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German Pages 585 Year 2009
Historische Forschungen Band 91
Studien zur politischen Kultur Alteuropas Festschrift für Helmut Neuhaus zum 65. Geburtstag
Herausgegeben von Axel Gotthard, Andreas Jakob, Thomas Nicklas
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Studien zur politischen Kultur Alteuropas Festschrift für Helmut Neuhaus zum 65. Geburtstag
Historische Forschungen Band 91
Studien zur politischen Kultur Alteuropas Festschrift für Helmut Neuhaus zum 65. Geburtstag
Herausgegeben von Axel Gotthard, Andreas Jakob, Thomas Nicklas
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 978-3-428-12576-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhaltsverzeichnis Einleitung ¹. . . und dann und wann ein weiûer Elefant . . .ª. Helmut Neuhaus zum 65. Geburtstag Von Axel Gotthard, Andreas Jakob, Thomas Nicklas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Der Schriftsteller als Historiker ± der Historiker als Schriftsteller? Ûber historiographische Herausforderungen Literatur und Geschichtswissenschaft, der Schriftsteller als Historiker: Aleksandr SolzÏenicyns ¹Ivan DenisovicϪ Von Helmut Altrichter, Erlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Geschichtsschreibung als Herausforderung, Plinius, epist. 5, 8: Suades, ut historiam scribam Von Severin Koster, Erlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die alten Reichskreise als Forschungsthema im Kaiserreich. Richard Festers Bemçhungen um eine Geschichte der Reichskreisverfassung (1907 / 08) Von Hans-Christof Kraus, Passau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kaisermythos und Reichsromantik. Bemerkungen zur Rezeption des Alten Reiches im 19. Jahrhundert Von Frank-Lothar Kroll, Chemnitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Noch einmal: Loudons Nachruhm Von Johannes Kunisch, Kæln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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¹Das Echo Henzischer Tæneª. Literarische Spuren des Berner Burgerlårms von 1749 Von Dirk Niefanger, Erlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Thomas Manns Blick auf das Ende Alteuropas im ¹Groûen Kriegª Von Gçnther Rçther, Sankt Augustin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Im Schatten des Tçrkenlouis. Ferdinand Maximilian von Baden (1625 ± 1669) im Spiegel seiner politischen Schriften Von Martin Stingl, Karlsruhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
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Inhaltsverzeichnis II. Kultur und Politik, politische Kultur ± zum kultur- und mentalitåtsgeschichtlichen Profil Alteuropas
Topoi des vormodernen Neutralitåtsdiskurses Von Axel Gotthard, Erlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Humanismus, Reise und Politik. Der Nçrnberger Arzt Hieronymus Mçnzer bei europåischen Herrschern am Ende des 15. Jahrhunderts Von Klaus Herbers, Erlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 ¹Imperiale piß che ducaleª? Der Mçnchener Hof um 1650 Von Maximilian Lanzinner, Bonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Im Anblick des Fremden. Ûber Fremdheit, Gewalt und Identitåt in der Frçhen Neuzeit Von Karl H. Metz, Erlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Der Dichter als Stærenfried: Angelus Silesius und die Debatte um seine ¹TçrckenSchrifftª von 1663 Von Thomas Nicklas, Reims . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Gab es Religionskriege in Europa? Landfrieden und Vælkerrecht statt Glaubenskampf und ¹Strafgericht Gottesª Von Anton Schindling, Tçbingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 David Roentgen ± Englischer Cabinetmacher. Luxus, Leistung, und die Liebe zu Gott Von Michael Stçrmer, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 ¹Mit dem Latein am Ende seinª. Die kulturhistorischen und philologischen Grundlagen einer sprichwærtlichen Redensart Von Alfred Wendehorst, Erlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 III. Das Reich und seine Territorien Franken im Alten Reich ± zeitliche Ferne im Nahbereich Studien zur politischen Kultur des zælibatåren Staats. Das Herzogtum Franken Von Stefan Benz, Bayreuth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 ¹Der Arme Kænigª. Dom Miguel I. (Kænig Michael I.) von Portugal im Exil Von Helmut Castritius, Braunschweig / Darmstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 ¹Je lenger, je unfleysigerª. Sebald X. Tucher und die Niederlassungen der Tucherschen Handelsgesellschaft in Genf und Lyon in der ersten Hålfte des 16. Jahrhunderts Von Michael Diefenbacher, Nçrnberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
Inhaltsverzeichnis
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Zu einer vergessenen Wurzel deutscher fæderativer Staatlichkeit ± die konfessionelle Pluralitåt des Reiches nach 1648 Von Gabriele Haug-Moritz, Graz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Eine Idee von Versailles in Franken. Macht- und Kunstpolitik beim Aufstieg Erlangens zur zweiten Residenz- und sechsten Landeshauptstadt des Markgraftums Brandenburg-Bayreuth Von Andreas Jakob, Erlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Reunionspolitische Konzeptionen im Kontext der reichspolitischen Entwicklung 1539 / 1540. Zur Vorgeschichte des Hagenauer Konventes vom Sommer 1540 Von Albrecht P. Luttenberger, Regensburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Kronsteuer und Weihnachtspfennig. Wiederherstellung kaiserlicher Rechte oder imperiale Herrschaftsverdichtung im Reich unter Karl VI. (1711 ± 1740) Von Gerhard Rechter, Nçrnberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Der diplomatische Verkehr zwischen Bayern und Frankreich im mittleren 18. Jahrhundert Von Alois Schmid, Mçnchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Vernetzte Staatlichkeit. Der Reichs-Staat und die Kurfçrsten-Kænige Von Georg Schmidt, Jena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Die Reichsbelehnung in der Neuzeit. Das Fçrstbistum Bamberg Von Dieter J. Weiû, Bayreuth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 Anhang Schriftenverzeichnis Helmut Neuhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
„... und dann und wann ein weißer Elefant ...“ Helmut Neuhaus zum 65. Geburtstag Mit einem Dach und seinem Schatten dreht sich eine kleine Weile der Bestand von bunten Pferden, alle aus dem Land, das lange zögert, eh es untergeht. Zwar manche sind an Wagen angespannt, doch alle haben Mut in ihren Mienen; ein böser roter Löwe geht mit ihnen und dann und wann ein weißer Elefant (Das Karussell – Jardin du Luxembourg, 1. Strophe, 1906 von Rainer Maria Rilke)
Der da viereinhalb Jahrzehnte später, von dieser Strophe seines Lieblingsgedichts Rilkes inspiriert, gern mit dem großen Dickhäuter auf der Krawatte seinen Lehrstuhlaufgaben in Erlangen nachgehen wird, wurde am 29. August 1944 im westfälischen Iserlohn am Rande des Sauerlandes im heutigen Bundesland Nordrhein-Westfalen geboren. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten zusammen mit seinem Zwillingsbruder von der Mutter und den Großeltern erzogen und geprägt – der Vater kehrte schwer verwundet aus dem Krieg zurück und starb bereits 1947 –, studierte Helmut Neuhaus Geschichte, Germanistik und Philosophie sowie Rechts-und Staatswissenschaften an den Universitäten Tübingen und Marburg. Seine Doktorarbeit analysiert die Tätigkeit des Supplikationsausschusses am Reichstag, die Habilitationsschrift beleuchtet die Reichskriegsverfassung und das Wirken der Reichsgeneralität. Bis 1988 als Wissenschaftlicher Angestellter und Wissenschaftlicher Assistent an den Universitäten Marburg und Köln beschäftigt, wurde Helmut Neuhaus mit einer ganzen Reihe zusätzlicher Aufgaben betraut: Lehraufträge führten ihn in den Jahren 1974 bis 1978 ans Millersville State College des US-Bundesstaates Pennsylvania, 1977 an die Gesamthochschule Kassel und 1991/92 an die Universität Jena. 1987 bis 1988 vertrat er die Professur für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Katholischen Universität Eichstätt.
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„... und dann und wann ein weißer Elefant ...“
Seit 1989 wirkte Helmut Neuhaus als Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Geschichte I an der Friedrich-Alexander-Universität; Rufe nach Bonn und nach Leipzig lehnte er ab. Er machte die mittelfränkische Universitätsstadt Erlangen zu seinem und seiner Familie Lebensmittelpunkt und zum Zentrum seiner vielfältigen nationalen und internationalen Interessen und Kontakte. Sie haben sich auch in vielen ehrenvollen Positionen niedergeschlagen. Bereits seit 1987 Mitglied der Vereinigung für Verfassungsgeschichte und seit 1992 Mitglied der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e. V. in Bonn, wurde Helmut Neuhaus 1998 ordentliches Mitglied der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München, 2005 Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft „Frühe Neuzeit“ im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, 2006 Sekretär der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und im selben Jahr 1. Vorsitzender der Vereinigung für Verfassungsgeschichte. Von 1992 bis 1994 war er Vorsitzender der Gründungskommission „Geschichte“ an der Universität Rostock. Nicht zuletzt aber engagierte sich Helmut Neuhaus vielfältig in Erlangen, so war er Vertrauensdozent der Konrad-Adenauer-Stiftung an der Friedrich-Alexander-Universität. Derzeit gehört er als einer der Vertreter der Professoren dem Fakultätsrat der neuen Philosophischen Fakultät an. Als Dekan der Philosophischen Fakultät I in den Jahren 1993 bis 1995 führte er nach 25jähriger Unterbrechung wieder die öffentliche Promotionsfeier ein. Seit 1973 veröffentlichte Helmut Neuhaus acht Bücher, mehr als 70 Aufsätze, rund drei Dutzend Artikel und Beiträge, er war bei nahezu 30 Sammelbänden, bei Reihenwerken und Zeitschriften als Herausgeber tätig; daneben schrieb er für zahlreiche Fachzeitschriften weit über hundert Buchbesprechungen. Außerdem fungierte sein Lehrstuhl als Sitz der Redaktion der Zeitschrift „Archiv für Kulturgeschichte“ und der Schriftleitung der Publikationsreihe „Historische Studien“. 1996 begründete Helmut Neuhaus zusammen mit Helmut Altrichter die „Erlanger Studien zur Geschichte“. Vorlieben und Forschungsschwerpunkte von Helmut Neuhaus – der sich etwa 1974 philologisch mit dem Thema „der Germanist Dr. phil. Joseph Goebbels. Bemerkungen zur Sprache des Joseph Goebbels in seiner Dissertation aus dem Jahre 1922“ und 1979 rechtsgeschichtlich mit den „Konstitutionen des Corps Teutonia zu Marburg“ beschäftigte, in dem Aufsatz „Zwischen Krieg und Frieden. Joachim Sandrarts Nürnberger Friedensmahl-Gemälde von 1649/50“ 1995 Kunstgeschichte und Geschichte verband und 1996 mit der Studie „Der Historiker und der Zufall“ oder 2000 im Beitrag „Mit Gadendam fing alles an. Erlanger Geschichtswissenschaft von 1743 bis 1872“ Wissenschaftsgeschichte betrieb – lassen sich kurz und knapp gar nicht zusammenfassen, weil die persönlichen Interessen des Jubilars innerhalb der „Neuen Geschichte“ kaum Schranken kennen. Besonders intensiv pflegt Helmut Neuhaus die
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Rechts-, Verwaltungs- und Verfassungsgeschichte der Frühen Neuzeit, die Geschichte des Heiligen Römischen Reiches, aber er beschäftigt sich beispielsweise auch mit Erlanger Stadt- und fränkischer Regional- und Lokalgeschichte, mit kulturgeschichtlichen Themen sowie biographischen Studien. Ein Langzeitprojekt seines Lehrstuhls zum Thema „Verfassungs- und Sozialgeschichte sowie politische Geschichte des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches (1495-1806)“ gilt im Rahmen der renommierten „Deutschen Reichstagsakten“ dem Regensburger Reichstag des Jahres 1576; ein anderes Vorhaben zielt auf die Biographie Karl Hegels, des ersten modernen Historikers in Erlangen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dem Helmut Neuhaus 2001 in Zusammenarbeit mit Studierenden eine Ausstellung in der Erlanger Universitätsbibliothek widmete. Der Wissenschaftler und Hochschullehrer beschränkte sich nicht auf Quellenforschung und Einzelstudien, sondern entwarf in Werken wie das „Zeitalter des Absolutismus. 1648-1789“ aus dem Jahr 1997 oder (zusammen mit Klaus Herbers) „Das Heilige Römische Reich. Schauplatz einer tausendjährigen Geschichte (843-1806)“ aus dem Jahr 2005 das Bild ganzer Epochen. Fast zu seiner Hausveranstaltung entwickelten sich die seit 1996 von Helmut Neuhaus geleiteten „Atzelsberger Gespräche“ der Dr. Alfred Vinzl-Stiftung in dem damals noch im Eigentum der Stadt Erlangen befindlichen Schloß Atzelsberg, in denen er zunehmend auch zeitaktuelle und gesellschaftskritische Themen wie „Sicherheit in der Gesellschaft heute“, „Migration und Integration“, „Ethische Grenzen einer globalisierten Wirtschaft“, „Der Mensch in der globalisierten Welt“, „Fundamentalismus“ oder „Die Rolle des Unternehmers in Staat und Gesellschaft“ aufgriff. Seine Liebe zum Detail beweist jedes Jahr die sorgfältige Auswahl eines neuen Bildes von Schloß Atzelsberg für das Frontispiz der gleichnamigen Veröffentlichung im Rahmen der „Erlanger Forschungen“. Diese Aktivitäten beleuchten einen weiteren zentralen Aspekt im Schaffen von Helmut Neuhaus: die Förderung und Vermittlung von Wissenschaft im engeren und der Kultur der Geschichte im weiteren Sinne an eine breitere Öffentlichkeit. Auch mit den Erlanger Universitätstagen in Amberg und Ansbach trug er seit 2005 mit dazu bei, den Bürgern universitätsferner Orte universitäre Wissenschaft auf höchstem Niveau nahezubringen. Eine Selbstverständlichkeit ist für ihn die Mitgliedschaft nicht nur in den großen historischen Vereinen, sondern auch im Erlanger Heimat- und Geschichtsverein, für dessen Zeitschriftenreihe er auch Beiträge lieferte. Seine breitgefächerten wissenschaftlichen Interessen spiegeln sich in den Themen seiner Lehrveranstaltungen wieder. Im Wintersemester 2008/09 waren das etwa eine Vorlesung über „Deutsche und europäische Geschichte 17401806“, ein Proseminar über „Das Zeitalter Friedrichs des Großen und Maria Theresias“, eine Übung über „Quelleneditionen zur Geschichte der Frühen
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„... und dann und wann ein weißer Elefant ...“
Neuzeit“, ein Hauptseminar über „Die Kurfürsten in der Frühen Neuzeit“ und ein Oberseminar über „Neue Forschungen zur Geschichte der Frühen Neuzeit“. Ein besonderes Anliegen war ihm stets auch die Mitgestaltung des traditionsreichen „Erlanger Kontakt-Studiums“, der alljährlich vom Erlanger Institut (jetzt „Department“) für Geschichte durchgeführte Fortbildungstagung für Geschichtslehrer an Gymnasien. Der zunehmenden Verschulung und Reglementierung der Universitäten skeptisch gegenüberstehend, entsprach er dennoch den Vorgaben, indem er die Themen für Magister- und Staatsexamensarbeiten auf die in den Prüfungsordnungen vorgesehene Arbeitszeit zuschnitt, selbst wenn dadurch Quellenforschungen in Archiven nicht mehr möglich waren; weil indes für Helmut Neuhaus neben der Rezeption der laufenden Forschung, der er immer wieder Oberseminare widmete, die Quellen als wichtigste Grundlage jeder wissenschaftlichen Arbeit besondere Bedeutung besitzen, führte er seine Studenten bei passender Gelegenheit etwa in das Erlanger Stadtarchiv oder in das Staatsarchiv Nürnberg. Im Sommersemester 2007 und im Wintersemester 2007/08 organisierte er eine Ringvorlesung zum Thema „Grundlagenforschung durch Quelleneditionen – eine unverzichtbare Domäne der Geisteswissenschaften“. In diesem Zusammenhang regte er an, auch den wissenschaftlichen staatlichen, städtischen und kirchlichen Archiven im Großraum Erlangen/Nürnberg ein Forum im Department für Geschichte zu geben und sie im Gegenzug durch die Übernahme von Übungen zu Paläographie oder anderen hilfswissenschaftlichen Themen mit in die Lehrtätigkeit einzubeziehen. Alle diese Beispiele zeigen, wie gern Helmut Neuhaus mit Kolleginnen und Kollegen auch außerhalb des engeren Fachgebiets zusammenarbeitet. Wenn nun Schüler, Kollegen und Freunde anläßlich des 65. Geburtstags eine Festschrift vorlegen, folgen sie damit nicht nur einem guten alten akademischen Brauch, der ein „Dankeschön“ an den Adressaten für viele Anregungen, mannigfache Hilfe und fruchtbare Zusammenarbeit zum Ausdruck bringt. Der Dank gilt auch dem Menschen, der untrennbar mit dem Hochschullehrer verbunden ist. Als solcher widmete er sich seinem Beruf mit ganzer Hingabe, wie bereits rein äußerlich die Anzahl seiner Publikationen und sein Engagement in Gremien und Vereinen beweist, wozu noch die engagierte Lehre, die Betreuung zahlreicher Staatsexamensarbeiten, Magisterarbeiten und Dissertationen und nicht zuletzt zwei Habilitationen kommen und all die anderen Verwaltungsund Leitungsaufgaben, die ein Lehrstuhlinhaber heutzutage wahrzunehmen hat. Doch auch bei Helmut Neuhaus spiegeln Bibliographie und Vorlesungsverzeichnis seine Tätigkeit nur unvollkommen. In einer Zeit, in der auch in der Wissenschaft viele grundlegende Werte wie Ehrlichkeit, Verläßlichkeit, Geradlinigkeit und Zivilcourage ihre Bedeutung zu verlieren scheinen, hat er nie ein Hehl aus seinen eher konservativ-liberalen Vorstellungen gemacht, von denen abzurücken er nur in Ausnahmefällen bereit war. Nicht zuletzt zeigte sich dies in seiner Abneigung gegenüber der „neuen Rechtschreibung“. Konstanz und
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Zuverlässigkeit sind somit wichtige Charaktermerkmale seiner Arbeit und deswegen auch Ausdruck einer bestimmten Haltung zur wissenschaftlichen „Wahrheit“, wie er sie versteht. Als in seiner Marburger Studentenverbindung eine klare Auseinandersetzung mit deren Geschichte im Dritten Reich unerwünscht war oder als es in den 1990er Jahren in Erlangen um die Konsequenzen im Fall „Schwerte/Schneider“ ging, bezog er nicht nur als Vorsitzender des Promotionsausschusses der Philosophischen Fakultäten eine klare Position, ungeachtet der Schwierigkeiten und teilweise massiven Konsequenzen, die diese Haltung für ihn persönlich nach sich zog. Zu seinem Verantwortungsbewußtsein für die ihm auf Zeit anvertrauten Studenten und seinem Verständnis von Wahrhaftigkeit gehörte auch, niemandem Illusionen über seine wissenschaftliche Befähigung zu machen. Auch daß Helmut Neuhaus nicht jede Einladung und jede Anfrage nach einem Vortrag oder einem Beitrag wahrnahm, trug dazu bei, ihm den Ruf zu verschaffen, strengere Maßstäbe zu haben und besonders anspruchsvoll zu sein und die Hauptströme der Studenten anders zu leiten. An Helmut Neuhaus geht man deswegen nicht so ohne weiteres vorbei. Wenn sich das Wesen des Menschen in seinem Äußeren spiegelt, ist er von starker physischer Präsenz und schon von daher eine Respektsperson. Seine gemessene, anspruchsvolle akademische Vortragsweise mit einem vollen Bariton und stets sorgfältig ausformulierten Sätzen wird selbst außerhalb des Hörsaals, etwa bei Vorträgen vor historisch interessierten Laien, beibehalten. Um so überraschender dann immer wieder seine Offenheit im menschlichen Umgang – jeder wird freundlich aufgenommen und erhält einen guten Ratschlag, der sich mit einer Bitte oder Frage an ihn wendet. Auf dem Photo, das die Homepage seines Lehrstuhls im Internet zeigt, präsentiert sich Helmut Neuhaus dem Betrachter als fröhlicher Mensch. Zwar können die wachen Augen sehr streng durch die Brille blicken, aber sie sind der wichtigste Schlüssel zu seinem tiefsitzenden Humor mit einem gehörigen Schuß Selbstironie. Sie zeigt sich bei näherem Hinsehen auch in seinen von seiner Frau ausgesuchten Krawatten mit dem unvermeidlichen Elefantenmotiv. Das Tier mit der dicken Haut, dem Rüssel, den großen Ohren und dem langen Gedächtnis, von dessen historischer Bedeutung der schon 1462 gestiftete Elefantenorden, der älteste und heute höchste Orden des Königreichs Dänemark zeugt, ist immer noch vielfältiger Sympathieträger, Symbol der Weisheit und Stärke. Die Helmut Neuhaus eigene Phantasie spiegelt sich auch in seinem Lieblingsgedicht von Rainer Maria Rilke, Das Karussell – Jardin du Luxembourg – vielleicht einer Anspielung auf die glückliche Kindheit und die Begrenztheit der Lebensspanne – , auf dem die verschiedensten Tiere mitfahren: „... und dann und wann ein weißer Elefant ....“.
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„... und dann und wann ein weißer Elefant ...“
Die von Dorothea Neuhaus gestaltete Elefantenfahne
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Die öffentlich zugängliche Welt von Helmut Neuhaus ist unzweifelhaft die eines typischen konservativ-liberalen Gelehrten: wissenschaftliche Gremien, Hörsaal, Archiv, Bibliothek und überhaupt Bücher in großen Mengen. Und dennoch entspricht er niemals der Vorstellung eines trockenen Buch- oder Stubengelehrten. Neben der Forschung sind ihm vor allem die Vermittlung des Wissens, der Diskurs, das Gespräch von großer Bedeutung. Seiner geselligen Seite entsprechend veranstaltete er gerne Exkursionen und lud seine Mitarbeiter und Studenten sowie immer auch die Stipendiaten der Konrad-AdenauerStiftung einmal im Jahr ins nahe gelegene Dormitz ein. Auch Helmut Neuhaus besitzt die bei Wissenschaftlern von Rang verbreitete Selbstverständlichkeit und die Resistenz gegenüber Fraktionen, Lob und Auszeichnungen, zumal sich deren Fragwürdigkeit gerade in dem streitbaren und eigenen Gesetzen gehorchenden Mikrokosmos der Universität immer wieder aufs neue unter Beweis stellt. Um so mehr freuen sich Autoren und Herausgeber, ihm diesen Band widmen zu können. Nach dem Dank, den die Herausgeber dem Jubilar für mannigfache Unterstützung in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten schulden, gilt dieser den Autoren der hier vorgelegten Festschrift, die trotz teilweise großer anderweitiger Beanspruchung ihre Beiträge fristgerecht ablieferten und so einen bunten Strauß vielfältiger Themen aus dem wissenschaftlichen Spektrum des Geehrten ermöglichten; seiner Frau Dorothea Neuhaus für ihre Geduld und freundliche Förderung des Projektes sowie Maria Galas und René Hurtienne für ihre Mithilfe; ferner Dr. Florian E. Simon aus dem renommierten Verlagshaus Duncker & Humblot in Berlin, das den Band großzügig in seine „Historischen Forschungen“ aufnahm, und nicht zuletzt Heike Frank für die hervorragende Zusammenarbeit und Unterstützung bei der Drucklegung des Manuskripts. Autoren und Herausgeber wünschen ihrem geschätzten Freund, Lehrer und Kollegen einen erfüllten Ruhestand, weiterhin produktives Schaffen – und viele, viele bunte Elefanten. Erlangen/Reims, Juli 2009 Axel Gotthard, Andreas Jakob, Thomas Nicklas
I. Der Schriftsteller als Historiker – der Historiker als Schriftsteller? Über historiographische Herausforderungen
Literatur und Geschichtswissenschaft, der Schriftsteller als Historiker: Aleksandr Solženicyns „Ivan Denisoviþ“
Von Helmut Altrichter, Erlangen „Šuchov schlief ein, rundum zufrieden. Viel Glück hatte er heute gehabt. Er war nicht im Karzer gelandet. Seine Brigade hatte man nicht zur Baustelle ‚Socgorodok’ getrieben, zu Mittag hatte er die Kascha weggeputzt, der Brigadeführer hatte eine ordentliche Vergütung rausgeschlagen, die Mauer hatte Šuchov toll hingekriegt, beim Filzen war er mit seinem Stückchen Säge nicht aufgeflogen, bei Cesar hatte er sich was hinzuverdient und den Tabak gekauft. Er war nicht krank geworden, hatte durchgehalten. Der Tag verging, durch nichts getrübt, fast glücklich. Von solchen Tagen, zwischen Morgenappell und Lichtlöschen, gab es in seiner Haftzeit 3.653. Wegen der Schaltjahre – drei zusätzliche Tage.“1
So endet – fast versöhnlich – der kleine Roman „Ein Tag im Leben des Ivan Denisoviþ“ von Aleksandr Solženicyn. Viel mehr als das, woran sich Ivan Denisoviþ Šuchov erinnert, nachdem er sich in der Baracke im Straflager auf seine Pritsche gelegt, sich mit seinem Mantel zugedeckt und die dünne, schmutzige Schlafdecke über das Gesicht gezogen hatte, viel mehr als das, was eben zitiert wurde, geschieht in diesem Roman wirklich nicht. Warum war dann sein Erscheinen in Heft 11 / Jahrgang 1962 der literarischen Zeitschrift „Novyj mir“ so problematisch, eine Sensation? Was enthüllte er über die sowjetische Geschichte, was man so nicht wußte, worüber man – in der Öffentlichkeit jedenfalls – nicht sprach? Inwieweit wurde hier der Literat zum Historiker? Betrachten wir die Fragen nacheinander.2 ___________ 1 Alexander Solschenizyn, Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch. Nobelpreis 1970, München 1974, S. 143 f. 2 Den Anstoß zur Beschäftigung mit dem Gegenstand gab das „Erlanger KontaktStudium“, die alljährlich vom Erlanger Institut für Geschichte durchgeführte Fortbildungstagung für Geschichtslehrer an Gymnasien. Daran mitzuwirken, sie mitzugestalten, war Helmut Neuhaus stets ein besonderes Anliegen. Das „Kontakt-Studium“ widmete sich 2007 dem Thema „Historie und Literatur. Geschichte, Geschichtsbilder, Literarische Quellen“. Für Hinweise zur Literatur und Ratschläge bei der Ausarbeitung danke ich Frau Lilia Antipow, M. A., herzlich.
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Helmut Altrichter
I. Eine Sensation war das Erscheinen der längeren Erzählung, des kleinen Romans in der Tat. Sein Verfasser, Aleksandr Isaeviþ Solženicyn, war ein – in der literarischen Welt – gänzlich Unbekannter.3 1918 geboren, mittlerweile 44 Jahre alt, war „Ivan Denisoviþ“ sein Erstling. Sein Autor kam aus der Provinz, war Lehrer für Mathematik und Physik im Gebiet von Rjazan’. Mathematik und Physik hatte er auch studiert, 1936-1941 an der Universität Rostov (am Don), wohin er, geboren in Kislovodsk, am Nordrand des Kaukasus, mit seiner Mutter 1924 (nach dem frühen Tod des Vaters) gekommen, wo er aufgewachsen und zur Schule gegangen war. Seit 1939 schrieb er sich gleichzeitig – als Fernstudent – am Moskauer Institut für Philosophie, Literatur und Geschichte ein, Ausdruck seines frühen Interesses an jenen Gebieten, die später sein Leben bestimmen sollten. Doch mit der Neigung zu Literatur und Geschichte allein hätte sich eine Erzählung wie die vom „Tag im Leben des Ivan Denisoviþ“ nicht schreiben lassen. Hinzu kam eine spezielle Erfahrung: 1941 nach Examen und Kriegsausbruch eingezogen, zum Hauptmann befördert und zweimal im Fronteinsatz ausgezeichnet, wurde Solženicyn Anfang Februar 1945 verhaftet; kritische Äußerungen über Stalin in Briefen an einen Freund wurden ihm zum Verhängnis. Die folgenden acht Jahre verbrachte er in diversen Straf- und Sonderlagern. Nach Stalins Tod zwar offiziell entlassen, aber sogleich zur „ewigen Verbannung“ nach Mittelasien (ins kasachische Dorf Kok-Terek) geschickt, wurde Solženicyn erst 1957 wirklich „rehabilitiert“. Es waren bittere, den Menschen wie den Autor tief prägende Jahre, „Ivan Denisoviþ“ auch ein Versuch ihrer künstlerischen Bewältigung. Daß es schwer, wahrscheinlich unmöglich sein würde, den Text zu veröffentlichen, wußte auch der Autor.4 Er hatte bereits eine ganze Reihe weiterer Manuskripte für die Schublade verfaßt, auch der „Ivan Denisoviþ“ lag dort schon mehr als zwei Jahre. Durch Vermittlung Lev Kopelevs gelangte das Manuskript an die Redaktion des „Novyj mir“. Kopelev hatte ein ähnliches Schicksal: sechs Jahre älter, überzeugter Jungkommunist, Dozent am Moskauer Institut für Philosophie, Literatur und Geschichte und Kriegsteilnehmer, war ___________ 3 Zu Solženicyns Leben und Werk siehe (in Auswahl): Rostislav Pletnev, A. I. Solženicyn, 2. Aufl. Paris 1973; Marija Šneerson, Aleksandr Solženicyn. Oþerki tvorþestva, Frankfurt am Main 1984; Michail Geller, Aleksandr Solženicyn. K 70-letiju so dnja roždenija, London 1989; Georges Nivat, Solženicyn, Moskau 1992; Donald M. Thomas, Solschenizyn. Die Biographie, Berlin 1998; Dmitrij Aziatcev, Aleksandr Isaeviþ Solženicyn. Materialy k biobibliografii, Sankt-Peterburg 2007. 4 Zur Publikationsgeschichte des Romans: Alexander Solschenizyn, Die Eiche und das Kalb. Skizzen aus dem literarischen Leben, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 25-53; sowie Natalija Bianki, K. Simonov i A. Tvardovskij v „Novom mire“. Vospominanija, Moskau 1999, S. 147-154. Als „Ivan Denisoviþ“ erschien, war N. Bianki stellvertretende verantwortliche Redakteurin in „Novyj mir“.
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Kopelev Ende des Krieges ebenfalls verhaftet und zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt worden; beide hatten sich in einem Sonderlager kennengelernt. Im Vorzimmer der Redaktion lag das Manuskript dann noch einmal, bevor eine Mitarbeiterin beim Aufräumen des Schreibtisches darauf stieß, es mit nach Hause nahm und las. Sie besprach die Brisanz des Textes mit einer Kollegin. Man kam überein, das Manuskript auf Kosten der Redaktion erst einmal abschreiben zu lassen, um mit seinem kümmerlichen Aussehen – eng und beidseitig beschrieben, ohne Rand und Zeilenabstand, zusammengeflickt und zusammengeklebt, wie es war – niemandem die Ablehnung von vorneherein leicht zu machen. Und man war sich auch einig, daß es nur dann eine Chance hatte, den „Sumpf von Vorsicht und Feigheit“ zu überwinden, wenn es der Chefredakteur der Zeitschrift, Aleksandr Trifonoviþ Tvardovskij, als erster las. Auch das ließ sich arrangieren, indem man den Text zunächst den anderen Redaktionsmitgliedern als „Lagerliteratur“ zur Lektüre anbot (und auf die zu erwartende Ablehnung stieß); immerhin konnte nun niemand sagen, er sei übergangen worden. Tvardovskijs Interesse weckte man angeblich mit der Bemerkung, es sei eine Erzählung über „Lager aus der Sicht eines Bauern, ein sehr volksnahes Stück“5. Ob sich die Geschichte wirklich so abspielte (wie Solženicyn sie später berichtete) oder nur gut erfunden war, sei dahingestellt. Sie spielt auf den Umstand an, daß Tvardovskij selbst bäuerlicher Herkunft, 1910 im Dorf Zagor’e des Gouvernements Smolensk geboren worden war; sein Vater, Bauer und Dorfschmied, kam als „kulak“ während der Kollektivierung um. Auch der Sohn hatte die Launen des Regimes am eigenen Leib erfahren. Obwohl erfolgreicher Schriftsteller und Journalist, Leninpreisträger und 1950 mit der Redaktion des „Novyj mir“ betraut, verlor er diesen Posten (ironischerweise wegen zu liberaler Haltung) nach Stalins Tod, um erst nach dem XX. Parteitag (genau 1958) erneut mit der Chefredaktion von „Novyj mir“ betraut zu werden. Tvardovskij gefiel der Text, ja er war begeistert. Ein wichtiger Etappensieg, schließlich war Tvardovskij Deputierter des Obersten Sowjet und Kandidat des Zentralkomitees. Doch dies hieß noch nicht, daß das Manuskript damit bereits zur Veröffentlichung angenommen gewesen wäre. Erst mußten auch die vorsichtigen Bedenkenträger in der Redaktion überzeugt werden, die das Manuskript für unpublizierbar hielten und skeptisch blieben. Als man sich mit dem unbekannten Autor, der von Kopelev begleitet wurde, gemeinsam in der Redaktion das erste Mal traf, alle voll des Lobes waren und der Erfolg entsprechend begossen wurde, machte Tvardovskij klar, daß er nicht versprechen konnte, ob und wann das Werk erscheinen werde, er versprach nur, sich dafür einzusetzen. Als erstes rang man dem Autor ab, den Titel der Erzählung zu än___________ 5
Solschenizyn, Eiche (wie Anm. 4), S. 27.
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dern: Sie hieß bisher Schtscha 854 (ɓ 854), jene Nummer, die der Held im Lager trug; daraus wurde „Ein Tag im Leben des Ivan Denisoviþ“ (wohl einem Formulierungsvorschlag Lev Kopelevs folgend). Bei zwei folgenden Aufenthalten des Autors in Moskau wurden ein Dutzend weiterer Stellen in der Erzählung „entschärft“, ohne damit die Mitherausgeber zu überzeugen, sie wollten zusätzliche gravierende Veränderungen. Tvardovskij suchte Zuspruch außerhalb der Redaktion, gab das Manuskript an einige Schriftstellerkollegen weiter und überreichte es schließlich (im Juli 1962 mit einem Strauß positiver Äußerungen) Vladimir Semënoviþ Lebedev, dem Kulturexperten Chrušþëvs. Der hatte zwar auch noch einige, eher kleinere Änderungswünsche, aber entscheidend war, daß er den Text im Spätsommer – auf der Datscha in Pizunda, an der abchasischen Schwarzmeerküste – Nikita Chrušþëv vorlas. Chrušþëv war vom Text angetan, wollte in jedem Falle aber noch das Politbüro (das damals Parteipräsidium hieß) damit befassen. So wurden nach der Rückkehr aus dem Urlaub rasch zwei Dutzend Exemplare hergestellt, das Politbüro schloß sich der Meinung seines Ersten Sekretärs an, und Chrušþëv konnte Ende Oktober Tvardovskij dieses erfreuliche Ergebnis mitteilen. Da man den Satz (durch die Herstellung der Politbüroexemplare) bereits hatte, konnte der Text bereits wenige Wochen später ausgedruckt werden; zwar mußte er auch noch das Plazet der Zensur (Glavlit) erhalten (und man erlaubte sich den Spaß, ihn der Behörde zunächst kommentarlos zuzuschicken, und freute sich über deren konsternierten Rückruf), aber nach der Zustimmung der Parteispitze war dies kein ernsthaftes Problem mehr.6
II. Vielleicht wird man fragen, warum es überhaupt „Probleme“ gab, warum der Autor sich wenig Hoffnung auf eine Veröffentlichung gemacht hatte; auch in der Redaktion die Skepsis überwog; Chrušþëv bemüht werden mußte und er seinerseits zur Absicherung noch das Politbüro damit befaßte. Hatte nicht Chrušþëv bereits Mitte der 1950er Jahre eine Wende in der kulturpolitischen Großwetterlage eingeleitet, die man – nach einem Roman von Ilja Ehrenburg – als „Tauwetter“ bezeichnet hat? Hatte er nicht in seiner Rede auf dem XX. Parteitag der KPdSU Ende Februar 1956 die Verbrechen Stalins, Stalins Selbstherrlichkeit, den Kult um seine Persönlichkeit angeprangert, die „besonders nach dem XVII. Parteitag zum Vorschein [gekommen seien], der 1934 stattfand“7? Hatte er nicht gegenüber den staunenden Parteitagsdelegierten einge___________ 6
Bianki (wie Anm. 4), S. 149. Hierfür wie für die folgenden Zitate vgl. Rede des Ersten Sekretärs des CK der KPSS, N. S. Chrušþev auf dem XX. Parteitag der KPSS. 25. Februar 1956, in: 100(0) 7
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standen, daß es in den Jahren 1935 bis 1937 „zur Praxis der massenweisen Repressalien von Staats wegen [gekommen war], zuerst gegenüber den Gegnern des Leninismus: gegenüber den Trotzkisten, Zinov’evleuten und Bucharinleuten, die schon seit langem politisch von der Partei zerschlagen waren, später auch gegenüber vielen ehrlichen Kommunisten, gegenüber denjenigen Parteikadern, die die schwere Last des Bürgerkrieges sowie der ersten und schwierigsten Jahre der Industrialisierung und Kollektivierung auf ihren Schultern getragen hatten, die aktiv gegen die Trotzkisten und Rechtsabweichler um eine leninistische Parteilinie gekämpft hatten“? Auch daß „von den 139 Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees, die auf dem XVII. Parteitag gewählt worden waren, 98 Personen, d. h. 70 Prozent, (hauptsächlich in den Jahren 1937/1938) verhaftet und erschossen wurden“? Daß „von den 1.966 [Parteitags-] Delegierten mit beschließender und beratender Stimme auf der Grundlage von Beschuldigungen wegen konterrevolutionärer Verbrechen weit mehr als die Hälfte – 1.108 Personen – festgenommen“ wurden? Schon dieses Faktum allein bezeuge, „wie absurd, abwegig und wider allen gesunden Verstand der Vorwurf konterrevolutionärer Verbrechen war, der – wie sich jetzt heraus[ge]stellt [habe] – gegen die Mehrheit der Teilnehmer des XVII. Parteitages vorgebracht worden war“. Und hatte Chrušþëv nicht eben erst (nach dem XXII. Parteitag, im Oktober 1961) den einbalsamierten Stalin aus dem Mausoleum auf dem Roten Platz entfernen und an der Kremlmauer beisetzen lassen? Die Trendwende, die Chrušþëv eingeleitet hat, soll in ihrer Bedeutung gewiß nicht unterschätzt werden. Aber was seine „Entstalinisierung“ betrifft, muß zunächst zweierlei festgehalten werden. 1. Seine Rede über den „Personenkult und seine Folgen“ war eine Rede vor Parteifunktionären; erst im Herbst 1989 wurde sie in der Sowjetunion im Wortlaut – gleichsam „parteiamtlich“ – veröffentlicht, in der Zeitschrift „Izvestija CK KPSS“.8 2. Sie handelte – der Begriff des Stalinismus wurde sorgsam vermieden – vom „Persönlichkeitskult“, der Selbstherrlichkeit Stalins, seinen Repressionen gegenüber den Anhängern Trockijs, Zinov’evs, Bucharins, die längst ausgeschaltet waren; gegenüber den Spitzen der Partei, gegenüber dem ZK und den Parteitagsdelegierten; gegenüber vielen „ehrlichen Kommunisten“ der Revolution und des Bürgerkrieges; gegenüber den Kadern von Staat und Armee, vor allem verübt in den Jahren 1936, 1937, 1938. Doch Stalin, Trockij, Zionv’ev, Bucharin, Kirov und die übrige Parteiprominenz kamen wie die Kader aus Staat und Armee im Roman gar nicht vor und ___________ Schlüsseldokumente der russischen und sowjetischen Geschichte (1917–1991), http://mdzx.bib-bvb.de/cocoon/1000dok/dok_0014_ent.html. 8 O kul’te liþnosti i ego posledstvijach. Doklad Pervogo sekretarja CK KPSS tov. Chrušþeva N.S. XX s”ezdu Kommunistiþeskoj partii Sovetskogo Sojuza, in: Izvestija CK KPSS, 3 (1989), S. 128-170.
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vom oft beschworenen dunklen Jahr 1937 war praktisch nicht die Rede. Daß Stalin „als Hauptschuldiger“ nicht vorkam, war auch dem Chrušþëv-Vertrauten Lebedev aufgefallen, doch selbst wenn der Autor etwas unmotiviert eine kurze Szene einfügte, in dem ein namenlos bleibender Häftling einen ebenfalls namenlos bleibenden Mithäftling anbrüllte: „Glaubst Du vielleicht, daß dieser liebe Vater mit dem Schnurrbart in Moskau ausgerechnet mit euch Mitleid hat? Er kümmert sich selbst um seinen eigenen Bruder einen Dreck, und schon gar nicht um einen solchen Trottel, wie Du einer bist“9, dieser Zusatz änderte nichts am Grundbefund, daß es um Stalin und seinen Kampf gegen die Parteiprominenz in diesem Roman nicht ging. Auch Tvardovskij meinte in seinem Vorwort halb entschuldigend darauf hinweisen zu müssen, daß der Leser „keinen erschöpfenden Bericht über jene historische Periode [vor-]finden [werde], die besonders durch das Jahr 1937 gekennzeichnet ist“ 10, und schlug sogleich die Eselsbrücke: „Wir vernehmen das Echo jener ungesunden Erscheinungen in unserem Leben, die sich an die Periode des Personenkults knüpften, der von der Partei heute entlarvt und abgelehnt wird […] Nur wenn wir ihre Konsequenzen in vollem Ausmaß mit dem nötigen Mut und der nötigen Aufrichtigkeit auf uns nehmen, können wir einen vollkommenen und unwiderruflichen Bruch mit all den Dingen gewährleisten, die einen Schatten über die Vergangenheit geworfen haben. Genau das meinte Nikita Sergeeviþ Chrušþëv, als er in seiner denkwürdigen Schlußrede auf dem XXII. Partei [also im vergangenen Oktober] sagte: ‚Es ist unsere Pflicht, alle Angelegenheiten, die mit dem Mißbrauch der Macht verknüpft sind, unter allen Gesichtspunkten sorgfältig zu untersuchen‘“.11 Ähnliche Überlegungen waren es wohl, die Chrušþëv veranlaßten, die Publikation des Textes als hilfreich für den eigenen Kurs zu befürworten; als Unterstützung im Kampf mit den innerparteilichen Gegnern und Machtrivalen, die Chrušþëv mit dieser belasteten Vergangenheit in Zusammenhang zu bringen versuchte; ihre prominentesten Vertreter hatte er 1957 als „Antiparteigruppe“ aus den Spitzenämtern gedrängt; in seiner Rede vor dem XXII. Parteitag war er darauf zurückgekommen. Anders als 1956 suchte Chrušþëv nun bewußt die Öffentlichkeit; seine Abrechnung mit Vergangenheit und Gegnern wurde in allen Zeitungen nachgedruckt; da konnte eine flankierende Publikation, die die Auswüchse des Machtmißbrauchs eindrücklich schilderte, nur hilfreich sein. Zurück zum Roman: Wenn es in ihm nicht um Stalin, Trockij, Bucharin, Kirov ging, um wen ging es dann? Zunächst einmal um Ivan Denisoviþ Šuchov, den Häftling, der die Nummer Schtscha 854 auf der Mütze, der Brust und über dem linken Knie seiner Häftlingskleidung trug, 40 Jahre alt; angeblich hatte er „Landesverrat“ verübt; als seine Einheit im Februar 1942 von den Deutschen ___________ 9
Solschenizyn, Iwan Denissowitsch (wie Anm. 1), S. 127. Ebda., S. 11. 11 Ebda. 10
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überrannt und gefangengenommen wurde, war er getürmt und hatte sich zu den eigenen Linien durchgeschlagen; doch dort glaubte man ihm nicht und verurteilte ihn als Spion; er hatte zehn Jahre gekriegt, acht bereits hinter sich, aber Zweifel, ob er danach wirklich freikam, schließlich machten sie „mit dem Gesetz, was sie wollten“12. Šuchov hatte eine Frau und zwei Töchter, aber längst aufgehört, „sich über den nächsten Tag oder das kommende Jahr, geschweige denn darüber, wie er seine Familie ernähren sollte, Gedanken zu machen“13; schließlich verlor er mehr und mehr den Kontakt zu ihr, nur zweimal im Jahr durfte er schreiben, immer weniger wußte er, was er ihnen berichten sollte, sie verstanden seine Probleme nicht und er nicht die ihren; mittlerweile standen ihm manche der Mithäftlinge näher als sie. Den Brigadeleiter Andrej Prokov’eviþ Tjurin kannte Šuchov bereits aus dem Lager in Ust’-Ižma; Tjurin, 1908 geboren, war 22, als er 1930 aus der Roten Armee flog, weil sein Vater „kulak“ war; es hatte ihm nichts genutzt, daß er zuvor ein Jahr nicht mehr nach Hause geschrieben hatte, gar nicht wußte, ob seine Familie noch lebte; als er später erfuhr, daß der Oberst und sein Kommissar, die ihn damals aus der Armee geworfen hatten, 1937 erschossen wurden, habe er sich bekreuzigt und gesagt: „Gott, Du bist doch noch im Himmel. Groß ist Deine Langmut, aber unerbittlich Deine Strafe“.14 Nun war Tjurin schon seit 19 Jahren im Lager und ließ sich von niemanden etwas vormachen; auf ihn konnte sich die Brigade verlassen, er hatte es gerade eben verstanden, die Verwaltung mit Speck zu bestechen, so daß seine Arbeitsgruppe nicht vom Werkstättenbau abgezogen und zum Bau einer sozialistischen Siedlung abkommandiert wurde, was geheißen hätte: auf einem leeren und schneeverwehten Feld bei minus 27 Grad Löcher zu graben, Pfähle zu setzten und Stacheldrahtzäune zu ziehen; und obendrein hatte er noch „mehr Prozente“, eine höhere Vergütung herausgeschlagen, die sich in einer größeren Brotration ausdrückte. Der Westukrainer Pavlo war sein Stellvertreter, und Šuchov stellte sich vor, wie er mit dem Gewehr die westukrainischen Wälder durchstreift und Dörfer überfallen hatte. Pavlo war ein junger Kerl, der mit anpacken konnte, mit kräftiger Statur und gesunder Gesichtsfarbe hatte ihm das Lagerleben bisher nicht allzuviel anhaben können. Gegenüber seinen Mithäftlingen höflich und korrekt war er Šuchovs Pritschennachbar in der Baracke. Stets gut drauf, mit einem Witz auf Lager war auch der Lette Kil’gas; er hatte 25 Jahre gekriegt, wofür man sich früher mit zehn begnügt hätte, aber seit 1949 bekamen alle die neue Frist. War Šuchov von Hause aus Zimmermann, so war Kil’gas Maurer. Auf Kil’gas war Verlaß, mit ihm konnte man Pferde stehlen (selbst wenn es sich im Lager nur um eine Rolle Dachpappe handelte); er sprach Russisch wie ein Russe (hatte es von Altgläubigen gelernt, ___________ 12
Ebda., S. 63. Ebda., S. 45. 14 Ebda., S. 77. 13
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die in der Nähe seines Heimatdorfes siedelten). Zur Brigade gehörte auch der Baptist Aleksej (hier vor allem in der Koseform Alëša oder Alëška); stets ordentlich und sauber gewaschen, hatte er fast das ganze Neue Testament in ein Notizbüchlein abgeschrieben, las darin immer wieder laut und wußte es geschickt in einem Loch der Mauer zu verstecken. Als ein gutmütiger Kerl ließ er sich überall einsetzen und von jedermann herumkommandieren. Da war der junge Cezar’ Markoviþ – von dem man nicht wußte, ob er ein Grieche, Jude oder Zigeuner war – schon von anderem Zuschnitt. Er war wohl vordem Kameramann gewesen, aber man hatte ihn geholt, noch bevor er seinen ersten Film fertiggedreht hatte. Im übrigen war Cezar’ gut raus: Er arbeitete im Büro, ließ sich das Essen aus der Essensbaracke bringen, wußte trefflich darüber zu streiten, ob der Filmregisseur Sergej Ejzenštejn ein Genie war oder mit seinem Film Ivan IV. niederträchtig eine Ein-Mann-Diktatur gerechtfertigt habe, bekam monatlich zwei Pakete von zuhause und verstand es, damit immer die richtigen Leute zu bestechen. Dies sicherte ihm das besondere Interesse von Fetjukov, dem Aaskäfer, der – ständig auf seinen Vorteil bedacht – darauf lauerte, von jemandem einen Essensrest oder eine Zigarettenkippe abzustauben; vom ihm wurde gesagt, daß er früher ein Bonze in einem Amt, Leiter eine Fabrik gewesen und mit dem Auto herumgefahren sei; anfangs hatte er versucht, Bujnovskij anzuschnautzen, ließ es aber, nachdem der ihn ein paarmal kräftig über die Fresse geschlagen hatte; Bujnovskij war Kapitän bei der Marine gewesen, erst seit drei Monaten hier, hatte sich an die Lagerusancen noch nicht gewöhnt, meinte, noch Befehle geben, sich auf Artikel des Strafgesetzbuches berufen zu können, und baute, weil er mit dem Leben hier nicht recht klar kam, sichtlich ab. Schließlich gab es da noch die beiden Esten Sen’ka Klëvšin und Gopšik; Klëvšin war in Buchenwald gewesen, hatte dort einer Widerstandsgruppe angehört, Waffen ins Lager geschmuggelt für einen Aufstand, war von den Deutschen gefoltert worden, nun saß er hier; und Gopšik war, noch fast ein Junge, geschnappt worden, als er Bandera-Partisanen Milch in den Wald brachte. Schon bei der Vorstellung von Personen und von Angaben zu ihren Schicksalen, die wir – aus über den gesamten Roman verstreuten Nebensätzen und Randbemerkungen – zusammengetragen haben, wird deutlich: Hier wurde ein anderes Geschichtsbild entworfen, als jenes, das Chrušþëv in seiner berühmten Geheimrede auf dem XX. Parteitag Ende Februar 1956 beschworen hatte.
III. Es ging in diesem Roman nicht um Stalin, die Altbolschewiki, mit denen er abrechnete, um die Parteikader, die Parteitagsdelegierten und ZK-Mitglieder, die „ehrlichen Kommunisten“, die darunter litten; sie kommen im Roman nicht vor. Die Menschen, von denen der Roman handelt, waren Bauernsöhne, von
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Beruf Zimmermann oder Maurer, ehemalige Soldaten und Weltkriegsoffiziere, mitunter auch Intellektuelle oder die sich dafür hielten, Baptisten, Angehörige kleinerer Nationalitäten, Westukrainer, Esten und Letten. Die daraus abzuleitende Botschaft konnte nur lauten: Der Terror der Stalinzeit betraf nicht nur und nicht einmal in erster Linie die Partei- und Staatskader, er betraf das gesamte Volk. Im Mittelpunkt stand auch ganz und gar nicht das immer wieder zitierte Jahr 1937. Von ihm ist, wenn ich recht gelesen habe, nur an einer einzigen Stelle die Rede: als es um die Erschießung jener Offiziere geht, die den Brigadier Tjurin einst als „Kulakensohn“ aus der Roten Armee geworfen hatten. Tjurin führte das, wie gesagt, auf Gottes ausgleichende Gerechtigkeit zurück, als er im Lager davon erfuhr. Verallgemeinert der Leser seinen Fall, so könnte die Nutzanwendung wohl nur lauten: Bei denen, die 1937 umkamen, wäre erst noch zu prüfen, ob sie es nicht verdienten. Wenn sich bei den im Roman vorkommenden Personen der Verhaftungszeitraum ermitteln läßt, lag er entweder vor oder nach 1937: Anfang der 30er Jahre, wie beim „Kulakensohn“ Tjurin; im Krieg, wie bei Šuchov; oder Ende der 40er Jahre, wie beim Intellektuellen Cezar’ oder den Westukrainern, Letten und Esten, Pavlo, Kil’gas und Gopšik. Was daraus abzuleiten war, lag auf der Hand: Der Terror begann nicht erst 1937 und hörte auch mit diesem Jahr nicht auf. Die Daten verwiesen auf die Repressionswellen im Zusammenhang mit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft; sie verwiesen auf den Generalverdacht gegenüber dem eigenen Volk, der selbst in der Kriegszeit nicht nachließ; sie verwiesen auf den repressiven kulturpolitischen Kurs der Nachkriegszeit (in der „Ždanov-Ära“); sie verwiesen auf den anhaltenden Widerstand im Baltikum und in der Westukraine, wo man sich bis in die 50er Jahre hinein gegen die sowjetische Okkupation zur Wehr setzte. Beim Baptisten Aleksej wird keine Verhaftungszeit genannt; vielleicht stand auch dahinter Absicht: Solche wie er konnten jederzeit in die Fallstricke des NKVD geraten. Zusammengenommen ließen sie sich nicht mehr als „Auswüchse“ des „Persönlichkeitskultes“ erklären; sie sprengten damit den Rahmen der Interpretation, den Chrušþëv in seiner Geheimrede vorgegeben hatte. Die Kollektivierung, der Generalverdacht gegenüber dem eigenen Volk, der Anspruch, bestimmen zu können, was es las, sah, hörte, glaubte und dachte, die schiere Selbstverständlichkeit, mit der man auch andere Regionen damit beglückte – sie gehörten zum System. Der Roman beschrieb die Welt der Lager: das strenge, totalitäre Regiment, dem hier das Leben unterworfen war, vom Wecken um 5 Uhr morgens, wenn es noch finster war, durch Hammerschläge auf ein Stück Eisenbahnschiene, das an der Kommandanturbaracke hing, bis zum Nachtappell und Verlöschen der Lichter gegen 9, als der Mond bereits wieder am Himmel stand; er beschrieb
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das Anstehen um die dünne Suppe und die Kascha, in der Essensbaracke, früh am Morgen; das allmorgendliche Antreten in Fünferreihen nach Arbeitsbrigaden, die mehrmaligen Zählappelle vor noch geschlossenen Toren, bei Außentemperaturen von unter 20 Grad minus, die lästigen Personenkontrollen durch die Begleitmannschaften, bevor die Marschkolonnen der Häftlinge sich dann in Bewegung setzen konnten; eingehüllt in ihre dunklen Mäntel, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, einen Fetzen Stoff vor dem Mund, um den eisigen Wind abzuhalten, und eskortiert von Soldaten mit schußbereiten Maschinenpistolen; er beschrieb die Ankunft an der umzäunten, mit Wachtürmen gesicherten Baustelle; die Zuweisung der Tagesaufgaben; das erneute, eilige Essenfassen, die Kelle Hafergrütze zu Mittag; am Abend das gleiche Bild: erneutes Bilden von Fünferreihen nach Brigaden vor den geschlossenen Toren am Arbeitsgelände; wiederholte Zählappelle, damit niemand zurückblieb; Beschimpfungen für die Verspäteten, durch die anderen Häftlingsbrigaden und die Wachmannschaften; und dann noch einmal die gleiche Prozedur bei der Ankunft am Lager, das zusätzliche Filzen, damit niemand ins Lager etwas hineinschleppte, von kleineren Holzstücken zur Befeuerung der Öfen in den Baracken einmal abgesehen. Der Roman beschrieb auch, was das Lager aus den Häftlingen machte: Menschen, die möglichst nicht anzuecken versuchten; deren Gedanken um trockene Fußlappen, eine Kante Brot, ein bißchen Tabak kreisten; Menschen wie Ivan Denisoviþ Šuchov, der sich am Abend eines seiner 3.653 Tage, die er im Lager abzubüßen hatte, bereits glücklich schätzte, daß er nicht im Bunker gelandet war; daß seine Brigade nicht zur neuen Baustelle „Socgorodok“ mußte und eine etwas größere Tagesration Brot erhielt; daß es ihm zu Mittag gelungen war, einen Extraschlag Grütze zu ergattern; daß ihm die übertragene Arbeit ganz gut von der Hand gegangen war; daß er nicht aufgeflogen war, als er eher versehentlich das Bruchstück eines Sägeblatts, das er am Arbeitsplatz gefunden hatte, zurück ins Lage schmuggelte; daß er die Ecke Brot, die er morgens im Strohsack versteckt hatte, abends noch vorfand; daß er es mit einer kleinen Gefälligkeit geschafft hatte, etwas aus dem Warenpaket eines Mithäftlings abzubekommen, bei einem anderen etwas Tabak erstehen konnte; und daß der Anflug von Unpäßlichkeit, den er am Morgen verspürt hatte, bis zum Abend wieder verflogen war. Vor diesem Hintergrund mußte der Begriff „Besserungsarbeitslager“ als blanker Zynismus erscheinen. Oder einen Vorgeschmack davon geben, wie die Gesellschaft auszusehen hatte, in die der Häftling resozialisiert werden sollte. Oder beides. Die Dichte und Eindringlichkeit der Schilderung des Lagerlebens waren es, die den Roman so aufwühlend machten. Man mag darüber streiten, ob „Ivan Denisoviþ“ ein „autobiographisches Werk ohne Ich“ war; ob Šuchov autobiographische Züge trug; die Nummer, die er im Roman trug (Schtscha 854) und die zunächst auch den Titel abgeben sollte, zeigte gewisse Ähnlichkeit mit jener, die Solženicyn selbst im Lager getragen hatte (Schtscha 232),
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der geschilderte Tagesablauf glich wohl jenem im Sonderlager Ơkibastuz-Ugol’ im nordöstlichen Kazachstan, dessen Häftling Solženicyn gewesen war. In jedem Falle war unübersehbar, daß hier ein Zeitzeuge sprach, der das Lagerleben und den Lagerjargon kannte. Indem der Schriftsteller den geschundenen Kreaturen Namen gab, die Leiden individualisierte, machte er sie nach- und mitvollziehbar, gewann die Darstellung zur authentischen Dichte die Eindringlichkeit. Und was geschildert wurde, widersprach in zentralen Punkten dem parteiamtlichen Geschichtsbild, der offiziellen Lesung der Vergangenheit. Es lieferte zur Meistererzählung Chrušþëvs gleichsam die Gegenerinnerung nach; sie ließ auch die Unterlegenen der Geschichte zu Wort kommen, die angeblichen Kulakensöhne, Vaterlandsverräter, Frömmler, kosmopolitischen Freigeister und bürgerlichen Nationalisten; ohne sie von vorneherein zu diskriminieren, ihnen ständig ins Wort zu fallen, sie permanent als „Konterrevolutionäre“ zu „entlarven“. Jeder Person, jeder Stimme zu ihrem Recht verhelfen – Polyphonie hat Solženicyn dieses künstlerische Kompositions- und Schreibprinzip später genannt. Es widersprach nicht nur dem von oben verordneten „Sozialistischen Realismus“ (mit der geforderten Parteilichkeit und dem positiven Helden), es schüttete auch reichlich Sand ins Getriebe des stalinistischen Geschichtsdiskurses.
IV. Wurde der Schriftsteller damit selbst zum Historiker? Wenn Historiker jeder ist, der sich mit Geschichte befaßt, geschichtliche Ereignisse, Verläufe und Personen zum Gegenstand einer Schilderung macht, sie in Wort und Bild dokumentiert, Geschichtsbilder entwirft oder zumindest daran mitwirkt, war der Verfasser hier zweifellos auch Historiker. Wenn man unter Historiker versteht, wer mit der Frage nach Ursache und Wirkung komplexen historischen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen, sie zu verstehen und zu erklären versucht, quellennah und quellenkritisch zugleich, so entsprach Solženicyn diesem Anspruch nur bedingt und wollte es vermutlich auch gar nicht. Er ließ Tjurin davon erzählen, wie er Anfang der 30er Jahre – als „Kulakensohn“ – aus der Armee geworfen wurde, ohne die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die zweifellos den Hintergrund bildete, auch nur zu erwähnen, geschweige denn nach deren Vorgeschichte und politischen Legitimation, den Mitteln ihrer Durchsetzung und den Folgen für die Gesellschaft zu fragen. Er ließ Šuchov von seiner Verhaftung als Vaterlandsverräter und vermeintlicher deutscher Spion im Krieg berichten, ohne mit einer Silbe zu erwähnen, daß die Führung im Krieg den Tatbestand, lebendig in deutsche Gefangenschaft zu geraten, per se mit Vaterlandsverrat gleichsetzte und einmal mehr bedingungslosen Gehorsam forderte. Er ließ Esten, Letten, Westukrainer auftreten, ohne die Annexion des Baltikums und der Westukraine durch die Sowjetunion als Hintergrund der dor-
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tigen Widersetzlichkeiten zu thematisieren, ja auch nur zu erwähnen, geschweige denn den sowjetischen Expansionismus selbst zu diskutieren; so war auch von „Bandera-Partisanen“ die Rede, ohne zu sagen, wer sie waren, wofür sie sich einsetzten, daß sie den sowjetischen Behörden bis in die erste Hälfte der 50er Jahre das Leben schwer machten (oder gar: wer ihr Namensgeber Stepan Bandera war und daß er im Oktober 1959 in München von sowjetischen Agenten ermordet wurde). Man mag einwenden, daß manches davon durch die Publikationsbedingungen, das sowjetische Zensursystem bedingt war; gewiß, eine explizite Thematisierung der Zwangskollektivierung, der sowjetischen Politik gegenüber dem Baltikum, des lang anhaltenden Widerstandes in der Westukraine hätte eine Publikation des Romans mit Sicherheit verhindert. Außerdem konnte der Autor, auch das ist einzuräumen, auf ein gewisses Vorwissen der sowjetischen Leserschaft bauen. Dennoch: es kam Solženicyn zweifellos mehr darauf an, die Unterlegenen der Geschichte zu Wort kommen zu lassen, das Lagerleben aus der Binnenperspektive, an der Person und aus der Sicht des Häftlings Schtscha 854 erlebbar zu machen, als eine abgewogene Analyse der Außenbedingungen, ihrer Geschichte und Struktur zu geben. Diese Individualisierung des Leids wie des Verbrechens macht die Stärke, die Eindringlichkeit der literarischen Darstellung aus, während der Historiker in der Regel gerade das Gegenteil versucht: das Individuum in sein politisches, gesellschaftliches, geistiges Umfeld, das Einzelereignis in seinen Bedingungszusammenhang, in die Geschichte seiner Zeit, seines Jahrhunderts einzuordnen, weniger mit dem Ziel, sie emotional erfahrbar, sondern sie – selbst in ihrer Emotionalität – rational verstehbar zu machen. Ich habe das Problem an einem Werk Aleksandr Solženicyns zu exemplifizieren versucht, am Kurzroman „Ein Tag im Leben des Ivan Denisoviþ“; es war jenes Werk, mit dem Solženicyn Weltruhm erlangte, und sicher das erfolgreichste russischsprachige Werk nach dem Kriege. Auch die Werke „Im ersten Kreis der Hölle“, „Krebsstation“, „Archipel GULAG“, „August 1914“, „Die Eiche und das Kalb“, „Lenin in Zürich“, „Zweihundert Jahre zusammen. Die russisch-jüdischen Beziehungen 1795-1995“ einzubeziehen, hätte bedeutet, mehrere Beiträge zu schreiben oder sich auf einige sehr allgemeine Beobachtungen zurückzuziehen. Zumindest was den Literaten betrifft, will ich die Sache noch zu einem gewissen Abschluß bringen. Von Solženicyn konnten im Folgejahr 1963 drei weitere Erzählungen in „Novyj mir“ erscheinen, 1964 wurde er sogar für den Leninpreis vorgeschlagen. Doch die Großwetterlage hatte sich bereits wieder eingetrübt. Zwischen der Zustimmung Chrušþëvs zur Publikation und der Entdeckung der sowjetischen Raketen auf Kuba lagen nur wenige Tage; sie leitete den Abstieg Chrušþëvs ein, im Oktober 1964 wurde er gestürzt. Die beiden fertiggestellten Romane „Im ersten Kreis der Hölle“ und „Krebsstation“ konnten in der Sowjetunion nicht mehr erscheinen, erst recht,
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nachdem der Autor im Mai 1967 einen offenen Brief an den IV. sowjetischen Schriftstellerkongreß geschrieben hatte, in dem er die Abschaffung der Zensur forderte. Die beiden Romane kursierten bereits im Samizdat15, 1968 erschienen sie als Raubdruck im Westen; im Jahr darauf (1969) wurde Solženicyn aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen, was einem Publikationsverbot in der UdSSR gleichkam; der Konflikt spitzte sich weiter zu, als Solženicyn 1970 der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde. 1971 lag auch der „August 1914“ vor (erster Teil einer geplanten Romantrilogie), 1973 der dreibändige „Archipel Gulag“, „Versuch einer künstlerischen Bewältigung“ des sowjetischen Lagersystems, wie es im Untertitel hieß. Als Solženicyn nach der Beschlagnahmung von Teilen des Gulag-Manuskripts durch den KGB die Zustimmung zur Publikation im Westen gab, war dies für die sowjetischen Behörden die endgültige Kriegserklärung. Sie ließen den Schriftsteller im Februar 1974 verhaften und außer Landes bringen. Er ließ sich erst in der Schweiz, dann in den USA nieder. Er lebte dort 17 Jahre. 1990 in der Sowjetunion rehabilitiert, kehrte er nach deren Zerfall (1994) in seine Heimat zurück. 2007 erhielt er den Staatspreis der Russischen Föderation. Ein Bild, das um die Welt ging, zeigte ihn bei dieser Gelegenheit mit Präsident Putin. In Rußland ist Solženicyn am 3. August 2008 im Alter von 89 Jahren gestorben; er wurde drei Tage später im Donskoj-Kloster beigesetzt, das in der Stalin-Zeit geschlossen, Anfang der 1990er Jahre der Orthodoxen Kirche zurückgegeben wurde. Der Literat und die Geschichte – ein Thema, das viele Aspekte hat und über das man lange reden könnte.
___________ 15 Samizdat: eigentlich „Selbstverlag“; wurde in der UdSSR üblich als Bezeichnung für die Herstellung und Verbreitung von literarischen und publizistischen Werken, die dort offiziell nicht erscheinen durften.
Geschichtsschreibung als Herausforderung Plinius, epist. 5, 8: Suades, ut historiam scribam Von Severin Koster, Erlangen
Plinius grüßt Capito „1 Du rätst mir, Geschichte zu schreiben, und du rätst nicht als einziger dazu. Viele haben mich dazu oft aufgefordert und auch ich will es, nicht weil ich mir zutraue, es bequem zu schaffen (denn das könnte einer, ohne es versucht zu haben, nur leichtsinnig glauben), sondern weil es mir eine besonders schöne Aufgabe zu sein dünkt, diejenigen nicht untergehen zu lassen, denen man die Verewigung schuldet, und die Rühmung anderer mit dem eigenen Ruhm weiter zu verbreiten. 2 Mich aber beschäftigt nichts in gleichem Maß wie die Liebe und Begierde zur Dauerhaftigkeit, eine zutiefst menschenwürdige Angelegenheit, besonders für jemanden, der, sich keiner Schuld bewußt, nicht vor der Erinnerung der Nachwelt zurückschreckt. 3 Deswegen hänge ich Tag und Nacht dem Gedanken nach, ob ‚ich auch mich auf irgendeine Weise vom Boden erheben könnte‘. Das genügt schon meiner Wunschvorstellung, folgendes würde über sie hinausgehen: ‚und als Sieger von Mund zu Mund der Menschen fliegen‘; ‚obwohl, ach [...]‘ Aber eigentlich ist das schon genug, was nahezu allein die Geschichtsschreibung zu versprechen scheint. 4 Denn für die Redekunst und die Dichtung gibt es nur wenig Dank, wenn darin nicht die Beredsamkeit in Vollendung vorhanden ist. Die Geschichte dagegen erfreut, wie auch immer sie geschrieben ist. Denn die Menschen sind von Natur aus wißbegierig, und lassen sich allein schon durch ein noch so nüchternes Kennenlernen von Geschehnissen mitreißen, wie sie sich ja auch durch Plaudereien und Erzählungen anziehen lassen. Mich aber spornt zu dieser literarischen Beschäftigung auch noch ein familiäres Vorbild an. 5 Mein Onkel, der ja durch Adoption auch mein Vater ist, hat Geschichte geschrieben und zwar außerordentlich gewissenhaft. Ich finde aber bei den Philosophen, daß es das Ehrenhafteste sei, den Fußspuren der Vorfahren zu folgen, wenn sie nur auf dem rechten Weg vorangegangen sind. Warum also zögere ich noch? 6 Ich habe bedeutende und gewichtige Prozesse geführt. Sie zu überarbeiten bin ich fest entschlossen, auch wenn mir aus ihnen nur ein dünner Hoffnungsschimmer erwächst, damit die große Mühe, die ich damit hatte, nicht zugleich mit mir untergeht, wenn ich nicht diese restliche Bemühung noch daransetze. 7 Denn wenn Du an den Ruhm bei der Nachwelt denkst, so gilt alles, was nicht fertiggestellt ist, soviel, als wäre es gar nicht begonnen. Du wirst jetzt sagen: ‚Du kannst
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doch zugleich Prozeßreden überarbeiten und Geschichte verfassen!‘ Wenn es nur so wäre! Aber beides ist so bedeutend, daß man übergenug damit zu tun hat, nur eins zustande zu bringen. 8 Im neunzehnten Lebensjahr habe ich damit begonnen, auf dem Forum zu reden, und dennoch sehe ich jetzt erst und immer noch wie durch eine Nebelwand hindurch, was ein Redner eigentlich bieten müßte. 9 Was also, wenn zu dieser Belastung noch eine neue hinzukommt? Es hat zwar die Rede mit der Geschichtsschreibung vieles gemeinsam, doch ist noch viel mehr an ihnen ganz verschieden und das gerade in den Bereichen, die beiden gemeinsam zu sein scheinen. Jene ist Erzählung, diese ist Erzählung, aber auf ganz andere Art. Zur Gerichtsrede gehören meistenteils unansehnliche, gemeine und mitten aus dem Alltagsleben stammende Ereignisse, zur Geschichte alles Entlegene, Glänzende, Erhabene. 10 Zu dieser passen öfter Knochengerüst, Muskeln und Nerven, zu jener pralle Rundungen sozusagen und gleichsam Mähnenpracht. Diese gefällt besonders durch Kraft, Herbheit, Hartnäckigkeit, jene durch den großen Zug, durch Annehmlichkeit und sogar Liebreiz. Schließlich haben beide jeweils eine andere Diktion, andere Tonlage, anderen Aufbau. 11 Denn es macht sehr viel aus, wie Thukydides sagt, ob es um einen geistigen Besitz oder nur um ein Bravourstück geht. Ein solches ist eine Rede, das andere ist die Geschichtsschreibung. Aus diesen Gründen lasse ich mich nicht dazu verleiten, zwei ganz verschiedene Dinge und gerade da verschieden, wo sie am größten sind, durcheinanderzubringen und zu vermischen, damit ich nicht, gleichsam durch ein flutartiges Ineinander dieses Ausmaßes verwirrt, dort etwas tue, was ich hier tun sollte. Deswegen bitte ich inzwischen um Bedenkzeit, damit ich nicht meine eigenen Worte Lügen strafen muß. 12 Gleichwohl überlege du schon jetzt, welche Zeiten ich denn am besten in Angriff nehmen soll. Alte und die schon andere beschrieben haben? Da liegt die Quellenforschung bereits vor, aber mühsam ist die Abgleichung der Meinungen. Unberührte und neue? Da gibt es schwerwiegende Kritik und dürftigen Dank. 13 Denn abgesehen davon, daß bei so großen Fehlern der Menschen mehr zu rügen als zu loben ist, wird man vermutlich, wenn man gelobt hat, als zu sparsam bezeichnet, wenn man aber Schuld zugewiesen hat, der Übertreibung bezichtigt, auch wenn man das eine sehr reichlich, das eine äußerst eingeschränkt getan hat. 14 Aber das hält mich nicht zurück. Ich habe nämlich entsprechend meinem Selbstvertrauen genug Mut dazu. Ich schlage dir vor, mir den Weg zu ebnen, zu dem du mich aufforderst, und den Stoff auszuwählen, damit mir nicht, wenn ich schon zum Schreiben bereit bin, wieder ein anderer triftiger Grund zum Zögern und zum nicht Vorankommen entsteht. Leb wohl!“1
___________ 1
Weitere Übersetzungen: Helmut Kasten, C. Plini Caecilii Secundi Epistularum libri decem. Gaius Plinius Caecilius Secundus Briefe. Lateinisch-deutsch, München 1968 (Tusculum-Ausgabe, mit informativem Anhang). Ferner: C. Plinius Caecilius Secundus. Sämtliche Briefe. Lateinisch/Deutsch, übers. und hg. von Heribert Philips und Marion Giebel, Nachwort von Wilhelm Kierdorf, Stuttgart 1998 (Reclam, mit weiterer Literatur). Wissenschaftliche Ausgaben: C. Plinii Caecilii Secundi epistularum libri novem. Panegyricus rec. Mauriz Schuster. Ed. tertiam curavit Rudolf Hanslik, Lipsiae 1958; C. Plini Caecili Secundi epistularum libri decem. Ed. Roger Aubrey Baskerville Mynors,
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„Die geistige Welt des jüngeren Plinius“, wie sie Bütler bezeichnet hat2, übt immer wieder ihre Anziehungskraft aus und hat ihren besonderen Reiz in der unmittelbaren zeitgenössischen Aktualität, gleichzeitig aber auch dadurch, daß sie vom überkommenen römischen Selbstverständnis geprägt ist. Dies gilt besonders für die Bewährung als Redner, die die eigentliche Mitte der Lebenswelt des Plinius ausmacht. Dafür hat er als Schüler Quintilians in Cicero das beste römische Vorbild gewählt. Mit ihm teilt er nicht nur das für seine Zeit und vor allem seine Person zugeschnittene Bildungsideal, sondern auch die Wertschätzung der Historie als eines wesentlichen Bestandteils dieses Ideals, verbunden mit einer auffallenden Zurückhaltung gegenüber eigener historiographischer Tätigkeit. Cicero, voller historischer Kenntnisse, schrieb selbst keine Geschichte, lobte jedoch die Historiographie seine Freundes Atticus, dessen „liber annalis“ er eifrig benutzte.3 Er selbst wurde nur in eigener Sache tätig4, nachdem ihm beharrlich von anderen, etwa dem Dichter Archias, dem gelehrten Poseidonios oder von seinem Freund L. Lucceius, die Darstellung seiner Ruhmestaten verweigert worden war.5 Plinius erwartet, wie Cicero, daß auch ihm die nach eigener Einschätzung gebührenden Ehren zuteil werden. Er hat sich nie gescheut, dies durch zahlreiche, nachhelfende Hinweise deutlich zu machen. Da er von hohem literarischen Ehrgeiz durchdrungen war, scheint er sehr geschmeichelt gewesen zu sein, als ihm angetragen wurde, sich doch auch in der Historiographie zu versuchen. Wie alles, was sich aus seiner Sicht an mehr oder weniger Bedeutendem ereignete, ist ihm auch dieses Ansinnen aus dem Freundeskreis Anlaß genug für einen Brief. Dieser Brief 5, 8 steht, wie viele andere im Corpus, in Verbindung
___________ Oxford 1963; Einzelinterpretation: Jan H. Brouwers, Plinius Minor over de historiografie (Epist. 5. 8), Lampas 24 (1991), S. 5-18. 2 Hans-Peter Bütler, Die geistige Welt des jüngeren Plinius. Studien zur Thematik seiner Briefe, Heidelberg 1970. 3 Cic. Att. 12, 23, 2, „quibus consulibus Carneades et ea legatio Romam venerit, scriptum est in tuo annali.“ Die hier gegebenen Abkürzungen der lateinischen Autoren und Werke folgen dem Index librorum scriptorum inscriptionum ex quibus exempla afferuntur, Edito altera, 5. Aufl. Leipzig 1990, des Thesaurus Linguae Latinae, München 1900. 4 Cic. Att. 1, 19, 10: „commentarium consulatus mei Graece compositum misi ad te [...].“ 5 Bezeichnendes zu Ciceros Geschichtsauffassung enthält sein großer Brief an L. Lucceius, fam. 5, 12; Zu Archias vgl. Cic. Att. 1, 16, 15; Zu Poseidonios’ Ablehnung vgl. Att. 2, 1, 2. Ausführlicher ist die Diskussion mit Atticus, eine modelhafte Vorläuferin der Gedanken des Plinius: Cic. leg. 1, 4 – 13. Vgl. auch Cic. Brut. 13; ferner orat. 120, mit Bemerkungen zum Bildungswert der Geschichte, besonders aber im Exkurs de orat. 2, 51 – 63.
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zu weiteren.6 Gerichtet ist er an Titinius Capito, unter Domitian und Trajan Sekretär „ab epistulis“ und „a patrimonio“, den man durch die beiden anderen Briefe, 1, 17 und 8, 12, näher kennenlernt.7 Schon in 1, 17, in der frühesten Phase der Edition der Briefe, also in den Jahren 96 bis 1008, erscheint er als traditionsbewußter, ruhmfördernder Mäzen, der sich vom Kaiser die Erlaubnis erteilen ließ, für Lucius Silanus, einen Urenkel des Augustus, der von Nero verbannt und umgebracht worden war, eine Statue auf dem Forum aufzustellen.9 Bei Capito habe es Tradition, so hebt Plinius hervor, berühmte Männer so zu ehren. Zu Hause habe er Standbilder des Brutus, des Cassius und des Cato, des weiteren die von großen Dichtern. Wenn Capito also Caesarmörder und Caesar-Gegner derartig ehrt, verrät er dadurch seine republikanische, d. h. freiheitliche Gesinnung, die im privaten Bereich offenbar geduldet wurde. Wenn er andererseits die Freundschaft Trajans besitzt, erkennt man daran die Gesinnung des „optimus princeps.“10 Denn wenn Capito eine Statue des Cato aufgestellt hat, ist es sicher die des Uticensis unter dem Motto „in tyrannos“ gewesen11, nicht die des alten Cato Censorius, obwohl dieser auch einen Platz – zumal als Geschichtsschreiber – verdient hätte. Mit den Dichtern sind die unter Domitian verfolgten und getöteten gemeint. Capito zeigt sich damit also als ein rechtschaffener Patriot, der mit seiner Geisteshaltung sogar in die Öffentlichkeit hineinwirken darf. Plinius ist von dieser Gesinnung sehr angetan und hebt, nicht ohne Selbstbespiegelung, die vorgesehene Ehrung des Silanus auch deswegen hervor, weil sich hinter der allgemein formulierten Aussage der Wunsch birgt, selbst auch einer solchen Ehre würdig zu sein und teilhaftig werden zu können. Capitos Ansinnen, Silanus zu rehabilitieren, vereint ihn mit Plinius und mit dem Kaiser, von dem Plinius deswegen emphatisch als „imperator noster“ spricht. Daher ist es auch verständlich, daß Plinius im Brief an Minicianus, 8, 12, seine Absenz damit entschuldigt, daß er an einem Vortrag des Capito teilnehmen möchte. Er lobt dabei Capito als vorzügliche Zierde seiner Zeit, schildert ihn als Gelehrten, der besonders die rhetorischen Studien pflegt und fördert, sich als Schutzpatron aller literarisch Tätigen erweist und sich restaurativ und reformierend gegen die sinkende Qualität der literarischen und rhetorischen ___________ 6 Dieser diesbezüglich zentrale Brief ist weder ganz kurz, noch ganz lang, sondern nähert sich mit seinen vierzehn Paragraphen gewissermaßen einer mittleren Hochgrenze. 7 Vgl. Adrian Nicholas Sherwin-White, The Letters of Pliny. A Historical Commentary, Oxford 1966; Vgl. auch: Opere di Plinio Cecilio Secundo a cura di Francesco Trisoglio, Vol. I, Torino 1973, S. 544-550. 8 Vgl. dazu Sherwin-White (wie Anm. 7), S. 41 f. 9 Ebenda, S. 125 f. 10 Vgl. Plin. paneg. 1, 3: „ad agendas optimo principi gratias […].“ 11 Vgl. Trisoglio (wie Anm. 4), I 230.
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Studien stemmt. Er arrangiert Lesungen und Vorträge in seinem Haus, die Plinius aus Dankbarkeit nicht versäumen will. Das zum Vortrag anstehende neue Werk, das der Buchedition zufolge 107/108 vorgelegen haben muß, trägt den Titel „Untergang berühmter Männer“. Einige dieser Männer hat Plinius sehr gut gekannt, und er hält es jetzt für seine Pflicht, den Toten auch auf diese Weise die letzte Ehre zu erweisen. Denn das war aus politischen Gründen vor Trajans Zeit – d. h für Plinius und seinen Freund Tacitus während der als Tyrannis empfundenen Herrschaft Domitians – nicht möglich gewesen, ohne daß man sich in Gefahr brachte. Aus diesem für Plinius typischen, literarischen und sozialpolitischen Umfeld heraus muß der Brief 5, 8, in dem Capito Plinius zur Geschichtsschreibung auffordert, verstanden werden.12 Es ist also nicht verwunderlich, daß Capito, der an „viri illustres“ interessiert war und zu Unrecht diffamierte Größen des Staates wie jenen Silanus durch ein literarisches Werk rehabilitierte und seine Bedeutung auch noch durch Statuen vor Augen geführt haben wollte, Plinius zur Historiographie rät. Gleichzeitig demonstriert Plinius damit seinen prestigeträchtigen Kontakt zu einem solch ehrenwerten Bürger wie Capito. „Suades, ut historiam scribam.“ Das Thema ist damit klar: „Du rätst mir, Geschichte zu schreiben.“ Den griechischen Begriff „historia“ verwendet Plinius in der geläufigen erweiterten Bedeutung von „Geschichte“ und „Geschichtsschreibung.“ So heißt es gleich im ersten Brief des ersten Buches, der von einer Aufforderung zur Edition der Briefe handelt: „Ich habe die Briefe nicht unter Wahrung der zeitlichen Reihenfolge gesammelt (ich wollte ja keine Geschichtsschreibung vorlegen), sondern so wie jeder mir gerade zu Händen war.“13 In einem weiteren Brief, 1, 16, der ein Lob des Saturninus enthält, wertet er die „historia“ im Vergleich zur Gerichtsrede. Sie übertreffe diese in Kürze, Gefälligkeit, Glanz und Erhabenheit der Darstellung, besonders was die dort wiedergegebenen Reden, „contiones“, betrifft, die den wirklich gehaltenen in der Ausdruckskraft vergleichbar seien, jedoch knapper, bündiger und gestraffter.14 Diese Gegenüberstellung zwischen Rede und Geschichtsschreibung ist auch ein Thema des Briefes 5, 8. Eine weitere Eigentümlichkeit wird in 7, 17, 3 ___________ 12
Vgl. zu dieser typischen Geisteshaltung auch die Ausführungen von Helmut Krasser, „claros colere viros“ oder Über engagierte Bewunderung, in: Philologus 137 (1993), S. 62-71. 13 „Collegi (sc. epistulas) non servato temporis ordine (neque enim historiam componebam), sed ut quaeque in manus venerat.“ 14 „Idem tamen in historia magis satisfaciet vel brevitate vel luce vel suavitate vel splendore etiam et sublimitate narrandi. Nam in contionibus eadem quae in orationibus vis est, pressior tantum et circumscriptior et adductior.“ Aufschlußreich auch die Interpretation von Thomas Baier, ‚KTHMAǥ oder ‚AīǷȃǿȈǹǥ: Plinius über historischen und rhetorischen Stil (Epist. 5,8), in: Plinius der Jüngere und seine Zeit, hg. von Luigi Castagna und Eckard Lefèvre unter Mitarbeit von Chiara Riboldi und Stefan Faller, München/Leipzig 2003, S. 69-81.
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deutlich, wenn Plinius sich dagegen wehrt, daß man die Rezitation einer Rede ablehne, dies aber bei der Historiographie zulasse, die von vorneherein nicht zur öffentlichen Präsentation geschrieben sei, sondern nur Zuverlässigkeit und Wahrheit wiedergeben solle.15 Etwas unbestimmt bleibt die Aussage, wenn er in 5, 5, 3 von einem nicht vollendeten Werk des verstorbenen Fannius spricht, der drei Bücher über das Ende der von Nero Getöteten und Verbannten geschrieben hatte. Er stuft sie in ihrer Art als „inter sermonem historiamque medios“ ein und nennt sie „subtiles et diligentes et Latini.“ Das heißt, daß die „historia“ über der Alltagssprache steht und die Qualitäten der Feinheit, Sorgfalt und guten Latinität hat. Schließlich spricht Plinius wie selbstverständlich von den „historiae“ des Tacitus mit eben diesem Begriff in 7, 33, 1 f., einer auch für die Erklärung des Briefes 5, 8 aufschlußreichen Stelle. Denn er wendet sich an seinen Freund Tacitus mit der ungenierten Bitte, ihn ehrenvoll in diesen seinen „unsterblichen Historien“ zu erwähnen, damit auch er, Plinius, mit diesem Werk unsterblich werde: „Denn wenn wir gewöhnlich darum besorgt sind, daß ein Bildnis von uns nur vom besten Künstler angefertigt werde, sollen wir da nicht wünschen, daß uns auch für unsere Werke ein Schriftsteller und Lobredner wie du zuteil werde?“16 Besonders bemerkenswert, weil es wiederum um seine Person geht, schließt er diesen Brief mit dem pointierten Satz, § 10: „Die Geschichtsschreibung darf nicht über die Wahrheit hinausgehen, und ehrenhaften Taten genügt auch die Wahrheit.“17 Diese rein sachbezogene Wahrheit ist entsprechend in epist. 2, 5, 5 gemeint, wo er Lupercus erklärt, daß er bei den „descriptiones locorum“ in der Rede von der grundsätzlich geforderten „austeritas“ abweiche: da sei es angebracht, nicht nur „historice“, also wie in der Geschichtsschreibung streng und nüchtern zu schreiben, sondern poetisches Kolorit zu benutzen: „prope poetice prosequi fas est.“ Derartige Abgrenzungen zu anderen Literaturformen sind auch wesentlicher Bestandteil des Briefes 5, 8. Mit dem wiederholten „suades“, wörtlich heißt es ja „einem etwas süß machen“, kommt die gleiche Überraschung, daß Capito nicht der einzige ist, sondern einer unter vielen, die alle der für Plinius natürlich schmeichelhaften Meinung sind, daß er der richtige Mann sei, Geschichte zu schreiben. Diese „multi“ haben nicht nur geraten, sondern geradezu mit erho___________ 15 „A quibus libenter requisierim, cur concedant, si concedunt tamen, historiam debere recitari, quae non ostentationi, sed fidei veritatique componitur.“ Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit („fides“) sind grundsätzliche Eigenschaften der Historiographie, epist. 9, 33, 5 „scis, Vergini, quae historiae fides debeatur“ und 9, 33, 2 „tametsi, quid poetae cum fide? Is tamen auctor, cui bene vel historiam scripturus credidisses.“ 16 „Nam, si esse nobis curae solet, ut facies nostra ab optimo quoque artifice exprimatur, nonne debemus optare, ut operibus nostris similis tui scriptor praedicatorque contingat.“ Zum Nachruhm vgl. auch wiederum über Verginius Rufus, epist. 2, 1, 2 „legit scripta de se carmina, legit historias et posteritati suae interfuit.“ 17 „Nam nec historia debet egredi veritatem, et honeste factis veritas sufficit.“
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benem Zeigefinger auf ein Versäumnis hingewiesen: „saepe monuerunt.“ Plinius spielt den ertappten, aber einsichtigen Schüler, der sofort seinen guten Willen zeigt, „et ego volo.“ Seine Begründung beruht auf seiner Selbsteinschätzung, negativ und positiv gesehen. Aus negativer Sicht leugnet er die Leichtigkeit einer bequemen Erledigung der Aufgabe. Um auch nur den Verdacht von Arroganz zu zerstreuen, daß derartiges etwa unbedeutend sei oder sozusagen aus dem Ärmel geschüttelt werden könne, weist er sich selbst zurecht, daß eine solche Aussage allenfalls nur jemand machen könne, der große Erfahrung habe. Erfahrung „in historiis“ aber besitzt, was ungesagt bleibt, natürlich sein Freund Tacitus, der ja „historiae“ geschrieben hat.18 Für die positive Begründung borgt er sich stillschweigend bei einem anderen Historiker, nämlich Sallust, die beste Motivation. Dieser hatte in der Einleitung zu seinem Catilina, 3, 1-2, gesagt, daß nicht nur Taten selbst zu vollbringen eine hehre Aufgabe sei, sondern auch Taten anderer darzustellen. Damit stellt sich Plinius, sieht man einmal von den entsprechenden Ausführungen Ciceros in „pro Archia poeta“ ab, in die ansehnliche Sukzession von Sallust bis Tacitus und auf das gleiche Niveau mit Capito, der ja entsprechendes auf etwas andere Weise tut. Er begründet dies damit, daß er es für schön halte, nicht zuzulassen, daß untergehe, was Ewigkeit verdiene, und daß der Ruhm der beiden Beteiligten sich dadurch mehre.19 Es geht also um seinen Nachruhm, den er sich auch von dieser literarischen Tätigkeit erhofft. Der Wunsch aller literarisch Tätigen nach Unvergessensein verdeutlicht dieses Streben nach Nachruhm mit einer Wortwahl aus dem „sermo amatorius“, wenn er sagt „me [...] amor et cupido sollicitat.“ Diese erwünschte „diuturnitas“ nimmt so gewissermaßen die Stelle der „puella divina et amata“ ein. Sie ist nicht dasselbe wie die zuvor genannte „aeternitas“20, die eher für den Blick in die endlose Zukunft steht, während „diuturnitas“ das ununterbrochen Dauerhafte betont. Diese Nuance wird im folgenden klar durch den Begriff „posteritatis memoria“, die unausgesprochen durch die „oblivio“ oder im politischen Bereich gar durch die „damnatio memoriae“ gefährdet ist, eine Möglichkeit, die Ruhmbeflissenen vor Augen stand. Die „damnatio“ kann wieder aufgehoben werden, sie unterbricht aber sehr wohl die „diuturnitas“. Plinius denkt nicht nur an die Apotheose der Kaiser, sondern auch an die „theioi anéres“ (göttliche Menschen), die ja nicht weit von einer solchen Glorie entfernt sind.21 Zu ihnen gehören jene Männer, für die ein Capito und ein Plini___________ 18 Hierzu vgl. Jacques Heurgon, Pline le Jeune tenté par l’histoire, in: Revue des Études Latines (Mélanges Marcel Durry) 47, Paris 1970, S. 345-354. 19 Vgl. Bütler (wie Anm. 2), S. 21 ff.: „Das Ringen um Unsterblichkeit und Ruhm“. 20 Sie kann sogar als „oppositum“ gelten: Thesaurus Linguae Latinae (wie Anm. 3), s. v. „diuturnitas“ p. 1645, 1. 12 und „diuturnus“ p.1647, 1. 21. 21 Zu diesem Thema vgl. Ludwig Bieler, ĬǼǿȅȈ ǹȃǾȇ. Das Bild des „göttlichen Menschen“ in Spätantike und Christentum, Wien I 1935, II 1936, Ndr. Darmstadt 1967, I, S. 135 ff. Vgl allgemein dazu: Hans Dieter Betz, Art. Gottmensch III (Griechisch-
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us eintreten. Dauerhafter Ruhm ist also die höchste Würdigung des Menschen, zumal für den, der so „integer“ gelebt hat, daß die Nachwelt keinerlei Scheu zu haben braucht, sein Andenken aufrechtzuerhalten. Man glaubt, eine Variation der Horaz-Zeile „integer vitae scelerisque purus“, carm. 1, 22, 1, zu hören oder die Verse 1-4 aus seiner Römerode, carm. 3, 4: „Den gerechten und vorsatzfesten Mann erschüttert nicht in seiner gefestigten Sinnesart die leidenschaftliche Glut der Bürger, wenn sie Schlechtes zu tun heißen, nicht die Miene eines drohenden Tyrannen [...].“22
Auf Ciceros verlorenes Werk „de gloria“ läßt sich leider nur verweisen. Der Historiker Sallust äußert seine hohe Wertschätzung der „gloria“ mit den Worten: „Wo der Geist auf dem Pfad der Tüchtigkeit zum Ruhm schreitet, ist er außerordentlich stark, mächtig und strahlend“, Iug. 1, 3.23 Plinius spricht eher poetisch als floskelhaft von seinen Überlegungen „bei Tag und Nacht“. Denn er drückt seine Gedanken durch ein Vergilzitat aus dem Prooemium des 3. Georgica-Buches, v. 8 f., aus: „Man muß den Weg erproben, auf dem auch ich mich vom Erdboden erheben kann, um als Sieger von Mund zu Mund der Menschen zu fliegen.“ „temptanda via est, qua me quoque possim / tollere humo victorque virum volitare per ora.“
Plinius fügt ein weiteres Zitat aus den Wettspielen in der Aeneis, 5, 195, an, wo die Aposiopese „quamquam o!“ zeigt, daß er trotz des erklärten Verzichts doch noch lieber die Siegespalme im Wettkampf mit ambitionierten Zeitgenossen gewinnen möchte. Die Entscheidung darüber legt er in höhere Hände, wie auch Vergil den Sieg im Ruderwettstreit von Neptun verliehen sehen will. Im Vergilzitat verbirgt sich bekanntlich noch das Vermächtnis der berühmten, selbstverfaßten Grabinschrift des Ennius. Für Plinius bedeuten diese Anspielungen natürlich, daß er sich in die Reihe der Koryphäen der historiographischen Nationalepen einreihen möchte. Er bescheidet sich freilich mit dem, was die prosaische Geschichtsschreibung an sich verspricht. Diese Abgrenzung nötigt ihn dazu, nun die konkurrierenden Literaturformen zu nennen. Es geht dabei zunächst um Rhetorik und Poesie, die schon Aristoteles in seiner Poetik ___________ römische Antike u. Urchristentum), in: Reallexikon für Antike und Christentum. Bd. X II, 1983, S. 234-312. 22 „Iustum et tenacem propositi virum / non civium ardor prava iubentium / non voltus instantis tyranni / mente quatit solida [...].“ 23 „Qui (sc. animus) ubi ad gloriam virtutis via grassatur, abunde pollens potensque et clarus est.“ Vgl. Karl Büchner, Sallust, Heidelberg 1960, S. 99-130; Ulrich Knoche, Der römische Ruhmesgedanke, in: Römische Wertbegriffe, hg. v. Hans Oppermann, Darmstadt 1967, S. 420-445 (Ulrich Knoche, Vom Selbstverständnis der Römer. Gesammelte Aufsätze, hg. v. Franz Bömer/Hans Joachim Mette, Heidelberg 1962, Gymnasium, Beiheft 2; davor: Philologus 89, 1934, S. 102-124).
