Hg.), Russia in the Era of NEP. Explorations in Soviet Society and Culture, Bloomington 1991, S. 192–209. 8. Nichts Neues im Osten? Gorbatschow ist nicht der erste Reformer, in: Nürnberger Zeitung (Wochenendbeilage), Nr. 18, 23. Januar 1988. 9. Zum Verhältnis von Innen- und Außenpolitik in der russisch-sowjetischen Geschichte, in: Rudolf Hamann / Volker Matthies (Hg.), Sowjetische Außenpolitik im Wandel. Eine Zwischenbilanz der Jahre 1985–1990, Baden-Baden 1991, S. 19–36. 10. Unauflösbare Widersprüche. Die sowjetische Politik und der Kriegsausbruch, in: Helmut Altrichter / Josef Becker (Hg.), Kriegsausbruch 1939. Beteiligte, Betroffene, Neutrale, Müchen 1989, S. 59–83. 11. Was blieb, was bleibt vom „Großen Oktober“? Das Verhältnis zur Geschichte als politisches Problem, in: Clemens Burrichter / Günter Schödl (Hg.), „Ohne

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Erinnerung keine Zukunft“. Zur Aufarbeitung der Vergangenheit in einigen europäischen Gesellschaften unserer Tage, Köln 1992, S. 33–49. 12. Das Ende der Sowjetunion? Historische Anmerkungen zu Entstehung und Zukunft des russischen Vielvölkerreichs (= Erlanger Universitätsreden, III. Folge, 36), Erlangen 1991, 33 S. 13. „Ich bin ein Fremder“. Zum Zerfall Rußlands in Revolution und Bürgerkrieg, in: Historische Zeitschrift, 1993, 256, S. 661–688. 14. Das Beispiel Rußlands, in: Ablösung aus Imperien. Tagungsbericht des Symposiums vom 14. bis 16. Juni 1991 in Titisee, Stuttgart 1992, S. 143–156. 15. Nationalism and the Dissolution of Empires: the Soviet Union, in: Wim Blockmans / Jorge Borges de Macedo / Jean-Philippe Genet (Hg.), The Heritage of the Pre-industrial European State, Lissabon 1996, S. 231–242. 16. Und was kommt danach? Vom Ende der Sowjetunion – einer Gesellschaft im Umbruch (Besprechung von: M. Brie / E. Böhlke, Rußland wieder im Dunkeln. Ein Jahrhundertstück wird besichtigt; F. Stadelmaier, Die Sowjetunion 1917 bis 1991. Zwei Revolutionen verändern die Welt; M. Vajda, Russischer Sozialismus in Mitteleuropa; S. Alexijewitsch, Zinkjungen, Afghanistan und die Folgen; K. Grobe-Hagel, Rußlands Dritte Welt. Nationalitätenkonflikte und das Ende der Sowjetunion), in: Das Parlament, Nr. 47–48, 13./20. November 1992, S. 18–19. 17. Staatsstreich oder Revolution? Annäherungen an den „Roten Oktober“ des Jahres 1917 (Besprechung von: E. Radsinski, Nikolaus II. Der letzte Zar und seine Zeit; M.P. Iroschnikow / J.B. Schelajew / L.A. Protsai (Hg.), Vor der Revolution. Das alte St. Petersburg; B. Omjotew / J. Stuart (Hg.), St. Petersburg in frühen Photographien; W. Nabokow, Petrograd 1917. Der kurze Sommer der Revolution; R. Pipes, Die Russische Revolution, Band 2, Die Macht der Bolschewiki; A. Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich), in: Das Parlament, Nr. 42, 9. Oktober 1992, S. 22f. 18. Eine Reise ins Elisabethanische Moskau. Staat und Gesellschaft Rußlands im 18. Jahrhundert, in: Helmut Neuhaus (Hg.), Aufbruch aus dem Ancien régime. Beiträge zur Geschichte des 18. Jahrhunderts, Köln 1993, S. 101–124. 19. De la República de Weimar al Tercer Reich, in: J.M. Ortiz de Orruño / M. Saalbach (Hg.), Alemania (1806–1989). Del Sacro Imperio a la Caida del Muro, Vitoria-Gasteiz, 1994, S. 61–72. 20. Kunst als „verläßlichster Indikator für den menschlichen Zustand in der Zeit“? Kliment Nikolajewitsch Redko: „Das Werk“ (1922), in: Helmut Altrichter (Hg.), Bilder erzählen Geschichte, S. 249–271. 21. „…und ganz unter dem Schweif stehen Lessing und Kant…“ Das deutsche Reich aus russischer und sowjetischer Sicht, in: Klaus Hildebrand (Hg.), Das