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voneinander getrennt hat.24 Die Wertung aber, die Plinius hier äußert, entlehnt er aus der „ars poetica“ des Horaz, der die Qualität der Dichtung absolut setzt: v. 378 „si paulo summo decessit, vergit ad imum“, wenn die Dichtung auch nur ein wenig von der Vollendung abweicht, geht es mit ihr schon bergab. Entsprechend wertet er die Dichtung und die öffentlichen Rede als „summa eloquentia“. Für die Geschichtsschreibung gelte jedoch diese Anforderung nicht, so wenig wie bei Horaz für sein Gegenstück zur Poesie, die Jurisprudenz, der er nur eine leistungsfähige Mittelmäßigkeit zugesteht. Ähnlich stuft Plinius die Historiographie ein. Ihr „prodesse“ und „delectare“ bestehe darin, daß sie, wie immer sie auch geschrieben sein möge, an sich allein schon auf ein gewisses Interesse stoße. Das liege daran, daß der Mensch grundsätzlich neugierig sei und ganz nach Belieben Neuigkeiten kennenlernen wolle, wie er sich ja auch von Erzählungen und von Anekdoten angezogen fühle. Plinius ordnet die „historia“ also in einen weiten, mittleren Bereich unterhalb der „summa eloquentia“ in der politischen Öffentlichkeit ein, oberhalb allerdings von Klatschspalten und Ammenmärchen. Schließlich spricht er von seiner Ambition auf diesem Gebiet, und überrascht damit, daß er für die Geschichtsschreibung schon ein Vorbild im eigenen Hause habe, ein „domesticum exemplum“. Der Bruder seiner Mutter, Plinius der Ältere, den er „per adoptionem pater“ nennt, habe nämlich Historien geschrieben und dies mit höchster Gewissenhaftigkeit. In der Familie gibt es also schon eine Art Tacitus mit „historiae“. Gemeint sind die nicht erhaltenen Bücher über die Germanenkriege Domitians. Da Domitian sie auch selbst beschrieben hat, fügt Plinius an, daß sein Onkel mit allergrößter Sorgfalt gearbeitet habe und mit Rücksichtnahme, die wohl nur auf den „dominus et deus“ Domitian bezogen werden kann. Das suggestiv abschließende „cur ergo cunctor?“, handschriftlich in Konkurrenz zu einem poetisch wirkenden „cur ego cunctor?“, nimmt noch einmal Bezug auf den Adoptivvater. Es will zunächst sagen, wie der Vater so der Sohn, wobei es ja nicht um den leiblichen Vater geht, sondern um eine Wahlverwandtschaft, die jedoch noch mehr die Tugend der „aemulatio“ hervorrufen kann als die direkte Deszendenz. Eine solche Bemerkung bedeutet auch eine Aufmerksamkeit gegenüber dem jetzigen Kaiser Trajan, dem Adoptivsohn Nervas. Die Absicht, Geschichte zu schreiben, stellt damit der „pietas“ den „maiores“ gegenüber, zu denen auch der Adoptivvater bzw. Onkel gehört, das beste Zeugnis aus. Dafür ___________ 24 Aristot. poet. 9; 1451 a 36- 51b 12. – Weitere Abgrenzungen bei Plinius 6, 16, 22 zwischen „epistula“ und „historia“, wobei der Brief sozusagen als private Freundessache gesehen wird, die Geschichtsschreibung als für die Allgemeinheit geschrieben. Ähnliche Abgrenzung in der Abstufung von „historia“ zu „epistula“, was die Dignität des Stoffes angeht, 6, 20, 20. „oratio“, „historia“ und „poesis“ differieren in 7, 8, 9: „saepe in oratione quoque non historica modo sed prope poetica descriptionum necessitas incidit.“ Gleichermaßen unterschieden in 5, 19, 3: „idem [der avancierte Freigelassene Zosimus] tam commode orationes et historias et carmina legit.“
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hat sich Plinius sogar bei den Philosophen, „apud sapientes“, sozusagen die gelehrteste Richtschnur geholt, um dadurch sein Vorhaben zu einem Akt der „pietas“ zu machen. Hier könnte nun der Brief enden, da der gute Vorsatz gefaßt ist. Doch die Frage „cur ergo cunctor“ dämpft die Bereitschaft und erfordert eine Erklärung dieses Zauderns. Plinius verweist mit latenter Selbstberühmung auf die großen und bedeutungsschweren Prozesse, die er bisher schon geführt hat: „egi magnas et graves causas.“25 Capito wird verständnisvoll genickt und vielleicht über dieses heimliche Selbstlob geschmunzelt haben. Denn es scheint geradezu um eine schicksalhafte Bestimmung zu gehen, „destino“: Diese großen Prozeßreden sind zur Überarbeitung ausersehen, damit sie veröffentlicht, besser gesagt, verewigt werden können und nicht mit dem Untergang ihres Verfassers auch selbst untergehen. In seiner übertriebenen Bescheidenheit erhofft Plinius sich zwar nur wenig Ruhm von seinen Reden, will aber doch der Nachwelt dokumentieren, welche Strapazen die Ausarbeitung erfordert hat. Das läßt sich eben nur nach Vollendung durch die letzte Hand demonstrieren. Dann nimmt er einen wörtlichen Ausdruck Caesars26, „ratio posteritatis“, zum Anlaß, sentenzartig eine eigene Weisheit zu formulieren. Sie besagt, daß das Nicht-Vollendete für den Nachruhm so viel gilt, als sei es überhaupt nicht angefangen worden. Damit soll wohl einerseits seine Begründung gerechtfertigt und andererseits seine Befürchtung gezeigt werden, es könne seinen Reden ohne diese letzte Feile auch so ergehen. Er mag dabei an alle diejenigen gedacht haben, die ihre unvollendeten Werke vernichtet haben oder zumindest nach ihrem Tod vernichtet haben wollten, ein Wunsch, der nicht immer erfüllt wurde.27 Dabei wird, eher beiläufig, ein bisher noch fehlender bedeutender Geschichtsschreiber ins Blickfeld gerückt. Denn schon in § 4 war die Rede davon, daß Historiographie „quamlibet nuda rerum cognitione capit.“ Das könnte schon eine Anspielung ___________ 25 Vgl. Sherwin-White (wie Anm. 7), S. 43 f. die Zusammenstellung: „Public affairs, res gestae“; vgl. auch Kierdorf (wie Anm. 1), S. 914-916. 26 Caes. civ. 1, 13, 1, den dieser dem Gemeinderat von Auximum (heute Osimo) in den Mund legt, die Attius Varus vor Caesar warnen: „proinde habeat [sc. Atticus] rationem posteritatis et periculi sui“. 27 So etwa bei Vergils Aeneis und Ovids Metamorphosen. Vgl. Vita Verg. 146 ff. „egerat cum Vario, priusquam Italia decederet, ut, si quid sibi accidisset, Aeneida combureret; at is facturum se pernegarat. Igitur in extrema valetudine assidue scrinia desideravit, crematurus ipse. Verum nemine offerente nihil quidem nominatim de ea cavit […]“; vgl. Karl Büchner, P. Vergilius Maro. Der Dichter der Römer, Sonderabdruck der Realencyclopädie der klassischen Alterthumswissenschaft, Stuttgart 1966, S. 40 f. Ovid bemerkt in trist. 1, 7, 13: „carmina mutatas hominum dicentia formas / infelix domini quod fuga rupit opus / haec ego discedens, sicut bene multa meorum, / ipse mea posui maestus in igne manu.“ – Doch es überlebten Abschriften, id. ib. 7, 23 f.: „quae quoniam non sunt penitus sublata, sed extant – pluribus exemplis scripta fuisse reor – nunc precor ut vivant [...].“
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auf Caesar gewesen sein. Denn Cicero hat im „Brutus“ 262 die „commentarii“ Caesars wegen ihrer Nacktheit der Darstellung gewürdigt: „nackt sind sie, schlicht und reizvoll, ohne jeden Schmuck der Rede, wie wenn ein Kleid weggezogen worden ist.“28 Diese Metapher benutzte dann der Cicero-Verehrer Quintilian, inst. 8, 6, 41, wo er von einer „nuda et velut incompta oratio“ spricht. In Kenntnis der Persönlichkeit des Capito sieht Plinius sich nun dessen Einwand gegenüber, den er, wie den eines „interlocutors“, wörtlich vorträgt: „Du kannst ja beides zugleich machen, überarbeiten und Geschichte schreiben“, „potes simul et rescribere actiones et componere historiam.“ In dieser Replik ersetzt „rescribere actiones“ „retractare causas“ und „componere historiam“ „scribere historiam“. Das eine wird durch die Wortwahl etwas herabgesetzt, das andere durch das Verb „componere“ gehoben, ganz im Sinn des zuratenden Capito. Wer das eine tut, braucht das andere nicht zu lassen. Ein lebhaft eingeworfenes „utinam“ soll die Unerfüllbarkeit erfüllbar machen. Plinius sieht sich jedoch davon überfordert. Er glaubt nur eines von beiden angemessen leisten zu können, dem Duktus des Briefes zufolge also die „retractatio“, nicht aber die Historiographie. In dieser Mitte des Textes wäre wiederum ein Ende möglich. Man würde sich an einem abschließenden „vale“ nicht stören, allenfalls an der nur erschließbaren Entscheidung, die allerdings jetzt auf eine Ablehnung hinausliefe. Ein weiterer Rückblick in die eigene Biographie setzt also zu Neuem an. Es geht um eine Überforderung. Stolz berichtet Plinius von seinem ersten öffentlichen Auftritt mit neunzehn Jahren, wobei der Leser sich ja noch daran erinnert, daß er schon viele große und bedeutende Prozesse geführt hat. Nun behauptet er, daß er jetzt erst in ein Stadium seiner Entwicklung komme, wo er wie durch einen dunklen Schleier hindurch sehe, was ein Redner eigentlich zu bieten habe. Er gibt also vor, noch nicht auf dem Höhepunkt der Beherrschung seiner Kunst zu sein. So stellt sich für ihn die Frage, „quid si huic oneri novum accesserit?“ Eine weitere Belastung kann er sich nicht zumuten. Dann entwickelt sich aus der Diskussion mit sich und seinem Adressaten ein Lehrstück darüber, was die beiden Disziplinen, Rede und Geschichtsschreibung, trennt und verbindet. Die Gemeinsamkeiten liegen auf der Hand. Aber schnell wird klargestellt, daß sie doch nicht so eng verbunden sind, wie es scheinen mag. Gemeinsam ist das Erzählen an sich, „narrat illa narrat haec“, unterschiedlich das Was und das Wie. Plinius personifiziert gleichsam die beiden Disziplinen und führt diese Metaphorik im nächsten Paragraphen, wo es um die Unterschiede geht, deutlicher fort. Die Interpreten sind allerdings im Zweifel, welches „haec“ und welches „illa“ zu welcher erzählenden Disziplin gehört. Doch wird es wohl so sein, ___________ 28
„Nudi sunt, recti et venusti, omni ornatu orationis tamquam veste detracta.“
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daß er der „oratio“ als Inhalt die „humilia“, „sordida“ und „e medio petita“ zuweist, also die Rede des „genus iudiciale“ meint, mit dem er sich ja vornehmlich befaßt hat.29 Die „historia“ enthält dagegen „recondita“, „splendida“, „excelsa“ und steht damit, was den Inhalt angeht, zumindest ästhetisch höher.30 Die durch „historia“ gefundenen, in den Zeiten verborgenen Geschehnisse, die zu Glanz und Höhepunkten geführt werden können, stehen juristischer „Schmutzwäsche“, Alltagsstreitereien und niederem Gequengel in der Gerichtsrede gegenüber. Auf dem Forum hat der Redner am Redekörper das Knochengerüst, die Muskeln und die Nerven zu zeigen, muß also den Fall geradezu seziert darstellen, während dies in der Geschichtsschreibung nicht nötig ist. Hier gilt es, die äußeren Zeichen der innewohnenden Kraft zu demonstrieren. Dafür hat Plinius das Bild eines Parade-Pferdes mit der prallen Spannkraft seines Körpers und dem majestätischen Eindruck seiner Mähne vor Augen. Dabei ist es erstaunlich, daß er die Prozeß-Rede, mit der er ja sein Lebenswerk bestritten hat, in solche Niederungen verweist und der Geschichtsschreibung, der er sich bis jetzt enthalten hat, einen derartigen Glanz zuerkennt, so daß er eigentlich gezwungen wäre zu sagen, er habe bisher, was den Glanz betrifft, falsch gewählt. Allerdings spricht er dann seiner Gerichtsrede, wohl als positive Wertung, Durchschlagskraft, erbittertes Ringen und drängende Heftigkeit zu, der Geschichtsschreibung den langen thematischen Zug, den angenehmen und gewinnenden Reiz. Eine abschließende Synkrisis verdeutlicht die Unterschiede. Jede Gattung ist anders in Sprachgebung, Ton und Aufbau. Diese Differenzierung zeigt, daß Plinius offensichtlich nicht das „genus demonstrativum“ und „deliberativum“ mit einbezieht, die natürlich größere Gemeinsamkeiten mit den von ihm genannten Charakteristika der Historiographie haben. Deswegen mutet es etwas gesucht und gelehrt an, wenn er nun noch die griechische Koryphäe der Geschichtsschreibung für seine Unterscheidung bemüht und sie ein wenig gezwungen und nicht im Sinn des Autors appliziert. Er greift auf das berühmte Methodenkapitel des Thukydides zurück, in dem bekanntlich der dauernde Besitz gegen das auf Wirkung angelegte „Kabinettstückchen“ abgesetzt wird, 1, 22, 4: „zum dauernden Besitz, nicht als Prunkstück fürs einmalige Hören.“31 Auch hier ist das „alterum“ – „alterum“ des Plinius nicht ganz klar: „quorum ___________ 29 So schon Nicolaus Eligius Lemaire, C. Plinii Caecilii Secundi Epistolarum libri decem et Panegyricus cum varietate lectionum ac integris adnotationibus ed. Schaefferianae quibus suas addidit, Vol. I., Parisiis 1822, S. 298 z. St; so auch Henry W. Traub, Pliny’s treatment of history in epistolary form, Transactions of the American Philological Association 86 (1956), S. 231-232, bes. S. 220 ff. 30 Weitere Qualitäten, einschließlich der Wahrheit 9, 27, 1: „quanta potestas, quanta dignitas, quanta maiestas, quantumque denique numen sit historiae, cum frequenter alias tum proxime sensi, recitaverat quidam verissimum librum […].“ 31 Georg Peter Landmann, Thukydides. Geschichte des Peloponnesischen Krieges, I. Teil: Buch I-IV, Griechisch-deutsch, übersetzt und mit einer Einführung und Erläuterungen versehen, Darmstadt/München 1993, Bd. I, S. 32 f.
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alterum oratio, alterum historia est.“ Er sieht die Gerichtsrede offenbar als einen situationsgebundenen Auftritt an, als ein „Wettkampfstück“ nur für die augenblicklichen Zuhörer. Schließlich geht er auf das Dilemma ein, in das ihn der Einwand des Capito gebracht hat, daß er doch beides zugleich anpacken solle. Die sich darin äußernde latente Hochschätzung seiner Befähigung mag er genossen haben, doch stuft er das Ansinnen und die Aufgabe als Überforderung ein. Er sieht bei beiden Gebieten jetzt die „dissimilia“, nicht mehr die Gemeinsamkeiten. Sie sind genau in dem Punkt gegensätzlich, wo sie ihre größte Wirkung haben. Daher will er in dieser Anforderungsüberflutung nicht alles durcheinanderbringen. Er sieht die Gefahr, daß er in der „historia“ das leisten würde, was er seinen „orationes“ eigentlich und in erster Linie schuldet. Eine klare Entscheidung trifft er nicht. Er zeigt also die gleiche Haltung, die er dem Kaiser gegenüber als Statthalter von Bithynien einnimmt, sei es aus Höflichkeit, sei es aus mangelnder Sicherheit und Entschlußkraft.32 Allerdings vertritt er diese nicht getroffene Entscheidung durchaus gewitzt: Er greift auf das Prozeßverfahren, seine Domäne, zurück und erbittet, wie dort beim Praetor, so hier bei Capito die „venia advocandi“, also Beratungsaufschub. Schließlich will er nicht endgültig von seinem anfangs geäußerten guten Willen abweichen. Der Auftragsteller Capito selbst wird sofort als ein solcher Berater herangezogen. So hat er kaum die Möglichkeit, Unwillen zu zeigen. Er darf und soll nun für Plinius denken. Es fehlt nämlich noch das Wichtigste: der Stoff der Geschichtsschreibung ist noch nicht geklärt, „quae potissimum tempora adgrediar“, ob es etwa um Zeitgeschichte gehen soll oder nicht. Plinius fragt gar nicht erst nach anderen möglichen Formen, etwa, ob Universalgeschichte gewünscht wird oder Annalen oder eine Monographie. Denn die Zusatzfragen, „vetera et scripta aliis“ oder „intacta et nova“ schränken den Stoff auf diesen Gegensatz ein. Im ersten Fall liegen die Quellen schon vor, da bleibt als Arbeit nur der Vergleich des schon Geschriebenen und eine neue Darlegung. Im zweiten Fall, bei Zeitgeschichte, ist die Sachlage so, daß den Beanstandungen, „offensae“ im Plural, wenig Dank, „gratia“ im Singular, gegenübersteht, verstärkt noch durch „graves“ und „levis“. Aber nur aus gratia entwickelt sich die „gloria“ des Schriftstellers. Es wäre also kein gutes Geschäft, auf das man sich mit den „intacta et nova“ einlassen würde. ___________ 32 Vgl. Plin. epist. 10, 31, 1 „salva magnitudine tua, domine, descendas oportet ad meas curas, cum ius mihi dederis referendi ad te, de quibus dubito.“ 10, 81, 8 „te, domine, rogo, ut me in hoc praecipue genere cognitionis regere digneris […].“ Trajan daraufhin: 10, 82, 1 „potuisti non haerere, Secunde carissime, circa id […] cum propositum meum optime nosses […].“10 ,86, 1 „sollemne est mihi, domine, omnia, de quibus dubito, ad te referre, quis enim potest melius vel cunctationem meam regere vel ignorantiam instruere?“
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Als ob Capito daraufhin zweifelnd die Augenbrauen gehoben habe, fügt Plinius noch eine Begründung hinzu: die zeitgenössische Geschichte sei „a priori“ durch die Verkommenheit der Sitten in so hohem Maß tadelnswert, was man ja bei seinem Freund Tacitus hinreichend lesen könne, daß nur wenig für ein Lob der Zeiten, Taten und Täter übrigbleibe. Mit Horaz glaubt er, daß ein „laudator temporis acti“33 in einer solchen Darstellung kaum zu Wort käme. Zudem würde ein Lob als etwas immer zu Spärliches kritisiert, ein Tadel als etwas immer zu Häufiges angesehen, selbst wenn man für jenes alle Register ziehe und für diesen die leisesten Töne anschlüge. Man könnte wieder mit Horaz kommentieren: „Manchen scheine ich in der Satire allzu scharf zu sein und mein Werk über das Gesetz hinaus zu spannen.“ 34 Dabei geht es bei Horaz um ein nur mäßiges „convicium saeculi“, wobei der Jurist Trebatius Testa um Lösung des Dilemmas gebeten wird. Ebenso wird Plinius in Erinnerung haben, daß im Hinblick auf Asinius Pollio als Historiographen des Bürgerkriegs Horaz auf das hohe Risiko hingewiesen hat: „periculosae opus plenum aleae“, es sei also ein Werk voll mit risikoreichem Würfelspiel.35 Am Schluß seiner Darlegung kehrt Plinius trotzdem zum Optimismus des Anfangs zurück. Er erklärt, daß diese Überlegungen für ihn keine Verzögerung bedeuten. Er habe nämlich im Hinblick auf das Zutrauen, das er selbst zu sich und offensichtlich auch Capito zu ihm habe, genug Mut, die Aufgabe durchzuführen. Zu guter Letzt schiebt er also Capito die entscheidende Aufgabe zu: Er solle den historiographischen Stoff bestimmen, den Plinius dann bearbeiten wolle.36 Denn wenn dieser nicht vorliege, habe er wieder Grund, selbst wenn er zu schreiben bereit sei, zu zögern und die Sache aufzuschieben. Damit kehrt er geschickt wieder zu einer positiven Einstellung zurück, die den Eindruck der unverzüglichen Bereitschaft hinterläßt. Wir wissen aber nichts von einer solchen Themenvorlage Capitos, nichts von einer historiographischen Tätigkeit des Plinius. Das „vale“ am Ende dieses Briefes scheint auch eine „valedictio“ an die Historiographie gewesen zu sein.37 ___________ 33
Hor. ars 173. Hor. sat 2, 1, 1. 35 Hor. carm 2, 1, 6. 36 Krasser (wie Anm. 12) versteht dies als Ehrung für Capito, der als Sachkenner unter zwei Kaisern „ab epistulis“ habe fungieren und folglich über Chancen und Gefahren der Historiographie kompetent habe urteilen können. 37 Freilich, Plinius erhält auch keine Antwort zum Phänomen der intermittierenden Quelle, epist. 4, 30, nachdem er sie gewissermaßen mit all seinen Vermutungen schon dem Adressaten in den Mund gelegt hat. Aus dem Fehlen ergibt sich keine Handhabe zu entsprechenden Folgerungen. Desgleichen liest man keine Antwort zur Erklärung der Gespenstergeschichten in Brief 7, 27, 15 f., die an denselben Adressaten Sura gerichtet ist. 34
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Welchen Sinn hat dann aber dieser Brief? Wenn es kein Zufall der Überlieferung ist, daß wir nichts von einer Antwort des Capito wissen und nichts von Plinius als Geschichtsschreiber hören, dann liegt hier lediglich ein Essay über ein literarisches Thema vor. Er wurde vielleicht durch eine wirkliche Anfrage oder Bemerkung des Capito ausgelöst, es kam aber nie zu einer konkreten Ausführung. Plinius verfaßte einen Brief „de conscribenda historia“, wie Lukian einen Traktat „Wie man Geschichte schreiben soll“38 mit dem Unterschied allerdings, daß auch die Verweigerung mit einbezogen wird. Er will zeigen, wie beschlagen er auf dem Gebiet der Historiographie ist und wie er sich in der literarischen Kritik auskennt. Er teilt mit, daß das Thema schon in seiner Familie abgehandelt wurde, daß er nicht mit den „historiae“ seines Freundes Tacitus in Konkurrenz treten will, es aber wohl könnte, und wie wenig er daran interessiert ist, sich mit Konkurrenz aus alter Zeit und vor allem mit aktuellerer, brisanter Geschichte zu befassen. Vielleicht ist daher dieser Brief auch ein Wink an den Kaiser, ihn nicht mit einem solchen Auftrag zu behelligen. Ihm hat Plinius wohl mit seinem Panegyricus im Jahre 100 n. Chr. genug Weihrauch gestreut. Wenn er 8, 12, 4 berichtet, in dem Buch also, das um 107-108 n. Chr. ediert worden ist, daß Capito aus seiner eigenen Schrift „de exitu illustrium virorum“ rezitiere, so scheint dieser in gewisser Weise zur Selbsthilfe gegriffen und sich wenigstens der biographischen Historiographie gewidmet zu haben. Zu diesem Vortrag dürfte Plinius erleichtert hingegangen sein. Möglicherweise wollte Capito mit seinem Ansinnen aber auch nichts weiter, als Plinius ein Kompliment machen. Dieser wiederum verstand es, daraus einen Brief zu verfassen, der den Bildungshorizont der führenden Gesellschaft entfaltete. Auf politischem Gebiet, zu dem die Historiographie mehr als andere Literaturformen gehört, gab es eine Grenze, die durch das latent autokratische System der Prinzipatsverfassung gegeben war. Die Unbekümmertheit der Darstellung, die in früheren Zeiten durch die „libera res publica“ möglich war, konnte es nicht mehr geben und damit auch keinen uneingeschränkten Weg zur erwünschten gloria durch Geschichtsschreibung. Ersatz bot das Feuilleton, und die Beredsamkeit glänzte in aktuellen Auftritten, den ‚Prunkstücken fürs einmalige Hören‘. Plinius hat aus dieser Situation das Beste gemacht, indem er zu seinem Nachruhm diese Briefe edierte: Ein solches Briefcorpus war insofern etwas Neues in Rom, als noch niemand vor ihm den Prosa-Brief rein literarisch konzipiert und in Buchform veröffentlicht hatte. Als Erfinder derartiger, für die Veröffentlichung bestimmter „Gesellschaftsbriefe“ hat er eine Lücke im Spektrum der Kleinen Formen gefüllt, so wie Phaedrus mit der Fabel, Martial mit dem Epigramm und Statius mit den Gelegenheitsgedichten seiner „Silvae“. ___________ 38 M . D. Macleod, Luciani opera recognovit, Tom. III, libelli 44-68, Oxford, 1980, Nr. 59.
Die alten Reichskreise als Forschungsthema im Kaiserreich Richard Festers Bemühungen um eine Geschichte der Reichskreisverfassung (1907/08)
Von Hans-Christof Kraus, Passau
I. Die Geschichte der alten deutschen Reichskreise, und besonders die der Reichskreisverfassung im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation seit 1500 bzw. seit 1512, hat bis heute, trotz einzelner bemerkenswerter Bemühungen in den vergangenen beiden Jahrzehnten, im allgemeinen wenig Aufmerksamkeit gefunden. Ihre Erforschung ist, wie Helmut Neuhaus 1997 zutreffend feststellte, „im wesentlichen durch die monographische Behandlung einzelne Reichskreise gekennzeichnet. Arbeiten, die einzelne Kreise überschreiten, mehrere oder gar alle Reichskreise unter einem übergreifenden politik-, verfassungs-, verwaltungs-, rechts-, sozial-, wirtschafts- oder militärgeschichtlichen Gesichtspunkt in den Blick nehmen, fehlen ebenso wie eine Gesamtdarstellung der Geschichte der Reichskreise in der Frühen Neuzeit.“1 Dieses Diktum ist weiterhin fast unverändert gültig, denn die Sperrigkeit des von den meisten Fachleuten wenig geliebten Themas2 wie auch der vergleichsweise hohe Forschungsaufwand, der durch die Erschließung und Auswertung massenhafter, dazu oftmals noch dezentral gelagerter archivalischer Quellenbestände bedingt ist, haben zu dieser Forschungslage geführt, und es dürfte abzusehen sein, daß ___________ 1
Helmut Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit, München 1997, S. 91. – Die von Neuhaus anschließend erwähnte bekannte Darstellung von Winfried Dotzauer, Die deutschen Reichskreise in der Verfassung des Alten Reiches und ihr Eigenleben (15001806), Darmstadt 1989, enthält zwar einen knappen, wenn auch fundierten Überblick über die Entwicklung sämtlicher einzelner Reichskreise, liefert allerdings nicht die eigentlich notwendige (und von Neuhaus zu Recht angemahnte) umfassende Zusammenschau der Kreisentwicklung in den drei Jahrhunderten der Frühen Neuzeit. 2 So hat noch kürzlich Axel Gotthard, Das Alte Reich 1495-1806, 3. Aufl. Darmstadt 2006, S. 170, angemerkt, „jene Kreisverfassung“ könne „bei einer ersten Annäherung an das Reich zur Verzweiflung treiben“.
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nicht wenige der vorhandenen Desiderate auch noch in absehbarer Zukunft weiter bestehen werden.3 Es war bisher so gut wie unbekannt, daß vor etwa einem Jahrhundert tatsächlich der Versuch unternommen worden ist, diesem Defizit entschieden abzuhelfen, d. h. nicht nur die monographische Untersuchung und Darstellung einzelner Reichskreise zu fördern, sondern vor allem auch eine zeitgemäße Gesamtdarstellung der Reichskreisverfassung, ihrer Ursprünge und ihrer weiteren historischen Entwicklung, zu erarbeiten. Das hängt mit einer historischen Fehlwahrnehmung zusammen, denn nach einer bis heute weit verbreiteten Auffassung gilt die Geschichtswissenschaft – und damit auch die Verfassungsgeschichte – zur Zeit des wilhelminischen Kaiserreichs als „borussisch“ geprägt, als angeblich unverrückbar fixiert auf die Idee vom vermeintlich „deutschen Beruf“ Preußens, was nach dieser Lesart wiederum zu einer konsequenten Vernachlässigung der Erforschung des alten, 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation geführt habe. Blickt man jedoch auf die sich um und nach 1900 geradezu stürmisch entwickelnde junge Disziplin der deutschen Verfassungsgeschichte4, dann erweist sich diese nachträgliche Deutung (die wiederum eher etwas mit den antiborussischen Ressentiments der zweiten Nachkriegszeit5 als mit korrekter historiographiegeschichtlicher Analyse zu tun hat) als in jedem Fall unzutreffend. Denn nicht nur bei Historikern, sondern ebenfalls unter den Juristen stieg in dieser Zeit das Interesse an der Geschichte, an den Rechtsformen und Institutionen der alten Reichsverfassung deutlich an; nicht zufällig erschien in dieser Zeit in mehreren Auflagen die bald weithin bekannte, von der historischen und der rechtsgeschichtlichen Forschung stark beachtete und nicht weniger intensiv benutzte Quellensammlung von Karl Zeumer6 ebenso wie die erste, zwar insgesamt knappe, ihren Schwerpunkt im Mittelalter setzende, der Reichsentwicklung aber im allgemeinen breiten Raum gewährende Gesamtdarstellung der ___________ 3
Einen knappen, aber sehr instruktiven und kenntnisreichen Überblick über die ältere und neuere Forschung vermittelt Thomas Nicklas, Macht oder Recht. Frühneuzeitliche Politik im obersächsischen Reichskreis, Stuttgart 2002, S. 18-26. 4 Vgl. hierzu im Überblick jetzt die Darstellung von Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900-1970, München 2005, S. 55-113; zu dieser in mancher Hinsicht nicht unproblematischen Arbeit siehe auch meine Rezension in: Zeitschrift für Politik 52 (2006), S. 490-493. 5 Dazu überaus treffend: Friedrich Sieburg, Die Lust am Untergang. Selbstgespräche auf Bundesebene, Hamburg 1954, S. 100 f., S. 137 f. 6 Karl Zeumer (Hg.), Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, 1. Aufl. Tübingen 1904, 2. Aufl. 1913 u. ö. – Seit 1900 gab Zeumer außerdem die Reihe der „Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit“ heraus.
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deutschen Verfassungsgeschichte von Andreas Heusler.7 Ihnen wiederum sollten recht bald schon die ersten wissenschaftlichen Spezialdarstellungen der mittelalterlichen wie auch der neuzeitlichen Verfassungsgeschichte Deutschlands in den Grundrissen von Aloys Meister8 und Fritz Hartung9 folgen. Und mit der seinerzeit maßgebenden, bis heute grundlegenden juristischen Habilitationsschrift von Rudolf Smend begann in diesen Jahren ebenfalls die wissenschaftliche Erforschung einer der wichtigsten Institutionen des Alten Reiches, des Reichskammergerichts.10 Bedenkt man diesen Zusammenhang, dann ist die Tatsache nur wenig verwunderlich, daß schon bald nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auch die Reichskreise in das Blickfeld der historischen Forschung gerieten. Hier sah die Forschungslage allerdings besonders trostlos aus; im Grunde gab es bis dahin nur eine einzelne neuere Spezialstudie, die Ernst Langwerth von Simmern im Jahr 1896 zu den Anfängen der Kreisverfassung unter Maximilian I. und zur Frühgeschichte des schwäbischen Kreises vorgelegt hatte.11 Freilich hatte diese Arbeit seinerzeit nicht unbedingt den Beifall der Forschung gefunden. Kein Geringerer als Karl Brandi nahm sich den Band in den „Göttingischen Gelehrten Anzeigen“ auf nicht weniger als elf Druckseiten vor, um ihn von Anfang bis Ende gnadenlos zu verreißen.12 Nur in einer Hinsicht nahm sich der Rezensent etwas zurück, wenn er am Schluß seines Rezensionsaufsatzes feststellte: „Allein über die Reize des Stoffes wird man sich hüten mit dem Verf. zu rechten; man wird es ihm vielmehr gern als dankenswerte Entsagung anrechnen, sich in diese ödesten aller Aktenstöße vertieft zu haben, und wenn sich ein Historiker die Mühe nicht verdrießen ließe, unter Benutzung des hier gebotenen reichen Materials die Geschichte der Kreisverfassung im XVI. Jahrhundert knapp und anschaulich darzustellen, so würde auch für weitere Kreise der gelehrten Welt die aufopfernde Arbeit des Verfassers nicht umsonst sein.“13 Selbst der so kritische Rezensent Brandi erkannte also – bei aller deutlich ausgesprochenen Ab___________ 7
Andreas Heusler, Deutsche Verfassungsgeschichte, Leipzig 1905. Aloys Meister, Deutsche Verfassungsgeschichte von den Anfängen bis ins 15. Jahrhundert, Leipzig/Berlin 1907. 9 Fritz Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Leipzig/Berlin 1914. 10 Rudolf Smend, Das Reichskammergericht, Weimar 1911; vgl. die Einschätzung dieser Studie bei Neuhaus, Das Reich (wie Anm. 1), S. 98. 11 Ernst Langwerth von Simmern, Die Kreisverfassung Maximilians I. und der schwäbische Reichskreis, Heidelberg 1896. 12 Karl Brandi, Besprechung von: Ernst Langwerth von Simmern, Die Kreisverfassung Maximilians I. und der schwäbische Reichskreis, Heidelberg 1896, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen, 160/I (1898), S. 787-798; vgl. dazu auch die Bemerkungen bei Nicklas, Macht oder Recht (wie Anm. 3), S. 18. 13 Brandi, Besprechung von: Ernst Langwerth von Simmern (wie Anm. 12), S. 798. 8
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neigung gegen das Thema – die Notwendigkeit an, sich mit dem Gegenstand der Reichskreisverfassung künftig noch eingehender beschäftigen zu müssen.
II. Doch nicht von Brandi, sondern von einem anderen, in dieser Zeit bereits in der historischen Zunft arrivierten Historiker ging der einzige ernsthafte während des Kaiserreichs unternommene Anstoß aus, sich des Themas der Reichskreisverfassung ausführlich und mit moderner wissenschaftlicher Fragestellung anzunehmen: von Richard Fester (1860-1945).14 Der aus Frankfurt am Main stammende Historiker hatte nach einem an den Universitäten Heidelberg, München, Straßburg und Berlin absolvierten Studium im Jahr 1886 an der damaligen Reichsuniversität im Elsaß promoviert, und zwar als Schüler von Hermann Baumgarten, der in jener Zeit nicht nur als Historiker der neueren Geschichte Spaniens, sondern auch als entschieden liberal eingestellter Publizist der Reichsgründungzeit bekannt war. Neben dem Straßburger Baumgarten zählten auch Heinrich von Treitschke in Berlin und besonders Bernhard Erdmannsdörffer in Heidelberg zu Festers wichtigsten und prägenden akademischen Lehrern. Im Jahr 1893 habilitierte er sich, wie seinerzeit üblich, an einer anderen Universität: bei Karl Theodor Heigel in München. Nach einigen Jahren als Mitarbeiter der Badischen Historischen Kommission erhielt Fester 1896 eine Stelle als außerordentlicher Professor an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen, wo er bereits 1899 zum Ordinarius befördert wurde. 1907 wechselte er an die Universität Kiel, und bereits ein Jahr später folgte er einem Ruf an die Universität Halle, der er bis zum Ende seiner akademischen Laufbahn im Jahr 1926 treu blieb. Tatsächlich wurde er in diesem Jahr „aus politischen Gründen“, wie es heißt, zwangsemeritiert15, was mit seiner entschiedenen Gegnerschaft zur Weimarer Republik zusammenhängt. Nach 1933 entwickelte er sich zum überzeugten Anhänger des nationalsozialistischen Regimes, dem er nicht nur mit diversen einschlägigen Publikationen, sondern auch in verschiedenen ___________ 14 Vgl. neben den zeitbedingt knapp gehaltenen Nachrufen von Fritz Hartung, Nekrolog Richard Fester, in: Historische Zeitschrift 169 (1949), S. 446 f., und Walter Goetz, Nekrolog Richard Fester, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1949, München 1950, S. 101-103, ebenfalls abgedruckt in: derselbe, Historiker in meiner Zeit. Gesammelte Aufsätze, Köln/Graz 1957, S. 373-375, sodann die bio-bibliographischen Anmerkungen bei Wolfgang Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Lehrstuhlinhaber für Geschichte von den Anfängen des Faches bis 1970, 2. Aufl. Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris 1987, S. 143. – Siehe auch unten, Anm. 19. 15 Vgl. die entsprechende Angabe bei Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft (wie Anm. 14), S. 144.
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akademischen Funktionen zu dienen versuchte, etwa als Beiratsmitglied von Walter Franks „Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands.“16 Bereits in seinen ersten – vermutlich vor allem von Erdmannsdörffer angeregten – historischen Forschungsarbeiten, der Dissertation über „Die armierten Stände und die Reichskriegsverfassung“ von 1886 und der 1893 publizierten Münchner Habilitationsschrift über die Augsburger Allianz von 168617, war Fester auf das Thema der Reichskreise gestoßen, und mit großem Nachdruck hatte er gerade im Vorwort der letztgenannten Arbeit auf die Notwendigkeit weiterer künftiger Forschungsarbeiten zu diesem Gegenstand hingewiesen.18 Doch erst in seiner Erlanger Zeit zwischen 1896 und 190719 konnte er darangehen, das schon in seinen Grundzügen formulierte Forschungsprogramm wenigstens im Rahmen eines regional abgegrenzten Teilprojekts auf den Weg zu bringen. Denn 1905 war auch in Franken endlich eine regionale historische Kommission gegründet worden, die Gesellschaft für fränkische Geschichte, zu deren Gründungsmitgliedern, wie zu erwarten, der Erlanger Ordinarius Richard Fester gehörte.20 Die auf den 3. März 1905 datierte Gründungsdenkschrift der Gesell___________ 16
Vgl. dazu Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966, bes. S. 496 ff. u. a. 17 Richard Fester, Die armierten Stände und die Reichskriegsverfassung (16811697), phil. Diss. Straßburg 1886; derselbe, Die Augsburger Allianz von 1686, München 1893. 18 Vgl. Fester, Die Augsburger Allianz (wie Anm. 17), S. VI: „Es sind jetzt zehn Jahre her, daß Erdmannsdörffer in der constituirenden Versammlung der badischen historischen Kommission die Herausgabe einer Geschichte der schwäbischen Kreistage im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert angeregt hat, in der Hoffnung dadurch auch in andern Kreisen analoge Forschungen hervorzurufen, leider vergeblich. Über kurz oder lang wird man jedoch darauf zurückkommen müssen. Die Lösung der Aufgabe für einen ausgedehnten Zeitraum übersteigt die Kräfte eines Einzelnen, fällt aber ganz in den Rahmen der Arbeiten unsrer verschiedenen historischen Kommissionen, für Franken der bairischen, für Schwaben der seit kurzem ins Leben gerufenen württembergischen noch mehr wie der badischen und für eine Geschichte der oberrheinischen Union der preußischen Archivverwaltung. Wenn man da oder dort einen Anfang machte, würde ich dies als schönsten Lohn meiner Arbeit betrachten“. 19 Zu Richard Festers Jahren an der Friedrich-Alexander-Universität vgl. auch Waltraud Riesinger/Heidrun Marquard-Rabiger, Die Vertretung des Faches Geschichte an der Universität Erlangen von deren Gründung (1743) bis zum Jahr 1933, in: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 40 (1980), S. 177-259, hier S. 225-231, sowie, mit scharfer Pointierung, auch zu Festers politischen Auffassungen und Publikationen, Axel Gotthard, Neue Geschichte 1870-1970, in: Helmut Neuhaus (Hg.), Geschichtswissenschaft in Erlangen, Erlangen/Jena 2000, S. 106 ff., S. 114 ff. 20 Vgl. Alfred Wendehorst, Hundert Jahre Gesellschaft für Fränkische Geschichte, in: Erich Schneider (Hg.), Nachdenken über fränkische Geschichte. Vorträge aus Anlass des 100. Gründungsjubiläums der Gesellschaft für fränkische Geschichte, Neustadt/Aisch 2005, S. 11-37, zur Gründungsgeschichte bes. S. 12; siehe zum Zusammenhang ebenfalls Alfred Wendehorst (Hg.), Dokumente zur Geschichte der Gesellschaft für
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schaft enthielt in nicht weniger als 16 Punkten ein höchst anspruchvolles Forschungsprogramm, und die Vermutung dürfte nicht unbegründet sein, daß Punkt 9 auf die Anregung Festers zurückging: „Ein von den Fachmännern seit langem gehegter Wunsch geht auf die Erforschung der Geschichte und Organisation des fränkischen Kreises, über den die Forscher des achtzehnten Jahrhunderts besser unterrichtet waren als wir heutzutage. Es wird sich dabei um die Bearbeitung der in vollständigen Reihen erhaltenen Akten der Kreistage und der Korrespondenzen der Kreisobersten und Ajunkten handeln, besonders im Hinblick auf die Verwaltung der Kreisfinanzen, auf die Kreispolizei und die Kreistruppen.“21 Fester ergriff umgehend die Initiative: Schon am 26. September 1905 hielt er im Rahmen der Jahreshauptversammlung der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine in Bamberg einen ausführlichen Vortrag zum Thema „Franken und die Kreisverfassung“, den er alsbald in erweiterter Form als erstes Heft der von der Gesellschaft für Fränkische Geschichte herausgegebenen „Neujahrsblätter“ publizierte, um „unserer Gesellschaft und ihren Arbeiten in weiten Kreisen Freunde zu erwerben“. Da, wie es im Vorwort weiter heißt, „die Kreisgeschichte [...] die Gesellschaft lange Jahre in Anspruch nehmen“ werde, könne es „nur erwünscht sein, daß unser Arbeitsprogramm gleich zu Beginn in dieser Weise vor aller Augen festgelegt wird.“22 Nach einem einführenden Überblick über das Gesamtthema, in dem der Autor nicht nur einen Abriß der fränkischen Kreisgeschichte gab, sondern auch bereits die Probleme einer näheren Erforschung dieses Themas knapp skizzierte23, berichtete er im Anhang auch über die Ergebnisse einer von ihm selbst unternommenen Archivreise nach Bamberg, Würzburg, Nürnberg und München, um, wie er es formulierte, „sowohl unseren Mitarbeitern als unseren Mitgliedern einen Begriff von dem Umfang der ganzen Arbeit zu geben. Wir wollen einer unserer Hauptaufgaben energisch zu Leibe rücken, und wir wollen sie uns nicht über den Kopf wachsen lassen.“24 ___________ Fränkische Geschichte und ihres Umfeldes 1905-1961, Würzburg 2006, S. 9-28; eine Liste der Gründungsmitglieder findet sich auf S. 17. 21 Wendehorst (Hg.), Dokumente zur Geschichte der Gesellschaft für Fränkische Geschichte (wie Anm. 20), S. 13 f. 22 Beide Zitate: Richard Fester, Franken und die Kreisverfassung, Würzburg 1906, S. V. 23 Vgl. ebenda, S. 1-30. 24 Ebenda, S. V f.; Festers „Summarisches Inventar der Kreisakten“ ist im Anhang abgedruckt, ebenda, S. 31-76. – In seinem Fester-Nachruf in der Historischen Zeitschrift sollte Fritz Hartung noch Jahrzehnte später feststellen, gerade von diesem Vortrag aus dem Jahr 1906 seien „starke Anregungen zur Erforschung der Geschichte der Reichskreise und der späteren Reichsverfassungsgeschichte überhaupt ausgegangen“; Hartung, Nekrolog Richard Fester (wie Anm. 14), S. 447.
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Nun stellte sich die Frage: Wer sollte diese Arbeit übernehmen? Nach Lage der Dinge kam nur ein jüngerer Historiker mit Archiverfahrung und verfassungsgeschichtlicher Kompetenz in Frage, und dieser ließ tatsächlich nicht lange auf sich warten. Nachdem die Finanzierung des Vorhabens gesichert schien, wandte sich die Gesellschaft (vielleicht tat es sogar Fester selbst) an den angesehenen Berliner Ordinarius Max Lenz mit der Bitte um Empfehlung eines für diese Aufgabe geeigneten jüngeren Forschers. Tatsächlich tat Lenz einen Glücksgriff, indem er einen seiner eigenen Schüler empfahl, der soeben – allerdings nicht bei ihm selbst, sondern bei Otto Hintze – mit einer beachtlichen verfassungs- und verwaltungsgeschichtlichen Arbeit, dazu noch zu einem fränkischen Thema, promoviert worden war: Fritz Hartung.25 Im Alter von erst 22 Jahren hatte Hartung 1905 eine für damalige Verhältnisse recht umfangreiche (nicht weniger als knapp 300 Druckseiten umfassende) und bald auch als eigene Monographie bei einem angesehenen Wissenschaftsverlag publizierten Studie über „Hardenberg und die preußische Verwaltung in Ansbach-Bayreuth von 1792 bis 1806“ vorgelegt, die fast vollständig aus den Akten gearbeitet war.26 Hartung, der nach Abschluß seines Studiums von seinem eigentlichen Doktorvater Hintze offensichtlich keine weitere Förderung erfuhr, nahm das durch Max Lenz vermittelte Angebot, in die Dienste der Gesellschaft für fränkische Geschichte zu treten, um die Geschichte des fränkischen Reichskreises nach dem von Fester bereits skizzierten Programm zu schreiben, umgehend an.27 Die ihm so unerwartet dargebotene Chance zur weiteren wissenschaftlichen Qualifikation ergriff Hartung nicht nur deshalb, weil ihn das Thema interessierte, sondern bereits mit Blick auf eine mögliche Habilitation an der Erlanger Friedrich-Alexander-Universität. Schon im Mai 1906 siedelte er von Berlin nach Bamberg über, wo er sofort mit der Archivarbeit begann, und im September 1906 konnte der junge Historiker seinem Mentor mitteilen: „In den fränkischen Archiven bin ich mit großer Liebenswürdigkeit aufgenommen worden und die ehrsamen Stadtschreiber haben sich ungeheuer angestrengt, alle meine Wünsche zu erfüllen“; doch freilich hatte er auch erste negative Ergebnisse zu vermelden: so habe er etwa „aktenmäßig festgestellt, daß die Rothenburger Reichs- und Kreistagsakten auf Befehl eines k. Stadt Kommissariats 1807 als ___________ 25 Den bisher besten Überblick zu Leben und Werk hat Hartungs letzter Assistent an der Berliner Akademie der Wissenschaften geliefert: Werner Schochow, Ein Historiker in der Zeit – Versuch über Fritz Hartung (1883-1967), in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 32 (1983), S. 219-250; vgl. auch Grothe, Zwischen Geschichte und Recht (wie Anm. 4), S. 105-138 u. passim. – Eine Edition der wissenschaftlichen Korrespondenz Hartungs wird vom Verfasser vorbereitet. 26 Fritz Hartung, Hardenberg und die preußische Verwaltung in Ansbach-Bayreuth von 1792 bis 1806, Tübingen 1906. 27 Vgl. Bundesarchiv Koblenz, künftig zitiert: BAK, N 1107 (Nachlaß Richard Fester), Nr. 104 (Fritz Hartung an Richard Fester, 20.2.1906, 13.3.1906).
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Makulatur verkauft worden“ seien.28 Doch insgesamt waren die Materialberge unerschöpflich, und Hartung arbeitete sich in den folgenden Monaten mit erstaunlicher Energie und einer bemerkenswerten Zielstrebigkeit durch die Aktenstöße in den fränkischen und bayerischen Archiven: nach Bamberg kamen Nürnberg, Würzburg und München an der Reihe, anschließend siedelte er für mehrere Monate nach Wien über, um auch das dort vorhandene reichhaltige Material im Haus-, Hof- und Staatsarchiv einzusehen und auszuwerten.
III. Eine gravierende Veränderung trat allerdings zu Anfang 1907 ein, als Fester einen Ruf nach auswärts, an die Universität Kiel annahm.29 Denn nun übernahm Anton Chroust30, der mehrere Jahrzehnte der „starke Mann“ der Gesellschaft für fränkische Geschichte bleiben sollte, die Oberleitung des von Hartung bearbeiteten Projekts. Der aus Österreich stammende, weniger für herausragende Forschungsleistungen, dafür aber für sein stark ausgebildetes Selbstbewußtsein und besonders für seine ausgeprägte Streitlust nur allzu bekannte Würzburger Ordinarius geriet denn auch bereits bald mit dem – an und für sich umgänglichen und schon im Interesse eigenen beruflichen Fortkommens durchaus friedlichen – jungen Hartung aneinander. Als dieser um seine soeben neu erlangte Stellung zu fürchten begann und dem bisherigen Mentor Fester, zu dem er inzwischen auch einen persönlichen Zugang gefunden hatte, sein Leid klagte31, machte ihn dieser im April 1907 mit seinem offenbar bereits länger gehegten Plan bekannt, eine Gesamtdarstellung der Reichskreisverfassung erarbeiten zu lassen. Hartung reagierte mit verhaltener Begeisterung und versäumte es nicht, sich selbst – wenn auch nur in der Form vorsichtiger Andeutungen – als möglichen Bearbeiter ins Spiel zu bringen.32 Fester scheint an___________ 28
BAK, N 1107, Nr. 104 (Fritz Hartung an Richard Fester, 18.9.1906; vgl. auch Hartungs Briefe vom 16.10.1906, 26.11.1906, 26.12.1906, 9.1.1907, 23.2.1907). 29 Vgl. Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft (wie Anm. 14), S. 143. 30 Vgl. Wendehorst, Hundert Jahre (wie Anm. 20), S. 12 ff., sowie Peter Herde, Anton Chroust – Mitbegründer der Gesellschaft für fränkische Geschichte. Ein österreichischer Historiker im deutschen akademischen Umfeld von der wilhelminischen Zeit bis zum Nationalsozialismus, in: Schneider (Hg.), Nachdenken über fränkische Geschichte (wie Anm. 20), S. 39-56. 31 Vgl. etwa BAK, N 1107, Nr. 104 (Fritz Hartung an Richard Fester, 18.3.1907). 32 Leider sind nur sehr wenige Briefe Festers an Hartung in dessen Nachlaß erhalten, daher ist man vor allem für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auf Hartungs Gegenbriefe angewiesen. Eine entsprechende Mitteilung Festers jedenfalls geht deutlich aus Hartungs Antwortbrief an Fester vom 27.4.1907 (BAK N 1107, Nr. 104) hervor, in dem es – nach einer Schilderung neuer Querelen mit Chroust – heißt, er begrüße „mit umso größerer Freude [...] Ihren Plan oder ‚Traum‘, wie Sie es nennen, Verfassung und Entste-
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gedeutet zu haben, daß er, als soeben bestallter königlich preußischer Ordinarius in Kiel, bereits einen entsprechenden Förderungsantrag an das Berliner Kultusministerium zu stellen im Begriff war – anders ist Hartungs Anspielung auf den berühmten, für das Hochschul- und Forschungswesen in jenem Ministerium zuständigen Ministerialdirektor im gleichen Brief: „Hoffentlich macht Ihnen Althoffs Gesundheit keinen Strich durch die Rechnung“33, nicht zu verstehen. Um so erfreuter reagierte Hartung, als er schon einen Monat später die (von ihm wohl insgeheim erwartete) Nachricht aus Kiel erhielt, er selbst sei von Fester als Bearbeiter des Vorhabens vorgesehen.34 Nachdem der Bearbeiter gefunden war, zögerte Fester nicht mehr lange: Unmittelbar nach dem Ende des Sommersemesters reichte er im August 1908 beim Berliner Kultusministerium seinen Antrag in Form einer „Denkschrift über die Bearbeitung einer Geschichte der Reichskreisverfassung“ ein.35 Fester, der immerhin auf nicht unbedeutende eigene Vorarbeiten zurückgreifen konnte, zeigt in seinem Text eine präzise Vertrautheit mit dem Thema und seinen Problemen; es gelingt ihm nahezu mühelos zu zeigen, warum es sich bei dem Thema der Reichskreisverfassung um ein besonders dringendes Desiderat der historischen – und besonders der verfassungsgeschichtlichen – Forschung handelt. Nicht ungeschickt bezeichnet er die „Kreisverfassung Maximilians“ als den „Kitt des Reiches bis zu seiner Auflösung“, und er versteht es zudem, auch eine aktuell-politische, zeitgeschichtliche Note einfließen zu lassen, wenn er anmerkt: „Zu schwach, um die Entwicklung der triebkräftigen Territorien aufzuhalten, sind die unter Maximilian consolidierten Institutionen des Reiches stark genug, das völlige Auseinanderfallen der Teile zu verhüten. Sie erhalten in einer confessionell gespaltenen Nation das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das die Italiener ohne dieses Band der Continuität ihrer ungebrochenen Cultur verdanken sollten. Sie ermöglichen das in diesem Zusammenhang nicht zu unter___________ hung sämtlicher Reichskreise bearbeiten zu lassen. Ich sehe dabei von persönlichen Neigungen oder Abneigungen ganz ab, und ziehe nur die sachlichen Gründe in Erwägung, die für Ihren Plan sprechen. Ich widerstehe nur mit Mühe der Versuchung, Ihnen meine Ideen zu schreiben über die Ausführung einer derartigen Arbeit; [...] eine derartige Darstellung würde schon erheblich den Rahmen eines Briefes überschreiten und den Umfang einer Denkschrift annehmen“. 33 Ebenda. – Friedrich Althoff, als Ministerialdirektor im preußischen Kultusministerium ein legendär gewordener Förderer der Wissenschaften, verstarb am 20.10.1908; vgl. Arnold Sachse, Friedrich Althoff und sein Werk, Berlin 1928, S. 61; Bernhard vom Brocke, Friedrich Althoff, in: Berlinische Lebensbilder, Bd. 3: Wissenschaftspolitik in Berlin, hg. v. Wolfgang Treue/Karlfried Gründer, Berlin 1987, S. 195-214, hier S. 204. 34 Vgl. BAK, N 1107, Nr. 104 (Hartung an Fester, 13.5.1907); er bezieht sich dabei auf einen (nicht erhaltenen) Brief Festers an ihn vom 11.5.1908. 35 Die „Denkschrift“ ist erhalten in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem, künftig zitiert: GStA PK, I. HA, Rep. 76 Vc, Sekt. 1, Tit. XI, Teil V B, Nr. 46 [unpaginiert]; ein Entwurf findet sich in: BAK, N 1107, Nr. 104. – Das Original ist unten im Anhang A. vollständig abgedruckt.
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schätzende Interregnum des Bundestages als des Übergangs zu der territorialen Neubildung des deutschen Reiches unter Preußens Führung“.36 Als möglicher Bearbeiter wurde bereits Fritz Hartung vorgeschlagen.37 Doch Fester beging bei der Formulierung seiner Mischung aus Denkschrift und Antrag auch einige taktische Fehler, so etwa, wenn er gleich zu Beginn mit einem Vergleich seines Anliegens mit der Erforschung des nachrepublikanischen Roms seit Augustus eindeutig zu hoch griff. Und mit seiner Bemerkung, man dürfe sich „nicht nachsagen lassen wollen, daß in Deutschland für die römische Kaiserzeit mehr geschieht als für die Geschichte des römischen Reiches deutscher Nation“38, konnte er nicht hoffen, überall auf vorbehaltlose Zustimmung zu stoßen. Zweitens vermochte er sein Projekt nicht klar von den bereits seit Jahrzehnten mit großem personellen und finanziellen Aufwand von der Münchner Historischen Kommission herausgegebenen Deutschen Reichstagsakten abzugrenzen, und drittens – vielleicht Festers entscheidender Fehler – unterblieb nicht nur eine klare zeitliche Begrenzung des Vorhabens, sondern es hieß sogar klipp und klar, ein Abschluß der von ihm vorgeschlagenen Bearbeitung dieses Themas sei bisher „nicht vorauszusehen“.39 Welche staatliche Gelder verteilende Institution hätte bereits damals einen solchen Antrag vorbehaltlos befürworten können? Im preußischen Kultusministerium reagierte man zuerst allerdings erstaunlich positiv, indem man zum einen die Berliner Akademie der Wissenschaften „um umgehende Äußerung“40 zu dem Festerschen Antrag bat; gleichzeitig beantragte man zum anderen bereits beim Finanzminister die von Fester in seiner Denkschrift erbetene „erste Rate“ der Finanzierungssumme von immerhin 10000 Mark. Es handele sich bei Festers Vorhaben, hieß es in dem Brief an den Finanzminister ausdrücklich, „um ein Unterfangen von hoher nationaler Bedeutung, das dazu dienen soll, ein wichtiges Stück unsrer vaterländischen Geschichte, das bisher völlig im Dunkel lag, aufzuklären.“41 Die Akademie meldete sich, übervorsichtig, erst am 3. September, und dann auch nur mit einem vor___________ 36
Beide Zitate: GStA PK, I. HA, Rep. 76 Vc, Sekt. 1, Tit. XI, Teil V B, Nr. 46 (Denkschrift Richard Festers, 9.8.1908). 37 Vgl. ebenda: Fester hob hervor, „daß nur eine bewährte Kraft wie etwa Dr. Hartung, der 1908 den ersten Band der fränkischen Publikation beendet, im Stande ist, die complicierte Aufgabe zu bewältigen und die Fülle des Materials nach den Grundsätzen, die auch für die fränkische Publikation festgestellt wurden, zu comprimieren“. 38 Ebenda. 39 Ebenda. 40 GStA PK, I. HA, Rep. 76 Vc, Sekt. 1, Tit. XI, Teil V B, Nr. 46 (Kultusministerium an Akademie der Wissenschaften, 25.8.1907, Entwurf). 41 GStA PK, I. HA, Rep. 76 Vc, Sekt. 1, Tit. XI, Teil V B, Nr. 46 (Kultusministerium an Finanzminister, 25.8.1907, Entwurf); es heißt, ebenda, weiter: „Die auf jährlich 10000 M berechneten Kosten des Unternehmens dürften nicht zu hoch bemessen sein“.
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läufigen Bescheid, denn: „Bei einem Projekt von so unübersehbaren Dimensionen ist indes eine gründliche Prüfung durch die zuständige Klasse von nöten, welche erst im Oktober in die Verhandlung wird eintreten können. Nach derselben wird die Akademie so schleunig wie möglich berichten.“42 Man ließ sich immerhin zwei Monate Zeit, denn erst am 4. November legte die Akademie, seinerzeit immerhin die angesehenste wissenschaftliche Korporation im Deutschen Reich43, ihr Gutachten vor.44 Unterzeichnet war es, entsprechend den Gebräuchen der Akademie, nicht etwa vom Verfasser, sondern von den beiden Klassensekretaren, dem klassischen Philologen Hermann Diels, dem Astronomen Wilhelm Waldeyer sowie von ihren jeweiligen Stellvertretern, dem Astronomen Arthur Auwers und dem klassischen Philologen Johannes Vahlen.45 Die Akademie vermisse in der Festerschen Denkschrift, hieß es darin gleich zu Anfang, „daß das Verhältnis nicht erörtert wird, in welchem die geplante Publikation zu der von der historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften veranlaßten, seit Jahrzehnten im Gange befindlichen Edition der ‚deutschen Reichstagsakten‘ zu stehen haben würde“, denn gerade in den schon erschienenen Bänden liege „bereits eine große Fülle des einschlägigen Materials“ vor. Ein zweites Bedenken wurde „im Hinblick auf die spätere Geschichte der Kreisverfassung“ geltend gemacht, denn hier sei „die Entwickelung [...] in jedem einzelnen Reichskreise eine verschiedene gewesen.“46 Aus diesem Grund könnten allenfalls, wenn überhaupt, regional abgegrenzte Einzeldarstellungen zu den jeweiligen Reichskreisen als sinnvolle Forschungsprojekte bezeichnet werden47; und eine „Lösung der Aufgabe unter ___________ 42
GStA PK, I. HA, Rep. 76 Vc, Sekt. 1, Tit. XI, Teil V B, Nr. 46 (Akademie der Wissenschaften an Kultusminister, 3.9.1907); unterzeichnet hatten die beiden Klassensekretare Wilhelm Waldeyer und Hermann Diels. 43 Vgl. dazu etwa aus der neuesten Forschung die Beiträge in: Jürgen Kocka/Rainer Hohlfeld/Peter Th. Walther (Hg.), Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich, Berlin 1999. 44 Im folgenden zitiert nach dem Original in: GStA PK, I. HA, Rep. 76 Vc, Sekt. 1, Tit. XI, Teil V B, Nr. 46 (Gutachten der Akademie der Wissenschaften für den Kultusminister, 4.11.1907). 45 Diese Angaben nach Erik Amburger, Die Mitglieder der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1700-1950, Berlin 1950, S. 8 f., S. 29-31. 46 Alle Zitate: GStA PK, I. HA, Rep. 76 Vc, Sekt. 1, Tit. XI, Teil V B, Nr. 46 (Gutachten der Akademie der Wissenschaften für den Kultusminister, 4.11.1907). 47 Vgl. ebenda: „Diese Verschiedenheit der einzelnen Kreise in ihrer weiteren Entwickelung scheint auf den Weg gesonderter Behandlung hinzuweisen. Es ist also nicht abzusehen, weshalb nicht für die späteren Zeiten (nachdem mit der Exekutionsordnung von 1555 die Grundzüge der Kreisverfassung allgemein vorgezeichnet waren) die Veranstaltung von Einzelpublikationen den territorialen ‚historischen Kommissionen‘ oder sonstigen gelehrten Vereinigungen (‚landesgeschichtlichen Publications-Instituten‘) überlassen bleiben soll, soweit sich die Aufgabe nach den Besonderheiten des Kreisgebietes überhaupt lohnen mag“.
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Arbeitsteilung und auf territorialer Grundlage dürfte auch deshalb sich empfehlen, weil es unerläßlich sein wird, in den Bereich der Forschung die schwierigen, komplizierten Materien des Münzwesens, der Zoll- und Schiffahrtsordnungen usw. hineinzuziehen, die überall sich nur im engen Zusammenhange mit der Politik der Territorien fruchtbar behandeln lassen.“48 Schließlich meinte der Verfasser des Gutachtens, bei dem es sich zweifellos nur um einen mit der Materie sehr gut vertrauten Neuzeithistoriker handeln konnte, Festers Auslassungen „über die Vernachlässigung der letzten drei Jahrhunderte der Reichsverfassung“ durch die Wissenschaft unter Hinweis auf die Studie von Langwerth von Simmern49 als „übertrieben“ bezeichnen zu können. Ebenfalls erscheine „die Vergleichung nicht gerade glücklich zwischen so tragfähigen Schöpfungen wie dem Prinzipat des Augustus, und den kümmerlichen, fast überall versagenden Ordnungen eines absterbenden Körpers, als der das heilige römische Reich deutscher Nation in seinen letzten Jahrhunderten sich kennzeichnet“. Trotz dieser letzten, etwas harschen Formulierungen wurde Festers Anliegen jedoch nicht vollständig abgeschmettert: Man empfahl die Bearbeitung der „Vor- und Entstehungsgeschichte der Kreisverfassung“ auf der Grundlage des bereits in den Deutschen Reichstagsakten publizierten Materials und regte zudem eine landesgeschichtliche Erforschung der Reichskreise an. Der Verfasser des Akademiegutachtens verschloß sich allerdings einer weitergehenden Perspektive nicht, wenn es am Ende der Stellungnahme ausdrücklich hieß: „Die Akademie hält es nicht für ausgeschlossen, daß eine nochmalige und eingehendere Begründung des von Herrn Fester vorgetragenen Projektes neue Gesichtspunkte ergeben könnte. So aber, wie sie jetzt substanziiert ist bietet die Denkschrift für einen Antrag auf Bewilligung einer laufenden Jahresdotation eine hinreichende Grundlage noch nicht.“50
IV. Im letzten Satz des Akademiegutachtens vom 4. November 1907 war wenigstens angedeutet, daß man die Angelegenheit nicht für erledigt hielt, sondern daß man unter gewissen Umständen durchaus bereit sei, Fester eine zweite Chance einzuräumen. Das Gutachten selbst scheint Fester nicht zu Gesicht bekommen zu haben; er erhielt Ende November nur die knappe Nachricht seitens des Kultusministeriums, es habe sich leider nicht ermöglichen lassen, für sein Projekt „Mittel in den Entwurf zum nächstjährigen Staatshaushalt einzustel___________ 48
Ebenda. Siehe oben, Anm. 11. 50 GStA PK, I. HA, Rep. 76 Vc, Sekt. 1, Tit. XI, Teil V B, Nr. 46 (Gutachten der Akademie der Wissenschaften für den Kultusminister, 4.11.1907). 49
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len.“51 Der mittlerweile in den Wiener Archiven arbeitende Fritz Hartung, der noch kurz vorher in einem ausführlichen Schreiben an Fester bereits eine Skizze seiner Geschichte des fränkischen Kreises geliefert52 und dabei die Notwendigkeit betont hatte, nicht nur Quellen zu publizieren, sondern möglichst rasch eine umfassende Darstellung auch zur allgemeinen Kreisgeschichte vorzulegen53, muß von dieser abschlägigen Entscheidung nicht weniger als Fester schwer enttäuscht gewesen sein, doch er ließ sich in seinen Briefen an seinen Mentor Fester nur wenig anmerken: „Ob eine unserer Akademien sich zu Ihrem Plan hergeben wird? Wenn bis Ende 1908 eine günstige Lösung zustande kommt, ist noch nichts verloren. Bis dahin werde ich unter allen Umständen mit der Herstellung des Manuskripts zu tun haben, auch wenn Chroust nicht störend eingreift.“54 Mit anderen Worten: Hartung stand weiterhin bereit, als Bearbeiter in das Projekt – so es denn wider Erwarten im zweiten Anlauf bewilligt werden sollte – einzusteigen. Und auch Fester war entschlossen, nicht aufzugeben. Er wählte, wie in solchen Fällen nicht selten üblich, einen Nebenweg, um sich Aufklärung über die Hintergründe des Akademievotums – von dem er also auf irgendeinem Wege erfahren haben mußte – zu verschaffen. Unter den Mitgliedern der Akademie, die imstande gewesen wären, ein kompetentes Gutachten zum Reichskreisprojekt abzugeben, kamen nur die damals in Berlin lehrenden Dietrich Schäfer, Max Lenz und Reinhold Koser in Frage55 – und unter diesen noch am ehesten Koser, der als Verfasser der maßgeblichen Biographie über Friedrich den Großen in dieser Zeit ein besonders ausgewiesener Kenner der frühneuzeitlichen deutschen Geschichte war.56 Am 22. Dezember 1907 wandte sich Fester mit einem entsprechenden (offenbar nicht erhaltenen) Schreiben an Koser, der ihm am 17. Januar 1908 freundlich antwortete: Die Akademie sei, so lautete die streng vertrauliche Nachricht Kosers an seinen Kollegen in Kiel, „mit Ihrem ___________ 51
GStA PK, I. HA, Rep. 76 Vc, Sekt. 1, Tit. XI, Teil V B, Nr. 46 (Kultusminister an Richard Fester, 21.11.1907). 52 BAK, N 1107, Nr. 104 (Fritz Hartung an Richard Fester, 15.11.1907). 53 Vgl. ebenda: „Die Reichsgeschichte bietet Aufgaben und findet Bearbeiter genug, die für eine bloße Sammlung des Materials ausreicht. Daß das Gleiche mit der Geschichte der Kreise der Fall ist, bezweifle ich. Wir dürfen uns nicht darauf beschränken, Stoff darzubieten, sondern müssen ihn gleich so weit verarbeiten, daß auch derjenige, der keine Zeit oder Lust hat, sich in den Aktenwust zu versenken, die Hauptergebnisse übersichtlich zusammengestellt findet“. 54 BAK, N 1107, Nr. 104 (Fritz Hartung an Richard Fester, 2.1.1908). 55 Vgl. Amburger, Die Mitglieder (wie Anm. 45), S. 34 f. (Koser und Lenz waren beide seit 1896, Schäfer seit 1903 Akademiemitglied). 56 Vgl. Stephan Skalweit, Reinhold Koser 1852-1914, in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn, Bonn 1968, S. 272-277, und besonders die vorzügliche Skizze von Ludwig Biewer, Reinhold Koser, in: Berlinische Lebensbilder, Bd. 4: Geisteswissenschaftler, hg. v. Michael Erbe, Berlin 1989, S. 253-268.
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Vorschlag erst im letzten Moment befaßt worden, und wurde nur zu einer umgehenden Äußerung aufgefordert. Dadurch war ausgeschlossen, daß eines von den sechs Mitgliedern, die wir in dieser Sache votiert haben, sich mit Ihnen noch hätte in Verbindung setzen können, um Sie um festere Unterlagen zu bitten, als uns vom Ministerium geboten wurden. Ich bin natürlich nicht befugt, aus einem Akademie-Votum – denn um ein solches, nicht um Einzelgutachten handelt es sich – Mitteilungen zu machen, kann also nur sagen, daß für mich persönlich noch zwei rationes dubitandi bestehen, erstlich die Frage, wie für die älteren Zeiten das Verhältnis der geplanten Publ. zu den Reichstagsakten gedacht sein soll, die doch wesentlich auch die Landfriedens- und Kreiseinteilungsentwürfe betreffen, schon vor und vollends unter Maximilian I. Zweitens die Erwägung, ob nach 1555 bei der großen Verschiedenheit der Entwickelung in den einzelnen Kreisen es nicht doch geraten sein mag, die Publikation für die Kreise, für die sie sich überhaupt verlohnt, gesondert zu veranstalten“. Er, Koser, wäre dankbar, „wenn ich mich über diese Fragen einmal mündlich von Ihnen belehren lassen könnte.“57 Mit anderen Worten: Nach dieser vertraulichen Auskunft Kosers bestand berechtigte Hoffnung, im zweiten Anlauf mit dem Projekt vielleicht doch noch zum Ziel gelangen zu können, und diese Hoffnung wurde auch von Hartung geteilt, der, nunmehr in Würzburg ansässig, mittlerweile einen erneuten „rein persönlichen Zusammenstoß“ mit Chroust gehabt hatte; es habe, teilte Hartung Fester in Kiel am 4. April 1908 mit, nicht viel gefehlt, „und ich hätte ihm die ganze Geschichte vor die Füße geworfen.“58 In einem weiteren Schreiben skizzierte der junge Historiker im Juni, nun erneut voller Hoffnung auf das Gelingen eines zweiten Anlaufs, die Grundzüge einer Gesamtdarstellung der Reichskreisverfassung; in diesem konzisen Abriß brachte Hartung deutlich zum Ausdruck, wie tief er sich bereits in das Thema eingearbeitet und welche detaillierte Kennerschaft des Gegenstandes er inzwischen erlangt hatte.59 Und er scheute sich auch nicht, seinem Mentor noch einmal – wohl bereits mit Blick auf einen zweiten, erneuerten Projektantrag – einen diskreten Hinweis darauf zu geben, wie das vermeintlich so gegenwartsfremde und spröde Thema unter Aktualitätsgesichtspunkten etwas aufzuwerten sei: „Trotz der geringen positiven Leistungen der Kreise wird der Historiker die Bedeutung des Reichsgedankens nicht unterschätzen dürfen, wird die Kontinuität zwischen altem und neuem
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BAK, N 1107, Nr. 104 (Reinhold Koser an Richard Fester, 17.1.1908). BAK, N 1107, Nr. 104 (Fritz Hartung an Richard Fester, 4.4.1908; vgl. auch 21.5.1908). 59 BAK, N 1107, Nr. 104 (Fritz Hartung an Richard Fester, 24.7.1908). 58
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Reich herzustellen sich bemühen müssen.“60 Jedenfalls stellte er sich dem Projekt ohne Einschränkung und guten Mutes zur Verfügung.61 Fester scheint von Hartungs ausführlichen Darlegungen so überzeugt gewesen zu sein, daß er einen Ausschnitt aus Hartungs Brief vom 24. Juni 1908 seinem zweiten Antrag als „Auszug aus einem Gutachten Dr. Hartungs über die historische Bedeutung der Kreisverfassung und der Reichsexekutionsordnung von 1555“ beilegte.62 Dieser zweite Antrag, datiert auf den 9. Juli 1908, bemühte sich vorsichtig, aber in der Sache sehr deutlich, zwei der Hauptmonita des Akademiegutachtens vom November 1907 möglichst vollständig zu entkräften, nämlich erstens die Auffassung, der allgemeinen Entwicklung der Reichskreise komme man ausschließlich durch landesgeschichtlich orientierte Regionalstudien auf die Spur, – und zweitens die These, die Kreisverfassung sei letztendlich politisch fast bedeutungslos gewesen: So wünschenswert gute und fundierte Regionalstudien, etwa zu Franken und Schwaben auch seien, so könne doch eine „Bearbeitung der Akten der wichtigsten Kreise für eine erst das geistige Band herstellende Geschichte der Kreisverfassung keinen Ersatz bieten. [...] Die Aufgabe des Geschichtsschreibers der Kreisverfassung besteht schon für das 14. und 15. Jahrhundert darin, sämtliche Fäden in die Hand zu bekommen, um sie nicht mehr loszulassen. Soweit sich die Disposition jetzt schon übersehen läßt, wird er sowohl die Zeit der Vorbereitung als das 18. Jahrhundert der Verknöcherung kürzer behandeln, um den Hauptaccent auf die Entstehung der Reichsexecutionsordnung von 1555 und darauf folgende Jahrhundert bis zur Erneuerung der Kreisverfassung im Jahre 1654 zu legen. Er wird also, wenn er seine Aufgabe erfüllt, sowohl der Territorialgeschichte wie der Erforschung der Reichs- und Rechtsgeschichte der letzten Jahrhunderte des alten Reiches vielfach die Wege weisen.“63 Noch durch zwei weitere Vorzüge zeichnete sich der zweite Antrag gegenüber dem ersten aus: Zum einen wurde ein klarer, gut be___________ 60 Ebenda; Hartung schloß: „Möge das große Werk nun endlich zum gedeihlichen Anfang kommen!“ 61 Vgl. auch BAK, N 1107, Nr. 104 (Fritz Hartung an Richard Fester, 30.6.1908): „Ich bin verwegen genug, Ihrem Ruf zu folgen und die Geschichte der Kreisverfassung unter den von Ihnen angegebenen Bedingungen zu übernehmen. Der Schwierigkeiten, vor allem der, das Riesenmaterial zu bewältigen, bin ich, seit zwei Jahren in den Kreisakten lebend, mir wohl bewußt. Aber sie schrecken mich nicht. Gerade in der Aufgabe, des Aktenwustes Herr zu werden und aus der Fülle von gleichgültigen und langweiligen Einzelheiten das Wesentliche herauszufinden, liegt der Reiz, und den leitenden Gedanken für das Ganze glaube ich einigermaßen erfaßt zu haben. [...] Die Befristung kann sogar heilsam wirken, indem sie von Anfang an zur Beschränkung zwingt und das Bewußtsein wachhält, daß das Sammeln von Material nicht Selbstzweck sein darf“. 62 Zweiter Antrag Festers und „Gutachten“ in: GStA PK, I. HA, Rep. 76 Vc, Sekt. 1, Tit. XI, Teil V B, Nr. 46; der zweite Antrag vom 9.7.1908 ist unten als Anhang B. abgedruckt. 63 GStA PK, I. HA, Rep. 76 Vc, Sekt. 1, Tit. XI, Teil V B, Nr. 46 (Zweiter Antrag Festers, 9.7.1908).
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gründeter Zeitplan vorgelegt und damit das Unternehmen überzeugend terminiert, und zum anderen nannte Fester jetzt auch Fritz Hartung ausdrücklich als den einzigen für diese schwierige Aufgabe in Frage kommenden Bearbeiter – unter besonderer Betonung der Tatsache, daß Hartung möglicherweise in absehbarer Zeit aus beruflichen Gründen für ein solches Projekt nicht mehr zur Verfügung stehen werde.64 Die Akademie, vom Kultusminister erneut um ihre Stellungnahme gebeten, reagierte jetzt – vielleicht durch Koser veranlaßt – recht schnell; bereits am 20. August lag das zweite Gutachten vor. Aus der neuen Eingabe Festers gehe hervor, heißt es darin, „daß der Plan auf eine Darstellung abzielt, nicht auf eine Edition, also nicht etwa auf eine Sammlung ‚Deutscher Kreistagsakten‘ als auf ein Seitenstück zu der von der historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften veranstalteten Publikation ‚Deutsche Reichstagsakten‘“, und das bedeutete konkret: die im Vorjahr geäußerten Bedenken wurden jetzt fallen gelassen. Zweitens wurde ausdrücklich die räumlichzeitliche Begrenzung des Projekts gelobt, und drittens fand Festers Personalvorschlag den besonderen Beifall der Akademiker, denn sie sprachen sich ebenfalls dafür aus, „den von Herrn Fester als Bearbeiter in Aussicht genommenen Herrn Hartung für die Aufgabe festzuhalten, d. h. ihm die Möglichkeit zu geben, sich mit dem Einsatz seiner vollen Arbeitskraft der Vorbereitung des Werkes zu widmen. Hartung ist für die Aufgabe gut vorbereitet, er steht inmitten des Stoffes, in den ihn seine allgemein als trefflich geschätzten Arbeiten für die Geschichte eines einzelnen Kreises, des fränkischen, hineingeführt haben. Er ist mehreren, und zwar den in erster Linie zu einem sachlichen Urteil berufenen Mitgliedern der Akademie persönlich, sowohl nach seiner wissenschaftlichen ___________ 64
Vgl. ebenda: „Je größer aber die zu bewältigenden stofflichen Schwierigkeiten dieser Aufgabe sind, um so nachdrücklicher glaubt der Antragsteller darauf hinweisen zu müssen, daß die günstige Gelegenheit, in Dr. F. Hartung den geeignetsten Bearbeiter zu finden, verloren geht, wenn sie nicht durch entschlossenes Zugreifen benützt wird. [...] Seit zwei Jahren ist er Mitarbeiter der Gesellschaft für fränkische Geschichte, die ihm auf Grund der genannten Arbeit und auf Empfehlung von M. Lenz die Bearbeitung der fränkischen Kreisakten anvertraut hat. In der kurzen Zeit von zwei Jahren ist es ihm gelungen, sich in die Kreisakten so einzuarbeiten, daß der Druck des ersten bis 1555 reichenden Bandes noch in diesem Jahr beginnen kann. Auch für die Fortsetzung ist schon ein reiches Material gesammelt, doch kann sich Dr. Hartung nicht entschließen, die Bearbeitung selbst fortzuführen, weil bei seiner Richtung auf Verfassungshistorie die fortgesetzte Vertiefung in das Territorialfränkische ihn von seinen akademischen Zukunftsplänen zu weit abführen würde. Um so mehr reizt ihn die Aufgabe einer Geschichte der Kreisverfassung [...], und er hat dem Antragsteller selbst erklärt, dass er in der Befristung der geforderten Summe und in der Beschränkung auf höchstens 100 Druckbogen in Oktav einen heilsamen Zwang sieht, sich selbst zu beschränken. An eine selbständige Ausführung des Unternehmens zu denken, verbietet ihm seine Mittellosigkeit. Er wird sich daher, wenn die erbetene Subvention nicht bewilligt wird, anderen Problemen zuwenden und in zwei bis drei Jahren für eine so umfassende Aufgabe nicht mehr zu haben sein“.
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Fähigkeit und Geschicklichkeit, wie nach seiner Zuverlässigkeit seit Jahren bekannt und scheint ihnen zumal auch dafür eine Bürgschaft zu bieten, daß er den weitschichtigen Stoff straff zusammendrängen und in durchdachter und anschaulicher Darstellung geistig bewältigen wird.“65 Abschließend wurde Festers Antrag befürwortet. Doch das letzte Wort über das Projekt war damit noch nicht gesprochen, denn die allerletzte Entscheidung lag beim Finanzministerium, das die Gelder hierfür zu bewilligen hatte. Am 19. Oktober 1908 erging allerdings ein abschlägiger Bescheid an Fester; immerhin fiel das Routineschreiben durch eine persönliche Einfügung des zuständigen Referenten (im folgenden durch Kursivierung hervorgehoben) etwas aus dem Rahmen, denn es hieß darin, „daß es sich nicht hat ermöglichen lassen, angesichts der bestehenden Finanzlage zu meinem lebhaften Bedauern zur Bearbeitung einer Geschichte der Reichskreisverfassung Mittel in den Entwurf zum nächstjährigen Staatshaushalts-Etat einzustellen.“66 Fritz Hartungs allzu positive Erwartung: „[...] daß der Finanzminister, der ‚Vater aller Hindernisse‘ ein Veto einlegen wird, befürchte ich nach Überwindung so vieler Fährlichkeiten nicht mehr“67, hatte offensichtlich getrogen.
V. Die Enttäuschung war bei Hartung und Fester, wie sich denken läßt, groß, doch der immerhin erst fünfundzwanzigjährige Hartung, der mit nicht geringen Hoffnungen seine persönliche und berufliche Zukunft an das Projekt geknüpft und sogar bereits damit begonnen hatte, in Franken alle Brücken hinter sich abzubrechen, reagierte erstaunlich gelassen.68 Er blieb trotz dieser Niederlage auch weiterhin entschlossen, Süddeutschland zu verlassen und nach Berlin zu___________ 65 GStA PK, I. HA, Rep. 76 Vc, Sekt. 1, Tit. XI, Teil V B, Nr. 46 (Gutachten der Akademie der Wissenschaften für das Kultusministerium, 20.8.1908). Unterzeichnet hatte nur der Sekretar Auwers. 66 GStA PK, I. HA, Rep. 76 Vc, Sekt. 1, Tit. XI, Teil V B, Nr. 46 (Kultusministerium an Richard Fester, 19.10.1908, Entwurf). 67 BAK, N 1107, Nr. 104 (Fritz Hartung an Richard Fester, 30.6.1908). 68 Vgl. BAK, N 1107, Nr. 104 (Fritz Hartung an Richard Fester, 28.10.1908): „Ganz überraschend kam mir der Bericht des Kultusministers nicht. Selbst ein Optimist wie ich mußte bei den steten Mahnungen des Finanzministers zur Sparsamkeit stutzig werden. Wie sollte auch ein preußischer Bürokrat unter ‚sparen‘ etwas anderes verstehen als strikte Ablehnung alles neuen? Daß trotzdem der amtliche Bericht eine schmerzliche Enttäuschung für mich ist, brauche ich wohl nicht erst zu versichern. Auf künftige bessere Zeiten hoffe ich nicht. Und daß sich ein privater Maecen findet, glaube ich bei der Verständnislosigkeit, die ich in den Kreisen einiger Berliner Millionäre gegenüber einer so ‚unrentablen‘ Wissenschaft wie der Historie gefunden habe, auch nicht“.
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rückzukehren – allen Verlockungen zum Trotz, mit denen Chroust ihn nun in Würzburg oder Erlangen festzuhalten suchte, um das fränkische Projekt weiter fortzuführen.69 Auch auf den „großen Plan“ Festers wollte Hartung noch keineswegs verzichten: „Zur stummen Resignation“, schrieb er ihm, „sind wir beide noch zu jung“. Und er kündigte an, die Einleitung des von ihm demnächst fertig zu stellenden ersten Bandes seiner Darstellung des fränkischen Kreises bereits als „Vorarbeit für die zu erhoffende Geschichte der Reichskreisverfassung“ angelegt zu haben; jedenfalls werde hierin bereits „das Wichtigste von dem enthalten sein, was der 1. Band des größeren Werkes [also der allgemeinen Geschichte der Kreisverfassung; H.-C. K.] enthalten sollte: die allmähliche Entwicklung der Kreise bis zur Erlangung der Selbständigkeit.“70 Diesen Anspruch hat Hartung im ersten Band seines schließlich 1910 erschienenen Werkes zur Frühgeschichte des fränkischen Reichskreises eingelöst.71 Die umfangreiche Einleitung des Bandes enthielt nämlich, was dem Titel des Werkes jedenfalls nicht zu entnehmen war, die in seinem Brief an Fester vom 28. Oktober 1908 bereits angekündigte, weit ausgreifende und ganz aus den ungedruckten Akten gearbeitete Darstellung der „Entstehung der Kreisverfassung bis 1521“; erst anschließend folgte die wesentlich knapper ausgeführte „Geschichte des fränkischen Kreises von 1521-1559.“72 Mit dieser Pionierarbeit hat sich der junge Verfassungshistoriker recht früh ein bedeutendes Ansehen erworben; sein erster Band (der, wie unter den beschriebenen Umständen zu erwarten war, tatsächlich nur ein „erster Band“ geblieben ist) gilt bis heute nicht nur als wichtige Pionierleistung, sondern immer noch als die maßgebliche Darstellung der Frühgeschichte des fränkischen Reichskreises.73 Nicht zuletzt aufgrund dieser Leistung erhielt er schließlich von Aloys Meister, der den im Leipziger Teubner-Verlag erscheinenden „Grundriß der Geschichtswissenschaft“ herausgab, das Angebot, eine selbständige Darstellung der deutschen Verfassungsgeschichte der Neuzeit zu übernehmen. Hartung, der sich auch weiterhin in seinen Forschungen mit zentralen Themen der frühneuzeitlichen Reichsgeschichte beschäftigte74, nahm sich dieser Aufgabe an und verfaßte da___________ 69
Vgl. etwa BAK, N 1107, Nr. 104 (Fritz Hartung an Richard Fester, 4.12.1908). Die Zitate: BAK, N 1107, Nr. 104 (Fritz Hartung an Richard Fester, 28.10.1908). 71 Fritz Hartung, Geschichte des fränkischen Kreises. Darstellung und Akten, 1. Band: Die Geschichte des fränkischen Kreises von 1521-1559, Leipzig 1910. 72 Vgl. ebenda, S. 1-155 und S. 157-233; der Aktenteil umfaßt S. 235-441. 73 Vgl. dazu nur die Hinweise und Bemerkungen bei Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 1), S. 93; Dotzauer, Die deutschen Reichskreise (wie Anm. 1), S. 1, 175; Nicklas, Macht oder Recht (wie Anm. 3), S. 18; Grothe, Zwischen Geschichte und Recht (wie Anm. 4), S. 106 f. 74 Hingewiesen sei nur auf seine 1909 und 1911 in der Historischen Zeitschrift publizierten Abhandlungen über „Berthold von Henneberg, Kurfürst von Mainz“ und „Die Wahlkapitulationen der deutschen Kaiser und Könige“; beide erneut abgedruckt in: Fritz 70
Die alten Reichskreise als Forschungsthema im Kaiserreich
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mit die erste Gesamtdarstellung dieses Gegenstandes überhaupt.75 Das Buch erlangte recht bald schon den Rang eines Standardwerks; es trug seinem Verfasser nicht nur den 1922 verliehenen juristischen Ehrendoktortitel der Universität Köln und 1924 die ehrenvolle Berufung auf den verfassungs- und verwaltungshistorischen Lehrstuhl seines Doktorvaters Otto Hintze nach Berlin ein76, sondern es sollte bis 1969 nicht weniger als neun, immer wieder vom Autor selbst überarbeitete und veränderte Auflagen erleben. Natürlich findet sich bereits in der ersten Auflage ein – wenngleich dem Gesamtrahmen der Darstellung entsprechend überaus knapper – Abriß der Reichskreisverfassung.77 Warum scheiterte in den Jahren 1907 und 1908 eine damals grundlegend neue Darstellung der Reichskreisverfassung? Es wäre – auch aus heutiger Perspektive und mit Blick auf die ansehnliche Karriere Fritz Hartungs als des nach Otto Hintze führenden deutschen Verfassungshistorikers seiner Zeit – sehr reizvoll gewesen, hätte Hartung seinerzeit diese Darstellung erarbeitet; hervorragend fundiert und auf lange Zeit grundlegend wäre sie allemal gewesen, denn so viele Historiker, die sich mit der Leidenschaft des geborenen Forschers auf den von Hartung einmal so bezeichneten „Aktenwust“78 geworfen hätten, gab es damals ebensowenig wie es sie heute gibt. Als wichtigstes Resultat bleibt jedenfalls festzuhalten, daß 1908 – entgegen gewissen, bis heute gehegten und liebgewordenen Vorurteilen – das Projekt einer modernen Geschichte der Reichskreisverfassung nicht etwa an den Widerständen einer vermeintlich einseitig „borussisch“ ausgerichteten Geschichtswissenschaft gescheitert ist, sondern schlicht und einfach an mangelnder finanzieller Unterstützung seitens des Staates – an der im übrigen auch spezifisch „preußische“ Forschungsprojekte in jener Zeit nicht selten scheiterten. Es war, im Gegenteil, gerade die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin, die Festers Plan – wenn auch nach anfänglicher (und in der Sache nicht völlig unberechtigter) Skepsis – schließlich ohne Einschränkung unterstützt hat, und es scheint sogar gerade der seinerzeit bekannteste „Preußenhistoriker“, nämlich Reinhold Koser, Generaldirektor der preußischen Staatsarchive in Berlin und Biograph Friedrichs des Großen, gewesen zu sein, der das entscheidende Gutachten zugunsten von Festers Antrag verfaßt hat – wenngleich, wie man weiß, leider vergeblich. ___________ Hartung, Volk und Staat in der deutschen Geschichte. Gesammelte Abhandlungen, Leipzig 1940, S. 48-66, S. 67-93. 75 Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm. 9); vgl. Grothe, Zwischen Geschichte und Recht (wie Anm. 4), S. 108 ff., S. 136 f. 76 Vgl. hierzu Schochow, Ein Historiker in der Zeit (wie Anm. 25), S. 226, Grothe, Zwischen Geschichte und Recht (wie Anm. 4), S. 133 ff. 77 Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm. 9), S. 15-17. 78 Siehe oben, Anm. 53, 61.
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Die Wissenschaft kennt keinen Stillstand, und so wird auch die verfassungsgeschichtliche Erforschung der alten deutschen Kreisverfassung, schon angesichts noch bestehender Forschungslücken, heute und künftig ihre Bearbeiter finden. Denn die Reichskreise stellen, nicht zuletzt wohl auch in ihrer Eigenschaft als „unverzichtbares Surrogat einer ansonsten nicht institutionalisierten, an keinem Punkt zentral verorteten Reichsexekutive“79, in der Tat „wichtige Einrichtungen des Alten Reiches dar, deren Analyse weiterzutreiben sich noch immer lohnt“.80 Und der Reiz einer modernen zeitgemäßen Bearbeitung dieses Gegenstandes mag vor allem in der eigentümlichen, durchaus vom Historiker auch als Herausforderung zu verstehenden Verschränkung von National- und Regionalgeschichte liegen, denn tatsächlich erfordern „die Reichskreise als semizentrale Ebene zwischen dem Reich als Ganzem und seinen reichsständischen und den übrigen reichsunmittelbaren Gliedern, die keinem Kreis angehörten, [...] eine Reichs- und Landesgeschichte verbindende Betrachtung.“81 Deshalb darf auch heute noch daran erinnert werden, daß Richard Fester und Fritz Hartung, wenn auch mit begrenztem Erfolg, vor genau einem Jahrhundert hierfür verfassungsgeschichtliche Pionierarbeit geleistet haben.
___________ 79
Gotthard, Das Alte Reich (wie Anm. 2), S. 27. Dotzauer, Die deutschen Reichskreise (wie Anm. 1), S. 344. 81 Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 1), S. 92. 80
Die alten Reichskreise als Forschungsthema im Kaiserreich
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Anhang Vorbemerkung: Der Abdruck der beiden folgenden Dokumente erfolgt nach den von Fester handschriftlich verfaßten Originalen, die in den Akten des Preußischen Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vorhanden sind, heute im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz/Berlin-Dahlem: GStA PK, I. HA, Rep. 76 Vc, Sekt. 1, Tit. XI, Teil V B, Nr. 46 [unpaginiert]. Eine maschinenschriftliche Abschrift des zweiten Dokuments befindet sich außerdem im Nachlaß von Richard Fester im Bundesarchiv/Koblenz: BAK N 1107, Nr. 104.
Anhang I: Richard Fester: Denkschrift über die Bearbeitung einer Geschichte der Reichskreisverfassung, 9. August 1907 Denkschrift über die Bearbeitung einer Geschichte der Reichskreisverfassung. Überblickt man die Tätigkeit auf den Gebieten der deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte, so wird man durch die Vernachlässigung der letzten drei Jahrhunderte des römischen Reiches deutscher Nation lebhaft an analoge Erscheinungen auf dem Gebiete der römischen Geschichte erinnert. Erst die Initiative Mommsens hat die römische Kaiserzeit systematisch erschlossen. Der Principat des Augustus in Mommsens Projektion und die Diokletianische Reichsverfassung in der ersten zusammenfassenden Darstellung Karlowas sind der Schlüssel zu ihrer Fortsetzung in den mittelalterlichen Rombildungen des imperium und sacerdotium geworden. Die ältere Generation hatte sich aus Sympathie auf die römische Republik concentriert. Die moderne Altertumswissenschaft folgt in den Spuren Gibbons und Mommsens universalhistorischen Gesichtspunkten, wenn sie nicht vor „the fall and decline of the Roman Empire“ Halt macht. Die deutsche Geschichte von Maximilian I. bis zur Auflösung des alten Reiches im Jahre 1806 wird Niemand von universeller Bedeutung mit der Geschichte der römischen Kaiserzeit vergleichen wollen. In der europäischen Bewegung, deren Ausgangspunkt die deutsche Reformation gewesen ist, stellt die deutsche Reichsverfassung mehr ein nebensächliches, retardierendes Moment dar. Der Principat des Augustus ist selbst eine triebkräftige Neubildung gewesen. Das Centrum des römischen Reiches behauptete seinen Rang und seine Bedeutung. Die Triebkraft der deutschen Verfassungsgeschichte geht schon vor Maximilian I. centrifugal von den Territorien aus. Nichtsdestoweniger ist es eine auffallende Erscheinung, daß, wie unsere sämtlichen Reichs- und Rechtsgeschichten beweisen, das Interesse an dem Reichscentrum und seinen Organen gerade in dem Augenblicke ihrer Consolidirung erlahmt. Mit Ausnahme der Reichsritterschaft, die sich ausgeschlossen sieht, sind drei Jahrhunderte hindurch die Stände des Reiches, geistlich und weltlich, regelmäßiger als es früher jemals der Fall gewesen ist, und in festeren Formen, die man teilweise noch unter Maximilian I. gefunden hat, an den Angelegenheiten des Reiches und damit der Gesamtheit beteiligt. Zu schwach, um die Entwicklung der triebkräftigen Territorien aufzuhalten, sind die unter Maximilian consolidierten Institutionen des Reiches stark genug, das völlige Auseinanderfallen der Teile zu verhüten. Sie erhalten in einer confessionell gespaltenen Nation das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das die Italiener ohne dieses Band der Continuität ihrer ungebrochenen Cultur verdanken sollten. Sie ermöglichen das in diesem Zusam-
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menhang nicht zu unterschätzende Interregnum des Bundestages als des Übergangs zu der territorialen Neubildung des deutschen Reiches unter Preußens Führung. Diesem Anspruch auf Berücksichtigung ist die deutsche Geschichtsforschung seit Rankes bahnbrechender Reformationsgeschichte nicht in entsprechender Weise gerecht geworden. Sogar die jüngere Serie der deutschen Reichstagsakten ist mehr zu einer Dienerin der Reformationsgeschichte als zu einem Centralorgan deutscher Verfassungsgeschichte geworden. Das neue deutsche Reich erfüllt daher nur eine Ehrenschuld gegen die eine Wurzel seiner Vergangenheit, wenn es endlich auch in dieser Richtung Forschungen ermöglicht, die einer stärkeren finanziellen Fundierung bedürfen. Wie das ins Werk zu setzen ist, soll hier in Kürze erörtert werden. Die Früchte der Herausgabe der deutschen Reichstagsakten werden erst spätere Generationen ernten. Ist auch ihre Anlage in Hinblick auf den Hauptzweck keine glückliche gewesen, so erscheint doch eine Aenderung durch die Natur der Dinge ausgeschlossen. Anders verhält es sich mit der Kreisverfassung Maximilians, dem Kitt des Reiches bis zu seiner Auflösung. Erdmannsdörffers Anregung einer Geschichte des schwäbischen Kreises blieb in Ermangelung einer geeigneten Ansatzstelle des Hebels liegen. Mit mehr Glück hat der Verfasser dieser Denkschrift den Anstoß zu einer Bearbeitung der Geschichte des fränkischen Kreises gegeben. Auf Grund der beiliegenden Programmschrift „Franken und die Kreisverfassung“ hat die Gesellschaft für fränkische Geschichte dieses Thema in Angriff genommen. Der singuläre Fall, daß die neuere Geschichte Frankens in seiner Kreisgeschichte enthalten ist, rechtfertigt das Programm und seine Ausführung. Die Erforschung der Gesamtorganisation wird dabei wohl auch gestreift werden, aber sie tritt hinter den territorialen Fragen naturgemäß zurück. Denn die Erforschung der Genesis der Kreisverfassung setzt voraus, daß der Bearbeiter in Stand gesetzt wird, die Wurzeln sämtlicher Reichskreise von ihrer Consolidierung ausgehend aufzusuchen. Die Erforschung der Entwicklung der Gesamtorganisation setzt voraus, daß, wie es für Franken in dem genannten Programme summarisch versucht worden ist, zunächst ein Überblick über die erhaltenen Kreisakten sämtlicher Reichskreise gewonnen wird. Für eine territoriale Commission verbietet sich eine derartige Ausdehnung des Programms von selbst. Auch die monographische Behandlung jedes Reichskreises würde nicht zum Ziele führen. Selbst wenn das Beispiel der fränkischen Gesellschaft bei anderen Commissionen Nachahmung finden sollte, was wohl ausgeschlossen ist, so müßte doch in jedem einzelnen Falle eine ganze Reihe von Vorarbeiten und Untersuchungen wiederholt werden, die besser ein für allemal erledigt werden. Wenn wir uns nicht nachsagen lassen wollen, daß in Deutschland für die römische Kaiserzeit mehr geschieht als für die Geschichte des römischen Reiches deutscher Nation, wird also der Hebel im Centrum angesetzt werden müssen, so zwar daß der Berliner Akademie der Wissenschaften oder der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften die Mittel zu einer Bearbeitung der Geschichte der Reichskreisverfassung zur Verfügung gestellt werden. Bis zu ihrer Lösung, deren Abschluß nicht vorauszusehen ist, dürfte diese Aufgabe einen jährlichen Aufwand von 10 000 Mark erfordern, die sich folgendermaßen verteilen:
Die alten Reichskreise als Forschungsthema im Kaiserreich 1)
I Hilfsarbeiter zur Bearbeitung der eigentlichen Kreisgeschichte (Darstellung und Akten)
2)
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2400.
II Hilfsarbeiter zur Inventarisierung der ehemaligen Kreisakten sämtlicher Reichskreise
1800.
3)
Reisediäten für beide Hilfsarbeiter
3000.
4)
Druckreserve etc.
2800. 10000.
Ad 1. ist der Gehalt, den die Mitarbeiter der Reichstagsakten beziehen, zu Grunde gelegt, in Erwägung, daß nur eine bewährte Kraft wie etwa Dr. Hartung, der 1908 den ersten Band der fränkischen Publikation beendet, im Stande ist, die complicierte Aufgabe zu bewältigen und die Fülle des Materials nach den Grundsätzen, die auch für die fränkische Publikation festgestellt wurden, zu comprimieren. Ad 2. Der Gehaltssatz entspricht den Gehältern der andern Hilfsarbeiter der Münchener historischen Commission, der Mitarbeiter bei den Monumenta Borussica etc. Der Hilfsarbeiter muß ein schon archivalisch geschulter junger Gelehrter sein. Ad 3. Die Summe ist eher zu niedrig als zu hoch bemessen, das die Inventarisierung eine Bereisung fast sämtlicher deutschen und einiger ausländischer Archive erheischt und auch die Vorgeschichte der Kreisverfassung Archivreisen nötig macht. Ad 4. Von einer Einstellung dieser Reserve kann nicht abgesehen werden, weil es im Interesse der Publikation wie der fränkischen und anderer verwandter Bestrebungen liegt, mit der Veröffentlichung der Inventare und der Vorgeschichte tunlichst bald zu beginnen und für die Publikationskosten rechtzeitig Sorge zu tragen. Der Gesamtaufwand aber erscheint gewiß nicht zu hoch, wenn man in Erwägung zieht, daß damit der deutschen Geschichte ein ähnlicher Dienst erwiesen wird wie der römisch deutschen bei Inaugurierung der Reichslimeskommission. Kiel. 9. August 1907 Professor Dr. Richard Fester
Anhang II: Richard Fester: [Zweiter Antrag betr. die Bearbeitung einer Geschichte der Reichskreisverfassung], 9. Juli 1908 Professor Dr. Richard Fester in Kiel beehrt sich, den Antrag zu stellen, das k. Kultusministerium möge für die Bearbeitung einer höchstens 100 Druckbogen umfassenden Geschichte der Kreisverfassung Maximilians bis zur Auflösung des alten Reiches durch Dr. Fritz Hartung in Würzburg die Summe von 4500 Mark in den nächsten Etat einsetzen, unter der Bedingung, daß von dieser Summe 2500 Mark als Gehalt des Bearbeiters und 2000 Mark als Reisediäten und Druckreserve verwendet werden sollen und der Abschluß der Materialsammlung in spätestens 5 Jahren nach Beginn der Arbeit die Wiederabsetzung der Summe von 4500 Mk. von dem Etat ge-stattet. Einer Bearbeitung des genannten Themas haben sich bisher immer scheinbare und tatsächliche Schwierigkeiten in den Weg gestellt. Die Bedeutung der Kreisverfassung
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für die Geschichte Frankens, Schwabens, des oberrheinischen und kurrheinischen Kreises ist niemals bestritten worden. Von dem oesterreichischen und burgundischen Kreise weiß Jedermann, daß sie nur dem Namen nach existiert haben. Für die Bedeutungslosigkeit der Kreisverfassung im Allgemeinen scheint die notorische Bedeutungslosigkeit des ober- und niedersächsischen Kreises im 18. Jahrhundert zu sprechen. Zur Entkräftung dieser nur scheinbaren Einwände beziehe ich mich auf die allgemeinen Ausführungen in meiner Schrift „Franken und die Kreisverfassung“ (Würzburg 1906) und auf den beiliegenden Auszug aus einem von Dr. Hartung erbetenen Gutachten, worin dieser einige bei seiner Bearbeitung der fränkischen Kreisakten gewonnene Data über die anderen Kreise zusammengestellt hat. So wünschenswert es auch ist, daß das Beispiel Frankens vor allem in Schwaben Nachahmung findet, so kann doch die Bearbeitung der Akten der wichtigsten Kreise für eine erst das geistige Band herstellende Geschichte der Kreisverfassung keinen Ersatz bieten. Der Bearbeiter fränkischer oder schwäbischer Kreisakten wird sich in der Vorgeschichte begnügen müssen, die fränkischen und schwäbischen Einungen des ausgehenden Mittelalters zu untersuchen. Die Aufgabe des Geschichtsschreibers der Kreisverfassung besteht schon für das 14. und 15. Jahrhundert darin, sämtliche Fäden in die Hand zu bekommen, um sie nicht mehr loszulassen. Soweit sich die Disposition jetzt schon übersehen läßt, wird er sowohl die Zeit der Vorbereitung als das 18. Jahrhundert der Verknöcherung kürzer behandeln, um den Hauptaccent auf die Entstehung der Reichsexecutionsordnung von 1555 und das darauf folgende Jahrhundert bis zur Erneuerung der Kreisverfassung im Jahre 1654 zu legen. Er wird also, wenn er seine Aufgabe erfüllt, sowohl der Territorialgeschichte wie der Erforschung der Reichs- und Rechtsgeschichte der letzten Jahrhunderte des alten Reiches vielfach die Wege weisen. Je größer aber die zu bewältigenden stofflichen Schwierigkeiten dieser Aufgabe sind, um so nachdrücklicher glaubt der Antragsteller darauf hinweisen zu müssen, daß die günstige Gelegenheit, in Dr. F. Hartung den geeignetsten Bearbeiter zu finden, verloren geht, wenn sie nicht durch entschlossenes Zugreifen benützt wird. Dr. Hartung ist der Sohn eines Berliner Intendanturrates. Als Schüler von Hintze und Lenz hat er sich 1906 mit einer Monographie über „Hardenberg und die preußische Verwaltung in AnsbachBayreuth von 1792-1806“ auf das vorteilhafteste eingeführt. Seit zwei Jahren ist er Mitarbeiter der Gesellschaft für fränkische Geschichte, die ihm auf Grund der genannten Arbeit und auf Empfehlung von M. Lenz die Bearbeitung der fränkischen Kreisakten anvertraut hat. In der kurzen Zeit von zwei Jahren ist es ihm gelungen, sich in die Kreisakten so einzuarbeiten, daß der Druck des ersten bis 1555 reichenden Bandes noch in diesem Jahr beginnen kann. Auch für die Fortsetzung ist schon ein reiches Material gesammelt, doch kann sich Dr. Hartung nicht entschließen, die Bearbeitung selbst fortzuführen, weil bei seiner Richtung auf Verfassungshistorie die fortgesetzte Vertiefung in das Territorialfränkische ihn von seinen akademischen Zukunftsplänen zu weit abführen würde. Um so mehr reizt ihn die Aufgabe einer Geschichte der Kreisverfassung, auf die er durch Begabung und die Erfahrungen seiner fränkischen Studien wie kein anderer vorbereitet ist, und er hat dem Antragsteller selbst erklärt, daß er in der Befristung der geforderten Summe und in der Beschränkung auf höchstens 100 Druckbogen in Oktav einen heilsamen Zwang sieht, sich selbst zu beschränken. An eine selbständige Ausführung des Unternehmens zu denken, verbietet ihm seine Mittellosigkeit. Er wird sich daher, wenn die erbetene Subvention nicht bewilligt wird, anderen Problemen zuwenden und in zwei bis drei Jahren für eine so umfassende Aufgabe nicht mehr zu haben sein. Das erste Geschäft des Bearbeiters im Falle der Bewilligung hat darin zu bestehen, daß er alle in Betracht kommenden Archive bereisend nach dem Muster der von dem Antragsteller bearbeite[te]n summarischen Inventare der fränkischen Kreisakten auch
Die alten Reichskreise als Forschungsthema im Kaiserreich
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die Archive der andern Kreise auf dem Papiere herstellt und diese nur wenige Bogen umfassenden Inventare (für Franken genügten 2 ½ Bogen Kleinoktav) zur eigenen Orientierung und zu Nutz und Frommen aller Arbeiter auf dem Gebiete der Reichsgeschichte zum Drucke befördert. Auch zweifelt er nicht vor Ablauf der 5 Jahre schon den ersten Band seiner Geschichte druckreif vorlegen zu können, doch ist der Hauptnachdruck darauf zu legen, daß er nach seiner Kenntnis des Materials bestimmt versichert, in spätestens fünf Jahren die Sammlung des Materials, für welche die genannte Subventionierung erbeten wird, vollendet zu haben. Kiel. 9. Juli 1908. Professor Dr. Richard Fester
Kaisermythos und Reichsromantik Bemerkungen zur Rezeption des Alten Reiches im 19. Jahrhundert
Von Frank-Lothar Kroll, Chemnitz
I. Anfang 1840, im Jahr des Regierungsantritts König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen, veröffentlichte der später in München zu Ruhm und Ansehen gelangende Lyriker Emanuel Geibel ein seinerzeit weit verbreitetes Gedicht, das unter dem Namen Friedrich Rotbart Einlaß in die deutschen Schullesebücher des späteren 19. Jahrhunderts gefunden hat: Tief im Schoße des Kyffhäuser Bei der Ampel rotem Schein Sitzt der alte Kaiser Friedrich An dem Tisch von Marmorstein. […] Versunken ruht das Antlitz, Drin sich Ernst und Milde paart, Durch den Marmortisch gewachsen Ist sein langer, goldner Bart. […] Laut in seinen Angeln dröhnend Tut sich auf das eh’rne Tor; Barbarossa mit den Seinen Steigt im Waffenschmuck empor. Auf dem Helm trägt er die Krone, Und den Sieg in seiner Hand; Schwerter blitzen, Harfen klingen, Wo er schreitet durch das Land. Und dem alten Kaiser beugen Sich die Völker allzugleich, Und aufs Neu zu Aachen gründet Er das heil’ge deutsche Reich.1
___________ 1
Emanuel Geibel, Gedichte, Stuttgart 1874, S. 156 f.
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Frank-Lothar Kroll
Weitaus geringere Resonanz bei den Zeitgenossen fand ein vier Jahre später, im Sommer 1844 erschienenes lyrisches Erzeugnis aus der Feder eines anderen, ungleich bedeutenderen Poeten. Es widmete sich einer vergleichbaren Thematik, besaß jedoch eine vollkommen andere Zielrichtung und brachte, vor allem in den letzten Zeilen, eine den Positionen Geibels geradezu entgegengesetzte Geschichtsauffassung zum Ausdruck: […] Herr Rotbart – rief ich laut – du bist Ein altes Fabelwesen, Geh, leg dich schlafen, wir werden uns Auch ohne dich erlösen. […] Auch deine Fahne gefällt mir nicht mehr, Die altdeutschen Narren verdarben Mir schon in der Burschenschaft die Lust An den schwarz-rot-goldenen Farben. Das beste wäre, du bliebest zu Haus, Hier in dem alten Kyffhäuser. Bedenk’ ich die Sache ganz genau, So brauchen wir keinen Kaiser.“2
Der Autor dieses Gedichts war Heinrich Heine. Er stand, im Unterschied zu Geibel, keineswegs in dem Ruf einer betont preußenfreundlichen Gesinnung3, und er unterlag auch nicht etwa dem Verdacht, „Kaiser“ und „Reich“ in dichterisch überhöhter Form zu besingen oder gar zu verklären. Die beiden Gedichte von Geibel und Heine bezeichnen nahezu die gesamte Spannweite dessen, was in der zeitgenössischen deutschen Poesie an Kaiserund Reichsvorstellungen im Umlauf gewesen ist. Solche literarisch geformte Vorstellungswelten verwiesen wiederum auf konkrete politische Bewußtseinslagen des ihnen jeweils zugeordneten Lesepublikums und spiegelten dessen Hoffnungen, Wünsche und Sehnsüchte wider. Die starke Popularität Geibels im Vergleich zur relativen Außenseiterposition Heines deutet an, worauf sich solche Sehnsüchte mehrheitlich richteten.4 Es waren nicht nur romantisch bewegte ___________ 2
Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen, in: Ders., Neue Gedichte, Hamburg 1844, Caput XV. – Für den Zusammenhang vgl. Friedrich Weigand/Bodo M. Baumunk/Thomas Brune, Keine Ruhe im Kyffhäuser. Das Nachleben der Staufer. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte, Stuttgart/Aalen 1978, S. 35-215; ferner Albrecht Timm, Der Kyffhäuser im deutschen Geschichtsbild, Göttingen o. J., bes. S. 19 ff. 3 Vgl. aber Hans-Joachim Schoeps, Ein unbekannter Agentenbericht über Heinrich Heine (1967), wiederabgedruckt in: Ders., Neue Quellen zur Geschichte Preußens im 19. Jahrhundert, Berlin 1968, S. 154-168; ferner ders., Deutsche Geistesgeschichte der Neuzeit. Bd. IV: Die Formung der politischen Ideen im 19. Jahrhundert, Mainz 1979, S. 246-257. 4 Für den Zusammenhang sehr instruktiv Mario Kramp, Heinrich Heines Kölner Dom, München/Berlin 2002.
Kaisermythos und Reichsromantik
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Zeitgenossen, denen an einer Erneuerung der vermeintlichen Kaiser- und Reichsherrlichkeit gelegen war – wohl wissend, daß davon zum Zeitpunkt ihrer endgültigen Beseitigung durch Napoleon I. 1806 nicht mehr allzu viel übrig geblieben war. Doch die wenigen Jahre napoleonischer Herrschaft reichten aus, um die Denkfigur „Kaiser und Reich“ zum Sehnsuchtsbild einstiger Macht und Größe Deutschlands zu verklären, und um sie zu einem Fluchtpunkt für aktuelle und zukünftige politische Planungen zu verdichten. Dies galt verstärkt nach der Neuordnung von 1815, die aus Sicht vieler deutscher Patrioten zu einer nur sehr unvollkommenen Regelung der deutschen Angelegenheiten geführt hatte.5 Die defizitären Empfindungen, die sich daraus ergaben, wirkten in zwei unterschiedlichen, einander entgegengesetzten Richtungen: Zum einen grundierten sie jene Kaiser- und Reichserwartungen machtstaatlichen Charakters, wie sie Geibels Verse 1840 zum Ausdruck brachten; zum anderen forcierten sie jene skeptische Haltung gegenüber allen glorifizierenden Engführungen der mittelalterlichen Vergangenheit Deutschlands im Sinne einer Reduktion auf deren imperiale Traditionen, wie diese in Heines Gedicht 1844 als Legitimationsideologie entlarvt wurden. Helmut Neuhaus, der Jubilar, hat einen nicht unerheblichen Teil seines wissenschaftlichen Engagements der Erforschung des Alten Reiches gewidmet und dabei dessen Institutionen und Wirkungsmechanismen ebenso beschrieben wie die wechselnden Formen seiner Rezeption bei der Mit- und Nachwelt. So erscheint es angebracht, mit dem Historiker des Alten Reiches über einige Wunschbilder, Visionen und Utopien zu diskutieren, die zum Ideenkomplex „Kaiser und Reich“ bei den um Deutschlands Zukunft besorgten Zeitgenossen Geibels und Heines in Umlauf waren. Der Jubilar selbst hat gelegentlich auf die Bedeutung verwiesen, die hier dem mittelalterlichen – oder besser: dem als „mittelalterlich“ ausgegebenen – Reichsideal zugekommen ist.6 Tatsächlich war das Interesse vieler Zeitgenossen am Mittelalter damals überdurchschnittlich groß7, wobei mehrere konkurrierende Mittelalterdeutungen nebeneinanderher liefen. Bei allen inhaltlichen Differenzen verband sie – gleichsam als formale Gemeinsamkeit – eine vehemente Orientierung an den politischen Zeitanliegen ___________ 5
Vgl. für den vorliegenden Zusammenhang Helmut Tiedemann, Der deutsche Kaisergedanke vor und nach dem Wiener Kongreß, Breslau 1932, sowie zuletzt perspektivenreich Hans-Christof Kraus, Freiheitskriege als heilige Kriege 1792-1815, in: Klaus Schreiner (Hg.), Heilige Kriege, München 2008, S. 193-218, bes. S. 204 ff. 6 Helmut Neuhaus, Das Reich als Mythos in der neueren Geschichte, in: Helmut Altrichter/Klaus Herbers/Helmut Neuhaus (Hg.), Mythen in der Geschichte, Freiburg im Breisgau 2004, S. 293-320, bes. S. 304 ff. 7 Vgl. beispielhaft Ludger Kerssen, Das Interesse am Mittelalter im deutschen Nationaldenkmal, Berlin/New York 1975; ferner die noch immer gültige ältere Studie von Alfred Neumeyer, Die Erweckung der Gotik in der deutschen Kunst des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Romantik, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 49 (1928), S. 75-123, S. 159-185.
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der eigenen Gegenwart. Das Bemühen um eine vorurteilsfreie Erhellung des „wahren“, historisch „echten“ Mittelalters hingegen spielte eine eher untergeordnete Rolle, selbst bei den frühesten Repräsentanten einer sich als wissenschaftlich verstehenden Mediävistik.8 Probleme der Verschränkung von Mittelalterinteresse und Gegenwartsbezug im 19. Jahrhundert stehen auch im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen. Zunächst (II.) sind einige Rahmenbedingungen und Ausgangspositionen zu skizzieren, die der Rezeption der mittelalterlichen Reichsidee am Jahrhundertbeginn in Deutschland zugrunde lagen. Danach (III.) sollen die Modalitäten jener Verknüpfung erörtert werden, mittels derer der zunächst weithin unpolitische, primär literarisch artikulierte Kaiserund Reichsmythos seit den frühen 1840er Jahren verstärkt mit dem Anliegen der deutschen Nationalbewegung verknüpft wurde. Schließlich (IV.) sind einige maßgebliche Bestimmungsfaktoren dieses Kaiser- und Reichsmythos in Deutschland nach 1871 in den Blick zu nehmen, wobei die Frage nach den Fortwirkungen „utopischer“ Kaiser- und Reichshoffnungen angesichts der nunmehr realisierten Kaiser- und Reichsherrlichkeit der Hohenzollern einen besonderen Reiz besitzt.
II. Es ist bekannt, daß um 1800 zahlreiche Autoren der deutschen Romantik in der mittelalterlichen Vergangenheit des Reiches ihr ästhetisches und politisches Ideal fanden.9 Das unterschied sie von den ihnen zeitlich vorausgegangenen Repräsentanten der Aufklärung, die dem Mittelalter zumeist nur Unvernunft und Barbarei attestiert hatten.10 Vor allem das Zeitalter der Staufer galt den ___________ 8 Vgl. dazu beispielhaft Matthias Klug, Rückwendung zum Mittelalter? Geschichtsbilder und historische Argumentation im politischen Katholizismus des Vormärz, Paderborn/München/Wien/Zürich 1995, bes. S. 50 ff., sowie zuletzt Carl Heinze, Nation, Einheit, Freiheit und die eigene Geschichte. Geschichtsbilder und Geschichtskonstruktionen im Liberalismus des Vormärz, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 20 (2008), S. 263-283. 9 Dazu problemorientiert Otto Gerhard Oexle, Die Moderne und ihr Mittelalter. Eine folgenreiche Problemgeschichte, in: Peter Segl (Hg.), Mittelalter und Moderne. Entdekkung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt. Kongreßakten des 6. Symposiums des Mediävistenverbandes in Bayreuth 1995, Sigmaringen 1997, S. 307-364; ders., Mittelalterforschung in der sich ständig wandelnden Moderne, in: Hans-Werner Goetz/Jörg Jarnut (Hg.), Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung, München 2003, S. 227-252, bes. S. 232 ff. 10 Vgl. Christoph Schmid, Mittelalterrezeption des 18. Jahrhunderts zwischen Aufklärung und Romantik, Regensburg 1979; Sigrid Bertuleit, Gotisch-orientalische Stilgenese. Englische Theorien zum Ursprung der Gotik und ihr Einfluß in Deutschland um 1800, Frankfurt am Main 1989; dies., Theorien zum Ursprung der Gotik, in: Idea. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle 9 (1990), S. 93-106; ferner Peter Wapnewski (Hg.),
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deutschen Romantikern als eine glaubensfrohe Geschichtsepoche, deren Geist und Gesinnung sie sich in ihrer eigenen dichterischen Produktion verwandt fühlten.11 Ludwig Tiecks „Minnelieder aus dem schwäbischen [= staufischen] Zeitalter“12 waren ebenso im Einzugsfeld dieser vom Staufermythos geprägten Geschichtsauffassung entstanden wie die etwa zeitgleich verfaßten „Altteutschen Volks- und Meisterlieder“ von Joseph Görres.13 Die Niederlegung der Kaiserkrone des Alten Reiches durch Franz II. 1806 war dabei, wie neuere Untersuchungen ergeben haben14, zunächst keineswegs besonders beklagt, ja nicht einmal als entscheidender Epocheneinschnitt empfunden worden. Erst während der napoleonischen Fremdherrschaft geriet das als „altteutsch“ stilisierte Lebensgefüge des Mittelalters zum imaginären Refugium für all jene, deren vaterländisch bewegte Gemüter nach dem erhofften Ende der französischen Hegemonie die Begründung eines deutschen Nationalstaates anstrebten.15 Die führenden Romantiker hegten damals solche Erwartungen genauso entschieden wie die Dichter und Sänger der Befreiungskriege. Ihrer aller Sehnsüchte galten dabei freilich weniger der hochmittelalterlichen Kaiserzeit des 11. und 12. ___________ Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion, Stuttgart 1986, sowie (für die englischen Traditionen) Josef Haslag, „Gothic“ im Siebzehnten und Achtzehnten Jahrhundert. Wort- und ideengeschichtliche Untersuchung, Köln/Graz 1963, bes. S. 113 ff., S. 173 ff. 11 Vgl. Arno Borst, Reden über die Staufer, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1978; ferner Gerd Althoff (Hg.), Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter, Darmstadt 1992. 12 Dazu explizit Gudrun S. Horton, Die Entstehung des Mittelalterbildes in der deutschen Frühromantik: Wackenroder, Tieck, Novalis und die Brüder Schlegel, Phil. Diss., Washington 1973. 13 Dazu sehr knapp Heribert Raab, Joseph Görres. Ein Leben für Freiheit und Recht. Auswahl aus seinem Werk. Urteile von Zeitgenossen. Einführung und Bibliographie, Paderborn/München/Wien/Zürich 1978, S. 30 ff.; zuletzt vorzüglich Dieter J. Weiß, Joseph von Görres (1776-1848), in: Bernd Heidenreich (Hg.), Politische Theorien des 19. Jahrhunderts. Konservativismus – Liberalismus – Sozialismus, 2., völlig neu bearb. Aufl., Berlin 2002, S. 139-154; für den Zusammenhang ferner wichtig Hans-Christof Kraus, Görres und Preußen. Zur Geschichte eines spannungsreichen Verhältnisses, in: Harald Dickerhof (Hg.): Görres-Studien, Festschrift zum 150. Todesjahr von Joseph von Görres, Paderborn/München/Wien/Zürich 1999, S. 1-27. 14 Vgl. zuletzt vorzüglich Hans-Christof Kraus, Das Ende des alten Deutschland. Krise und Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806, Berlin 2006; ferner Helmut Neuhaus, Das Ende des Alten Reiches, in: Helmut Altrichter/Helmut Neuhaus (Hg.), Das Ende von Großreichen, Erlangen/Jena 1996, S. 185-209; knapp auch ders., Das Reich in der Frühen Neuzeit, München 1997, S. 54 f. 15 Zur Verbindung von Mittelaltersehnsucht und nationaler Idee vgl. aus der älteren Literatur Gottfried Salomon, Das Mittelalter als Ideal in der Romantik, München 1922, S. 32 ff.; Rudolf Stadelmann, Grundformen der Mittelalterauffassung von Herder bis Ranke, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 9 (1931), S. 45-88; ferner Helmut Schanze, „Es waren schöne glänzende Zeiten …“. Zur Genese des „romantischen“ Mittelalter-Bildes, in: Rudolf Schützeichel/Ulrich Fellmann (Hg.), Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters, Bonn 1979, S. 760-771; Hartmut Boockmann, Die Gegenwart des Mittelalters, Berlin 1988.
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Jahrhunderts als vielmehr dem späteren Mittelalter, das sich im Phänomen des „altteutschen Städtewesens“ verkörperte16, und als dessen Symbol die Reichsstadt Nürnberg erschien17, wohingegen „klassische“ Orte mittelalterlicher Reichsgeschichte, etwa Aachen18 oder Frankfurt am Main19, in den Hintergrund traten. In diesem weiträumigen Bezugsrahmen bildete die Kaiseridee die am häufigsten bemühte symbolische Referenzgröße. Dies galt unabhängig von der Tatsache, daß – wie am Beispiel Heinrich Heines deutlich geworden ist – keineswegs alle deutschen Patrioten die Wiederherstellung des Kaisertums wünschten. Doch je stärker sich die Distanz der deutschen Nationalbewegung zum Metternichschen System entwickelte, desto verlockender erschien die im Symbol des Kaisertums verkörperte Erinnerung an vermeintliche Blütezeiten deutscher Macht und Größe. Damit geriet die Kaiseridee im Vormärz – was nicht selten verkannt wird – auch zu einem Element gegenwartskritischen, begrenzt oppositionellen Argumentierens, das angesichts der herrschenden Zustände des Restaurationszeitalters nach Ventilen und Projektionsräumen für unerfüllt gebliebene politische Wunschvorstellungen suchte.20 Andererseits stützte sich gerade die vom Prinzip der Legitimität und des monarchischen Gottesgnadentums ausgehende Metternichsche Ordnung auf zahlreiche ideologische ___________ 16
Vgl. Helmut Neuhaus, Das Reich als Mythos in der neueren Geschichte, in: Helmut Altrichter/Klaus Herbers/Helmut Neuhaus (Hg.), Mythen in der Geschichte, Freiburg im Breisgau 2004, S. 293-320; ferner zuletzt vorzüglich Klaus Herbers/Helmut Neuhaus, Das Heilige Römische Reich. Schauplätze einer tausendjährigen Geschichte (843-1806), Köln/Weimar/Wien 2005, bes. S. 289-299. 17 Dazu eingehend Dieter J. Weiß, Des Reiches Krone – Nürnberg im Spätmittelalter, in: Helmut Neuhaus (Hg.), Nürnberg. Eine europäische Stadt in Mittelalter und Neuzeit, Nürnberg 2000, S. 23-41; Helmut Neuhaus, Zwischen Realität und Romantik: Nürnberg im Europa der Frühen Neuzeit, in: Ebd., S. 43-68. 18 Dazu jetzt umfassend Mario Kramp (Hg.), Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos, 2 Bde., Mainz 2001. 19 Vgl. sehr anschaulich Hans-Otto Schembs, Kaiserkrönungen im historischen Frankfurt, Velbert-Neviges 1987, bes. S. 51-72; ebenso anschaulich als Fallbeispiel Rainer Koch/Patricia Stahl (Hg.), Wahl und Krönung in Frankfurt am Main. Kaiser Karl VII. 1742-1745, 2 Bde., Frankfurt am Main 1986; knapp und präzise Hans-Otto Schembs, Frankfurt und die Wahl und Krönung der deutschen Könige, in: Bernd Heidenreich/Klaus Böhme (Hg.), Hessen. Geschichte und Politik, Stuttgart/Berlin/Köln 2000, S. 134-148; zuletzt umfassend Bernd Heidenreich/Frank-Lothar Kroll (Hg.), Wahl und Krönung, Frankfurt am Main 2006. 20 In diesem Sinn sehr erhellend Karl-Georg Faber, Politisches Denken in der Restaurationszeit, in: Helmut Berding/Hans-Peter Ullmann (Hg.), Deutschland zwischen Revolution und Restauration, Königstein Ts. 1981, S. 258-278; ferner Dietrich Naumann, Geschichtsphilosophie – Zeitkritik – Szientismus. Philosophische Strömungen der Restaurationsära, in: Norbert Altenhofer/Alfred Estermann (Hg.), Europäische Romantik, Bd. 3: Restauration und Revolution, Wiesbaden 1985, S. 9-80.
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Versatzstücke romantisch-historisierender Provenienz21, wohingegen wiederum die partiell revolutionär gesinnten Burschenschaften nicht zufällig die Wartburg, das Sinnbild mittelalterlicher Ritter- und Minnekultur22, zum Schauplatz ihres antimonarchischen Spektakels vom Oktober 1817 erhoben.23 Derart einander entgegengesetzte Vereinnahmungsversuche verweisen auf ein hohes Maß an inhaltlicher Unbestimmtheit, das der Kaiser- und Reichsideologie, zumindest in den 1820er und 1830er Jahren, zukam. Dadurch gewann die Idealvorstellung eines wiedererweckten Mittelalters für die verschiedensten politischen Legitimationsanliegen Relevanz. Die poetische Weltsicht der Romantiker vermochte solche Widersprüchlichkeiten immer wieder in Metaphern aufzulösen, und es war in diesem Zusammenhang kein Zufall, daß die wirkungsmächtigste und ausdrucksstärkste dieser Metaphern – diejenige von der Wiederkehr des im Kyffhäuser nur erst zu vorläufiger Ruhe eingekehrten Kaisers Friedrich I. Barbarossa – den verspäteten Romantikern Geibel und Heine gleichermaßen als Referenzgröße diente, um ihre doch jeweils sehr stark voneinander abweichenden politischen Botschaften poetisch zu vermitteln. Die rückwärts gerichteten Kaiserträume der deutschen Romantiker kleideten sich freilich nicht ausnahmslos in das poetisch umrankte Gewand von Sage, ___________ 21
Zur entsprechenden Verbindung von Romantik und politischem Konservativismus im Vormärz vgl. aus der Fülle reichhaltig vorhandener neuerer Literatur die Monographien von Benedikt Köhler, Ästhetik der Politik. Adam Müller und die politische Romantik, Stuttgart 1980, und Hermann Kurzke, Romantik und Konservatismus. Das „politische“ Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis) im Horizont seiner Wirkungsgeschichte, München 1983; ferner die äußerst gelehrten Resumees von Hans-Christof Kraus, Die Jenaer Frühromantik und ihre Kritik der Moderne, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 47 (1995), S. 205-230; ders., Politisches Denken der deutschen Spätromantik, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 38 (1997), S. 111-146; ders., Die politische Romantik in Wien: Friedrich Schlegel und Adam Müller, in: Robert Rill/Ulrich E. Zellenberg (Hg.), Konservativismus in Österreich – Strömungen, Ideen, Personen und Vereinigungen von den Anfängen bis heute, Graz/Stuttgart 1999, S. 3570; zuletzt Frank-Lothar Kroll, Romantik in Preußen. Die verspätete Gegenrevolution, in: Patrick Bahners/Gerd Roellecke (Hg.), Preußische Stile. Ein Staat als Kunststück, Stuttgart 2001, S. 329-337, S. 526-529. 22 Vgl. dazu Sigfried Asche, Die Wartburg, Dresden 1960, S. 66-74; Erica von Dellingshausen, Die Wartburg. Ein Ort geistesgeschichtlicher Entwicklungen. Sängerkrieg – Elisabeth von Thüringen – Luther – 1817, Stuttgart 1983; zuletzt detailliert Stefan Schweizer, Der Großherzog im Historienbild. Die Vergegenwärtigung des Mittelalters auf der Wartburg als fürstliche Legitimationsstrategie, in: Otto Gerhard Oexle/Áron Petneki/Leszek Zygner (Hg.), Bilder gedeuteter Geschichte. Das Mittelalter in der Kunst und Architektur der Moderne, Göttingen 2004, 2. Teilbd., S. 385-446. 23 Vgl. detailliert Klaus Malettke, 175 Jahre Wartburgfest. 18. Oktober 1817 – 18. Oktober 1992. Studien zur politischen Bedeutung und zum Zeithintergrund der Wartburgfeier, Heidelberg 1992; ferner Peter Brand, Das studentische Wartburgfest vom 18./19. Oktober 1817, in: Dieter Düding/Peter Friedemann/Paul Münch (Hg.), Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek 1988, S. 89-112.
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Mythos und Vers. Es gab auch konkreter formulierte und stärker politisch akzentuierte Vorschläge aus der Feder einzelner ihrer Repräsentanten. Achim von Arnim und Joseph Görres hatten 1817 bzw. 1814 jene Zukunftsvision von einem erneuerten Deutschen Reich vorgetragen, die das politische Denken der Romantik hinfort weitgehend bestimmen sollte. Görres entfaltete seine diesbezüglichen Vorstellungen in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Rheinischer Merkur“24, Arnim präsentierte sie seinen Lesern, stärker poetisch aufgeladen, in dem unvollendet gebliebenen Roman „Die Kronenwächter“.25 Nach ihrer beider Auffassung sollte der österreichische Kaiser als Inhaber einer erblichen deutschen Oberhauptswürde dem Gesamtimperium präsidieren. Ihm zur Seite dachten sich Arnim und Görres einen in der Kaiserstadt Aachen traditionell gekrönten deutschen Wahlkönig und einen ebenfalls erblichen Kronfeldherrn aus dem Haus Hohenzollern. Zur Entourage dieser obersten Amtsträger sollten die Mitglieder einer Pairskammer als ständige Versammlung der regierenden deutschen Fürsten einschließlich der 1803 bzw. 1806 depossedierten Standesherren des Alten Reiches gehören, sowie schließlich das nach Ständen in einem Reichsparlament zu versammelnde Volk, über dessen Wahlbefugnisse freilich jede Angabe fehlte. In solchen Bildern hatten Arnim und Görres damals, im ideenpolitischen Umfeld der Befreiungskriege und des Wiener Kongresses26, die Idealverfassung eines wiederzuerrichtenden deutschen Kaiserreiches skizziert. Realitäts___________ 24 Vgl. Joseph Görres, Gesammelte Schriften. Bd. 6-8: Rheinischer Merkur, hg. von Karl d’Ester/Hans A. Münster/Wilhelm Schellberg/Paul Wentzcke, Köln 1928, 1. Halbbd. (1814), Nr. 104-107, 18., 20., 22., 24. August 1814 (Die künftige teutsche Verfassung); Bd. 9-11: Rheinischer Merkur, 2. Halbbd. (1815/16), Nr. 175-181, 8., 10., 12., 14., 16., 18., 20. Januar 1815 (Der Kaiser und das Reich); zum Ganzen Johannes Uhlmann, Joseph Görres und die deutsche Einheits- und Verfassungsfrage bis zum Jahre 1824. Dargestellt auf Grund seiner geschichtsphilosophischen und staatstheoretischen Anschauungen, Leipzig 1912, S. 81 ff.; Alois Dempf, Görres spricht zu unserer Zeit, Freiburg i. Br. 1933, S. 100-115; ferner Hajo Jappe, Die Vorstellungen von Volk und Nation, Staat und Reich im Rheinischen Merkur, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 46 (1934), S. 112-146. 25 Vgl. Achim von Arnim, Die Kronenwächter. Erster Band: Berthold’s erstes und zweites Leben. Ein Roman, Berlin 1817. 26 Vgl. für den Zusammenhang die an Materialreichtum noch immer unübertroffene Studie von Wilhelm A. Schmidt, Geschichte der deutschen Verfassungsfrage während der Befreiungskriege und des Wiener Kongresses 1812 bis 1815. Aus dem Nachlaß hg. von Alfred Stern, Stuttgart 1890; ergänzend die Dissertationen von Willy Real, Die deutsche Verfassungsfrage am Ausgang der napoleonischen Herrschaft bis zum Beginn des Wiener Kongresses, Münster 1935, und Marianne Goerdeler, Die Reichsidee in den Bundesplänen 1813/15 und ihr geistiger Hintergrund, Leipzig 1943; zuletzt zusammenfassend Heinz Duchhardt, Stein. Eine Biographie, Münster 2007 sowie die Replik von Peter Burg, „… dass man sich selbst vergisst und nur der Sache lebt“. Freiherr vom Stein im Lichte einer neuen Biographie, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 18 (2008), S. 243-256.
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nah oder gar politisch praktikabel waren solche Konzeptionen allesamt nicht gewesen. Das verband sie mit manchen anderen Stimmen aus dem polyphonen Chor der im Vormärz den Kaiser- und Reichsmythos propagierenden deutschen Publizistik.27 Ihre eigentliche Bedeutung sollten sie denn auch erst in späterer Zeit und aus einem anderen Grund gewinnen: Deckten sie sich doch nahtlos mit jenen Vorstellungen und Visionen des damaligen preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm IV., wie er sie als König im Gefolge der revolutionären Ereignisse von 1848/49 eine zeitlang zu handlungsleitenden Maximen seines politischen Programms erheben sollte.
III. Das preußische Herrscherhaus war seit Anfang der 1820er Jahre ohnehin eng mit der in Deutschland aufkommenden Mittelalter-Begeisterung verknüpft. Dies galt weniger für die Person des bis 1840 regierenden Königs Friedrich Wilhelm III. Seiner schwunglosen Existenz erschien die Bezugnahme auf Kaiser und Reich infolge der nationalpolitischen Konnotationen dieser Begriffe zeitlebens eher verdächtig.28 Doch die Söhne des Königs besaßen in dieser Hinsicht keine Berührungsängste. Der zweitälteste, Prinz Wilhelm, spätere König und Kaiser Wilhelm I., hatte während seiner Italien-Reise 1822 die Monumente mittelalterlicher Sakral- und Profanbaukunst eingehend in Augenschein nehmen können und war seither ein eifriger Freund und Förderer des gotischen Geschmacks. Zahlreiche seiner Briefe aus jenen Jahren geben davon Zeugnis29 ___________ 27
Dazu wie für das Folgende noch immer grundlegend Elisabeth Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871-1918, München/Wien 1969, S. 14-51. 28 Dazu jetzt umfassend Thomas Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III. – der Melancholiker auf dem Thron, Berlin 1992, bes. S. 486511; ders., Friedrich Wilhelm III. (1797-1840), in: Frank-Lothar Kroll (Hg.), Preußens Herrscher. Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II., München 2000, S. 197-218. 29 Vgl. in diesem Zusammenhang die teilweise enthusiastischen Äußerungen über die damals in Augenschein genommenen Baudenkmäler der Gotik, z. B. das Straßburger Münster (Kurt Jagow [Hg.], Jugendbekenntnisse des Alten Kaisers. Briefe Kaiser Wilhelms I. an Fürstin Luise Radziwill, Prinzessin von Preußen 1817 bis 1829, Leipzig o. J., S. 20), den Mailänder Dom (ebd., S. 42 f.), Kirchen und Paläste in Florenz (ebd., S. 64) und Pisa (ebd., S. 65 f.), efeubewachsene Schlösser (ebd., S. 19, S. 38 ff.), Ruinen (ebd., S. 19 f., S. 38, S. 60 f.) und Burgen (ebd., S. 19, S. 249); vgl. auch bereits Hermann Granier (Hg.), Prinzenbriefe aus den Freiheitskriegen 1813-1815. Briefwechsel des Kronprinzen Friedrich Wilhelm IV. und des Prinzen Wilhelm I. von Preußen mit dem Prinzen Friedrich von Oranien, Stuttgart/Berlin 1922, S. 89 (6. Januar 1814, „die schönste gothische Kirche[,] die man sehen kann“), S. 102 (31. Januar 1814, Basel), S. 110 (8. Februar 1814, Troyes), S. 157 ff. (28. Januar 1815, Kostümfest in „gotischer“ Manier). – Für den Zusammenhang Alfred Kamphausen, Gotik ohne Gott. Ein Beitrag zur Deutung der Neugotik und des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1952; Wolfram von den Steinen, Mittelalter und Goethezeit, in: Historische Zeitschrift 183 (1957), S. 249-302;
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und belegen zudem seine ausgesprochene Vorliebe für die „gotisch“ drapierten Romane Walter Scotts30 und für die Stauferdramen Ernst Raupachs.31 Ähnliches galt von seinem jüngeren Bruder, dem Prinzen Karl, dem sich die Welt des Mittelalters vor allem in denkmalpflegerischen Aktivitäten erschloß.32 Während bei den Prinzen Wilhelm und Karl solche „mittelalterlichen“ Ambitionen und Interessen weitgehend im vorstaatlichen Raum verblieben, gewannen sie für ihren älteren Bruder Friedrich Wilhelm (IV.) konkrete, politisch handlungsleitende Relevanz.33 Die patriotische Begeisterung für alles „Deutsche“, die sich bei ihm in den ereignisreichen Jahren des Befreiungskampfes gegen Napoleon I. formiert hatte, übertrug sich zunächst – zeittypisch – auf die Gotik. Der gotische Stil erschien fälschlicherweise als rein germanische Bauform: deutschem Boden er-
___________ Georg Germann, Neugotik. Geschichte ihrer Architekturtheorie, Stuttgart 1974; zuletzt grundlegend und umfassend (mit weiterführender Literatur) Klaus Niehr, Gotikbilder – Gotiktheorien. Studien zur Wahrnehmung und Erforschung mittelalterlicher Architektur in Deutschland zwischen ca. 1750 und 1850, Berlin 1999, bes. S. 11-19, S. 215-224. 30 Vgl. Hermann Granier (Hg.), Prinzenbriefe (wie Anm. 29), S. 108; ferner KarlHeinz Börner (Hg.), Prinz Wilhelm von Preußen an Charlotte. Briefe 1817-1860, Berlin 1993; für den Zusammenhang William Douglas Robson-Scott, The Literary Background of the Gothic Revival in Germany. A Chapter in the History of Taste, Oxford 1965. 31 Vgl. Kurt Jagow (Hg.), Jugendbekenntnisse (wie Anm. 29), S. 241, S. 249. 32 Prinz Karl von Preußen hatte, gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm (I.), seit den 1830er Jahren Burg Sooneck am Rhein aufwendig restaurieren lassen; dazu instruktiv Ursula Rathke, Preußische Burgenromantik am Rhein. Studien zum Wiederaufbau von Rheinstein, Stolzenfels und Sooneck (1823-1860), München 1979, bes. S. 88 ff.; ferner dies., Ein Sanssouci am Rhein. Bemerkungen zur Entwicklung der preußischen Burgenromantik am Rhein, in: Renate Wagner-Rieger/Walter Krause (Hg.), Historismus und Schloßbau, München 1975, S. 87-102; dies., Schloß- und Burgenbauten, in: Eduard Trier/Willy Weyres (Hg.), Kunst des 19. Jahrhunderts im Rheinland, Bd. 2, Teil 2: Architektur II. Profane Bauten und Städtebau, Düsseldorf 1980, S. 343-362; zu Prinz Karls denkmalpflegerischen Aktivitäten vgl. jetzt umfassend Gerd-Heinrich Zuchold, Der „Klosterhof“ des Prinzen Karl von Preußen im Park von Schloß Glienicke in Berlin. Bd. 1: Geschichte und Bedeutung eines Bauwerkes und seiner Kunstsammlung, Bd. 2: Katalog der von Prinz Karl von Preußen im „Klosterhof“ aufbewahrten Kunstwerke, Berlin 1993. 33 Vgl. als Überblick aus primär kunstgeschichtlicher Perspektive Gerd-Heinrich Zuchold, Antike und Mittelalter bei Friedrich Wilhelm IV, in: Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (Hg.), Friedrich Wilhelm IV. Künstler und König. Zum 200. Geburtstag, Ausstellung vom 8. Juli bis 3. September 1995, Neue Orangerie im Park von Sanssouci, Frankfurt am Main 1995, S. 71-76; ferner als Quellenzeugnisse Friedrich Wilhelm IV., Die Königin von Borneo. Ein Roman, hg. von Frank-Lothar Kroll, Berlin 1997; ders., Briefe aus Italien 1828, hg. und kommentiert von Peter Betthausen, München/Berlin 2001, sowie zuletzt umfassend Rolf H. Johannsen, Friedrich Wilhelm IV. von Preußen. Von Borneo nach Rom. Sanssouci und die Residenzprojekte 1814 bis 1848, Kiel 2007, bes. S. 18 ff., S. 248 ff.
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wachsen und deutschem Wesen gemäß.34 In diesem Bezugsfeld entstanden bis zum Ende der 1820er Jahre zahlreiche kronprinzliche Entwurfszeichnungen, die den Kölner und den Frankfurter Dom als Krönungskirchen für einen zukünftigen deutschen Kaiser zeigten.35 Der Kölner Dom avancierte für Friedrich Wilhelm IV. dann immer stärker zum Symbol für die verlorene Kaiser- und Reichsherrlichkeit des Mittelalters, deren Wiederkunft er herbeisehnte, und um deren Realisierung er sich im Krisenjahr 1848/49 bemühte.36 Persönlich legte der König 1842 den Grundstein zum Weiterbau des Domes, wobei er ihn in einer vielbeachteten Ansprache als nationalpolitisches und zugleich überkonfessionelles „Werk des Brudersinns aller Deutschen“ pries, als Sinnbild für die Arbeit an der Errichtung eines imaginären deutschen Vaterlandes. Der Dombau lege Zeugnis ab „von einem durch die Einigkeit seiner Fürsten und Völker großen, mächtigen, den Frieden der Welt unblutig erzwingenden Deutschland“.37 Solche Worte zeigten den preußischen König in weitgehender Übereinstimmung mit der großen Mehrheit seiner deutschlandpolitisch ambitionierten Zeit___________ 34
Zum Gotik-Verständnis Friedrich Wilhelms IV. vgl. in diesem Zusammenhang Ludwig Dehio, Friedrich Wilhelm IV. von Preußen. Ein Baukünstler der Romantik, München 1961, S. 16-21; Ursula Rathke, Die Rolle Friedrich Wilhelms IV. von Preußen bei der Vollendung des Kölner Doms, in: Kölner Domblatt 47 (1982), S. 127-160, 48 (1983), S. 27-68, 49 (1984), S. 169-173; Gerd-Heinrich Zuchold, Friedrich Wilhelm IV. und das deutsche Mittelalter. Die Heldensage als Bedeutungsträger staatshistorischen Denkens des Monarchen, in: Peter Krüger/Julius H. Schoeps/Irene Diekmann (Hg.), Der verkannte Monarch. Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit, Potsdam 1997, S. 159-180. – Für den Zusammenhang noch immer wichtig Heinrich Lützeler, Die Deutung der Gotik bei den Romantikern, in Wallraf-Richartz-Jahrbuch 2 (1925), S. 9-33. 35 Dazu jetzt grundlegend und umfassend Catharina Hasenclever, Gotisches Mittelalter und Gottesgnadentum in den Zeichnungen Friedrich Wilhelms IV. Herrschaftslegitimierung zwischen Revolution und Restauration, Berlin 2005, bes. S. 184 ff.; ferner die Detailstudie von Gerd-Heinrich Zuchold, Der Kronprinz als Kloster- und Ordensgründer. Die Entwurfszeichnungen Friedrich Wilhelms (IV.) zum Kloster „St. Georgen im See“, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 39 (1992), S. 483-507, sowie perspektivenreich Christine Tauber, „… man fingirt sich ein gemaltes Preussen“. Die Utopien Friedrich Wilhelms IV., in: Patrick Bahners/Gerd Roellecke (Hg.), Preußische Stile (wie Anm. 21), S. 338-354, S. 529-538. 36 Dazu speziell Frank-Lothar Kroll, Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der deutschen Romantik, Berlin 1990, S. 131-136, mit weiterführender Literatur. 37 Friedrich Wilhelm IV. anläßlich der Grundsteinlegung zum Weiterbau des Kölner Doms, 4. September 1842; Druck der Rede in: So sprach der König. Reden, Trinksprüche, Proclamationen, Botschaften, Kabinettsordres, Erlasse Friedrich Wilhelms IV., Neuausgabe Stuttgart 1861, S. 31 f.; Zum Dombaufest im allgemeinen Thomas Nipperdey, Der Kölner Dom als Nationaldenkmal, in: Historische Zeitschrift 233 (1981), S. 595-613; ders., Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 206 (1968), S. 529-585, bes. S. 550 f.; – Heinrich Lützeler, Der Kölner Dom in der deutschen Geistesgeschichte, Bonn 1948, S. 31, hat von seiten des Kunsthistorikers treffend darauf hingewiesen, „daß diese Rede mehr einen idealistischen Willen bezeugt als ungewollt und unmittelbar von der Erfahrung einer neuen Daseinsmöglichkeit durchwirkt ist“.
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genossen, die – gleich ihm – das Dombauunternehmen als eine Art Startsignal für den Aufbruch zu nationaler Größe interpretierten.38 Das Vehikel zum Transport solcher Interpretationen war der durch gotischen Stil und mittelalterliche Herkunft vorgegebene imperiale Bezugsrahmen des Domes. Niemals zuvor befand sich die monarchische Staatsspitze Preußens in stärkerem Einklang mit der deutschen Nationalbewegung innerhalb wie außerhalb des Hohenzollernstaates. Die Berufung auf den Vorstellungskomplex „Kaiser und Reich“ bildete das Scharnier, das damals beide Seiten, hohenzollernsches Königshaus und deutsche Nationalbewegung, miteinander verband. Das galt nun freilich nicht für jene mittelalterlichen Kaiserträume, die den preußischen König 1848/49 in die Nähe zu jenen romantischen Konzeptionen von Arnim und Görres rückten, von denen bereits die Rede war. „Kaiser und Reich“ wurden nun, in der Hoffnung auf eine „von oben“ gesteuerte Realisierung der deutschen Nationaleinheit, für mehrere Monate zum beherrschenden Angelpunkt im Denken und Handeln des Monarchen. Zahlreich waren die von ihm um die Jahreswende 1848/49 an führende Staatsmänner des In- und Auslandes gerichteten Briefe, in denen er sein Idealbild eines von mittelalterlichen Reminiszenzen durchzogenen Reichsorganismus entwarf. An der Spitze dieses Reiches sollten als „Ehrenhaupt deutscher Nation“ der österreichische Kaiser und, ihm zur Seite, ein erwählter und gesalbter deutscher König stehen. Beide sollten umgeben werden von einem erblichen Reichserzfeldherrn aus dem Haus Hohenzollern, von mehreren Reichswehrherzögen, einem Königskolleg sowie einem Reichstag als Vertretungsorgan der deutschen Bundesstaaten.39 Das waren, in nahezu wortgleicher Übereinstimmung, die von Arnim und Görres her bekannten Vorstellungen kaiser- und reichsbezogenen Argumentierens. Und auch deren gesamteuropäische Einbindung, wie sie für das zwischen „Weltbür___________ 38
Dazu Gertrud Klevinghaus, Die Vollendung des Kölner Doms im Spiegel deutscher Publikationen der Zeit von 1800 bis 1842, Phil. Diss. Saarbrücken 1971, bes. S. 123-128; zur liberal-demokratischen Kritik am Kölner Dombaufest vgl. auch Thomas Nipperdey, Kirche und Nationaldenkmal. Der Kölner Dom in den vierziger Jahren, in: Werner Pöls (Hg.), Staat und Gesellschaft im politischen Wandel. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt, Stuttgart 1979, S. 175-202, bes. S. 187 ff.; ferner Nicola Borger-Keweloh, Die mittelalterlichen Dome im 19. Jahrhundert, München 1986. 39 Vgl. z. B. Friedrich Wilhelm IV. an Ludolf Camphausen, April 1848 (König Friedrich Wilhelms IV. Briefwechsel mit Ludolf Camphausen, hg. und erläutert von Erich Brandenburg, Berlin 1906, S. 60 f.); an Friedrich Christoph Dahlmann, 24. April, 3. und 15. Mai 1848 (Anton Springer, Friedrich Christoph Dahlmann, Bd. 2, Leipzig 1872, S. 225-228, S. 240-244, S. 247-250); an Friedrich August II. von Sachsen, 1./2. und 5. Mai 1848 (König Friedrich Wilhelms IV. Briefe an König Friedrich August II. von Sachsen. Mitgeteilt von Hellmut Kretzschmar, in: Preußische Jahrbücher 227 (1932), S. 42 ff., S. 45 f.); an Erzherzog Johann von Österreich, 18. November 1848 (Briefwechsel zwischen König Friedrich Wilhelm IV. und dem Reichsverweser Erzherzog Johann von Österreich [1848-1850], hg. von Georg Küntzel, Frankfurt am Main 1924, S. 9 ff.
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gertum“ und „Nationalstaat“ oszillierende Denken der deutschen Romantik so typisch gewesen ist40, kehrte in den Reichsverfassungsentwürfen Friedrich Wilhelms IV. wieder. Denn politisch wies er dem „römischen“ Kaisertum der Habsburger einen Funktionsrahmen zu, der nicht die national-einheitsstaatlichen, sondern die universal-föderativen Dimensionen des Kaiseramtes betonte. Das Kaisertum sollte – nach „mittelalterlichem“ und zugleich „romantischem“ Vorbild – eine alle Völker und Nationen Europas verbindende Ordnungs- und Friedensmacht darstellen. Es sollte historisch gewachsene Eigenarten garantieren, zwischenstaatliche Spannungen auf der Grundlage christlicher Moralgebote neutralisieren und so die Einheit des Abendlandes weithin sichtbar dokumentieren. Man hat oft übersehen, daß der preußische König mit solchen Auffassungen nicht nur Elemente und Versatzstücke aus dem reichhaltigen Ideenrepertoire der politischen Romantik bemühte, sondern hier auch eine Sichtweise als handlungsleitende Maxime in die preußische Politik einzuführen versuchte, die man als eine Art Vorwegnahme der dreizehn Jahre später (1861) von Julius Ficker gegen Heinrich von Sybel vorgebrachten Interpretation des mittelalterlichen deutschen Kaisertums bezeichnen kann.41 Ficker hatte das mittelalterliche Imperium aus großdeutsch-katholischer, universalistischer Sicht gedeutet, Sybel ihm hingegen einen kleindeutsch-protestantischen, nationalstaatlichen Bezugspunkt unterstellt. Infolgedessen empfand Sybel die ottonisch-staufische Kaiserpolitik mit ihrer Wendung nach Italien und ihrer weitgehenden Vernachlässigung der deutschen Ostkolonisation als schädliche Ablenkung von der „eigentlichen“ Aufgabe einer Begründung fester Herrschaftsgewalt in Deutschland. ___________ 40 Dazu noch immer lesenswert Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat (1907). Werke, Bd. 5, München 1963, S. 192-235. 41 Zur Kontroverse Ficker-Sybel vgl. Friedrich Schneider (Hg.), Universalstaat oder Nationalstaat. Macht und Ende des ersten deutschen Reiches, Innsbruck 1941 (Edition der Kontroversschriften); ferner Heinrich Hostenkamp, Die mittelalterliche Kaiserpolitik in der deutschen Historiographie seit von Sybel und Ficker, Berlin 1934; Friedrich Schneider, Die neueren Anschauungen der deutschen Historiker über die deutsche Kaiserpolitik des Mittelalters, 4. Aufl. Weimar 1940; Heinrich Ritter von Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, Bd. 2, München/Salzburg 1951, S. 33-36; Heinz Gollwitzer, Zur Auffassung der mittelalterlichen Kaiserpolitik im 19. Jahrhundert. Eine ideologie- und wissenschaftsgeschichtliche Nachlese (1966), jetzt in: Ders., Kultur – Konfession – Regionalismus. Gesammelte Aufsätze, hg. von HansChristof Kraus, Berlin 2008, S. 67-91; vorzüglich resümierend Hartmut Boockmann, Ghibellinen oder Welfen, Italien- und Ostpolitik. Wünsche des deutschen 19. Jahrhunderts an das Mittelalter, in: Reinhard Elze/Pierangelo Schiera (Hg.), Das Mittelalter im 19. Jahrhundert in Italien und Deutschland, Bologna/Berlin 1988, S. 127-150; zuletzt Thomas Brechenmacher, Wieviel Gegenwart verträgt historisches Urteilen? Die Kontroverse zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker über die Bewertung der Kaiserpolitik des Mittelalters (1859-1862), in: Ulrich Muhlack (Hg.), Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 87-112.
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Ficker hingegen erblickte im mittelalterlichen Kaisertum eine universale Friedensmacht, die, auf christlich-abendländischer Grundlage ruhend, einer Versöhnung der Völker Mitteleuropas vorgearbeitet habe. Das aber war exakt jener Standpunkt, den Friedrich Wilhelm IV. 1848/49 eingenommen hatte, und dieser Standpunkt war deshalb so bemerkenswert, weil hier ein regierender preußischer Monarch zum ersten und einzigen Mal nicht jenes Bild eines kleindeutsch-nationalstaatlichen Reichsverbandes ins Mittelalter hineinprojizierte, welches die Kaiseridee hinfort prägen sollte.
IV. Diese nationalstaatlich akzentuierte Vereinnahmung der imperialen Traditionen des Alten Reiches geriet in der Folgezeit zum dominierenden Faktor auch im Blick auf dessen Nachleben. Zwar stimmte das 1871 geschaffene evangelische Kaisertum der Hohenzollern mit den meisten hier vorgestellten Träumen und Visionen der Kaiser- und Reichsfreunde aus der ersten Jahrhunderthälfte kaum überein. Gleichwohl brachte es für die große Mehrheit der Deutschen eine Erfüllung lang gehegter Hoffnungen und Wünsche. „Kaiser“ und „Reich“ waren nun keine irreal verklärten Sehnsuchtsbilder und Zukunftsprojektionen mehr, sondern konkrete politische Realitäten, in die man sich einzuleben und mit denen man sich zu arrangieren hatte. In der Regel ist dies gelungen – das Bismarckreich wurde, selbst bei vielen Vertretern der Arbeiterschaft und des politischen Katholizismus, zum willkommenen Hort nationaler Ansprüche und Befindlichkeiten. Daraus ergaben sich neue Sichtweisen auf die Geschichte und Überlieferung des Alten Reiches ebenso wie veränderte Rahmenbedingungen für dessen ideologische Vereinnahmung. Der erste Hohenzollernkaiser, Wilhelm I., hat in den Jahren nach 1871 bewußt Distanz gewahrt gegenüber den nun immer lautstarker vorgebrachten neudeutsch-nationalstaatlichen Kaiserinterpretationen vieler seiner Zeitgenossen.42 Im Mittelpunkt solcher Interpretationen stand die Umdeutung der Kyffhäusersage, gemäß derer Friedrich I. „Barbarossa“ in Wilhelm I. „Barbablanca“ einen würdigen Nachfolger gefunden habe. Zahlreiche Gelegenheitsdichtungen der 1870er und 1880er Jahre trugen zur raschen Popularisierung dieser Auffassung bei. Eines der bekannteren Produkte dieses Genres stammte von Friedrich Karl Gerok und trug den Titel Zum Friedensfest: ___________ 42
Vgl. Elisabeth Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens (wie Anm. 27), S. 52-88; ferner Reinhard Alings, Monument und Nation. Das Bild vom Nationalstaat im Medium Denkmal – zum Verhältnis von Nation und Staat im deutschen Kaiserreich 1871-1918, Berlin/New York 1996, bes. S. 105 ff., S. 212-223.
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Nun alter Barbarosse Leg friedevoll dein müdes Haupt zur Ruh, Ottonen ihr, du Kaiser Karl der Große Nun schlaft in Ehren in der Marmortruh’ Im Silberhaar ein würdiger Genosse Gesellt sich eurem hohen Reigen zu, Kein ‚römisch Reich’, ein deutsches ist erstanden, Nicht Krieg bedeutet’s, Friede bringts den Landen.43
Doch nicht nur solch populäre Erzeugnisse neudeutscher Alltagslyrik verliehen der Kaiseridee – unter Berufung auf historisierende Parallelen und Entsprechungen – den Glanz, die Würde und den Nimbus einer legitim gewachsenen geschichtlichen Ordnung.44 Auch auf der Ebene der großen Politik versah man das junge Kaiseramt zusehends mit der Dignität „mittelalterlicher“ Erinnerungswerte. Hierbei tat sich besonders der damalige Kronprinz des Deutschen Reiches, spätere König und Kaiser Friedrich III. hervor.45 Er wußte die Kaiseridee des Alten Reiches im Sinne preußisch-neudeutscher Geschichtsinterpretationen öffentlichkeitswirksam zu instrumentalisieren. Vor allem in den entscheidenden Wochen und Tagen unmittelbar vor der Versailler Reichsgründung vom 18. Januar 1871 arbeitete er zielstrebig daran, das in Aussicht stehende evangelische Kaisertum der Hohenzollern in den Überlieferungsfluß der deutschen Geschichte einzubetten und das neue Imperium als eine organische Fortsetzung katholisch-universaler Reichstraditionen von einst erscheinen zu lassen. Die dabei in Gang gesetzten Initiativen reichten von – erfolglosen – Bemühungen um eine zeremonielle Hervorhebung der neuen Würde durch eine Kaiserkrönung in Aachen, Köln oder Frankfurt46, über ein – ebenfalls erfolglo___________ 43
Zitiert nach Albrecht Timm, Der Kyffhäuser im deutschen Geschichtsbild (wie Anm. 2), S. 22. 44 Für den Zusammenhang instruktiv Wolfgang Hardtwig, Erinnerung, Wissenschaft, Mythos. Nationale Geschichtsbilder und politische Symbole in der Reichsgründungsära und im Kaiserreich (1981), wiederabgedruckt in: Ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 224-263. 45 Über ihn zuletzt maßgeblich Hans-Christof Kraus, Friedrich III. (12. März 1888 – 18. Juni 1888), in: Frank-Lothar Kroll (Hg.), Preußens Herrscher (wie Anm. 28), S. 265289. 46 Vgl. Denkschrift des Kronprinzen Friedrich (III.) vom 11. Januar 1871, in: Kaiser Friedrich III., Das Kriegstagebuch von 1870/71, hg. von Heinrich Otto Meisner, Berlin/Leipzig 1926, S. 476 ff.; ferner bereits den Entwurf des Kronprinzen vom 28. Dezember 1870, abgedruckt in: Ottokar Lorenz, Kaiser Wilhelm und die Begründung des Reiches 1866-1871. Nach Schriften und Mitteilungen beteiligter Fürsten und Staatsmänner, Jena 1902, S. 448 f.; dazu – aus der Fülle der vor allem älteren Literatur – die noch immer wichtigen Ausführungen von Gustav Freytag, Der Kronprinz und die deutsche Kaiserkrone, Leipzig 1889; Ottokar Lorenz, Der Kronprinz, Fürst Bismarck und die Kaiserfrage, in: Preußische Jahrbücher 109 (1902), S. 286 ff.; August Eigenbrodt, Bismarck und der Kronprinz in der Kaiserfrage, Kassel 1901; Karl Hampe, Wilhelm I., Kaiserfrage und Kölner Dom. Ein biographischer Beitrag zur Geschichte der deutschen
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ses – Eintreten für die Rückgabe der seit 1808 in Wien aufbewahrten Insignien des Alten Reiches47, bis hin zu der vom Kronprinzen persönlich veranlaßten Aufstellung des „Goslarer Stuhls“, der als Thronsessel und Krönungssitz der salischen Kaiser galt und bei Eröffnung des Ersten Deutschen Reichtags durch Wilhelm I. am 21. März 1871 in Berlin tatsächlich Verwendung fand.48 Solche Aktivitäten waren alles andere als bloße Kopfgeburten eines später romantisch bewegten Gemüts. Sie dienten allesamt einem fest umschriebenen symbolpolitischen Ziel: der historischen Legitimierung und Absicherung des 1871 errichteten deutschen Nationalstaates. Durch den Rückgriff auf ausgewählte Requisiten der mittelalterlichen Kaiserüberlieferung wurde dieser neugeschaffene Nationalstaat in die Kontinuität einer tausendjährigen deutschen Geschichtstradition hineingestellt. Damit erhielt das Kaiseramt historische Tiefenschärfe. Es wurde in seiner einheitsstiftenden Funktion aufgewertet und in seiner Rolle als Sinnbild für den integralen Zusammenhalt der Nation gestärkt. Die so erfolgte Stärkung erwies sich als besonders nachhaltig, weil sie nach drei Seiten hin erfolgte: nach Innen, mit Blick auf die vor allem im Süden Deutschlands noch vielfach lebendige reichspatriotische Gesinnung breiterer Bevölkerungsschichten; ebenfalls nach Innen, im Interesse der deutschen Bundesfürsten, denen es zweifellos leichter fallen mußte, sich einem historisch legitimierten Kaisertum unterzuordnen als der preußischen Königswürde, die ja gerade im Widerstand gegen das Alte Reich zu Ruhm und Ansehen gelangt war49, schließlich nach Außen in bezug auf die machtpolitische Geltung, die der traditionsreiche Kaisertitel dem Oberhaupt des Deutschen Reiches gegenüber den ___________ Reichsgründung, Stuttgart 1936, S. 106 ff., S. 135 ff.; Elisabeth Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens (wie Anm. 27), S. 70 ff. 47 Dabei handelte es sich um Reichskrone, Reichskreuz und Reichsapfel, die Heilige Lanze, das Reichsevangeliar, den Stephanusschrein und den Säbel Karls des Großen; vgl. Theodor Schieder, Die Reichskleinodien und das Kaisertum von 1871, in: Ders., Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Köln/Opladen 1961, S. 154-159; zuletzt ausführlich Josef J. Schmid, Die Reichskleinodien. Objekte zwischen Liturgie, Kult und Mythos, in: Bernd Heidenreich/Frank-Lothar Kroll (Hg.), Wahl und Krönung. Frankfurt am Main. 2006, S. 123-149 (mit aller maßgeblichen Literatur); Reinhart Staats, Die Reichskrone. Die Selbstmächtigkeit der schönsten Reichskleinodie in deutscher Geschichte, in: Ebd., S. 151-173. 48 Dazu eingehend Gerd-Heinrich Zuchold, Prinz Karl von Preußen und der Goslarer Kaiserstuhl. Kunstgeschichte und Denkmalpflege in Berlin und Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1986. – Auch Friedrichs mehrfach erwogene Idee, bei der eigenen Thronbesteigung den Titel „Friedrich IV.“ als „Nachfolger“ des spätmittelalterlichen Kaisers Friedrich III. (1440-1493) anzunehmen, markierte den Stellenwert, den der preußisch-deutsche Kronprinz dem Problem einer auf das „Reich“ hin orientierten „Kontinuität“ im Interesse einer Legitimierung seiner eigenen Herrschaft einräumte. 49 Dazu originell, gelehrt und perspektivenreich Axel Gotthard, Preußens deutsche Sendung, in: Helmut Altrichter/Klaus Herbers/Helmut Neuhaus (Hg.), Mythen in der Geschichte, Freiburg i. Br. 2004, S. 321-369.
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Repräsentanten der beiden anderen europäischen Kaiserstaaten, ÖsterreichUngarn und Rußland, unweigerlich verlieh. Auch in den beiden letzten Jahrzehnten des Bismarckreiches, unter der Herrschaft Kaiser Wilhelms II., hatte die auf „Kaiser und Reich“ bezogene Rezeption historischer Vorbilder in Deutschland Konjunktur. Allerdings verlagerten sich dabei erneut die Akzente. Im Rahmen der von Wilhelm II. mit starkem persönlichen Einsatz betriebenen Erhöhung seines kaiserlichen Großvaters zu „Wilhelm dem Großen“50 kam es zu einer in Form und Ausmaß singulären Bezugnahme auf staufische Vorbilder, was wiederum den seinerzeit geläufigen historischen Parallelisierungen zwischen Staufern und Hohenzollern entsprach. Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal auf dem Kyffhäuser etwa51, oder die Wandfresken in der restaurierten Goslarer Kaiserpfalz52 – beide 1896 vollendet und künstlerisch von Wilhelm II. maßgeblich mitgestaltet – setzten Wilhelm I. in die schon bekannte Beziehung einer unmittelbaren Nachfolge zu Friedrich I. Barbarossa und kennzeichneten den Hohenzollernherrscher damit als legitimen Erben staufischer Macht. Einen Höhepunkt solcher Entsprechungs-Symbolik boten die 1906 vollendeten Mosaikbilder der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin.53 Hier schritten die Angehörigen nahezu aller mittelalterlichen Kaisergeschlechter von Karl dem Großen bis zu Rudolf von Habsburg „parallel“ zu den ihnen jeweils zugeordneten „Nachfolgern“ aus dem Haus Hohenzollern. Die unmittelbare politische Botschaft solcher Entsprechungen war eindeutig: Das preußisch-deutsche Herrscherhaus erschien als Erneuerer staufischer Kai___________ 50 Darüber zuletzt, in großem historischen Zusammenhang sehr instruktiv (mit allerdings unsäglichem Titel) Bernhard vom Brocke, Über den Beinamen „der Große“ von Alexander dem Großen bis zu Kaiser Wilhelm „dem Großen“. Annotationen zu Otto Hintzes Denkschrift „Die Bezeichnung ‚Kaiser Wilhelm der Große‘“ für Friedrich Althoff (1901). Zugleich ein Exemplum historischer Politikberatung im preußischen Kulturstaat, in: Wolfgang Neugebauer (Hg.), Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin 2006, S. 231-267, bes. S. 234 ff. 51 Vgl. Albrecht Timm, Der Kyffhäuser im deutschen Geschichtsbild (wie Anm. 2), S. 21 ff.; Arno Borst, Reden über die Staufer (wie Anm. 10), S. 135 ff.; für den Zusammenhang Karl Hampe, Kaiser Friedrich II. in der Auffassung der Nachwelt, Berlin/Leipzig 1925, sowie Josef Fleckenstein, Das Bild der Staufer in der Geschichte, Göttingen 1983. – Auch die Kaiser Wilhelm-Statue auf dem Hohensyberg (vgl. Ludger Kerssen, Das Interesse am Mittelalter [wie Anm. 6], S. 85-96) sollte die enge Beziehung zwischen mittelalterlicher (karolingischer) Reichstradition und wiedererstandenem (hohenzollernschen) Kaisertum demonstrieren. 52 Vgl. Monika Arndt, Die Goslarer Kaiserpfalz als Nationaldenkmal. Eine ikonographische Untersuchung, Hildesheim 1976. 53 Vgl. die Monographie von Vera Frowein-Ziroff, Die Kaiser WilhelmGedächtniskirche. Entstehung und Bedeutung, Berlin 1982, bes. S. 275 ff.; ferner Rainer Schoch, Das Herrscherbild in der Malerei des 19. Jahrhunderts, München 1975, S. 191196.
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sertraditionen, der Rückgriff in das Arsenal mittelalterlicher Kaiser- und Reichsgeschichte wurde zum probaten Mittel für die Selbstdarstellung der eigenen Dynastie.54 Den letzten deutschen Kaiser belebten die damit verbundenen Reminiszenzen und Erinnerungsbilder – eigenem Eingeständnis zufolge – noch anderthalb Jahrzehnte nach seinem Thronverzicht. So berichtete er dem Schriftsteller Reinhold Schneider bei dessen Besuch in Doorn 1935 von seinen Reisen nach Sizilien und namentlich Apulien, wo er den Spuren des Alten Reiches nachgegangen sei: „In einer Kirche habe man ihm gesagt“, notierte Schneider damals in sein Tagebuch, „er habe sie als erster Kaiser nach Friedrich II. betreten. Man sang ihm die alten Hymnen, mit denen die Kaiser begrüßt worden waren und nannte ihn König von Schwaben.“55 In den Jahren unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, während der Hochphase des deutschen und europäischen Imperialismus, hatten manche Zeitgenossen Wilhelms II. die vermeintlich universalen, „trans-alpinen“ Züge der staufischen Kaiserpolitik, die ja weit über Deutschlands Grenzen nach Süden hinausgriff, sogar dazu genutzt, selbst den imperialistischen Gestus des Zweiten Kaiserreiches in eine direkte historische Kontinuitätslinie zu den Traditionen des Alten Reiches zu stellen. Im Kontext deutscher „Weltpolitik“ erschienen die angeblich weltbeherrschenden, bis nach Süditalien zielenden Ambitionen der römisch-deutschen Kaiser des Hochmittelalters fast wie ein historisches Exempel für die aktuellen Expansionsansprüche Deutschlands und als Instrument zur Rechtfertigung für deutsches Groß- und Weltmachtstreben um 1900.56 Dieses Groß- und Weltmachtstreben mündete für Deutschland – wie auch für alle anderen europäischen Großmächte – bekanntlich in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Der an seinem Ende stehende Zusammenbruch der Monarchie 1918 entzog der Kaiseridee in Deutschland – nun wohl für immer – ihren realen Projektionsraum, wenn auch das Reich als politische Größe vorerst noch ___________ 54 Dazu in größerem monarchiegeschichtlichen Rahmen Frank-Lothar Kroll, Herrschaftslegitimierung durch Traditionsschöpfung. Der Beitrag der Hohenzollern zur Mittelalter-Rezeption im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 274 (2002), S. 61-85, sowie ders., Zwischen europäischem Bewußtsein und nationaler Identität. Legitimationsstrategien monarchischer Eliten im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Hans-Christof Kraus/Thomas Nicklas (Hg.), Geschichte der Politik. Alte und neue Wege, München 2007, S. 353-374. 55 Reinhold Schneider, Tagebuch 1930-1935. Redaktion und Nachwort von Josef Rast, Frankfurt am Main 1983, S. 880 (5. April 1935). 56 Vgl. Sönke Neitzel, Weltmacht oder Untergang. Die Weltreichslehre im Zeitalter des Imperialismus, Paderborn/München/Wien/Zürich 2000, bes. S. 81-210; ders., Außenpolitische Zukunftsvorstellungen in Deutschland um 1900, in: Ders. (Hg.), 1900: Zukunftsvisionen der Großmächte, Paderborn/München/Wien/Zürich 2002, S. 55-79; für den Zusammenhang Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, Bd. II: Zeitalter des Imperialismus und der Weltkriege, Göttingen 1982, S. 217 ff.
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erhalten blieb.57 Heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, sind beide Denkfiguren, Kaiser und Reich gleichermaßen, von deren wechselhaften Formwandlungen im 19. Jahrhundert hier die Rede war, dem politischen Bewußtsein der Deutschen fast schon so fern gerückt, wie die Königserzählungen des Alten Ägypten. Um so wichtiger scheint es, sie zumindest in der historischen Erinnerung noch eine zeitlang lebendig zu erhalten.
___________ 57 Dazu noch immer maßgeblich Klaus Breuning, Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929-1934), München 1969, bes. S. 67 ff., S. 114 ff.; vgl. ferner Franz Bosbach/Hermann Hiery/Christoph Kampmann (Hg.), Imperium/Empire/Reich. Ein Konzept politischer Herrschaft im deutschbritischen Vergleich, München 1990.
Noch einmal: Loudons Nachruhm*
Von Johannes Kunisch, Köln Die Vorstudien zu den Bemühungen, die Spuren des österreichischen Feldmarschalls Gideon Ernst Freiherrn von Loudon (auch Laudon, so die ursprüngliche Version seines Namens) im kollektiven Gedächtnis der Nachwelt zu erforschen, reichen bis in die Zeit zurück, als der Verfasser am Historischen Seminar in Köln noch Gelegenheit hatte, mit dem hier zu Ehrenden persönlich Probleme dieser Art zu erörtern. Insofern mag diese Studie selbst als ein Beitrag zur Mnemosyne betrachtet werden. Ein Hauptteil meiner MemoriaForschungen zu Feldmarschall Loudon ist bereits an anderer Stelle erschienen.1 Hier geht es um einen Nachtrag, der einen weiteren Aspekt des kollektiven Gedächtnisses in den Vordergrund rückt und stärker als in meinen bisherigen Studien die offizielle Würdigung des Feldherrn in den Blick nimmt. Im Konkreten geht es um ein bisher kaum beachtetes Monumentalgemälde (370 x 291 cm) in Öl. Es zeigt Loudon hoch zu Roß über das Schlachtfeld von Kunersdorf reitend.2 Im Hintergrund des groß ins Bild gesetzten Feldherrn sind weitere Kommandeure und Kavallerieabteilungen dargestellt. Loudon trägt auf schwarzem Pferd einen makellos weißen Waffenrock und einen entschlossen gezücktem Degen. Das auffällig großformatige Gemälde ist jedoch nicht als eine Schlachtszene zu verstehen, also als die Annäherung an ein äußerst blutiges Kampfgeschehen (für das der Künstler übrigens durchaus in Betracht kam), sondern als ein verklärendes Heldenbild, als eine Apotheose. Es ist unverkennbar der klassischen Rhetorik eines Feldherrnporträts verpflichtet. Es gibt ältere Loudon-Porträts – etwa als Türkenbezwinger (Friedrich Heinrich Füger, 1789) –, die eine ähnliche Absicht verfolgt haben. Sie dürften für dieses Ge___________ * Für wichtige Auskünfte danke ich Helmut Börsch-Supan (Berlin) und Manfried Rauchensteiner (Wien). 1 Johannes Kunisch, Loudons Nachruhm. Die Geschichte einer Sinnstiftung (Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 359), Opladen 1999. 2 Zum Biographischen Johannes Kunisch, Ernst Gideon Frhr. von Laudon, in: NDB 13 (1982), S. 700 ff. Vgl. ferner ders., Feldmarschall Loudon oder das Soldatenglück, zuletzt in: ders., Fürst – Gesellschaft – Krieg. Studien zur bellizistischen Disposition des absoluten Fürstenstaates, Köln/Weimar/Wien 1992, S. 107-129.
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mälde aber nicht als Vorbild gedient haben, obwohl sich die markante Physiognomie des Feldherrn sehr genau an den zahlreich überlieferten zeitgenössischen Porträts – vor allem auch von Füger – orientiert.3 Das Bild ist im Auftrag Kaiser Franz Josephs für die Pariser Weltausstellung 1878 gemalt und danach der kaiserlichen Gemäldegalerie anvertraut worden. Es hängt heute im Wiener Heeresgeschichtlichen Museum im Arsenal. Der Künstler, ein gewisser Sigmund L’Allemand (1840-1910), ist vor allem mit Historien- und Schlachtgemälden hervorgetreten und war in Wien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Kaiserhaus und bei Persönlichkeiten der Hofgesellschaft (Trautmannsdorff, Neipperg, Czernin u. a.) auch als Porträtmaler geschätzt. Er hatte sich in der Wiener Akademie ausbilden lassen und im deutsch-dänischen Krieg und während des Italienfeldzugs von 1866 (Schlacht von Custozza) Feldstudien betrieben, die er in entsprechenden Historiengemälden dann für eindrucksvolle Schlachtenszenen verwendete.4 Bemerkenswert ist, daß L’Allemand in Parallele zu dem Kunersdorf-Bild auch eine Darstellung des Feldmarschalls Leopold Graf Daun in der Schlacht von Kolin für den Kaiser gemalt hat. Beide sind vermutlich aus derselben Intention in Auftrag gegeben worden5. L’Allemand ist in der Geschichte der Historien- und Porträtmalerei bisher wenig gewürdigt worden. Auch in Helmut Börsch-Supans umfassendem Kompendium über die deutsche Malerei von Anton Graff bis Hans von Marées6, in dem neben den herausragenden und stilprägenden Künstlerpersönlichkeiten auch ein Kapitel der Residenzstadt Wien als Kunstzentrum der Epoche gewidmet ist, wird sein Name nicht genannt. Insofern ist es hier nicht möglich, L’Allemand in seinem künstlerischen Rang einzuordnen und ausführlicher zu würdigen. Immerhin kann gesagt werden, daß er in der Epoche Kaiser Franz Josephs bei Hofe und in der Wiener Gesellschaft einen Namen hatte und besonders als akademisch geschulter, mit den Konventionen des höfischen Geschmacks vertrauter Porträtmaler geschätzt wurde. Schon bei Füger (17511818), also etliche Jahrzehnte zuvor, gehörte es in Wien zum guten Ton, sich in ___________ 3 Zu Fügers Bedeutung für die illustrierende Historisierung der österreichischen Geschichte mehrfach Werner Telesko, Geschichtsraum Österreich. Die Habsburger und ihre Geschichte in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts, Wien/Köln/Weimar 2006. 4 Zu den biographischen Details vgl. Friedrich von Boetticher, Malerwerke des neunzehnten Jahrhunderts. Beitrag zur Kunstgeschichte, Bd. I/2, Dresden 1891, Nachdruck Hofheim 1979, S. 833 f., mit Einzelnachweisen aller (?) Ölgemälde und Zeichnungen. Ferner W. Telesko, Geschichtsraum Österreich (wie Anm. 3), S. 236 f. 5 Der Verbleib dieses Bildes konnte nicht ermittelt werden. Wie mir Manfried Rauchensteiner mitteilte, befindet sich im Historischen Museum der Stadt Wien eine Kreidelithographie nach diesem Gemälde. 6 Helmut Börsch-Supan, Die Deutsche Malerei von Anton Graff bis Hans von Marées 1760-1870, München 1988. Ich danke ihm für freundschaftlich erteilte Auskünfte.