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Deutsche Reich im Urteil der Großen Mächte und europäischen Nachbarn (1871–1945), München 1995, S. 179–202. 22. Zwischen Staatszielen und Konsuminteresse. Zur historischen Einordnung der Wirtschaftsreformen Gorbatschows, in: Helga Breuninger / Rolf Peter Siefele (Hg.), Markt und Macht in der Geschichte, Stuttgart 1995, S. 323–348. 23. Die alliierte Deutschlandpolitik. Ziele, Phasen, Interpretationen, in: Walther L. Bernecker / Volker Dotterweich (Hg.), Deutschland in den internationalen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Josef Becker zum 65. Geburtstag (= Schriften der philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg, 50), München 1996, S. 263–286. 24. Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und der Aufstieg zur Weltmacht. 1945 aus russisch-sowjetischer Sicht, in: Gotthard Jasper (Hg.), 1945–1995. 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, Erlangen 1998, S. 75–98. 25. Die Auflösung der Sowjetunion, in: Helmut Altrichter / Helmut Neuhaus (Hg.), Das Ende von Großreichen, Erlangen 1996, S. 283–310. 26. Nikita Sergejewitsch Chruschtschow. Vom Karrieristen zum Kritiker des Stalinismus, in: Helmut Altrichter (Hg.), Persönlichkeit und Geschichte, Erlangen 1997, S. 193–229. 27. Rückkehr als Erinnerung. Zu den Memoiren Soma Morgensterns, in: HansJürgen Bömelburg / Beate Eschment (Hg.), „Der Fremde im Dorf“. Überlegungen zum Verhältnis von Eigenem und Fremdem in der Geschichte, Lüneburg 1998, S. 211–230. 28. Gegenspieler – Zwei Modelle zur Gestaltung der Welt [Die Sowjetunion zwischen den Weltkriegen], in: Brockhaus. Die Weltgeschichte, Band 5, Leipzig 1999, S. 376–415. 29. Ein- oder mehrdeutig? Ziele und Konzeptionen sowjetischer Deutschlandpolitik 1945/46, in: Hartmut Mehringer / Michael Schwartz / Hermann Wentker (Hg.), Erobert oder befreit? Deutschland im internationalen Kräftefeld und die sowjetische Besatzungszone (1945/46), München 1999, S. 47–69. 30. „Alle Macht den Räten!“ Die Okoberrevolution, in: Meilensteine der Menschheit. Einhundert Entdeckungen, Erfindungen und Wendepunkte der Geschichte. Herausgegeben von der Brockhaus-Redaktion, Leipzig 1999, S. 322–325. 31. „Offene Großbaustelle Rußland“. Reflexionen über das „Schwarzbuch des Kommunismus“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1999, 47, S. 321– 361. 32. O trudnostjach pisat’ sovetskuju istoriju. Zameþenija k novomu svodnomu trudu M. Chil’dermajera, in: Problemy vsemirnoj istorii. Sbornik statej v þest’ Aleksandra Aleksandroviþa Fursenko, St. Petersburg 2000, S. 14–20.

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33. Wissenschaft in politischem Auftrag? Die Einrichtung des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte, in: Helmut Neuhaus (Hg.), Geschichtswissenschaft in Erlangen (= Erlanger Studien zur Geschichte, 6), Erlangen 2000, S. 289– 314. 34. Retrospektive Digitalisierung in Deutschland. Versuch einer Zwischenbilanz. Beitrag zum 4. gemeinsamen Kolloquium „Forum Digitalisierung“ am 28./29. November 2000 in der BSB München, in elektronischer Form publiziert unter http://www.bsb-muenchen.de/mdz/forum/altrichter/index.htm. 35. Der Zusammenbruch der Sowjetunion, 1985–1991, in: Stefan Plaggenborg (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Band 4, Stuttgart 2002, S. 519– 593. 36. Vom „Großen Vaterländischen Krieg“ zum „Zweiten Weltkrieg“. Innenpolitische Implikationen einer wissenschaftlichen Diskussion, in: Alexander Tschubarjan / Horst Möller (Hg.), Mitteilungen der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, Band 1, Berlin 2002, S. 153–162 (auch russisch). 37. War der Zerfall der Sowjetunion vorauszusehen?, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2002, München 2003, S. 89–111. 38. „Der Große Vaterländische Krieg“. Zur Entstehung und Entsakralisierung eines Mythos, in: Helmut Altrichter / Klaus Herbers / Helmut Neuhaus (Hg.), Mythen in der Geschichte, Freiburg 2004, S. 471–493. 39. Historische Quelleneditionen auf CD?, in: Jahrbuch für historische Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, Berichtsjahr 2001, München 2002, S. 56– 62. 40. „Living the Revolution“. Stadt und Stadtplanung in Stalins Rußland, in: Hardtwig, W. (Hg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 57–76. 41. Rußland – drei Fremdbilder, in: Spuren – Sledy, Deutsche und Russen in der Geschichte (Nemcy i Russkie v istorii), Essen 2003, S. 24–31. 42. Theodor Schiemann, in: Neue Deutsche Biographie, 22, 2005, S. 741f.. 43. Alemania y Europa después de la caída del muro de Berlín, in: Walther L. Bernecker (Hg.), Historia y presente del Estado-nación: Alemania y México en perspectiva comparada (= El Colegio de México, jornadas 145), México 2004, S. 47–68. 44. Dekret des 2. Allrussischen Sowjetkongresses über die Bildung des Rates der Volkskommissare, 8. November 1917, in: „100(0) Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte 1917–1991 im Internet“, http://mdz. bib-bvb.de.