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einem Stil porträtieren zu lassen, der dem sozialen Status und der Reputation bei Hofe angemessenen war.
Gideon Freiherr von Loudon (2.2.1717 – 14.7.1790), Gemälde von Sigmund L’Allemand (1840 – 1910) im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien.
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Zur inhaltlichen Bedeutung des Kolin- und Kunersdorf-Bildes ist in Erinnerung zu rufen, daß die beiden dargestellten Ereignisse, 1757 und 1759, zu den glanzvollsten Siegen zu zählen sind, die die österreichische Armee über den spätestens seit der Reichsgründung als Nationalheld gefeierten Preußenkönig Friedrich im Siebenjährigen Krieg erfochten hat. Der Sieg des österreichischen Oberkommandierenden Daun bei Kolin bedeutete nicht nur die erste Niederlage des Preußenkönigs, sondern auch die Rettung Prags vor dem Zugriff der preußischen Belagerungsarmee. Er hatte im übrigen den verlustreichen Rückzug Friedrichs aus Böhmen und das Zerwürfnis mit seinem als Thronfolger vorgesehenen Bruder August Wilhelm zur Folge. In Kunersdorf focht Loudon an der Spitze eines in die Mark Brandenburg entsandten Armeekorps an der Seite der russischen Hauptarmee und brachte dem König nach erbittertem Kampf eine vernichtende Niederlage und den Verlust des gesamten Kriegsgeräts bei. Sie hätte bei konsequenter Ausnutzung der Lage zum Untergang Preußens und zur Durchsetzung des eigentlichen Kriegsziels, der Wiedergewinnung Schlesiens führen können.7 So versteht es sich, daß beide Bilder das eindeutig erkennbare Ziel verfolgten, nämlich vor der Weltöffentlichkeit die Botschaft zu verkünden, daß das österreichische Kaiserhaus in den Auseinandersetzungen mit Preußen keineswegs nur unterlegen gewesen sei. Offenkundig ist darüber hinaus, daß die Aufträge zu diesen eindrucksvoll inszenierten Historiengemälden mit den Einigungskriegen Bismarcks und der Niederlage der Österreicher bei Königgrätz in Verbindung stehen. Hier sollte der ohnehin hochgeschätzte Daun, aber auch der erst nach seinem Türkensieg (1789) uneingeschränkt bewunderte Loudon mit einem patriotischen, aber zugleich auch trotzig selbstbewußten Auftritt in Szene gesetzt werden. Das Gemälde wurde zum sechzigjährigen Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josephs in einer Reproduktion (Heliogravüren) einbezogen in eine prachtvoll ausgestattete Festschrift, die unter der literarischen Leitung des Historikers Joseph Alexander Freiherrn von Helfert und mit dem Buchschmuck verschiedener Künstler 1908 in Wien erschien. Sie trug den Titel: „An Ehren und Siegen reich. Bilder aus Österreichs Geschichte“. Die Auswahl der reproduzierten Bilder unterstreiche nach Auffassung von Werner Telesko „den grundsätzlich programmatischen Charakter dieser Publikation als ‚Ruhmesgeschichte‘ Habsburgs aus dem Bewußtsein einer glanzvollen Geschichte. […] Bestimmte historische Ereignisse stehen in zahlreichen bildlichen Darstellungen für eine be-
___________ 7 Vgl. neben vielen anderen Darstellungen Johannes Kunisch, Friedrich der Große. Der König und seine Zeit, 5. Aufl., München 2005, S. 402-405.
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stimmte – und dadurch gleichsam kanonisierte – Sichtweise der eigenen Vergangenheit.“8 Schon in meiner älteren Studie stand der Nachweis im Vordergrund, daß Loudon als ein höchst sinnfälliges Beispiel für die Perspektivenvielfalt und die Strukturen historischen Erinnerns betrachtet werden kann. An diesen Metamorphosen „ist mit besonderer Eindringlichkeit nachweisbar, wie das kulturelle Gedächtnis ein eigenes, von der Quellenüberlieferung im engeren Sinne durchaus abweichendes Bild zu entwerfen vermag. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Loudon eigentlich und objektiv betrachtet nur als Feldherr in exzeptioneller Weise in Erscheinung getreten ist. Das Bild jedoch, das sich schon die Zeitgenossen, in besonderer Weise aber die Nachwelt von ihm gemacht haben, läßt Züge dieses schließlich überhaupt als verehrungswürdig erscheinenden Mannes hervortreten, die sich vom Ruhm des Feldherrn und seinen militärischen Verdiensten beinahe völlig gelöst haben“.9 Ich übergehe hier die zahlreichen mehr oder weniger authentischen Bildbelege und die Volkslieder10, die das Bild des Feldherrn im Sinne einer populären Anverwandlung geprägt haben.11 Wichtiger sind in diesem Zusammenhang seine Charaktereigenschaften. In zahlreichen Quellen ist Loudons Bescheidenheit, seine Schwermut und sein trauriges Wesen überliefert. Alle diese Eigenschaften könnten, wie der damals überaus einflußreiche Dichter, Schriftsteller und Gelehrte Christian Fürchtegott Gellert in einem frühzeitig schon bekannt gewordenen Brief vermutet hat, in der Scham begründet gewesen sein, die der Feldmarschall zeitlebens über seine unzureichende Bildung und seine geringe Vertrautheit mit höfischen Umgangsformen empfunden hat.12 Er erschien Gellert wie ein Mann von besonderem Charakter: „ernsthaft, bescheiden, halb traurig, fast wie ich: der wenig redte, fast wie ich, aber richtig und wahr redte, nichts von seinen Thaten, wenig vom Krieg sprach, der aufmerksam zuhörte und in seinem ganzen Betragen, in seiner Art sich zu kleiden eben die gefällige Einfalt und Anständigkeit zeigte, die in seinen Reden herrschte“.13 Die hier an___________ 8
W. Telesko, Geschichtsraum Österreich (wie Anm. 3), S. 235-237. Telesko äußert die Vermutung, daß der Typus solcher Feldherrndarstellungen auf Federzeichnungen von Carl Schütz zurückgehe; vgl. ebd., S. 473 Anm. 497. 9 J. Kunisch, Loudons Nachruhm (wie Anm. 1), S. 7. 10 Hierzu vor allem die Anthologie: Laudon im Gedicht und Liede seiner Zeitgenossen, hg. von Wilhelm Edler von Janko, Wien 1881, und J. Kunisch, Loudons Nachruhm (wie Anm. 1), S. 36 ff. 11 Einzelheiten bei J. Kunisch, Loudons Nachruhm (Anm. 1), S. 36-47. 12 Dazu ausführlicher ebd., S. 47-54, mit den entsprechenden Quellenbelegen. 13 Erstmals veröffentlicht 1823. Aber bereits Zeitgenossen wie der Loudon-Biograph Johann Pezzl oder Friedrich Schlichtegroll, der 1791, also schon kurz nach dem Tode des Feldherrn, einen umfangreichen Nekrolog auf Loudon veröffentlichte, kannten den
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geführten Auszüge aus einem längeren, vielfach auch launigen Bericht über das Zusammentreffen mit Loudon mögen genügen. Denn sie schlagen unüberhörbar die Grundakkorde an, die in der Erinnerung an den Feldherrn später nur noch variiert worden sind. Loudon hatte – auch das ein auffälliger Topos der Rezeptionsgeschichte – immer wieder unter Zurücksetzungen bei Hofe und in der Armee zu leiden. Äußerungen dieser Art sind auch von Loudon selbst überliefert. Jedenfalls knüpften sich an sein unprätentiöses Erscheinungsbild, seine gelegentlich mürrisch erscheinende Gemütsverfassung und sein ernstes und verschlossenes Wesen schon zu seinen Lebzeiten Wahrnehmungsmuster, „die einem von bürgerlicher Empfindsamkeit durchdrungenen Tugendkanon mühelos eingefügt und als Lichtgestalt eines neuen Gesellschaftsbildes“ propagiert werden konnten.14 Was in Gellerts Wahrnehmung allerdings als aufrichtig und bescheiden erscheinen mochte, wirkte aus der Perspektive höfischer Etikette als kurios und angesichts der Verdienste, die sich Loudon als Feldherr ja tatsächlich erworben hatte, geradezu als töricht. Für dieses offenkundige Defizit liefert besonders der Loudon durchaus gewogene Charles Joseph Prince de Ligne, selbst kaiserlicher General, zugleich aber auch ein weltläufiger, vollendet in Erscheinung tretender honnête homme, eine Reihe einprägsamer Belege.15 Die zögerliche Unbeholfenheit etwa, mit der sich der bereits in einen hohen Generalsrang aufgestiegene Loudon in der Frage seiner Abstammung irreführen ließ, veranlaßte den Fürsten zu einer geradezu ärgerlichen Notiz. „Loudon besaß etwas von der Schlichtheit eines Kindes und der Leichtgläubigkeit eines Toren. Ein Ränkeschmied hatte ihn plötzlich veranlaßt, an seine schottische Herkunft zu glauben, und das bewog ihn, ‚Loudon‘ zu unterzeichnen anstelle der von mir gebrauchten und von ihm vorher verwendeten Schreibweise seines Namens“. Ein solches Charakterbild dürfte symptomatisch für die Einschätzung Loudons bei Hofe gewesen sein. Er mußte bei allem Respekt, den man ihm als Person und Feldherr entgegenbrachte, als Außenseiter erscheinen, der zumindest in Standesfragen unerfahren war und im Rahmen des höfischen Zeremoniells befangen wirkte. Aus der Sicht eines Hofmannes wie de Ligne, der nach Maßstäben aristokratischen Stilempfindens urteilte, war Loudons Ahnungslosigkeit jedenfalls eine Normverletzung, die ihn der Lächerlichkeit preiszugeben drohte. Es sind demnach unterschiedliche Wahrnehmungskategorien: bürgerliche Rechtschaffenheit auf der einen, politesse mondaine auf der anderen Seite, die sich gleichzeitig und mit ein und derselben Person in Verbindung bringen ließen. ___________ Wortlaut. Hier zitiert nach der textkritischen Ausgabe: C. F. Gellerts Briefwechsel, hg. von John F. Reynolds, Bd. 3 (1760-1763), Berlin/New York 1991, S. 318. 14 J. Kunisch, Loudons Nachruhm (wie Anm. 1), S. 52 f. 15 Ebd., S. 53 f., vgl. auch S. 65 ff.
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An einer Reihe gewichtiger Äußerungen – vor allem anläßlich seines Todes – wird offenkundig, daß sich das Erscheinungsbild Loudons als „Biedermann“ durchgesetzt hat und ihn als einen Patrioten erscheinen ließ, der ganz unabhängig von seiner militärischen Profession gerade auch in Preußen und im protestantischen Deutschland verehrungswürdig war. Wie die Einschätzung wichtiger, der Aufklärung verpflichteter Publizisten, unter ihnen Friedrich Schlichtegroll, Johann Gottfried Herder, Georg Forster und besonders der vielgelesene Offizier und Reiseschriftsteller Johann Wilhelm von Archenholz16 in wesentlichen Zügen übereinstimmend belegen, begann sich die Wahrnehmung des zuletzt im Türkenkrieg siegreichen Feldherrn schon zwei Jahre nach seinem Tod (1790) auf einen Charakterzug zu reduzieren. Es war sein von Ernst und Bescheidenheit geprägtes Wesen, seine selbstlose Rechtschaffenheit und seine allein durch Verdienste erworbene Reputation, die ihn in den Augen einer auf einen neuen Tugendkanon verpflichteten Öffentlichkeit vorbildlich erscheinen ließen. Er wurde wirklich als „simplex verecundus“ wahrgenommen, wie es auf der Inschrift seines Grabmonuments in Hadersdorf bei Wien heißt.17 Er erschien als das Wunschbild eines Bürgers, als die Verkörperung aller Eigenschaften, die man sich von einer staatsbürgerlichen Gesellschaft und einem noch ungewissen Aufbruch erhoffte. Loudon besaß vermutlich tatsächlich die Wesenszüge, die ihm seit Gellerts einfühlsamem Porträt immer wieder zugeschrieben wurden. Aber zugleich schien er auch über ein moralisches Kapital zu verfügen, um ihn für den Tugendkanon bürgerlicher Redlichkeit vereinnahmen zu können. Er erschien als ein Mann, der alle gegen den Hof und die Exklusivität adliger Eliten gerichteten Ressentiments bediente und insofern wie kaum ein anderer auf den Schild eines neuen Gesellschaftsbildes gehoben werden konnte. Er erschien als der böswillig Verkannte, dessen Pflichtgefühl und Integrität sich am Ende aber über Mißgunst und Intrige erhaben erwies.18 Die Quellen, die eine solche Vereinnahmung belegen, sind also bekannt und in ihrer sinnstiftenden Tendenz hier an einigen der markantesten Beispiele noch einmal vorgeführt worden. Es handelt sich bezeichnenderweise durchgehend um literarische Zeugnisse, also Texte, in denen sich seit der Aufklärung ein öffentlicher Diskurs manifestierte. Das Anliegen dieses Artikels ist es, neben diesem sehr gut belegten Strang der Wahrnehmungsgeschichte stärker als bisher ins Bewußtsein zu rücken, daß auch das Kaiserhaus dem hochverdienten Feldherrn Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen bemüht war. Wie ich schon in mei___________ 16
Johann Wilhelm von Archenholz, Geschichte des siebenjährigen Krieges, erstmals 1793 erschienen, zuletzt in: Aufklärung und Kriegserfahrung. Klassische Zeitzeugen zum Siebenjährigen Krieg, hg. von Johannes Kunisch, Frankfurt am Main 1996, S. 9513. 17 J. Kunisch, Loudons Nachruhm (wie Anm. 1), S. 26-31. 18 Ausführlicher ebd., S. 76 f.
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ner Loudon-Studie von 1999 ausgeführt habe, hatte Kaiser Joseph II. bereits 1782, also noch zu Lebzeiten des Feldherrn, eine in Carraramarmor ausgeführte Porträtbüste Loudons bei dem Bildhauer Guiseppe Ceracchi in Auftrag gegeben, die mit allen Attributen des antiken Herrscherkultes ausgestattet war und in durchaus spektakulärer Absicht in den Repräsentationsräumen des Wiener Hofkriegsrats aufgestellt wurde.19 Die bezeichnenderweise lateinische Sockelinschrift dieser 1783 fertiggestellten Büste, die auf einer mannshohen Marmorsäule als Pendant zum Bildnis des Feldmarschalls Franz Moritz Graf Lacy aufgestellt wurde, verfaßte ein gelehrter Herr, der Präsident des Akademischen Rates der Staatskanzlei, Joseph Freiherr von Perges.20 Dabei wurde ausdrücklich erwähnt, daß es Kaiser Joseph II. selbst war, der dieses Bildnis in Auftrag gegeben hatte. Eine Kopie dieser Büste wurde 1825 in der Walhalla, dem von König Ludwig I. von Bayern für die Genien des Vaterlandes errichteten Weihetempel hoch über dem Donauufer aufgestellt. Auch hier also eine spektakuläre Würdigung auf höchster Ebene. Für den hier zu erörternden Zusammenhang ist jedoch noch wichtiger, daß Loudon an hervorgehobener Stelle auch auf dem Maria Theresia-Denkmal in Wien gewürdigt worden ist. Dieses monumentale, in Bronze gegossene, um einen hohen Marmorsockel gruppierte Figurenensemble war in den Jahren 1875 bis 1888 nach den Empfehlungen des Historikers Alfred Ritter von Arneth,21 dem großen Biographen der Kaiserin, von Caspar von Zumbusch (1830-1915) errichtet worden.22 Loudon erscheint hier – wiederum hoch zu Roß – zu Füßen der thronenden Kaiserin zusammen mit den Reiterstandbildern von Daun, Johann Joseph Graf Khevenhüller und Otto Ferdinand Graf Traun in der Phalanx der überragenden Feldherrn der Epoche. In den dazwischen liegenden, von gekuppelten Säulen gerahmten Nischen sind, teils als Freiplastik, teils als Hochreliefs, die wichtigsten Repräsentanten der Staatsadministration, unter ihnen Kaunitz und Haugwitz, dargestellt. Hinzu treten die Großen der Künste wie Gluck, Haydn und Mozart, insgesamt 24 porträtgetreue Einzelfiguren. „Das ‚Vaterland‘“‚ schreibt Werner Telesko, einer der besten Kenner der österreichischen Historienmalerei und Denkmalkunst des 19. Jahrhunderts, „erscheint da-
___________ 19
Heute im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien (Arsenal). Die Einzelheiten im Ausstellungskatalog: Maria Theresia und ihre Zeit. Zur 200. Wiederkehr ihres Todestags, Wien (Schloß Schönbrunn) 1980, S. 180 f., vgl. auch ebd., S. 513. 21 Vgl. in dem hier zu erörternden Zusammenhang maßgeblich W. Telesko, Geschichtsraum Österreich (wie Anm. 3), S. 412-414 und – unmittelbar auf Arneths Denkmalkonzept bezogen – ebd., S. 90. 22 Ebd., S. 84-93. 20
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bei durch die bedeutendsten Persönlichkeiten repräsentiert und mit der dynastischen Verherrlichung kombiniert“.23 Das ganze Panorama der Epoche, wie sie hier durch die Phalanx der Genien zu würdigen versucht wurde, profitierte von dem außerordentlichen Aufschwung, den besonders auch die Denkmalkunst durch die städtebauliche Ausgestaltung der Ringstraße genommen hatte. Besonders Reiterdenkmäler hatten damals, wie auch die Standbilder des Prinzen Eugen und des Erzherzog Carl auf dem jenseits des Burgrings gelegenen Heldenplatz belegen, große Konjunktur, ob nun als Sieger über die Türken, die Preußen oder die Franzosen. Dabei war Zumbusch nur einer unter zahlreichen herausragenden Bildhauern, die mit ihren ganze Plätze beherrschenden Monumenten zugleich auch als Erzgießer Erstaunliches geleistet haben. Allenthalben wurden im stadtplanerischen Konzept dieser Gründerzeitjahre neben Unsterblichen wie Beethoven und Mozart auch Helden ins Gedächtnis gerufen, die sich als Feldherrn um das Kaiserhaus verdient gemacht hatten. Evident scheint mir zu sein, daß auch dem monumentalen Maria TheresiaDenkmal eine Absicht zu Grunde lag, wie sie bei dem von Kaiser Franz Joseph in Auftrag gegebenen Loudon-Porträt L’Allemands zu unterstellen ist. Man entsann sich in Österreich gerade nach der Bismarckschen Reichsgründung und den Einigungskriegen jener Großen, die schon im 18. Jahrhundert dem preußischen Rivalen die Stirn geboten hatten. Hier wird demnach ein Strang eines historischen, öffentlich geförderten Erinnerns sichtbar, der sich von der „bürgerlichen“ Wahrnehmung der oben angeführten Publizisten unverkennbar unterscheidet. In diesen Bildern und Monumenten wurde allein den erfolgreichen Feldherrn gehuldigt und ihre Verdienste gewürdigt, die sie sich auf dem Schlachtfeld gegen die Widersacher des Kaiserhauses erworben hatte. Es sind demnach parallele Wahrnehmungsformen mit einer jeweils eigenen Sinnstiftungsabsicht, die hier unterschieden werden müssen. Vermutlich ist es das Charakteristikum jeder Form erinnernder Anverwandlung, daß sie je nach Maßgabe eigener Wünsche und Vorstellungen verschiedene Aspekte eines überlieferten Persönlichkeitsbildes als rühmenswert und vorbildlich zu bewahren versucht. Gerade in dieser jeweils eigenen Wahrnehmungsproblematik liegen besondere Herausforderungen für den Historiker.
___________ 23
Ebd., S. 91.
„Das Echo Henzischer Töne“ Literarische Spuren des Berner Burgerlärms von 1749
Von Dirk Niefanger, Erlangen Die im Reich mit „geschätzten 18 000 Exemplaren wohl […] auflagenstärkste“ gelehrte Zeitschrift um 1750 kam in der jungen Universitätsstadt Erlangen heraus.1 Der „Auszug der neuesten Weltgeschichte“ firmiert heute nicht nur wegen seines Verlagsortes unter dem Namen „Erlanger (Real-)Zeitung“, sondern auch wegen seiner unübersehbaren Nähe zur dortigen Universität. Im Jahr 1749 heißt es gar, die Verfasser der Zeitschrift seien ausdrücklich „von Erlang aus ersucht worden […] der Universität unsere Feder zu leihen“.2 Auch äußern sich die Redakteure immer mal wieder zu akademischen Angelegenheiten, allerdings nicht nur solchen, die die Heimatuniversität unmittelbar betrafen. So betonen die Verfasser, als in Wien eine Professur für Geschichte eingerichtet werden soll, daß die „Historie eine Lehrmeisterin des Lebens ist und alle unsere Handlungen nach dem Begriff der vergangenen, und Vorsehung der zukünftigen Zeiten sollen eingerichtet werden, mithin derselben Erkenntnis allen Ständen nothwendig ist“.3 In der speziellen Auslegung des alten Topos von der „Historia Magistra Vitae“ deutet sich schon das wissenschaftliche Modell einer möglichst unabhängigen, im pragmatischen Sinne didaktisch gemeinten Geschichtsbeschäftigung an, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts durchsetzt und sich im Gebrauch des ___________ 1 Andreas Würgler, Veröffentlichte Meinungen – öffentliche Meinung. Lokalinternationale Kommunikationsnetze im 18. Jahrhundert, in: Peter-Eckhard Knabe, Opinion, Berlin 2000, S. 111. 2 Auszug der neuesten Weltgeschichte [so genannte Erlanger (Real-)Zeitung] 61 (1749), S. 403. 3 Erlanger Zeitung 79 (1749), S. 499. Für diese ‚traditionelle‘ Erlanger Einsicht in die akademische Notwendigkeit einer Geschichtsprofessur als gesellschaftlich wirksamer Lehrinstanz scheint mir der in dieser Festschrift gefeierte Helmut Neuhaus in besonderer Weise zu stehen. Der vorliegende Beitrag geht in einer ersten Fassung auf einen Vortrag zurück, den ich im Jahr 2005 in Bern gehalten habe. Später habe ich einige Gedanken beim Erlanger Kontaktstudium für Geschichtslehrer vorgetragen und diskutiert. Für hilfreiche Hinweise danke ich ausdrücklich Martin Stuber vom Historischen Seminar der Berner Universität.
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Kollektivsingulars „die“ Geschichte manifestiert. Ausgedrückt ist mit dieser semantischen Neuakzentuierung des Historischen auch die Überzeugung, daß die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit der geschichtlichen Begebenheit in einer ganz anderen Weise didaktischen Zwecken dienen kann, als man es vor 5 der ‚Sattelzeit‘ glaubte. Weniger das Auffinden wiederkehrender Ereignisfolgen als vielmehr die Kenntnis der einzigartigen Struktur „der“ Geschichte (ihrer Wirkungen, ihrer Unberechenbarkeit usw.) wird zum didaktischen Ziel, wobei die eingeschränkte Rekonstruierbarkeit der historischen Wahrheit zum aufgeklärten Geschichtsbild gehörte. Diesem modernen Geschichtsdenken folgen auch die Berichte über den Berner Burgerlärm von 1749, in dessen Folge der Dichter Samuel Henzi hingerichtet wurde. Um ihre Neutralität in dieser politischen Angelegenheit und ihre Redlichkeit im Umgang mit den sich oft widersprechenden Quellen auszustellen, zitiert die „Erlanger Zeitung“ immer wieder Augenzeugenberichte und Textzeugnisse aus dem Schweizer Umfeld des Aufstandes. Zur Charakterisierung des Protagonisten bezieht sich die Zeitschrift auf eine anonyme Quelle aus Neuchâtel: „Samuel Henzi, einer dieser unglückseligen, wider welchen die Regierung am meisten in Harnisch gebracht schiene, war ehemalen Secretarius in dem Departement des Salz=Wesens und Associe des berühmten Banquiers zu Basel, Herrn Zaslin, und nach der Hand Capitain im Dienst des Herzogs von Modena […]. Der Verfasser macht von dessen Geschicklichkeit, Gelehrsamkeit und edlen Gemüths=Art, so günstige Abschilderung, daß man ihm für einen der größten Geister und tugendhaftesten Bürger halten sollte[.]“6
Auffällig ist die Ausdrucksweise im zweiten zitierten Abschnitt. Die glaubhafte Quelle lasse ein sehr positives Bild des Verschwörers zu; dieser sei nicht nur gelehrt, sondern auch geschickt und von edler Gemütsart, so daß man ihn für einen moralisch einwandfreien und intellektuell sehr hoch zu schätzenden Menschen halten müsse. Der Schreiber des Artikels distanziert sich also nicht von seiner Quelle, sondern nutzt sie für eine Charakterisierung Henzis, die dem historischen Geschehen eine größere Tragik verleihen sollte. Dieser war tatsächlich durch literarische Texte, etwa Satiren auf den deutschen Literaturprofessor Gottsched, und durch ein republikanisches Memorial aus dem Jahre 17447 im Reich bekannt geworden. Die Denkschrift, die – wie 1749 – auf eine ___________ 4 Vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 3. Auflage Frankfurt am Main 1984, S. 38-66. 5 Vgl. ebda., S. 49. 6 Erlanger Zeitung 71 (1749), S. 449-450. 7 Vgl. Berne. Récit d’une conspiration formée à Berne au mois de Juillet 1749, contre les Magistrats de notre Canton. Conjuration de Hentzi à Berne 1749 (Burgerbibliothek Bern, Signatur: Hist. Varia. Q 164); Handschrift: Recit d’une conspiration formée a Bern au mois de Juillet dernier 1749 (Ebda.: Mss.h.h. III 51 (9)); Samuel Henzi’s und
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Aufhebung oligarchischer Strukturen in Bern drängte, hatte die Verbannung Henzis aus seiner Heimatstadt zur Folge. Insgesamt ist in den Erlanger Berichten eine recht große Sympathie für die Anliegen und den Unmut der HenziGruppe zu spüren, doch wird – und das ist erwartbar – eher wenig Verständnis für ihr rechtsfreies Handeln vorgebracht.8 Als eindrucksvolles Zeugnis des Unmuts zitiert die „Erlanger Zeitung“ einen poetischen Text, der auf Flugblättern während der Hinrichtung Henzis verteilt worden ist: „Vergiesset das Bürger Blut in grossen Ströhmen; jeder Tropfe dieses kostbaren Bluts wird in unsere Herzen rinnen, um daselbst unter der Asche so lange belebt zu bleiben, bis eine andere günstigere Gelegenheit erscheint, um uns von der Grausamkeit zu befreyen, die man seit langen Jahren über uns ausübet.“9
Der Text scheint die Prosafassung eines Gedichts10 zu sein, das als Dokument zum Burgerlärm in anderen Quellen zitiert wird: „Macht nur das Bürgerblut in großen Strömen fließen, Es wird ein jeder Tropfen in unsere Herzen fließen, Und, dort in Glut verkehrt, in stiller Asche stehen, Bis einst zu unserm Heil des Glückes Wind wird wehen.“11
Die Erlanger Fassung der Verse versucht einerseits die unschöne Wiederholung im Endreim der ersten beiden Verse zu vermeiden, indem das Verb poetisch variiert wird, andererseits bemüht sie sich um eine Verdeutlichung des Textes. So erklären die Erlanger die Metapher des in Glut verkehrten Blutes, die wohl auf der Farb- und Klangähnlichkeit von Glut und Blut beruht, durch ___________ seiner Mitverschwornen Denkschrift über den politischen Zustand der Stadt und Republik Bern im Jahre 1749, S. 401–448; vgl. auch: H. Henzi, Wiedergefundene Manuskripte zum Burgerlärm 1749 aus dem Nachlaß von Prof. Rudolf Henzi 1794-1829, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 1 (1951), S. 40-53. 8 Vgl. etwa Erlanger Zeitung 64 (1749), S. 408 f.; weitere, eher kritische Berichte über die Henzi-Verschwörung: 59 (1749), S. 390 f., 61 (1749), S. 399. Als Tendenz läßt sich eine zunehmende Sympathie für den Burgerlärm ausmachen, die sicherlich durch Berichte und poetische Texte in anderen Publikationsorganen befördert wurde. 9 Erlanger Zeitung 71 (1749), S. 450. 10 Es findet sich in Privatbriefen und einigen zeitgenössischen Publikationsorganen, etwa in der Extraordinairen Europeischen Zeitung (61, 2.8.1749), dem Hamburgischen Correspondent (124, 5.8.1749) oder der Berlinschen Priviligierten Zeitung (101, 23.8.1749, S. 1186 f.). Vgl. hierzu und zur publizistischen Resonanz der HenziVerschwörung insgesamt: Würgler (wie Anm. 1), S. 101-131. Zum Kontext vgl. auch Andreas Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995, besonders S. 99 ff. und Peter Utz, Die zweite Hinrichtung. Die Wirkungsgeschichte der Henzi-Verschwörung, in: Der kleine Bund 16.6.1979. 11 Johann Balthasar (Hg.), Vertrauliche, noch ungedruckte Briefe und Nachrichten von der Verschwörung einiger Bürger der Stadt Bern gegen die Regierung, im Jahre 1749, in: Helvetia 4 (1828), S. 257-275; Zitat: S. 263 (17.7.1749).
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eine Art Konservierungsvorgang. Zudem wird das Unheil – die „Grausamkeit“ der Obrigkeit, die die Freiheit beschränkt – ausdrücklich und unmetaphorisch benannt. Für die Berichterstatter sind auch diese poetischen Texte Nachweise dafür, daß „noch ein starker Saame der Missvergnügten verborgen liegt“.12 An den Dichter Henzi scheint der poetische Tonfall anzuschließen, dem sich auch die eher nüchterne Erlanger Zeitung offenbar nicht verschließen kann. Vom „Echo Henzischer Töne“13 schreibt bereits 1746 – quasi im prophetischen Vorgriff – der preußische Oden-Dichter Samuel Gotthold Lange. Der 1711 in Halle an der Saale geborene und 1781 in Laublingen verstorbene Lange ist zwar als umstrittener Horaz-Übersetzer von gewisser literaturgeschichtlicher Bedeutung, gehört sicherlich aber nicht zu den bekanntesten deutschen Dichtern, die sich über den Politiker und Poeten Samuel Henzi geäußert haben. Doch hat seine Ode „An den Hrn. Hauptmann Henzi“ im Vorfeld des skandalösen Burgerlärms von 1749 und der Hinrichtung seiner Rädelsführer zweifellos die Aufmerksamkeit der europäischen Zeitungs- und Literatenwelt auf den schillerndsten Protagonisten des Aufstands befördert. Langes panegyrische Ode erscheint bereits nach dem ersten Teil der historischen Henzi-Tragödie, die mit der ungeheuerlichen öffentlichen Hinrichtung eines anerkannten Poeten endete. Denn schon 1744 versuchte die Berner Regierung Samuel Henzi zum Schweigen zu bringen, nachdem dieser mit einigen Gleichgesinnten das erwähnte republikanische Memorial bei der Obrigkeit eingereicht hatte. Henzi wurde daraufhin aus Bern verbannt und konnte erst 1748 kurz vor dem Burgerlärm zurückkehren. Langes Ode besingt also den politisch verfolgten und für sein politisches Engagement verbannten, wenn auch noch nicht hingerichteten Dichter. Wenn man diesen Umstand im Kopf hat, versteht man, warum Lessing an den Odendichter in seinen fiktiven Briefen 14 , die sein bekanntes Tragödien-Fragment über Henzi vorstellen und umrahmen 15, erinnert. Denn der „vier und zwanzigste Brief“ Lessings16, der dem Abdruck des Henzi-Fragments unmittelbar folgt, beschäftigt sich ausdrücklich und ausführlich mit Langes Dichtungen und HorazÜbersetzungen; sie sind zudem der Auslöser eines aufsehenerregenden Literaturstreits, der unter anderem Lessings polemisches „Vade mecum für den Hrn. ___________ 12
Erlanger Zeitung 63 (1749), S. 412. Samuel Gottlob Lange, An den Hrn. Hauptmann Henzi, in: ders.: Horazische Oden nebst Georg Friedrich Meiers Vorrede vom Werthe der Reime, Halle 1747, S. 116-118, Zitat: S. 117. 14 Gotthold Ephraim Lessing, Zwei und zwanzigster Brief; Drey und zwanzigster Brief, in: ders., Schriften, Berlin 1753, Bd. 2, S. 145-214. 15 Hierzu vgl. Dirk Niefanger, Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit. 1495-1773, Tübingen 2005, S. 313-343. 16 Vgl. Lessing (wie Anm. 14), II, S. 215. 13
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Sam. Lange, Pastor in Laublingen“ (1754)17 hervorgebracht hat. Der zitierte Vers findet sich in der neunten Strophe, die sich nicht nur mit der Wirkung von Henzis Poesie beschäftigt, sondern auch seine Dichterpersönlichkeit ins Zentrum stellt: „Die Musen gaben Dir ihr reines Spiel, Dein starker Schwung eilt zu der Sternenbühne. Ich greife auf der schwächern Leyer nur Das Echo Henzischer Töne.“18
Bedenkt man, wie wenig Dichterisches aus der Feder Henzis Lange bekannt sein konnte, erstaunt das enthusiastische Lob der Henzischen Töne. Die Performanz-Motive, die Lange hier verwendet, das Spiel und die Bühne, resultieren vermutlich aus der öffentlichen Wirkung, die man dem Dramatiker, Poeten und Politiker Henzi zuordnete; sie spielen bei der Hinrichtung des Berners noch eine unübersehbare Rolle. In Langes Gedicht findet man sie immer wieder angedeutet: „Kühn betrit[t]“ Henzi die Bahn der Tugend, setzt sich aber von den Verführungen der „niedrigen Menge“ ab. Schließlich weiht die „Muse […] Ihm […] ihr hohes Spiel“.19 Das mutige Aufbegehren Henzis gegen die Berner Oligarchie verhilft dem Dichter offenbar schon vor seiner Hinrichtung zum Ruhm eines antikisierten Helden. Auch die vierte und fünfte Strophe verweisen auf Motive, die nach der Hinrichtung virulent werden: „So wächst er auf, ein zweyter Herkules, Sein stärkrer Fuß trit auf den Hals der Hydra Des Vorurtheils. Mit unbezwungnem Muth Besteht er weichliche Lüste Die Götter machen Ihn durch Unglück stark Das er besiegt. Er findet alles. Sich selbst nicht fremd, lacht Er, mit hohem Geist Des Schlags, der Welten zertrümmert.“20
Vom Helden, der dem Unglück in der Stunde seines Todes keck entgegenlacht, erzählt einige Jahre später Langes Freund Johann Jakob Bodmer seinem deutschen Briefpartner Friedrich Gottlieb Klopstock. Seine Anekdote hebt, vielleicht sogar an Langes Ode anschließend, zudem die performativen Aspekte der Hinrichtung hervor; ein merkwürdiges „Theater des Schreckens“21 eröffnet ___________ 17
Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Ein Vade mecum für den Hrn. Sam. Lange, Pastor in Laublingen (1754), in: Sämtliche Schriften, hg. v. Karl Lachmann, 3. auf’s neue durchges. u. vermehrte Aufl. besorgt durch Franz Muncker, Stuttgart/Leipzig 1886 ff., Bd. 5, S. 223-263. 18 Lange (wie Anm. 13), S. 117. 19 Ebda., S. 116 f. 20 Ebda., S. 117. 21 Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, 4. Auflage München 1995.
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sich dem Leser, dessen Performanzcharakter aber auch etwa die „Erlanger Zeitung“ betont; deren Bericht sei zuerst zitiert: „Bern. Drey der vornehmen Anführer unter den Verschworenen haben bereits empfunden, daß die Obrigkeit zu Bern das Schwerd nicht umsonst trage. Dem Herrn Stadt=Lieutenat Fouetter, der dem mit theilhabenden Land=Volk die Thore öffnen sollen, ist zu erst die Hand und dann der Kopf, dann dem Herrn Henzi und Herrn Wernier ebenfalls der Kopf abgehauen worden. Aus Beysorge, sie möchten in ihrer letzten Stunde noch ihren Mund zu weit aufthun, hat man den Gerichts=Platz mit lauter Tambours umgeben, die wenn jene zu raisoniren anfangen würden, mit ihren Rumderedrum drein fahren sollten. * Perfectes Mittel, einen ad absurdum zu bringen.“22
Onomatopoetisch evoziert der Bericht die Theater-Situation: Zwischen Zuschauern und Bühne bilden die „Tambours“ eine vierte akustische Wand; sie soll verhindern, daß das Schauspiel des Schreckens gestört wird. Diesem ‚Theatertrick‘ widmet der Berichterstatter einen sarkastischen Kommentar, den er eigens als glossierte ‚Meinung‘ kennzeichnet. Die im Zuschauerraum verteilten Flugblätter, wie das oben zitierte Gedicht, zeugen vom vorhandenen Unmut. Nicht erwähnt wird das theatrale Verhalten der Akteure. Auf dieses geht aber Bodmer in seiner Anekdote ein, die er im September 1749, also kurz nach der Enthauptung Samuel Henzis im Juli des gleichen Jahres erzählt. Sie hebt das geradezu komödiantische Gebaren des Helden beim Schauspiel seiner Hinrichtung hervor. Die Anekdote findet sich just in jenen Briefen, wo es um Klopstocks Berufung auf eine Professur für Poesie und Beredsamkeit an der Universität Erlangen geht; jene Professur übrigens, die dann der bekannte Historiker und Vertreter der ‚Sehe-Punkt-Theorie‘, Johann Martin Chladenius bekam.23 Die Theorie spielt für das Verständnis von Lessings „Henzi“-Fragment eine gewisse Rolle; ich komme darauf zurück. Bodmer schreibt: „Er [Henzi] starb als ein Held, ganz gesezt und bey sich selbst. Im ausführen bemerkte er wie der Reichsvogt in seinem scheckigten Cerimonien habit eine possierliche Figur machte, zu mal da er sehr läppisch zu Pferd saß. Er warf mit andern zu sehen die augen auf ihn, und lachte so herzlich darüber als sonst einer. Nahm doch bald sein serieux wieder an sich. Der Nachrichter schlug den ersten streich in die schultern, Henzi wandte sich gegen ihn und sagte: meister das war doch ein ungeschikter streich.“24
___________ 22
Erlanger Zeitung 63 (1749), S. 412. Vgl. Dirk Niefanger, Klopstock kam nicht nach Erlangen. Warum die Universität den berühmten Poeten nicht für sich gewinnen konnte, in: FAU Unikurier, Magazin (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) 108/33 (2007), S. 74-75. 24 Brief Bodmers an Johann Georg Sulzer, 14.9.1749 (Hs. Zentralbibliothek Zürich, MS Bodmer 12a), zit. nach: Horst Gronemeyer et al. (Hg.), Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-Kritische Ausgabe, Berlin/New York 1974 ff., Bd. Briefe 1, S. 290. 23
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Das in der „Erlanger Zeitung“ eingerückte Schreiben des Zeugen aus Neuchâtel hatte berichtet, Henzi sei es „sehr gleichgültig“ gewesen, „auf was für eine Art er aus der Scene kommen würde, daferne er sich nur selbst keinen Vorwurf zu machen hätte“.25 Auch er betont also das gelassene und selbstsichere, ja theatererfahrene Auftreten des Aufrührers. In Bodmers Anekdote untergräbt Henzi mit seiner Wortgewandtheit und seinem Gespür für komische Effekte selbst im Augenblick seiner Hinrichtung die Autorität der Obrigkeit. Es ist offenbar nicht ganz leicht, einen talentierten Redner ohne Gesichtsverlust dem Schwert zu übergeben. Die Regierung in Bern hatte indes öffentlich die Rechtmäßigkeit der Hinrichtung begründet: Es sei „kein Blut vergossen worden als nur dasjenige, welches die Regierung ihrer beleidigten souveränen Autorität und dem, was man die öffentliche Rache nennt, nicht abschlagen konnte“.26 Die Hinrichtung Henzis sei also als ein Vorgang gedacht gewesen, mit dem, ganz frühneuzeitlich gedacht27, die Ordnung durch Vergeltung wiederhergestellt werden sollte. Dieser dominant gesetzten Ordnung des Rechts widerspricht die kleine Anekdote Bodmers vom selbstbewußten Geist Henzis. Sie betont gerade nicht den juristischen Vorgang, sondern – wie die „Erlanger Zeitung“ – die theatralen Momente der öffentlichen Hinrichtung. Dabei erinnert sie nicht von Ungefähr an die bekannteste aller historischen Szenen der Schweizer Geschichte, an die Armbrust-Episode des Wilhelm Tell; schließlich wird diese nicht nur von Schiller, sondern auch von Bodmer selbst in den „Schweizerischen Schauspielen“ von 1771 und von Henzi in seinem Tell-Schauspiel „Grisler ou L’ambition punie“28 dramatisiert. Allgemeingut ist der Stoff spätestens seit dem Bundeslied (1477) und Tschudis Chronik (Mitte des 16. Jahrhunderts)29, die Bodmer als Historiker natürlich kennt: Wie Tell, mißachtet Henzi die Autorität des Reichsvogts. Diese verbindet sich wie beim „Tell“ auf lächerliche Weise mit der Kleidung. Insofern bekommt der Reichsvogt vor allem als Anspielung auf Gessler ___________ 25
Erlanger Zeitung 71 (1749), S. 450. Hinweis der „Berlinischen Priviligierten Zeitung“ nach einem Bericht aus Bern vom 15.8.1749, zit. nach Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, hg. v. Wilfried Barner et al., Frankfurt am Main 1985 ff., Bd. 1, S. 1188. 27 Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses [1975], übers. v. Walter Seitter, Frankfurt am Main 1994, S. 9-170. 28 Als Fragment vermutlich 1748/1749 unter dem Titel „Grisler ou L’Helvétie délivrée (Grisler oder das befreite Helvetien)“ bzw. nach einem Brief Bodmers „Grisler, ou la liberté conservée (Grisler oder die erhaltene Freiheit)“ verfaßt, dann anonym unter dem zuerst angegebenen Titel 1762 in Paris veröffentlicht. Briefzitat n. Gustav Tobler, Bodmers politische Schauspiele, in: Johann Jacob Bodmer. Denkschrift zum CC. Geburtstag, hg. v. der Stiftung von Schlyder von Wartensee, Zürich 1900, S. 115-162, hier S. 145. 29 Gedruckte Version des im 16. Jahrhunderts verfaßten Textes: Ägidi Tschudi, Chronicon Helveticum […], hg. v. Johann Rudolf Iselin, Basel 1734-36. 26
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eine Rolle bei der Hinrichtung.30 Die in der kleinen Anekdote graphisch hervorgehobene, also uneigentlich verwendete Amtsbezeichnung ‚Reichsvogt‘ erscheint historisch hingegen eher unpassend, weil vermutlich ein Vertreter des Rates der Stadt Bern Henzis Hinrichtung überwacht haben dürfte. Mit dem Lexem ‚Reichsvogt‘ könnte freilich auch ein – ontologisch gesehen – unschweizerisches Moment des Vorfalls betont werden: Hier richten Schweizer, als ob sie fremde Besatzer wären. Das Rechtsverhalten, das in der Anekdote durch den ‚fremden‘ Reichsvogt markiert wird, entspricht – nach dieser Deutung – nicht den Vorstellungen eines freien Schweizers, als den sich der Anekdotenerzähler ausgibt. Der Scherge wäre in der Anekdote damit deutlich ‚literarisch‘ und nicht ‚historisch‘ indiziert. Der komödiantische Effekt der Henzi-Anekdote beruht wesentlich auf einer Differenz zwischen äußerem Habit und beanspruchter Würde. Die speziell für den Zweck der öffentlichen Hinrichtung angelegte Kleidung erscheint dem ernsten Anlaß und dem pathetischen Gebaren des Schergen unangemessen. Durch den Verstoß gegen das Aptum droht die gesamte staatsrechtlich begründete Hinrichtung als Posse zu enden. Die „possierliche Figur“ des Reichsvogts fällt dabei nicht nur dem lachenden Delinquenten auf, sondern zumindest auch dem Erzähler der Anekdote, der vorgibt der Hinrichtung als Zeuge beigewohnt zu haben. Als der erste Schlag des Scharfrichters dann noch – ganz anders als Tells Apfelschuß – daneben geht, ist die schwarze Komödie perfekt. Symbolisch, so könnte man Henzis letzte Worte in Bodmers Anekdote werten, hat die Stadt Bern sich mit der Hinrichtung des Republikaners einen mächtigen Fehlschlag geleistet. Der wahre Schweizer, Wilhelm Tell, trifft, wenn es darauf ankommt, genau. Bodmers kleine Anekdote, die die lächerliche Theatralik der öffentlichen Hinrichtung als Kontrafaktur eines würdigen öffentlichen Schauspiels bloßlegt, erwischt das Schweizer Selbstbewußtsein an einer wunden Stelle, die man – spricht man die Henzi-Affäre an – noch heute spürt. 31 Verhehlt werden soll aber auch nicht, daß der empfindliche Klopstock über die ihm zugesandte Anekdote nicht so richtig lachen konnte, obwohl auch sein Henzi-Brief (zumindest ungewollt) komische Momente aufweist – so etwa wenn er von seiner Liebe zu den „Mädchens“, die er in Zürich auszuleben gedenkt, ohne Absatz zum Fall Henzi überleitet. Im Brief vom 28. November 1749 heißt es: ___________ 30
Tschudi spricht übrigens von einem „Land-Vogt“ (wie Anm. 29, Bd. I, S. 238 f.). So wurde ich nach meinem oben (Anm. 3) erwähnten Vortrag in Bern von einem Nachkommen eines Mannes angesprochen, der am Burgerlärm aktiv beteiligt war. Er berichtete mir von Vorbehalten in der Berner Gesellschaft gegenüber seiner Familie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Wie umstritten die Figur Henzi noch am Ende des 20. Jahrhundert war, zeigt das „Lexikon der Schweizer Literaturen“ (1991), das „im Rahmen der 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft“ von Pierre-Olivier Walzer herausgegeben wurde; es verzeichnet den bedeutenden Dichter nicht. 31
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„Henzi Tod ist mir sehr nahe gegangen. Nur hat mir das Scherzen bey so nahem Tode niemals gefallen. Ich bin vielleicht in diesem Falle zu ernsthaft. Wer zu dieser Zeit gezwungen scherzt, dem verzeihe ich noch ehr, weil sein gezwungener Scherz anzeigt, daß sein Gemüt nicht im völligen Gleichgewichte ist. Wer aber so natürlich scherzt, wie Henzi, der sollte die Gegenwart seines Geistes zu was grösserem brauchen.“32
Klopstock nutzt für seine Entgegnung die weite Bedeutung des Lexems ‚Scherz‘ im 18. Jahrhundert, das sowohl eine geistvolle Belustigung über einen Sachverhalt als auch einen schlichten Spaß meinen kann. In Bezug auf deutbare Handlungen und sprachliche Ausdrücke markiert ein ‚Scherz‘ im Sinne der erstgenannten Bedeutung weitere, differierende Verweisebenen. Etwas im Scherz Vorgebrachtes kann – wie bei der Ironie – nicht wörtlich gemeint sein, sondern auch das Gegenteil oder eine abgeschwächte Variante des Gesagten bezeichnen. Der gezwungene Scherz deutet den gemeinten Sachverhalt zudem so um, daß nicht nur eine Wertungsdifferenz beim Sprecher sichtbar wird, sondern auch seine Gemütslage. Doch Henzis ‚natürlicher‘ Scherz sollte, nach Klopstock, keine schwankende Gemütslage offenbaren, obwohl die Hinrichtungssituation zweifellos eine psychische Belastung darstellt; sein großer ‚Geist‘ müsse seinen niederen Henkern diesen Triumph vorenthalten. Der (buchstäblichen) Erniedrigung durch die folgende Enthauptung dürfte keine Selbsterniedrigung durch den erzwungenen Scherz vorangehen. Deutlich ist also in Klopstocks Antwort die Ambivalenz zu spüren, die vermutlich fast jeden Intellektuellen Europas beim Fall Henzi befallen hat. Sichtbar bleibt die Sympathie für den republikanischen Dichter, der für seine Ideale stirbt. Nur vermißt Klopstock ganz offenbar die dazu gehörige heroische Haltung. Durch Henzis Scherz entsteht eine Spannung zwischen dem heroischen Habitus, der vom republikanischen Helden erwartet wird, und dem offensichtlichen Verstoß gegen das Aptum, die Klopstock dann mit einem fast blasphemischen Scherz seinerseits auflöst: „Es müste denn seyn, daß die Sachen der Zukunft ihm so ungewiß vorkämen, daß er allenfalls entschlossen wäre, seinen Scherz in kurzem über die üble Stellung Petri an der Himmelthür fortzusetzen.“33
Hier erweist sich Klopstock als würdiger Nachfolger Bodmers, wenn er die Hinrichtung Henzis als Vorgriff aufs Jüngste Gericht wertet und den possierlichen Amtmann der Stadt Bern mit Petrus vergleicht, der seine Stellung vor der Himmelstür nicht adäquat ausfüllt. Worauf Klopstock vielleicht mit der Plazierung dieses vermutlich schon damals aus unzähligen Witzen bekannten PetrusMotivs hinweisen will, ist die ebenfalls nicht originelle Herkunft der Bodmerschen Henzi-Anekdote. Denn das ungebührliche, ja dekonstruktive Verhalten ___________ 32 33
Klopstock (wie Anm. 24), Briefe 1, S. 66. Ebda.
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der Delinquenten gegenüber der Obrigkeit vor der Hinrichtung, der so genannte Galgenhumor, gehört schon zum anekdotischen Repertoire der Frühen Neuzeit.34 Der historischen Wahrheit muß das überlieferte Verhalten Henzis also nicht unbedingt entsprochen haben; schon deshalb wirkt die Bodmersche Anekdote aus der Sicht des jungen Klopstock abgeschmackt, weil der – die psychische Disposition preisgebende – Galgenhumor dem heroischen Helden unangemessen ist. Was Klopstock bei seiner Entgegnung wohl verborgen bleibt, ist der leise Bezug zum Tell-Stoff und damit die Anbindung der Henzi-Hinrichtung an den Gründungsmythos der Schweizer Eidgenossenschaft. Um den von Klopstock angesprochenen ‚richtigen‘ Habitus eines historisch gewordenen Helden und seinen angemessenen Auftritt entspann sich im 18. Jahrhundert eine allgemeine Debatte, an der sich neben Bodmer und Klopstock dann auch die wichtigsten deutschen Aufklärungsdichter Gottsched und Lessing beteiligt haben. Sie führte im Bereich des Theaters zur Krise der heroischen Tragödie in der Mitte des 18. Jahrhunderts und seiner zumindest partiellen Ablösung durch das bürgerliche Trauerspiel.35 Mit dem Fall Henzi beschäftigt sich in dieser Zeit auch ein TrauerspielVersuch von Gotthold Ephraim Lessing, den man außerhalb der Literaturwissenschaft ja eher als Erfinder der bürgerlichen Gattung in Erinnerung hat. Sein Beitrag ist aber ein zumindest formal ‚heroisch‘ angelegtes, also als fünfaktige Alexandrinertragödie konzipiertes Geschichtsdrama zum „Henzi“-Fall oder besser ein Fragment eines solchen Geschichtsdramas36; dieser Text erscheint als ‚vollendetes‘ und auch später nicht mehr weiter geschriebenes Fragment in seiner ersten Werkausgabe von 1753. Die Bruchstücke zu „Samuel Henzi“ veröffentlicht Lessing im 22. und 23. seiner fiktiven „Briefe“ über literarische Gegenstände, die im zweiten Band der „Schriften“ zu finden sind. Erhalten sind sechs Szenen aus zwei Akten und rahmende Hinweise in den Briefen, die deutlich machen, daß die Einheiten eingehalten würden, wenn das Schauspiel nicht ___________ 34 Vgl. etwa Thorsten Unger, Von der Heilkraft des Lachens und vom antiklerikalen Galgenhumor in Lazarus Sandrubs Schwanksammlung „Delitiae Historicae et Poeticae“ (1618), in: Anthropologie und Medialität des Komischen im 17. Jahrhundert (15801730), hg. v. Stefanie Arend/Thomas Borgstedt/Nicola Kaminski/Dirk Niefanger, Amsterdam/New York 2008 (Chloe 40), S. 273-294. 35 Vgl. Peter-André Alt, Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung, Tübingen 1994; Albert Meier, Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politischklassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1993 und Christian Erich Rochow, Das Drama hohen Stils. Aufklärung und Tragödie in Deutschland (17301790), Heidelberg 1994. 36 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Niefanger, Geschichtsdrama (wie Anm. 15), S. 313-343 und Monika Fick, Lessing Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, 2. Auflage Stuttgart/Weimar 2004, S. 101-109.
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Stückwerk geblieben wäre. Es entspräche dann dem Modell der heroischen Tragödie im Stile Gottscheds beziehungsweise der „doctrine classique“, wie wir sie vom hohen französischen Drama Racines oder Corneilles kennen. Verfaßt wurde das Fragment vermutlich relativ kurz nach der Hinrichtung des Schweizers. Das Dramenfragment über den Berner Burgerlärm und seinen tragischen Helden ist bis heute wohl nicht aufgeführt worden. 1969 kommt es immerhin im Berner Stadttheater zu gewissen Ehren. Anläßlich seiner Rede zur Verleihung des Städtischen Kulturpreises stellt der große Schweizer NachkriegsDramatiker Friedrich Dürrenmatt das fast vergessene Lessing-Fragment – für die Schweizer Honoratioren sicher eine Provokation – an die Seite jenes Werks, das heute, trotz mancher problematischen Szene, als eine Art Schweizer Nationalstück gilt, Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“. Denn für den Preisträger ist das „Henzi“-Fragment eine Art „Alternativ-Tell“: „Daß Lessing sein Freiheitsdrama nicht vollendete, bleibt ein Jammer, täte unserem Lande doch neben Schillers ‚Wilhelm Tell‘ ein ‚Samuel Henzi‘ Lessings gut, würde ihm doch dadurch klar, daß es bei uns nicht nur Freiheitshelden gab, die gegen Ausländer kämpften, sondern auch Unterdrückte, die von Schweizern unterdrückt, ja vernichtet wurden.“37
Dürrenmatt spricht, wenn er die offenbar unvollendete Form des Stücks bedauert, vor allem als Theaterpraktiker; er sieht, daß Lessings Fragment in der überlieferten Form kaum aufzuführen ist. Die hier vorgestellte Lektüre muß freilich eine andere sein. Auch für sie kann Lessings „Henzi“ als eher experimenteller Text neben Schillers „Tell“ bestehen, allerdings nicht im Vorgriff auf seine mögliche Vollendung, sondern gerade wegen seiner bewußt inszenierten Vorläufigkeit, wegen seines „Fragment“-Charakters und wegen seiner unmittelbaren Nähe zum historischen Geschehen, das – wie wir gesehen haben – ja selbst schon deutlich theatrale Züge aufwies. So haben die Zeitgenossen den Burgerlärm und die Hinrichtung offenbar ja empfunden. Der Fragmentcharakter öffnet den literarischen Text gewissermaßen in den Bereich des historisch Überlieferten. Die kursierenden Berichte und Anekdoten über das tatsächlich stattgefundene ‚Theater des Schreckens‘ ergänzen automatisch die poetische Leerstelle des literarischen Fragments. Wenn Lessing im berühmten Goeze-Streit einmal betont hat, die Bühne sei seine Kanzel, so gilt das für seine Stellungnahme im Fall Henzi ebenfalls; nur bleibt hier die Bühne imaginär; sie dient als Projektionsfläche republikanischer Ideen und historischer Kontroversen. Als solche bietet das Theater aber ein vorzügliches Forum zur Äußerung, zumal nach der Hinrichtung, die im Frag___________ 37
Friedrich Dürrenmatt, Politik. Essays und Reden, Zürich 1980, S. 46 f.
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ment zwar angedeutet, aber nicht ausgeführt wird, die Affäre im historischen Diskurs als theatrale Angelegenheit verbucht wird. Der erste Brief beginnt denn auch mit einer Reflexion über die Wirkung der Rede, genauer mit einer poetologischen Überlegung zur Performanz: „Nimmermehr hätte ich geglaubt, daß meine Reden einen solchen Eindruck haben könnten. Ich erinnere mich ganz wohl, daß man in der Gesellschaft, in welcher ich Sie das erstemal zu sprechen die Ehre hatte, […] das Gespräch auf die neuste Geschichte wandte, und daß ich in dem ganzen Umfange derselben keine Begebenheit anzutreffen erklärte, welche mich mehr gerührt habe, als die Enthauptung des Herrn Henzi in Bern. Ich konnte mich nicht enthalten den vortheilhaften Begriff zu verraten, den ich mir von ihm, Teils aus den öffentlichen Nachrichten, Teils aus mündlichen Erzählungen gemacht hatte. Ich behauptete sogar, daß er einen würdigen Helden zu einem recht erhabnen Trauerspiele abgeben könne; und ich hatte das Vergnügen, daß Sie mir, nach einigem Wortwechsel, beifielen. Wie viel größer aber ist das Vergnügen, welches Sie mir durch Ihre Zuschrift gemacht haben? Ich finde den deutlichsten Beweis darinne, daß Sie mir nicht aus Höflichkeit, sondern aus Überzeugung beigefallen sind, und daß Sie meine Gesinnungen nicht so wohl gebilliget, als vielmehr angenommen haben. Als ein Geist, der sich gleich Anfangs mit etwas wichtigen zeigen will, übersenden Sie mir einen Plan, wie unser Held wohl am füglichsten auf die Bühne zu bringen sei.“38
Der 22. Brief setzt mit zwei Bemerkungen ein, die von vornherein eine bestimmte Lesart der eigentlichen Bruchstücke präformieren und die gleichzeitig nochmals das Gewicht des brieflichen Kontextes evident machen. Zum einen erinnert der Schreiber an die Wirkungsmächtigkeit der Rede, genauer der Rede über die „neuste Geschichte“39. Keine Begebenheit habe den Schreiber mehr gerührt als die Henzi-Affäre; Basis seiner Informationen seien öffentliche Nachrichten und mündliche Erzählungen gewesen.40 Zum anderen drückt der Briefschreiber seine Sympathie für den Helden aus. Er habe von Henzi einen „vortheilhaften Begrif“41, ja, dieser gäbe „einen würdigen Helden zu einem recht erhabnen Trauerspiele“.42 Wie wichtig für einen Poeten des 18. Jahrhunderts die Würde eines Helden ist, haben wir an der Henzi-Kontroverse zwischen Bodmer und Klopstock sehen können. Was dann bei Lessing folgt, ist eine kleine Überraschung: Offenbar hat der Adressat dem Verfasser den Plan eines regelgerechten „Henzi“-Dramas übersandt; der Brief dient also vor allem der Entgegnung. Der Verfasser teilt dem befreundeten Dichter nun seinen eige___________ 38
Gotthold Ephraim Lessing, Schriften, Berlin 1753, Bd. II, S. 145 f. Ebda., S. 145. 40 Vgl. ebda., S. 145 f. Lessings Informationen beruhten wahrscheinlich auf den Berichten der „Berlinischen privilegierten Zeitung“ (vgl. Lessing, Werke und Briefe, wie Anm. 25, Bd. 1, S. 1167 ff.); möglicherweise auch auf Erzählungen, die über Bodmer nach Berlin gelangten. Vielleicht hat Lessing auch die Erlanger Zeitung gelesen. 41 Ebda., S. 145. 42 Ebda., S. 146. 39
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nen, unabhängig verfaßten Plan mit. Es existieren laut fiktivem Brief also zwei nicht veröffentlichte Dramenentwürfe. Diese Mitteilung enthält einigen Zündstoff: Denn der nun angezeigte „Henzi“ ist nur eine mögliche dramatische Umsetzung der geschichtlichen Ereignisse. „Denn alles ist Probe“43, vorläufig präsentierte Historie also, wie Michaelis schon 1753 in einer Rezension der „Göttinger gelehrten Anzeigen“ zu Lessings Text bemerkt hat. Der epistolographische Kontext, die Erinnerung an das vorangehende Henzi-Gespräch und der Fragment-Charakter des Textes machen die Relativität der mitgeteilten theatralen Historiographie evident. Dabei ergänzen und interpretieren sich die „essayistischen“ Briefe und die dramatischen „Versuche“ gegenseitig. Erinnern wir uns an den Bodmer/Klopstock-Briefwechsel und die Berichte in der „Erlanger Zeitung“: auch sie diskutieren lebhaft die Henzi-Affäre und ihre Überlieferung. Was die Erlanger Historiker, Klopstock und Bodmer, Lessing und seine imaginären Gesprächspartner schon wußten, kann man auch heute nicht oft genug ins Gedächtnis rufen: Geschichte erscheint stets als Resultat einer mehr oder minder sicheren Überlieferung; wir finden sie als Ergebnis von Textanalysen und – sich teils widersprechenden – Geschichtserzählungen. Lessings Text thematisiert gleich zu Anfang die relative Wahrheit geschichtlicher Erkenntnis, indem sich der Brief als vorläufiges Resultat eines Kommunikationsvorgangs offenbart. Dieser setzt Gespräche über die historischen Ereignisse in der Schweiz und die Lektüre öffentlicher Nachrichten voraus, ist mit dieser Quellensichtung aber keineswegs beendet. Das referierte Gespräch zwischen Verfasser und Adressaten basiert nun auf bislang von beiden Seiten zurückgehaltenen Überlegungen zu möglichen dramatischen Realisierungen. Ob die dramatischen Versuche zwischen Gespräch und brieflicher Kommunikation verändert wurden, bleibt absichtsvoll im Ungewissen. Die Offenheit der Geschichtsdiskussion wird auf diese Weise ausdrücklich betont und die Relevanz des diskursiven Kontextes hervorgehoben. Eine große Unsicherheit über das Vorgefallene prägt auch den Beginn der mitgeteilten Szenen. Auf der imaginären Bühne erscheint ein Held, der eher dem zaudernden Hamlet als einem historischen Heros gleicht; die angesprochene Würde steht also gleich anfangs zur Disposition:
___________ 43
Johann David Michaelis in den Göttinger gelehrten Anzeigen v. 31.12.1753, zit. nach Gotthold Ephraim Lessing, Vierundfunfzig zum Theil noch ungedruckte dramatische Entwürfe und Pläne. Separat=Abdruck aus der neuen Ausgabe, hg. v. Robert Boxberger, Berlin 1876, S. 437.
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„HENZI. (Kömmt in tiefen Gedanken und wendet sich plötzlich um.) Wer folgt mir? – Liebster Freund, bist dus? – Wen suchst du? – – Mich? Du folgst mir nach? – – Warum?“44
So fängt eigentlich keine heroische Tragödie an. Die Handlung beginnt in medias res mit einer Anagnorisis, einer Wiedererkennungsszene, die man gewöhnlich vor der Peripetie, also vor der Wende im dritten Akt als ersten Höhepunkt erwartet. Zudem wird der heroische Alexandriner durch die komatische Sprache Henzis regelrecht zerhackt, ‚dekonstruiert‘, sagt man heute. Zwar erscheint der historische Held, doch er kommt als nachdenklicher Melancholiker, dem die Zweifel an seiner Sache, oder besser: die unliebsame, aber notwendige Entscheidung zur Revolte gegen die althergebrachte Ordnung eingeschrieben wurden; vom heroischen Helden hat der Revolutionär Henzi zu Anfang des Dramas jedenfalls wenig; dieser Hamlet-Henzi würde vermutlich kaum über das Mißgeschick seiner Schergen lachen können. Einerseits zwingt sicher der Fragmentcharakter zur Theatralik in nuce; Lessing muß schließlich in wenigen Szenen den Charakter und die Zweifel seines Helden präsentieren. Andererseits schreibt der Autor mit „Henzi“ eindeutig auch den anti-heroischen Diskurs seines „Philotas“-Dramas fort, denn sein Fragment erscheint ja ausdrücklich als Werkteil und nicht separat. Als eine Kontrastfigur zu Henzi erscheint aber Wernier, der in der Revolte indes eher eine Nebenfigur ist; er wirkt ruhiger und rhetorisch deutlich präziser: „WERNIER. Und warum wunderts dich? Hat mich nicht Henzi stets mit offnem Arm empfangen? Nur jetzo fragt er mich, was ich ihm nachgegangen? Ich sah erstaunt, daß er so früh aufs Rathaus ging, Sich mit sich selbst besprach, das Haupt zur Erde hing; Ich sah, daß Zorn und Gram so Blick als Schritt verrieten, Ob sie der Neugier gleich sich zu entfliehn bemühten. Der Anblick drang ans Herz – – Was quält den edlen Geist? Ich floh ihm nach, und seh – – HENZI. Was? WERNIER. Daß es ihn verdreußt. Ach! bin ich nicht mehr wert sein Unglück mit zu tragen? Ist er nicht Freunds genug mirs ungefragt zu sagen? Hab ichs an ihm verdient, daß er so grausam ist, Und mir den süßen Weg zu gleichem Gram verschließt? Bedenke, wie wir da uns brüderlich umfaßten, Als wir, zu patriotsch, die Hassenswerten haßten, Als unterdrücktes Recht, als unser Vaterland,
___________ 44
Lessing, Schriften (wie Anm. 38), S. 148.
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Den zu bescheidnen Mund kühn, doch umsonst, entband. Bern seufzet noch wie vor. Die Helden sind vertrieben; Doch ist ihr bester Teil in dir zurück geblieben. Bern sieht allein auf dich. Bern hofft allein von dir, Freiheit, und Rach und Wohl. Drum Henzi, gönne mir Das unermeßne Glück, wenn dich die Nachwelt nennet, Daß sie mich als den Freund von ihrem Schutzgott kennet. Wie aber? – – Schweigst du noch? – – Du siehst mich traurig an?“45
Der Freund kleidet seine Ratlosigkeit in sicher plazierte rhetorische Fragen; seine schlüssige Argumentation wirkt wie eine Anklage, während die Rede des an sich wortgewandten Rebellenführers Henzi zumindest bei seinem ersten Auftreten deutliche Merkmale der Unsicherheit trägt. Gleich die erste Szene destruiert das Bild eines überhöhten Geschichtshelden, noch ehe es recht entstehen konnte. Die historische Situation wird vorerst aus der Sicht eines NichtEingeweihten charakterisiert, also quasi eine Außenperspektive angeboten. Noch mehr: Wernier spricht nicht nur für sich, er repräsentiert auch die Stimmen des hoffnungsvollen Volkes, der patriotischen Erinnerung und der „Nachwelt“. Er repräsentiert gewissermaßen schon die Historiographie des Falls. In dieser Multiperspektivierung – immer wieder fällt in Werniers Rede das Verb ‚sehen‘ – wird die Henzi-Geschichte von vornherein als Überlieferungsproblem thematisiert. Unweigerlich erinnert dies an die zeitgenössische SehepunktTheorie, die der berühmte Erlanger Historiker Johann Martin Chladenius46 zur gleichen Zeit in seiner „Allgemeinen Geschichtswissenschaft“ entwirft.47 Eine solche wissenschaftstheoretisch konstatierte ‚natürliche‘ Perspektivierung historischen Erzählens korrespondiert mit dem eben präsentierten relativierenden Briefanfang des Dramentheoretikers. Noch ehe der Held recht zu Wort kommt, verklärt sich sein Bild in einem Geflecht verschiedener „Anblick[e]“48 und Charakterisierungen. Hier reflektiert das Stück metadramatisch Darstellungsmöglichkeiten historischer Sachverhalte. ___________ 45
Ebda, S. 149 ff. 1710-59; vgl. Waltraud Riesinger/Heidrun Marquard-Rabinger, Die Vertreter des Faches Geschichte an der Universität Erlangen von deren Gründung (1743) bis zum Jahre 1933, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 40 (1980), S. 177-259. 47 Vgl. Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft [...], Leipzig 1752, S. 116 (VI, § 1): „Wenn man die wahre Beschaffenheit der Geschichte […] recht einsehen will, so ist nicht genug, daß wir wissen, wie die Begebenheiten denen Zuschauern auf verschiedene Weise, gleichsam als in Spiegeln von verschiedener Gattung und Stellung vorgestellet werden [...]; sondern wir müssen auch noch eine andere Handlung der Seele, welche vor der Erzehlung vorhergehet, bemercken, welche wir die Verwandlung der Geschichte nennen wollen; weil die Begebenheit niemahls vollkommen so, wie sie empfunden worden, erzehlet wird, sondern vielmehr nach einem gewissen Bilde, welches aus der Empfindung und deren Vorstellung durchs Gedächtniß herausgezogen wird.“ 48 Lessing, Schriften (wie Anm. 38), Bd. II, S. 149. 46
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In der Sprachlosigkeit des Dichters Henzi offenbart sich zudem – die aristotelische Anagnorisis variierend – die Problematik des Wiedererkennens; er wird „scheinbar“ erkannt, bevor er wirklich „erscheint“. Das historische Subjekt tritt auf die Bühne, noch ehe der Mensch Henzi handeln kann. Spätere, bekanntere Geschichtsdramen verfahren ähnlich: auch dort wird der historische Held zuerst nur in den Reden anderer sichtbar: etwa in Goethes „Egmont“, Goethes „Götz“ oder noch radikaler in „Wallenstein Lager“ von Schiller. Im „Henzi“-Drama konfrontiert Lessing direkt den Helden mit komplexen Verantwortlichkeiten gegenüber der Berner Bevölkerung, mit Ansprüchen und Fremdbildern. Insofern liegt ein ähnlicher und doch grundlegend anderer Fall vor. In Werniers Reden erscheint Henzi der übergroße Schatten der „Nachwelt“; in ihm erkennt er nicht nur den zaudernden Freund, sondern auch das Problem historiographischer Identitätsstiftung. Deshalb kann er nicht antworten, kann nichts richtig stellen; er selbst ist sich Resultat einer basalen Fremdheitserfahrung. Die Unbekümmertheit naiver Unkenntnis offenbart sich als „erborgte Larv“.49 Mit seinem Auftreten auf der historischen Bühne erscheint Henzi als durch und durch geschichtliche Figur, deren Struktur Wernier zumindest intuitiv durchschaut: „Ja, ja, dein großer Geist, / Für Bern erzeugt.“50 Die Anagnorisis legt hier also gleich zu Anfang des szenischen Teils der „Henzi“-Briefe den (reichlich groß geratenen) Kothurn des Helden an. Die unübersichtliche Legendenbildung um den letzten republikanischen Heros in der korrupt gewordenen Republik51 deutet sich schon an, als Wernier in das Gesicht des verunsicherten Helden blickt. Doch bald wird dieser Vertrauen zu ihm entwickeln. Und am Ende des Aktes wird Wernier von den Revolutionären tatsächlich noch aufgenommen. Verraten wird sie dann der, der gegen Henzi auftritt und sich gegen die Aufnahme Werniers ausspricht: Dücret. Dieser überlebte wirklich, anders als Henzi, die historische Tragödie des Berner Burgerlärms. Natürlich ließen sich noch weitere literarische Spuren des Aufstands im 18. Jahrhundert notieren, auch eher unschöne, wie die Interventionsversuche des Schweizer Nationaldichters Albrecht von Haller gegen Lessings „Henzi“Fragment.52 Eine interessante Vermischung poetischen und historischen Sprechens über die Affäre findet sich noch in „Johann Conrad Fueßlins unpartheyische Nachricht von den letzten Religions- und Staatsverbrechen des Schweizer-
___________ 49
Ebda., S. 154. Ebda., S. 154 f. 51 Ebda., S. 150. 52 Vgl. Lessing, Werke und Briefe (wie Anm. 26), Bd. 1, S. 1203 f. und S. 1206 f. 50
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landes“ (1755).53 Im Text des Züricher Autoren gerät der historische Bericht über den Fall passagenweise zur Lessing-Rezension. Eine letzte literarische Spur sei zum Schluß zumindest erwähnt: Eveline Haslers Roman „Tells Tochter. Julie Bondeli und die Zeit der Freiheit“ aus dem Jahre 2004.54 Die angesehene Schweizer Roman- und Kinderbuchautorin Hasler ist studierte Historikerin; sie sollte also wissen, wovon sie schreibt. Mit der Patriziertochter Bondeli, einer Privatschülerin Henzis rückt eine Protagonistin ins Zentrum der Darstellung, die bei der Spurensuche im 18. Jahrhundert noch keine Rolle gespielt hat. Sie begründet sich wesentlich aus einer ostentativen Gender-Perspektivierung des historischen Geschehens. Der Männergeschichte um den republikanischen Heros Henzi stellt Hasler die Sicht einer eher marginal beteiligten jungen Frau gegenüber. Sie wird als gefühlvolle, gebildete und weitsichtige Person dargestellt, die sowohl die Unterdrückung durch die Oligarchie als auch die politischen Probleme des Burgerlärms sieht. Natürlich nimmt der Roman auch die Hinrichtungsanekdote auf, variiert sie aber im Sinne des angedeuteten Genderings, indem der jungen Schülerin Julie Bondeli ein leichtfüßiger Esprit zugestanden wird, der dem sarkastisch scherzenden Henzi abgeht: „Er sah sie an und bemerkte das Leuchten in ihren Augen. Rasch fügte sie hinzu: ‚Im Ernst, Meister Henzi, ich möchte alles in meinem Kopf haben, was Ihr in Eurem habt!‘ Er lachte. ‚Dann kann ich ja ruhig um meinen Kopf gebracht werden. Ihr tragt ihn ja dann auf Euren Schultern weiter.‘ ‚Warum solltet Ihr Euren Kopf verlieren, Meister Henzi?‘ 55
‚Nun […] wir leben in einer gefährlichen Stadt.‘“
Henzi wird seinen Kopf verlieren – nicht erst bei seiner Hinrichtung, sondern als er sich überhastet und persönlich frustriert56 den Aufständischen anschließt. Der bessere Henzi wäre gewiß Julie Bondeli gewesen. So jedenfalls deutet der mehr psychologisch und weniger politisch interessierte Roman das Verhalten des revolutionären Schweizers. Vermutlich entfernt die Erzählerin Henzi damit weiter vom Historischen als die zeitgenössische Literatur und ihr vorsichtiges Ausloten möglicher Perspektiven auf den tragischen Fall. Mir ___________ 53
Vgl. Hamburgisches Magazin 14,6 (1755), S. 635-643. Vgl. Eveline Hasler, Tells Tochter. Julie Bondeli und die Zeit der Freiheit [2004], München 2006. 55 Ebda., S. 82, vgl. mit Verweis auf Lessing, Schriften (wie Anm. 38), Bd. II, S. 156 ff. Die tatsächliche Hinrichtung wird später ausführlich beschrieben: S. 212 ff. 56 Vgl. Hasler (wie Anm. 54), S. 161 ff, etwa: Henzi habe „bittere Gefühle persönlicher Zurücksetzung“ gehabt (163). 54
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scheinen jedenfalls die literarischen Spuren aus dem 18. Jahrhundert näher an die Problemgeschichte des Falls Henzi herangekommen zu sein.
Thomas Manns Blick auf das Ende Alteuropas im „Großen Krieg“
Von Günther Rüther, Sankt Augustin
Einleitung „Du denkst an Abdikation, Albrecht?“, mit diesen Worten leitet Helmut Neuhaus seinen Beitrag: „Das Ende der Monarchien in Deutschland 1918“, Thomas Mann zitierend, ein.1 Das Zitat stammt aus Thomas Manns Roman „Königliche Hoheit“, den dieser 1909 publizierte.2 Die Frage stellt Klaus Heinrich, der „Thronfolger aus angeborenem Recht des Agnaten“, das Schlimmste fürchtend, seinem regierenden, aber gesundheitlich angeschlagenen Bruder. Dieser weiß zu beruhigen, jedenfalls ein wenig, indem er bekennt: „Ich darf nicht daran denken“, aber dann doch relativierend: „Glaube mir, daß ich gern daran dächte. Aber man würde mir’s verwehren“.3 Thomas Mann wollte sein Gedankenspiel nicht als ein realistisches Szenario und gesellschaftskritisches „Sittenbild“ aus dem Hofleben zur Jahrhundertwende verstanden wissen, auch wenn er in diesem Zusammenhang durchaus den Regenten Kaiser Wilhelm II. vor Augen gehabt haben mag, der vor dem Hintergrund der „Daily-Telegraph-Affaire“ im November 1908, wie Helmut Neuhaus hervorhebt, an sich zu zweifeln begann und gegenüber dem Kronprinzen dies auch anläßlich eines Besuches beim Fürsten von Fürstenberg in Donaueschingen zum Ausdruck gebracht hat.4 Es vergehen nicht einmal zehn Jahre, als mit der endgültigen Niederlage des Deutschen Reiches im „Großen Krieg“ das Kaiserreich binnen weniger Wochen zusammenbricht und mit ihm die Monarchien. Ihr beinahe lautloses Ver___________ 1 Helmut Neuhaus, Das Ende der Monarchien in Deutschland 1918, in: Historisches Jahrbuch 111 (1991), S. 102-136, hier S. 102. 2 Thomas Mann, Königliche Hoheit. Roman, in: Ders., Gesammelte Werke in 13 Bänden, Frankfurt am Main 1974, Bd. 2, S. 156 f. 3 Ebd. 4 Vgl. Neuhaus (wie Anm. 1), S. 103.
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schwinden, der nahezu bedingungslose Verzicht auf Thron und Krone der 22 deutschen Dynastien, von denen einige auf eine mehrhundertjährige Herrschaftstradition zurückblicken können, setzt einen endgültigen politischen Schlußstrich unter die alteuropäische Achsenzeit, „die durch Institutionalisierungs- und Modernisierungsschübe großen Umfangs gekennzeichnet ist“.5 Das alteuropäische Gleichgewichtssystem wird fortan durch die neu entstehenden Weltreiche Großbritannien, Rußland und schließlich die USA maßgeblich beeinflußt. Sie greifen über Europa hinaus und auf nachhaltige Weise in Europa hinein.6 Mit dem „Großen Krieg“ bricht das alte Europa zusammen, die aufkommende Multipolarität justiert die Einflußsphären in der Welt neu.7 Mit der militärischen Niederlage Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches im Verlauf und am Ende des Ersten Weltkriegs bahnt sich eine nationalstaatliche Ordnung in Mittel- und Osteuropa mit der Aushöhlung der Monarchien und dem Aufkommen der republikanischen Staatsform den Weg, die sich bereits im 18. und 19. Jahrhundert mit der Ausprägung eines nationalstaatlichen Zusammengehörigkeitsgefühls entwickelt hat. Die verbliebenen Traditionen, Privilegien und Überreste der Macht des Alten Europas, die der wilhelminische Obrigkeitsstaat konserviert hat, verschwinden mit den Abdikationen in Folge der militärischen Niederlage des Deutschen Reiches und dem Entstehen der Weimarer Republik. Trotz der amerikanischen (1776) und Französischen Revolution (1789-1799) standen die deutschen Monarchien des Deutschen Bundes und später des Deutschen Reiches in einer an___________ 5 Gerd Schwerhoff, Epochenschwelle oder Alteuropakontinuität? Der Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit in der neueren Forschung, S. 17 (http://rcswww. urz.tu-dresden.de/~frnz/Themen/VortragstextAlteuropa.htm#Blaenkner). Zur AlteuropaDiskussion s. ferner: Fernand Braudel (Hg.), Europa: Bausteine seiner Geschichte, Frankfurt 1989; Hans Erich Bödeker/Ernst Hinrichs (Hg.), Alteuropa – Ancien Régime – Frühe Neuzeit. Probleme und Methoden der Forschung, Stuttgart 1991; Jost Dülffer/Bernd Martin/Günter Wollstein (Hg.), Deutschland in Europa. Kontinuität und Bruch. Gedenkschrift für Andreas Hillgruber, Frankfurt/Berlin 1990; Dietrich Gerhard, Das Abendland. 800-1800. Ursprung und Gegenbild unserer Zeit, Würzburg 1985; Wolfgang Hardtwig, Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt. Jacob Burckhardt in seiner Zeit, Göttingen 1974; Erich Hassinger, Das Werden des neuzeitlichen Europa. 1300-1600, Braunschweig 1959; Historisches Seminar der Universität Hamburg (Hg.), Alteuropa und die moderne Gesellschaft. Festschrift für Otto Brunner, Göttingen 1963; Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979; einen verständlichen Literaturbericht zur aktuellen Debatte bietet: Thomas Nicklas, Müssen wir das Alte Reich lieben?, in: Archiv für Kulturgeschichte 89 (2007), S. 447-474. 6 Erwin Hölzle, Die Weltmächte im Weltbild Altdeutschlands, in: Historisches Seminar der Universität Hamburg (Hg.), Alteuropa und die moderne Gesellschaft. Festschrift für Otto Brunner, Göttingen 1963, S. 215-228, hier S. 226. 7 Herfried Münkler, Nationale Ideen teilen Europa auf, in: Ludger Kühnhardt/Michael Rutz (Hg.), Die Wiederentdeckung Europas. Ein Gang durch Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1999, S. 190-201, hier S. 196.
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haltenden, kaum Veränderungen aufnehmenden, politischen und sozialen Kontinuität monarchischer Herrschaft. „Die Monarchen hatten sich im 19. Jahrhundert über ihre konstitutionelle Selbstbindung an die Spitze des neuen verfassungsstaatlichen Systems gerettet“.8 Sie festigten ihre Position vor allem in Bezug auf das Gottesgnadentum und die Betonung der monarchischen Tradition, die eine Einschränkung der Rechte des Monarchen bzw. seine Abdankung nur in Ausnahmefällen vorsah.9 Der Adel verliert mit dem Aufkommen des Bürgertums im 19. Jahrhundert zwar zunehmend an Bedeutung, aber es gelingt ihm dennoch, geknüpft an das fortbestehende monarchische Prinzip, seine gesellschaftliche Stellung nicht nur bei Hofe, sondern auch seine Privilegien in der Gesellschaft bis zum Ende des Ersten Weltkrieges zu verteidigen, obwohl die neuen Ideen der Volkssouveränität und des Parlamentarismus das monarchische Prinzip mehr und mehr aushöhlen. Mit dem Aufgeklärten Absolutismus, der einsetzenden Demokratisierung der Gesellschaft und der Rechtsstaatlichkeit verliert das monarchische Prinzip zunehmend seine geistige Begründung und damit auch seine politische Legitimation.10 Jedoch tritt es erst mit der endgültigen Entzauberung der Erbmonarchie von Gottes Gnaden11 in der weitgehend unerwarteten militärischen Niederlage Wilhelms II. von 1918 nahezu geräuschlos von der politischen Bühne ab. Bei der Gestaltung des Übergangs von der monarchischen zur republikanischen Staatsform treten seine Repräsentanten nicht mehr in Erscheinung. Die Monarchie als eine über Jahrhunderte gelebte Staatsverfassung steht „als zukünftige Staatsform nirgendwo auch nur zur Debatte“.12 Von ihren Repräsentanten vernehmen wir weder Stimmen, die die Monarchie in irgendeiner Form zu retten versuchen, noch hören wir sie als Wegbereiter der parlamentarischen Demokratie. Thomas Mann fühlt sich bis in die Weimarer Republik hinein den Traditionen und Wertvorstellungen des alten, monarchischen Europas verbunden. Auch wenn er in seinem Roman „Königliche Hoheit“ Kritik an der Monarchie und seinem ersten Repräsentanten, Wilhelm II., äußert, so sieht er doch zum monarchischen Prinzip keine ernsthafte Alternative. Den wilhelminischen Obrigkeitsstaat bezeichnet er noch in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“13 als „die ___________ 8
Neuhaus (wie Anm. 1), S. 129 f. Vgl. Otto Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 1968, S. 160-186. 10 Ebd., S. 192 f. 11 Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1: Die Grundlagen, Freiburg 1948, S. 50 f. 12 Neuhaus (wie Anm. 1), S. 121. 13 Die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ entstanden in der Zeit zwischen 1915 und 1918; sie erschienen im S. Fischer Verlag in Berlin zum Waffenstillstand des Ersten 9
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dem deutschen Volk angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform“, weil „das deutsche Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können“.14 Das Volk empfände wie er aristokratisch. „Deutschland als Republik, als Tugend-Staat mit Gesellschaftsvertrag […] – das wäre der Schrecken“.15 Thomas Mann träumt bis zum bitteren Ende des „Großen Krieges“ von einem „Staatsmodell des aufgeklärten Absolutismus“ in einem romantischen Deutschland. In einem Brief an Ida Boy-Ed vom 13. August 1918 sagte er mit großer Voraussicht: „Wenn wir Elsaß-Lothringen hergeben müssen, so ist das der letzte Krieg nicht gewesen.“ Sprach so ein „Unpolitischer“, einer, der von Politik rein gar nichts verstand? Er kannte seine nationalistischen Deutschen und hatte es mit völliger Sicherheit im Gefühl, daß ein künftiges Reichsoberhaupt sich die Wiedereroberung dieser Provinzen zur Pflicht machen werde. Er klammerte sich an den Kaiser, an die monarchische Verfassung, und erläuterte der Freundin im Burghaus am 17. Oktober, warum: Ohne den Hilfsbegriff und die Verständigungsformel des „Romantischen“, so der Briefschreiber, wird die Erkenntnis freilich nicht auskommen, – jetzt z.B.: was ist es denn, was in meinesgleichen gegen die demokratische Einebnung Deutschlands protestiert, als die Anhänglichkeit an das „romantische“, das kaiserliche Deutschland, die selbst den Männern der Paulskirche noch so sehr in den Gliedern lag, daß sie sie „zu vollkommenen Aristokraten machte“, und die nun endgültig ausgerottet werden soll. So lange noch ein Kaiser an der Spitze steht, ist das romantische, das mittelalterliche Deutschland nicht tot.16 Der wilhelminische Obrigkeitsstaat entspricht im Wesentlichen seinen politischen, ökonomischen und wohl auch sozialen Vorstellungen17, die er – wie nachfolgend gezeigt werden soll – mit Vehemenz zu verteidigen bereit ist.
I. Alteuropa und deutsche Romantik Das Alte Europa lebt für Thomas Mann wie für viele seiner Zeitgenossen trotz des Zusammenbruchs des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 noch in der deutschen Romantik fort. Nach seiner Auflösung und der Überwindung seiner vor- und supranationalen Strukturen sucht die Sehnsucht ___________ Weltkrieges Ende 1918. Die Entstehungsgeschichte ist u. a. in der Thomas-MannBiographie von Peter de Mendelssohn detailliert beschrieben worden, s. Peter de Mendelssohn, Der Zauberer. Das Leben des Schriftstellers Thomas Mann, Frankfurt 1975, S. 1070-1181. 14 Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt 2001, S. 51. 15 Ebd., S. 292. 16 Hermann Kurzke, Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, Frankfurt 2002, S. 190; zitiert nach Mendelssohn (wie Anm. 13), S. 1153 f. 17 Kurzke (wie Anm. 16), S. 190.
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nach dem verlorengegangenen Reich neue Ausdrucksformen. Thomas Mann findet sie wie viele Menschen hundert Jahre vor ihm nach dem „Untergang des alten Deutschlands“ in dem von der Romantik ausgehenden nationalen kulturellen Aufbruch. Seinen Leitgedanken und Visionen fühlt er sich auch noch nach mehr als 100 Jahren über die Zeit des „Großen Krieges“ hinaus in besonderer Weise verbunden. Erst mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus zieht er in der „Deutschen Ansprache“ von 193018 einen klaren Trennungsstrich. Er beklagt die sich ausbreitende Abkehr vom Vernunftglauben als einen irrationalistischen, „den Lebensbegriff in den Mittelpunkt des Denkens“ stellenden Rückschlag, „der die allein lebenspendenden Kräfte des Unbewußten, Dynamischen, Dunkelschöpferischen auf den Schild hob, den Geist, unter dem man schlechthin das Intellektuelle verstand, als lebensmörderisch verpönte und gegen ihn das Seelendunkel, das Mütterlich-Chthonische, die heilig gebärerische Unterwelt, als Lebenswahrheit feierte“.19 Dieser mystische, antirationale Geist habe seiner Meinung nach nichts mit dem ausgewogenen Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts zu tun.20 Und doch sieht er zwischen dem in den Wirrnissen der Weltwirtschaftskrise eine immer offensivere Form annehmenden radikalen Nationalismus der Deutschen und der romantisierenden Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts einen unverkennbaren geistesgeschichtlichen und politischen Zusammenhang. Der große Wahlerfolg der Nationalsozialisten 1930 sei nicht allein mit der wirtschaftlichen Depression zu erklären, sondern offenbare den Seelenzustand der Deutschen, der zu einer Weltgefahr anwachsen könne.21 Die primitive massenwirksame Ideologie des Nationalsozialismus sei „gefährlicher, die Gehirne noch ärger verschwendend und verklebend als die Weltfremdheit und politische Romantik, die uns in den Krieg geführt haben“.22 Thomas Manns Tiefenschärfe und Weitsicht in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sind verblüffend. Er hält diesen Vortrag im Oktober 1930, übrigens am gleichen Ort, im Beethoven-Saal zu Berlin, wo er aus Anlaß des sechzigsten Geburtstages von Gerhart Hauptmann 1922 sein überraschendes Bekenntnis zur Weimarer Republik abgibt. Während er im „Zauberberg“ mit dem Soldatentod seines Helden Hans Castorp in den Schützengräben Flanderns seine romantische Vorstellung vom Krieg überwindet, lebt diese hier in seiner politischen Rede „Von Deutscher Republik“ noch fort. Dies ist um so erstaunlicher, da er sich nunmehr als „Vernunftrepublikaner“ öffentlich vorstellt, ___________ 18
Thomas Mann, Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft, in: Ders., Ein Appell an die Vernunft. Essays 1926-1933, Frankfurt am Main 1994, S. 259-279. 19 Ebd., S. 266. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 262 f. 22 Ebd., S. 267.
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der unter dem Druck der Verhältnisse der Monarchie den Rücken kehrt und sich zur parlamentarischen Demokratie bekennt. Er verteidigt sie jedoch nicht mit verfassungsrechtlichen oder demokratietheoretischen, sondern mit literarischen Argumenten, indem er ganz im Geiste der Romantik Novalis und Walt Whitman als literarische Kronzeugen anführt. Seine geistigen Verbindungen zum alten Europa und seine Suche nach neuer geistiger Orientierung werden hier besonders augenfällig, etwa auch wenn er sich rückblickend zum „Großen Krieg“ äußert: „Der Krieg ist Romantik. Niemand hat je das mystisch-poetische Element geleugnet, das ihm innewohnt. Zu leugnen, daß er heute spottschlechte Romantik, ekelhafte verhunzte Poesie ist, wäre Verstocktheit“.23
Ganz anders klingt dies noch in den Jahren der Heimsuchung von 19111918, als Thomas Mann in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ die geistigen Wurzeln dieses Krieges, der „mit allem möglichen Recht der deutsche Krieg heißt“24, als den uralten deutschen Kampf gegen den Geist des Westens, als Kampf „der römischen Welt gegen das eigensinnige Deutschland“25, als deutschen Patriotismus, emphatisch gefeiert hat. Den Nährboden für diese geistige Haltung findet er im Aufkommen des Nationalismus im neunzehnten Jahrhundert. In ihm schwingen von Anbeginn an einerseits Tendenzen zu einer Überhöhung des Deutschen, andererseits zu einer antiwestlichen Grundhaltung mit, die ursprünglich mit dem späten Entstehen des deutschen Nationalstaates in Zusammenhang zu sehen sind. Beide Strömungen treffen mit dem am Ende der antinapoleonischen Befreiungskriege entstehenden Vakuum auf soziale und geistige Rahmenbedingungen, die Rüdiger Safranski als die Geburtsstunde der politischen Romantik deutet. „Die Arbeit am deutschen Identitätsbewußtsein mit der Beschwörung der Volksgeister und der germanischen Mythologie, die Sammlung der Volkspoesie, die nationalen Erziehungsvisionen Fichtes – das alles kann jetzt zusammenströmen und eine öffentliche Stimmung schaffen, die auf aktive Teilnahme der nationalen und patriotischen Kräfte drängt. Auf deutschem Boden ereignet sich in diesen Monaten des antinapoleonischen Befreiungskrieges die Geburt der politischen Propaganda.“26 Thomas Mann greift diese Propaganda in seinen Schriften zum „Großen Krieg“ auf. Wie Achim von Arnim, Theodor Körner, Eichendorff, Ernst Moritz Arndt und viele andere wird er 100 Jahre später zum Barden der patriotischen, romantisierenden Kriegsbewegung.27 Gedanken wie die von Novalis – „Deutschland geht einen langsamen ___________ 23
Thomas Mann, Von deutscher Republik, in: Ders., Essays für das neue Deutschland. 1919-1925, Frankfurt am Main 1993, S. 126-166, hier S. 130. 24 Th. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen (wie Anm. 14), S. 67. 25 Ebd. 26 Rüdiger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affaire, München 2007, S. 185. 27 Vgl. ebd., S. 186.
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aber sichern Gang vor den übrigen europäischen Ländern voraus. Während diese durch Krieg, Spekulation und Parteigeist beschäftigt sind, bildet sich der Deutsche mit Fleiß zum Genossen einer höheren Kultur, und dieser Vorschritt muß ihm ein großes Übergewicht über die anderen im Laufe der Zeit geben“28 – verficht er in einem anderen zeitgeschichtlichen Kontext ebenso, wie er sich auf die Verstiegenheiten von Ernst Moritz Arndt, der wie er den Feind zu hassen sucht, einläßt. Arndts Kriegspatriotismus und Haß gegen Napoleon entfacht einen Furor Teutonicus gegen das französische Volk, wenn er schreibt: „Ich will den Hass gegen die Franzosen, nicht bloß für diesen Krieg, ich will ihn für lange Zeit, ich will ihn für immer […] Dieser Hass glühe als die Religion des deutschen Volkes, als ein heiliger Wahn in allen Herzen und erhalte uns immer in unserer Treue, Redlichkeit und Tapferkeit.“29 Diese geistigen Haltungen finden in der deutschen Bevölkerung einen fruchtbaren Resonanzboden. Daraus entwickeln sich zwei Grundströmungen: die Überhöhung der deutschen Kultur und ihre antidemokratische Abgrenzung nach Westen. Sie finden ihren Kristallisationspunkt im Scheitern des deutschen Nationalstaates auf dem „Wiener Kongreß“.30 Was auf dem Felde der Politik nun unerreichbar scheint, die Vereinigung der deutschen Staaten in der Mitte Europas, beflügelt den Wunsch der führenden deutschen Köpfe nach einer Symbiose unter dem Dache der Kultur.31 Der Kulturstaat soll dem Volk als Ersatz für den nicht erreichten Nationalstaat dienen. Als dieser dann endlich nach dem Sieg Preußens im deutsch-französischen Krieg 1871 Wirklichkeit wird, hat sich das geistige Leben bereits in den Elfenbeinturm der Politikferne zurückgezogen. „Nicht in die politische Welt verschleudere du Glauben und Liebe“, doziert Friedrich Schlegel schon zur Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert, „aber in der göttlichen Welt der Wissenschaft und Kunst opfre dein Innerstes in den heiligen Feuerstrom ewiger Bildung“.32 Aus diesem Feuerstrom ewiger Bildung vermag sich aber kein politischer Gemeinsinn zu entwickeln. Die deutschen Romantiker verzaubern die Welt und feiern ihr eigenes Leben als Kunstwerk, aber sie begeben sich nicht in die politische Welt der bitteren Erfahrungen und in sich widersprüchlichen Wirklichkeit. So wird der deutsche Nationalstaat zwar von oben, aber letztlich doch ohne ihr Zutun geschaffen. Der entstandene Zwiespalt zwischen einem Politik gestaltenden Volk und einer nach Vollendung strebenden geistigen Kultur kann nicht überwunden werden, weil die Dichter und Denker der Romantik verkannt haben, daß sich eine Gesellschaft durch die reine Macht des Geistes und Intuition allein nicht ___________ 28
Zitiert nach ebd., S. 176. Zitiert nach ebd., S. 187. 30 Wolf Lepenies, Kultur und Politik. Deutsche Geschichten, München 2006, S. 46. 31 Ebd. 32 Zitiert nach Safranski (wie Anm. 26), S. 172. 29
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neu gestalten läßt.33 Die geistige Revolution vermag eben die politische nicht zu ersetzen. Thomas Mann irrt, wenn er in seinen „Gedanken im Kriege“ äußert, daß Luther und Kant die Französische Revolution zum mindesten aufwögen.34 In einem politisch zersplitterten Land haben die von ihnen ausgehenden Ideen einen himmelstürmenden, selbstbewußten Individualismus gefördert35, aber sie scheitern daran, nicht zuletzt durch eine zensierte Öffentlichkeit im Aufgeklärten Absolutismus und wilhelminischen Obrigkeitsstaat, die Unmündigkeit des Volkes zu überwinden, weil sich der Individualismus des Bürgertums mehr nach innen als nach außen Geltung verschafft hat. Auch wenn Heinrich Heine zwischen der geistigen und politischen Revolution in Deutschland und Frankreich manche Übereinstimmung zu erkennen vermag36 – Thomas Mann scheint ihm hier (wenn auch in pointierter Form) gedanklich zu folgen –, so haben diese jedoch nicht die Bildung der deutschen Nation und den Übergang von der monarchischen zur republikanischen Staatsform nennenswert vorangebracht. In den Jahren des „Großen Krieges“ beruft sich Thomas Mann gern auf die zumindest zeitweise in der Tradition der deutschen Romantik stehenden drei großen Deutschen: Richard Wagner, Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche. „Der gegenwärtige Krieg lehrt wieder“, schreibt er in den Betrachtungen, „daß in stürmisch-aufgewühlten Zeiten jeder das Seine findet. Es gibt keine Weltanschauung, keine Ideologie, keine Glaubenslehre, auch keine Schrulle und Marotte, die sich nicht durch den Krieg bestätigt und gerechtfertigt fände“.37 Mancher mag sich hier an die säbelrasselnden Worte Kaiser Wilhelms II. zu Beginn des Krieges erinnert fühlen. Aber Thomas Mann geht es mit dieser gewagten These um etwas ganz anderes, nämlich um die Überhöhung der deutschen Kultur gegenüber der Politik und die Verteidigung des Bürgers als romantisches geistiges Wesen im Gegensatz zum Staatsbürger, der eigentlich Philister sei und sonst nichts.38 Wagner sucht die „Verwirklichung seiner Kulturträume vom Ende der Politik“ in der Deutschen Revolution von 1848, aber er findet sie nicht. Sein großes geistiges Erlebnis findet er stattdessen, wenn wir Thomas Mann folgen dürfen, eben nicht im Felde der Politik und im politischen Trubel jener Zeit, sondern weit weg davon, in der Philosophie Arthur Schopen___________ 33
Vgl. Hans Reiss, Politisches Denken in der deutschen Romantik, Bern 1966, S. 13. Thomas Mann, Gedanken im Kriege, in: Ders., Essays. Bd. 1, Frühlingssturm 1893-1918, Frankfurt am Main 1993, S. 188-205, hier S. 197 f. 35 Safranski (wie Anm. 26), S. 82. 36 Vgl. Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Klaus Briegleb (Hg.), Sämtliche Schriften, Bd. 5, Schriften 1831-1837, Frankfurt/ Berlin/Wien 1981, S. 590. 37 Th. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen (wie Anm. 14), S. 140. 38 Ebd., S. 153. 34
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hauers.39 Den dritten im großen Bunde der deutschen Politikverächter sieht er in Nietzsche, der sich selbst als ,,den letzten unpolitischen Deutschen“ bezeichnet hat. Für ihn ragt die philosophische Geistesverfassung – und sie schließt für ihn auch die künstlerische mit ein – meilenweit über das Politische hinaus. In dieser geistigen Haltung entdeckt er die „Deutschheit als Bürgerlichkeit“, die unsterblich und von keinem Fortschritt ernstlich angreifbar erscheine.40 Schopenhauer zitiert er ganz im antiaufklärerischen Geiste der deutschen Romantik und des Wilhelminismus mit den Worten: „Jedoch ist das Volk ein ewig unmündiger Souverän, welcher daher unter bleibender Vormundschaft stehen muß und nie seine Rechte selbst verwalten kann, ohne grenzenlose Gefahren herbeizuführen; zumal er, wie alle Unmündigen, gar leicht das Spiel hinterlistiger Gauner wird, welche deshalb Demagogen heißen“.41 Auch wenn Thomas Mann sich selbst diese Worte nicht zu eigen macht, so entsprechen sie doch seinem antidemokratischen, antipolitischen, aristokratischen Grundverständnis von Politik und deutscher Bürgerlichkeit. Sie lassen seine Nähe zur deutschen Romantik und dem monarchischen Prinzip des wilhelminischen Obrigkeitsstaates offenbar werden. Thomas Mann darf sich mit dieser Geisteshaltung in bester Gesellschaft fühlen. Viele Zeitgenossen, gerade aus dem Kreis der kulturellen Elite, teilen seine romantisch verklärte, weitgehend apolitische, gleichwohl patriotische, aber antidemokratische und antiwestliche Grundhaltung.42
II. Zu Beginn des „Großen Krieges“ „Sie, die geistigen Mitläufer sind schuldiger als selbst die Machthaber, die fälschen und das Recht brechen“, schreibt Heinrich Mann in seinen rückblickenden politischen Betrachtungen zu Beginn des „Großen Krieges“ im „Zola-Essay“.43 Auch wenn er seinen Bruder Thomas in diesem Kontext nicht unmittelbar erwähnt, denkt er dabei aber ganz sicher vor allem auch an ihn, der insbesondere mit seinen für die deutsche Sache vehement Partei ergreifenden Schriften „Gedanken im Kriege“ von 1914 und „Friedrich und die große Koalition“ aus dem gleichen Jahre in prononcierter und wahrlich nicht zimperlicher Weise in den allgemeinen Kriegsjubel einstimmt und die anschwellenden Rechtfertigungsstrategien für den deutschen Kriegseintritt und die Kriegführung der Militärs unterstützt. Auch wenn zu bezweifeln ist, daß die geistigen ___________ 39
Ebd., S. 140 f. Ebd., S. 160. 41 Ebd., S. 147. 42 Vgl. Lepenies (wie Anm. 30), S. 21 ff. 43 Heinrich Mann, Macht und Mensch, München 1919, S. 114. 40
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Mitläufer mehr Schuld auf sich geladen haben als die politisch und militärisch Verantwortlichen, so bleibt umgekehrt festzuhalten, daß gerade viele Intellektuelle – Professoren, Künstler, Schriftsteller u. a. – vorbehaltlos und offensiv den in seinen Fundamenten brüchig gewordenen wilhelminischen Obrigkeitsstaat gegen das westliche Demokratiemodell verteidigt haben, weil sie es mit dem deutschen Wesen und dem deutschen Politikverständnis für nicht verträglich hielten. Schon seit alters her suchen die Kriegführenden nach Rechtfertigungen. Von daher überrascht es nicht, daß dies auch im „Großen Krieg“ nicht anders war. Überraschend ist allerdings, mit welcher Intensität und Einmütigkeit dies nicht nur im Deutschen Reich, sondern auch in den anderen kriegführenden europäischen Staaten geschieht. Ein deutscher Beleg dafür ist unter vielen anderen der Appell „An die Kulturwelt“, in dem namhafte Intellektuelle ganz im Geiste Wilhelms II. sich über alle Parteigrenzen hinweg verbrüdern, um einen nicht näher bestimmten deutschen Sonderweg, d. h. die ins Wanken geratene alte Herrschaftsordnung gegen die neuen zur Macht drängenden Kräfte auch im eigenen Lande zu verteidigen. Viele glauben offenbar, daß auf dem deutschen Rücken die politischen und geistigen Konflikte der Zeit ausgetragen würden. Mit einem Erfolg im Krieg verbinden sie die Hoffnung, sich von dieser Last befreien zu können.44 So bestimmen vor allem rückwärtsgewandte Motive und Zukunftsängste die Identifikation der Intellektuellen mit den kriegführenden Militärs. In dem Appell „An die Kulturwelt“ lesen wir: „Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt. Zu ihrem Schutze ist er aus ihr hervorgegangen […] Dieses Bewusstsein verbrüdert heute 70 Millionen Deutsche ohne Unterschied der Bildung, des Standes und der Partei.“45 Tatsächlich kommt es in den ersten beiden Kriegsjahren zu einem uns heute befremdlich anmutenden Schulterschluß zwischen Kultur und Militarismus. Schon in den ersten Kriegsmonaten entstehen anderthalb Millionen Kriegsgedichte, oft auch von sehr angesehenen Dichtern wie Rainer Maria Rilke oder Gerhart Hauptmann.46 Demgegenüber bleibt der Kreis der Schriftsteller, die den Krieg rundherum ablehnen, klein an Zahl. Zu ihnen zählt neben Heinrich Mann vor allem Hermann Hesse. Andere, die sich von dem anfänglichen Kriegstaumel haben hinreißen lassen, korrigieren ihre Haltung. Hier sind vor allem Ernst Toller und Hugo von Hoffmannsthal zu nennen. Selbst ein so distanzierter und scharfsinniger Denker und Analytiker wie Max Weber, der gewiß der großmannssüchti___________ 44 Christian Graf von Krockow, Die Deutschen in ihrem Jahrhundert. 1890-1990, Hamburg 1990, S. 93. 45 Zitiert nach Jürgen von Ungern-Sternberg/Wolfgang von Ungern-Sternberg, Der Aufruf. An die „Kulturwelt“!, Stuttgart 1996, S. 145. 46 Vgl. von Krockow (wie Anm. 44), S. 92.
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gen Politik Kaiser Wilhelms II. äußerst skeptisch gegenüberstand, vermag sich den immer weitere Kreise ziehenden Solidaritätsbekundungen nicht zu entziehen, wenn er bei Kriegsausbruch am 4. August 1914 enthusiastisch feststellt: „Denn einerlei wie der Erfolg ist – dieser Krieg ist groß und wunderbar“.47 Klingen hier noch Zweifel über einen militärischen Erfolg der Mittelmächte an, so waren die meisten Zeitgenossen von deren raschem Sieg überzeugt. Dies gilt auch in besonderer Weise für Thomas Mann, der am 22. August 1914 in einem Brief an seinen Verleger S. Fischer den Sieg der deutschen Truppen in Lothringen als den größten und freudigsten Augenblick seines Lebens bezeichnet48 und bis zur bitteren Niederlage an einen glücklichen Ausgang für das Deutsche Reich glaubt. Thomas Mann will, wie seine intellektuellen Mitstreiter, in der Stunde der Not die ins Wanken geratene Monarchie verteidigen und nicht einem ungewissen demokratischen Fortschritt das Wort reden. Damit reiht er sich auffällig in den großen Kreis der Kriegsbegeisterten ein und zählt unauffällig zu den „Siegern des Tages“, nicht nur jedes mißliebige Wort meidend, sondern vehement für die deutsche Sache patriotisch Partei ergreifend, statt für die Wahrheit und Gerechtigkeit, „die ewigen Dinge“, jenseits aller persönlichen Interessen einzustehen.49 Ganz im Geiste der antinapoleonischen Befreiungskriege spricht er in einem Brief an seinen Bruder Heinrich vom 18. September 1914 von einem „großen, grundanständigen, ja feierlichen Volkskrieg“ Deutschlands.50 Er weckt damit Assoziationen an Ernst Moritz Arndt, der in seinen Aufrufen und Flugschriften einen Volkskrieg fordert, an dem sich zu beteiligen für alle gesellschaftlichen Schichten eine Frage der Ehre und Pflicht sei. Arndt geht es nicht nur darum, die napoleonische Fremdherrschaft in den deutschen Landen zu beseitigen, sondern er will zugleich die französische Vormachtstellung in Europa überwinden. Auch wenn die politischen Rahmenbedingungen 1813 völlig andere als gut hundert Jahre später sind – schließlich drangen 1914 deutsche Truppen über Belgien in Frankreich ein –, so geht es Thomas Mann wie Ernst Moritz Arndt darum, in einem alle erfassenden Volkskrieg den deutschen Volksstaat und das deutsche Wesen gegen eine von Frankreich ausgehende Verwestlichung, d. h. vor allem Politisierung und Demokratisierung, zu verteidigen. Sein rückwärtsgewandter Blick verleitet ihn zu der Annahme, daß der aus der Französischen
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Zit. nach Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, Tübingen 1974, S. 206. 48 Vgl. Stefan Heiner, Politische Aspekte im Werk Thomas Manns 1895-1918, Bielefeld 1976, S. 107 f. 49 H. Mann (wie Anm. 43), S. 115. 50 Thomas Mann, Briefe 1889-1936, Frankfurt 1962, S. 112.
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Revolution hervorgegangene Demokratiebegriff ebenso zeitlos und unwandelbar sei wie „der Gegensatz von Deutschtum und politischem Wesen“.51 Heinrich wird diese prononcierte, antiwestliche geistige Grundhaltung seines Bruders insoweit überrascht haben, als dieser nur wenige Wochen zuvor noch seine tiefe Besorgnis über diesen Krieg äußert, von einer „Katastrophe“ und „Heimsuchung“ spricht und über die Zukunft Europas dunkle Wolken heraufziehen sieht. Allerdings verheimlicht er auch zu diesem Zeitpunkt nicht seine „tiefste Sympathie für dieses verhaßte, schicksals- und rätselvolle Deutschland“.52 Die hier aufscheinende Ambivalenz in Thomas Manns Denken offenbart ebenso einen naiven Patriotismus wie eine realitätsferne, unpolitische geistige Grundhaltung, die hier allerdings eine gefährliche Symbiose eingehen. Wie kommt es zu dieser die Augen vor den politischen Realitäten verschließenden Gesinnung? Wie viele andere Intellektuelle und Künstler seiner Zeit glaubt Thomas Mann, daß es in diesem Krieg um die Verteidigung der deutschen Kulturideale gegen die demokratischen, westeuropäischen Vorstellungen geht. Dabei stehen vor allem Rückgriffe auf Traditionen des alten Europas und der deutschen Romantik im Vordergrund: weltfremde Innerlichkeit, sozial entwurzelte Individualität, unpolitische Bürgerlichkeit, eine Idealisierung und Überhöhung der Kultur sowie eine Herabsetzung alles Politischen. In der Wahrnehmung vieler Zeitgenossen und weiter Teile der geistigen Elite wird der große Krieg so zu einem „Krieg der Kulturen“ empor gehoben.53 In ihm wird die historische Chance erblickt, die deutsche Kultur zu revitalisieren, die zur Jahrhundertwende an Substanz und Kraft verloren hat. Wie selbstverständlich von einem militärischen Sieg ausgehend, der nach einer großen Prüfung errungen wird, hoffen viele Intellektuelle, zu einem „deutschen“ Europa zurückzufinden54, das an das Heilige Römische Reich anknüpft. Eine Niederlage würde auch eine Niederlage für Europa bedeuten, ein Sieg Deutschland mit Europa versöhnen und Frieden bringen. Die geistige Elite verbindet mit einem deutschen Sieg die Perspektive, den sich mit der modernen Industriegesellschaft immer stärker ausbreitenden Materialismus zu überwinden und die spezifische Form deutscher bürgerlicher Freiheit und Gesittung wieder zu stärken. Sie stellen die Welt des Geistes gegen die ___________ 51 Winfried Hellmann, Das Geschichtsdenken des frühen Thomas Mann. 1906-1918, Tübingen 1972, S. 170. 52 Th. Mann, Briefe (wie Anm. 50), S. 111. 53 Wolfgang J. Mommsen, Einleitung: Die deutschen kulturellen Eliten im Ersten Weltkrieg, in: Ders. (Hg.), Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996, S. 1-15, hier S. 1. 54 Th. Mann, Briefe (wie Anm. 50), S. 113.
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Welt der Ökonomie und Technik. Große tradierte heldische Ideale sollen zu neuer Kraft finden.55 Auch Thomas Mann glaubt, so den immer spürbar voranschreitenden Verfall traditioneller Werte aufhalten zu können. Für ihn ist die Welt faulig und marode geworden.56 Er selbst sieht sich nach seinem ebenso frühen wie überwältigenden Romanerfolg mit den „Buddenbrooks“ in einer Schaffens- und Orientierungskrise. Er ist davon überzeugt, daß „die deutsche Seele stärker, stolzer, freier, glücklicher“ aus dem Krieg „hervorgehen wird“.57 Dem sich ausbreitenden Geist der Dekadenz, des Verfalls und der kulturellen Beliebigkeit begegnet Thomas Mann mit einer Rückbesinnung auf die traditionellen deutschen Werte. Dazu zählt für ihn selbst, so grotesk uns dies heute auch erscheinen mag, das Einnehmen einer gleichermaßen soldatischen und damit auch solidarischen Grundhaltung an seinem Schreibtisch in München. Vielleicht geschieht dies auch in der Hoffnung, nach einem Sieg zum Nationaldichter aufzusteigen58 und für seinen Patriotismus belohnt zu werden. Zu den unumstößlichen Voraussetzungen für eine blühende Zukunft Deutschlands in Europa zählt für ihn nach wie vor die Stärkung des „sozialen Kaisertums“, das er für fortschrittlich und modern hält, und das er gegen einen „AdvokatenParlamentarismus, der, wenn er in Feierstimmung gerät, noch immer das Stroh von 1789 drischt“, verteidigt. Sein Ziel einer Demokratisierung Deutschlands, einer Erziehung zu dem fragwürdigen Niveau einer sogenannten Zivilisation verwirft er. Es sei reiner Frevel, wenn man wünsche, „daß deutsche Art zugunsten von humanité und raison von der Erde verschwinde“.59
III. Deutsche Ideologie Thomas Mann hat sich in den Jahren vor und nach der Jahrhundertwende nicht mit zeitgeschichtlichen Ereignissen auseinandergesetzt. Er hat sie, wenn überhaupt, nur am Rande registriert. Für seine literarische Arbeit sind sie ohne Bedeutung, auch in seinen Briefen geht er kaum darauf ein. Um so erstaunlicher ist es, daß er diese distanzierte Grundhaltung zur Politik zu Beginn des „Großen Krieges“ aufgibt, große Projekte wie den „Zauberberg“ einfach beiseite legt und ein öffentliches Pathos der Kriegsbegeisterung entfaltet, das der Propagandaabteilung des Kriegsministeriums zur Ehre gereichen würde. Zu Recht fragt Wilhelm Herzog nach dem Erscheinen der „Gedanken im Kriege“ ___________ 55
Mommsen, Einleitung (wie Anm. 53), S. 5 f. Vgl. Donald A. Prater, Thomas Mann. Deutscher und Weltbürger. Eine Biographie, München/Wien 1995, S. 140 f. 57 Th. Mann, Briefe (wie Anm. 50), S. 115. 58 Kurzke, Thomas Mann (wie Anm. 16), S. 237. 59 Zit. nach Prater (wie Anm. 56), S. 142. 56
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in der „Neuen Rundschau“ im November 1914 nach dem Grund für diesen Gesinnungswandel. Warum äußert der Dichter der „Buddenbrooks“ nunmehr Gedanken, die ihm bis dahin fremd gewesen zu sein scheinen, zumal er kaum über Nacht zu einem politischen Strategen und Weltmachtpolitiker mit großdeutschen Ambitionen herangewachsen sein könne.60 Selbst einem so bedeutenden Biografen Thomas Manns wie Hermann Kurzke fällt es schwer, dieses Rätsel zu lösen.61 Neben sehr persönlichen Motiven wie der Schaffenskrise, der Rivalität mit seinem Bruder Heinrich und dem Ehrgeiz nach weiterer öffentlicher Anerkennung dürfte dafür eine geistige Grundhaltung Thomas Manns ausschlaggebend gewesen sein, die Wolf Lepenies als „deutsche Ideologie“ bezeichnet. Sie hat ihre Wurzeln im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Er schreibt: „Trotzig setzen wir die Romantik gegen die Aufklärung, den Ständestaat gegen die Industriegesellschaft, das Mittelalter gegen die Moderne, die Kultur gegen die Zivilisation, die Innerlichkeit gegen die Außenwelt, Gemeinschaft gegen Gesellschaft und das Gemüt gegen den Intellekt“.62 Von dieser „deutschen Ideologie“ ist Thomas Manns Kriegsessayistik durchdrungen. Dies soll nun nachfolgend vor allem am Beispiel der Schriften „Gedanken im Kriege“ und „Friedrich und die große Koalition“ aufgezeigt werden.
IV. „Gedanken im Kriege“ In den Mittelpunkt seiner Kriegsessays stellt Thomas Mann die Schlüsselworte „Kultur“ und „Zivilisation“. Er entnimmt sie zu einem beträchtlichen Maße der Tagespresse und verschiedenen Journalen, wo sie als Schlagworte dazu dienen sollen, die gerechte Sache des deutschen Krieges gegen die Mächte der Entente zu verteidigen. Aber sie spielen, wenngleich in einem anderen Kontext, auch schon in früheren Arbeiten wie dem gescheiterten Literaturessay „Geist und Kunst“ sowie in der Erzählung „Der Tod in Venedig“ eine gewisse Rolle.63 Thomas Mann geht es nunmehr darum, diese Begriffe ihrer Ungenauigkeit und oft willkürlichen Verwendung zu entkleiden, die im öffentlichen Sprachgebrauch dazu beitrügen, sie als Synonyme zu betrachten oder gar den einen Begriff über den anderen zu stellen. „Zivilisation und Kultur sind nicht nur nicht ein und dasselbe“, formuliert er, „sondern sie sind Gegensätze, sie bilden eine der vielfältigen Erscheinungsformen des ewigen Weltgegensatzes und Widerspieles von Geist und Natur“.64 Den Geist ordnet er der Zivilisation ___________ 60 Wilhelm Herzog, Die Überschätzung der Kunst, in: Klaus Schröter (Hg.), Thomas Mann im Urteil seiner Zeit. Dokumente 1891-1955, Hamburg 1969, S. 67-69, hier S. 67. 61 Vgl. Kurzke, Thomas Mann (wie Anm. 16), S. 237. 62 Lepenies (wie Anm. 30), S. 37. 63 Th. Mann, Gedanken im Kriege (wie Anm. 34), S. 382 f. (Kommentar). 64 Ebd., S. 188.
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zu, da er bürgerlich und zivil, der „geschworene Feind der Triebe, der Leidenschaften“ sei.65 Der Zivilisation weist er die Attribute Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisierung und Auflösung zu. Während er in der Kultur ebenso das Orakel, die Magie und die buntesten Greuel bis zum Giftmord sieht, entdeckt er aber auch Merkmale wie Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack. Sie sei in gewisser Weise die “geistige Organisation der Welt“.66 Auf den ersten Blick scheint bei dieser definitorischen Annäherung an die Schlüsselworte der „Gedanken im Kriege“ noch nicht recht erkennbar, in welchem Kontext sie zum „Großen Krieg“ stehen. Dies wird aber deutlicher, wenn Thomas Mann in einem nächsten gedanklichen Schritt auf den Zusammenhang von Kultur und Kunst eingeht und dem Leser klar macht, daß die Zivilisation nichts für die Kunst übrig habe, denn die Kunst sei “fern davon, an Fortschritt und Aufklärung, an der Behaglichkeit des Gesellschaftsvertrages, kurz, an der Zivilisierung der Menschheit innerlich interessiert zu sein. Ihre Humanität ist durchaus unpolitischen Wesens, ihr Wachstum unabhängig von Staats- und Gesellschaftsformen“.67 Hier wird nun schon sichtbarer, worum es Thomas Mann eigentlich geht. Irritierend bleibt jedoch die Aussage, daß es der Kunst nicht um die Zivilisierung der Menschheit ginge. Er sieht nicht ihre Aufgabe darin, einen Beitrag zur Humanisierung der Politik oder zur sozialen Entwicklung der Gesellschaft zu leisten. Kultur und Kunst weist er ganz im Geiste Friedrich Nietzsches der Welt des Dionysischen im Gegensatz zum Apollinischen zu. Einige ihrer Merkmale sind der Rausch, die Musik, der heilige Wahnsinn, die Selbstvergessenheit oder das Schwärmen im Gegensatz zum Erkenntnisstreben, zu Kausalität und Nüchternheit.68 Vor diesem Hintergrund ist auch seine Gegenüberstellung von Voltaire und Friedrich dem Großen zu sehen. Hier stehen sich nunmehr Frankreich und Deutschland gegenüber. Voltaire und der König, d. h. für ihn: „Vernunft und Dämon, Geist und Genie, trockene Helligkeit und umwölbtes Schicksal, bürgerliche Sittigung und heroische Pflicht“.69 Er erkennt hierin den Gegensatz nationaler Sinnbilder und die Seelenlage zweier so unterschiedlicher Völker wie Deutschland und Frankreich. Nicht nur Frankreich, auch Großbritannien sähe in diesem Krieg einen „Kampf der Zivilisation“ gegen den deutschen Militarismus. Diese Parole enthalte jedoch, selbst wenn sie eine Abbreviatur der Wirklichkeit sei, eine tiefere Wahrheit, da sich darin eine internationale Fremdheit ___________ 65
Ebd. Ebd. 67 Ebd., S. 189 f. 68 Vgl. Hermann Kurzke, Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, München 1997, S. 124, und auch Hellmann (wie Anm. 51), S. 67 f. 69 Th. Mann, Gedanken im Kriege (wie Anm. 34), S. 195. 66
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und Unheimlichkeit gegenüber der deutschen Seele ausdrücke, die zwar nicht zum Kriege geführt, aber ihn überhaupt erst möglich gemacht habe.70 Diese Fremdheit sieht Thomas Mann ursächlich in dem Gegensatz von deutscher Kultur und westlicher Zivilisation angelegt. Er fühlt sich aufgerufen, das deutsche Wesen gegen die Zügellosigkeiten der Entente, vor allem Frankreichs, zu verteidigen und schreckt dabei seinerseits vor Sätzen nicht zurück, die uns heute fast unsagbar erscheinen, wie etwa: „Deutschlands ganze Tugend und Schönheit – wir sahen es jetzt – entfaltet sich erst im Kriege“71 oder: „Deutschlands besonderer und exemplarischer Militarismus bestehe darin, daß es die beste Armee und, wie es jetzt scheint, auch die beste Flotte habe“72, um im Tone gleicher Überheblichkeit fortzufahren: „Was ist, was heißt noch Zivilisation, ist es mehr als eine leere Worthülse, wenn man sich erinnert, daß Deutschland mit seiner jungen und starken Organisation, seiner Arbeiterversicherung, der Fortgeschrittenheit aller seiner sozialen Einrichtungen ja in Wahrheit ein viel modernerer Staat ist, als etwa die unsauber plutokratische Bourgeois-Republik, deren Kapitale noch heute als das Mekka der Zivilisation verehrt zu werden beansprucht“.73 Thomas Mann schlüpft am Schreibtisch in den Soldatenrock, wenn er den Krieg als deutschen Kulturkampf gegen seine ausländischen Feinde verteidigt und nicht zögert, gleichnishafte Beziehungen, ja Übereinstimmungen zwischen Kunst und Kultur einerseits und Krieg und Militarismus andererseits zu ziehen. „Sind es nicht völlig gleichnishafte Beziehungen, welche Kunst und Krieg miteinander verbinden?“, fragt er, um dann eine Reihe von Parallelen aufzuzeigen, wie das Prinzip der Organisation, das Ineinanderwirken von Begeisterung und Ordnung, das strategische Grundlagen schaffen, Solidarität, Exaktheit, Umsicht, Tapferkeit, das Ertragen von Strapazen und Niederlagen, Sinn für das Schmucke und Glänzende, etc.: „Dies alles ist in der Tat zugleich militärisch und künstlerisch. Mit großem Recht hat man die Kunst einen großen Krieg genannt“, resümiert er.74 Thomas Mann stellt die deutsche Kultur, die er gegen die westliche Zivilisation verteidigen will, in den Dienst des Krieges und würdigt sie damit unwillentlich herab. Der Blick für die großen kulturellen Leistungen anderer Länder, insbesondere der Kriegsgegner, geht ihm verloren. Würde er sich der Mühe unterzogen haben, nach dem Ursprung des geistigen Erbes der deutschen Kultur zu fragen, wäre er auf die großen Traditionsströme des christlich-jüdischen ___________ 70
Ebd., S. 195 f. Ebd., S. 199. 72 Ebd., S. 196. 73 Ebd., S. 197. 74 Ebd., S. 190 f. 71
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Abendlandes gestoßen und hätte bemerkt, daß in der deutschen Kultur, wie in der seiner Nachbarn, das europäische Erbe stärker wiegt als nationale Besonderheiten, die es natürlich stets auch gegeben hat und geben wird. In dem Maße, wie er diese europäischen geistigen Wurzeln ausblendet, gelangt er zu einer Überhöhung des deutschen Kulturbegriffs und erniedrigt er den Begriff der Zivilisation, ohne auf seine europäische Herkunft und die unterschiedlichen Konnotationen zu achten, die ihm nicht nur in den kriegführenden Ländern beigegeben sind. Er setzt den deutschen Kulturbegriff ein, um ihn von der Kultur anderer Nationen abzugrenzen, und nimmt umgekehrt dem Begriff der Zivilisation seinen völkerverständigenden Charakter, der „akzentuiert, was allen Menschen gemeinsam ist“.75 Thomas Mann ignoriert bewußt das nationale Selbstbewußtsein, welches in den Begriffen Kultur und Zivilisation zum Ausdruck kommt, und nutzt diese Unterschiede, um die deutsche Kultur als einen absoluten Raum des Geistes gegen die Zivilisation, die stets auch das Politische, Wirtschaftliche, Religiöse, Soziale und Kulturelle mit einschließt76, als etwas Besonderes und Überlegenes zu verteidigen. Indem er sich tradierte Vorstellungen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts zu eigen macht, führt er einen unzeitgemäßen ideologischen Kampf gegen politisch längst überwundene Ideen der Französischen Revolution. Sein ideologischer Kampf gegen die Ideale der Demokratie, den Materialismus, die technische Revolution und ihre Folgen sind antiaufklärerisch, weil sie die Verhältnisse des Wilhelminischen Deutschlands romantisieren. Mehr als seine Hoffnung auf ein romantisches Deutschland täuschte ihn sein Blick auf die Verwerfungen der wilhelminischen Gesellschaft. Dabei hätte ihm die Lektüre des Romans seines Bruders „Der Untertan“ helfen können, seine Wahrnehmungsfähigkeit zu schärfen. Erklärungen, seinen Versuch, die deutsche Kultur mit dem deutschen Militarismus auf eine Ebene zu stellen und zur Rechtfertigung des Krieges zu instrumentalisieren, fallen schwer, wenn überhaupt, sind sie nur mit einem mißlungenen Rollentausch oder mit der Verblendung zu erklären, die der Kriegstaumel mit sich bringt. Vielleicht spricht aus ihm auch ein artistisches Vergnügen, Gegensätzliches zu verbinden. Allerdings drückt sich darin auch die tradierte unpolitische Rolle des deutschen Bildungsbürgertums aus, dem die unbestimmte Sphäre des Geistes stets näher gewesen ist als die konkrete, handlungsbezogene Sphäre des Staates und der Politik.
___________ 75 Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 1, Frankfurt 1997, S. 91 f. 76 Vgl. ebd., S. 90.
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V. „Friedrich und die große Koalition“ „Und Deutschland ist heute Friedrich der Große. Es ist sein Kampf, den wir heute zu Ende führen“, heißt es in den „Gedanken im Kriege“ bereits.77 Und was Thomas Mann damit meint, erläutert er in dem Essay „Friedrich und die Große Koalition“, dem er den Untertitel beigibt: „Ein Abriß für den Tag und die Stunde“, um damit den Bezug zum „Großen Krieg“ schon in der Überschrift anklingen zu lassen. Die Schrift wird noch 1914 abgeschlossen und erscheint im Jahr darauf zunächst im „Neuen Merkur“ und wenig später als Buch gemeinsam mit den „Gedanken im Kriege“ und einem ebenfalls im propagandistischen Stil geschriebenen Beitrag für die schwedische Zeitung „Svenska Dagbladet“. Und doch ist der Friedrich-Essay aus den anderen Kriegsschriften herauszuheben, weil es in ihm nicht nur um die deutsche Sache im Krieg, sondern auch darum geht, das Portrait eines erfolgreichen deutschen Königs zu zeichnen mit seinen menschlichen Schwächen und Leidenschaften, seiner Radikalität und Festigkeit, seinem Vermögen, schwierige persönliche und politische Situationen durch Willensstärke und bedingungslose Bereitschaft zum Handeln zu überwinden. In der folgenden Auseinandersetzung mit diesem Essay soll jedoch vor allem auf die Parallelen eingegangen werden, die Thomas Mann zwischen dem Siebenjährigen Krieg Friedrichs des Großen und dem andauernden Ersten Weltkrieg zieht. Unmittelbar ins Wort gebracht werden sie allerdings nicht. Jedoch drängen sie sich dem Leser auf. Dabei geht es vor allem um zwei Fragen: Hat Deutschland/Preußen diesen Krieg gewollt und handelt es rechtmäßig? Schon in den „Gedanken im Kriege“ hebt Thomas Mann hervor, daß Deutschland den „Großen Krieg“ weder gesucht noch gewollt habe. „Händlertum hat ihn angestiftet, skrupellos, lästerlich, denn es weiß nichts vom Kriege, es fühlt und versteht ihn nicht, wie sollte es Ehrfurcht kennen vor seinen heiligen Schrecken?“78 Im Friedrich-Essay wird die Kriegsschuldthese differenzierter betrachtet. „Daß Friedrich den Krieg begann“, steht dort geschrieben, „ist kein Beweis dagegen, daß es ein Verteidigungskrieg war; denn er war eingekesselt und wäre möglicherweise im nächsten Frühjahr angegriffen worden. Aber hat er den Krieg gewollt?“79 Da die größten Mächte Europas gegen ihn waren und er bei ihnen keine moralische Stütze fand, habe er den Krieg führen müssen.80 Aber mußte er auch in das neutrale Sachsen einfallen und einen „unerhörten Friedens- und Völkerrechts___________ 77
Th. Mann, Gedanken im Kriege (wie Anm. 34), S. 194. Ebd., S. 199. 79 Th. Mann, Friedrich und die große Koalition (wie Anm. 34), S. 210-268, hier S. 246 f. 80 Vgl. ebd., S. 248. 78
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bruch in Europa“ in Kauf nehmen?81 Lesen wir Thomas Manns Antwort: „Tat Friedrich dem Buchstaben nach unrecht, brach er eine Neutralität, die auf dem Papiere stand und deren Verrat nicht auf dem Papiere stand, so handelte er in bitterster Notwehr. Er mußte Schuld auf sich laden, um die Schuld seiner Gegner an Tag [sic] bringen zu können“.82 Zur weiteren Rechtfertigung führt Thomas Mann noch an, daß die „zivilisierten Staaten den preußischen Geist ausrotten mußten, damit der Planet von diesem Giftpilz gesunde“.83 Mit diesem plakativen Bild verschiebt Thomas Mann wieder die machtpolitischen Interessen der Kriegsparteien in die deutsche Vorstellungswelt des europäischen Kulturkampfes; allerdings klingen hier insgesamt leisere Töne an als in den „Gedanken im Kriege“, etwa wenn er mit Hinweis auf Voltaire dessen Landsleute als aufgeblasen von Eitelkeit und Albernheit tituliert.84 Doch zurück zu Friedrichs Überfall auf Sachsen. Thomas Mann räumt ein, daß es sich dabei nur oberflächlich betrachtet um einen Verteidigungskrieg handelt und er in Wahrheit eben doch ein Angriffskrieg gewesen ist, auch wenn „die schwerste und verzweifeltste Verteidigung sich notwendig in die Form des Angriffs rettet“.85 So bleibt ihm nur noch eine Rechtfertigung, die Rechtfertigung der Macht durch den Sieg. Friedrichs Recht „war das Recht der aufsteigenden Macht, ein problematisches, noch illegitimes, noch unerhärtetes Recht, das erst zu erkämpfen, zu schaffen war“.86 Thomas Mann zieht unmittelbare Parallelen zwischen Preußen damals und Deutschland im Krieg. „Wer die Geschichte Friedrichs des Großen kennt und liebt“, notiert er wenig später im Svenska Dagbladet, „ist erschüttert und fast entzückt über die erstaunliche Ähnlichkeit der inneren Sachlage vom Hochsommer 1914 mit dem Hochsommer 1756“.87 Auch wenn es Thomas Mann in dem Essay darum gehen mag, ein Charakterbild des ebenso eigenwilligen wie oft despotischen preußischen Königs zu zeichnen, so verherrlicht er damit, gleichwohl durch einen sanften Ton der Ironie gebrochen, doch zugleich die preußischen Ideale und empfiehlt diese dem wilhelminischen Deutschland an. Er versucht die Gegenwart aus der Vergangenheit der letzten beiden Jahrhunderte zu deuten. Er protestiert aus seinem Inneren heraus bis zur Abdankung des Kaisers gegen eine Europäisierung Deutschlands, was für ihn gleichbedeutend ist mit seiner Demokratisierung. Er ___________ 81
Ebd., S. 250. Ebd., S. 250. 83 Ebd., S. 255. 84 Ebd., S. 261. 85 Ebd., S. 263. 86 Ebd., S. 256. 87 Th. Mann, Brief an die Zeitung „Sevnska Dagbladet“ (wie Anm. 34), S. 269-277, hier S. 270. 82
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verteidigt seine romantische Weltvorstellung noch, obwohl er ihr, wie die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ andeuten, keine Zukunft mehr verheißt.88 Und doch geht es ihm wohl um mehr als den militärischen Sieg; es geht ihm um die Überwindung des deutschen Widerspruchs von Geist und Macht in einem „Dritten Reich“. Darum habe Deutschland diesen Krieg begrüßt, weil es in ihm „den Bringer seines Dritten Reiches“ erkannt hat. Was nun versteht er unter dem „Dritten Reich“? „Es ist die Synthese von Geist und Macht – sie ist sein Traum und Verlangen, sein höchstes Kriegsziel“. Die deutschen Intellektuellen hätten sich nicht „wüst der Macht in die Arme geworfen“, als es zum Krieg kam. „Glauben Sie das nicht, dort draußen, ich bitte Sie! Die Ideale von 48, von 1813, hielten Auferstehung in unseren Tagen, die Begeisterung für sie schwang deutlich mit dem Jauchzen, das Deutschlands Not und Kraft verherrlichte, – der Glaube, das Begreifen, daß diese Ideale, diese Begeisterung nun praktisch möglich sein würden. Der Geist hatte Deutschland nicht schmieden können. Das Machtprinzip hatte den Einheitsgedanken […] adoptiert und verwirklicht. Sein blendender und – wenn Sie wollen – verdummender Erfolg hatte den Geist – im liberalen, revolutionären Sinne – aus dem Felde geschlagen, zurückgedrängt, unterdrückt, so daß er teils in leisem Proteste weiterlebte, teils mit dem siegreichen Prinzip seinen Frieden machte. Als aber jetzt die Schicksalsglocke schlug, fühlte er sofort, daß es seine Stunde war, die schlug, daß Deutschland, stark und fest, unbesieglich geworden im – düsteren – Schatten des Machtprinzips, zu dieser Stunde aus der Bismarckschen Epoche hinaus in eine neue trete […] Stets war Erziehung ein Lieblingsbegriff des deutschen Geistes“.89 Thomas Mann knüpft mit seinem Begriff des „Dritten Reiches“ an antiaufklärerische Ideale des alten Europas und der Romantik an.90 Er setzt den deutschen Sonderweg fort, weil er glaubt, daß der Deutsche niemals Sinn und Zweck seines menschlichen Daseins mit den Zielen des Staates in Einklang bringen könne, da Politik nicht menschlicher mache.91 Nicht vom Machtprinzip, nur von der Kultur könne eine harmonisierende Wirkung ausgehen. Es ist hier nicht der Ort, diese These näher zu erörtern. Festzuhalten gilt, daß Thomas Mann in den Jahren des „Großen Krieges“ nicht von einer Überschätzung und Überhöhung der deutschen Kultur abweicht, im Gegenteil, er glaubt an ihren politischen Auftrag, vielleicht an einen deutschen Voltaire im Gewande Friedrichs des Großen. ___________ 88
Vgl. Kurt Sontheimer, Thomas Mann und die Deutschen, Frankfurt 1965, S. 31 ff., s. auch: Th. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen (wie Anm. 14), S. 20. 89 Th. Mann, Brief an die Zeitung „Svenska Dagbladet“ (wie Anm. 87), S. 274. 90 Zum Begriff des „Dritten Reiches“ s. auch: Klaus Harpprecht, Thomas Mann. Eine Biographie, Frankfurt 1996, S. 388. 91 Th. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen (wie Anm. 14), S. 15.
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VI. Bekenntnis zur Republik 1950, in seinem fünfundsiebzigsten Lebensjahr, zieht Thomas Mann in seinem letzten großen Vortrag in den USA eine vorläufige Lebensbilanz. Er möchte keinen autobiographischen Vortag halten, aber dennoch blickt er auf wichtige Stationen seines so ereignisreichen, von vielfältigem Wandel und schmerzerfüllten Umbrüchen geprägten Lebens zurück. Mit Stolz hält er fest: „Meine Zeit – sie war wechselvoll, aber mein Leben in ihr ist eine Einheit.“92 Rufen wir uns seine Einstellungen zum „Großen Krieg“ in Erinnerung, drängt sich die Frage auf, ob dieses Wort auch diese Phase seines Lebens einschließt. Tatsächlich hat Thomas Mann nicht nur an dem Konflikt mit seinem Bruder Heinrich gelitten, der aus seiner Haltung zum Ersten Weltkrieg erwachsen ist und erst Jahre später wieder zu einer Verständigung führen sollte, sondern er hat auch schwer an seinen damaligen Positionen und Verlautbarungen getragen. So sieht er beispielsweise davon ab, seine Schrift „Gedanken im Kriege“ zu seinen Lebzeiten nochmals zu veröffentlichen. Seine „Betrachtungen eines Unpolitischen“ hat er in einer Neuauflage gekürzt und damit inhaltlich entschärft. Nur selten ließ er jedoch in seinen Briefen Selbstkritik an seinem Kriegspatriotismus anklingen.93 Zu einer öffentlichen Korrektur seines Verrats an der intellektuellen Redlichkeit und seinem Verhalten, statt Brücken der Verständigung zu bauen, geistige und politische Gräben zu vertiefen, ist es nie gekommen. Doch ist nach den Erfahrungen der Kriegsjahre, in denen er seine politische Unschuld verlor, sein politisches Bewußtsein erwacht und geschärft. Nach der Abdankung des Kaisers und der Monarchien in Deutschland setzt er sich, vehement, wie nur wenige andere Intellektuelle seiner Zeit, für die Weimarer Republik und ihre Verteidigung gegen den Nationalsozialismus ein. Er erfährt dafür persönlich giftige Anfeindungen und gefährdet das Wohlergehen seiner Familie. Er tut es als „Vernunftrepublikaner“. Wie sehr seine geistigen Bindungen an das alte Europa und die deutsche Romantik in ihm fortleben, offenbaren seine späteren Werke, auch wenn er inzwischen zum Europäer, Demokraten und Weltbürger geworden ist.94 ___________ 92 Thomas Mann, Meine Zeit, in: Ders., Essays. Bd. 6, Meine Zeit 1945-1955, Frankfurt 1997, S. 160-182, hier S. 172. 93 Ein Beispiel dafür ist sein Brief an den amerikanischen Journalisten Clarence B. Boutell vom 21. Januar 1944, in dem er, von diesem dazu aufgefordert, zu seinem Kriegspatriotismus im Ersten Weltkrieg Stellung nimmt. Auch hier geschieht dies jedoch in sehr abwägender Weise, Goethe mit dem Spruch zitierend: „Jeder Weg zum rechten Zwecke / Ist auch recht in jeder Strecke“, s. Thomas Mann, Briefe 1937-1947, Frankfurt 1963, S. 350-354, hier S. 351. 94 Vgl. Beate Neuss, Thomas Mann: Demokrat – Europäer – Weltbürger, in: Michael Braun/Birgit Lermen (Hg.), Man erzählt Geschichten, formt die Wahrheit. Thomas Mann – Deutscher, Europäer, Weltbürger, Frankfurt am Main 2003, S.81-101.
Im Schatten des Türkenlouis Ferdinand Maximilian von Baden (1625-1669) im Spiegel seiner politischen Schriften
Von Martin Stingl, Karlsruhe
I. „Historische Größe“ und ihre Relativität Für die Geschichtsforschung sind bis heute (auch wenn man sich stärker den Strukturen, Mustern, Ritualen und Symbolen zuwendet) Helden, Macher und Sieger ein beliebtes Thema – oder zumindest das, was man zu den jeweiligen Zeiten dafür hielt. Die im Schatten Stehenden sieht man nicht. Haben sie uns etwa nichts zu sagen? „Historische Größe“ ist ein relativer Begriff. Im Gefüge des Alten Reiches zählten die badischen Markgrafschaften zu den mindermächtigen Reichsständen. In der frühen Neuzeit ragten nur zwei ihrer Landesherren über das Maß des Provinziellen hinaus und belegen bis heute feste Plätze in der Historiographie auch außerhalb der oberrheinischen Landesgeschichtsforschung: Ludwig Wilhelm (1655-1707), der Türkenlouis, aus der 1771 erloschenen katholischen Linie zu Baden-Baden, und noch viel mehr Karl Friedrich (1728-1811), der Anhänger der Physiokratie und Repräsentant des Aufgeklärten Absolutismus, aus der evangelischen Linie zu Durlach bzw. Karlsruhe. Innerhalb ihres Hauses zählen sie zu den „Großen“ – und stehen gleichzeitig im Schatten berühmterer Zeitgenossen: der erste als Heerführer in dem seines eigenen Vetters, des Prinzen Eugen von Savoyen, der andere als aufklärerischer Herrscher in dem des Preußenkönigs Friedrich II. Die beiden badischen Markgrafen Ludwig Wilhelm und Karl Friedrich wiederum befinden sich ihrerseits nicht nur im Schatten anderer, sie werfen ihn auch auf andere. So wie in der Sichtweise der Historiographie nicht nur des 19. Jahrhunderts der Glanz Karl Friedrichs ausnahmslos alle Persönlichkeiten beider Hauptlinien des Gesamthauses Baden in der Frühen Neuzeit überstrahlt, so tut das innerhalb des katholischen Zweiges des Hauses
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Martin Stingl
der bis heute in Baden populäre Türkenlouis gegenüber seinen Vorvätern und Nachkommen.1 Der Respekt vor der Leistung eines einzelnen ist sicher berechtigt, kann aber auch den Blick auf das Ganze verstellen. Gerade die Untersuchung der Rolle der Unscheinbaren kann ein vertieftes Verständnis für die Handlungsbedingungen eröffnen, über die die „Großen“ sich mit unterschiedlichem Erfolg hinwegzusetzen versuchten, ohne ihnen jemals aus eigener Kraft zur Gänze entfliehen zu können.2 Ein Beispiel dafür bietet Ferdinand Maximilian von Baden-Baden, der auf seine Art zu den durchaus bemerkenswerten Persönlichkeiten seiner Familie zählt, aber in der landesgeschichtlichen Forschung nur als der Vater seines Sohnes, des Türkenlouis, wahrgenommen wird. Außerhalb der Landesgeschichtsforschung ist sein Name völlig unbekannt.
II. Die Vorgeschichte Als Markgraf Christoph I. von Baden, der als Neffe Kaiser Friedrichs III. ein treuer Parteigänger der Habsburger gewesen war, am 29. April 1527 starb, sollte er bis 1771 der letzte Markgraf gewesen sein, der alle badischen Besitzungen in einer Hand vereinte3: die eigentliche Markgrafschaft Baden mit BadenBaden, Bühl, Durlach, Ettlingen und Pforzheim, die Herrschaften am südlichen Oberrhein und im Bereich des Rheinknies (Hachberg, Üsenberg, Rötteln, Badenweiler, Sausenberg, Schopfheim), die badischen Anteile an der Grafschaft Eberstein und an den Herrschaften Lahr und Mahlberg sowie die linksrheinischen Besitztümer an der Mosel (badischer Anteil an der Grafschaft Sponheim). Hinzu kamen noch die Besitzungen in Luxemburg (vor allem Rodema___________ 1
Zuletzt wurde das Jahr 2005 ein Jahr des Türkenlouis in Baden: Vgl. v. a. Daniel Hohrath/Christoph Rehm (Hg.), Zwischen Sonne und Halbmond. Der „Türkenlouis“ als Barockfürst und Feldherr. Begleitband der Sonderausstellung zum 350. Geburtstag des Markgrafen Ludwig Wilhelm von Baden im Wehrgeschichtlichen Museum Rastatt vom 8. April bis 25. September 2005, Rastatt 2005; Wolfgang Froese/Martin Walter (Hg.), Der Türkenlouis. Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden und seine Zeit, Gernsbach 2005; Peter Hank (Hg.), Forum Geschichte 2005. 350. Geburtstag des Markgrafen Ludwig Wilhelm. 300 Jahre Residenzstadt Rastatt, Heidelberg 2005. 2 Aus diesem Grund hat beispielsweise auch die frühneuzeitliche Verfassungsgeschichtsforschung die Rolle der mindermächtigen Reichsglieder verstärkt in den Blick genommen: Vgl. Helmut Neuhaus, Das Reich in der frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte 42), München 1997, S. 77-85. 3 Zur Vereinigung der badischen Markgrafschaften und ihrer Vorgeschichte s. Helmut Neuhaus, Die Wiedervereinigung Badens im Jahre 1771, in: Ders./Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas. Festschrift für Johannes Kunisch zur Vollendung des 65. Lebensjahres, dargebracht von Schülern, Freunden und Kollegen (Historische Forschungen 73), Berlin 2002, S. 359-378.
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chern, das heute zu Frankreich gehörende Rodemack).4 Ein Flickenteppich dieser Art war nicht ungewöhnlich im Alten Reich. Prekär wurde diese Besitzstruktur jedoch durch zwei Faktoren, von denen einer vorgegeben, der andere selbst verursacht war. Ungünstig und nicht zu ändern war die geographische Lage der badischen Lande. Eingezwängt zwischen den habsburgischen Vorlanden mit ihrem Besitzkern im Breisgau und im Sundgau im Süden, dem Kurfürstentum Pfalz im Norden, dem immer stärker werdenden Württemberg jenseits des Schwarzwalds und dem schon im 16. Jahrhundert Richtung Rhein strebenden französischen Königreich im Westen blieb kaum Raum für eine eigenständige Politik. Zu stark war der Zwang zur Rücksichtnahme auf die Interessen der starken Nachbarn. Daß ein Land in einer so exponierten Lage zum Schauplatz der europäischen Hegemonialkriege in der Zeit Ludwigs XIV. werden mußte, war unausweichlich.5 Selbstgemacht war die Art und Weise, wie das Haus Baden mit dieser Ausgangslage umging, oder besser gesagt: wie es die Situation durch eigenes dynastisches Verhalten, nämlich durch Erbteilungen, noch verschärfte. Der oben erwähnte Markgraf Christoph I. von Baden war nicht der erste, der sein Land teilte, aber seine Erbverfügungen sollten sehr folgenreich sein. „Damit endeten alle Versuche einer badischen Staatsgründung im Sinne der Schaffung eines einheitlichen Territoriums. Auch alle hochfliegenden Ideen mußten begraben werden, am Oberrhein zwischen der Kurpfalz und den habsburgischen Landen eine weitere Macht zu etablieren, und daß es sie nicht gab, sollte sich in den kriegerischen Jahrhunderten danach bitter rächen. Die badische Teilung von 1535 war für die deutsche Geschichte ein folgenschweres Ereignis.“6
___________ 4 Zur politischen Geschichte der badischen Markgrafschaften s. nach wie vor Friedrich von Weech, Badische Geschichte, Karlsruhe 1890, hier v. a. S. 101-178 und S. 249354; vgl. auch Hansmartin Schwarzmaier, Baden: Dynastie – Land – Staat, Stuttgart 2005, hier v. a. S. 117-136, und Armin Kohnle, Kleine Geschichte der Markgrafschaft Baden, Leinfelden-Echterdingen 2007. 5 Vgl. hierzu: Volker Press, Die Oberrheinlande zwischen Westfälischem Frieden und Französischer Revolution, in: Ders./Eugen Reinhard/Hansmartin Schwarzmaier (Hg.), Barock am Oberrhein (Oberrheinische Studien 6), Karlsruhe 1985, S. 3-18; Ders., Die badischen Markgrafschaften im Reich der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 142 = N. F. 103 (1994), S. 19-57. 6 Hansmartin Schwarzmaier, „Von der fürsten tailung“. Die Entstehung der Unteilbarkeit fürstlicher Territorien und die badischen Teilungen des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 126 (1990), S. 161-183, hier S. 178.
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Von Markgraf Christophs I. zehn Söhnen erreichten sieben das Erwachsenenalter. Einer, Jakob, wurde Erzbischof und Kurfürst von Trier, drei andere wurden Domherren in Trier, Köln, Straßburg, Augsburg und Mainz, blieben also für die Erbfolge drei: Bernhard, Philipp und Ernst. Christoph hatte Philipp als seinen Haupterben ausersehen und wollte die beiden anderen Söhne mit Randgebieten abfinden, änderte aber dann seine letztwilligen Verfügungen ab, um den Ansprüchen von allen dreien gerecht zu werden. Im Jahr 1515 erhielt Markgraf Bernhard III. die linksrheinischen Besitztümer, Philipp I. die badischen Kernlande einschließlich der Anteile an Eberstein, Lahr und Mahlberg, Ernst bekam die Besitzungen im Süden. Diese Teilung wurde umgehend und
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somit noch zu Lebzeiten des Vaters, der in seinen letzten Lebensjahren regierungsunfähig war und sein Schloß in Baden-Baden nicht mehr verlassen sollte, umgesetzt. Philipp I. starb ohne männliche Erben bereits sechs Jahre nach dem Vater, 1533. Seine beiden überlebenden Brüder teilten sich 1535 seinen Besitz. Das badische Kernland Philipps wurde entlang einer Linie geteilt, die – sehr grob gesprochen – in etwa dem Lauf des Flüßchens Alb folgte, freilich mit erheblichen Ausschlägen nach Norden und Süden. Markgraf Ernst, der Stammvater von Baden-Durlach, entschied sich für die Gebiete nördlich der Alb mit dem politischen Zentrum Pforzheim (später Durlach), Markgraf Bernhard, Begründer der Linie Baden-Baden, für den südlichen Teil mit Baden-Baden. Keiner der beiden erhielt dadurch ein wenigstens einigermaßen zusammenhängendes Territorium: Bernhards Erbteil, der in keinem Zusammenhang zu seinen linksrheinischen Besitzungen aus der Teilung von 1515 stand, schob sich zwischen die Gebiete, die sein Bruder Ernst nördlich der Alb und am südlichen Oberrhein besaß.7 Noch komplizierter wurde die Lage dadurch, daß es zunächst innerhalb Baden-Badens, sodann auch innerhalb der Pforzheim-Durlacher Linie zu weiteren Teilungen kam. Darüber hinaus war der vom verstorbenen Philipp I. begründete und mit seinem Tod schon wieder im Mannesstamm erloschene Zweig der Familie nicht wirklich aus dem Rennen. Philipps einziges überlebendes Kind, Jakobäa, sollte noch eine bedeutende Rolle in der Geschichte ihrer Heimat spielen. Sie war seit 1522 mit Herzog Wilhelm IV. von Bayern verheiratet. Im Zeitalter der Reformation erwies sich diese Verbindung als folgenschwer. Das Haus Baden wurde zum Zankapfel der konfessionellen Lager, die dynastische Spaltung wurde unheilvoll vertieft. Denn wie in vielen anderen Fürsten- und Adelshäusern sollten sich die beiden 1535 entstandenen Hauptlinien verschiedenen konfessionellen Lagern zuwenden.8 Anfangs hatte sich keiner der beiden Stammväter der Linien Baden-Baden und Baden-Pforzheim-Durlach offen zur Reformation bekannt. Bernhard und Ernst traten der Ausbreitung der reformatorischen Lehre nicht entschieden entgegen, bezogen aber auch nicht offen für sie Position. Diese schwankende Haltung war alles andere als untypisch für die Politik mindermächtiger Reichsstände in der Zeit vor der endgültigen reichsrechtlichen Anerkennung der Augsburger Konfession. Erst in der Generation der Söhne der beiden Stammväter begannen sich die Fronten zu klären. Von ___________ 7
Vgl. Historischer Atlas von Baden-Württemberg, hg. von der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg in Verbindung mit dem Landesvermessungsamt Baden-Württemberg, Stuttgart 1972-1988, Karte VI 1a (Die Markgrafschaften Baden-Baden und Baden-Durlach bis zu ihrer Vereinigung 1771), bearb. von Joachim Fischer. 8 Zur Konfessionsgeschichte s. Armin Kohnle, Die badischen Markgrafschaften und die konfessionellen Lager im 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 154 = N. F. 115 (2006), S. 111-129.
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den beiden Söhnen des Markgrafen Bernhard von Baden-Baden blieb der ältere, Philibert, katholisch, nahm die Ausbreitung reformatorischer Lehren in seiner Markgrafschaft Baden-Baden aber hin, sein Bruder Christoph trat bereits offen ins protestantische Lager über. In den Pforzheimer bzw. Durlacher Landen führte Ernsts einziger überlebender Sohn, Karl II., nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 die Reformation offiziell ein. Daß Baden-Baden katholisch blieb, lag ganz entscheidend daran, daß der frühe Tod dreier regierender Markgrafen zu vormundschaftlichen Regierungen führte, die, gestützt auf die Eheverbindung von 1522 zwischen Jakobäa von Baden und Wilhelm IV. von Bayern, unter bayerischer Leitung standen. In der Zeit der drei bayerischen Vormundschaften wurden die Anzeichen der Reformation in den BadenBadener Landen entschieden bekämpft. Zu Lebzeiten der Brüder Bernhard und Ernst bedurfte es noch nicht des konfessionspolitischen Streites, um die Verhältnisse innerhalb des Gesamthauses Baden mit Konflikten zu beladen. Zahlreiche Streitigkeiten um Einzelfragen der Umsetzung der Erbteilung von 1535, die das Reichskammergericht weit über den Tod der beiden ursprünglichen Kontrahenten hinaus bis 1582 beschäftigten, prägten das Geschehen. Es könnte gerade so scheinen, als hätte Bernhard von Baden-Baden aus Trotz gegen seinen ihn sonst beerbenden Bruder Ernst in fortgeschrittenem Alter standesgemäß geheiratet, nachdem bereits aus einer unebenbürtigen Verbindung nicht-erbberechtigte Kinder hervorgegangen waren. Rund fünf Monate vor seinem Tod im Juni 1536 wurde ihm ein standesgemäßer Erbe geboren, Philibert, und knapp acht Monate nach seinem Tod kam als Zweitgeborener Christoph II. zur Welt. Die Vormundschaft über die Kinder übernahm, wie oben angedeutet, unter Ausschaltung des Pforzheimer Markgrafen Ernst Jakobäa von Bayern. Philibert und Christoph teilten sich die Baden-Badener Lande noch vor dem endgültigen Ende dieser Vormundschaft: Philibert bekam die Kern-Markgrafschaft Baden-Baden mit dem badischen Anteil an Sponheim, Christoph II. die luxemburgischen Besitzungen mit Rodemachern. Philibert heiratete 1557 die bayerische Prinzessin Mechtild, die Tochter seines Vormunds. Dennoch war der Verbleib Baden-Badens im katholischen Lager nicht ungefährdet, denn Philiberts Bruder Christoph zu Rodemachern heiratete Prinzessin Cäcilia von Schweden und wechselte auf die Seite des Protestantismus. Aus katholischer Sicht stieg die Gefahr, als Philibert 1569 im Dienst des französischen Königs gegen die Hugenotten fiel. Sein Sohn Philipp II. war noch minderjährig. Zum zweiten Mal kam es unter Umgehung der nächsten Verwandten zu einer bayerischen Vormundschaftsregierung. Philipp II. wurde fernab der Heimat, im bayerischen Ingolstadt, katholisch erzogen. Er wurde auf Betreiben der Vormundschaftsregierung durch den Kaiser bereits im Alter von 12 Jahren für volljährig erklärt, so daß die eingeleitete Rekatholisierung in seinem Land formell nicht von der Vormundschaft ausging, die dazu nicht berechtigt gewesen wäre. Auch Philipp II. starb früh, im Jahr 1588, und
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ohne einen männlichen Nachfolger. Nächst erbberechtigt waren die Nachkommen des zum Protestantismus übergetretenen Christoph II. zu Rodemachern. Zum Glück für die katholische Seite war auch Christoph II. früh gestorben, im Jahr 1575, als sein Sohn und Erbe Eduard Fortunatus 10 Jahre alt war. Zum dritten Mal wiederholte sich das bekannte Muster. Die Vormundschaft über Eduard Fortunatus fiel an Bayern. Eduard Fortunatus wurde wie sein Cousin Philipp II. in Bayern erzogen (in seinem Fall muß man wohl sagen: umerzogen, denn seine Eltern waren ja Protestanten) und konvertierte dort 1584 zum Katholizismus. 1588 beerbte Eduard Fortunatus Philipp II. und vollzog damit eine Wiedervereinigung im Kleinen: Er hielt den gesamten baden-badischen Anteil aus den Erbteilungen von 1515 und 1535 in seiner Hand. Damit war in Baden-Baden der Zustand wiederhergestellt, der bei den Pforzheimer bzw. Durlacher Vettern aufgrund dynastischen Zufalls bis 1584 bestanden hatte. Dort setzte die gleiche Entwicklung, die Kombination aus Vormundschaft (und damit fremdem Einfluß) und Erbteilung (und damit Schwächung aus inneren Ursachen), etwas später ein. Auch Markgraf Ernst teilte unter seine drei Söhne, von denen aber zwei noch vor dem Vater (gest. 6. Februar 1553) starben. Alleinerbe wurde Markgraf Karl II., der zum Zeitpunkt des Regierungsantritts längst volljährig war. Er verlegte seinen Regierungssitz von Pforzheim in die nach ihm benannte Karlsburg in Durlach. Im Gegensatz zur Baden-Badener Linie mit ihrem luxemburgischen Zweig war dieser Herrscherwechsel also nicht mit einer Vormundschaft verbunden. Zu einer vormundschaftlichen Regierung kam es in Baden-Durlach später als in Baden-Baden aber doch noch, ebenso zu einer Erbteilung. Als Karl II. am 23. Februar 1577 starb, hinterließ er drei Söhne, die unter der Vormundschaft seiner Witwe Anna von Pfalz-Veldenz, des Pfälzer Kurfürsten, des Pfalzgrafen von Pfalz-Neuburg und des Herzogs von Württemberg standen – mindestens ebenso leidenschaftliche Verfechter der Sache des Protestantismus wie die Herzöge von Bayern den Katholizismus vertraten. Mit der Volljährigkeit des ältesten Sohnes Ernst Friedrich, 1584, wurde das Durlacher Erbe geteilt (also in etwa zu der Zeit, als das Baden-Badener Erbe wieder vereinigt wurde): Ernst Friedrich erhielt die untere Markgrafschaft mit Durlach, Jakob die Herrschaften Hachberg, Sulzberg, Höhingen und Landeck (Residenz in Hachberg und Emmendingen), Georg Friedrich Sausenberg, Rötteln und Badenweiler (Residenz in Rötteln und Sulzburg). Von diesen drei Söhnen des Markgrafen Karl II. konvertierte der zu Hachberg residierende Jakob 1590 zum Katholizismus. Doch im gleichen Jahr starb er, möglicherweise keines natürlichen Todes. Posthum wurde ihm ein Sohn geboren, für den Jakob testamentarisch die Vormundschaft des Herzogs von Bayern und des Grafen von Hohenzollern-Sigmaringen angeordnet hatte, um dessen katholische Erziehung zu sichern. Ernst Friedrich von Baden-Durlach setzte sich über den letzten Willen seines Bruders hinweg, indem er selbst die Vormundschaft übernahm und seinen kleinen Neffen von seinem
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eigenen evangelischen Hofprediger auf den Namen Ernst Jakob taufen ließ. Größere politische Konflikte mit den legitimen Vormündern wurden nur deswegen vermieden, weil Ernst Jakob schon 1591 starb. Damit fiel das Erbe an Ernst Friedrich selbst und an seinen noch unmündigen Bruder Georg Friedrich. Daß Ernst Friedrich von Baden-Durlach in Konfessions- und Machtfragen wenig zimperlich war, bewies er auch bei anderer Gelegenheit. Eduard Fortunatus von Baden-Baden hatte 1588 sein Erbe mit einem hohen Schuldenstand übernommen, den er durch eigene Mißwirtschaft und seinen Lebenswandel noch weiter verschlimmerte. 1591 heiratete er unebenbürtig Maria von Eicken. Die Überschuldung der Markgrafschaft Baden-Baden veranlaßte nicht nur den Kaiser zum Eingreifen, sondern rief auch die Durlacher Vettern auf den Plan. 1537 hatten die beiden Linien des Hauses Baden sich in einem Vertrag darauf geeinigt, daß Versäumnisse einer Linie in der Tilgung gemeinsamer Landesschulden aus der Zeit vor der Teilung von 1535 die jeweils andere Linie zur Schadloshaltung berechtigen konnten, wenn dieser Linie durch die Zahlungsrückstände Schaden drohen sollte. Aus echter oder vorgeblicher Sorge um territoriale Verluste für das Gesamthaus zur Befriedigung der Gläubiger besetzten Durlacher Truppen 1594 das Land ihrer Vettern und trieben Eduard Fortunatus außer Landes. Eduard Fortunatus mußte sich auf seine Sponheimer Besitztümer zurückziehen und starb dort 1600. Ein mindestens gleichgewichtiger Grund für diese „oberbadische Okkupation“, wie sie üblicherweise genannt wird, ist aber sicher in dem schon lange schwelenden tiefen Zerwürfnis zwischen den beiden Linien und dem sich zuspitzenden konfessionellen Streit im Vorfeld des Dreißigjährigen Krieges zu sehen. Wegen der oberbadischen Okkupation geriet Ernst Friedrich in Konflikt zum Reichsoberhaupt. Dieses verlangte die Besetzung Oberbadens bis zur Klärung der Vorwürfe, die die verfeindeten Linien des Hauses Baden gegeneinander erhoben, zu beenden, was Ernst Friedrich jedoch ignorierte. Nach dem Tod des Eduard Fortunatus 1600 setzte er seinen Konfliktkurs fort, indem er auch dessen Anteil an Lahr und Mahlberg besetzen ließ. Als Ernst Friedrich, der dem reichsrechtlich nicht anerkannten Calvinismus zuneigte, 1604 starb, hatten seine zahlreichen Händel tiefe Löcher in den Haushalt seines Landes gerissen – obwohl er doch angetreten war, der Überschuldung der Lande des Gesamthauses Baden ein Ende zu setzen. Die Kosten der oberbadischen Okkupation hatten Ernst Friedrich sogar dazu genötigt, die im württembergischen Pfandbesitz stehende Herrschaft Besigheim nebst dem benachbarten Amt Mundelsheim an Württemberg zu verkaufen. Territorialpolitisch war die gesamte Angelegenheit also alles andere als gewinnbringend für das Gesamthaus Baden. Da Ernst Friedrich keine Leibeserben hinterließ, fiel der gesamte Durlacher Besitz an den einzigen Überlebenden der drei Durlacher Brüder, Georg Friedrich, der 1595 volljährig geworden war.
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Mit dem alleinigen Regierungsantritt Georg Friedrichs von Baden-Durlach 1604 beginnt die Reihe derjenigen badischen Fürstengestalten, deren Leben durch den Dreißigjährigen Krieg bestimmt wurde. Die vertriebene Linie BadenBaden war zunächst gleichsam abgemeldet. Die drei Söhne des Eduard Fortunatus wurden in Brüssel erzogen. Ihre Ebenbürtigkeit und ihr Erbfolgerecht wurden durch die Durlacher Linie bestritten. Daß es dem ältesten der drei, Wilhelm, gelang, die Herrschaft über Baden-Baden doch noch zu erringen, verdankte er dem Kriegsglück der Waffen der katholischen Partei in der Anfangsphase des Dreißigjährigen Krieges. Der Durlacher Georg Friedrich zählte zu den Gründungsmitgliedern der protestantischen Union und verzichtete sogar auf die Regierungsgewalt in seinem Land zu Gunsten seines Sohnes, Friedrichs V., um sich als Person, nicht als Landesherr, ganz dem militärischen Dienst für die protestantische Sache widmen zu können. 1622 gingen seine Truppen in der Schlacht bei Wimpfen gegen die Kaiserlichen unter. Nun ereilte die Durlacher Markgrafen dasjenige Schicksal, das sie selbst ihren katholischen Vettern eine Generation zuvor angetan hatten. Sie mußten ihr Land verlassen, dessen militärische Besetzung hinnehmen und seine Rekatholisierung aus der Ferne beobachten. Georg Friedrich begab sich zunächst nach Hachberg, dann nach Genf, trat glücklos in dänische Kriegsdienste ein und starb 1638 im Straßburger Exil. Von seinen drei Söhnen fielen zwei im Krieg, nur Friedrich V. überlebte ihn. Das Jahr der Schlacht bei Wimpfen 1622 markiert nicht nur das Ende der oberbadischen Okkupation, sondern auch den Beginn einer neuen Ära in der Geschichte des katholischen Teils der badischen Lande. Von der drei Söhnen des im Exil verstorbene Eduard Fortunatus überlebte der jüngste das Kindesalter nicht. Der mittlere, Hermann Fortunatus, sollte sich in kaiserlichen Kriegsdiensten hervortun. Erbe der Markgrafschaft Baden-Baden wurde der älteste der drei Söhne, der 1593 geborene Wilhelm, der Vater „unseres“ Markgrafen Ferdinand Maximilian und Großvater des Türkenlouis. Nach drei Regierungen von kurzer Dauer war Markgraf Wilhelm eine lange Regierungszeit von mehr als einem halben Jahrhundert beschieden. Wilhelm, der als kaiserlicher General aktiv am Kriegsgeschehen teilnahm, leitete nach seinem Herrschaftsantritt 1622 die Rekatholisierung seines Landes ein, die sich als endgültig erweisen sollte. Zwischenzeitig kehrte allerdings das Vordringen schwedischer Truppen an den Oberrhein nach der Schlacht bei Breitenfeld 1631 die Machtverhältnisse wieder um: Wilhelm mußte sein Land verlassen, auf dem Heilbronner Konvent 1633 wies Schwedens Kanzler Oxenstierna Baden-Baden den Durlachern zu. Doch die Schlacht bei Nördlingen 1634 brachte definitiv die Wende. Die Schweden wurden aus Süddeutschland vertrieben. Durlach wurde der Baden-Badener Linie zugesprochen. Erst der Westfälische Friede 1648 setzte dem Hin und Her ein Ende: Friedrich V. von Baden-Durlach wurde restituiert. Markgraf Wilhelm, dem Kaiser Ferdinand III. 1652 die Würde eines Reichskammerrichters übertrug, sollte sein Land noch lange regieren. Als er 1677
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starb, hatte er sogar die meisten seiner 19 Kinder aus zwei Ehen überlebt. Als Nachfolger in der Regierung ausersehen hatte Wilhelm den ältesten Sohn aus seiner ersten Ehe mit Katharina Ursula von Hohenzollern-Hechingen, Ferdinand Maximilian.
III. Das Streben nach „mehr“ und seine Grenzen: der Erfahrungshorizont Ferdinand Maximilians Als Ferdinand Maximilian die ersten Schritte ins Leben unternahm, muß seine Situation ziemlich trostlos gewesen sein. Seine Familie verstand sich – wie andere natürlich auch – als eines der vornehmsten Fürstenhäuser Deutschlands. Und wie war die Realität? Das Gesamthaus Baden war seit Jahrzehnten heillos zerstritten, das Land war Spielball fremder Mächte, es war durch den Krieg gezeichnet, die Herrscherfamilie hatte in den Kriegsjahren die Erfahrung des Hin und Her und der Ungesichertheit des Daseins mit ihren Untertanen teilen müssen.9 Geboren am 23. September 1625 in Baden-Baden, drei Jahre nach Beendigung der oberbadischen Okkupation, erlebte Ferdinand Maximilian in seiner Kindheit und Jugend die Wechselfälle von Krieg und Politik: das zwischenzeitige Wiedererstarken der evangelischen Seite 1631 bis 1634, das Eingreifen Frankreichs in den nicht endenwollenden Krieg nach dem Ende der Vormachtstellung Schwedens auf den Schlachtfeldern, und schließlich die Friedensschlüsse von 1648, die Frankreich zum unmittelbaren OberrheinAnrainer machten und die sich auf der europäischen Bühne mehr als Waffenpause denn als dauerhafter Friede erweisen sollten. Der Name, auf den Markgraf Wilhelm seinen Sohn und Thronfolger taufen ließ, bezog Position im politisch-konfessionellen Kampfgeschehen jener Zeit: Die beiden Vornamen verweisen auf die beiden wichtigsten Vorkämpfer des Katholizismus im Reich, Habsburger (Ferdinand) und Wittelsbacher (Maximilian). Markgraf Wilhelm scheute in diesen Jahren der Unsicherheit und der materiellen Not, die nicht nur seine Untertanen zu spüren hatten, keine Kosten, um seinem ältesten Sohn eine zeitgemäße Ausbildung zu ermöglichen. Deren Kernstück war eine Kavaliersreise, die Prinz Ferdinand Maximilian in den Jahren 1644 bis 1646 zusammen mit seinem für den geistlichen Stand bestimmten jüngeren Bruder Wilhelm Christoph nach Italien unternahm. Überliefert sind uns die Reiseinstruktionen des Vaters sowie die Briefe der Reisenden in ihre ___________ 9
Ein Bilderbuch der Epoche ist das von Rainer Brüning und Clemens Rehm herausgegebene Bändchen: Ein badisches Intermezzo? Die Markgrafschaft Baden-Baden im 18. Jahrhundert. Festgabe für Herwig John, Karlsruhe 2005; darin S. 10 f. ein Kurzbeitrag des Verfassers über Ferdinand Maximilian.
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Heimat.10 Markgraf Wilhelm legte die Reisewege und -ziele genau fest, gab Anweisungen für die Aufenthalte an den Höfen, die die Prinzen besuchen würden, und für die Studien und Unterweisungen in den zeittypischen höfischen Disziplinen an den Akademien, die die Prinzen aufsuchen sollten. Der Vater warnte die Söhne vor Ausschweifungen und ermahnte sie zur Sparsamkeit. Geld war in der Tat das große Thema dieser Reise – bezeichnend für die materielle Lage des Hauses Baden nach den Jahrzehnten des internen Zwistes und des Krieges. Das zeigte bereits der erste längere Zwischenaufenthalt Ende März 1644 an dem verwandtschaftlich und politisch eng verbundenen Münchner Hof. Die beiden Prinzen übergaben dem bayerischen Kurfürsten Maximilian I. einen Bittbrief des Vaters, ihre Reise finanziell zu unterstützen. Der Kurfürst kam dem zwar nach, offenbar aber nicht in dem erhofften Umfang. Von München aus ging es weiter über Innsbruck, Bozen, Venedig, Florenz und Siena nach Rom, wo die Brüder im September 1644 ankamen. Angefüllt war die Reise durch Aufenthalte an Höfen, das Knüpfen von Kontakten, die Unterrichtung in höfischen Disziplinen wie Fechten, Reiten, Tanzen und Fremdsprachen und durch Besichtigungen. Vom neu gewählten Papst Innozenz X. erhofften sich die beiden eine finanzielle Unterstützung ihrer Weiterreise sowie Hilfe für die Erlangung geistlicher Pfründen für die nachgeborenen jüngeren Prinzen des Hauses Baden-Baden, eines der sehr wenigen katholisch gebliebenen alten deutschen Reichsfürstenhäuser. Die Prinzen erhielten zwar Gelegenheit, beim Papst persönlich vorzusprechen, ihre Bitten um finanzielle Unterstützung wurden aber nicht erfüllt. Im Sommer 1645 mußte Wilhelm seine Söhne zur Rückkehr nach Deutschland auffordern, weil er ihre Reise nicht weiter bezahlen konnte. Anfang 1646 kamen sie wieder in ihrer badischen Heimat an. Die Reise nach Italien hat sicher den Erfahrungshorizont des Erbprinzen erweitert, sie hat ihm aber vermutlich auch die beschränkten Möglichkeiten des eigenen Hauses vor Augen geführt. Das katholische Baden strebte hoch hinaus, es stand politisch treu zum Kaiser, wäre ohne diese Ausrichtung in den Jahren nach 1622 nicht wieder in seinen Besitz eingesetzt worden und suchte den Kontakt zu den großen katholischen Höfen bis hinauf zum Papst – doch die badischen Prinzen waren noch nicht einmal in der Lage, ohne fremde Unterstützung standesgemäß zu reisen. Der Empfang der Prinzen in München, Innsbruck, Florenz und Rom war insgesamt höflich, aber auch nicht mehr. Politisch war das kleine Baden den Mächtigen anscheinend nicht so wichtig. Das Streben nach „mehr“, teilweise in souveräner Ignorierung der gegebenen Möglichkeiten, ist geradezu das Signum des aufziehenden Barockzeitalters, in das Ferdinand Maximilian hineingeboren wurde. Dieses Streben nach oben ___________ 10 Eduard Heyck, Die italienische Reise der Markgrafen Ferdinand Maximilian und Wilhelm Christoph von Baden-Baden in den Jahren 1644-1646, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 40 = N. F. 1 (1886), S. 402-444.
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mag ein Motiv gewesen sein, das Markgraf Wilhelm von Baden dazu veranlaßte, für seinen Sohn Ferdinand Maximilian eine Eheverbindung auszuhandeln, die über die territorialstaatliche Lebenswelt Deutschlands hinauswies, die vorteilhaft zu sein schien – und die sich aber dann doch als unglücklich erwies.11 1652 wurde die Heirat des badischen Erbprinzen mit Luise Christine von Savoyen-Carignan abgesprochen, der Tochter des Herzogs Thomas Franz von Savoyen-Carignan und der Marie de Bourbon, Gräfin von Soissons. Der Bruder der Braut war Eugen Moritz von Savoyen-Carignan, Gouverneur der Champagne und französischer General, der spätere Vater des berühmten Prinzen Eugen.12 Die auf drei großformatigen Pergamentblättern gezeichnete 32-AhnenProbe der Luise von Savoyen macht die Vornehmheit ihrer Abstammung anschaulich.13 Ihre Großmutter väterlicherseits war die Habsburgerin Katharina, Tochter des spanischen Königs Philipp II. und der Elisabeth von Frankreich, deren Vater König Heinrich II. von Frankreich aus dem Hause Valois gewesen war. Vor allem aber rückte Luise von Savoyen-Carignan über ihre Mutter die badischen Markgrafen in die Nähe der Bourbonen, des seit 1589 regierenden französischen Königshauses. Das muß nicht unbedingt ein Widerspruch zur grundsätzlichen Kaisertreue des Hauses Baden gewesen sein, denn einem drohenden Gegner, den man nicht bezwingen kann, muß sich der Schwächere vorsichtig annähern. Außerdem teilte Markgraf Wilhelm von Baden die geplante Eheschließung dem Reichsoberhaupt frühzeitig mit und erbat den kaiserlichen Konsens, der laut Ehevertrag auch erteilt wurde.14 Als Grund für diese Verbindung gab der Markgraf an, daß es unter der kleinen Zahl der katholischen deutschen Reichsfürstenhäuser keine geeignete Ehekandidatin gebe.15 Gleichwohl ist nicht auszuschließen, daß sich in dieser Liaison doch ein Stück weit der habsburg-kritische Geist der damaligen Zeit ausdrückte. Dafür spricht ein anderes Indiz. Daß auch das sonst so kaisertreue Baden-Baden in jener Zeit eine vorsichtige Distanz zu Wien hielt, kann man an einer Denkschrift ablesen, die höchstwahrscheinlich Ferdinand Maximilian von Baden im Jahr 1654, einem Krisen___________ 11 S. hierzu Generallandesarchiv Karlsruhe (künftig: GLA K) 46 Nr. 3303-3323; Fritz Wolff, Prinz Ferdinand Maximilian von Baden (1625-1669) und Prinzessin Ludowica Christina geb. Prinzessin von Savoyen-Carignan (1627-1689), Eltern des Türkenlouis, in: Der Türkenlouis. Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden. Festgabe seiner Residenzstadt Rastatt zur 300. Wiederkehr seines Geburtstages am 8. April 1955, Karlsruhe 1955, S. 28-41. 12 Zur Verdeutlichung der Verwandtschaftsverhältnisse s. Detlev Schwennicke (Hg.), Europäische Stammtafeln. Stammtafeln zur Geschichte der europäischen Staaten, Neue Folge, Bd. 2: Die außerdeutschen Staaten, die regierenden Häuser der übrigen Staaten Europas, Marburg 1984, Tafel 197. 13 GLAK, 47 Nr. 523. 14 GLAK, 46 Nr. 3306. 15 GLAK, 46 Nr. 3302 I, Quadr. 2: Schreiben vom 26. September 1651.
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jahr des habsburgischen Kaisertums, verfaßt hat. Kurz nachdem der Ehevertrag zwischen Baden-Baden und Savoyen-Carignan im Louvre unterzeichnet worden war (15. März 1653), wurde der älteste Sohn Kaiser Ferdinands III., Ferdinand IV., vivente imperatore zum Römischen König gewählt (31. Mai 1653). Doch der designierte Nachfolger im Kaisertum starb am 9. Juli 1654, knapp drei Jahre vor dem Vater. Der Verbleib der Kaiserwürde beim Haus Habsburg stand in Frage. Die französische Diplomatie arbeitete damals intensiv daran, diese Kontinuität zu beenden.16 Die badisch-savoyische Verbindung mag für die französische Politik ein Mosaikstein in diesem Kräftespiel gewesen sein. Darauf deutet das „Mémoire donné par le Prince de Bade sur le fait de l’Empereur“ hin, das in eben jenem Jahr 1654 nach dem Tod Ferdinands IV. entstanden ist. Im Generallandesarchiv Karlsruhe befindet sich eine Abschrift dieses Dokuments ohne genaue Fundstellenangabe des Originals und ohne genaues Tagesdatum.17 Die Abschrift könnte im Rahmen einer größeren Aktion zur Ergänzung der Bestände des sogenannten Haus- und Staatsarchivs im Generallandesarchiv Karlsruhe durch Anfertigung von Abschriften von Originalen im Archiv des französischen Außenministeriums entstanden sein, die im April 1886 durch keinen Geringeren als Bernhard Erdmannsdörffer gegenüber Friedrich von Weech angeregt wurde.18 Auch in späteren Jahren bis kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs kam es immer wieder zu Bestandsergänzungen durch Abschriften aus dem Archiv des Pariser Außenministeriums.19 Im Zuge welcher dieser Abschrift-Aktionen die im Generallandesarchiv vorhandene Kopie entstanden ist, kann nicht mehr festgestellt werden. Eine Anfrage des Verfassers beim Archiv des französischen Außenministeriums ergab jedenfalls, daß sich das Original in der Tat dort befindet.20 Der Text war ursprünglich nur mit „Mémoire“ überschrieben, „donné par le Prince de Bade sur le fait de l’Empereur“ ist wie die Jahreszahl 1654 ein Zusatz von anderer, zeitgenössischer Hand. Auch im Original ist die Denkschrift nicht tagesgenau datiert. Da sie auf den Tod Ferdinands IV. eindeutig Bezug nimmt, muß sie auf alle Fälle bald nach dem 9. Juli 1654 entstanden sein. Wie der volle Name des „Prince de Bade“ gelautet hat, ___________ 16 Vgl. Anton Schindling, Leopold I. (1658-1705), in: Ders./Walter Ziegler (Hg.), Die Kaiser der Neuzeit 1519-1918. Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland, München 1990, S. 169-185. 17 GLAK, 46 Nr. 3289. 18 GLAK, 450 Nr. 715; weitere Korrespondenz zwischen Weech und Erdmannsdörfer s. GLAK, N Weech Nr. 26. 19 GLAK, 450 Nr. 716 und Nr. 1243. 20 Correspondance politique, Bade, vol. no. 2, fol. 167-168v. Leider war es nicht möglich, eine Reproduktion des Schriftstücks zu erhalten (ein erteilter Kopierauftrag wurde trotz Nachfrage nicht ausgeführt). Die folgenden Ausführungen beruhen auf der Karlsruher Abschrift.