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45. Dekret des Rates der Volkskommissare über das Gericht., 22. November (5. Dezember 1917), in: „100(0) Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte 1917–1991 im Internet“, http://mdz.bib-bvb.de. 46. Dekret über die Gründung der Roten Armee, 15. Januar 1918, in: „100(0) Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte 1917–1991 im Internet“, http://mdz.bib-bvb.de. 47. Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken [Moskauer Vertrag], 12. August 1970, in: „100(0) Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte 1917–1991 im Internet“, http://mdz.bib-bvb.de. 48. „Totalitarismus“ als europäische Idee, in: Simon Donig / Tobias Meyer / Christiane Winkler (Hg.), Europäische Identitäten – Eine europäische Identität? Baden-Baden 2005, S. 152–166. 49. Edgar Hösch. Eine Zwischenbilanz, in: Karl Nehring (Hg.), Südost-Institut München 1930–2005. Edgar Hösch zum siebzigsten Geburtstag (= Südosteuropa, Bibliographie, Ergänzungsband), München 2005, S. 3–6. 50. Geschichte als Erbe und das Erbe als Last. Von der geistigen Krise zum Ende der Sowjetunion, in: Helmut Neuhaus (Hg.), „Was du ererbt von deinen Vätern hast …“ Erbe, Erben, Vererben. Fünf Vorträge, Erlangen 2006, S. 63–84. 51. Potsdam. Das Ende der Anti-Hitler-Koalition, die normative Kraft des Faktischen und die Geschichtsmächtigkeit des Provisorischen, in: Horst Möller / Erika Steinbach (Hg.), Die Potsdamer Konferenz 60 Jahre danach, Bonn [2006]. S. 4–9. 52. Auswärtige Politik als Innenpolitik. Das Bild Bismarcks in Rußland, in: Klaus Hildebrand / Eberhard Kolb (Hg.), Otto von Bismarck im Spiegel Europas, Paderborn 2006, S. 115–139. 53. Ilse Bandomir im „Jahrhundert der Deportationen und Vertreibungen“, in: Klaus Hildebrand / Udo Wengst / Andreas Wirsching (Hg.), Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Festschrift zum 65. Geburtstag von Horst Möller, München 2008, S. 473–485. 54. Der „Große Vaterländische Krieg“ – Entsakralisierung eines Mythos, in: Bernd Rill (Hg.), Vergangenheitsbewältigung im Osten – Rußland, Polen, Rumänien (= Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen, 60), München 2008, S. 29–42. 55. Das Bundesarchiv als Ort geschichtswissenschaftlicher Grundlagenforschung, in: Helmut Neuhaus (Hg.), Erlanger Editionen. Grundlagenforschung durch Quelleneditionen: Berichte und Studien (= Erlanger Studien zur Geschichte, 8), Erlangen 2009, S. 65–82. 56. Das „Institut für Zeitgeschichte München-Berlin“ als Ort geisteswissenschaftlicher Grundlagenforschung, in: Helmut Neuhaus (Hg.), Erlanger Editionen.

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Grundlagenforschung durch Quelleneditionen: Berichte und Studien (= Erlanger Studien zur Geschichte, 8), Erlangen 2009, S. 83–100. 57. Geschichte als Politik. Quelleneditionen „100(0) Schlüsseldokumente zur russisch-sowjetischen Geschichte (1917–1991) und „100(0) Schlüsseldokumente zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert“ im Internet, verfaßt zusammen mit Lilia Antipow, in: Helmut Neuhaus (Hg.), Erlanger Editionen. Grundlagenforschung durch Quelleneditionen: Berichte und Studien (= Erlanger Studien zur Geschichte, 8), Erlangen 2009, S. 471–494. 58. Literatur und Geschichtswissenschaft, der Schriftsteller als Historiker: Aleksandr Solženicyns „Ivan Denisoviþ“, in: Axel Gotthard / Andreas Jakob / Thomas Nicklas (Hg.), Festschrift zum 65. Geburtstag von Helmut Neuhaus, Berlin 2009, S. 21–34. 59. Universitäre Geschichtswissenschaft und Archiv. Stationen eines gemeinsamen Weges, in: Angelika Menne-Haritz / Rainer Hofmann (Hg.), Archive im Kontext. Öffnen, Erhalten und Sichern von Archivgut in Zeiten des Umbruchs. Festschrift für Prof. Dr. Hartmut Weber zum 65. Geburtstag, Düsseldorf 2010, S. 107–123. 60. Eine gläserne Welt unter dem Joch der Vernunft. Jewgeni Samjatins utopischer Roman „Wir“ (1920), in: Johannes Hürter / Jürgen Zarusky (Hg.), Epos Zeitgeschichte. Romane des 20. Jahrhunderts in zeithistorischer Sicht. 10 Essays für den 100. Band [der Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte], München 2010, S. 27–35. sowie mehr als 175 Rezensionen für die Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Osteuropa, die Historische Zeitschrift, Das Parlament, die Frankfurter Allgemeine Zeitung u.v.a.

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