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ist in der Quelle nicht festgehalten und ist auch aus ihrem Überlieferungskontext in Paris nicht ersichtlich. Im Findbuch des Generallandesarchivs Karlsruhe zum dortigen Bestand 46 wird Ferdinand Maximilian von Baden, der sich zur Entstehungszeit der Denkschrift bei seiner Gattin in Paris aufhielt, als Verfasser bezeichnet. Es lassen sich keine Gründe finden, die die Richtigkeit dieser Zuweisung ernstlich als zweifelhaft erscheinen lassen. Die Stimmung im Reich, so heißt es hier, sei gekennzeichnet durch eine „jalousie commune, qu’ont les Princes et Estats de l’Empire de la maison d’Autriche au subiect de la cupidité insatiable qu’Elle a de gouverner tout l’univers“. Es herrsche Unbehagen über die Ernennung neuer Fürsten durch den Kaiser und das herrische Auftreten der Habsburger auf der politischen Bühne des Reichs. Hinzu kämen die konfessionellen Differenzen: „A quoy accède la diversité de la Religion, estant certain que les Estats protestants tramants de donner la loy aux autres ne s’endormiront pas dans cette conioncture, mais chercheront par tous moyens de faire un Empereur à leur mode, et qui soit de leur Religion“. Frankreich dürfe in der Situation der ungeklärten Nachfolge im Kaisertum das Terrain nicht den spanischen Habsburgern überlassen. Es müsse versuchen, den deutschen Fürsten die Gefahren, die von Habsburg ausgingen, klar zu machen, nämlich „le danger qu’il y a de perdre leurs privilèges, l’élection de l’Empereur, l’espérance que chasque maison peut avoir de parvenir à la dignité impériale“. Unmißverständlich ruft der Verfasser der Schrift zum Sturz des habsburgischen Kaisertums auf: „Et en tout cecy sera le principal et maistre coup de faire passer la dignité impériale par élection à un autre maison que celle d’Austriche, et en cela prendre ou un puissant de soy mesme, ou un non puissant“. Unter den mächtigen Reichsständen sei außer Österreich nur einer katholisch: Bayern (unausgesprochen verneint also der Verfasser der Denkschrift die Option eines evangelischen Kaisertums), und Bayern könne sich nicht alleine an der Macht halten, „sans que l’Empire luy ayde et subvienne“. Ein Kaiser aus der Gruppe der mindermächtigen Reichsstände habe noch viel mehr dieses Problem fehlender eigener Ressourcen. Die Fürsten müßten sich in einem solchen Fall darauf verständigen, „à faire fond pour sa subsistance et manutention“, denn die alten, dem Reich zustehenden Güter und Einkunftsquellen seien in der langen Regentschaft der Habsburger entweder verpfändet oder entfremdet worden. Um ein nicht-habsburgisches, auch den mindermächtigen Ständen offenstehendes Kaisertum zu ermöglichen, müßten Einnahmequellen gefunden werden, die nur dem Kaiser zustünden und gleichzeitig den Besitzstand der Reichsfürsten nicht schmälerten, nämlich „rehaussant à cette fin les droicts des péages, les gabelles etc.“ – eine sehr vage Vorstellung, die den Autor dennoch zu der sicheren Erwartung führt, daß man damit „une somme de plusieurs millions, sans d’aultres moyens“ zusammenbekommen könne. Wer auf einer solchen Grundlage dann wirklich Kaiser werde, habe der franzö-
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sische König selbst in der Hand: „il dépendroit purement de S[a] M[ajesté] en ce cas de faire eslire par la pluralité des suffrages tel Empereur qu’elle voudra.“ Der Verfasser vermeidet das Wort Stimmenkauf, aber genau das hat er wohl gemeint. Polnische Verhältnisse in Deutschland? Der Autor ist sich der Tragweite dieses Vorschlags bewußt, denn er betont, daß man sich sehr genau überlegen müsse, an welche Fürsten im Reich man mit solchen Plänen herantrete und wie man argumentiere. Die Denkschrift endet mit einem Plädoyer, bald mit den ersten Schritten zu beginnen, um die günstige „conioncture“ auszunutzen. Man mag kaum glauben, daß eine solche Denkschrift wirklich aus der Feder des badischen Erbfolgers stammen soll. Aber warum – unter Berücksichtigung der damaligen politischen Konstellation im Reich – eigentlich nicht? Der Dreißigjährige Krieg, der als Aufstand gegen die Habsburger in Böhmen mit einem Kurfürsten, einem Kaiserwähler also, an der Spitze begonnen hatte, lag 1654 gerade sechs Jahre zurück. Die Erfahrungen dieses Krieges hatten gezeigt, daß die Habsburger mit ihren weit gespannten politischen Interessen in Spanien, Deutschland, Italien und in Südosteuropa stets auch höchsteigene, mit den Interessen des Reichs nicht deckungsgleiche Absichten verfolgten. Die Denkschrift ist eingebettet in die habsburg-kritische Grundstimmung jener Zeit, die dem Kaiserhaus unter anderem während des Regensburger Reichstags von 1653/54 entgegengeschlagen hatte und die sich in den reichsständischen Bündnisprojekten dieser Jahre äußerte, die schließlich zum Rheinbund von 1658 führten. Es ging dabei nicht nur um die Wahrung der Position der Reichsstände im Gefüge der Reichsverfassung und damit um die Fortsetzung des jahrhundertealten Ringens zwischen dem Reichsoberhaupt und den Ständen des Reichs, sondern noch viel mehr um die Wahrung des so teuer erkauften Friedens. Gerade die Frankreich benachbarten Reichsstände mußten befürchten, daß der immer noch nicht beendete Krieg zwischen Spanien und Frankreich doch noch auf das Reich übergreifen konnte, auch wenn die österreichischen Habsburger ihre spanischen Vettern seit dem Westfälischen Frieden nicht offen unterstützen konnten. Erst nachdem das französische Ausgreifen nach Osten mit Beginn des Holländischen Krieges 1672, der ab 1674 als Reichskrieg geführt wurde, auch für die dem Kaiserhaus distanziert gegenüberstehenden Reichsstände allmählich gefährlich zu werden begonnen hatte, änderte sich die Lage und begann die Mehrzahl der Reichsstände, sich um das nun wiedererstarkende Kaisertum zu scharen. Die Türkenabwehr trug sicherlich das ihrige zu dieser Entwicklung bei.21 Ferdinand Maximilian von Baden ist, wie gesagt, nicht ausdrücklich als Verfasser der Denkschrift genannt. Doch welcher andere „Prince de Bade“ ___________ 21
Als Gesamtdarstellung zur politische Geschichte des Reichs nach 1648 nach wie vor grundlegend: Bernhard Erdmannsdörffer, Deutsche Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zum Regierungsantritt Friedrichs des Großen 1648-1740, 2 Bde, Meersburg/Naunhof/Leipzig 1932, hier Bd. 1, S. 283-308.
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kommt in Frage? Sollte sich später nicht auch der Türkenlouis bitter über das Haus Habsburg beklagen? Auf keinen Fall hat die Denkschrift etwas verräterisches an sich. Das Reich war nun eben einmal eine Wahlmonarchie. Treue zum Reich ist nicht gleichzusetzen mit kritikloser Ergebenheit gegenüber dem Kaiserhaus. Auffällig ist das starke Interesse, das der französische Hof dem Zustandekommen und dem Erfolg der Liaison entgegen brachte. Ludwig XIV. versprach in dem Ehevertrag, in dem er zusammen mit der savoyischen Seite als Vertragspartner handelte, zu dem Heiratsgut, das Luise von Savoyen zur Verfügung stehen sollte, 100.000 Livres dazuzulegen. Der Grund für dieses Interesse mag in der politischen Vorfeldarbeit Frankreichs gelegen haben. Baden war durch die Ergebnisse des Westfälischen Friedens trotz seiner überschaubaren Größe unter den weltlichen deutschen Reichsfürsten der nächst Habsburg wichtigste unmittelbare Anrainer Frankreichs am mittleren und südlichen Oberrhein – und gleichzeitig ein beeinflußbarer Nachbar ohne eigenständiges Machtpotential und ohne Hinterland. Was hat die savoyische Verbindung für die badische Seite tatsächlich gebracht? Aus der Sicht des heutigen Betrachters stand bereits der Hochzeitstag unter einem ungünstigen Stern. Bei der Hochzeit war Ferdinand Maximilian nicht persönlich anwesend, sie fand ohne ihn statt. Statt dessen sprang der Bruder der Braut, Eugen Moritz von Savoyen, stellvertretend ein. Ungewöhnlich war eine solche Form der Eheschließung unter Europas Fürstenhäusern damals zwar nicht, jedoch unterstreicht sie deutlich deren politischen Charakter. Das üppige Heiratsgut aus der Hand des Schwiegervaters von 600.000 Livres sollte weitgehend auf dem Pergament des Ehevertrags stehen bleiben. Auch die 100.000 Livres Zulage des französischen Königs wurden nicht ausbezahlt. Statt dessen kostete die Liaison der Markgrafschaft Geld. Der Geldbedarf für die standesgemäße Ausstaffierung der Prinzessin führte Ferdinand Maximilian erneut die Grenzen seiner Möglichkeiten vor Augen. Auch die Reise, die der Erbprinz nach der förmlichen Eheschließung zu seiner Frau in der Absicht unternahm, sie nach Baden zu führen, und sein Aufenthalt in Paris verschlangen größere Summen. Noch schwerer aber wog, daß Luise Christine sich weigerte, ihrem Mann nach Osten über den Rhein zu folgen. Zu unkultiviert und zu provinziell erschien ihr die Residenz Baden-Baden, die sie nie mit eigenen Augen gesehen hatte. Sie verharrte auch dann noch auf ihrer Position, nachdem dem Paar am 8. April 1655 ein Sohn geboren worden war. Alle inständigen Bitten halfen nichts, auch nicht das Angebot, sie möge doch wenigstens probehalber nach Baden-Baden kommen. Um ihr die Befürchtung zu nehmen, sie könne dort wider Willen festgehalten werden, wurde ihr angeboten, eine Schwester Ferdinand Maximilians als Bürgin zu stellen, die so lange in Paris an einem bewachten Wohnsitz bleiben sollte, bis Luise Christine erklärt haben würde, es gefalle ihr in Baden-Baden. Auch das Versprechen eines großen jährlichen Ta-
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schengeldes half nicht. Ferdinand Maximilian bat auch den französischen König und Kardinal Mazarin um Vermittlung. Ferdinand Maximilian hielt sich noch bis drei Monate nach der Geburt seines Sohnes in Paris auf, dann ließ er das Kind nach Baden-Baden bringen und reiste ihm wenig später nach. 1656 wurde es in Baden-Baden auf den Namen Ludwig Wilhelm getauft. Der namengebende Taufpate war kein geringerer als der Sonnenkönig selbst – eine Namensgebung, die sich sehr gut in das oben gezeichnete Gesamtbild der politischen Hintergründe der badisch-savoyischen Verbindung fügt. Der zweite Vorname Wilhelm stammte vom Großvater. Der König von Frankreich ließ sich bei der Taufe durch den Kommandanten von Breisach vertreten, welcher sich ebenfalls brieflich an Luise Christine wandte und ihr das Land Baden in den schönsten Farben schilderte. Noch einige Jahre lang bemühte sich Ferdinand Maximilian, seine Frau zum Nachzug zu bewegen, ohne Erfolg. Ludwig Wilhelm von Baden sollte seine Mutter nie zu Gesicht zu bekommen. Auch für die französische Seite war diese Eheverbindung kein Erfolg. Eugen Moritz von Savoyen, der Schwager Ferdinand Maximilians von Baden, wurde später, wie oben bereits angedeutet, der Vater des Prinzen Eugen, der in habsburgischen Diensten zu Ruhm gelangte: Ferdinand Maximilians Sohn, der Türkenlouis, und Prinz Eugen – beide militärische Gegner Ludwigs XIV., aus dessen Umgebung ihre Eltern zum Teil stammten – waren Vettern. Kaum etwas zeigt deutlicher die Grenzen politisch inspirierter fürstlicher Eheverbindungen. Ferdinand Maximilian setzte offenbar hohe Hoffnungen in den aus dieser Ehe geborenen Sohn. Das älteste Porträt des kleinen Ludwig Wilhelm ist auf einer Medaille zu finden, die sein Vater 1663 prägen ließ. Sie zeigt auf ihrer Rückseite einen Adler, der einen Anker in den Fängen hält und, gefolgt von einem kleineren Adler, zu einer Sonne auffliegt, die eine Krone enthält. Die Devise lautet: „Non deteriora sequendo“ – „Nichts geringeres verfolgen“. Der Anker, ein aus der religiösen Formensprache stammendes Symbol des festen Haltes und der Hoffnung, taucht bereits in der Verlobungsmedaille Ferdinand Maximilians von 1653 auf, dort allerdings mit zwei Palmwedeln. Ein Anker ragt auch aus dem Deckenstuck der Kappelle des Ettlinger Schlosses hervor, das sich Ferdinand Maximilians Schwiegertochter Sybilla Augusta nach dem Tod ihres Mannes, des Türkenlouis, zum Witwensitz erkor. Der zur bekrönten Sonne auffliegende Adler mit Anker begegnet erneut 1668, diesmal ohne den nachfolgenden kleinen Adler und mit der Devise „Possum quia posse videtur“ – „Ich kann es, weil es möglich erscheint“. Wann diese Medaille geprägt wurde und aus welchem Anlaß, ist nicht bekannt. Die oft geäußerte Vermutung, sie stünde mit der polnischen Thronfolge des Jahres 1668 in Zusammenhang, ist nicht bewiesen, gegen sie spricht die große Ähnlichkeit der Medaillenrückseite
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mit der Porträtmedaille des neunjährigen Ludwig Wilhelm von 1663, deren Schöpfer Georg Pfründt in diesem Jahr gestorben ist.22 Was diese Medaillen interessant macht, ist nicht die Frage nach dem Entstehungsanlaß, sondern ihre Devisen. Ferdinand Maximilian hatte sich offenbar hohe Ziele gesteckt, zumindest hatte er einen hohen Selbstanspruch. In der Tat schickte sich das Haus Baden um die Zeit, als die Medaillen geprägt wurden, an, einen herausgehobenen Platz unter den Reichsfürstenhäusern einzunehmen. Aber dieser Rang war abgeleitet von der Gunst Mächtigerer, er war nicht eigenwüchsig. Die beiden damals noch lebenden Brüder Ferdinand Maximilians waren als Generäle in Diensten von Kaiser und Reich tätig: Leopold Wilhelm siegte im Jahr 1664 als Reichsgeneralfeldmarschall zusammen mit dem kaiserlichen Oberbefehlshaber Montecuccoli bei St. Gotthard an der Raab über die Türken, und Markgraf Hermann, der als Johanniter dem geistlichen Stand angehörte, wurde später Montecuccolis Nachfolger als Präsident des Wiener Hofkriegsrates. 1688 wurde er kaiserlicher Prinzipalkommissar am Reichstag in Regensburg, wo er 1691 starb. Der Türkenlouis übernahm 1676 dasjenige kaiserliche Regiment, das sein Onkel Hermann bis dahin innegehabt hatte, und dies nicht auf Initiative des Kaisers hin, sondern auf Veranlassung des Markgrafen Hermann: Am Anfang der Laufbahn Ludwig Wilhelms stand so etwas wie ein Karriereplan seiner Familie, bezeichnender Weise ein Plan zum Aufstieg durch Dienst.23 Auch die evangelische Durlacher Linie, deren Wirken sich insgesamt stärker auf das eigene Territorium beschränkte, brachte damals Persönlichkeiten hervor, die über die Oberrheinlande hinauswiesen. Ausgerechnet der 1631 geborene Gustav Adolf von Baden-Durlach, der den Schwedenkönig zum Taufpaten hatte, konvertierte unter Annahme des Namens Bernhard Gustav 1660 zum Katholizismus, wurde Abt zu Fulda und Kempten und schließlich sogar Kardinal. Markgraf Friedrich VI. von Baden-Durlach wurde 1674 Reichsgeneralfeldmarschall; unter ihm diente damals der oben genannte BadenBadener Markgraf Hermann.24 Wie oben bereits gesagt, war Ferdinand Maximilian 1668 als Kandidat für die polnische Königskrone im Gespräch. Im Jahr zuvor hatte er sich darum be___________ 22 Abbildung und Beschreibung der Medaille in: Friedrich Wielandt/Joachim Zeitz (Bearb.), Die Medaillen des Hauses Baden. Denkmünzen zur Geschichte des zähringisch-badischen Fürstenhauses aus der Zeit von 1499 – 1871, Karlsruhe 1980, Nr. 2932, S. 40 ff., Erklärung des Ankers S. 40 bei Nr. 29; Vgl. Christian Greiner, Die Jugend des „Türkenlouis“ (1655-1679): Erziehung, Bildung, Erfahrungen, in: Hohrath/Rehm (wie Anm. 1), S. 12-21; Wolfgang Froese, „Nichts Geringeres verfolgen“. Ludwig Wilhelms Bemühungen um eine Standeserhöhung, in: Ders./Walter (wie Anm. 1), S. 53-60. 23 Christian Greiner, Der Eintritt des Markgrafen Ludwig Wilhelm von Baden in kaiserliche Dienste 1676, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 132 = N. F. 93 (1984), S. 227-237. 24 Zu Baden-Durlach vgl. Weech (wie Anm. 4), S. 335-362.
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müht, das Kommando über eine neu aufzustellende Streitmacht gegen die Türken in Polen zu übernehmen. Für seine Kommandantenpläne hatte Ferdinand Maximilian verschiedene Reichsfürsten um Unterstützung gebeten, darunter auch die Kurfürsten von Brandenburg und Trier. Offenbar war der Markgraf falschen Informationen gefolgt, denn Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg ließ ihn wissen, daß ihm nicht bekannt sei, daß Truppen gegen die Türken in Polen aufgestellt werden sollten, und der Trierer Erzbischof teilte ihm mit, Polen sei nur an einer Geldhilfe, nicht an Truppen interessiert.25 1696/97 unternahm sein Sohn Ludwig Wilhelm ebenfalls einen Griff nach der Krone.26 Ferdinand Maximilian und seine Brüder waren über ihren 1575 verstorbenen Urgroßvater Christoph, der mit Cäcilia von Schweden verheiratet gewesen war, Urenkel eines Wasa, deren katholischer Zweig von 1587 bis 1668 über Polen regiert hatte. Zum Favoritenkreis für die polnische Thronfolge gehörte Ferdinand Maximilian 1668 freilich nicht. Der Türkenlouis hatte rund 30 Jahre später dagegen etwas bessere Aussichten. Für viele der polnischen Königswähler war er ein Garant gegen die noch nicht überwundene Bedrohung durch die Osmanen, deren Machtbereich unmittelbar an das damalige Polen grenzte. Für die zwischen Habsburg und Bourbon stehenden deutschen und europäischen Mächte, insbesondere Kurbrandenburg, kam Markgraf Ludwig Wilhelm als „dritter Kandidat“ in Frage, als jemand, der kein Parteigänger Frankreichs war und der zugleich gerade wegen seiner Treue zur Reichsverfassung eine wohlwollende Distanz zum habsburgischen Reichsoberhaupt hielt. Der Markgraf von Baden verfügte über eine zu geringe Hausmacht, um als König von Polen einem der Nachbarn oder einer der europäischen Mächte gefährlich werden zu können. Somit ist es wohl nicht völlig verkehrt, die wiederholte Nennung des Namens Baden im Kontext der polnischen Thronfolgefrage zu Lebzeiten des Markgrafen Ferdinand Maximilian und seines Sohnes als Beleg gerade für die Zweitrangigkeit des Hauses Baden auf der Bühne der großen Politik zu werten. Ferdinand Maximilian beteiligte sich in den Jahren nach seiner Eheschließung an den Regierungsgeschäften der Markgrafschaft. Er vertrat hierin seinen Vater, der wegen seiner Tätigkeit am Reichskammergericht oft außer Landes weilte. Hierdurch gewann er gute Einblicke in den inneren Zustand seiner Erblande. Seine Erfahrungen faßte er 1656/57 in drei Schriftstücken zusammen, in ___________ 25 GLAK, 46 Nr. 3262 und Nr. 3274. So weit ich sehe, ist dieses Vorhaben Ferdinand Maximilians bisher nicht beachtet worden. 26 Vgl. zu Ludwig Wilhelm von Baden: Aloys Schulte, Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden und der Reichskrieg gegen Frankreich 1693-1697, Band 1: Darstellung, Heidelberg 2. Auflage 1901, S. 471-514; Hans Leopold Zollner, Das polnische Abenteuer des Türkenlouis, in: Beiträge zur Landeskunde (Beilage zum Staatsanzeiger BadenWürttemberg) Nr. 3 / Juni 1974, S. 1-4; Markus Millewski: Die polnische Königswahl von 1697 (Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs, Sonderband 10), Wien 2008, v. a. S. 30 f., S. 40 f., S. 48 f., S. 131-135.
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denen er die Situation analysierte und Verbesserungsvorschläge erarbeitete.27 Am aussagekräftigsten und umfangreichsten ist die erste, als undatiertes und unfertiges Konzept überlieferte Schrift, die sehr feierlich mit „In nomine sanctissimae et individuae trinitatis“ beginnt. In ihr rechnete Ferdinand Maximilian ab mit seinen Vorfahren, die es aufgrund eigenen Unvermögens nicht geschafft hätten, das Erbe des Hauses zu bewahren, geschweige denn zu mehren. Unerachtet der großen Verdienste mancher Familienoberhäupter in der Vergangenheit habe das Haus Baden „auß großer liderlichkeit“ seine Position verspielt. Was die eine Generation geschaffen habe, habe die nächste vertan. Als die Wurzel allen Übels erkannte er, daß „dehr größte ruin undt minderung unseres so uralten hauß vürnemblich“ in den Erbteilungen mit den aus ihnen hervorsprießenden Streitigkeiten liege, wie schon die Bibel sage: „Regnum inter se divisum desolabitur“. Die Lehre daraus müsse sein, künftig für die „rechte einigkeiht“ im Hause Baden zu sorgen. Der Gesamtbesitz des Hauses müsse im Konsens zwischen den beiden Linien gewahrt bleiben. Geregelt werden müsse außerdem der Umgang mit den herrschaftlichen Schulden. Kein Gut dürfe ohne Vorwissen beider Linien verpfändet oder verkauft werden. Und „falß eine vohn beden linien abstürbe“, müsse „das landt wider zu sam[m]en gezogen“ werden. Lediglich zum Zweck der „Erhaltung des stam[m]es“ möge in einem solchen Fall aus den Sponheimischen Gebieten eine Sekundogenitur gebildet werden. Der Kern des Landes aber müsse dann unteilbar bleiben, und die vorgesehene Sponheimische Reservelinie müsse darauf ausdrücklich verpflichtet werden. Als nächstes widmete sich der Erbprinz den inneren Zuständen der katholischen Linie seines Hauses, weil er diese besser kenne als die Verhältnisse der anderen Linie. Zunächst entwickelte er ein Idealbild eines wohl regierenden Markgrafen. An den Anfang stellte er das Bekenntnis zur „catholische[n] romanische[n] apostolische[n] allein selig machente[n] religion“, das der regierende Markgraf „heimblich undt offentlich“ beispielgebend vorleben sollte. Der Kirchenbesitz solle ungeschmälert erhalten bleiben, die Landesbeamten sollten darauf achten, daß die kirchlichen Gefälle ordentlich erbracht würden, daß das Land mit Seelsorgern und Schulen recht versehen sei und daß Übertretungen gegen die Religionsordnung geahndet würden. Der Markgraf solle auf die religiöse Zuverlässigkeit seiner Räte und Beamten achten und ganz allgemein sich an das halten, „was einem frommen Regenten undt Cristen zu stehet“. Als nächstes widmete sich Ferdinand Maximilian in dieser Denkschrift dem Bereich der Justiz, auf welchem er einiges im Argen liegen sah. Die Justiz – eigentlich meinte er damit die gesamte innere Verwaltung – müsse wieder „in ___________ 27 GLAK, 46 Nr. 3240. Vgl. Eberhard Gothein, Zwei Episoden badischer Fürstengeschichte, Teil I: Ein unglücklicher Fürstensohn (Markgraf Ferdinand Maximilian von Baden), in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 66 = N. F. 27 (1912), S. 543559. Eine knappe Würdigung der ersten Denkschrift vom Dezember 1656 findet sich auch bei Schwarzmaier, „Von der fürsten tailung“ (wie Anm. 6), S. 180 f.
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sein [sic] standt gebracht und darin erhalten werden“. Konkret bedeutete dies in den Augen des Erbprinzen, daß die Kanzlei wieder ordentlich bestellt werden müsse, Wohlverhalten müsse belohnt und Vergehen müßten bestraft werden, die Beamten müßten wirklich sachkundig sein, es müsse wieder Ordnung Einzug halten. Die Untertanen dürften nicht durch die Beamten des Markgrafen über Gebühr mit Abgaben belastet werden. Der Markgraf und seine Beamten müßten auf den sittlichen Lebenswandel der Untertanen achten. Alles in allem sei eine umfassende Hof- und Verwaltungsordnung von Nöten, zu der Ferdinand Maximilian gleich einen detaillierten Entwurf mit vorlegte. Er listete darin genau auf, über welche Personalstellen der Hof verfügen müsse und wie diese besoldet sein sollten. Der Verwaltungsapparat sollte massiv verkleinert werden, indem den Inhabern der leitenden Hofstellen auch Verwaltungsposten übertragen und die Gebietseinteilung der Ämter reformiert werden sollten. Obervogteien und Kellereien sollten gänzlich abgeschafft werden. Der Erbprinz entwickelte außerdem konkrete Vorschläge, wie die Einnahmesituation der Herrscherfamilie verbessert werden könne, ohne die Untertanen auszupressen. Seine Reformideen legte der Erbprinz seinem Vater vor. Dabei scheint er nicht gerade auf offene Ohren gestoßen zu sein. In einem auf Sonntag vor Weihnachten 1656 datierten leidenschaftlichen Schreiben28 verteidigte er seine Ansichten gegenüber dem Vater und stellte insbesondere klar, daß es ihm nicht um den eigenen Nutzen gehe. Offensichtlich muß er in diesen Verdacht geraten sein, denn sonst hätte er nicht so vehement gefragt: „wehr wird E[uer] Genaden treuwer sein alß ich, wehn gehet eß mehr ahn alß mich, wehr hatt mehr darbeiw zu verliren alß ich“? Es gehe ihm in selbstloser Weise um das Wohl des Hauses Baden („das hauß Baden ist in dehr höchsten gefahr, einzufallen“), und das nicht nur wegen der wirtschaftlichen Probleme, sondern vor allem wegen der Mängel in der Verwaltung, der Eigennützigkeit der Beamten, die in die eigenen Taschen wirtschafteten, und wegen skandalöser Mißstände in der Rechtsprechung („wehr kein gelt hatt, hatt kein recht“). Die Beamten würden tun und lassen, was sie wollten: „ieder kandzellist, der will, schreibt ein befellich, underzeichnet ‚marggraffische badsche kandzleiw‘, truckt das sigel darunnder, das den gantzen dag uff dem dichß [sic] in der kandzleiw ligt“. Der Fürst, so kann man sinngemäß zusammenfassen, habe die Autorität im eigenen Lande verloren. Überliefert ist ein weiterer Brief, in dem Ferdinand Maximilian konkrete Prüfkriterien entwickelte, anhand derer die innere Verwaltung der Markgrafschaft Baden-Baden untersucht werden sollte, damit die eingetretene „confusion“ wirksam bekämpft werden könne. Zunächst einmal sollte die Beamtenschaft in ihrer Einstellung zur Religion untersucht werden, nämlich ob sie der Geistlichkeit das ihr Gebührende zukommen lasse oder ob sie im Gegenteil die Untertanen gegen sie aufhetze – wohl ein Zeugnis dafür, daß ein knappes Jahr___________ 28
GLAK, 46 Nr. 3240.
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zehnt nach dem Ende des großen Krieges die Rekatholisierung Baden-Badens noch nicht wirklich abgeschlossen war. Sodann sei zu prüfen, ob die Beamten sich an die ihnen gesetzten Regeln hielten, die Untertanen nicht über Gebühr belasteten, mit den ihnen anvertrauten Gütern sorgsam umgingen und ihre Befugnisse nicht überschritten. Zu achten sei auch darauf, daß die Beamten nicht ihr Eigeninteresse verfolgten, sondern stets den Nutzen der Herrschaft zur Richtschnur ihres Handelns machten. Ferdinand Maximilian war sich sicher, es werde, wenn „eß zur inquisition kombt, noch fihl mehrerß geben, alß ich specificiren kann undt mir ietz einfalt“. Es gibt keine Hinweise darauf, daß Markgraf Wilhelm seinem Sohn freie Hand gegeben hätte, die Reformvorschläge umzusetzen. Im Gegenteil: die leidenschaftliche Sprache der drei Schriftstücke verrät einen heftigen Disput mit dem eigenen, als Kammerrichter vielleicht allzu oft außer Landes weilenden Vater, der sich möglicherweise als verantwortlicher Landesherr durch die fundamentale Kritik seines Sohnes attackiert fühlte. Vielleicht drücken sich darin aber auch frustrierende Lebenserfahrungen des Sohnes aus, die ihre Wurzeln zum einen in der aus Staatsraison und hochfliegenden Spekulationen heraus geschlossenen Ehe haben mochten, zum anderen in der alltäglichen Wahrnehmung der tiefen Diskrepanz zwischen dem dynastischen Anspruch des Hauses und der Realität, in der der Erbprinz lebte. Es zählt zur Tragik von Ferdinand Maximilians Leben, daß so vieles unfertig blieb und Makulatur geworden ist. Auch seine Hofordnung von 1653 wurde wohl nicht umgesetzt.29 Ferdinand Maximilian erließ sie im Rahmen seiner Vorbereitungen auf die erhoffte Übersiedlung seiner Gemahlin nach BadenBaden, die ja nicht zustande kam. Es handelt sich dabei um eine Mischung aus Anweisungen für die Hauswirtschaft, Verhaltensregeln für das Hauspersonal und Festlegungen für die Gestaltung des Tagesablaufs und des Zeremoniells bei Hofe, wobei der Anteil rein hauswirtschaftlicher Bestimmungen deutlich überwiegt und den Charakter der Hofordnung prägt. Anzeichen für das Vorhandensein einer höfischen Kultur in der Art, wie sie Ferdinand Maximilians Gattin im Umfeld Ludwigs XIV. erlebte, sind kaum gegeben. Der Hof eines kleinen deutschen Fürstentums war so früh nach dem Dreißigjährigen Krieg nicht wesentlich mehr als der Haushalt des Fürsten.30 ___________ 29
GLAK, 47 Nr. 722. Gerlinde Vetter, Zwischen Glanz und Frömmigkeit. Der Hof der badischen Markgräfin Sibylla Augusta, Gernsbach 2007, S. 63-86, hier v. a. S. 65 ff. und S. 79 ff., spricht dieser Hofordnung dagegen relativ große Bedeutung zu und meint, von ihr ablesen zu können, wie das Leben bei Hofe nicht nur zur Zeit Ferdinand Maximilians, sondern auch danach tatsächlich gewesen ist. Man muß aber diese Hofordnung im Lichte ihres Entstehungsanlasses werten: Eine die Gewohnheiten des französischen Hofes kennende Prinzessin soll sich in der Residenz der Markgrafen von Baden einleben können. Daß nach dem Wegfallen dieses Anlasses die ohnedies insgesamt nicht umfangreichen 30
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In der äußeren Politik suchte Ferdinand Maximilian im Rahmen seiner Möglichkeiten, dem Vordringen Frankreichs durch defensiv ausgerichtete Bündnisprojekte entgegenzuwirken.31 Im Westfälischen Frieden hatte Frankreich die habsburgischen Besitztitel im Elsaß erhalten. Außerdem besaß es nun das Besatzungsrecht in den rechtsrheinischen Festungen Breisach und Philippsburg. Nördlich und südlich der badischen Markgrafschaften verfügte Frankreich damit über offene Einfallstore ins Reich. Zudem hatte Frankreich für das rechtsrheinische Gebiet von Basel bis Philippsburg ein Befestigungsverbot durchsetzen können. Nachdem Frankreich mit dem Pyrenäenfrieden 1659 an seiner südwestlichen Grenze Entlastung gefunden hatte, setzte sein militärisches Ausgreifen nach Osten ein. 1667 begann Ludwig XIV. den Devolutionskrieg gegen die spanischen Niederlande. Ferdinand Maximilian von Baden verhandelte damals mit dem Kaiser, der Kurpfalz, Württemberg, Straßburg und anderen Reichsständen.32 Ein Bündnis wurde unnötig, nachdem die Allianz aus England, Schweden und Holland Frankreich 1668 zum Frieden von Aachen gezwungen hatte. Die Gefahr eines großen Krieges mit Frankreich am Oberrhein schwebte somit zwar stets über Ferdinand Maximilians Lebensjahren, doch sollte erst sein Sohn den Ausbruch dieser Gefahr erleben müssen. Am 4. November 1669 starb der badische Erbprinz an den Folgen eines Jagdunfalls, drei Jahre bevor Ludwig XIV. eine erneute Offensive an der Rheingrenze mit dem Krieg gegen die Generalstaaten, der auch am Oberrhein geführt wurde, startete, und noch bevor Frankreich begonnen hatte, seine Ostgrenze durch die Reunionspolitik immer weiter vorzuschieben.
IV. Das politische Vermächtnis des Erbprinzen Die Ehe Ferdinand Maximilians nimmt in den wenigen biographischen Skizzen zu ihm, die bezeichnenderweise meist nur in Publikationen zum Türkenlouis enthalten sind, den breitesten Raum ein. In einer eigenständigen Rolle wurde und wird er kaum wahrgenommen. Das Handbuch der baden___________ Anweisungen zum Hofzeremoniell tatsächlich umgesetzt worden sind, ist eher zweifelhaft. 31 Zum allgemeinen Hintergrund vgl. Christian Greiner, Der „Schild des Reiches“. Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden-Baden (1655-1707) und die „Reichsbarriere“ am Oberrhein, in: Johannes Kunisch (Hg.), Expansion und Gleichgewicht. Studien zur europäischen Mächtepolitik des ancien régime (Zeitschrift für historische Forschung Beiheft 2), Berlin 1986, S. 31-68; Max Plassmann, Krieg und Defension am Oberrhein. Die Vorderen Reichskreise und Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden (1693-1706) (Historische Forschungen Band 66), Berlin 2000. Zugleich Diss. phil. Mainz 1998. 32 GLAK, 46 Nr. 3241 und Nr. 3259.
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württembergischen Geschichte widmet ihm ganze zwei Sätze.33 Daß er ein analytischer Denker war, wird zwar gesehen, aber aus einem merkwürdigen Blickwinkel heraus: seine politischen Denkschriften und Handlungsempfehlungen dienen der Forschung als Quellen, um die Erziehung und die Jugendjahre des Türkenlouis zu erhellen.34 Dabei sagen sie über den Vater und seine Zeit viel mehr aus als über den Sohn. Sie helfen, die Strukturbedingungen politischen Handelns am Oberrhein zu verstehen. Politische Testamente kann man als Vermächtnisschriften definieren, durch die einem leiblichen Nachfolger politische und ethische Verhaltensrichtlinien an die Hand gegeben werden sollten. Sie sprechen Empfehlungen für das Regierungshandeln aus und gehen über den rein persönlichen Bereich und die Regelung privater Vermögensfragen hinaus. Abgesehen vom Sonderfall der Testamente der brandenburgischen Kurfürsten sind sie von Erziehungsinstruktionen nicht immer klar zu trennen. Politische Testamente gelten als evangelisches Phänomen. Die meisten Reichsfürstenhäuser hatten sich der Reformation angeschlossen, und in den katholischen Wahlfürstentümern, deren Elite sich überwiegend gerade nicht aus reichsfürstlichen Familien rekrutierte, gab es naturgemäß keinen derartigen Bedarf.35 Um so bemerkenswerter ist es, daß mit Ferdinand Maximilian von Baden ein katholischer Fürst gleich zwei Schriften hinterlassen hat, die als politische Testamente bezeichnet werden können. Bei dem ersten dieser beiden Schriftstücke handelt es sich um Erziehungsinstruktionen Ferdinand Maximilians für seinen Sohn vom 22. November 1657. Er verfaßte den Text anläßlich einer Reise an den Hof des Herzogs von Savoyen in Turin für den Fall seines Ablebens unterwegs. Diese Reise war einer seiner vergeblichen Versuche, seine Gattin zur Übersiedlung nach Baden-Baden zu bewegen.36 ___________ 33
Hansmartin Schwarzmaier, Baden, in: Meinrad Schaab/Hansmartin Schwarzmaier (Hg.), Handbuch der Baden-Württembergischen Geschichte, Bd. 2: Die Territorien im Alten Reich, Stuttgart 1995, S. 164-246, hier S. 228: „Der älteste [Sohn des Markgrafen Wilhelm], Ferdinand Maximilian [...], wird nur durch seine unglückliche Ehe bekannt werden, aus der der Erbprinz Ludwig Wilhelm hervorging. Er starb vor dem Vater.“ 34 Vgl. stellvertretend für viele Christian Greiner, Fürstenerziehung im Barock. Bildung und Erfahrungen des „Türkenlouis“ (1655-1678), in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 150 = N. F. 111 (2002), S. 209-251. 35 Zu diesem Quellentypus s. Heinz Duchhardt, Politische Testamente und andere Quellen zum Fürstenethos der frühen Neuzeit (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit – Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Band 18), Darmstadt 1987, S. 1-13; Ders., Das politische Testament als „Verfassungsäquivalent“, in: Der Staat 25 (1986), S. 600-607. 36 Das eigenhändig geschriebene, persönlich unterfertigte und gesiegelte Original trägt im Generallandesarchiv Karlsruhe die Signatur 46 Nr. 3298. Unter der gleichen Signatur gibt es eine Kopie davon, weitere Abschriften finden sich in 46 Nr. 3681. Die folgenden Zitate entstammen der Original-Ausfertigung in 46 Nr. 3298. Vgl. Albert
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Die Hauptsorge Ferdinand Maximilians galt naturgemäß zunächst der Sicherung des Erbes, das seinem Sohn zustand. Er empfahl den kleinen Ludwig Wilhelm der Obhut seines Großvaters, des regierenden Markgrafen Wilhelm. Sollte dieser vor Erreichung der Volljährigkeit seines Enkels sterben, sollte dessen Onkel Leopold Wilhelm, sodann der andere Onkel Hermann die Vormundschaft übernehmen. Mit seiner Gattin hatte Ferdinand Maximilian damals innerlich noch nicht abgeschlossen und hoffte nach wie vor auf ihre Übersiedlung nach Baden-Baden. Sollte sie sich zu diesem Schritt entschließen, so möge man ihr das Gebührende zukommen lassen und ihren Rat in der Erziehung des Sohnes hören. Komme sie aber nicht, so dürfe ihr kein Wittum oder sonstiger Anteil an dem Erbe gegeben werden. Der kleine Ludwig Wilhelm sollte katholisch erzogen und zum Respekt gegenüber dem Papst und zur Treue gegenüber Kaiser und Reich angehalten werden. Ab dem 6. oder 7. Lebensjahr solle er „vohn den weiberen genommen“ werden. Ein eigener Hofmeister sei ihm beizugeben, dem wiederum ein Präzeptor (ausdrücklich kein Geistlicher, sondern ein in der Welt herumgekommener, erfahrener und gelehrter Mann) an die Seite zu stellen sei. Das Kind solle die deutsche, lateinische, italienische und spanische Sprache lernen, wenn möglich auch eine slawische Sprache oder Ungarisch.37 Der Unterricht solle „bis ad absolutionem philosophie“ geführt, aber nicht übertrieben werden, „damitt kein nausia volge“. Als geistlicher Begleiter und religiöser Erzieher war ein Jesuit vorgesehen. Wichtig war dem Vater, daß sein Sohn gerne seinem Gott dienen und die Gottesdienste besuchen würde; mit „bruderschafften undt derkleichen“ solle er verschont werden, es sei denn, er entschließe sich „proprio motu (ohne welche doch solche nigß helffen)“ dazu – ein in dieser Deutlichkeit und für diese Zeit durchaus bemerkenswerter Satz, in dem sich möglicherweise die Kriegserfahrungen Ferdinand Maximilians in seiner Jugendzeit niedergeschlagen haben. Als weitere Elemente der Erziehung waren wie üblich Reiten, Fechten, Tanzen und „ubungen in dehr fortification“ vorgesehen. Auch Unterricht in Geschichte und Politik gehört zum Programm. Von dem Hofmeister wünschte sich Ferdinand Maximilian, daß er ein Kavalier, kein „pedant“ sei; er solle den Sohn zur Selbständigkeit und zu „fürstlicher oeconomia“, nicht aber zur „erbsenzalereiw“, erziehen. Der Sohn solle später einmal standesgemäß leben, aber nicht verschwenderisch. Der Prinz solle daran gewöhnt werden, sich gegen jedermann ehrerbietig zu verhalten, auch gegenüber den eigenen Untertanen; er ___________ Krieger, Zwei Instruktionen des Markgrafen Ferdinand Maximilian von Baden-Baden für die Erziehung seines Sohnes Ludwig Wilhelm, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 43 = N. F. 4 (1889), S. 76-89. 37 Daß Französisch nicht genannt ist, verwundert auf den ersten Blick. Wahrscheinlich galt Ferdinand Maximilian das als selbstverständlich. Dafür spricht die weiter unten vorgesehene Kavalierstour des Prinzen nach Frankreich, die ohne französische Sprachkenntnisse nicht möglich sein konnte.
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möge den direkten Kontakt zu ihnen suchen. (Hier mag aus heutiger Sicht die Frage erlaubt sein: Drückt sich in dieser Empfehlung der fürsorgende Landesvater aus oder doch nur die Kleinheit der Markgrafschaft Baden?). Die Heranführung des Prinzen an die Regierungsgeschäfte war ab dem 13. Lebensjahr vorgesehen. Die übliche Kavalierstour sollte durch Italien, Frankreich, England, Spanien, die Niederlande und das ganze Reich führen. Ein längerer Hofaufenthalt war an einem katholischen Hof vorgesehen (es dürften nur Bayern oder Österreich in Frage gekommen sein). Bei der Wahl der Ehefrau empfahl der Vater dem Sohn, unbedingt auf deren Ebenbürtigkeit zu achten. Konkret legte Ferdinand Maximilian seinem Sohn eine Liaison mit einer Tochter des Erzherzogs Ferdinand Karl von Österreich nahe in der Hoffnung, die Markgrafschaft Baden durch den Erwerb habsburgischer Besitzungen am Oberrhein arrondieren zu können, denn diese abgelegenen Herrschaften würden den Habsburgern ohnedies nichts nützen. „In summa mann solle kein mihe sparen, inen zu einen rechschaffnen, ferständigen, gelibten undt dugentsammen firsten zu zihen“. Dazu gehörte in den Augen Ferdinand Maximilians auch die gelegentliche Teilnahme an einem Feldzug für wenige Monate und ohne „schargen“, damit der Prinz ein zwar heldenmütiges, nicht aber kriegerisches Gemüt annehme, und sich bei Angriffen zu verteidigen wisse. Damit dies alles eingehalten werde, sollten Kurfürst Ferdinand Maria von Bayern und Erzherzog Ferdinand Karl von Österreich zu Tutoren der Vormünder bestellt werden. Dieses halb private, halb politische Testament spiegelt deutlich die Lebenserfahrungen seines Verfassers wider. Zu spüren ist die Eingebundenheit in die politische Welt des katholischen Deutschland, die traditionelle Anlehnung an die Vormächte Österreich und Bayern, ohne deswegen habsburghörig zu sein. Zu erkennen ist ein Katholizismus mit durchaus säkularen Ansätzen, ein Bekenntnis zum katholischen Lager auch aus politischem Kalkül. Bei aller Treue zum katholischen Glauben der Vorväter: Es gibt keine konfessionelle Engstirnigkeit, die Zeit der Konfessionskriege war in Deutschland und im Haus Baden seit 1648 nach leidvollen Erfahrungen überwunden. Mit seiner Betonung der Weltläufigkeit, der Vielseitigkeit und Ganzheitlichkeit für die Prinzenerziehung stand Ferdinand Maximilian auf der Höhe seiner Zeit. In den Ausführungen über die Partnerwahl und in den Ratschlägen zur Sparsamkeit haben sich die Lehren aus der oberbadischen Okkupation ebenso deutlich niedergeschlagen wie die Erfahrungen, die Ferdinand Maximilian mit seiner eigenen Ehe machen mußte. Während wir es bei dem soeben vorgestellten Text um eine Mischung aus Privattestament, Erziehungsanweisung und politischen Ratschlägen zu tun haben, handelt es sich bei dem jetzt zu behandelnden um eine ausschließlich politische Schrift. Leider ist sie unvollendet geblieben. Fertiggestellt wurden nur die ersten drei Kapitel, das vierte endet abrupt. Die Ausführlichkeit der vorhandenen Kapitel läßt erahnen, daß eine recht umfangreiche Denkschrift geplant
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war. Der Entstehungsanlaß ist ebenso unbekannt wie das Entstehungsjahr. Da es bei einem Entwurf geblieben ist, liegt die Vermutung nahe, daß Ferdinand Maximilian damit kurz vor seinem Unfalltod 1669 begonnen hat – andernfalls müßte man vermuten, daß er nach Abfassung der ersten Kapitel das Interesse daran verloren hat. Das paßt nicht zu Ferdinand Maximilians Persönlichkeit. Vielleicht gab es aber auch einmal ein vollständiges Exemplar, das verloren gegangen ist. Daß die Schrift später entstanden ist als die Erziehungsinstruktionen von 1657 ist aus dem Kontext erkennbar.38 „Mein liber Sohn“, so beginnt Ferdinand Maximilian seine Ausführungen, „dich hatt mihr gott ohn allen zweiffel aus sonderbarer seiner göttlichen genahdt undt zu weihterer fortpflanzung seiner göttlichen ehr inn högster meiner trihbsal geben“, daher wolle er Gott danken und sein Augenmerk darauf richten, daß sein Sohn in rechter Gottesfurcht aufwachse. Mit den folgenden Ausführungen wolle er seinem Sohn Ratschläge erteilen, recht zu regieren und den anderen Fürsten wie auch den eigenen Untertanen in der richtigen Weise gegenüberzutreten. Das erste Kapitel trägt den Titel „Wihe sich mein sohn gegen gott zu halten“. Ferdinand Maximilian mahnt seinen Sohn zu einem gottgläubigem Leben, zu einer Regierung aus christlicher Gesinnung und zum Festhalten am Katholizismus. Zugleich aber erteilt er religiös motivierter Gewalt eine Absage, „dann Gott begäret nicht, das dehr klauhben mit gewaldt eingetrungen, sondern freiwillig in dihe herzen gefpalzet [sic]39 werde“. Daher soll ein Fürst sein Augenmerk darauf richten, daß es beispielhaft lebende Pfarrer in allen Orten gibt. Doch sollen die Geistlichen keine weltlichen Geschäfte betreiben und man soll keine neuen geistlichen Stiftungen machen. Die folgenden Kapitel tragen als gemeinsame Zwischenüberschrift „In genere dihe jezige politia“. Zunächst folgt als Kapitel 2 „Wihe gegen babst“. Der Papst sei nicht nur das geistliche Oberhaupt der Katholiken, sondern auch eine bedeutende politische Macht. Zu ihm sollen die guten Beziehungen beibehalten werden, nicht nur wegen des Katholizismus an sich, sondern auch wegen der politischen Beziehungen zu Österreich, Bayern und zu den italienischen Fürsten. Trotz all dem solle man sich gleichzeitig in Acht nehmen vor der päpstlichen Diplomatie und sich nichts aus der Hand nehmen lassen. Man solle in Rom einen Agenten unterhalten, weil der Sitz des Papstes eine wichtige Drehscheibe der Diplomatie sei, aber man müsse auf dem römischen Parkett vor___________ 38
GLAK, 46 Nr. 3299 (vermutlich eigenhändiges Konzept mit Korrekturen, dazu eine ziemlich zeitgenössische Abschrift des Konzepts), spätere Kopie in 46 Nr. 3682. Die folgenden Zitate entstammen dem Konzept in 46 Nr. 3299. 39 In der zeitgenössischen Abschrift in GLAK, 46 Nr. 3299 korrigiert zu „gepflanzet“.
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sichtig taktieren. Wichtig sei dabei standesgemäßes Auftreten (eben dieses war ja Ferdinand Maximilian bei seiner Kavalierstour verwehrt gewesen). Das dritte Kapitel enthält Ratschläge „Wihe gegen dem [sic] kayser“. Ferdinand Maximilian rät zur Treue gegenüber dem Reichsoberhaupt, so lange er „deß reichs privilegien keinen eintrag duhet“. Zum Wiener Hof möge der Sohn möglichst bald aufbrechen, aber er soll nicht unterwürfig sein, sondern sich so benehmen, daß er als politischer Partner ernstgenommen wird. Auf dem Reichstag möge er so votieren, daß es dem Kaiser nicht zuwiderläuft, aber zugleich dem Reich nützlich ist. Man dürfe sich in keinen Krieg gegen den Kaiser verwickeln lassen, so lange er sich als treuer Sachwalter der Reichsinteressen bewähre, so lange er vom Reich anerkannt sei und so lange man nicht in einen Krieg gegen ihn von ihm selbst gezwungen wurde. Von unverbrüchlicher Treue zu Habsburg hielt Ferdinand Maximilian von Baden also nichts. Das vierte Kapitel trägt keinen Titel und behandelt das Verhältnis zu Frankreich. Der König von Frankreich sei nach dem Kaiser der mächtigste Herrscher und, „weihlen ehr leider unser nachbarr, dehr gefährlichste“. Die Devise müsse lauten, nichts Feindseliges gegen Frankreich zu unternehmen, man müsse sich Paris zum Freund machen, dürfe sich nicht einmischen in innerfranzösische Händel, dürfe der französischen Krone keinen Vorwand zum Vorgehen gegen Baden geben. Der badische Markgraf dürfe keine Festung bauen, die dem König von Frankreich den Weg ins Reich verlegen könnte. Denn wenn es einen Konflikt mit dem König von Frankreich gebe, müßte schon das ganze Reich geschlossen gegen ihn zusammenstehen, um Erfolg zu haben, „so mihr schwerlich erlehben werden“. Trotz aller politischen Rücksichtnahme auf die französischen Interessen hielt es Ferdinand Maximilian aber nicht für ratsam, die höfische Lebensart, wie sie in Frankreich damals modern war, zu imitieren. Der badische Erbprinz möge sich hüten, eine französische Hofdame zu heiraten, weil das das Haus Baden finanziell ruinieren würde. Die eigene Mutter möge dem Prinzen eine Warnung sein. Sollte das Haus Baden Besitzungen in Frankreich erben, so sollten diese verkauft werden. Französische Subsidien könne man ruhig annehmen, solange man sich dadurch nicht gegen Kaiser und Reich in die Pflicht nehmen lasse. Hier endet der Text abrupt. Ferdinand Maximilian griff in dieser unvollendet gebliebenen Denkschrift vieles von dem auf, was er 1657 niedergeschrieben hatte, und vertiefte es. Noch deutlicher treten als Maximen hervor: Bekenntnis zum katholischen Glauben, ohne deswegen unduldsam zu werden und ohne blind zu sein für die Realitäten der katholischen Kirche als Institution und Machtapparat; kritische Freundschaft zum Kaiserhaus. Erneut fließen auch Ferdinand Maximilians ganz persönliche Lebenserfahrungen ein, insbesondere seine Ehe. An den Ausführungen zu Frankreich kann man die unbequeme Lage ablesen, in der sich die mindermächtigen Reichsstände der vorderen Reichs-
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kreise in der Zeit Ludwigs XIV. befanden. Auf sich allein gestellt konnten sie ihm nichts entgegensetzen, auf den Schutz des Reiches zu hoffen, war ein unsicheres Vabanquespiel, und der Kaiser war kein uneigennütziger Schutzherr. Die Lösung hieß für Ferdinand Maximilian, sich gegenüber Frankreich ruhig zu verhalten und gleichzeitig wachsam zu sein. Ein Zeichen von Nachgiebigkeit und mangelnder Tatkraft ist das keinesfalls.
V. Der Vater und sein Sohn Die politischen Denkschriften Ferdinand Maximilians von Baden vermitteln anschauliche Einblicke in die politische Lebenswirklichkeit eines kleinen Reichsstandes zwischen Habsburg und Bourbon, in das Selbstverständnis und den Erfahrungshorizont mindermächtiger Fürsten, aber auch in deren Wunschvorstellungen. Ferdinand Maximilians Leitbild, das er seinem Sohn vermitteln wollte, war dasjenige vom gerechten, am Staatswohl orientierten, standesbewußten und zugleich maßvollen, klugen, vielseitig gebildeten, christlichen Herrscher und fürsorgenden Fürsten, der sein Pflichtbewußtsein auf vorgegebene Werte und nicht auf aus der Staatsraison abgeleitete Prinzipien stützt – ein klassisches Leitbild, das man in vielen deutschen Fürstenspiegeln des 17. Jahrhunderts findet.40 Den Beginn des um die Mitte des 17. Jahrhunderts einsetzenden Wandels zum Bild des Fürsten als Inbegriff von Energie, Tatendrang, Selbstentfaltung, Ruhmstreben, zum Herrscher als säkularem, machtpragmatischem Akteur kann man in Ferdinand Maximilians Äußerungen nicht entdecken.41 In Anbetracht der Kleinheit der badischen Markgrafschaften müßte man ein solches Fürstenideal aus heutiger Sicht als realitätsfern werten. Aber Beispiele für hochfliegende Ziele und Projekte sind auch unter den Duodezfürsten zu finden, die Relikte dieses Denkens prägen als ehrgeizige Schloßbauten viele Landschaften – auch im heutigen Baden. War Ferdinand Maximilian nicht auf der Höhe seiner Zeit? Und wenn ja, wollte er es nicht oder konnte er es nicht? Hätte er das persönliche Format besessen, um Ludwig XIV. entgegenzutreten, so wie sein Sohn es mußte? Sicher beantworten wird man diese Fragen nie können, denn zur eigenständigen Regierung ist Ferdinand Maximilian nie gelangt, er blieb der „ewige Erbprinz“ – bis heute. In den Geschichtsbüchern wird sein Name nur beiläufig neben denen ___________ 40 Rainer A. Müller, Die deutschen Fürstenspiegel des 17. Jahrhunderts. Regierungslehren und politische Pädagogik, in: Historische Zeitschrift 240 (1985), S. 571-597. 41 Zum Wandel des Herrscherbildes im 17. Jahrhundert s. Carl Hinrichs, Zur Selbstauffassung Ludwigs XIV. in seinen Mémoires, in: Ders., Preußen als historisches Problem. Gesammelte Abhandlungen, Berlin 1964, S. 299-315; Fritz Hartung, L’Etat c’est moi, in: Historische Zeitschrift 169 (1949), S. 1-30; Stephan Skalweit, Das Herrscherbild des 17. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 184 (1957), S. 65-80.
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seiner Brüder Leopold Wilhelm und Hermann und natürlich seines Sohnes erwähnt. In der Wertung der Historiker verblaßt Ferdinand Maximilian in diesem Umfeld von Türkenkriegern und Erbfeindbezwingern, die sich in jener eigentümlichen, für die Politik der mindermächtigen Stände des Reichs typischen Mischung aus Loyalität und kritischer Distanz um das Kaiserhaus geschart hatten. Wir wissen nicht, wie sich sein Leben entwickelt hätte, wenn er die verheerenden Kriegszüge Ludwigs XIV. über den Rhein erlebt hätte. Sicher ist nur: Er hat die Kräfte seines Landes realistisch eingeschätzt und die Strukturbedingungen politischen Handelns am Oberrhein richtig erkannt. Was hat der große Sohn Ferdinand Maximilians, Ludwig Wilhelm, erreicht? Weder bewahrte er sein Land vor der Verwüstung durch französische Truppen, noch sicherte er seinem Haus das durch seine Eheschließung mit Sybilla Augusta von Sachsen-Lauenburg erhoffte lauenburgische Lehenserbe, er erreichte die ersehnte Standeserhöhung nicht und es gelang ihm nicht, eine wirklich schlagfertige und beständige Reichsdefension aufzubauen. Er hat versucht, aus den vorgegebenen Strukturen, die sein Vater so trefflich beschrieben hat, auszubrechen. Wahrscheinlich war der Türkenlouis in der Tat der agilere Politiker. Er hat den in extremer Weise bedrohten Besitzstand verteidigt. Aber seine darüber hinausgehenden Ziele hat er nicht erreicht. Ferdinand Maximilian würde vielleicht sagen: erwartungsgemäß nicht. Er wäre wohl schon mit der Besitzstandswahrung zufrieden gewesen. Sein Sohn war es nicht. Um das Bild der Medaille von 1663 aufzugreifen: Ludwig Wilhelm von Baden ist daran gescheitert, daß er dem Ikarus gleich zu hoch geflogen ist. Die dürftige Ausstattung für seinen Höhenflug, die ihm das ererbte Fürstentum verlieh, versagte, je näher er der Sonne zu kommen trachtete. Vater und Sohn teilten das gleiche Standesbewußtsein, aber der Vater wußte realistischer damit umzugehen – zumindest nach den ernüchternden Erfahrungen seiner ersten drei Lebensjahrzehnte. Das hat vielleicht sein Land vor manchem Abenteuer bewahrt, dessen Kosten seine Untertanen zu tragen gehabt hätten. Es hat ihn als Persönlichkeit aber auch den Platz in den Geschichtsbüchern gekostet – zu Recht?
II. Kultur und Politik, politische Kultur – zum kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Profil Alteuropas
Topoi des vormodernen Neutralitätsdiskurses
Von Axel Gotthard, Erlangen Es gehört zu den Topoi vormoderner Bemühungen um die Neutralität, daß sie − eben ausgesprochen mühsam seien. „Haec materia difficilis est“1: Das Thema galt als dornenreich. Von der Neutralität im Krieg „zu handlen, ist ein schweres Vornehmen, deßgleichen, glaub ich, nicht ist in allem, das von Standen, Regimenten vnd Herrschafften, gehandelt wird“, urteilte eine anonyme Abhandlung um 16002, und sie hätte sich damit auf Giovanni Botero berufen können, dessen „Aggiunta“ zur Neutralität mit der Einschätzung einsetzen, es handle sich hier um eines der diffizilsten Probleme der Wissenschaft vom Staat.3 Man konnte sogar den Topos von der Schwierigkeit des Themas gelehrig belegen, so wußte Martin Mager von Schönberg 1625: „Hac in quaestione certi quid definire, periculosum esse dicat Ware. ab Ehrenberg.“4 „Hic Labyrinthus est Ariadnae filo indigens“5, drechselte, das Topische fast bis zur Unkenntlichkeit rhetorisch aufputzend, 1661 Heinrich Schemel. Sein Doktoran___________ 1 Philipp Heinrich Hoenonius, Disputatio XIII. De confoederatione rerumpublicarum, in: ders., Disputationum politicarum liber unus, 3. Aufl. Herborn 1615, S. 583. 2 [Anonym], Von der Neutralitet, Das ist Vnpartheyligkeit, kurtzer Bericht, o. O. o. J., fol. Aij. 3 Vgl. Antonio Truyol y Serra, Boteros „Discorso della neutralità“ in seiner Beziehung zur Neutralitätslehre bei Macchiavelli und Bodin, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht NF 7 (1957/58), S. 457. 4 Martin Mager von Schönberg, De advocatia armata sive clientelari Patronorum iure et potestate, clientumque officio, vulgo Schutz und Schirmsgerechtigkeit dicto, in et extra Romano-Germanicum Imperium, moribus priscis et hodiernis recepto Tractatus Juridico-Historico-Politicus, Frankfurt 1625, S. 284. − Eberhard von Weyhe („Waremundus ab Erenberg“), Meditamenta pro foederibus, ex prvdentvm monvmentis discursim congesta ..., Hannover 1601, S. 270: „haec materia difficilis“, „periculosum est quicquam certi definire“. 5 Heinrich Schemel, Dissertatio politica de neutralitate quam duce et auspice Deo praeside viro ... Jacobo Le-Bleu ... prosequendo ..., Gießen 1661, S. 31; Rat schüfen vor allem Botero und Neumayr (s. Anm. 14). − Um noch den banalsten Gegenpol zu markieren: Er sei nicht der erste Autor, „qvi in tam spatioso campo decurrere auderet“, bekennt Adolph Schrötering, Dissertatio de his qui neutras in bello partes sequuntur, Leipzig 1687, in der Einleitung, so auf Latein den Running gag (um nicht schon wieder vom Topos zu sprechen) aller mittelmäßigen Proseminararbeiten vorwegnehmend.
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denkollege Johann Georg Koseritz behauptete 1638, daß zu diesem leidigen Thema „Auctores nihil fermè reliquerint“ − „apud plerosque arbitror fuisse causam incertitudinem ejus ac varietatem ob circumstantias“.6 Auctores nihil fermè reliquerint? Da hat der Nachwuchsgelehrte geschummelt. Er suggeriert eine Originalität, die sein Thema nicht hat. Es gibt schon eine stattliche Reihe von „Auctores“, die sich zur Neutralität im Kriege geäußert haben. Und doch finden wir in den nicht gar so seltenen Ausführungen dazu selten Neues. Die gedruckten Auslassungen zu diesem Thema erweisen sich als Montagen der immergleichen Werturteile und Bilder. Man bediente sich nach Geschmack im Bestand von vielleicht drei Dutzend Topoi, die zusammengenommen das Gerüst des vormodernen Neutralitätsdiskurses ausmachen. Manche von ihnen7 finden wir auch in politischen Akten der Zeit − was zeigt, daß man an den Schalthebeln der Macht von den gedruckten Wortmeldungen Kenntnis genommen hat. Versucht man, die auf den zweiten Blick überschaubare Gruppe von immer wiederkehrenden Topoi zu systematisieren, lassen sie sich restlos drei Aussagekategorien zuordnen: Neutralität ist unklug; Neutralität ist unehrenhaft; Neutralität ist sündig. Gewiß wären bei den drei Rubrizierungsversuchen Modifikationen möglich: Neutralität ist gefährlich (deshalb eben unklug); sie ist schändlich, weil ehrlos; sie ist schändlich, weil gottlos. Es kommt nicht auf die genaue Formulierung der Etiketten an, interessanter ist, daß alle wiederkehrenden Wertungen und Bilder umstandslos in eine der drei so charakterisierten Schubladen passen − was auch besagt: Es gibt keinen einzigen Topos, der positive Wertungen konnotierte!
I. „La voye de neutralité, neque amicos parat, neque inimicos tollit“: Neutralität ist unklug „Neutrales periculum quod declinare volunt, plerunque incurrunt“8: Daß Neutralität in „Gefahr“ setzte, „periculum“ heraufbeschwor, daß dieses politi___________ 6
Johann Georg Koseritz, Disputatio politica de neutralitate, Wittenberg 1638, fol. A2. Vgl. schon [anonym],Vnpartheyligkeit (wie Anm. 2), fol. Aij: schwierigstes Thema, „darumb dann ich mich nicht weis zu erjnnern, das ich hieuon bey den alten Scribenten jemahls etwas gefunden oder gelesen habe“. 7 Ob es alle wären, so wir in Archivbeständen gezielt nach Suchworten wie „neutralitet“ fahnden könnten? Daß im Folgenden eindeutig gedruckte Belege dominieren, hat mutmaßlich methodische Gründe, Gedrucktes läßt sich rascher durchforsten. 8 Christoph Besold, Dissertatio Politico-Juridica, de Foederum Jure: ubi in simul de Patrocinio et Clientela; ac item de Neutralitate disputatur succinctè, Straßburg 1622, S. 91. Neutral zu sein, ist „non tutum“: ebd., S. 93. Der zuerst zitierte Satz wortgleich
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sche Konzept „unsicher“ oder „non tutum“ war, wußte jedermann. Es ist die Hauptmelodie aller Ausführungen zum Thema, die nicht penetrant moralisieren, und wird von den anderen subsidiär herausgestrichen.9 Daß „der mitler oder neutral weg [...] nichts wärth, sondern voller gefahr sey“, stand bei allen sonstigen Unsicherheiten dieses leidigen Themenfeldes unumstößlich fest, denn „es halten auch alle weltweise vnd in Regimenten erfahrene Leuthe oder Politici, nach anbietung vnvmbstoßlicher gründe vnd vnzehlicher exempeln die Neutralitet für ein vber die massen schädliches vnd gefährliches werck“.10 „Es bezeugen“ − um nur noch eine Variation der immergleichen Melodie zu bieten − „die Historien, vnd vornehmer Politicorum Regeln, daß alle vnpartheyligkeiten sehr gefährlich seyn“.11 Warum war die im politischen Alltag doch durchaus geläufige12 Neutralität so gefährlich? Zunächst einmal wußte die Vormoderne, daß man mit diesem politischen Konzept keine Freunde gewann. „Der Sieger will keine verdächtigen Freunde [...] Der Besiegte aber gewährt dir keine Zuflucht“, urteilte schon
___________ bei Philipp Heinrich Hoenonius, Disputatio politica VII. De administratione bellicâ, in: ders., Disputationum politicarum liber unus, 3. Aufl. Herborn 1615, S. 338-384, S. 382. 9 Deshalb würde eine stupide quantitative Auswertung ein Überwiegen von Topoi wie „Neutralität gebiert keine Freunde“ oder „Beute des Siegers“ über Topoi wie „hält es gleichzeitig mit Christus und dem Antichristen“ erweisen. Doch ergäben Strichlisten ein schiefes Bild, nicht nur deshalb, weil meine Blütenlese ja keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann: Die moralisierenden und/oder theologisierenden Pamphlete des Konfessionellen Zeitalters sind ganz eindeutig und zentral an moralischer Diskreditierung der Neutralität interessiert; daß dieses unmoralische Verhalten in der frühen politologischen Literatur auch noch als unklug charakterisiert wird, kann man beiläufig registrieren, um das Verdammungsurteil noch vernichtender zu machen oder seine Belesenheit herauszustreichen, aber was hier die Strichliste „Neutralität ist unklug“ anwachsen lassen würde, sind eben wirklich Beiklänge. Umgekehrt sprechen die politologischen Pionierwerke bewußt (davon in der Kunst kluger Politik zu abstrahieren, gehört ja gerade zu den Konstitutionsbedingungen dieser neuen publizistischen Gattung!) nicht von „Gott oder Teuffel“, wenn sie Neutralität im Kriege thematisieren, hier bekäme die Strichliste „Neutralität ist sündig“ also keinen Zuwachs. Aus ‚Strichezählen‘ gewonnene Summen würden suggerieren, daß überall deutlich Klugheitsmaximen überwögen, dem ist aber nicht so. 10 [Anonym] (Johann Philipp Spieß?), Gespräche und Discursen zweyer Evangelischer Eydtgenossen, von dem gegenwertigen Zustand, o. O. [1632], fol. 12. 11 [Anonym], Traw, Schaw, Wem, Das ist ... Erinnerung ..., gestellet an vnterschiedliche des H. Römischen Reichs von deß Bapsts Sawerteig abgesonderte Ständte ..., o. O. 1620, S. 24. 12 Das zeige ich demnächst ausführlich an anderer Stelle − Neutralität war ein im 16. Jahrhundert geläufiges, im 17. Jahrhundert grassierendes politisches Konzept (das sich indes noch nicht zum Völkerrechtstitel verdichtet hatte). Dieser Studie geht es nicht um Probleme praktischer Neutralitätspolitik, sie will den vormodernen Neutralitätsdiskurs charakterisieren.
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an der Schwelle zur Neuzeit Niccolò Machiavelli.13 Seine verhohlenen Epigonen pflegten es aber, weil deklarierter Antimachiavellismus Christenpflicht war, nicht mit dem Florentiner, sondern mit Livius zu sagen − wußten also, daß „la voye de neutralité, neque amicos parat, neque inimicos tollit“14: „Ce n´est pas le moyen d´eviter un ennemy, ny de se concilier un amy.“15 Was gelehrte Abhandlungen gern lateinisch oder französisch sagten, konnte ein politisches Gutachten aus der Anfangsphase des Dreißigjährigen Krieges so auf den Punkt bringen: Man wisse, daß „die Neutralitet keinen freundt macht“.16 Kurfürst Christian II. von Sachsen quälten im Herbst 1610 Pro und Contra eines Beitritts zur katholischen Liga; daß er sich im November vorübergehend dazu durchgerungen hatte, begründete er in einem Schreiben nach Coburg so: Es sei „auff die neutralitet nicht vielmehr zu bauen“, die Zeitumstände zwängen dazu, sich „umb gute freunde umbzusehen“.17 Neutralität macht keine Freunde − Publikationen konnten den dutzendfach begegnenden, insofern schon etwas abgenutzten Slogan ausschmücken, beispielsweise so: „Neque amicos paret, dum vtraque pars auxilium Neutralistae frustra expectat, neque inimicos tollit“18; „also entzeucht man sich durch diese lawlichte arth die Freunde, wendet die Feinde nicht abe“.19 Oder, man koppelte den beliebten Lehrsatz aus Livius mit einem beliebten Livius-Bild, der Neutralität als der „mittleren“ Straße (die, wie wir gleich noch sehen werden, ein Irr___________ 13
Niccolò Machiavelli, Der Fürst. „Il Principe“, übersetzt von Rudolf Zorn, 4. Aufl. Stuttgart 1972, S. 94. 14 Jean Bodin, Les six Livres de la République avec l´Apologie de R. Herpin, Ndr. der Ausgabe von 1583, Aalen 1961, S. 180. Schon bei Livius kann man nachlesen, daß Neutralität „neque amicos parat, neque inimicos tollit“: Balthazar Ayala, De Jure et Officiis Bellicis et Disciplina Militari Libri III [von 1582], Bd. 1, hg. von John Westlake, Washington 1912, fol. 13. Livius lehrt, daß Neutralität „neque amicos paret, nec inimicos tollat“: Johann Wilhelm Textor, Synopsis juris gentium [von 1680], hg. von Ludwig von Bar, Bd. 1, London/Toronto/Melbourne/Bombay 1916, S. 104. Von Neutralität gilt der anerkannte Grundsatz „neque amicos parere, neque inimicos tollere“: Johann Wilhelm Neumayr von Ramsla, Von der Neutralitet und Assistentz oder Unpartheyligkeit und Partheyligkeit in KriegsZeiten sonderbarer Tractat oder Handlung, Erfurt 1620, Vorrede; Vnpartheyligkeit (wie Anm. 2), fol. Aiij; Schemel (wie Anm. 5), S. 4. Auf Polybios meint Johann Andreas Vogt, Specimen juris gentium de neutralitate et eo, quod circa eam justum est, Würzburg 1752, S. 11 rekurrieren zu müssen, dieser Autor nämlich urteile von der Neutralität: „Neque amicos parat, neque inimicos tollit“. 15 [Anonym], Le politique du temps ou le conseil fidelle svr les mouvemens de la France ..., o. O. 1672, S. 43. 16 Undat. Gutachten (ca. 1620, sicher vor 1623) in Staatsarchiv Bamberg C47 Nr. 75. 17 Christian an Johann Kasimir von Sachsen-Coburg, 1610, Nov. 7 (Entw.), Hauptstaatsarchiv Dresden Loc. 8806 Siebzehende Buch Jülichische Sachen, fol. 269-274. 18 Mager von Schönberg (wie Anm. 4), S. 284. 19 [Anonym], Politischer Discurs, Ob sich Franckreich der Protestirenden Chur vnnd Fürsten wieder Spannien annehmen, oder neutral erzeigen, vnd mit diesem Hause befreunden solle. Auß dem Frantzösischen ins Deutzsche gebracht, Berlin 1615, fol. Biij.
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weg war): „Media via neque amicos parat, neque inimicos tollit“.20 Genau diesen Satz zitiert übrigens auch ein ulmisches Gutachten von 1608, das ganz auf eine bestimmte, praxisrelevante politische Frage, nämlich die Gründung der evangelischen Union von Auhausen abzielt, als Marginalie. Neutralität ist diesem Gutachten zufolge „viel mehr schädtlich dann nützlich“, weil der Neutrale „vonn dem obsiegenden Theill gemeiniglich auch vndertrückt wirdt, Dann es ist und bleibett wahr, das die Neutralitet keinen freundt machet, auch entgegen keinen feindt aufhebtt“.21 Media via neque amicos parat, neque inimicos tollit − die Version für ein breiteres Publikum konnte beispielsweise so lauten: „Der Mittelweg, oder die Mittelstrasse machet keine Freunde, und befreyet nicht von Feynden“.22 Wer keine Freunde hatte, wurde nicht einfach nur ignoriert, sondern überall scheel angesehen: „Er ist beyden Verdächtig, und helt jhn keiner vor seinem freund“23; „Neutrales mediosque, ab utraque parte male accipi necesse est“24; dort25 sind die Neutralen „zum allerwenigsten grobe narren“, hier aber „werden sie zum allerwenigsten für schlechte Gesellen gehalten“. Wie klagte doch der Stuttgarter Hofrat Benjamin Bouwinghausen am 7. Mai 1622 in einem Schreiben an den württembergischen Agenten in Wien, Jeremias Pistorius? Hier halte man sie für ___________ 20 Hoenonius, Disputatio politica VII (wie Anm. 8), S. 382; Besold, Dissertatio Politico-Juridica (wie Anm. 8), S. 91. „Media via nec amicos parit, nec inimicos tollit“: Georg Schröder, De Neutralitate Bono Deo praeside Henrico Rudolpho Redekern, Profess. Juris Ordinario, Rostock 1659, Abschnitt Nr. 15. „Media via illa est quae neque amicos parat, neque inimicos tollit“: Albert Voßenhölen, Dissertatio inauguralis de Neutralitate, Altdorf 1673, S. 17. 21 Discurs Uber die Bundtnussen von Hern D. Hieronimo Schleichero Advocato Reipublicae Vlmensis, Kopie: Hauptstaatsarchiv Dresden Loc. 7272 1. Buch Unio und Zusammensetzung, fol. 253-266 (hier fol. 257). 22 [Anonym], Gespräch über das Interesse Deß Englischen Staats, Darinnen klärlich gezeiget wird, wie schädlich es vor das Königreich Engelland seye, mit Franckreich ... sich zu verbinden ..., o. O. 1674, wiederabgedr. unter den Appendices zum 28. Bd. des „Diarium Europaeum“, S. 313-360, hier S. 326. „... daß der mitler oder neutral weg ... keine freunde mache“: [anonym], Gespräche und Discursen (wie Anm. 10), fol. 12. − „Unsern Neutralisten gehet es, leyder! nach der alten Regul, qui studet omnibus placere, is tandem nemini placet“: [anonym], Curiosa, nec non politica vagabundi per Europam, vulgo sic dicti, Rationis Status, de praesenti tempore nugae-somnia ..., o. O. 1675, wiederabgedr. im 31. Band des „Diarium Europaeum“, Appendix, S. 385-464, hier S. 415. 23 Neumayr von Ramsla (wie Anm. 14), Kapitel IV. 24 Janus Gruter, Discursus politici in C. Corn. Tacitus, et notae maxima ex parte politicae in T. Liv. Patavinum historicorum principes ..., Ausgabe Leipzig 1679, S. 344. 25 Meint in dieser apokalyptisch aufgeladenen Schrift: im Lager des Antichristen; die Gegenseite, die Schar der Aufrechten, hält Neutrale für „schlechte Gesellen“ − [anonym], Postilion, An alle und jede Evangelische Könige und Potentaten ... von etlichen vertriebenen Badischen, Wirtenbergischen, Pfaltzischen und Augspurgischen Theologis und Politicis spedirt, o. O. („unterm blawen himmel, nicht weit von Straßburg“) 1631, Abschnitt Nr. 121.
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„spanisch“, dort aber „für corrumpirte leuth“.26 Eine Projektskizze aus der Zeit des Holländischen Krieges weiß, daß die „Neutralitet [...] leicht von andern und etwa dem feind so wohl als freund in übele consequentz“ gezogen wird.27 Der Neutrale war nicht nur keiner Seite Freund, war beider Feind, „helt jhn ein jeder vor seinen Feind“.28 Neutrale waren „inimici omnibus“.29 Wenn die Neutralen keiner mochte, hatten sie auch eine geringschätzige Behandlung zu gewärtigen: „Ab utrisque male tractarentur“30, wußte der Altphilologe Janus Gruter; der Professor, Verwaltungsexperte und Diplomat Eberhard von Weyhe urteilte drastischer, daß sie „ab vtraque factione perdebantur“.31 Um vollends auf die Seite der politischen Praxis zu treten: Der kurbrandenburgische Rat Nikolaus von Langenberg äußerte in einem Memorandum die Überzeugung, daß „diejenige, welche sich auff angedeute weiß mit der Neutralitet zu behelffen unterstehen“, weil „keine Perthey [sic] im Krieg noch im Frieden sich irer annemen“ wird, „immer dem Raub und Gewalt unterworffen seyn“ mußten, „ja, werden auch [...] dafür geachtet, quod omniubus [sic] sint inimici, tanquam qui aliorum malis laetentur, et quod propter incritiam et vilitatem Rem publicam deserant“.32 Neutralität gebiert keinen Freund, aber zwei Feinde? Das ist „der Nutzen darvon“, nämlich aus der Neutralität, „daß man damit Feindtschafft erkaufft von beeden Theilen“, resümiert eine Flugschrift Erfahrungen des Böhmischpfälzischen Krieges.33 Christoph Lehmanns „Florilegium politicum“ definiert so: „Neutralisten seynd beyder Theil feind“.34 Galt dann nicht auch, daß sie ___________ 26
Extrakt eines (abgefangenen?) Schreibens Bouwinghausens an Jeremias Pistorius, 1622, Mai 17, Haus- Hof- und Staatsarchiv Wien Böhmen 64, fol. 74-77. 27 Skizze des Projekts einer oberrheinischen Neutralität, undat. Kopie: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München Kasten blau 102/4 (unfol.). Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz an Kaiser Lepold, 1676, März 3 (Entw.), ebda.: ein rascher Friedensschluß wäre natürlich besser als diese “etwa dem feind so wohl als freünden, in üble consequenz ziehende, oder ausdeütende Neutralitet“. 28 Neumayr von Ramsla (wie Anm. 14), Kapitel IV. 29 Hoenonius, Disputatio politica VII (wie Anm. 8), S. 382. 30 Gruter (wie Anm. 24), S. 344. 31 Weyhe (wie Anm. 4), S. 268. 32 Nikolaus von Langenberg, Außführlicher Discvrs Von der Gülchischen Landen und Leuten hochbetrübten Zustand, o. O. 1617, neu hg. von Franz Josef Burghardt, in: Kein der schlechtesten Oerter einer. Beiträge zur Geschichte der Stadt Wipperfürth, Wipperfürth 2006, S. 41-100, hier S. 54. 33 „Hipilippanus Dinorus“, Der Evangelischen Chur- Fürsten, Stände vnd Reichsstätten Andere Schildtwacht ..., o. O. 1623, fol. B. Hier wird wirklich einmal zeitgeschichtlich argumentiert. 34 Christoph Lehmann, Florilegium politicum. Politischer Blumengarten ..., o. O. 1630, s. v. „neutral“, Sentenz Nr. 9.
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„vtriusque praedae“35 waren? Weil es die Durchlässigkeit über Stilebenen und Sprachen hinweg illustriert, zitiere ich zu dieser Frage noch ein eigentlich ganz populär-appelativ daherkommendes Pamphlet von 1620: „Johanes Bodinus helt darfür, daß die, welche sich zu keiner parthey halten, endtlich beyden partheyen, wenn sie sich widerumb vergliechen, in das netz fallen“.36 Eine Sammlung von Sprichwörtern und Sentenzen beginnt ihre Abteilung „Auß der Neutralitet“ mit der Einsicht, „daß wer es mit keiner vnder zwoen Partheyen helt, der wirt endlich beyden zur Beuth“.37 Vor allem aber waren sich Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts sicher, daß der Neutrale Beute des Siegers wurde. Man hat das nicht etwa zeitgenössischen Kriegen abgeschaut, sondern alten Autoritäten oder untereinander abgelesen − wie sollten auch die flüchtigen Zeitereignisse vor den köstlichen immergültigen antiken Maximen bestehen! Weil sie ja nur wie im matten Abglanz bestätigen konnten, was Livius schon viel besser formuliert hatte, griff man lieber gleich dort zu. Und schon die Alten hatten eben gewußt, daß der Neutrale „praeda victoris“ wurde. Fast alle gelehrten Abhandlungen kennen die Formel38, sie fand von dort auch Eingang in tagesaktuelle Flugschriften. So urteilt eine am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges vorgelegte Abhandlung „Über die Uniones“: Neutral zu sein, „würde sich fast nicht leiden wöllen“, unter anderem „propter periculum, da gemeiniglich in solchen Fällen die Neutral-Stände praeda victoris“.39 Ein fingierter Dialog, der die Eidgenossen zum Anschluß an Gustav Adolf animieren sollte, lehrt dies: Zu den „richtschnür vnd regulen“ der ___________ 35 So Johann Heinrich Böckler, Libellus de quiete in turbis, wiederabgedr. in: [anonym] (Hg.), Dilvcidationes Jvris publici de nevtralitate provti illa inter gentes liberas atque inprimis inter ordines S. R. Imp. vsitata est ..., Jena 1747, S. 39; „vtrisque praedae relinqui“: Laurentius Beyerlinck, Magnum Theatrum vitae humanae: hoc est, rerum divinarum, humanarumque Syntagma catholicum, philosophicum, historicum, et dogmaticum ..., Tom. 5, „Lugduni“ (tatsächlich Lyon?) 1665, S. 27. 36 [Anonym], Traw, Schaw, Wem (wie Anm. 11), S. 24. „... werden beyden partheyen zur beut“: ebd. 37 [Anonym], Continuatio der Newen Zeitungen Von vnterschiedlichen Orten: Das ist, Die alte Warheit mit eim newen Titul. Vermehrt vnd auch verbessert, o. O. („gedruckt in der Parnassischen Truckerey“) 1620, s. v. „Auß der Neutralitet“. 38 Vgl. nur, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Justus Lipsius, Politicorum sive civilis Doctrinae Libri sex, Frankfurt 1590, S. 115; Weyhe (wie Anm. 4), S. 268; [anonym], Vnpartheyligkeit (wie Anm. 2), fol. Aiij; Hoenonius, Disputatio politica XIII (wie Anm. 1), S. 583; Besold, Dissertatio Politico-Juridica (wie Anm. 8), S. 91 („victoribus praeda“); Gruter (wie Anm. 24), S. 348; Koseritz (wie Anm. 6), fol. A2 („praeda victoribus“); Mager von Schönberg (wie Anm. 4), S. 284; Schröder (wie Anm. 20), Abschnitt Nr. 10 („victori enim praedae“); Schrötering (wie Anm. 5), Thesis XVII; Vogt (wie Anm. 14), S. 2 Anm. b und S. 11. 39 [Anonym], Politischer Discurs und Bedencken über die Uniones im Reich [wohl von 1617], abgedr. bei Michael Kaspar Londorp (Hg.), Der Römischen Kayserlichen Majestät und des Heiligen Römischen Reichs ... Acta publica, Bd. 1, Frankfurt 1668, S. 362-367, hier S. 366.
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Außenpolitik gehört, daß „die zuseher des Kriegs in der Nachbarschafft dem obsiegenden theil zur beut werden“.40 Und ein fingierter Brief Ludwigs XIV. an Papst Clemens IX. frohlockt: „Wenn uns diese Practique“, nämlich die anderen Regenten im Konflikt mit den Holländern zur Neutralität zu verführen, „wird angehen, daran wir keinen Zweiffel tragen, wollen wir alle Fürsten und Potentaten ohne alle Gnade zur Beute bekommen“.41 Der Neutrale, „praeda victoris“ − man konnte die Formel mit anderen Versatzstücken des Neutralitätsdiskurses koppeln, beispielsweise so: „Neutrales periculum, quod declinare volunt, plerumque incurrunt [...], certa fiunt victoribus praeda“.42 Der Neutrale, „praeda victoris“ − natürlich suchte man auch zu dieser Formel Variationen, gelegentlich begegnet die Formulierung „praemium victoris“.43 Auch sie fand man übrigens bei Livius44 (oder einem Kollegen, der sie bei Livius gefunden hatte). Nach unserem Verständnis ist in den entsprechenden antiken Passagen ja nicht von Neutralität die Rede − die Antike hat über die weltgeschichtliche Konstante, daß an einem Krieg kaum je alle denkbaren Akteure teilgenommen haben, nach allem, was wir wissen, nicht reflektiert, hat Nichtteilnahme an einem Krieg nicht konzeptualisiert. Diese historische Differenz ist unseren Autoren nicht bewußt. Da die ersten beiden neuzeitlichen Jahrhunderte gleichsam auf dem Weg − einem langen, gewundenen Weg voller Unwägbarkeiten − zu einem Neutralitätsrecht waren, hat man auch hierbei, wie für alle denkbaren Lebenslagen, Wegweisung durch die überzeitlich gültigen Ratschlüsse der antiken Autoren gesucht. Das griechische und römische Denken über Krieg und Frieden war der Denkfigur Neutralität indes so wenig affin, daß eine solche erst gar nicht entwickelt, reflektiert, konturiert wurde; strich man diese historische Differenz, ließen sich viele antike Äußerungen zu Krieg und Frieden, zumal aber die vom Geist des römischen Imperialismus imprägnierten, als Neutralitätskritik verwerten. Der Neutrale, praeda oder praemium victoris − man konnte es auch etwas anders sagen, schließlich bildeten sich unsere Autoren ein, gute Lateiner zu ___________ 40
[Anonym], Gespräche und Discursen (wie Anm. 10), fol. 12. Der lateinische Text dieses zweisprachig präsentierten ‚Briefes‘ formuliert, natürlich: „praeda nobis victoribus erunt“. Die „Epistola“ ist in ThULB Jena Gall. II q.28 an ein „Manifest Deß Aller-Christlichen Königs in Franckreich“ von 1672 gebunden, paßt hierzu aber schon von den Drucktypen her nicht. Es wird ein lateinischer Text mit deutscher Übersetzung geboten. Letztere bietet in anderer Orthographie auch diese Schrift: [Anonym], Von der allgemeinen Monarchie Uber die Gantze Welt ..., o. O. 1673. 42 So lehre es Bodin: Hoenonius, Disputatio politica VII (wie Anm. 8), S. 382. 43 Vgl. Gruter (wie Anm. 24), S. 348; Gottfried Ulrich Mayer/Johannes Ehrenfried Mayer, Quaestio Politica, an pluris facienda intestini Belli Neutralitas qvam Societas?, Leipzig 1677, fol. B4. 44 „Praeda victoris“: Livius, Römische Geschichte, Buch XXXII, Kapitel 21; „praemium victoris“: ebd., Buch XXXV, Kapitel 49. 41
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sein: „Ab alterutro victore tandem opprimatur“45; „ab alterutro victore sine ullo gratiae aut dignitatis respectu tandem opprimatur“.46 In der ludovizianischen Ära schrieb der Mann von Welt französisch, wußte er also, daß „aprés [sic] tout l´on est la malheureuse victime du vainqueur, qui sacrifie ce faux Politique“, nämlich die Neutralité, „à sa colere“.47 Populär gehaltene deutschsprachige Flugschriften führten aus, daß man sich als Neutraler „dem obsigenden theil preiß“ gab48 − „der jenig welcher zwaien kriegenden Nachbawrn zusihet vnnd stillsitzet, hat gewiß zu außgang deß kriegs den sighafften theil im haar“.49 Ein unter bayerischen Akten verwahrtes Memorandum vermutlich kurmainzischer Provenienz formuliert es so: „Die historien bezeugen, dass die neutralstände beider theil raub gewesen und dem victori zur beut geworden.“50 Das hatte sich auch an den deutschen Kurhöfen herumgesprochen, man lebte ja nicht hinter dem Mond. Wen seine militärische Schwäche zum Fehlschluß verleitete, sich lieber „neutral“ heraushalten zu wollen, der wurde zwischen den Kriegführenden aufgerieben „velut granum inter duos molares“.51 Etwas gnädiger als das Bild von ___________ 45
Schemel (wie Anm. 5), S. 5. Koseritz (wie Anm. 6), fol. A2. Auch die Variante ist von Livius inspiriert − Römische Geschichte, Buch XXXV, Kapitel 49: „sine gratia, sine dignitate praemium victoris eritis“. Koseritz hat es aber aus Gruter (und meint, dieser zitiere hier Tacitus). 47 [Anonym], Le politique du temps (wie Anm. 15), S. 43. 48 [Anonym], Politischer Discurs, Ob sich Franckreich (wie Anm. 19), fol. Bij. Ebd. wird bildhaft gefragt, ob „ein Vogel, der sich die Flugel beschneiden lest, nicht leichter ins Gebawer zusperren wehre“. 49 [Anonym], Copie Vertrewlichen Schreibens Wentzeln von Meroschwa Behmen, an Johann Trauten Burgern zu Nürnberg ..., Darinn die beschaffenheit deß Kriegs inn Behmen, vnd was die Reichsstätt darunder in acht zunemen begriffen ..., angeblich Augsburg 1620 (unfol.). 50 Der unbekannte Autor zieht also die in gedruckter Literatur gebotenen Topoi „vtriusque praeda“ und „praeda victoris“ zusammen, fährt übrigens so moralisierend fort: „Darumb ist besser, auch gegen Gott und die welt ehe zu verantworten“, wenn man sich zu einer der „partheien“ schlägt (natürlich zu derjenigen, die den Augsburger Religionsfrieden richtig interpretiert, also zur katholischen Liga − das Memorandum bezieht sich auf kursächsische Erwägungen im Winter 1610/11, der Liga beizutreten; da Johann Schweikhard von Mainz sehr am Projekt eines überkonfessionellen Bundes aller Kaisertreuen interessiert war, der Leiter des anderen Ligadirektorats, der Bayernherzog, Abstriche am katholischen Charakter der Liga hingegen erbittert bekämpfte, dürfte einiges für einen mainzischen Autor sprechen). Aus dem „Discurs“ zitiert, ohne hinreichende historische Einordnung: Anton Chroust (Bearb.), Briefe und Akten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Bd. 11, München 1909, Nr. 9 Anm. 1 (auf S. 33). 51 Besold, Dissertatio Politico-Juridica (wie Anm. 8), S. 91; Schemel (wie Anm. 5), S. 5; „tanquam granum inter duos molares“: Schröder (wie Anm. 20), Abschnitt Nr. 13; „diuturnitate belli velut granum inter duos molares ... atteratur“: Mager von Schönberg (wie Anm. 4), S. 284; „non ignoro, conari multos id statuere, inutile omninò esse, eà de causâ, quod necesse sit, ut qui medium se velit, aut diuturnitate belli velut granum inter duos molares, ipse quoque atteratur“ oder aber Beute des Siegers wird: Koseritz (wie 46
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den beiden Mahlsteinen meinte es das ebenfalls nicht obligatorische, aber auch nicht ganz seltene von den beiden Stühlen − der Neutrale wurde hier nicht zerquetscht, aber er plumpste zwischen den haltgebenden Sitzgelegenheiten herab. Er befand sich eben nicht (einem noch heute gängigen, aber nicht themenspezifischen Sprichwort folgend) zwischen allen, doch „zwischen beyden Stülen“.52 Auch in Akten stieß ich darauf: Man müsse achtgeben, daß man sich nicht „zwischen zwaien Stuelen nidersitz“, mahnte am 2. Juli 1546 der neuburgische Rentmeister Gabriel Arnold den pfälzischen Kurfürsten Friedrich53, weil der sich im Schmalkaldischen Krieg auf seine „neutralitet“ versteifte. Ferner begegnet das Bild von den beiden Achseln recht häufig; man habe das „vnteutsche“ Wort neutral „verteutscht: beyderley, weil sie gemeinlich vff beyden Achseln tragen“54, spottet eine Sentenzensammlung von 1620 − eine Worterklärung, die noch eine Dissertation von 1735 wörtlich übernehmen wird!55 Natürlich ließ sich, was hier als Übersetzungsvorschlag präsentiert wird, auch lateinisch sagen: „Nunquam enim bonum fuit, duabus anchoris niti“.56 Der hessische Agent Gereon Sailer, der von Augsburg aus gutgläubig der bayerischen ___________ Anm. 6), fol. A2. − Das vergleichbare Bild, wonach „der jenige, so zwischen zweyen Fechtern stehe, von beyden seiten getroffen werde“ ([anonym], Gespräche und Discursen, wie Anm. 10, fol. 12), könnte ein Unikat sein. 52 „Die zwischen beyden Stülen nieder sitzen“: Schröder (wie Anm. 20), Abschnitt Nr. 18. Vgl. Simon Wild, Memorial Ob Den Protestirenden Ständen im Reich Teutscher Nation rahtsamb, sich bey jetziger Zeit von Königlicher Majestät zu Schweden abzuziehen, zu cunctiren, oder sich zwischen derselben vnd den Päbstlern zu interponiren?, Weimar 1632, fol. C. „Meinet ihr nicht, ihr guten wanckelnden Neutral-Hertzen, es werde euch einsten auch so gehen, daß ihr zwischen Bäncken und Stühlen zu sitzen kommt?“: [Anonym], Curiosa, nec non politica (wie Anm. 22), S. 401. 53 Kopie: Bayerisches Hauptstaatsarchiv Kasten schwarz 16671, fol. 177-179. 54 [Anonym], Continuatio der Newen Zeitungen (wie Anm. 37), s. v. „Auß der Neutralitet“. 55 Johann Adolph Wilhelm von Gohren, Dissertatio inauguralis de nevtralitate statvvm Imp. R. G. in bello imperii illicita ..., Jena 1735, S. 3 f. Anm. a: das „Wörtlein neutral“ sei „undeutsch“, unter anderem habe man es „verdeutschet, beyderley, weil sie gemeiniglich auf beyden Achseln tragen“. Nur orthographisch anders Schrötering (wie Anm. 5), Thesis I. In allen drei Fällen (war Schrötering die Quelle Gohrens?) folgt als Übersetzungsvorschlag „untreu“ (dazu gleich mehr). − „Die auff beyden Achseln tragen“: Schröder (wie Anm. 20), Abschnitt Nr. 18. Die Schweizer werden „äusserlich angesehen ..., als trügen sie auff beeden Achseln“: [anonym], Vnpartheyisches Vrtheil Auß dem Parnasso, Uber den Neuen Friedens-Curier, Vnd dessen Vermeinten Reformierer ..., o. O. o. J. [1673/74], fol. 95 (was hier aber nicht kritisch gemeint ist). 56 Hoenonius, Disputatio politica XIII (wie Anm. 1), S. 583. „Nunquam enim bonum fuit ... duabus anchoris niti, et tutissimus qui minimum gratificatur hostibus“: Weyhe (wie Anm. 4), S. 268. − Für Johannes Corberus, Threnologia Sveco-Regia. Königliche Schwedische Leicht-Predigt, Vber den ... Hintritt ... Gustavi Adolphi ..., Tübingen 1633, S. 23 gehört zu den „Sünden“, die Gottes Zorn erregten, diese: Man hat Gustav Adolf „schlechten Vorschub gethan, nicht conjunctis viribus den Feind angreiffen, sondern viel lieber auff beeden Achseln tragen wöllen“.
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Scheinneutralität im Schmalkaldischen Krieg zuschaute, wußte sogar, welche Last der Neutrale auf seine beiden Achseln packte: „Und also gat es, wann man auf poden seiten will wassser tragen.“57 Man konnte die beiden zuletzt angeführten Motive auch kombinieren: „Wer auff beyden Achseln trägt, der sitzet zwischen zweyen Stülen nider“.58 Der Neutrale zwischen zwei Mahlsteinen, zwischen zwei Stühlen − vor allem aber wohnte der Neutrale unbequem zwischen Ober- und Untergeschoß. Dieses heute vergessene Bild war im 16. und 17. Jahrhundert nahezu obligatorisch bei Auslassungen zu unserem Thema. Der Neutrale bewohnte die mittlere Etage, wo er von unten mit Rauch belästigt, von oben aber je nach Stilempfinden des Autors blaß mit „Staub“59, deutlicher mit „Vnrath“60 eingedeckt, wo er „beschüttet“61, „begossen“62, nur mit „wasser“63 oder doch eher „con l´urina“64, ___________ 57
Sailer an Landgraf Philipp von Hessen, 1546, Juli 17: Max Lenz (Hg.), Briefwechsel Landgraf Philipp’s des Großmüthigen von Hessen mit Bucer, Bd. 3, Leipzig 1891, S. 439. 58 Lehmann (wie Anm. 34), s. v. neutral, Sentenz Nr. 16. Ähnlich Sentenz Nr. 15. Bringt Sentenz Nr. 5 („er kan auff zweyen Sätteln reiten“) nicht ein positiv konnotiertes Bild? Der Anfang derselben Sentenz stellt es wieder in Frage: „Der Neutralist ists weder Fisch noch Fleisch“ (ich erläutere diesen eindeutig abschätzigen Topos gleich). [Anonym], Nova nova antiqua continuationis der neuen Zeitungen ... [von 1621], in: Julius Opel/Adolf Cohn (Hg.), Der Dreißigjährige Krieg. Eine Sammlung von historischen Gedichten und Prosadarstellungen, Halle 1862, Nr. 83 weiß, „daß die utriusque, das ist auf beiden Achselnträger, bald dörften inter utrumque, das ist zwischen beiden Stühlen, darnider sitzen“. 59 „Werden auch die jenigen, die sich der neutralitet befleissigen, denen verglichen, welche in einem Hauß im Mittel sitzen, und andere ob und unter sich wohnen haben: Dann wie diese von den Untern mit Rauch, von den Obern aber mit Staub vielfeltig belestiget werden“: Neumayr von Ramsla (wie Anm. 14), Kapitel IV. Wenig deftig auch Schröder (wie Anm. 20), Abschnitt Nr. 12 („... â susperioribus[sic] casum, ab inferioribus fumum metuere debet“). 60 Vgl. Anm. 67. 61 „Daß wer mitten im Haus wohnt, der wird von oben herab beschüttet, vnd von vnden hinauff beräuchert“: [anonym], Continuatio der Newen Zeitungen (wie Anm. 37), s. v. „Auß der Neutralitet“. 62 „... von den Obern begossen, oder sonst unruhig, gemacht“: Martin Zeiller, Centuria IV. Variarum Quaestionum Oder das Vierte Hundert Fragen, von allerley Materien, und Sachen, Samt unvorgreiflicher Antwort darauff auß Vornehmer und Gelehrter Leute Schrifften genommen, und gesamlet ..., Nürnberg 1670, Centuria IV, S. 102. „Wer Neutral ist, der wird von oben begossen, von vnten bereuchert“: Lehmann (wie Anm. 34), s. v. neutral, Sentenz Nr. 10. 63 „Und gehet es nach dem ausspruche eines alten Politici, denen neutralen ingemein, wie denen, so den mittleren stock eines hauses bewohnen, daß ihnen von unten her der rauch, von oben das wasser beschwerlich wird“: Johann Theodor Jablonski, Allgemeines Lexicon der Künste und Wissenschaften ..., Leipzig 1721, s. v. Neutralität; vgl., ohne nennenswerte Abweichungen hiervon, Großes vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz
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„urinâ“65, „lotium“66 oder „Harn“67 bedacht, so „besaicht“68 wurde. „Qui media in domo habitant, ab inferioribus inhabitantibus fumo necantur, à superioribus perminguntur“69 − aber das ist nur ein lateinisches Beispiel für zahlreiche, und dieses eines von vielen deutschsprachigen: „Gehe den Neutralisten anders nicht, als einem der in der Mitte eines Hausses (in welchem drey vnterschiedliche Haußgenossen sindt) Wohnet, von den vntern wirdt er mit dem Rauch, von dem Obern aber mit dem Urin beschwert, also werden auch die neutralstände beropffet vnd berupffet“.70 Sollen wir die Tatsache, daß die harmlose Begießung des Neutralen mit „wasser“ erst im 18. Jahrhundert aufkam71, eher einer Abmilderung der neutralitätskritischen Einstellung des gelehrten Mainstream oder aber einer Verfeinerung des Stilempfindens im Jahrhundert der Aufklärung zuschreiben? Eine andere Frage ist noch interessanter: Haben sich auch die Entscheidungsträger des Bildes von der fatalen mittleren Etage bedient? Eine Flugschrift aus der Zeit des Holländischen Krieges unkt: „In Betrachtung so vieler Gewaltthätigkeiten“ der Franzosen in der Anfangsphase des Krieges hätten die Deutschen, so sie sich von den französischen Sirenengesängen zur ___________ erfunden und verbessert worden ... („Zedler“), Bd. 24, Leipzig/Halle 1740, s. v. Neutralität (gleich nach der Begriffsdefinition). 64 So zitieren Besold, Dissertatio Politico-Juridica (wie Anm. 8), S. 93 und ders., Politicorum Libri duo. Qvorvm primvs, reipublicae naturam et constitutionem ... absolvit: Alter vero, de republica in omnibus partibus gubernandâ ... tractat, Frankfurt 1618, S. 755 („quali habitano nel primo palco della casa, che da quelli di sotto, sono travagliati co´l fumo, è da quei di sopra, con l´urina“); sowie orthographisch leicht abweichend Gohren (wie Anm. 55), S. 7 f. Anm. i und Mager von Schönberg (wie Anm. 4), S. 284 Alphonsus Neapolitanus, alle aus zweiter Hand nach Botero. Mager von Schönberg selbst formuliert: „Neutralitatem seu mediam viam non esse tutam ... docemur. Sicut enim illi qui mediam domus partem inhabitant ab infimis fumo à superioribus vrina molestantur“. 65 „Ab inferioribus fumo, à superioribus verô urinâ molestantur“: Arnoldus de Reyger, Thesaurus Iuris Civilis et Canonici locupletissimus, Bd. 2, Köln 1704, s. v. Nevtralitas. 66 „... quos e superiori parti lotium, ex imâ fumus infestat“: Schemel (wie Anm. 5), S. 5. 67 Dem Neutralen geht es wie denen, „die den zweyten Gaden des Hauses bewohneten, welchen der Rauch von vnten, vnd der Harn von oben vberlast machete“: [anonym], Politischer Discurs, Ob sich Franckreich (wie Anm. 19), fol. Biij. „... welche die im obern mit außschüttung des Harns vnnd andern Vnraths hefftig zu belästigen, die im vndersten aber durch den Rauch beschwerlich zu vexiren pflegen“: [anonym], Traw, Schaw, Wem (wie Anm. 11), S. 24. 68 [Anonym], Nova nova antiqua continuationis (wie Anm. 58), S. 390. 69 So wortgleich Hoenonius, Disputatio politica XIII (wie Anm. 1), S. 583; Weyhe (wie Anm. 4), S. 268; nur orthographisch abweichend Koseritz (wie Anm. 6), fol. A2 und Voßenhölen (wie Anm. 20), S. 19. 70 [Pseudonym], Andere Schildtwacht (wie Anm. 33), fol. A2. 71 Vgl. Anm. 63: Jablonski 1721 (wie übrigens in der Neuausgabe von 1767), Zedler 1740.
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Neutralität hätten verlocken lassen, „in der That würden empfunden haben, was ich mich erinnere, S. Churfürstl. Durchl. [von Brandenburg] schon ehemahls“, nämlich offensichtlich im Vorfeld des schwedisch-polnischen Krieges, einem „Schwedischen Abgesandten bey der offerirten Neutralität mit Polen antworten lassen: Es pflege ins gemein von einer Neutraliät judiciret zu werden, daß dieselbe mehr schäd- dann nützlich wäre, dann wer in der Mitten wohnete, der müste von dem unter Jhm, allen Stanck auffriechen, von denen aber über Jhm müste er Jhme Staub und Unflaht lassen ins Gesichte werffen.“72 Leider konnte ich das hier Kolportierte nicht in Akteneditionen verifizieren.73 Wenn Neutralität keine Freunde, aber allseits Feinde eintrug, zur Beute aller oder doch des Siegers machte, selbstmörderisch zwischen Mahlsteine oder doch unbeqem zwischen Stühle und Emissionsquellen plazierte, war dieses politische Konzept unklug, deshalb zu meiden. Abhandlungen des 16. und 17. Jahrhunderts zogen auch dieses Resümee mit Livius: „media via nulla est“. Die Formel begegnet dutzendfach, als Quintessenz weltgeschichtlicher Erfahrungen mit der Neutralität oder auch unter ausdrücklichem Rekurs auf die große antike Autorität.74 Man fand sie offenbar so schlagend, daß nur selten Ausschmückungen oder Variationen vorkommen: „Mediam enim in hujusmodi rebus, qui monstrat viam, nullam certè monstrat, in quam pedem figere liceat“.75 Auch Übersetzungen sind selten: „Wieder diese Mittelrähte giebet vns Aristhenes ein Praetor Achaiae eine stadtliche Antwort“, indem er denen, die den Achäern empfahlen, sich aus den Auseinandersetzungen der Römer mit dem makedonischen König Philipp herauszuhalten, „weiset, der vorschlag wehre nicht ein ___________ 72 „Alexander Christian de Metre“, Kurtze Erzehlung Der vornehmsten Thaten Des Königs in Franckreich, Und Was er ferner vor hat ..., „Roterdam“ 1674, S. 30. 73 Die schwedisch-brandenburgischen Verhandlungen über eine eventuelle Allianz gegen Polen sind bei Bernhard Erdmannsdörffer (Hg.), Urkunden und Actenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, Bd. 4, Berlin 1877 sowie bei Max Hein (Hg.), Urkunden und Actenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, Bd. 23.1, Berlin/Leipzig 1929 dokumentiert. Von Neutralität oder, schwedisch, „neutraliteten“ ist in beiden Bänden des öfteren die Rede, aber den kolportierten Ausspruch Friedrich Wilhelms habe ich dort nicht gefunden. 74 Jede Belegliste frühneuzeitlicher Zitate dieses Ausspruchs, der angeblich eine Bundesversammlung der Achäer im Jahr 198 vor Christus zur Unterstützung der Römer gegen König Philipp V. von Makedonien aufrütteln sollte (Livius, Römische Geschichte, Buch XXXII, Kapitel 21), wäre unvollständig. Vgl. nur Bodin (wie Anm. 14), S. 180; Ayala (wie Anm. 14), Bd. 1, fol. 13; Justus Lipsius (wie Anm. 38), S. 114; Weyhe (wie Anm. 4), S. 267; Hoenonius, Disputatio politica VII (wie Anm. 8), S. 382; Gruter (wie Anm. 24), S. 348; Besold, Dissertatio Politico-Juridica (wie Anm. 8), S. 91; ders., Politicorum Libri duo (wie Anm. 64), S. 755; Koseritz (wie Anm. 6), fol. A2; Voßenhölen (wie Anm. 20), S. 17; Textor (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 104; Vogt (wie Anm. 14), S. 2 Anm. b. 75 Hoenonius, Disputation politica XIII (wie Anm. 1), S. 583.
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mittelweg, sondern gantz vnd gar nichts“.76 Diese gar nicht zielführende Neutralität war, um auch hier Akten zu Wort kommen zu lassen, eine „unglückseelige Straße“.77
II. „So Weibisch stillsitzen“: Neutralität trägt keine „Ehre“ ein Zeugt es heutzutage, in Zeiten entgrenzter „Flexibilität“ und demonstrativ beiläufiger „Coolness“, von die Lächerlichkeit streifendem Biedersinn, sich auf seine „Ehre“ zu versteifen, war diese Instanz in vormodernen Gesellschaften ein Zentralwert. Es disqualifizierte zutiefst, schloß aus der Zugehörigkeit zur Gesellschaft im eigentlichen Sinne aus, einen „unehrlichen“ Beruf auszuüben. Gesellschaftsfähig waren nur „Ehrenmänner“. Also hatte, wer „ehrlos“ zu werden drohte, fast alles zu verlieren. Es war keinesfalls Wortgeklingel, wenn der Augsburger Religionsfrieden, dessen Bestimmungen bis in alle Verästelungen hinein monatelang hin- und hergewendet wurden, jenen „undertonen“, die sich nicht mit der Glaubenswahl der Obrigkeit abfinden konnten, zusagte, es werde ihr „ab- und zuzuck [...] an iren ehrn [...] unentgolten sein“.78 Auch „undertonen“ also hatten Ehre im Leib, aber zumal für die damaligen Letztentscheider, nämlich den alteuropäischen Hochadel, war die „Ehre“ ein höchster, weil unübersteigbarer, ein gar nicht harmloser, sondern blutig ernster Wert. Sah das adelige Individuum seine Ehre gekränkt, stellte es sie im potentiell tödlichen Duell wieder her. Und wenn dieses Individuum einen Staat regierte? Der Völkerrechtler Johann Wilhelm Textor kannte 1680 dreierlei legitime Kriegsgründe: „vel quae laedunt corpus, vel quae famam, vel quae res“, also den materiellen Besitz − Angriffe auf Leben, Ehre, Eigentum. „Contumelia atrox Regi vel Reip[ublicae] illata, quae dispendiú famae causetur justam tribuit causam belli“.79 Diese Studie kann nicht der Frage nachgehen, ob den alteuropäischen Adel seit jeher und kontinuierlich, schon, als er sich noch auf Ritterburgen und hinter Panzerplatten verschanzt hatte, ein potentiell kriegstreibender, militant daherkommender Ehrbegriff geritten hat, oder ob die Epoche des Absolutismus, der man nicht ganz glücklich attestiert hat, sie habe Kriegführen ___________ 76
Sc. denn man gebe sich so „dem obsigenden theil preiß“: [anonym], Politischer Discurs, Ob sich Franckreich (wie Anm. 19), fol. Biij. 77 „Notamina“ des nach Wien gesandten kurpfälzischen Emissärs Johann Georg Geyer, s. d. [Januar 1676], Bayerisches Hauptstaatsarchiv München Kasten blau 102/4 (unfol.). Geyer kommentiert die Vorhaltungen der Hofburg, das „notamen“ zur „unglückseeligen Straße“ lautet so: „Regulariter und den gemeinen schlag nach der Neutralitet, nicht aber wie es Chur Pfalz vorgeschlagen“! 78 Augsburger Religionsfrieden, abgedr. bei Ernst Walder (Bearb.), Religionsvergleiche des 16. Jahrhunderts, Bd. 1, Bern 1960, hier S. 51 f. 79 Textor (wie Anm. 14), Caput XVI, S. 11 f.
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als den „Sport der Könige“ erachtet, die eigentliche Hochzeit der „Ehrsucht“80 gewesen ist. Gewiß sprechen gute Gründe dafür, eine auf „gloire“ verkürzte, veräußerlichte Ehre als kräftige Triebfeder der absolutistischen Bellizität zu erachten, doch wird Versuchen, sich aus Kriegen anderer als Neutraler herauszuhalten, schon in Druckwerken und politischen Akten des Jahrhunderts davor immer wieder Ehrlosigkeit attestiert. Wir dürfen, auf unsere Zwecke verkürzt, zusammenfassen: Es war in der Vormoderne nicht irrational, sich auf seine „Ehre“ zu versteifen, sondern unklug, diese aufs Spiel zu setzen. Auch deshalb war es unklug, im Krieg die Neutralität zu suchen, sich „zur schändtlichen Neutralität zu begeben“, sich auf „eine solche schändtliche Neutralität“ einzulassen.81 Die Graue Eminenz des Dresdner Kurhofes, Caspar von Schönberg, äußerte am 26. Dezember 1619 die Einschätzung, neutrales Verhalten provoziere „Despekt“.82 Das Wortspiel „Respekt/Despekt“ hat sich, so weit ich sehe, nicht eingebürgert, doch gab es eine Reihe anderer, wiederholt begegnender Wendungen, die zum Ausdruck brachten, daß neutrales Verhalten wenig respektabel sei. Zur Neutralität Zuflucht zu nehmen, war nicht mutig und mannhaft. Konnte man, während der verruchte Franzmann die Holländer quälte, „so Weibisch stillsitzen“?83 Schon ein Pamphlet aus der Anfangszeit des Dreißigjährigen Krieges hatte den Neutralen vorgeworfen, sie reagierten mit „Weibischen Gebärden, Thränen vnd grämen“, wo „Hülffe, Rath vnd That“ geschuldet seien.84 Oder war der Neutrale weder Mann noch „Weib“, nicht Hermes, nicht Aphrodite? Die Monographie Neumayrs nennt unter den Synonyma, die dieses undeutsche Wort erklären könnten, den „Zwitter“.85 Eine den Holländischen Krieg kommentierende Flugschrift läßt86 ___________ 80
Die „Ehrsucht“ des Hochadels oder auch spezieller Ludwigs XIV. ist ein Lieblingsthema der Flugschriftenliteratur des späten 17. Jahrhunderts, die immer aufs Neue „Excessen“ der Ruhmsucht geißelt; hier kann ich das nicht im einzelnen aufzeigen, vgl. Anm. 12. 81 [Anonym], Magna Horologii Campana, Tripartita. Das ist, Ein Dreyfache, im gantzen Teutsch-Landt hellauttende Glocke, vnd Auffwecker ... o. O. 1632, S. 67 bzw. S. 66. 82 Lange Auszüge aus dem Protokoll der Dresdner Beratungen gibt, leider sprachlich ‚modernisiert‘, Karl August Müller (Hg.), Fünf Bücher vom Böhmischen Kriege in den Jahren 1618 bis 1621, nach handschriftlichen Quellen des Königlich Sächsischen HauptStaats-Archivs. Ein Beitrag zur Geschichte des Siebzehnten Jahrhunderts, Bd. 1, Dresden/Leipzig 1841, hier S. 349. 83 [Anonym], Nachdenckliches Gespräch Auff den ietzigen Zustand im Heil. Römischen Reich absonderlich aber auff dessen Freyheit gerichtet ..., o. O. („Freybergk“) 1673 (Erklärung „Freyholds“). 84 „Johann Huß, genandt Martyr“, Böhmische Nebelkap, Oder Der Böhmen falschen vnd geferbten, vnnd dann weder Kalten noch warmen, wie auch jerer gewissen vnnd standthafftigen Freunden Merckzeichen ..., o. O. 1619, S. 9. 85 Neumayr von Ramsla (wie Anm. 14), hier: erweiterte Ausgabe von 1631, S. 504.
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über „Unsere Hermaphroditen (mit keinem bessern Praedicat kan ich sie belegen) die Neutralistisch Gesinnten“ wettern, und auch ein englisches Pamphlet weiß, daß Neutrale „content bo be an Hermaphrodite“ seien.87 Nicht Mann, nicht „Weib“ − und „nicht fleisch noch fisch“?88 Auch in diese Zwitterstellung wird der Neutrale öfters gesetzt, manchmal gekoppelt mit einem eigenartigen anderen Bild, dem Krebsgang: „weder Fisch noch Fleisch, sondern ein Gerichte Krebß, die so bald zu rücke als vorgehen“.89 Man erinnerte sich an solche angelesenen Bilder offensichtlich auch in Diplomatenkreisen, denn am 11. Mai 1632 schrieb Gustav Adolfs Emissär Christoph Ludwig Rasche, der in diesen Monaten so rast- wie ergebnislos für ein eidgenössisch-schwedisches Bündnis warb, an die Zürcher, er wolle eine „endlich auf Fisch oder Fleisch angerichtete“ Antwort der vier evangelischen Orte hören.90 Kein bestimmtes Geschlecht (und zumal nicht das in Krieg und Politik maßgebliche mutig-männliche), kein kontinuierlich voranschreitender Gang − und auch kein richtungsfester, denn der Neutrale wollte „den Mantel nach dem Winde hängen“: eine Charakterisierung, die nicht nur dann abschätzig gemeint war, wenn der Autor91 anfügte, daß ihm das „einen auffstössigen Eckel“ verursachte.
___________ 86 Sc. einen Vertreter des Kurrheinischen Kreises − der unbekannte Verfasser versteckt sich hinter diversen Sprechern: [anonym], Curiosa, nec non politica (wie Anm. 22), S. 401. 87 [Anonym], Neutrality condemned, by declaring the Reasons Why the DeputyLieutenants, intrusted by the Parliament for Chesire, cannot agree to the Treaty of Pacification made by some of that County, o. O. 1643, S. 4. 88 [Anonym], Gespräche und Discursen (wie Anm. 10), fol. 41; „weder Fisch noch Fleisch“: Lehmann (wie Anm. 34), s. v. neutral, Sentenz Nr. 5. 89 Schröder (wie Anm. 20), Abschnitt Nr. 18; [anonym], Continuatio der Newen Zeitungen (wie Anm. 37), s. v. „Auß der Neutralitet“: „Als habens etliche verteutscht, keinerley, das ist, weder Fisch noch Fleisch, sondern sonst ein verdeckt essen Krebs, die eben so bald hinder sich als vor sich gehen“. So noch wortgleich, nur orthographisch modernisiert, bei Gohren (wie Anm. 55), S. 3 f. Anm. a und Schrötering (wie Anm. 5), Thesis I. 90 Aus dem Schreiben zitiert (ohne Kenntnis der gedruckten Entsprechungen) Frieda Gallati, Eidgenössische Politik zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, Teil 1, Beilage zum Jahrbuch für Schweizerische Geschichte 43 (1918), S. 97. 91 Genauer gesagt: der von ihm vorgeschützte Sprecher des Oberrheinischen Kreises − [anonym], Curiosa, nec non politica (wie Anm. 22), S. 415 (Neutrale wollen es „Wetterwendischer Weise mit beyden Partheyen halten“: das erlärt ebd., S. 401 ein Vertreter des Kurrheinischen Kreises). Halten es die Eidgenossen wirklich für ratsam, „still zu sitzen, den mantel nach dem wind zu richten“?: [anonym], Gespräche und Discursen (wie Anm. 10), fol. 14. „Als die Römer wider die Fidener vnd Veier Krieg führten, wolte Metius Suffetius, König in Albania, den Mantel auch nach dem Wind hengen“: Neumayr von Ramsla (wie Anm. 14), Kapitel IV.
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Dieser wertenden Erläuterung bedurfte es nicht bei der Gleichsetzung „Neutralität heißt Untreue“. Sie ist pejorativer, als der moderne Leser beim ersten Hinschauen vermuten würde, denn hier schwang nicht nur der notorische Beiklang „unmännlich“ mit, Treue war zudem der Zentralwert jenes Lehnswesens, das moderne Geschichtsstudenten allenfalls noch im Mittelalterproseminar kennenlernen, das aber natürlich für die ganze Vormoderne bedeutsam gewesen ist. Das Reich war politisches System und war Lehnsverband, war beides gleichzeitig.92 Der Vorwurf der „Untreue“ evozierte deshalb immer auch den des Ungehorsams, der Illoyalität, damit, nach Lehnsrecht, der Illegalität. Dieses schwere Geschütz fuhren Autoren nicht, wie in der politischen Praxis die Hofburg93, gewohnheitsmäßig auf, aber einige Druckwerke kennen die Gleichsetzung schon: „Neutralisten“ seien „untrewe Brüder“ und „Verräther“94, dem Strauß neutral zuzuschauen bedeute „Vntrew“95. Oder, weite Verbreitung dieser Assoziation suggerierend: Man verdolmetsche das merkwürdige Wort „neutralitet“, wenn es nicht verstanden werde, gern als „vntrew“96 oder „untreu“97. Da es zu den Autostereotypen des „Teutschen“ gehörte, (zwar vielleicht etwas ungehobelt, aber dafür allemal) mutig und treu zu sein, mußte eine als „weibisch“ und „untrew“ verstandene Neutralität „unteutsch“98 erscheinen, und ___________ 92 Das Reich als „Lehnsverband und politisches System“: Axel Gotthard, Das Alte Reich 1495-1806, dritte Auflage Darmstadt 2006, S. 4 f. 93 Das ist der seit einem Vierteljahrhundert regen Reichshistoriographie − wegen des begreiflichen Wunsches, die ‚Aktualität‘ und ‚Modernität‘ des Reichsverbands aufzuzeigen? − nie aufgefallen. Es hat auch Implikationen fürs Neutralitätsthema, wieder und wieder betonte die Hofburg, daß „neutralitet wider [...] das oberhaupt [...] nicht statthaben“ könne. Das Zitat: Ferdinand II. an die schwäbischen Kreisstände, 1622, März 2 (Kopie), Hauptstaatsarchiv Stuttgart C9 Bü. 214. Vergleichbare Wiener Äußerungen sind epidemisch, vgl. Anm. 12. 94 [Anonym], Duplex Census Oder Zweyfache, vnd sehr weit vnterschiedene Gebühr ..., o. O. 1634, S. 17; ich spitze etwas zu, aber der Autor bietet wohl doch eine Synonymenkette. Der Kontext: Viele danken Schweden seinen Einsatz nicht, „es sind Neutrali sten, Opinionisten, Träumer, vntrewe Brüder, Quadruplatores vnd Verräther“. 95 „Als die Römer wider die Fidener und Veier Krieg führten, wolte Metius Suffetius ... den Mantel auch nach dem Wind hengen [vgl. Anm. 91], dann wie es zur Schlacht kam, rückte er mit seinem Volck auff eine Seite, vnd begab sich auff eine Höhe, zu sehen, ob die Römer oder Veier die Oberhand behalten möchten, Weil nun die Römer obsiegeten, wolte ers mit jhnen halten, Aber Tullus, der Römer, verwies jhm seine Vntrew“: Neumayr von Ramsla (wie Anm. 14), Kapitel IV. 96 [Anonym], Continuatio der Newen Zeitungen (wie Anm. 37), s. v. Auß der Neutralitet. 97 [Anonym], Nova nova antiqua continuationis (wie Anm. 58), S. 390 sowie ihr oder einem ähnlichen Druck nach 135 Jahren kritiklos folgend Gohren (wie Anm. 55), S. 4; schon zuvor hatte es Schrötering (wie Anm. 5), Thesis I abgeschrieben. 98 Neumayr von Ramsla (wie Anm. 14), hier: erweiterte Ausgabe von 1631, S. 504. „Undeutsch“: Gohren (wie Anm. 55), S. 3 f. Anm. a; Schrötering (wie Anm. 5), Thesis I.
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in der Tat wird sie auch häufig so charakterisiert, wobei die Autoren, wohl bewußt, Wortgeschichte (das lateinische „neuter“) und Semantik ineinanderfließen lassen. „Weil das Wörtlein Neutral vnteutsch“, suchten manche deutsche Synonyma, weiß eine Sentenzensammlung von 1620, „andere habens darvor gehalten, Neutral sey nichts anders als gut Spanisch, bemühe man sich also vergebens, dem Kind ein teutschen Namen zu geben“.99 „Cum vox Neutrale haud sit Germanicè dicatur“, mußte man es durch Wendungen und Bilder erklären100 − nicht wenige der auf den letzten Seiten ausgebreiteten Topoi kommen als derartige ‚Übersetzungshilfen‘ oder angebliche Synonyma daher. Ich füge eine Beobachtung zum Schriftbild an: Noch im späten 17. Jahrhundert wurde „neutralitet“ oder „Neutralität“ (diese Schreibung begann nun üblich zu werden) nahezu durchgehend in ‚lateinischen Lettern‘ gesetzt, also als Fremdwort empfunden. Der typographische Brauch hielt sich, mit nur langsam abnehmender Konsequenz, weit ins 18. Jahrhundert hinein.101 Ein auffallender Gegenbefund stammt aus dem Jahr 1757: Eine anonyme Flugschrift über „die Neutralität“ schreibt nicht nur diesen Terminus durchgehend ‚altdeutsch‘, bei der Formel „exacte Neutralität“102 wird „exact“ in Antiqua, „Neutralität“ in Fraktur gesetzt: Ersteres empfand der Autor offenbar noch als Fremdwort, die Neutralität nicht mehr. Gleichsam an der Nahtstelle zwischen der „schändlichen“ und der „sündhaften“ Neutralität sind Charakterisierungen angesiedelt, die den Neutralen als faul und träge kennzeichnen, ihm unterstellen, er verweigere die eigentlich geschuldete Hilfe − denn tätige Nächstenliebe war Christenpflicht. Ich verbleibe aber noch bei Topoi ohne explizit theologische Dimension. Der Neutrale, ein gar nicht harmloser Faulpelz: Schon Justus Lipsius wußte 1590, daß zur Neutralität Trägheit oder übermäßige Verschlagenheit verführten, „ignauia“ oder „praua calliditas“.103 Wie lang Urteile des vielgelesenen Deutsch-Niederländers nachhallten, zeigt eine Flugschrift von 1673, die von denjenigen, die sich im Holländischen Krieg für neutral erklärten, weiß, daß sie sich „auß Faulkeit oder irgends einer Verschlagenheit auff solche Art fürm Kriege gehütet“.104 Die Kop___________ 99
litet.
[Anonym], Continuatio der Newen Zeitungen (wie Anm. 37), s. v. Auß der Neutra-
100 Schröder (wie Anm. 20), Abschnitt Nr. 18. Es folgt dieser ‚Übersetzungsversuch‘: nicht Fisch, nicht Fleisch, sondern Krebsgericht. 101 Vgl. nur [anonym], Kurtzgefaßte Frage Ob Ein Chur-Fürst oder Stand des Reichs bey gegenwärtigem Krieg neutral bleiben könne, o. O. 1734; oder [anonym], Des G. K. R. V. Rechtliches Bedencken, über die Natur, Eigenschafften und Würckungen der Neutralität, auch unterschiedene daraus fließende besondere Fragen, Frankfurt/Leipzig 1746. 102
[Anonym], Die Neutralität, o. O. 1757, S. 10. Justus Lipsius (wie Anm. 38), S. 115. 104 [Anonym], Von der allgemeinen Monarchie Uber die Gantze Welt ..., o. O. 1673 (unfol.). 103
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pelung Faulheit-Verschlagenheit war aber nicht obligatorisch, häufiger begegnen Kombinationen wie „zagheit, trägheit, vnd faulkeit“.105 Neutrale „zeigen damit jhr ignorantiam vnd Vnverstand, oder jhren Geitz, jhr Faulkeit, vnd daß sie kein courage im Leib haben“.106 Der schon erwähnte schwedische Diplomat Rasche kannte auch solche Konnotationen, im März 1632 höhnte er vor der evangelischen Tagsatzung in Aarau, was „für eine Faulheit und Verräterey“107 die Neutralität doch sei. Recht häufig wird die Neutralität mit einem Verb charakterisiert oder auch erklärt, das man heute im Deutschunterricht nicht mehr durchnimmt: neutral sein heiße zu „temporisiren“. Weil wir das Wort nicht im Duden, wohl aber in Französischlexika finden und weil es auch französischsprachige Flugschriften (und sogar Akten108) bieten, könnte man es für eine Eindeutschung von französisch „temporiser“ im Zeichen des ludovizianischen Kulturimperialismus halten, doch fiel mir das Verb vor allem in Elaboraten des Konfessionellen Zeitalters auf.109 Natürlich war die Wendung vom „schädlichen vnd lächerlichen temporisiren“110, wie alle hier begegnenden Klischees, abschätzig gemeint, aber warum? Der Vorwurf der Mutlosigkeit schwingt mit, des Zauderns und Zagens − der Neutrale war eben kein mannhafter Tatmensch. Aber der Vorwurf changiert auch hin zu Verschlagenheit (schließlich wußte der aufrechte Mann, daß Neutralität „lauter heuchlerey“ war111), unehrenhaftem Abwarten, wie denn die ___________ 105
Hier zitiert nach [anonym], Gespräche und Discursen (wie Anm. 10), fol. 40. [Anonym], Das Teutsche Klopff Drauff. Oder, Hochnötigste vnd Rechtmäßige auch gut Teutsche Anmahn- vnd Erinnerung ..., o. O. 1626, fol. Aij. 107 Aus dem Vortrag zitiert Franz Fäh, Gustav Adolf und die Eidgenossen 16291632. Wissenschaftliche Beilage zum Bericht der Realschule zu Basel 1886-1887, Basel 1887, S. 26. 108 „Le duc de Bavières ... temporisera comme neutral avec les autres“, prognostizierte am 13. März 1552 Antoine Perrenot de Granvelle in einem Schreiben an Königin Maria, die Statthalterin der Niederlande: August von Druffel (Hg.), Briefe und Akten zur Geschichte des sechzehnten Jahrhunderts mit besonderer Rücksicht auf Bayerns Fürstenhaus, Bd. 2, München 1880, Nr. 1108. 109 Auch die Neutralitätsmonographie Neumayrs von Ramsla (wie Anm. 14) kennt es: „wo wird der jenige, so sich neutral gehalten vnd temporisiret hat ...“ (Kapitel IV). Eine Schrift nennt den Ausdruck sogar auf dem Titelblatt: Der Autor des „Duplex Census“ (wie Anm. 94) kündigt dort an, gegen das anzuschreiben, was „von den Bäpstlern, Neutralisten, Zweyfflern vnd Temporisirern“ agitiert werde − also vom konfessionspolitischen Widerpart sowie von denen, die sich neutralisierend, zweifelnd, temporisierend herauszuhalten suchten. 110 [Anonym], Gespräche und Discursen (wie Anm. 10), fol. 11. „Darumb ich auch vnser schädliches vnd lächerliches temporisiren verwerffe“: ebd., fol. 19; „kindisches Temporisiren“: ebd., fol. 21; man darf sich nicht „vnzeitigen temporisiren vnd fantasiren“ hingeben: [anonym] (Johann Philipp Spieß?), Anderer jüngstgehaltener Discurß zweyer Eydgenossen, vom Zustand des jetzigen Wesens, o. O. [1632], fol. 40. 111 Georg Eder, Evangelische Inquisition wahrer und falscher Religion. Wider Das gemain unchristliche Claggeschray, dass schier niemands mehr wissen künde, wie oder 106
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Sache ausgehe − der Neutrale spielte auf Zeit, womit auch unterstellt wurde: eine dauerhafte Option konnte dieses suspekte politische Konzept gar nicht sein. Wieder einmal erweisen sich gerade Diplomaten in schwedischen Diensten als belesen: Gustav Adolf bestehe darauf, daß die Reichsstadt fortan „alles Neutralisiren und Temporisiren bei Seite“ setze, erklärten im Oktober 1631 zwei schwedische Gesandte den Nürnbergern112, und der uns schon bekannte Emissär Rasche suchte den Eidgenossen einzubläuen, daß es „loblicher und heilsamer“ sei, „sich offenlich und frey und rein heraus“ zu „bekennen, als schentlich underm Hütlein zu spielen, zu temporisieren oder zu heuchlen“.113 Dem traditionell neutralen neuburgischen Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm schrieb 1636 der kölnische Kurfürst Ferdinand das ins Stammbuch: „Ich muss bei demjenigen verpleiben, was ich Derselben allezeit remonstrirt, dass mit dem temporisiren E. L. bis dato noch wenig Ihren Unterthanen zu Trost gewonnen“; ob er denn nicht merke, daß er sich nur auf allen Seiten „suspect“ mache?114 Vormoderne Meinungsäußerungen zur Neutralität im Kriege lieben den Vergleich mit der Feuersbrunst − ein naheliegendes Bild, Hausbrände waren noch häufiger als die allfälligen Kriege und ohne Brandmauern und Feuerschutzversicherungen fast so verheerend. Der Neutrale erklärte, „wann einen ein Fewer nit brenne, solle er es nit leschen“115, „gratus ignis adspectus est“.116 Die einzige deutschsprachige Monographie zum Thema führt aus: „Es werden auch etliche gefunden, welche, ob sie sich wol neutral halten, doch offtmaln das Fewr mehr anzünden, alß daß sie es leschen solten“, was der Autor übrigens ___________ was er glauben sollte ..., Dillingen 1573, fol. 154. Von der „heuchlerischen lästerlichen Neutralität“ weiß der anonyme „Postilion“ (wie Anm. 25), er kennt diese Gleichsetzung: „heuchelte oder neutralisirte“ (Abschnitt 122). [Anonym], Ursachen Wodurch eigentlich die Königl. Mayst. zu Schweden bewogen worden, den Hertzog von Churland auß seinem Fürstenthumb hinweg, in Verwahrung zu ziehen, o. O. o. J. [1658], fol. Diiij weiß, daß Karl X. Gustav dem notorisch auf seiner „Neutralität“ im Ersten Nordischen Krieg herumreitenden kurländischen Herzog Jakob gegenüber zu Recht auf eine „cathegorische Resolution“ drang, auf daß das „Heuchelen“ Jakobs ein Ende habe. „Häuchle keinem Herren nicht, Der dir nach der Gurgel sticht“: das ruft [anonym], Eidtgnößisches Wach auff, Und Eidtgnößisches Klopff drauff ..., o. O. 1673 denjenigen Reichsständen zu, die im Holländischen Krieg Neutralitätsverträge mit Frankreich suchten. 112 Zit. nach Gustav Droysen, Gustav Adolf, Bd. 2, Leipzig 1870, S. 440. 113 Zit. nach Fäh, Gustav Adolf (wie Anm. 107), S. 26. 114 „Der effectus es schon leider mit E. L. underthanen hochstem schaden erwisen, wie sie“, nämlich die Kriegsparteien, „E. L. respectiren“: Kurfürst Ferdinand von Köln an Wolfgang Wilhelm, ohne Datumsangabe zitiert bei F. Küch, Die Politik des Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm 1632−1636. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte von Jülich und Berg während des dreissigjährigen Krieges, in: Beiträge zur Geschichte des Niederrheins. Jahrbuch des Düsseldorfer Geschichts-Vereins 12 (1897), S. 41. 115 [Anonym], Das Teutsche Klopff Drauff (wie Anm. 106), fol. Aij. 116 Schemel (wie Anm. 5), S. 31.
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nicht grundsätzlich verdammt: Es scheine vielmehr manchmal clever zu sein − bleibe freilich „nicht lang verborgen“, und dann merke man rasch, „was jhnen solche neutralitet genützet“.117 Hier hat wohl Bodin Pate gestanden: „Mais ceux-là qui sont neutres, bien souvent allument le feu au lieu de l´estaindre“.118 In beiden Fällen wird der Topos „löscht nicht“ durch die Unterstellung ergänzt, daß der Neutrale sogar noch Öl ins Feuer gieße, in beiden Fällen wird das trotzdem nicht in Bausch und Bogen verdammt: zwei Ausnahmen zur Regel. Üblicherweise fehlt die zündelnde Rolle des Neutralen, üblich sind mehr oder weniger harsche Verurteilungen seiner Zuschauerrolle beim Löschen. Im günstigsten Fall schädigte er nur sich selbst: „If my neighbours House burne, mine owne will the sooner kindle [...]; the best way in that case to prevent the ruine of thine owne, is to be active in quenching thy neighbours fire“.119 „Wenn deines Nachbars Hauß in vollen Flammen steht,/ So dencke, daß die Noth auch dich zugleich angeht.“120 „Wann bey einer grossen vnd gemeinen Fewersbrunst, in einer Statt, die jenigen bloß allein, deren Häuser brennen, löschen müssen, die Nachbahren aber, derer wohnungen noch gefreyet, nicht hand mit anlegen, sondern nur stehen vnd zusehen wöllen, wird der schade, vnd das fewer, sie auch ohnzweiffelich mit betreffen“, schreibt Johann Philipp Spieß den Eidgenossen ins Stammbuch, um sodann auf moralische Appelle umzuschwenken: Es gehe nicht an, „daß wir nur stehen vnd gaffen, wie das fewer so lustig brennet“, man müsse sich „nicht allein alß schawer vnd gaffer, sondern alß helffer“ bewähren.121 Nach Ansicht des eidgenössischen Vertreters bei den Westfälischen Kongressen, Rudolf Wettstein, hatte es das Renommee der Schweizer Kantone zuletzt geschädigt, daß sie eben das nicht getan hatten, im April 1647 mahnte er deshalb mit diesen Worten eine aktive Friedenspolitik an: „Es genügt nicht, die Hände in den Schoss zu legen; man muss sich in fremde Händel mischen und des Nachbars Haus löschen helfen, um das seine zu erhalten“.122 „Hilffe“ für den „Nachbahren“ hieß gut biblisch Nächstenliebe. So war denn der Weg zu religiösen Wertungen nicht weit, doch tragen hier die Feuermetaphern in der Regel nicht dick auf. Es konnte die Billigkeit hinreichen: „Wann ein Feuer in der Stadt angehet, und ein Hauß brennet, so ists billig, daß jeder___________ 117
Neumayr von Ramsla (wie Anm. 14), Kapitel IV. Bodin (wie Anm. 14), S. 184. 119 [Anonym], Neutrality condemned (wie Anm. 87), S. 4. 120 [Anonym], Gedancken Uber der Schweden Einfall in Teutschland, Und zwar vornehmlich In die Churfl. Brandenburg. Provintzen, Marck und Pommern, o. O. 1675, fol. Biiij. 121 [Anonym], Anderer jüngstgehaltener Discurß (wie Anm. 110), fol. 26. 122 Zit. nach Edgar Bonjour, Geschichte der schweizerischen Außenpolitik in ihren Grundzügen, in: Die Schweiz und Europa. Ausgewählte Reden und Aufsätze von Edgar Bonjour, Bd. 4, Basel 1976, S. 21. 118
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mann löschen helffe“.123 Auch dieser Appell des aus Zürich entliehenen Prädikanten Johannes Haller an Heinrich Bullinger angesichts der Nöte seiner neuen Gemeinde Augsburg im Schmalkaldischen Krieg kommt ohne explizite religiöse Begründung aus: „Ermahne die Deinen, daß sie nicht ruhig zu Hause sitzen“, wenn „das Haus des Nachbarn brennt“.124 Wertet eine Flugschrift von 1615 deutlicher, oder koppelt sie unreflektiert heftige moralische Entrüstung mit dem Unklugheitstopos? Die schändliche Neutralität einfach so hinzunehmen, meint besagte Publikation, ist „eben als wann die jenige, welche jhre vereinigte in der noth verlassen, nicht vngerechter vnd erger wehren als die Feinde, noch weniger mißhandelten, wann sie sich öffentlich zum Feinde schlügen: Oder der jenige welcher seines Nachbarn Hauß im Brandt siehet, nicht vrsach genvg hette zuerwachen vnd das seine in acht zu nehmen“.125 Unübersehbar religiös aufgeladen ist diese Notierung von 1673: „O GOtt, es muß ein sonderliches Verhängnis von dir, über uns obhanden seyn, sonsten wäre es unmüglich, daß man so Weibisch stillsitzen und des Nächsten Haus ohne Gegenwehr brennen sehen könte.“126 Vollends wurde die Schwelle zur Gleichsetzung „Neutralität ist Sünde“ in dieser Suada einer evangelischen Flugschrift von 1620 überschritten: „Mit was straff meynen wir, daß Gott der Allmächtige die werde heimsuchen, welche das Fewer, so der Bapst vnd sein Anhang in der Christenheit [...] angezündet, außzuleschen sich versaumen werden“?127
III. „Neither for God nor Baal“: Neutralität ist sündhaft Viele Pamphlete zumal des Konfessionellen Zeitalters entlarven Neutralität im Krieg als sündhaft, doch bieten ihre oft schäumenden Suaden nicht so viele Topoi wie die politologischen Abhandlungen zum Thema. Erweisen sich letztere, nacheinander gelesen, durchgehend als Montagen der immergleichen Versatzstücke, griffen theologisch geschulte Pamphletisten in ihrem heiligen Zorn nur gelegentlich auf einige wiederkehrende Bilder zurück − offensichtlich war es für diese Autoren nicht so wichtig wie für die Pioniere der noch avant___________ 123
[Anonym], Kurtzgefaßte Frage (wie Anm. 101). Die hier interessierende Feuermetapher steht im Schreiben Hallers an Bullinger vom 20. Juni 1546; ich erlaubte mir, damit eine ‚Ermahnung‘ im Brief vom 17. Juni zu koppeln. Die damaligen Schreiben Hallers an Bullinger sind voll von vergleichbaren Appellen, noch hoffte Haller auf tatkräftige militärische Unterstützung der Schmalkaldener durch die evangelischen Eidgenossen. Die Briefe Hallers an Bullinger bietet Friedrich Rudolf, Der Zusammenbruch der Zwingli-Kirche in Augsburg, 1546/47, nach Briefen Joh. Haller-Heinr. Bullinger, in: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1944, S. 735, die Zitate: S. 14 bzw. S. 15. 125 [Anonym], Politischer Discurs, Ob sich Franckreich (wie Anm. 19), fol. Bij. 126 [Anonym], Nachdenckliches Gespräch (wie Anm. 83; Erklärung „Feyholds“). 127 [Anonym], Traw, Schaw, Wem (wie Anm. 11), S. 26. 124
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gardistischen Wissenschaft der „Politica“, ihre Vertrautheit mit dem überzeitlich gültigen Exempel- und Zitatenschatz der alteuropäischen Gelehrtenrepublik unter Beweis zu stellen. Hielten es die frühen Politologen offenkundig für wichtig, genauso belesen zu sein wie alle anderen, traditionell römisch- und privatrechtlich arbeitenden Juristen, wollten die Kontroverstheologen ihre Kollegen an heiligem Eifer noch übertreffen. So merkwürdig das bei solchen, einem modernen Publikum ja kaum zumutbaren Ergüssen anmuten mag: Sie sind beim Thema „neutralitet“ durchgehend viel origineller, nacheinander gelesen auch abwechslungsreicher, sprachlich reicher als die frühen politologischen (und übrigens auch die völkerrechtlichen) Äußerungen hierzu. Wenn diese Studie insgesamt weniger Topoi aus dem Sinnbezirk „Neutralität ist sündhaft“ als aus den Umfeldern von Klugheit und Ehre aufbieten kann, belegt das nicht, daß bei gedruckten Ausführungen der ersten beiden neuzeitlichen Jahrhunderte zum Thema Neutralität theologische Erwägungen und Bewertungen selten gewesen wären, das Gegenteil ist richtig.128 Einige religiös aufgeladene Formeln und Bilder wiederholen sich schon. Daß Neutralität „von Christo selbst, höchlich verbotten“ war, „weil niemand zweyen Herren dienen könne“129, faßten nicht nur theologisch studierte Autoren gern ins biblische Bild der Ausspeiung der „Lauen“. Neutrale waren „weder kalt noch warm“130, „neither hot nor cold“.131 Man mußte solche „weder Kalte noch warme Freunde“132 meiden. Der kurbrandenburgische Rat Nikolaus von Langenberg weist in einem durchaus tagesaktuellen Fragen (nämlich dem wiederholt die Schwelle zum internationalen Krieg streifenden Erbschaftsstreit um die niederrheinischen Herzogtümer Jülich und Kleve) gewidmeten „Discvrs“ die Verfechter der „Neutralitet“ so in die Schranken: „Möchte ihnen dasjenig vorgeworffen werden, was auß dem Befelch und Geist Gottes von dem heiligen Johanne an den Bischoff der Kirchen zu Laodicea mit diesen Worten zugeschrieben: ‚Ich weiß deine Werck, dann du weder kalt noch warm bist; ach, daß du kalt oder warm werest; weil du aber law bist unnd weder kalt noch warm, werde ich dich anfangen außzuwerffen auß meinem Munde.‘“133 Der moderne, nicht mehr so bibelfeste Leser könnte davon in die Irre geführt werden, denn in ___________ 128
Vgl. schon oben Anm. 9. [Anonym], Magna Horologii Campana, Tripartita (wie Anm. 81), S. 65; Anlehnung an Matthäus 6,24 und Lukas 61,13 (wo es freilich nicht um Kriege, sondern um eine materialistische Lebenseinstellung geht, um die Antithese Gott-Mammon). 130 „Neutrales, Beydenhänder, weder kalt noch warm“ − diese Synonyma bietet Eder (wie Anm. 111), S. 167. Es gilt im Konfessionskrieg „nicht Law zu sein, sondern entweder kalt oder warm“: Wild (wie Anm. 52), fol. Eij. 131 [Anonym], Neutrality condemned (wie Anm. 87), S. 4. 132 „So da eines warmen Badts, die erkalte Christliche Liebe, zuerwärmen bedürfftig“: [pseudonym], Nebelkap (wie Anm. 84), S. 9. 133 Langenberg, Discvrs (wie Anm. 32), S. 54. 129
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den Johannes-Briefen findet er das Zitat nicht.134 Auf die Sprünge hilft ihm diese Information: Als im neutralen Zürich 1631 Stimmen laut wurden, die den Anschluß an Gustav Adolf von Schweden befürworteten, hielt Antistes Breitinger demonstrativ eine Synodalpredigt „über den Text der Apokalypse ‚Weil du lau bist und weder kalt noch warm, so will ich dich usspeien us minem mund‘“.135 Um nach politiknaher Publizistik und nicht nur erbaulicher Predigt noch ein gelehrtes Beispiel zu geben: Die „de neutralitate“ handelnde Dissertation Georg Schröders von 1659 weiß, daß „et ipsi Deo media via displiciat; juxta illud: Utinam frigidus vel calidus esses, cum autem, tepidus sis evomam te“.136 Ein ansonsten bar jeglichen theologischen Gehalts daherkommendes „Gespräch über das Interesse Deß Englischen Staats“ von 1674 wettert unvermittelt, inmitten der üblichen gleichsam politologischen Bedenken gegen Neutralität137: „Der schändlichste Nahme, welchen die Heilige Schrifft einem Menschen gibt, ist, wann sie sagt: Er sey weder kalt noch warm.“ Derartige „Laulichkeit“ schändete vor Gott und den Menschen, wie noch eine Flugschrift von 1756 weiß.138 „Weiln dann ein so hohe gefahr darauff stehen thut, daß der Allerhöchste die, so weder kalt noch warm sind, außzuspeyen betrawet, solten billich die jenigen, denen es biß dahero entweder an dapfferer Erklärung, oder uff den willen, das Reich Jhesu Christi zubefürdern gemangelt, eine von beyden Partheyen erwehlen“139: Weil dem Neutralen Tapferkeit oder überhaupt jeglicher guter Wille abging, war er nicht gottgefällig. Man konnte die kalt-warm-Antithese der Johannes-Apokalypse mit einer anderen, in den synoptischen Evangelien begegnenden140 koppeln. Um es mit einer Flugschrift von 1632 zu sagen: Es gab schon deshalb nichts „bösers“ als die Neutralität, weil „die Göttliche Schrifft klärlich erweiset, daß Gott die laulichen, das ist, die Neutralisten, darumb daß sie nicht kalt noch warm, außspeyen ___________ 134
Sondern in jenen ersten Passagen der „Apokalypse des Johannes“, in denen der Erzähler göttliche Befehle für sieben an asiatische Christengemeinden zu schreibende Briefe erhält, speziell ist der zitierte Satz der Gemeinde von Laodizea ins Stammbuch zu schreiben: Apokalypse 3,15 f. 135 Edgar Bonjour, Geschichte der schweizerischen Neutralität. Vier Jahrhunderte eidgenössischer Außenpolitik, Bd. 1, Basel 1965, S. 25. 136 Schröder (wie Anm. 20), Abschnitt Nr. 21. 137 Ich will nur die beiden meinem Zitat folgenden Sätze anfügen: „Verständige und kluge Leute, denen die Staats-Sachen bekannt seynd, haben dieße Grund-Regtl [sic], als sehr gefährlich, jederzeit geflohen. Der Mittelweg, oder die Mittelstrasse machet keine Freunde, und befreyet nicht von Feynden“: [anonym], Gespräch über das Interesse (wie Anm. 22), S. 325 f. 138 [Anonym], Gründlicher Beweis daß eine Neutralität der Stände des Reichs in gegenwärtigen Umständen nicht statt haben könne, o. O. o. J. [wohl 1756]. 139 [Anonym], Anderer jüngstgehaltener Discurß (wie Anm. 110), S. 25. 140 „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich, und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut“: Matthäus 12,30 und Lukas 11,23; vgl. Markus 9,40.
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thüe: vnd der Herr Christus mit hellen deutlichen worten solche für seine feinde helt, in dem er sagt; Wer nicht mit jhm sey, der sey wider jhn: vnd der nicht mit jhm samle, der zerstrewe“.141 Das einzige Bibelzitat in Lehmanns Sentenzensammlung zur Neutralität lautet: „Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich, sagt der Herr.“142 Georg Maior brachte das Zitat 1562 auf Latein „contra Neutrales“ in Stellung: „Qui non est mecum, contra me est.“143 „Der HErr Christus verwirfft die Neutralitet vnd Cunctation144 [...] außdrücklichen, in dem er spricht: Wer nicht mit Mir ist, der ist wider Mich“. Das Bibelzitat eigentümlich in Klugheitskalküle einbettend, unter eigentümlicher Berufung auf das Erfahrungswissen der „Politici“ schreibt Nikolaus von Langenberg: „Und ob sie wol die Neutralitet gnaw zu obse[r]virn sich befleissigen, so werde es doch anderst verstanden und könen schwerlich so behutsam sich anstellen, daß nit bey einer der widerwärtigen Partheyen in Verdacht und Argwohn gerahten, und wird hierzu die Sententz Christi von den Politicis angezogen, da er sagt: Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich, wer nicht mit mir samblet, der zerstrewet.“145 Das also trug ein Politikprofi in die Druckerei; das mündliche Plädoyer eines in seiner Zeit berühmten Publizisten, des Reichsfreiherrn Franz Paul von Lisola, ist so in den Akten festgehalten: Der Kaiser verdiene im Holländischen Krieg „beystandt“, „qua declaratione imperij“ könne er „billig dene reichstanden sagen qui non est mecum contra me est“.146 Es mag heute erstaunen, wie theologisch durchtränkt Diskurse sein konnten, mit denen „von den Politicis“147 vor Neutralität gewarnt wurde. In einem Brief an Heinrich Bullinger (immerhin einen Theologen) warb der bernische Diplomat Hartmann von Hallwil im September 1546 wie folgt für Parteinahme im Schmalkaldischen Krieg: „Unser lawer sinn“ werde sonst die „straff Gottes“ ___________ 141
[Anonym], Gespräche und Discursen (wie Anm. 10), fol. 12. Lehmann (wie Anm. 34), s. v. neutral, Sentenz Nr. 12. 143 Georg Maior, Prima pars Homeliarum in Evangelia dominicalia, a prima Dominica adventus domini, usque ad Dominicam primam post Epiphaniam Domini, in: Tertius Tomus operum Reverendi Viri D. Georgii Maioris, continens Homelias in Evangelia Dominicalia et dies Festos, Ausgabe Wittenberg 1570 (zuerst 1562), fol. 179; die Marginalie am Rand verdeutlicht: „Contra neutrales“. 144 „Neutralitet vnd Cunctation“, „cunctation vnd neutralitet“, „neutralisiren oder cunctiren“: Es begegnet bei Wild (wie Anm. 52) fast durchgehend als Doppelformel. Das obige Zitat: fol. Eij. 145 Langenberg, Discvrs (wie Anm. 32), S. 54. 146 Bericht des neuburgischen Vizekanzlers Theodor Heinrich Altet von Stratman über ein Gespräch mit Lisola in Köln, 1673, Okt. 26 (Or.), Bayerisches Hauptstaatsarchiv Kasten blau 7/22 (unfol.). 147 Es bleibt unklar, ob Langenberg hier, modern formuliert, praktisch tätige Politprofis oder aber politikwissenschaftliche Autoren meint. Letztere versuchten eigentlich, weitgehend ohne „Sententz[en] Christi“ auszukommen. 142
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provozieren.148 Ein enger Vertrauter, der Basler Oswald Myconius, schrieb Bullinger damals übrigens, unter Bezug auf den Thurgau und das (von kaiserlichen Truppen okkupierte) Konstanz: „Mit der Hilfe Gottes hättet Ihr sie schützen können gegen diese Teufel.“149 Gustav Adolf warf im Juni 1630 einem kurbrandenburgischen Emissär das an den Kopf: „Wenn ich an die Grenze komme, so muß Sie“, der Kurfürst, „kalt oder warm sich erklären. Hier streitet Gott und der Teufel“.150 Natürlich, darauf lief theologisch begründete Kritik an der Neutralität ja hinaus: Wer nicht kalt und nicht warm war, konnte sich nicht zwischen Gott und Teufel, zwischen „Tyranno diabolo“ und „Christo in coelo“151 entscheiden, „neither for God nor Baal“152 optieren. Neutrale waren solche, die es „so zu reden, mit Gott, vnd mit dem Teuffel, mit dem Himmel vnnd mit der Helle, mit dem ewigen Leben vnd ewigen Todt zugleich halten“153, die „jhre thorhaffte Hoffnung zugleich vff dem Antichrist vnd Christum setzen“.154 Was für eine Versündigung an diesem und am eigentlichen Leben, wenn man bedachte, daß „Gott dergleichen Neutralitet zwischen dero Christlichen Kirchen, vnd dem Antichrist, das ist zwischen GOTT vnd dem Teuffel höher hasset vnd anfeindet, als einem rechten pur lautern Abfall zum Teuffel“155! Denn „welcher nur halb vnsers Herr Gotts seyn will, der ist gar des Teuffels“.156 „Wie lange hincket jhr vff beyden Seiten? Ist der HErr Gott, so wandelt jhm nach: Ists aber Baal, so wandelt jhme nach.“157 „If the LORD be God, follow him; but if Baal, then follow him.“158
___________ 148 Aus dem Schreiben vom 26. September 1546 zitiert Max Niehans, Heinrich Bullinger als Neutraler im Schmalkaldischen Krieg von 1546/47, in: Zwingliana 8 (19441948), S. 251. 149 Zit. ebd., S. 252. 150 Zit. nach Karl Gustav Helbig, Gustav Adolf und die Kurfürsten von Sachsen und Brandenburg 1630-1632, Leipzig 1854, S. 14. 151 Maior (wie Anm. 143), fol. 179. 152 [Anonym], Neutrality condemned (wie Anm. 87), S. 4. 153 [Anonym], Magna Horologii Campana, Tripartita (wie Anm. 81), S. 67. 154 [Anonym], Postilion (wie Anm. 25), Abschnitt Nr. 121. 155 Ebd. 156 [Anonym], Continuatio der Newen Zeitungen (wie Anm. 37), s. v. „Auß der Neutralitet“. Nur orthographisch abweichend [anonym], Nova nova antiqua continuationis (wie Anm. 58), S. 390. 157 [Anonym], Postilion (wie Anm. 25), Abschnitt Nr. 122. 158 „E. W.“ (zweifelsohne Edward Wetenhall), A Sermon against Neutrality ... Preached at the Visitation of the Reverend, Doctour Cary ... at St. Marie´s Exon, on Friday in Easter-Week. 1663, London 1663, Motto des Büchleins.
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IV. Neutralitätskritik und vormoderne Bellizität Die Topoi-Revue dieser Studie weist uns auf einige Spannungsverhältnisse hin, die dafür verantwortlich sein könnten, daß sich das an der Schwelle zur Neuzeit schon durchaus geläufige politische Konzept der „neutralité“ oder „neutralitet“ so langsam nur zur allseits anerkannten159 Rechtsfigur verdichten wird. Beispielsweise stand die Denkfigur Neutralität in einem Spannungsverhältnis zur jahrhundertelang maßgeblichen abendländischen Kriegsdoktrin, der Lehre vom Bellum iustum, und sie vertrug sich nicht mit ihrer im Konfessionellen Zeitalter grassierenden Zuspitzung auf das Bellum necessarium, den Holy war.160 Entweder war für die Pamphletistik des Konfessionellen Zeitalters ein Krieg gerecht − dann hatte sich jeder Christ daran zu beteiligen; oder, er war ungerecht − dann war es verdammte Pflicht und Schuldigkeit, dem Aggressor die Stirn zu bieten, „tertium non dabitur“161. Wer sich heraushielt, stahl sich davon. Es „gebür[t]e keinem wahren Christen in Gottes, seines höchsten Herrn, sach, Neutral zu seyn“.162 Neutralität rieb sich sodann an den tradierten, kriegsaffinen Ehrbegriffen der politischen Letztentscheider, nämlich des europäischen Hochadels, und sie paßte schlecht zum antiken Zitatenschatz, der die Ausführungen der europäischen Gelehrtenwelt über Krieg und Frieden speiste. Auch deshalb (und eben weil es kein Neutralitätsrecht, somit kein abrufbares Recht auf Neutralität gab) stießen Neutralitätsbekundungen in der Regel auf „despekt“ − der Neutrale war dem Anfangsverdacht moralischer Minderwertigkeit ausgesetzt, wer seine Schutzbedürfnisse mißachtete, brachte keinesfalls Europas öffentliche Meinung gegen sich auf. Aus diesen Gründen waren wiederum frühe politologische Arbeiten in aller Regel der Ansicht, sich für neutral zu erklären, sei unklug. Der Neutrale, ein ehrloser sündhafter Tor − wer sich aus Kriegen neutral heraushalten wollte, handelte gegen Seelenheil, Herz und ___________ 159 Jedenfalls auf dem Papier! Schon am Ende jenes Jahrhunderts, das an den Schreibtischen der Juristen die Völkerrechtsfigur der Neutralität hervorbrachte, wird es unter Napoleon schlimme praktische Rückfälle geben. Hegemoniale Staatenkonstellationen vertragen sich generell wenig mit der Neutralität − aber das muß diese dem vormodernen Neutralitätsdiskurs gewidmete Studie nicht näher interessieren. 160 Ich kann diese Resakralisierung des Kriegsbegriffs im Konfessionellen Zeitalter unter Rückgriff auf den Jahwe-Krieg mancher alttestamentarischer Bücher hier nur behaupten, nicht aufzeigen. Auch die meines Erachtens spannende Frage, oder das Bellum iustum nicht untergründig schon immer, beispielsweise auch beim Aquinaten, dazu tendierte, zum Bellum necessarium zu mutieren, kann ich hier nur anmerkungsweise aufwerfen. Vgl. Anm. 12. 161 „Hier streitet Gott und der Teufel. Will Sr. Lbd. es mit Gott halten, wohl, so trete Sie zu mir; will Sie es aber lieber mit dem Teufel halten, so muß Sie fürwahr mit mir fechten, tertium non dabitur, das seid gewiß“: wie Anm. 150. 162 So zitiert Julius Wilhelm Zincgref, Der Teutschen Scharpfsinnige Kluge Sprüch, Apophthegmata genant, Bd. 1, Straßburg 1628, S. 298 Peter de Brederode, einen holländischen Spitzendiplomaten des ersten Jahrhundertfünftels.
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Verstand. Was das für die eminente Bellizität der Frühen Neuzeit bedeutet hat, kann an dieser Stelle nicht ausgelotet werden.
Humanismus, Reise und Politik Der Nürnberger Arzt Hieronymus Münzer bei europäischen Herrschern am Ende des 15. Jahrhunderts Von Klaus Herbers, Erlangen
I. Am 11. April 1495, der Vigil des Palmsonntags, kam der Nürnberger Gelehrte und Arzt Hieronymus Münzer nach Worms, wo er den Rex Romanorum Maximilian mit zahlreichen Fürsten, Bischöfen, Prälaten, Rittern und Vertretern der Städte vorfand.1 Hieronymus Münzer war über ein Jahr zuvor von Nürnberg aus zu einer Reise aufgebrochen, um der Pest zu entfliehen und um sich in Westeuropa genauer umzusehen. In seinem Reisebericht vermerkt er nicht nur exakte Entfernungen und Wegstrecken, sondern genau, was er wahrnehmen konnte, wen er traf, was ihm besonders auffiel; kurzum: Der Text ist auch eine Fundgrube für kulturgeschichtliche und weitere Studien.2 ___________ 1
„Nona Aprilis mane Maguntiam exeuntes super littora per opidum insigne Oppenhaim, tandem ad antiquissimum Vangionum emporium venimus, hodie vulgo Wurms dictum. Et erat vigilia palmarum, ubi invenimus regem Romanorum Maximilianum cum multis principibus, episcopis, prelatis, militibus et imperialium urbium conventibus, qui illuc ad pacandum discordias Germanie convolarunt“, der Text des Itinerarium wird hier nach der Münchener Hs. Clm 431 geboten (vgl. die nächste Anm.), die Passage findet sich auf fol. 272r. – Zur Korrektur des Datums schon Ernst Philipp Goldschmidt, Hieronymus Münzer und seine Bibliothek (Studies of the Warburg Institute 4), London 1938, S. 96 f. – Für eine kritische Durchsicht und Anregungen danke ich herzlich Dr. Matthias Maser (Erlangen). 2 Entsprechend ist der Titel gehalten: „Itinerarium sive peregrinatio excellentissimi viri artium ac utriusque medicine doctoris Hieronimi Monetarii de Feltkirchen civis NĤrembergensis“ (im folgenden kurz „Itinerarium“). – Die im folgenden eingefügten deutschen Zitate sind eigene Übersetzungen des lateinischen Textes von Hieronymus Münzer, zu dem in einem Erlanger Projekt eine Neuausgabe samt Kommentierung vorbereitet wird. Die lateinischen Zitate folgen dieser Edition nach der Handschrift der Münchener Staatsbibliothek Clm 431 mit Angabe des jeweiligen Folios. Der Text ist bisher nur teilweise und in unterschiedlicher Qualität verfügbar, vgl. die beiden bisher wichtigsten Transkriptionen bzw. (Teil-)Editionen: Ludwig Pfandl (Hg.), Itinerarium Hispanicum Hieronymi Monetarii 1494-1495, in: Revue Hispanique 48 (1920), S. 1-179; Ernst Phi-
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In Worms war vom 18. März bis zum 13. August 1495 ein wichtiger Reichstag versammelt.3 Ob Hieronymus Münzer den Kaiser in Worms selbst sprechen konnte, ist fraglich, denn die Formulierungen des Berichtes deuten eher darauf hin, daß er den König nur anläßlich der Palmprozession sah.4 Danach sei er vom Wormser Bischof Johannes von Dalberg eingeladen worden, den er als einen ausgesprochen gebildeten Humanisten charakterisiert.5 Warum aber nimmt Münzer, der von Köln aus rheinaufwärts reiste und der von Frankfurt leichter zum Ausgangspunkt seiner Reise, Nürnberg, nach Osten abgebogen wäre, den Umweg über Worms in Kauf? Hatte man ihm zuvor von dem Reichstag erzählt oder besaß er Neuigkeiten, die er Maximilian oder einschlägigen Personen am Hofe mitteilen wollte? War seine ausführliche Reise auch politisch motiviert, so daß der Umweg bewußt gewählt worden sein könnte?
___________ lipp Goldschmidt, Le voyage de Hieronimus Monetarius à travers la France, in: Humanisme et Renaissance 6 (1939), S. 55-75, S. 198-200, S. 324-348, S. 529-539. – Mit einer Analyse der verschiedenen Nürnberger Kontaktfelder auf der Iberischen Halbinsel habe ich den Text des Hieronymus Münzer mit weiteren Literaturhinweisen in einer vom Jubilar veranstalteten Ringvorlesung vorgestellt: Klaus Herbers, „Murcia ist so groß wie Nürnberg“ – Nürnberg und Nürnberger auf der Iberischen Halbinsel: Eindrükke und Wechselbeziehungen, in: Helmut Neuhaus (Hg.), Nürnberg – europäische Stadt in Mittelalter und Neuzeit (Nürnberger Forschungen 29), Neustadt an der Aisch 2000, S. 151-183; Ders., Die ‚ganze‘ Hispania: der Nürnberger Hieronymus Münzer unterwegs – seine Ziele und Wahrnehmung auf der Iberischen Halbinsel (1494-1495), in: Rainer Babel/Werner Paravicini (Hg.), Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert (Beihefte der Francia 60), Ostfildern 2005, S. 293-308. Vgl. dort wie in dem zuletzt zitierten Sammelband weitere Literaturhinweise, die deshalb im folgenden bewußt knapp gehalten werden. Allgemein zu Reisen des späten Mittelalters Folker Reichert, Erfahrung der Welt. Reisen und Kulturbegegnung im späten Mittelalter, Stuttgart 2001, mit reicher Literatur. Eine eingehende begleitende Studie (mit verschiedenen Einzelbeiträgen) zur Reise des Hieronymus Münzer bleibt der angekündigten Neuausgabe vorbehalten. 3 Klaus Herbers/Helmut Neuhaus, Das Heilige Römische Reich. Schauplätze einer tausendjährigen Geschichte (843-1806), Köln/Weimar/Wien 2005, S. 189-191; vgl. Heinz Angermeier (Bearb.), Deutsche Reichtstagsakten unter Maximilian I. Fünfter Band, Reichtstag von Worms Band I, Teil 1-2 und 2, Göttingen 1981. 4 „Mane autem facta nobili et splendida processione cum palmis et aliis sequente rege cum omni milicia et populo adventicio catholicas et preclaras ceremonias vidimus“, Clm 431, fol. 272r. Diese vage Formulierung unterstreicht die obige Vermutung, denn zu den Herrschern Portugals und Spaniens wird wesentlich expliziter das persönliche Treffen eingebracht, wie die weiteren Anmerkungen verdeutlichen können. 5 „Invitatus autem a domino Johanne Talburgio, pro tunc episcopali sedi presidente, viro tum Latinis, tum Grecis litteris doctissimo, et, ut ita dicam, omnium facultatum quasi quodlibetario, multa de Vangionum vetustate, tum agri ubertate locique commoditate mihi narravit“, Clm 431, ibid.
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II. Dazu sei ein nur kurzer Blick auf den Reisenden und seinen Bericht erlaubt. Die ins Blickfeld gerückte Westeuropafahrt des Hieronymus Münzer entzieht sich einer schnellen Einordnung. Der Protagonist gehörte nicht zum Adel, er konnte sich nicht rühmen, als Fürst zu reisen – wie dies der Jubilar einmal für die Frühe Neuzeit hervorragend beschrieben hat.6 Der aus Vorarlberg stammende Hieronymus Münzer hatte in Pavia und Leipzig studiert und war später Arzt in Nürnberg geworden. Seine Reise – so weiß man seit einiger Zeit – hing unter anderem mit seinen kosmographischen und humanistischen Interessen zusammen, die er innerhalb der Nürnberger Sodalität (Humanistengemeinschaft) pflegte. Wie breit sein intellektueller Gesichtskreis war, zeigt seine von der Forschung rekonstruierte Bibliothek.7 Eigene geographische und historische Kompetenz bewies Münzer in Nürnberg mehrfach.8 Vielleicht hatte er aber auch Aufträge Maximilians bei seiner Westeuropareise im Handgepäck, wie immer wieder vermutet worden ist9, schließlich wurde er nicht von ungefähr – auch als nichtfürstlicher Reisender – vom König Portugals und von den Katholischen Königen empfangen. Für diese beiden Empfänge oder Treffen bietet sein Itinerarium relativ ausführliche und dichte Informationen10, die hier kurz vorgestellt seien. So können diese Passagen vielleicht indirekt mögliche Gründe für Münzers Umweg nach Worms erhellen, wenn man beachtet, wie er auf der Iberischen Halbinsel Zugang zu den Herrschern erhielt, welche Themenbereiche bei seinen Gesprächen und Sondierungen in Évora und Madrid dominierten, und wie deshalb Münzers Verhältnis zu den großen „politischen Fragen“ der Zeit aufgrund des Itinerarium angemessen beschrieben und eingeordnet werden kann. Zugleich ergeben sich Überlegungen dazu, wie Münzer an die ___________ 6 Vgl. Helmut Neuhaus, Wenn Fürsten reisen. Die Frankreich- und Italien-Reisen der Markgräfin Wilhelmine von Brandenburg-Bayreuth in den Jahren 1754/55, in: Archiv für Kulturgeschichte 84 (2002), S. 347-378. 7 Sichtung von Leben und Werk bei Goldschmidt (wie Anm. 1), S. 13-104, zur Bibliothek S. 116-145 (mit knapp 200 Titeln); wichtige Präzisierungen und Ergänzungen zur Person künftig von Randall Herz im Begleitband zu der in Anm. 2 angekündigten Neuedition. 8 Bei seinen Korrekturen zu „Europa“ an der Schedelschen Chronik sowie bei der Schedelschen Karte von Deutschland, vgl. Goldschmidt (wie Anm. 1), S. 50-53; sowie Elisabeth Rücker, Nürnberger Frühhumanisten und ihre Beschäftigung mit Geographie. Zur Frage einer Mitarbeit von Hieronymus Münzer und Conrad Celtis am Text der Schedelschen Weltchronik, in: Johannes Rudolf Schmitz u. a. (Hg.), Humanismus und Naturwissenschaft (Beiträge zur Humanismusforschung 6), Boppard 1980, S. 181-192, bes. S. 188-192 und Herbers, Murcia (wie Anm. 2), S. 178 f. mit Anm. 90. 9 Einige Überlegungen hierzu bei Herbers, Murcia (wie Anm. 2), S. 174 f. 10 Ausgangspunkt der Überlegungen sind die meist paraphrasierenden Bemerkungen von Goldschmidt (wie Anm. 1), S. 86-90, vgl. S. 90-92 zu den Audienzen in Navarra und Frankreich.
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diversen politischen Informationen gelangte, die auf der Grundlage des schriftlichen Reiseberichtes diskutiert werden müssen.
III. In Portugal traf Münzer den König schon kurz nach Überschreiten der Grenze in Évora im November 1494. Das Itinerarium charakterisiert Johann II. als einen humanistischen und an der Wissenschaft Anteil nehmenden Herrscher, dessen vielseitige Kenntnisse und Interessen Münzer offensichtlich stark beeindruckten. „Der König Johannes II. ist ein sehr menschlicher Herrscher und in allem sehr weise. Er regiert sein Reich in Frieden und in Ruhe, ist äußerst leutselig und ein tiefer Erforscher vieler Dinge. Wer immer zu ihm kommt und sich an Dingen des Krieges, der Schiffahrt oder anderen Wissenschaften interessiert zeigt, den hört er mit Ruhe an, läßt Beweise und Darbietungen machen, und wenn er diesen für wahrhaftig und tauglich hält, gibt er ihm alles. Er hat auch eine große Gabe, durch Handel und andere Dinge Reichtümer zu erlangen. Er schickt Wolltuche verschiedener Farbe nach Genua, ähnlich wie die Teppiche in Tunis gemacht werden. Ebenso handelt er mit Wurfspießen, Pferden und verschiedenen Handelswaren aus Nürnberg […], mit roten Tüchern, mit Stoffen aus England und Irland und unzähligen anderen Dingen. Ihm werden Gold, Sklaven, Pfeffer, Paradieskörner, Elefantenzähne ohne Zahl und weiteres herbeigebracht.“11 Die Passage verdeutlicht nicht nur den Respekt, sondern auch das gemeinsame Interesse des Herrschers und Münzers an den Ergebnissen der Europäischen Expansion sowie am breitgefächerten Handel Portugals. Daß Münzer sogar Handelswaren aus Nürnberg erwähnt, mag seine Verankerung in der Handelsmetropole an der Pegnitz unterstreichen. Später, in Lissabon, sollte er im Haus des Schwiegervaters von Martin Behaim logieren.12 In dieser Stadt konnte ___________ 11
„Rex autem Iohannes 2. homo humanissimus est et in omnibus sagacissimus, qui regnum suum cum pace et tranquillitate gubernat. Et affabilis est valde et multarum rerum magnus inquisitor. Quicumque eum accedit et se in bellicis, navalibus aliisque scienciis iactat, diligenter audit, probas et monstras facit fieri et, si veridicum et valentem invenit, omnes donat. Habet etiam maxima ingenia acquirendi divicias cum mercibus et aliis. Mittit in Genneam pannos de lana varii coloris ut tapetes, qui fiunt in Tunnis. Item telam, equos, varias merces ex Nuremberga, caldaria multa cuprea, pelves auricalceas, pannum rubeum, flavum, pallia ex Anglia et Irlandia et infinita alia. Apportatur ei aurum, schlavi, piper, grana paradisi, dentes elefantorum sine numero etc.“, Clm 431 fol. 163r. 12 „Erat autem nobis hospicium in maxima et preclara domo regis, in habitacione soceri domini Martini Bohemi, dominus Iodocus de Hurder dictus, de Brugis, homo nobilis et capitaneus insule Fayal et de Pico“, Clm 431 fol. 167v-168r. Gemeint ist Josse oder Jodocus van Hurtere, in flämischer Form: Josse van Huerten (Huerter, ein Sohn Le-
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Münzer sich dann ein weiteres Bild davon machen, wie sehr die neuen Entwicklungen der europäischen Expansion am Schiffsverkehr ablesbar waren. Informationen über neue Fahrten hat er vielleicht auf seiner Reise gesammelt.13 Die Passage zu König Johann II. von Portugal läßt aber auch erkennen, wie sehr ihn nicht nur das wirtschaftliche Engagement des Herrschers, sondern auch der humanistische Hof beeindruckte. Der Erzieher des Königssohns, Johannes Cataldus, der aus Sizilien stammte und in Paris studiert hatte, verschaffte Hieronymus Münzer offensichtlich Zugang. Der König rief Münzer mehrfach an seinen Tisch, und der Nürnberger Arzt Münzer würdigt die Erziehung Georgs, des königlichen Bastardsohnes durch Cataldus ausdrücklich. Angesichts des Gesundheitszustandes des Thronfolgers wünscht Münzer Georg die königliche Herrschaft und rühmt vor allem dessen Bildung: „Der junge Heranwachsende ist humanistisch gebildet für sein Alter und kennt Horaz, Virgil und andere Dichter. Er kann sogar selbst Verse zusammenstellen.“14 Bekanntlich folgte Georg dem kränkelnden König Johann II. 1495 nicht, aber die Perspektive Münzers, die er hier entwickelt, ist interessant. Für ihn gilt offensichtlich ein gebildeter Herrscher als der richtige Thronfolger.15 Ein zweiter Punkt ist wichtiger, denn die Passage erlaubt die oft nicht mögliche „Gegenprobe“ solcher Berichte, denen häufig große literarische Phantasie, jedoch wenig Wert als historische Quelle zugebilligt wird. Diese Behauptung läßt sich immer dann relativieren, wenn Reiseereignisse außerhalb des Berichtes dokumentiert sind16. Im Falle des Cataldus ist dies möglich, denn eine ___________ onhards van Hurtere aus Wynendael; vgl. weitere Angaben in der in Anm. 2 angekündigten Neuedition). 13 Dieses Ziel der Reise ist mehrfach vermutet worden, vgl. einige Aspekte bei Herbers, Murcia (wie Anm. 2), S. 172 f. mit weiterer Literatur. 14 Die gesamte, dem Zitat vorangehende Passage lautet folgendermaßen: „Habet etiam filium unum bastardum, dominum Georium, adolescentem de 13 annis, adeo ingeniosum, adeo in recitandis poetis pro etate sua doctum, ut nihil supra. Habet tamen idem Georius doctissimum preceptorem Cataldum Siculum de Parisio, oratorem maximum, qui mihi infinitas humanitates exibuit. Dignus esset hic adolescens regio sceptro propter excellenciam ingenii et morum suorum. Dum iunior esset et preceptori rebellis esset, acrius solito Cataldus eum accessit minis et verberibus fractique in eo mali mores. Nunc publice dicit: ‚Asperitas Cataldi mihi profuit‘. Quid plura? Humanissimus adolescens est et pro etate in Horatio, Virgilio et aliis edoctus. Callebat etiam in componendis versibus“, Clm 431, fol. 163v-164r. 15 Bekanntlich erschwerte in der Folge die Herrschaft Manuels I. (1495-1521) mit den monopolistischen Tendenzen die Präsenz der Nürnberger und anderer Händler in Lissabon. 16 Vgl. zu einigen Ergebnissen z. B. Werner Paravicini, Georg von Ehingens Reise vollendet, in: Guerre, pouvoir et noblesse au Moyen Âge. Mélanges en l’honneur de Philippe Contamine, testes réunis par Jacques Paviot/Jacques Verger, Paris 2000, S. 547-588 und als weiteres Beispiel unter Berücksichtigung der Ergebnisse von Werner Göttler und Roser Salicru i Lluch: Volker Honemann, Ein Augsburger Patrizier auf dem
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Durchsicht seiner Werke hat ergeben, daß auch der Humanist in Portugal den Besuch des Nürnbergers erwähnt; in zwei Briefen an den Infanten Georg gedenkt der Humanist am portugiesischen Hof der Anwesenheit Münzers.17 Das weitere politische Interesse Münzers unterstreicht der anschließende Bericht, in dem nach den geschilderten Begebenheiten am Hof zahlreiche Bemerkungen zur Judenpolitik, zum Afrikahandel und anderen aktuellen Themen der Zeit im Zusammenhang mit seinem Aufenthalt in Lissabon fallen.18
IV. Nach der Reise über Santiago de Compostela und zahlreiche weitere Orte wie Salamanca, Guadalupe und Toledo gelangte Münzer am 17. Januar nach Madrid, nachdem er zuvor berichtet, daß er den König bereits bei den Exequien eines Kardinals in der Messe gesehen habe. Zu Madrid bietet das Itinerarium den wohl ausführlichsten Bericht über Herrscher und Höfe überhaupt. Zunächst schildert Münzer die politischen Verwicklungen, die der Heirat von Ferdinand und Isabella vorangingen, vor allem über die angebliche Zeugungsunfähigkeit Heinrichs IV. von Kastilien, der in zweiter Ehe mit Johanna von Portugal verheiratet war, und weiterhin die heimliche Hochzeit von dessen Schwester Isabella mit Ferdinand von Aragón 1469.19 Dabei greift der Bericht die Gerüchte auf, die hauptsächlich von den Anhängern der katholischen Könige in Umlauf gesetzt wurden, um die Legitimität der Tochter Heinrichs IV., Juana, zu bestreiten, weil diese eine illegitime Tochter des Herrschers sei. In Wirklichkeit stamme die Tochter Johanna aus der Verbindung der Königin mit dem königlichen Günstling Beltrán de la Cueva, weshalb sie auch später „Juana la Beltraneja“ genannt wurde. Da die Passage doch insgesamt nicht wenige Verwechse___________ Weg nach Santiago. Sebastian Ilsung und seine Reise nach Compostela im Jahre 1446, in: Klaus Herbers/Peter Rückert (Hg.), Augsburger Netzwerke zwischen Mittelalter und Neuzeit. Wirtschaft, Kultur und Pilgerfahrten (Jakobus-Studien 18), Tübingen 2009, S. 147-178, bes. S. 161 mit Anm. 53 und 55. 17 Vgl. die Facsimile-Ausgabe der erstmals am 21. Februar 1500 gedruckten Briefe und Reden: Cataldo Parisio Siculo, Epistolae et Orationes. Edição facsimilada (Acta Universitatis Conimbrigensis), Coimbra 1988; die Erwähnungen von Münzers Besuch in zwei Briefen an den Infanten Georg: Epistolae I, b 2v; I, c 5v in der zitierten FacsimileEdition. 18 Vgl. neben der bisher angegebenen Literatur zur Position Münzers bezüglich der Juden in Spanien und deren Vertreibung: Klaus Herbers, Die Wahrnehmung jüdischer, christlicher und muslimischer Traditionen in den spätmittelalterlichen Reiseberichten (im Druck). 19 Zu den Hintergründen dieser bewegten Jahre vgl. Klaus Herbers, Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 261-263.
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lungen in einzelnen Details aufweist, dürfte Münzer kaum ein schriftlicher Bericht als direkte Vorlage zur Verfügung gestanden haben. Insbesondere scheinen ihn (nur als Mediziner?) die Details über die Zeugungsunfähigkeit Heinrichs IV. zu interessieren. So heißt es: „Er hatte nämlich ein Glied, das krank und klein an der Wurzel, aber groß an der Spitze war, so daß er nicht erigieren konnte. Die Ärzte konstruierten sogar eine goldene Röhre, die sich die Königin in die Gebärmutter einführte, um zu sehen, ob auf diese Art sie den Samen empfangen könnte. Aber auch dies war unmöglich. Auch versuchten sie, den König zu melken, und es kam aus seinem Glied Sperma heraus, aber es war wäßrig und unfruchtbar. Als die Adligen des Reiches dies gewahrten, scharten sie sich um seine Schwester Isabella für den Fall, daß sie ihren Bruder überleben sollte.“20
Nach einigen weiteren Bemerkungen zur Politik, die Münzer – wie er schreibt – der Kürze wegen nur andeutet, folgt der Hauptteil seiner Nachrichten über Madrid. Etwa eine Woche nach Ankunft der Reisegruppe wurde diese am 24. Januar 1495 zum königlichen Hof vorgelassen. In einer Audienz will Münzer König und Königin gesehen und dann auf einem goldenen Kissen kniend eine längere, extemporierte Ansprache, die er „oraciuncula“ nennt, an sie gerichtet haben. Zunächst zollt er in dieser Rede dem Einigungs- und Befriedungswerk der Katholischen Könige höchste Anerkennung. Da viele diese Erfolge nicht haben glauben wollen, sei er „mit der Gunst unseres ehrwürdigsten Königs Maximilian und mit den weiteren Adligen Deutschlands, die auf [seine] Schultern diese Mission gelegt hätten, mit Begleitung aus den äußersten Ecken Deutschlands […] nach Spanien“ gereist, „um mit“ seinen „eigenen Augen das sehen zu können, was [er] vom Hörensagen schon wußte.“21 Dann faßt er seine Reise zusammen und würdigt wichtige Stationen in Ferdinands Ländern und in Portugal. Nach diesen Eindrücken könnten sie schließ___________ 20
„Habuit enim membrum circa radicem debile et parvum, et in culmine et summitate magnum, ita quod arrigere non potuit. Fecerunt medici cannam auream, quam regina in vulvam recepit, an per ipsam semen inicere posset; nequivit tamen. Mulgere item fecerunt feretrum eius, et exivit sperma, sed aquosum et sterile considerantes hoc proceres regni adherebant sorori Elisabeth, si fratrem superviveret“, Clm 431, fol. 197v. Bisher ließ sich keine exakte schriftliche Vorlage für diese Passage ermitteln, obwohl der Kern dieser Geschichte mehrfach belegt ist; vgl. zur Hofhistoriographie im Umfeld der Katholischen Könige insbesondere Saskia von Hoegen, Entwicklung der spanischen Historiographie im ausgehenden Mittelalter. Am Beispiel der Crónicas de los Reyes de Castilla Don Pedro I, Don Enrique II, Don Juan I y Don Enrique III von Pero López de Ayala, der Generaciones y Semblanzas von Fernán Pérez de Guzmán und der Crónica de los Reyes Católicos von Fernando del Pulgar (Hispanische Studien 31), Frankfurt am Main u. a. 2000, zur Darstellung der Thronfolgefragen bei Fernando del Pulgar S. 420-439, zur angeblichen Zeugungsunfähigkeit bes. S. 432 f. 21 „[…] favore serenissimi regis nostri Maximiliani ceterumque procerum Germanie cum mea comitiva hanc provinciam sumens ultimas Germanie fines egressus in Hispanias me recepi, ut, que auditu acceperam, oculis ipsis cernere possem“, Clm 431, fol. 198v.
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lich die „autores tantarum rerum“ kennenlernen. Danach fordert Münzer den Herrscher auf, nach Osten zu ziehen, um das Herrengrab in Jerusalem zu erobern. Nachdem dies mehrfach gescheitert sei, sei nun ein günstiger Moment gekommen. Auch die Deutschen würden einen Beitrag leisten, zum Beispiel könnten die Deutschen und Ungarn die Türken in Schach halten.22 Mit der Bitte um Geleitschreiben endet die ins Itinerarium eingefügte Rede. Eine Antwort war wohl vorgesehen, denn ein Teil des Folio ist frei, aber eine Ausformulierung fehlt. Es folgen zu Madrid noch zwei Abschnitte, einer über das Aussehen von König und Königin und einer über adelige Studenten, darunter auch über den Begründer des spanischen Humanismus, Petrus Martyr, bei dem Münzer zu einer Vorlesung eingeladen wurde. Insbesondere die Königin wird eingehend beschrieben, ihre Judenpolitik, ihr segensreiches Wirken allgemein und ihre Frömmigkeit. Danach kennzeichnet Münzer die vier Töchter und den Sohn eindringlich, auch wenn hier ebenso nicht alle Angaben einer Überprüfung standhalten. Die Passage lautet: „Sie hat vier Töchter. Die erste, Isabella, ist mit Alfons, dem Sohn des Königs von Portugal, verheiratet, der im sieb(en)ten Monat nach den Hochzeitsfeierlichkeiten nach einem Sturz vom Pferd starb, nun ist sie Witwe und widmet sich fromm nur der Herstellung von Schmuck für die Kirchen. Die zweite Tochter mit Namen Johanna ist sehr gelehrt für ihr Alter und für ihr Geschlecht, sie schreibt Prosa und in Versen. Sie ist 14 Jahre alt und widmet sich ausschließlich der Literatur. Ihr Meister, ein Mönch des Predigerordens, schon fortgeschrittenen Alters und ehrwürdig, lobte sie über die Maßen und wollte, daß ich sie reden höre, aber es war mir nicht möglich, länger zu bleiben. Die dritte Tochter, die den Namen Leonore trägt, ist neun Jahre alt und die letzte, Katalina, sieben. Mit der Hilfe von guten Meistern werden sie vor allen Dingen von der Mutter erzogen, und es ist zu hoffen, daß sie in höchstem Maße in allen Tugenden hervorstechen. Der ehrwürdige Johannes ist der einzige Sohn. Er ist 17 Jahre alt, und für sein Alter ist er gut in Latein und ein guter Redner, was Bewunderung hervorruft. Ich hielt ihm eine kurze Rede in Latein, die er mit höchster Aufmerksamkeit und Gefallen verfolgte. Auch merkte ich, daß er mir antworten wollte, aber weil er verwundet war und […] noch nicht leicht reden konnte, gab er mir die Antwort durch seinen Präzeptor und zeigte sich sehr gütig und entgegenkommend in allem.“23
___________ 22 „Almani et Ungari Turcum in finibus suis urgebunt, ne subveniat Saladino“, Clm 431, fol. 200r. 23 „Habet item 4 filias, quarum prima Elizabeth, que nupsit Alphonso, filio regis Portugalie, qui septimo mense post celebratas nupcias ex casu equi obiit; nunc vidua religiosa solis faciendis ornamentis ecclesiarum incumbit. Item filia secunda, cui nomen Iohanna, optima est in soluta oracione et carmine pro etate muliebri. Est 14 annorum; maxime incumbit litteris. Dixit mihi preceptor eius, quidam frater ordinis predicatorum, homo senex et reverendus, multa de laudibus volebatque, ut audirem eam loquentem, sed non poteram tam diu protelare. Tercia filia, cui nomen Leonora, etate 9 annorum, et ultima, Kathelina, de 7 annis ita instituuntur a matre adhibitis bonis preceptoribus, ut sperandum sit eas maximas in omni virtute clarescere. Filius autem unicus, serenissimus
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Von den fünf Kindern werden mithin vor allem Johannes und Johanna ausführlicher vorgestellt, deren Qualitäten auch hier vor allem auf humanistische Bildung und sprachliche Kompetenz bezogen werden.
V. Richten wir den Blick wieder auf das Ende von Münzers Reise und den Reichstag von Worms, ohne auf weitere kurze Hofbesuche des Nürnberger Arztes einzugehen. Warum hat Münzer wohl den freilich nicht zu großen Umweg zu diesem Reichstag in Worms in Kauf genommen? Seine neuen Kenntnisse vom Hof Johanns von Portugal waren dort sicher hochwillkommen, denn schon am 14. Juli 1493 hatte Münzer an König Johann II. von Portugal geschrieben und diesen im Namen des Königs Maximilian zur Umsegelung der Welt aufgefordert, um China zu erreichen; dabei empfahl er Martin Behaim als kundigen Seemann und Begleiter.24 Aber besonders die Ergebnisse seines Empfangs in Madrid dürften in zweifacher Hinsicht aktuell gewesen sein. Wenn ein Anlaß zu Münzers Reise auch auf Aufträge Maximilians zurückgehen sollte, dann sind Münzers Bemerkungen in Madrid zur Rückeroberung des Heiligen Grabes in Jerusalem auch für die Reichsgeschichte wichtig. Wohl kaum aus eigener Kompetenz dürfte Münzer dem spanischen Herrscher dort in Aussicht gestellt haben, daß Deutsche und Ungarn die Türken bei einem solchen Unterfangen schwächen könnten. Gerade in Worms wurden in dieser Zeit nicht nur wichtige Reichsangelegenheiten verhandelt, sondern auch Entscheidungen über den Türkenkreuzzug getrof___________ Iohannes, adolescens de 17 annis, ita Latinum callet et tantus orator est pro etate sua, ut mirum sit. Feci parvam oracionem Latinam ad serenitatem eius, quam diligentissime et cum voluptate audivit. Etiam consideravi, quod ex tempore voluit per se respondere, sed quia blesus est et inferius labrum extensum et linguam suam nondum correxit, ut expedite loquetur, ideo per suum preceptorem responsum dedit et se benivolum et paratissimum ad omnia exibuit“, Clm 431, fol. 201v-202r. 24 Zwischen Münzer und Johann II. bestanden offenbar schon früher Beziehungen, die nach den Kontakten Behaims auch die weiteren „Entdeckungsfahrten“ betroffen haben, vgl. den Brief Münzers an Johann vom 14. Juli 1493, der in Bruchstücken publiziert ist und in portugiesischer Übersetzung als Inkunabeldruck vorliegt. Am einfachsten ist er in deutscher Fassung einsehbar bei Richard Hennig, Terrae incognitae, Bd. 4, Leiden 1939, S. 236-239, das folgende Zitat auf S. 239: „Du sollst [...] auch einen von unsrem König Maximilian abgesandten Landsmann erhalten, Herrn Martin Behaim, der beauftragt worden ist, ganz besonders jenes auszuführen, und viele andere erfahrene Seeleute [...]“¸ vgl. auch Goldschmidt (wie Anm. 1), S. 46-48; weitere Angaben zur Überlieferung der lateinischen und portugiesischen Fassung künftig im Kommentar der in Anm. 2 angekündigten Neuedition.
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fen.25 Hier ließe sich zumindest vermuten, daß die Türkenfrage und deren Behandlung in Worms indirekt von den Eindrücken Münzers in Madrid mit beeinflußt gewesen sein könnten. Ein weiterer Punkt erscheint wichtiger; er betrifft die geschichtsträchtige sogenannte Doppelhochzeit von 1495/96, deren Vorgeschichte erkennen läßt, wie sehr um Einzelheiten gerungen wurde. Spanische, burgundische und Reichsbzw. habsburgische Interessen stießen aufeinander.26 Die burgundischen Vorstellungen waren anfangs ebenso bestimmend wie die Suche Spaniens nach einem Dreibund mit England und Burgund. Hinzu trat das Ringen um Einfluß in Italien. Maximilian blieb in der Heiratsfrage seiner Kinder lange Zeit sehr zögerlich, weil er vor allem einen sicheren und verläßlichen Partner an seiner Seite gegen Frankreich finden wollte. Treibende Kraft für die Hochzeiten blieb so lange Zeit eher Spanien, zumal die Katholischen Könige nach der Eroberung von Granada ihr Interesse verstärkt auf Frankreich und auf europäische Interessen überhaupt richten konnten. Besonders nach dem Einfall Karls VIII. in Italien im Spätsommer 1494 nahm jedoch das Wohlwollen Maximilians I. gegenüber den spanischen Heiratsplänen zu. So äußerte sich Ende Oktober 1494 Petrus Martyr, der auch von Münzer erwähnte Humanist am Hofe der Katholischen Könige, freudig und zufrieden über die bevorstehende Doppelhochzeit, indem er zugleich die Bedeutung der neuentdeckten Gebiete jenseits des Atlantiks hervorhob.27 Am 20. Januar 1495 unterzeichnete Maximilian mit dem spanischen Sondergesandten Francisco de Rojas in Antwerpen einen grundlegenden Vorvertrag.28 Neben den konkreten Abmachungen zum Zeitrahmen, zur ___________ 25
Am 9. August 1495 bewilligten die Stände 50.000 Gulden Hilfe für den Türkenkrieg, vgl. Hermann Wiesflecker u. a. (Bearb.), Ausgewählte Regesten des Kaiserreiches unter Maximilian I. 1493-1519, I, 1, 2, (Regesta Imperii XIV, 1, 1, 2), Wien/Köln 1990, Nr. 2264 und Hermann Wiesflecker, Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit. Band II. Reichsreform und Kaiserpolitik 1493-1500. Entmachtung des Königs im Reich und in Europa, München 1975, S. 240. 26 Vgl. hierzu grundlegend Hermann Wiesflecker, Maximilian I. und die habsburgisch-spanischen Bündnisverträge von 1495/96, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 67 (1959), S. 1-52; die weiteren Ergebnisse der ungedruckten Dissertation von Peter Krendl, König Maximilian I. und Spanien 1477-1505, masch. Diss Graz 1970 (war mir nicht zugänglich) hat Wiesflecker, Maximilian (wie Anm. 25) in seinem Abschnitt zu den spanischen Heirats- und Bündnisverträgen (S. 2743) eingearbeitet, dessen Ergebnissen ich folge. 27 Petrus Martyr (Anglerius), Opus epistolarum […] 1530 (ND: Erich Woldan [Hg.], Petrus martyr de Angleria, Opera. Graz 1966, fol. 34 Nr. 143: „Nos autem impraesentiarum duplices excitamus hymenaeos. Unicum habet Maximilianus Romanorum Rex, marem filium Philippum, unicum et mei reges Ioannem, nubiles uterque filias alterne filiis despondent. Ita vinculo adnectuntur invicem duplici“. Vgl. auch Wiesflecker, Maximilian und Bündnisverträge (wie Anm. 26), S. 13 Anm. 67 (dort irrig Nr. 142). 28 Wiesflecker, Maximilian und Bündnisverträge (wie Anm. 26), Quellenanhang Nr. 1, S. 42-46 (Edition).
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Mitgift und zu anderen Details unterstrich die Präambel die Mehrung der christlichen Religion und die Idee der Christenheit sowie der universalen Aufgaben von König und Kaiser.29 Aber nach weiterem Ringen wurde ein burgundischspanischer Vertrag am 22. März 1495 in Mecheln geschlossen, der am 25. August 1495 in Worms durch einen anderen, für Spanien ungünstigeren Vertrag ersetzt wurde. Spanien suchte weiterhin die Durchführung der Heiratspläne zu beeinflussen und maßgebliche Leute, wie Florian Waldauf zu Waldenstein, erhielten Geschenke sowie Pensionen angeboten.30 Maximilian ratifizierte den Vorvertrag vom 20. Januar 1495 erst am 29. April 1495 und gab schließlich am 10. September 1495 Befehl, die Heiraten durchzuführen. So wurden am 5. November desselben Jahres die beiden Hochzeiten per procuram geschlossen. Für die spanischen Königskinder war Rojas anwesend.31 Erst ein Jahr später trafen die Frischvermählten dann persönlich zusammen. Juana reiste am 21. August 1496 in die Niederlande, wo die schon gültige Prokurationsheirat mit Philipp am 20. Oktober 1496 nochmals in Lierre kirchlich eingesegnet wurde. Entsprechendes erfolgte in der Kathedrale von Burgos am 3. April 1497 mit Juan und Margarete. Erst die jüngere Forschung hat den Blick von den staatstragenden Funktionen solcher Heiraten auch stärker auf die jeweils betroffenen Personen gelenkt. Wie in vielen Fällen hochadeliger Hochzeiten hatten sich auch in diesem Fall die füreinander bestimmten Eheleute vorher nicht gesehen. Es gibt bei genauerer Sichtung zahlreiche Berichte über die sehr unterschiedlichen Überraschungen bei einem ersten Zusammentreffen zweier einander versprochener Eheleute; Brautwerber versuchten zumindest zuweilen, erste Eindrücke für die jeweiligen Partner festzuhalten.32 Vor diesem Hintergrund ist nochmals der Blick auf den Bericht Münzers zu richten. ___________ 29
„[...] pro conservacione et augmento religionis christiane ac pro bono et pace totius christianitatis necnon pro bono conservacione et augmento ac ad perpetuitatem honorum et statuum regnorum domuum patriarum ac dominiorum nostri Romanorum Regis ac Regis et Regine Hispaniarum [...]“, ebda. S. 43. 30 Vgl. Antonio de La Torre, Documentos sobre relaciones internacionales de los Reyes católicos, 6 Bände, Barcelona 1951-1966, Bd. V, Nr. 37, S. 205-209. – Zu Florian Waldauf, der einen maßgeblichen Anteil bei der Vorbereitung der Doppelhochzeit hatte, vgl. künftig die Erlanger Dissertation von René Hurtienne. 31 Zu Prokurationsehe vgl. Edgar Blum, Le mariage par procuration dans l’ancien droit, in: Nouvelle revue historique de droit français et étranger 41 (1917), S. 383-402; der entsprechende Vertrag bei Wiesflecker, Maximilian und Bündnisverträge (wie Anm. 26), Quellenanhang Nr. 3, S. 48-52. 32 Hierzu mit zahlreichen Beispielen Karl-Heinz Spieß, Unterwegs zu einem fremden Ehemann. Brautfahrt und Ehe in europäischen Fürstenhäusern des Spätmittelalters, in: Irene Erfen/Karl-Heinz Spieß (Hg.), Fremdheit und Reisen im Mittelalter, Stuttgart 1997, S. 17-36, zu Brautschau und -werbung vgl. bes. S. 22-26; Ders., Europa heiratet. Kommunikation und Kulturtransfer im Kontext europäischer Königsheiraten des Spät-
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Es fällt zumindest auf, daß die letztlich an beiden Hochzeiten beteiligten spanischen Königskinder in ganz besonderer Weise im Itinerarium hervorgehoben werden: vor allem unterstreicht Münzer ihre humanistische Bildung und ihre Gelehrsamkeit. Sollte einer der Aufträge Münzers auch darin bestanden haben, Braut und Bräutigam kennenzulernen und damit vielleicht einen Eindruck nach Deutschland zu vermitteln? Wir kennen Sondierungen, bei denen sogar Maler ausgesandt wurden, um beispielsweise ein Bild der künftigen Braut zu zeichnen. Münzer bietet ein aus Worten gefertigtes Bild. Er beschreibt die für zwei Habsburger bestimmten Ehepartner, läßt die anderen Kinder der Könige in den Hintergrund treten. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als die Verhandlungen selbst noch in vollem Gange waren, am 20. Januar 1495 kam es zum erwähnten Vorvertrag, am 24. Januar soll Münzer in Madrid geredet haben. Wie in Évora scheint aber auch in Madrid die Welt der Humanisten als Umschlagplatz für Informationen wichtig gewesen zu sein. Nach Bemerkungen Münzers, daß eigentlich das Spanische dem Lateinischen ähnlicher sei als das Italienische (soll hier das künftige Sprachproblem heruntergespielt werden?) nennt Münzer Petrus Martyr. Wie in Portugal Cataldus, so ist es in Madrid dieser Humanist, der eigens genannt wird, zu dessen Vorlesung Münzer sogar eingeladen wurde.33 Dort lernte er auch im Umfeld des Hofes ausgebildete Heranwachsende kennen, wie er bemerkt. Nicht nur die Beschreibung von Juana und Juan, sondern auch Münzers Lob der Erfolge Ferdinands und seiner Bedeutung für die Christenheit trifft sich mit den Worten, mit denen dieser Petrus Martyr im Vorfeld der Doppelhochzeit diese Aussichten pries, ähnliches vermerkt die Präambel zum Vertrag vom 20. Januar 1495.34 Somit könnte zumindest die Vermutung geäußert werden, daß im Ringen um die Doppelhochzeit auch Petrus Martyr den Blick Münzers für die katholischen Könige sowie insbesondere auf zwei ihrer Kinder mitbestimmt hat. Ob Maximilian Aufträge zu Sondierungen gab, ist nicht sicher, jedoch keinesfalls auszu___________ mittelalters, in: Rainer C. Schwinges/Christian Hesse/Peter Moraw (Hg.), Europa im späten Mittelalter. Politik – Gesellschaft – Kultur (Beihefte der Historischen Zeitschrift 40), München 2006, S. 435-464. Vgl. zur Brauteinholung Eleonores von Portugal im Auftrag Friedrichs III. auch: Klaus Herbers, El viaje a Portugal de los embajadores de Federico III. en el relato de Lanckmann y de otros cronistas, in: Anuario de Estudios Medievales 32 (2002), S. 185-196. 33 „Ydeoma Hispanicum propinquius est Latino quam Ytalicum, et Hispanus facile intelligit Latinum. Et ideo non curarunt hactenus Latinum elimatum. Nunc autem eloquencia maxime incipit vigere in proceribus et nobilibus Hispanie, quorum exemplo cives et religiosi incitati omnes huiusmodi humanitatis artibus insudant. […] Erat in Maiorito quidam laureatus et doctissimus poeta, Petrus Martir Mediolanensis, qui in laudes regis egregium opus heroico carmine edidit. Qui inquam poeta plures nobilissimos proceres adolescentes instituit meque ad leccionem suam invitavit“, Clm 431, fol. 203r. 34 Vgl. oben Anm. 27 und Anm. 29.
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schließen. Wie sehr Petrus Martyr die Wahrnehmung des Nürnberger Arztes gelenkt haben könnte, ergibt sich nicht nur aus den inhaltlichen Parallelen ihrer Texte, sondern auch aus den Interessen, die der Humanist am Hofe Ferdinands wohl zugunsten der Heiratspartien seiner Zöglinge vertrat. Münzer selbst scheinen allerdings die Einzelheiten des Ringens verschlossen geblieben zu sein, denn bei seiner späteren Passage über den Besuch in Mecheln (30. April 1495) vermerkt er zwar, welche Mitglieder der königlichen Familie dort anwesend waren, jedoch erwähnt er den dort kurz zuvor am 22. März geschlossenen Heiratsvertrag nicht. Die eingangs zitierten Aufzeichnungen Münzers zu Worms bleiben insgesamt zu vage, um letztlich sicher nachweisen zu können, daß der Nürnberger Arzt und Humanist zu einer Brautschau explizit beauftragt war, aber die Personenbeschreibungen, die er von Juan und Juana in seinem Itinerarium bietet, sind so genau, daß sie vielleicht Maximilian und sein Umfeld auch auf Aussehen, Charakter und Fähigkeiten der künftigen Ehepartner einstimmen sollten. Ob in Worms der als Humanist ausgewiesene Dalberg hierbei eine Rolle als Vermittler der Nachrichten Münzers spielte, ist zumindest vorstellbar, denn die Zugänge zu den hier nur kurz vorgestellten Höfen scheint Münzer mehrfach über die Hofhumanisten hergestellt zu haben, wie die Beispiele im portugiesischen Évora und in Madrid eindrücklich belegen. Nicht nur humanistische Netzwerke, kosmographisches Interesse, Handelsaufträge und anderes läßt der Bericht Münzers zu den wichtigen Jahren 1494-1495 erkennen, sondern auch seine Verankerung in der Zeit und sein Interesse für die großen Fragen der europäischen Politik, die dynastischen Fragen der Katholischen Könige, die Europäische Expansion, die Türkenkriege und die Doppelhochzeit. Dies sind vier wichtige politische Themenfelder, die sein Bericht aus einer Blickrichtung aufgreift, die mehr als nur eine Froschperspektive ist. Wenn auch Aufträge Maximilians nicht eindeutig nachweisbar sind, so zeigen die besprochenen Passagen Münzer nicht nur als Beobachter, sondern zugleich als Akteur. Sie unterstreichen die Rolle der Humanisten als Mediatoren an den Höfen, deren Formulierungen zuweilen – wie im Falle eines Briefes und der Präambel eines Vorvertrags zur Doppelhochzeit – auch im Reisebericht nicht wörtlich, aber sinngemäß aufgegriffen wurden. Wenn also die Akten, um die sich der Jubilar verdient gemacht hat, schon genug an Neuigkeiten für Historiker bereithalten, so mögen Reiseberichte zumindest Hinweise darauf geben, wie Neuigkeiten kursierten und verbreitet wurden, aber auch die Dinge, die am Rande bei Hofe oder auf Reichstagen besprochen und über Mittelsleute weitergegeben werden konnten.
„Imperiale più che ducale“? Der Münchener Hof um 1650
Von Maximilian Lanzinner, Bonn Die Forschung zu den Kaiser-, Königs- und Fürstenhöfen blüht, nicht nur für den Zeitraum der Frühen Neuzeit. Dieses Feld hier auch nur abzustecken, ist weder nötig noch möglich.1 Nach ihren Zielsetzungen lassen sich die Studien grob so unterscheiden, daß zum einen fragen- und theoriegeleitete Untersuchungen vorherrschen, die neues Wissen erschließen, daß aber zum anderen gerade die Hofforschung die Tragfähigkeit von Theoriekonzepten intensiv diskutiert; dies ist immer noch Norbert Elias zu danken, obwohl er zunehmend widerlegt und kritisiert wird. Weil seit mehr als einem Jahrzehnt zum Hof so viel geforscht wird, zeichnen sich auch Wissenslücken deutlich ab. Was Bayern betrifft, findet man vergleichsweise spärliche Informationen, wenn man nach der Geschichte des Hofs im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit fragt. Das geringe Interesse spiegelt sich in den übergreifenden Darstellungen, angefangen bei Sigmund Riezler bis hin zum Handbuch der Bayerischen Geschichte.2 Eine verläßliche Entwicklungsgeschichte des frühneuzeitlichen Münchener Hofs läßt sich aus den bisherigen Forschungen jedenfalls nicht gewinnen.3 ___________ 1 Die Titellisten der „Mitteilungen der Residenzenkommission“ bieten eine Orientierung zu den Neuerscheinungen zum mitteleuropäischen Raum. 2 Sigmund Riezler, Geschichte Baierns, Bd. 6, Gotha 1906 (ND Aalen 1964), S. 5-8 (im Vergleich zu den wenigen Seiten zum Hof in diesem Band: zu Landständen S. 2359, zu Behörden S. 69-99); Dieter Albrecht, Staat und Gesellschaft 1500-1745, in: Max Spindler/Andreas Kraus (Hg.), Handbuch der Bayerischen Geschichte, Bd. 2, München 1988, S. 625-665, hier S. 630 f. (Landstände S. 644-650, Behörden S. 651-655). 3 Am meisten Informationen (aber problematische Wertungen) noch immer bei Eberhard Straub, Repraesentatio Maiestatis oder churbayerische Freudenfeste. Die höfischen Feste in der Münchner Residenz vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (Miscellanea Bavarica Monacensia, Heft 14), München 1969. Allgemeine Bemerkungen bei Samuel John Klingensmith, The Utility of Splendor. Ceremony, Social Life and Architecture at the Court of Bavaria 1600-1800, Chicago/London 1993. Zur Organisation des Hofstaats, vor allem aufgrund der einschlägigen Ordnungen des 16. Jahrhunderts, s. Maria Hermine Dausch, Zur Organisation des Münchner Hofstaats in der Zeit von Albrecht V. bis zu Kurfürst Maximilian I., Phil. Diss. Masch. München 1944; Ferdinand Kramer, Zur Entstehung und Entwicklung von Hofordnungen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Holger Kruse/Werner Paravicini (Hg.), Europäische Hofordnungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Sigmaringen 1998, S. 383-399; Rainer Babel, The
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Fügt man das Vorhandene zusammen, scheinen sich für das 16. und die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts drei Phasen abzuzeichnen, die ich als Adelshof, Renaissancehof und konfessionellen Hof bezeichnen würde. Der vom Landesadel dominierte Hof, wie wir ihn am Beginn der Regierung Herzog Wilhelms IV. (1508-50, München) und Herzog Ludwigs X. (1514-45, Landshut) vorfinden, entwickelte sich zum Renaissancehof, der in der Regierungszeit Herzog Albrechts V. (1550-79, München) voll ausgebildet war. Der Renaissancehof integrierte Elemente der Gestaltung und Repräsentation, die vorwiegend aus Italien kamen und für die Behauptung von Rang und Reputation innerhalb des Reichsfürstenstands im 16. Jahrhundert immer wichtiger wurden: die Schloßbauten im Stil der Renaissance, Sammlungen von Büchern, Antiken, Gemälden, Pretiosen und Kunstgegenständen, die Hofmusik und das Hoftheater im Geist des Humanismus. Zugleich expandierte der Münchener Hof im 16. Jahrhundert nach Zahl und Ämtern. Die Herzöge akzeptierten das Wachstum zunächst, weil es den fürstlichen Rang und Herrschaftsanspruch festigen half. Immer mehr Personen wurden besoldet und verköstigt, was zu bürokratischen und fiskalischen Gegenreaktionen führte. Die bürokratische war: Noch unter Albrecht V. erhielten die Ämter detaillierte Ordnungen im Sinn von Instruktionen, beginnend beim Obersthofmeister, Obersthofmarschall, Hofmeister, Küchenmeister usw., denen jeweils Stäbe untergeordnet wurden. Analog und zeitgleich wurden die Zentralbehörden begründet und mit ebenfalls genauen Dienstanweisungen ausgestattet (Hofrat, Hofkammerrat, Geistlicher Rat, Geheimer Rat; zwischen 1550 ___________ duchy of Bavaria. The Courts of the Wittelsbachs c. 1500–1750, in: John Adamson (Hg.), The princely courts of Europe 1500–1750, London 1999, S. 189–209, S. 330– 331. Sehr nützlich zum 16. Jahrhundert die Studie zum Hof Herzog Wilhelms in Landshut, bevor er selbst die Regierung antrat: Bernd P. Baader, Der bayerische Renaissancehof Herzog Wilhelms V. (1568-1579). Ein Beitrag zur bayerischen und deutschen Kulturgeschichte des 16. Jahrhunderts, Leipzig/Straßburg 1943. Vgl. jetzt auch Sigrid Sangl, Der Renaissancehof unter Erbprinz Wilhelm auf Burg Trausnitz, in: Renate Eikelmann (Hg.), Kunst- und Wunderkammer Burg Trausnitz, München 2007, S. 19-26. Spezifische (meist kunsthistorische) Aspekte zuletzt bei: Henriette Graf, Die Residenz in München. Hofzeremoniell, Innenräume und Möblierung von Kurfürst Maximilian I. bis Kaiser Karl VII., München 2002 (S. 117 zu Lever und Coucher unter Maximilian I.); Henriette Graf, Hofzeremoniell, Raumfolgen und Möblierung der Residenz in München um 1700, in: Peter-Michael Hahn (Hg.), Zeichen und Raum. Ausstattung und höfisches Zeremoniell in den deutschen Schlössern der Frühen Neuzeit (Rudolstädter Forschungen zur Residenzkultur, Bd. 3), Berlin 2006, S. 303-324; Esther Janowitz, Textile Pracht und höfisches Zeremoniell. Der zeremonielle Gebrauch von Prunktextilien am Beispiel der Kaiserzimmer der Münchner Residenz, in: ebda., S. 325-350; Eva-Bettina Krems, Zeremoniell und Raumwahrnehmung. Die Münchner Residenz in drei Beschreibungen des 17. Jahrhunderts, in: ebda., S. 281-301; Ernst Schütz, Die Gesandtschaft Großbritanniens am Immerwährenden Reichstag zu Regensburg und am kur(pfalz-)bayerischen Hof zu München 1683-1806 (Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte, Bd. 154), München 2007.
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und 1582). Die fiskalische Gegenreaktion war: Das Speisen bei Hof wurde am Beginn der Regierungszeit Maximilians I. (1598-1651) abgeschafft und ebenso konsequent das Personal bei Hof verringert. Auch floß in Sammlungen nur noch wenig Geld; gemäß seiner Neigung investierte Maximilian I. bevorzugt in die Gemäldesammlung. Jedoch blieben die Instruktionen für die Hofämter in Kraft. Damit bewahrte der Hof dauerhaft seine bürokratische Grundstruktur; denn die Instruktionen fixierten Hierarchien, Verantwortungsbereiche und Aufgabenfelder, und sie verlangten Qualifikationen und berechenbares Verhalten. Aber kommen wir noch einmal zu den Phasen der Münchener Hofgeschichte. Der Renaissancehof tendierte schon unter Wilhelm V. (1579-98) zum konfessionellen Hof. Die konfessionelle Prägung drückte sich aus im Bau von Kirchen und Andachtsstätten, in der religiös-konfessionell geprägten Kunst, in den konfessionsbezogenen Erwartungen gegenüber den Hofangehörigen, dem Eid auf das Tridentinum, im gemeinsamen Besuch der Messen, Andachten oder Prozessionen. Erst um 1650 trat der Hof in eine andere Entwicklungsphase, in der die konfessionelle Grundhaltung durch zuvor unbekannte, profane Inszenierungen überlagert wurde. Die Formen, das neue Theater, das Ballett oder die Oper, kamen wie der Renaissancehof aus einer anderen Welt: aus der italienisch-romanischen Hofkultur, die mit der jungen Kurfürstin Henriette Adelaide in München Einzug hielt. Diese Übergangsphase zu betrachten und zu analysieren, ist Ziel der folgenden Betrachtung. Gegenstand ist also der Transfer der Hofkultur nach München und die Überformung des Konfessionellen durch eine profane, zunächst fremdartige höfische Inszenierung. Beginnen wir mit der Bühne des Geschehens. Herzog Maximilian I. hatte die Neufeste nach 1600 zur mächtigen Residenz erweitert. Zu dieser Zeit war noch nicht entschieden, ob der Repräsentationsbau nur den reichspolitischen Anspruch des Hauses Bayern signalisieren oder ob er auch den Schauplatz eines ebenso repräsentativen Hoflebens abgeben würde. „Imperiale più che ducale“, kaiserlich mehr als herzoglich, so pries später der Italiener Baldassare Pistorini, Hofbassist in München, die Residenzbauten seines Herrn, sicher auch um zu schmeicheln.4 Jedoch war die Vierflügelanlage in der Tat der größte Neubau dieser Art im Reich. Sie übertrumpfte insbesondere die gleichzeitigen Heidelberger Schloßerweiterungen; dort waren zwischen 1601 und 1615 der Friedrichs- und der Englische Bau entstanden. Ebenso übertraf der Gesamtumfang der Münchener Anlagen (seit etwa 1620) die etwas älteren kursächsischen. Oh___________ 4
Alois Schmid, Maximilian I. von Bayern und Venedig. Zur Hofkultur des Frühabsolutismus, in: Bernd Roeck/Klaus Bergdolt/Andrew John Martin (Hg.), Venedig und Oberdeutschland in der Renaissance. Beziehungen zwischen Kunst und Wirtschaft, Sigmaringen 1993, S. 157-182, hier S. 179. Zitat in: „Descrittione compendiosa“.
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nehin konnte sich die bayerische Residenz im Vergleich mit dem Kaiserhof sehen lassen. Rudolf II. residierte bis zu seinem Tod 1612 auf dem Prager Hradschin, wo er nach 1600 den Saalbau für seine Plastiken errichten ließ, der in Pracht und Größe dem Münchener Antiquarium gleichkam. In Wien jedoch fehlte ein zentrales Gebäude, standen Schweizer Hof, Stallburg und Amalienburg beziehungslos nebeneinander. So drückte die Münchener Residenz auch noch um 1650 das Selbstverständnis einer kurfürstlichen5 und zum Kaisertum befähigten Dynastie aus. Anders als die Residenz sind die großartigen Sammlungen, die Gemälde, darunter die „Vier Apostel“ Dürers, Kunsthandwerk, Schmuck, Gefäße, Andachtsgegenstände, dazu die reich bestückte Bibliothek zu bewerten.6 Der Fürst verbarg sie geradezu. Über die Gründe wurde gerätselt. Zu Recht verwiesen Historiker auf persönliche Vorlieben, die Leidenschaft Maximilians für die Malerei und das Kunsthandwerk, weshalb er die Sammlungen nur für sich beansprucht habe. Auch zeitgenössische Auffassungen spielten hinein. Die Sammlung wurde noch immer verstanden als Schatz des Hauses, weniger als Repräsentationsobjekt. Außerdem darf man nicht vergessen, daß Wertgegenstände regelmäßig verschwanden, selbst wenn sie (obgleich nur selten) hochrangigen Personen gezeigt wurden. So gut wir diese Sammlungen kennen, so wenig wissen wir über das Hofleben in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts.7 Maximilian sparte, aber er verzichtete weder auf Hofämter oder Kämmerer, die zur Hälfte aus dem Ausland kamen, noch auf Empfänge, Bankette und Feste. Die Residenz beherbergte weiterhin Adlige aus dem benachbarten Schwaben, den Niederlanden, Lothringen ___________ 5
Maximilian Lanzinner, 25. Februar 1623. Der Regensburger Deputationstag – Bayern wird Kurfürstentum, in: Alois Schmid/Katharina Weigand (Hg.), Bayern nach Jahr und Tag. 24 Tage aus der bayerischen Geschichte, München 2007, S. 248-262, hier S. 262. 6 Einschlägige Literatur bei Dorothea und Peter Diemer, Das Antiquarium Albrechts V. von Bayern. Schicksale einer fürstlichen Antikensammlung der Spätrenaissance, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 58 (1995), S. 55-104. Siehe besonders die Beiträge und Materialien in: Hubert Glaser (Hg.), Um Glauben und Reich. Kurfürst Maximilian I. (Wittelsbach und Bayern, Bd. II/1 und 2), 2 Bände, München/Zürich 1980; Hubert Glaser (Hg.), Quellen und Studien zur Kunstpolitik der Wittelsbacher vom 16.-18. Jahrhundert, München 1980. 7 Reinhard Heydenreuter, Herzog und Kurfürst Maximilian I. und der Münchener Hof in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in: Johannes Laschinger (Hg.), Der Winterkönig. Königlicher Glanz in Amberg (Vortragsreihe des Stadtarchivs Amberg zur Landesausstellung 2003), Amberg 2004, S. 147-159. Die Studie faßt die bekannten Informationen zur Organisation von Hof und Verwaltung zusammen. Zu den Sammlungen Glaser, Glauben (wie Anm. 6) und Dieter Albrecht, Maximilian I. von Bayern 1573-1651, München 1999, passim (mit Lit.). Das Münchener Hauptstaatsarchiv bietet für die Hofgeschichte der Maximilian-Zeit reiche Bestände, vor allem die bislang unausgeschöpften Hofzahlamtsrechnungen mit den besonderen Vorzügen serieller Quellen.
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und Italien. Schon der Anspruch auf die Kurwürde gebot, das Maß an Repräsentation nicht zu weit abzusenken. Die Organisation und das Zeremoniell folgten dem Vorbild des Kaiserhofs und damit dem spanisch-burgundischen Muster. Dies blieb bis ins 18. Jahrhundert so, auch wenn bis dahin die französischen Manieren und Moden das äußere Bild veränderten. Dennoch erinnerte der bayerische Hof vor 1650 manchen Zeitgenossen an ein Kloster.8 Ein bestimmendes Merkmal war, daß Maximilian I. täglich die Messe besuchte, außerdem die Vespern und Gebete in der Hofkapelle. Er legte großen Wert darauf, daß ihm seine Räte, Hofoffiziere, Sekretäre, Musiker und Künstler darin nacheiferten. Nennenswerte Hoffeste fielen in die Faschingszeit mit dem traditionellen Höhepunkt, dem „Wirtschaft“ genannten Maskenball. Die Hofdamen verkleideten sich dabei gern als Schäferinnen, die Herren als Bauern. Der Ballsaal verwandelte sich in eine Gastwirtschaft mit rustikalen Tischen, auf denen Bier und bayerische Kost serviert wurden. In anderer Weise schlicht waren auch Hochzeiten und Staatsbesuche. Die klassischen Elemente dieser Feste, die man als Festspiele bezeichnen kann, hatte schon das 16. Jahrhundert ausgebildet: das Turnier, das Theater mit Musik, den feierlichen Einzug in Stadt, Kirche und Residenz, thematisch inszenierte Feuerwerke.9 Was änderte sich unter Maximilian? Die Festspiele wurden verkürzt, die Formen verfeinert, der Abstand zu den Münchener Bürgern vergrößert. Das vordringende uniforme Schwarz der spanischen Mode ging nun konform mit einer steifen Würde. Das 16. Jahrhundert schätzte noch die derben Sitten, schier endlose Speisenfolgen und Gelage mit hemmungsloser Trinkfreude. Dagegen vermerkten Berichterstatter während der langen Regierung Maximilians immer wieder mit Erstaunen, daß sich niemand beim Bankett betrunken habe. Die Turniere, zuvor noch auf dem Marienplatz in der Mitte der Stadt München, wurden in den Kaiserhof der Residenz verlegt, die Bürger damit ausgeschlossen. Das beliebte Kübelstechen, bei dem Bewaffnete mit Kübeln als Helmen, riesigen ausgestopften Bäuchen und Hühnerfedern als Wappenzier aufeinander eindroschen, durften nur noch Knechte und Lakaien, nicht mehr Adlige aufführen. Der Hof achtete darauf, elegant und exklusiv zu sein. Die Münchener, die im 16. Jahrhundert den Herzog mit Gefolge noch ins Rathaus luden, wurden zu Betrachtern am Rand des Geschehens. Sie konnten gerade noch die feierlichen Aufmärsche mit bis zu 2.000 Personen bestaunen, mit Musikern, Reitern, Fußknechten und der Hofgesellschaft. Der Zug führte durch die Stadt in die Residenz, die jedoch den Bürgern verschlossen blieb. ___________ 8 s. das Diarium des Obersthofmeisters Maximilian Graf Kurz von Senftenau von Januar bis März 1651, das sehr plastisch das Leben am Münchener Hof zu dieser Zeit einfängt. Es ist als Anlage 3 der Studie beigefügt. 9 Straub (wie Anm. 3), S. 147-173.
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Ein reges Hofleben gab es auch um 1650 in München nicht, im Gegenteil. Ein französischer Beobachter, der Abbé von Coulanges, charakterisierte es so, daß man in keinem Kloster strenger lebe als am Hof von München, „wo man sich Tag für Tag um 6 Uhr erhebt, um 9 Uhr, spätestens 10 Uhr zu Bett geht und die Vesper täglich ebenso regelmäßig besucht wie am Morgen die Messe“.10 Die Formel Pistorinis, die für den Bau der Residenz zutraf, „imperiale più che ducale“, ließ sich auf die bescheidene, kirchenfromme Inszenierung des Hoflebens nicht übertragen. Auch noch die Procura-Vermählung Ferdinand Marias mit Henriette Adelaide von Savoyen im Februar 1651 in München kennzeichnet die Schlichtheit, obgleich sie sich sehr um Neues, Italienisches bemühte. Der Hof feierte eine Woche lang, ich zähle die Stationen auf: Erster Tag, Montag: Vesper, Tedeum, Feuerwerk, Ball. Zweiter Tag: Hochamt, Schlittenfahrt, Komödie. Dann Pause, weil sich der Todestag Kaiser Ferdinands II., des Vaters der Kurfürstin, jährte. Vierter Tag, ein Donnerstag: Schauspiel der Jesuiten, Ball. Am Freitag und am Wochenende Ruhetage mit vielen Andachten und Kirchgängen. Am Montag Maskenball mit Türkenkostümen, Ballett, am Dienstag noch einmal Maskenball, Ballett. Sehr viel Kirchgang also. Die kirchlichen Feiern teilte der Hof mit dem Land. Nach der Procura-Festwoche in München ordnete der Kurfürst an, in allen Kirchen des Landes eine Vesper abzuhalten, das „Te Deum Laudamus“ zu singen und dabei von den Kanzeln die Vermählung des Kurprinzen zu verkünden. Die Pfleger, Boten und Geistlichen machten bekannt, daß „die Gemain hierbei zuerscheinen“ hatte.11 Es waren auch zu anderen Zeiten gerade die Feste und Bräuche der Kirche, bei denen die Schranken des Hofs und der Stände fielen. Unter dem Dach der Religion vereinigten sich Herrscher, Adel und Gemeiner Mann – ständisch und nach Schichten geordnet.12 Bei den Wallfahrten und Prozessionen, der Fronleichnamsprozession zumal, mischten sich Fürst, Hof und Volk. Vervaux, der Beichtvater des Kurfürsten, vermerkte: München sah Maximilian „Jahr für Jahr, solange seine Kräfte es zuließen, bei der Fronleichnamsprozession barhäuptig dem Allerheiligsten folgen. Braunau sah ihn während der dreijährigen Evakuierung an vielen Freitagen im Zuge der Betenden zu Fuß aus der Pfarrkirche zu den Kapuzinern schreiten, selbst bei unwirtlichem Wetter.“13 Die religiösen Praktiken, die Wallfahrten und Prozessionen, machten ___________ 10 Zit. nach Sigmund Riezler, Geschichte Baierns, Bd. 7: 1651 bis 1704, Gotha 1913 (ND. Aalen 1964), S. 11. 11 Geheimes Hausarchiv München Korrespondenzakten 631/3, unfol. 12 Walter Hartinger, Konfessionalisierung des Alltags in Bayern unter Maximilian I., in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 65 (2002), S. 123-156. 13 Zit. nach Albrecht, Maximilian (wie Anm. 7), S. 288.
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die Gleichheit im Glauben sinnfällig. Sie überwölbte die Exklusivität der ständischen und höfischen Gesellschaft. Der Krieg und seine Folgen verstärkten die religiöse Komponente des Hofs. Wie sah es in Bayern am Ende des Kriegs aus? Bis vor wenigen Jahren galt, was Michael Doeberl einst (1912) so zusammenfaßte: „Weite Strecken alten Kulturlandes waren zerstört oder lagen unangebaut. Es fehlte an Saat, Getreide, an lebendem und totem Wirtschaftsinventar. Die Gebäude waren mit den Wirtschaftsgeräten verbrannt, Vieh und Vorräte in die Hände der Feinde […] gefallen.“14 Das düstere Bild wird neuerdings revidiert.15 Die Schäden und die Opfer der Pest, des Hungers und der marodierenden Söldner waren in den 1630er Jahren beträchtlich, aber das Land erholte sich. Die neuerlichen Heimsuchungen 1646/48 werden heute als nicht so gravierend bewertet, wurden auch rascher bewältigt als die Verheerungen in den Jahren 1632/34. Dennoch, auch wenn man sich Bayern nicht als Trümmerwüste vorstellen darf, hatten doch die letzten Kriegsjahre das Land noch einmal schwer getroffen. Kurfürst Maximilian durfte sich zu den Siegern des Dreißigjährigen Kriegs rechnen. Der 1648 unterzeichnete Westfälische Frieden übertrug ihm, genauer dem Mannesstamm seines Vaters Wilhelm V., die erbliche Kurwürde, dazu die Oberpfalz und die Grafschaft Cham. Das Haus Bayern unter Maximilian war damit an die Spitze des Reichs gerückt, zog gleich mit Kursachsen, dem bis dahin wichtigsten Reichsstand. Der schwer errungene erstrangige Platz unter den Reichsständen war gesichert, aber der Friede immer noch gefährdet. Niemand wußte 1648/50, ob der Krieg nicht doch wieder aufflammte. Noch immer stan-
___________ 14 Michael Doeberl, Entwicklungsgeschichte Bayerns, Bd. 2: Vom Westfälischen Frieden bis zum Tode König Maximilians I., München 1912, S. 7. 15 Martin Hille, Ländliche Gesellschaft in Kriegszeiten (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 117), München 1997, besonders S. 121-162. Wichtige ältere Studien: Alfred Weitnauer, Die Bevölkerung des Hochstifts Augsburg im Jahre 1650 (Allgäuer Heimatbücher, Bd. 25), Kempten 1941; Rudolf Schlögl, Bauern, Krieg und Staat. Oberbayerische Bauernwirtschaft und frühmoderner Staat im 17. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 88), Göttingen 1988, S. 65 f. Neben Hille (s.o.) bewerten die Schäden des Kriegs als weniger dramatisch als bisher angenommen: Roman Deutinger, Schwedische Verwüstungen in Bayern 1646/48. Ein Ansatz zur Neuinterpretation anhand schwedischer Quellen, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 57 (1994), S. 719-734; Ludwig Holzfurtner, Katastrophe und Neuanfang. Kriegsschäden im Dreißigjährigen Krieg im Spiegel der Stiftsbücher oberbayerischer Klöster, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 58 (1995), S. 553577. S. auch Michael Kaiser, Maximilian I. von Bayern und der Krieg, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 65 (2002), S. 69-99; Peter Wolf/Michael Henker/Evamaria Brockhoff/Barbara Steinherr/Stephan Lippold, Der Winterkönig Friedrich V. Der letzte Kurfürst aus der Oberen Pfalz. Amberg – Heidelberg – Prag – Den Haag, Augsburg 2003.
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den Söldner unter Waffen, waren Entschädigungen nicht bezahlt, war der Krieg Spaniens gegen Frankreich im Gang.16 Als am 27. September 1651 Maximilian 78jährig verstarb, regierte noch nicht sein Sohn Ferdinand Maria, der erst 15 Jahre alt war, sondern die Gattin Maximilians, Kurfürstin Maria Anna, eine Schwester Kaiser Ferdinands III. Die Habsburgerin folgte den bewährten Bahnen der äußeren Politik und blieb im Schatten Wiens, das erstarkt aus dem Krieg hervorgegangen war. Nur das Kaiserhaus konnte helfen, die neue Würde Bayerns im Reich zu konsolidieren.17 Die Verbindung zu Paris, die Maximilian I. zwischen 1623 und 1648 immer wieder gesucht hatte, wurde erst um 1660 wieder enger geknüpft. Sie festigte sich dann bis zum förmlichen Bündnis von 1670. Daß Bayern sich damit erstmals seit den 1530er Jahren wieder von Habsburg-Österreich abwandte, hing auch mit dem Hofleben zusammen, das sich nach 1650 entfaltete, und mit dem politisch-kulturellen Wandel, der in ihm zum Ausdruck kam. Getragen wurde der Wandel von den Regenten selbst, von Ferdinand Maria und vor allem von der jungen Kurfürstin Henriette Adelaide von Savoyen. Ferdinand Maria verfügte nicht über die Selbständigkeit, Arbeitskraft und Zähigkeit seines Vaters. Zeitgenossen und Historiker schrieben das seiner Erziehung zu. Einer der Räte, Johann Georg Öxle, kolportierte die Meinung einiger Gesandter beim Regensburger Reichstag, Pater Vervaux, sein Erzieher, „habe Ihn unsern gnädigsten Hern wohl zuem Christenthumb, aber nicht zum Churfürstenthumb informiert“.18 Nicht wenige Historiker zitieren diese Äußerung von nicht näher bekannten Gesandten hartnäckig als die Meinung Öxles, was natürlich nicht zulässig ist. Vertrauen wir nur den Instruktionen, wie es fast alle Autoren tun, die Ferdinand Maria charakterisieren, wurde er vom Lehrplan förmlich erdrückt, der neben religiös-sittlicher Unterweisung den Unterricht in folgenden Fächern verlangte: Latein, Französisch, Italienisch, Spanisch, Politik, Geschichte, Geographie, Geometrie, Mathematik, Goldschmiede-, Stukkaturkunst, Fechten, Reiten, Tanzen, Jagen – und noch einiges mehr. Darin war alles enthalten, was Kurfürst Maximilian I. selbst betrieb oder gern betrieben hätte. Aber die Wirklichkeit ___________ 16 Antje Oschmann, Der Nürnberger Exekutionstag 1649-1650. Das Ende des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland, Münster 1991. 17 Michael Doeberl, Bayern und Frankreich vornehmlich unter Kurfürst Ferdinand Maria, München 1900, S. 33-69. 18 Karl Theodor Heigel, Quellen und Abhandlungen zur neueren Geschichte Bayerns, Neue Folge, München 1890, S. 44. Das Zitat taucht in der Literatur mehrfach auf, meist nicht korrekt. Es ist zu betonen, daß Öxle den Auftrag erhalten hatte, sich beim Reichstag zu Regensburg umzuhören, welche Gerüchte über Ferdinand Maria und die Vormundschaftsregierung umliefen. Darüber berichtete er am 9. Dezember 1653 an Graf Kurz; das Zitat gibt nicht seine eigene Meinung wieder.
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sah wohl anders aus. In einem vertraulichen Schreiben vom Oktober 1649 vermerkte die Kurfürstin, „die pueben“, der dreizehnjährige Ferdinand Maria und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Maximilian Philipp, lernten nichts „als ein wenig latenisch und schlecht genug, dann derzeit weder sprach- noch fechtmeister hir ist“.19 Die Bemerkung läßt erkennen, wie sehr am Hof gespart wurde. Ferdinand Maria jedenfalls war zu jung, um Änderungen im Hofleben oder in der Politik herbeizuführen.20 Den Kurfürsten überstrahlte das Temperament seiner Gattin Henriette Adelaide von Savoyen, Enkelin König Heinrichs IV. von Frankreich. Die Verhandlungen zu dieser Verbindung hatten 1647 begonnen – vor dem Hintergrund einer sehr schmalen Auswahl von standesgemäßen katholischen Prinzessinnen. Seit mehr als hundert Jahren kamen daher die bayerischen Fürstinnen nur aus den Häusern Habsburg und Lothringen, nun also aus Savoyen. Der greise Kurfürst, der das Ruder nicht mehr so fest in der Hand hatte, aber umsichtig war wie ehedem, wollte jedenfalls mit der Heiratsverbindung seine Nachfolge sichern. Dies gelang ihm 1650/51 mit der Vermählung der beiden 14jährigen per procura.21 1652 folgte dann die Hochzeitsfeier in München. Inwieweit Ziele der äußeren Politik für die Verbindung eine Rolle spielten, konnte bisher nicht geklärt werden. Die Anregung jedenfalls kam 1647 von Kardinal Mazarin während der Verhandlungen nach dem Ulmer Waffenstillstand. Die Heiratsverbindung des Hauses Bayern mit dem Haus Savoyen, das immer wieder Frankreich als Partner suchte, war geeignet, auch eine bayerischfranzösische Kooperation abzustützen. 1647 war Savoyen – wie fast unverändert seit dem Vertrag von Chierasco 1630 – geradezu ein Satellit Frankreichs. Die savoyische Heirat sollte also den Kurfürsten enger an Paris binden. Doch schon in dem Augenblick, in dem Maximilian I. seinen Geheimsekretär Franz Mayer in Paris den Dank für die Anregung zum Heiratsprojekt aussprechen ließ22, hatte der Kurfürst (am 7. September 1647) einen erneuten Allianzvertrag ___________ 19 Karl Mayr, Briefe der Kurfürstin Maria Anna von Bayern, in: Theodor Bitterauf u. a. (Hg.), Festgabe Karl Theodor von Heigel zur Vollendung seines sechzigsten Lebensjahres, München 1903, S. 305-323, hier S. 316 (22. Oktober, an Mändl). 20 Manfred Heim, Ferdinand Maria. Die italienische Heirat, in: Alois Schmid/Katharina Weigand (Hg.), Die Herrscher Bayerns. 25 historische Portraits von Tassilo III. bis Ludwig III., München 2001, S. 218-230. 21 S. den unten abgedruckten und mit Hinweisen versehenen Bericht des bayerischen Obersthofmarschalls Maximilian Graf Kurz von Senftenau vom 10. Dezember 1650 von der Procura-Vermählung in Turin (Anlage 2). 22 Der Auftrag an Mayer in einem Schreiben vom 18. September 1647: Sigmund Riezler, Bayern und Frankreich während des Waffenstillstands von 1647, in: Sitzungsberichte der philosophisch-philologischen und der historischen Classe der königlich bayerischen Akademie der Wissenschaften zu München 1898, Bd. 2, München 1898, S. 493-541, hier S. 526.
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mit dem Kaiser geschlossen. Kurz darauf kündigte er den Ulmer Vertrag und setzte damit die Verbindung zu Frankreich einer Belastung aus. Im weiteren Verlauf der Heiratskontakte zwischen München und Turin blieb jedoch Mazarin als hartnäckiger Befürworter im Spiel.23 Allerdings erklärte er sich im Herbst 1649 nur mit einer Heirat des bayerischen Kurprinzen mit Margherita, der älteren Schwester Adelaides24, einverstanden; der Kardinal sah nun die jüngere Adelaide als mögliche künftige Kandidatin für Ludwig XIV. Schließlich gab die französische Krone, die als Schutzmacht Savoyens das letzte Wort hatte, Adelaide für München frei. Maximilian, dessen Kräfte nachließen, lag am meisten daran, den Kurprinzen rasch mit einer uneingeschränkt geeigneten katholischen Prinzessin zu vermählen.25 Er ließ das auch seine Untertanen wissen. Nach der Procura-Vermählung gab ein Mandat im März 1651 bekannt, daß der Kurfürst noch zu seinen „lebzeiten“ Ferdinand Maria mit einer „heurat versechen“ habe und daß ihn hierzu „die Cron Franckreich als das hochloblich Haus Savoya“ auf Adelaide verwiesen hätten.26 Adelaide, die im Alter von 16 Jahren nach München kam, war trotz ihrer Jugend bereits eine starke Persönlichkeit. Aufgewachsen am lebensfrohen Turiner Hof, brachte sie Turiner Atmosphäre in die Münchener Residenz, aber es war nicht leicht. Sie litt zunächst unter der schroffen Zurückweisung durch die Schwiegermutter Maria Anna, die sich um so praktische Dinge wie die Milchwirtschaft in Schleißheim kümmerte und noch mehr das Geld zusammenhielt, als es Maximilian getan hatte. Deshalb und wegen der Kriegsfolgen feierte der Hof auch nach 1650 zunächst nur bescheidene Feste. Allein die Hochzeitsfeier 1662 indessen und die Ausstrahlung des kleinen savoyischen Gefolges führten zu Veränderungen, die freilich schon angebahnt waren. Für die Anbahnung sorgte nicht die junge Adelaide, sondern der Obersthofmeister Maximilian Kurz von Senftenau, rechte Hand der Regentin Maria Anna. Er war der eigentliche Lenker der Politik und des Hofgeschehens kurz vor und nach dem Tod Maximilians. Am Turiner Hof hatten er und die bayerische ___________ 23
s. zur Vorgeschichte der Heirat im Jahr 1649 das informative Schreiben des Kurfürsten Ferdinand von Köln, des Bruders Maximilians I., unter Anlage 1. 24 In München war man mit ihr nicht zufrieden. Die Kurfürstin teilte am 19. November 1649 dem Hofkammerpräsidenten Johann Mändl mit: „Wegen Savoia hat auch der cardinal geschriwen, den wir im austrücklich sagen lassen, dass mir die grosser [= Margherita, M.L.] nit wollen, ire mängl gar zu viel wissen“. Mayr, Briefe (wie Anm. 19), S. 320. 25 Geheimes Hausarchiv München, Korrespondenzakten 631/1. Besonders deutlich die Schreiben vom 27. September 1649 (Or. Kf. Ferdinand von Köln an Kf. Maximilian I.) und vom 6. Oktober 1649 (Konz. Kf. Maximilian I. an Kf. Ferdinand): Wenn, wie erforderlich, Religion, Alter, Stand, Eignung und Eile berücksichtigt würden, finde sich im Reich und in Europa nur Adelaide. 26 Geheimes Hausarchiv München, Korrespondenzakten 631/3, unfol.
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Delegation bei der Procura-Vermählung Adelaides 1650 eine andere Welt kennengelernt, deren Faszination sie sich nicht entziehen konnten. Kunstvoll inszenierte Turnierspiele und Ballette, bei denen auch die fürstlichen Personen mitwirkten, freizügige Bälle und virtuose Musikdarbietungen boten einen vollkommenen Kontrast zur klösterlichen Sparkultur Münchens. Vor allem die Hofmusik hatte Maximilian vernachlässigt, der allenfalls Sänger und Bläser schätzte.27 Insofern ist erstaunlich, daß der Kurfürst am 13. Februar 1651 im Georgsaal, anläßlich der Procura-Vermählung Ferdinand Marias, das erste Musikdrama in München aufführen ließ, lange Zeit nach dem benachbarten Salzburger Erzbischof (1617 „Santa Christina“) und dem Dresdner Hof (1627 „Daphne“ von Opitz/Schütz). Quellenbelege, inwieweit das Musikdrama durch Kurz von Senftenau und den Kontakt zum Turiner Hof angeregt war, ließen sich nicht auffinden. Es ist freilich sehr wahrscheinlich, daß der Obersthofmeister noch aus Italien im Dezember 1650 die Aufführung vorgeschlagen hat.28 Maximilian I. selbst stand der Musik im allgemeinen und ohnehin dem damals modernen Musikdrama fern. Aber er hatte die Kurfürstin Maria Anna bereits intensiver in die Regierungsgeschäfte einbezogen, die sich ihrerseits auf den Rat des Obersthofmeisters und des Hofkammerpräsidenten Johann Mändl (Mandl) von Deutenhofen29 verließ. Seit Januar 1650 wurde auch der Geheime Rat als zentrale Regierungsbehörde30 aktiviert, dessen Sitzungen nun erstmals der junge Ferdinand Maria beiwohnte.31 In ihm wirkte bis 1647 mit nahezu ungebrochener Energie der schon 67jährige Bartholomäus Richel, der seit 1623 die Geschicke ___________ 27 Horst Leuchtmann, Die Maximilianische Hofkapelle, in: Glaser (Hg.), Um Glauben und Reich (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 364-375. 28 Geheimes Hausarchiv München, Korrespondenzakten 631/3, unfol. Bericht vom 10. Dezember 1650 über die Procura-Vermählung in Turin. S. unten Anlage 2. Unter den Dokumenten im Geheimen Hausarchiv und in der einschlägigen Literatur finden sich keine näheren Hinweise, wer die Anregung zur Aufführung der „schönen comoedi“ gab, wie die „Comoedia in musica“ von Kurz bezeichnet wurde. 29 Neue Deutsche Biographie 16 (1990), S. 17 f. (Maximilian Lanzinner). 30 Mayr, Briefe (wie Anm. 19), S. 323 (Schreiben der Kfn. Maria Anna vom 15. Januar 1650); Harro Georg Raster, Der kurbayerische Hofrat unter Kurfürst Ferdinand Maria 1651-1679. Funktion, Ausbau, Personal und Umfeld, Starnberg 1995, S. 366; Die Geheimen Räte 1650/51: Maximilian Kurz von Senftenau (seit 1626), Dr. Johann Mändl (seit 1634), Dr. Johann Georg Herwarth d. J. (seit 1637), Dr. Johann Adlzreiter (seit 1643), Georg Christoph von Haslang (seit 1645), Johann Adolf Wolf gen. Metternich (seit 1645), Dr. Johann Adolf Khrebs (seit 1647); Maximilian Lanzinner, Zur Sozialstruktur der Geheimen Ratskollegien im 17. Jahrhundert, in: Winfried Becker/Werner Chroback (Hg.), Staat, Kultur, Politik. Beiträge zur Geschichte Bayerns und des Katholizismus. Festschrift zum 65. Geburtstag von Dieter Albrecht, Kallmünz Opf. 1992, S. 71-89, hier S. 75. 31 Hauptstaatsarchiv München, Kurbaiern Geheimer Rat 200, 201. Wiederholt wurde 1650 der „kurprinz“ als Anwesender bei Sitzungen des Geheimen Rats genannt.
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der bayerischen Politik an der Seite Maximilians I. gelenkt hatte. Sein Abtreten 164832 und vor allem die erlahmende Arbeitskraft des alternden Kurfürsten brachten die lange Zeit so effiziente bayerische Regierungsmaschine ins Stokken. Dem suchte Maximilian offenbar mit einer Verlagerung der Entscheidungen zu begegnen. Der Geheime Rat erhielt mehr Handlungsfreiheit; in ihm führte Johann Adlzreiter von Tettenweis nun allein die Geschäfte, aber Johann Josef Metternich von Gracht, Johann Georg von Herwarth d. J. und Georg Christoph zu Haslang votierten und entschieden mit. Kurz, Mändl und Johann Adolf Khrebs fanden sich seltener zu Sitzungen ein, weil sie oft in Geschäften und Gesandtschaften unterwegs waren.33 „Zweiter Mann“ am Hof nach dem Kurfürsten war freilich eindeutig Maximilian Kurz von Senftenau, seit 1618 Truchseß, seit 1625/26 Obersthofmarschall und Geheimer Rat in München. Wirkte Richel als der Schrift- und Geschäftsführer Maximilians am Schreibtisch und in den Zentralbehörden, vertrat Kurz den Kurfürsten über einen ebenso langen Zeitraum hinweg als Chef des Hofs und als vornehmster Gesandter, der in Wien und an den Höfen des Reichs hohes Ansehen hatte. Da sein Bruder Ferdinand als Reichsvizekanzler die Reichspolitik des Kaisers leitete, verfügte Kurz von Senftenau über beste Kontakte zum politisch maßgebenden Wien. Dies alles, dazu das unverändert bestehende Vertrauen des Kurfürsten und seiner Gemahlin gaben dem Obersthofmeister schon seit 1649 die Autorität, so daß er unangefochten ganz im Sinn Maximilians I. die Zügel in die Hand nehmen konnte. Nach dem Tod des Kurfürsten trug er seit 1652 den bis dahin nicht üblichen Titel „Direktor des Geheimen Rats“. Er war damit faktisch und formell am Hof und in der Politik höchster Amtsträger. Um 1650 und nach dem Tod Maximilians I. veränderte sich keineswegs die Politik Bayerns, die unbeirrt den Kaiserhof als Orientierungspunkt hatte, aber doch nach und nach das Hofleben. Graf Kurz öffnete die klösterliche Residenz nach seinem Savoyen-Aufenthalt 1650 behutsam italienischen Einflüssen, ließ Musikdramen aufführen und ein Opernhaus planen. Ob ihn dabei die politische Absicht leitete, die junge Kurfürstin zu gewinnen, oder ob er selbst an den italienischen Moden so viel Gefallen gefunden hatte, sei dahingestellt. Unübersehbar wurden die Impulse aus Turin jedenfalls im Fasching 1653 bei Ballettaufführungen, bei denen nach italienischem Vorbild der Hof selbst mittanzte. Noch freilich mokierte sich Adelaide, wie es Jugendliche eben tun, in einem Brief an ihre Schwester Luisa: Sie habe mit Kavalieren getanzt, „die Fakkeln vor mir hertrugen. Wir machten keine Tanzschritte, sondern liefen nur so ___________ 32 Richel verstarb am 27. Februar 1649. Reinhard Heydenreuter, Der landesherrliche Hofrat unter Herzog und Kurfürst Maximilian I. von Bayern, München 1981, S. 352. 33 Hauptstaatsarchiv München, Kurbaiern Geheimer Rat 202, 203.
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schnell wie möglich. Ich dachte vor Lachen zu sterben!“34 Ein mühsamer Kulturtransfer zwischen zwei Welten also, aber er setzte sich fort. Als im August 1653 Ferdinand III. mit der Kaiserin Eleonora München besuchte, schrieb der Harfenlehrer Adelaides, Giovanni Batista Maccioni, die Oper „L’arpa festante“, „Die jubelnde Harfe“, und brachte sie mit Solo-Arien, zweistimmigen Gesängen und Schlußchor vor einem jubelnden Publikum zur Aufführung.35 Die Festlichkeiten während des Faschings 1654 trugen dann ganz die Handschrift Adelaides, erneut mit einer Oper, „La ninfa ritrosa“, ferner dem Ballett „Le Pompe di Cipro“, das die junge Kurfürstin selbst gestaltet hatte und bei dem sogar die Hofdamen Maria Annas als Perserinnen und Ägypterinnen auftraten. Das theatralisch inszenierte Fußturnier „Mercurio e Marte discordi“ wurde vom tapferen Kriegsherrn Ferdinand Maria gewonnen für die beste Handhabung der Pike. Adelaide (nun bayerisch Adelheid) war so entzückt vom festlichen Treiben, daß sie sogar die zuvor geschmähte „Wirtschaft“, die immer noch in den bäuerlich-derben Formen veranstaltet wurde, als „das hübscheste Fest der Welt“ empfand. Graf Kurz sah mit Erleichterung die junge Kurfürstin von der Politik abgelenkt, so daß er zufrieden nach Turin berichten konnte, Adelaide versetze mit ihrer „allegrezza“ den ganzen Hof in Hochstimmung.36 So öffnete sich die Residenz dem savoyischen und italienischen Einfluß, den Varianten des Balletts, das fürstliche Personen als Akteure einbezog, der Oper, die Kurz so sehr schätzte, und dem Turnier als szenischem Musiktheater, an dem sich der Kurfürst begeistert beteiligte. Bald beschränkten sich die Feierlichkeiten nicht mehr auf den Fasching, sondern bereicherten auch den Alltag des Hofes. Das läßt sich hier nicht mehr ausführen. Ich erwähne nur noch, daß nach der Allianz mit Frankreich im Jahr 1671 erstmals eine französische Schauspieltruppe engagiert wurde. Ab diesem Zeitpunkt – aber erst jetzt – wirkten neben dem italienischen das Vorbild Ludwigs XIV. und später das Vorbild von Versailles nach München hinein. Ein Wort noch zur Entwicklung des Hofs im ganzen. Die elitäre Tendenz verfestigte sich. Der Hof schloß die Nichtprivilegierten aus, differenzierte seine Formen, entfernte sich vom Leben und von der Kultur des Landes. Der finanzielle Aufwand stieg, die Residenz verwandelte sich vom monumentalen Kloster zur Festkulisse einer repraesentatio maiestatis, die sich selbst genügte. Das so vermehrte symbolische Kapital des Hofs wirkte auf die konkurrierenden Hö___________ 34 Zit. nach Roswitha von Bary, Henriette Adelaide von Savoyen. Kurfürstin von Bayern, München 1980, S. 98. 35 Eckehart Nölle, Die Wittelsbacher und das Theater, in: Hans E. Valentin/Erich Valentin/Eckehart Nölle/Horst Stierhof, Die Wittelsbacher und ihre Künstler in acht Jahrhunderten, München 1980, S. 189-323, hier S. 213; Erich Valentin, Die Wittelsbacher und die Musik, in: ebd., S. 89-188, hier S. 122. 36 Zit. bei Bary (wie Anm. 34), S. 106.
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fe und stabilisierte den Rang. Der neue Glanz wirkte auch als politischherrschaftliches Kapital auf die Untertanen, obgleich sie nur den äußeren Schein und das Geschehen außerhalb der Residenz wahrnahmen, die aber um so mehr beeindruckten.37 Eine bedeutende Kontinuitätslinie der Maximilianzeit allerdings bestand fort. Das religiöse Brauchtum band weiterhin Fürst, Hof und Volk zusammen. In ihrer ersten Zeit hatte Adelaide noch geklagt: „In der Adventszeit ist man so sehr mit Andacht beschäftigt, daß kaum Zeit bleibt für andere Dinge, [...] morgens um sieben Uhr muß man zur Kirche gehen und bleibt dort fast den ganzen Tag.“38 Aber nicht anders als Maximilian, obgleich nicht so ausdauernd, sah man Ferdinand Maria und Adelaide in Altötting bei der Marienverehrung, in Ettal, Polling, Andechs, Tuntenhausen, Ebersberg oder Maria Brünndl und ohnehin bei den Prozessionen in der Landeshauptstadt. Das Fürstenpaar benutzte zunächst Kutschen und Pferde, marschierte aber mit Gefolge und den gewöhnlichen Pilgerscharen respektable Strecken zu Fuß, um die Gnadenstätten zu erreichen. Die Kurfürstin beteiligte sich unbeirrt am religiösen Leben des Landes, auch als sie mit dem Versuch scheiterte, den Altbayern die Cajetan-Verehrung nahezubringen.39 Politik, Kultur und Hofleben Bayerns nach 1650, wie ist das allgemein zu bewerten? Die Politik wurde bescheidener, paßte sich den Dimensionen des Landes an, und diese waren eben nicht kaiserlich, nicht „imperiale“, wie der Anspruch des Residenzbaus um 1620. Die Kultur des Hofs hingegen gewann eine neue Qualität. Die Münchener Residenz öffnete sich den aktuellen Strömungen in Europa, trat in Konkurrenz zur höfischen Lebenswelt vor allem in Wien oder in Dresden. Das bedeutete Entfernung vom Land. Die religiöse Lebenswelt Bayerns jedoch holte Fürst und Hof gleichsam zurück und band sie ein in die Feste, Wallfahrten und Prozessionen der Bürger und Bauern. War das charakteristisch für Bayern? War die Abschwächung der höfischen Distanz durch den gemeinsam praktizierten Glauben kennzeichnend für die Beziehung von Fürst, Hof und Land im frühneuzeitlichen Bayern? Es war eine Gemeinsamkeit, die nicht nur sichtbar wurde in den Fronleichnamsprozessionen Wilhelms V. in München oder den Wallfahrten Maximilians I. und Ferdinand Marias? In gewisser Weise ja. Aber die konfessionellen Kontinuitäten aus der Maximilianzeit wurden schwächer, die distanzierenden, die Herrschaft betonenden Formen des Hofs vor allem unter Max Emanuel (1679-1706, 1714-26) sehr viel wirksamer. ___________ 37
Babel (wie Anm. 3), S. 189-210. Zit. nach Bary (wie Anm. 34), S. 134. 39 Dora Herzog, Kurfürstin Adelheid von Bayern. Ein Beitrag zur Geschichte des höfischen Absolutismus, Phil. Diss. Masch. München 1943, S. 150-162. 38
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Anlagen Anlage 1: Kurfürst Ferdinand von Köln an Kurfürst Maximilian I. aus Lüttich, 24. September 1649. Stellungnahme zur geplanten savoyischen Heirat. Textvorlage: Geheimes Hausarchiv München, Korrespondenzakten 631/1, unfoliiert. Durchleuchtigster Churfurst, freundtlicher mein hertzliebster herr bruder! Waß Ewer Liebden under dem 7.40 dieses ahn mich in freundbruderlichem vertrawen und geheime gelangen lassen, habe ich woll empfangen, und darauß deroselben ruhmbliche sorgfalt, wie sie sich vor ihren eltisten printzen41, meinen freundlichen lieben vettern, in zeiten eines solchen heirats, der seinem und des hauses stand und würde gemeß seie, versicheren konten, gantz gern ersehen. Wie ich nun für die vertrewliche eroffnung mich billig freundbruderlich zu bedanken, also versichere ewer Liebden ich hingegen, daß eben eines solchen heirats halber ich schon offters bei mir sorglich umbgedacht, undt nicht allein in Teutschland, sondern fast gantz Europa keine princessin außer dieser42 bei dem hauß Savoya erfunden, wa nicht entweder wegen der religion, alters, oder anderer umbstendt einig bedenken im weg stehen konte. Undt sintemalen dan nun Ewer Liebden zu dieser so gewunschter gelegenheit, alsolche gute anleitung empfangen, so halte von deroselben ich gar woll vorsichtig und hochvernunfftig gethan zu sein, daß (in erwegung dergleichen heiraten andere hoche heuser sonst auch leichtlich nachtrachten konten)43 sie bei zeiten, und ehe diese occasion iro entgehen mochte, auff mittell bedacht seint, wie sie sich deßen gnugsamb zu vergwissigen. Und werde ich mich meines theilß ab dem erfolg und werckstellung dieser, alß zu erhaltung undt mehrerm auffnehmen unseres hauses, auch ewer Liebden zu desto mehrer consolation in dero alter gereichender sach von hertzen erfrewen. Habe aber nur dieses zu Ewer Liebden fernerem vernunfftigen nachdenken zustellen nicht umbgehen konnen: Weilen ich auß obermelten ewer Liebden schreiben ersehe, daß die cron Frankreich nach erlangter erklerung von Savoya Ewer Liebden mit eigener gesandschafft dieserthalb zu beschicken vorhabens, ob nicht beßer undt zu mehrer verhutung dero etwa beiden hauß Osterreich und der cron Spanien darauß erwachßender gelosia44 dienlicher, wan zwar Ewer Liebden wolermelter cronn Frankreich assistenz (zumahlen ohn deroselben einrhaten das hauß Savoya seine erklerung vermuthlich nicht von sich geben wirt) herunder nicht von handen, jedoch aber auch die sach offentlich einen solchen schein nicht gewinnen ließen [!], alß wan dieselbe alleinig durch underhandlung, antrib und befurderung selbiger cron angebunden undt zu werck gerichtet worden. Im ubrigen konnen ewer Liebden sich woll versichert halten, daß dies werck noch zur zeit bei mir in guter enge verbleiben soll, auch niemandts von den meinigen, außer einer eintzigen person, dero ich mich zu außfertigung dieser meiner antwort bedient, davon wissenschafft erlangt. Verbleibe damit ewer Liebden zu erweisung ange-
___________ 40 Maximilian I. teilte mit Schreiben vom 7. September den Heiratsplan mit und bat Ferdinand von Köln um seinen Rat. Geheimes Hausarchiv München, Korrespondenzakten 631/1, unfol. 41 Ferdinand Maria (1636-1679). 42 Henriette Adelaide (1636-1676). 43 Gemeint Bourbon. 44 Eifersucht, Mißgunst, Neid.
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nember freundtbrüderlicher diensten jederzeit bereit. Datum Lüttich, den 24. Septembris anno 1649. Euer Liebden Dienstwilligyster treuer brueder biß in todt, Ferdinandt. Anlage 2: Bericht des bayerischen Gesandten Maximilian Graf Kurz zu Senftenau an Kurfürst Maximilian I. von Bayern über die Procura-Vermählung der Prinzessin Henriette Adelaide in Turin. Turin, 10. Dezember 1650. Textvorlage: Geheimes Hausarchiv München, Korrespondenzakten 631/3, unfol. Dorsalvermerk: „Auß Turino vom 10. Dec. 1650.“ Durchleuchtigster churfürst, gnedigster herr! Vermög meines lezteren gehorsahmsten berichts von dem siebenden45, werden ewre churfürstliche Durchlaucht gnädigst vernommen haben, daß ich nach hof beruffen worden, inn meinung, mir die gelegenheit zu machen, Ihr Durchlaucht, der herzogin Adelhaid, die jenigen present, welche beede ewre churfürstliche Durchlaucht und ihr Durchlaucht der herzog Ferdinandt46 mir gnädigist anvertraut, zuüberliefern. Alß ich nun nach hof kommen47, hatt mann mich wie allezeit gleich zu der Madama Real48 geführt, die nun fast ungefehr ein stundt von allerhandt mit mir discourirt, und dann gewisen, was ihr dero herr sohn, der regierendt herr49, zum Niclas verehrt. Weren etliche rosen vonn diamand, inn die bänder eines französischen paar hendschuhs geflochten. Und dann, was ihre Altezza Reale dero herrn sohn wiederumb verehrt, so ein huttschnur vonn diamandt vonn 2000 cronen, wie sie mir sagte, gewest. Darauf sagte sie mir, daß sie vorhabens gewesen, den Niclas bey ihren kindern (wie sies nennet) ganz abkommen zulaßen. Weils aber ihr herr sohn noch continuirt, und ihr Durchlaucht, die herzogin Adelhaidt, (umb willens vielleicht sie in keiner andern solchen zeit mehr hier seyn werden) gebetten, für dißmal solchen noch geltten zulaßen, habens ihr Durchlaucht auch getahn, und sie alle regalirt. Dieser discurs hat mir occasion gegeben, ewer churfürstlichen Durchlaucht present auch anzubringen, und zubitten, weiln beede ewre churfürstliche Durchlaucht sambt ihr Durchlaucht, dem herzog Ferdinandt, mich mit etlichen galanterien für ihr Durchlaucht, die herzogin Adelhaid, abgefertigt, und die heütige tag darzu eben a proposito kähme, wolte ich selbige, mit erlaubnus der Madama Reale, gehorsahmst überantworten. Darauf haben sie iedermann aus dem cabinet geschafft, und die herzogin Adelhaidt allein zu sich, da auch der regierende herr war gefordert, und mir bedeütet, meine commission abzuelegen, so ich dann auch, wie mein instruction vermag, gethan. Da nun die Madama Reale die kleinodien gesehen, und ihrer köstlichkeit wegen sehr hoch æstimirt, haben sie gnädigst befohlen50, daß die herzogin ihre kleinodien ablegen
___________ 45 Liegt ebenfalls in: Geheimes Hausarchiv München, Korrespondenzakten 631/3, unfol. = Mittwoch, 7. Dezember 1650. 46 Ferdinand Maria. 47 Am Dienstag, 6. Dezember 1650. 48 Gemeint ist die Mutter Henriette Adelaides, Marie-Christine Prinzessin von Frankreich (1606-1663). Der Titel „Madama Reale“ bezog sich auf die von Savoyen beanspruchte Königskrone von Zypern. 49 Herzog Karl Emanuel II. (1634-1675). 50 Am Rand: Nota bene.
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und mit diesen, so ich überantwortet, gleich inn meinem beysein, sich zieren solte. Über welches fast der ganze hofstaat erfordert, und solche männiglichen gewiesen worden. Ihr Durchlaucht, der herzogin Margaritæ51, hab ich das ihrige auch præsentirt, die dann damit ingleichen sehr wol content gewest. Und weil ich diesen eußerlichen demonstrationibus allein nicht wollen glauben geben, hab ich auch leut bestellt, die heimblich nachfragen und vernehmen sollen, was der gemeine discurs hierinn sein möchte, und vernohmen, daß diese præsenten aller orten hoch und fast vff [?] 100.000 Gulden æstimirt worden. Wie mir dann die Madama Reale noch den volgenden tag, da die princessin Margarita und princessin Adelhaid daßelbige wieder getragen, darfür ufs neue und zum höchsten gedanckt. Und nachdem diß werckh verrichtet worden, [sie] mich gemelten Freihtag noch fast ein paar stundt bey sich behalten, und vonn allerhand sachen discourirt, bin ich wieder entlaßen, und ziemblich spat in der nacht mit gewöhnlicher bedienung wieder nach haus geführt worden. Folgenden Mitwoch52 vor eßens ist niemand bey mir gewesen. Nach eßens aber der pater Broglia, rector bey den heiligen Jesuitern und der princessin Adelhaidt beichtvatter, der mir nun gar viel particularia von gemeltter princessin vermeldet, in specie, daß sie beede sprachen, welsch und französisch, perfect, spannisch zur genügen, reden khundte. Lateinisch verstehe sie. Seye inn der Heiligen Schrifft bestens erfahren und inn allen sachen, so mann ihr Durchlaucht vorweiset, gar capace, fromb und überaus tugendthafft. Solcher gestaltten ihr Durchlaucht dann von menniglichen, der zu mir kombt, und wo mann derselben zu redt würdt, prædicirt. Dieser pater, weil er nun sehr alt und unvermüglich ist, würdt mit der princessin nicht nach München kommen, sondern ihr ein ander Jesuiten zugeben werden. Wer er aber sein soll, hab ich noch nicht erfahren khünden. Will mich noch darumb bewerben, und nechstens gehorsamblich berichten. Diesen abendt haben die Cavallieri dell’Annuntiata53 capitul gehalten, in welchem, ob gleichwohlen sonst niemandts gelaßen würdt, hatt doch die Madama Real ein heimblich gelegenheit zurichten und mich erfordern laßen, damit ichs neben ihr und ihren drey frauen töchtern sehen möge. Seindt darinnen 5 neue cavalieri creirt, und darunder drey, die es vorhero nicht gewesen, zu ritter geschlagen worden, alß don Philibert54, der conti Polongera, marchesi di Brosse, conti de St. George und der marchesi Villa. Nachdem nun dieser act vorgangen und zimblich spat inn die nacht sich hinein erstreckt, ist man solemniter in den thomb gangen, die Cavallieri dell’Annuntiata vor dem herzog55; ich aber vorhero in den thomb zu den gesannten, so meiner in der sacristey gewartet, geführet. Und dann wir alle drey das für uns in der capellen zugerichte ortt, so alles mit roten sammet ausgezogen gewest, gewiesen worden. Der herzog stundt unter einem weißen silbern gestuckten baldaquin (mit dergleichen auch der kniestuel und der boden bedeckt war) auf der evangeliseiten oben auf dem chor. Hinder ihme die beede prinzen Mauritio56 und Tomaso57, und hinder
___________ 51
Margherita Violante (1635-1663), eine Schwester Henriette Adelaides. Mittwoch, 7. Dezember 1650. 53 Der Annunziaten-Orden war der bedeutendste Orden Savoyens. 54 Vermutlich ist hier Emanuel Philibert Amadeus (1628-1709), der älteste Sohn des Prinzen Thomas Franz von Savoyen-Garignan (1596-1656), gemeint. 55 Karl Emanuel II. 56 Kardinal Mauritius (Moritz) von Savoyen (1593-1657). 57 Prinz Thomas Franz von Savoyen-Garignan. 52
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selbigen ihre 3 herrn söhne58, und baldt daran, aber unter dem chor, die cavallieri von dem orden. Gegen dem herzog über und auf der epistelseiten wir gesanten, Madama Real und ihre 3 töchter59, inn einem oratorio. Mann hette sollen, wie veranstalt gewesen, die vesper halten, weils aber fast spat inn die nacht war, ist der Gottes dienst mit einem Te Deum Laudamus verrichtet worden. Nachdem nun solchs vollendet, seindt ihre Durchlaucht wiederumben mit vorhergehenden solennitet in die residenz so gradt an der kirchen durch einen gang gangen, so erstlichen war ein herold, und nach ihme ein secretary von dem orden, darauf der hofstaat in extraordinary großer anzall bevorab, weiln viel officiren von der armada auch angelangt. Deme folgten die Cavallieri vom orden, principe Mauritio und Tomaso nechst vor dem Herzog. Neben ihme gieng der nuncius, servient und ich, alle 4 mit bedecktem haubt, zugleich neben einander, und nach uns des prinz Thomaso zwen jüngere söhn60, weil der eltiste alß cavalier von dem orden61, mit den andern vorher war. In der ersten anticamera licentyrte man uns drey gesanten. Mich aber ließ die Madama Reale wieder zuruckh fordern. Da führt mich der herzog durch die neue residenz, so die Madama Real bauet, welche wie viel andere große gebäu angefangen, aber noch viel zeit erfordern würdt, biß mans ausbaut. Von dar kahmen wir inn eine lange galeria, die oben her gewölbt, und fast wie ewer churfürstlichen Durchlaucht antiquarium62 ausgemahlt ist, die vor diesem voller romanischen statuen und vieler alten, berümbten helden wappen geziert gewesen, iezt aber und nachdem Turino eingenommen, meistentheils geplündert und ausgeraumt worden. Von da führte mann mich inn der Madame Reale schlafkammern. Da zeygt sie mir ihr betth, und discurirte wieder eine ziembliche zeit. Dann führte sie mich inn ihr oratorium, welches so klein ist, daß schwehrlich zwo personen darinn plaz haben, zeygte mir alle ihre patronos, die darinn abgemahlen, alle ihre devotiones, und sagte mir, wie sie sonsten die wochen hierumb und durch das ganze jahr ihre anndacht verrichte, wie offt sie beichte, wie offt sie inn die statt zum Gottesdienst komme, wie offt sie ihre exercitia mache, und was dergleichen frauenzimmer discurs mehr gewest, die ich mit verwunderung angehört und mit loben verantwortet. Dann führte sie mich wieder inn ihr cabinet, erzehlte mir, wie sie sich an und abkleydet, wer ihrs hembdt giebt, wer ihr kämpelt63, wers flicht, was ihre cammerdiener für verrichtungen haben, wie offts und wie schwehr sie niederkommen, ihre zuständt und dergleichen mehr, so ich nicht verstehe, also auch nicht sonders verantworten können. Alß es nun wieder spat inn die nacht worden, haben mich ihr Durchlaucht entlaßen, und bin ich gebräuchiger weis wieder nach hauß begleytet worden. Folgenden Donnerstag64 ist mann umb 12 uhr wieder zum dienst kommen. Und in der anticamera der nuncius und ich erschienen, der servient aber nit. Ist mir gesagt worden, weile des prinz Tomaso herrn söhne unter des herzogs baldaquin gestanden haben, auch den baldaquin prætendirt, und darumb nicht erschienen. Der nuncius und ich, weiln in keiner capella den gesanten der baldaquin geben würdt, haben nicht vermeint, daß diese prætension billich seye, und haben demnach der ceremony beygewohnt. Alß nun
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Emanuel Philibert Amadeus, Joseph Emanuel (1631-1656) und Eugen Moritz (1635-1673). 59 Margeritha Violante, Henriette Adelaide und Luisa (Ludovica Christina) (16291692). 60 Joseph Emanuel und Eugen Moritz. 61 Emanuel Philibert Amadeus. 62 Das Antiquarium der Münchner Residenz. 63 Kämmt. 64 8. Dezember 1650.
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die cavalliery vom ordine in ihrem habit erschienen, hat mann den nuncium und mich, ehe der herzog inn die kirchen kommen, durch ein heimbliche stiege dahin geführt. Vorhero aber die Madama Reale mich zu sich ann ein fenster genommen, vonn welchem mann den ganzen hofstaat, die cavallieri vom orden und den herzog selbsten inn dem habit, über die gaßen hat kömen gehen sehen. Alß nun ihre Durchlaucht wiederumb und sonst männiglich den gestrigen posto in der kirchen genommen, hat sollen ein ambt zu ehren unser frauen gehalten werden. Weiln aber ein differenz entstanden, inndem der nuncius nicht gewolt, daß mann des principe Tomaso herrn söhnen das evangelium und das pacem65 zu küßen gebe, und ihne praeterire, hatt man den mezo termine erwehlet, und aus dem ambt ein meß gemacht. Und ist der priester fast umb 2 uhr nachmittag über gestanden. Bey dem offectorio seindt ihr Durchlaucht und die cavallieri vom orden zu opfer gangen, und haben ihr Durchlaucht erstlich vor dem altar, dann vor der Madama Real (die in ihrem oratorio gewesen) und endlichen den gesanten reverenz gemacht, die cavallieri aber dell’Annuntiata (außer deren niemands geopfert) erstlich vor dem altar, dann dem herzog, darauf die Madama Reale und endlich die gesanten salutirt. Nach vollendtem Gottesdienst seindt ihr Durchlaucht inn vorbeschriebener solennitet über die gaßen inn ihre residenz zwischen dem nuncio und meiner gangen, hinder uns aber des principe Tomaso beede herrn söhne, und nach ihnen der groß canzler und præsident Barozzi, denen beeden 2 pedellen, wiebey der hofstat der heroldt, die vergultte mazza66 vorgetragen. Inn der andern anticamera haben ihr Durchlaucht den nuncium und mich licentyrt, die cavallieri dell’Annuntiata aber alle zu sich ann die tafel gesetzt, und hat diese ceremony biß 3 uhren gewehret, da mann aller orten erst das mittagmahl eingenommen. Abendts zwischen 4 und 5 uhr haben die heiligen Jesuitern inn ihrer kirchen ein oration zu lob dieses heuraths gehalten, welches sehr wohl gemacht, und declamirt worden. Der orator war pater Joan Petrus Ferrarius, Prof. rhetorices, und würdt mann mir davon ein exemplar zuestellen. Ist wohl zuelesen, weile ewre churfürstliche Durchlaucht und ihres ganzen hohen hauses facta heroica darinnen absonnderlich wol abgeführt worden. Und weil ich dieser oration beygewohnt, haben beede, der nuncius und servient, der Madama Real, dieses heuraths halben gratulirt. Ich bin hernach zu dem regierenden herrn erfordert worden. Und habe inn gehabter audienz ihre Durchlaucht im nahmen beeder ewrer churfürstlichen Durchlaucht und ihr Durchlaucht herzogen Ferdinandts gebetten67, ob sie die function der vermählung übernehmen wollte. Und nachdem sie sich erbotten, die darauf gerichte commission und dem mählring selbsten ihrer Durchlaucht überantwortet, die dann, weiln es abermal ein audienz publica gewesen, das capsul gleich eröffnet unndt den ring männiglich gezeigt, der dann auch sehr von männiglich admirirt worden. Von da hat mann mich wieder zu der Madama Real erfordert, und haben mich ihr Altezza mit allerhand discursen fast wieder ein paar stundt bey sich behalten. Es hatt darunder occasion geben, von ihrer churfürstlichen Durchlaucht, meiner gnädigsten frauen68, present zureden, welchs ich dann, nachdem ich zu hauß kommen, durch meinen commissarium conte Murador underthänigst überschickt. Die Madama Reale hat großes gefallen darob gehabt. Und der herzog vermeint, mann soll es zu an-
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Ein Kelchteller mit dem Bild Christi, der während des Agnus Dei den assistierenden Kanonikern zum Kuß dargereicht wurde. 66 Ein vergoldeter Stab. 67 Am Rand: „Nota bene, nota bene“. 68 Kurfürstin Maria Anna (1610-1665).
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dern rariteten, die ihr Durchlaucht in dem Valentino69 aufhalten, thun. Die herzogin aber wills bey sich in ihrem cabinet und allezeit vor ihren augen behalten. Inn Freytag70 ist vormittag nichts vorgeloffen, weil mann allerorten auf das gestrige fest geruhet, und die Madama Reale ihr andacht verricht. Nach eßens hat mich der præsident Barozzi visitirt, und bin dann nach hof erfordert worden, Sanctam Sindonem zu sehen. Davon und was sich weiters ereignet, die nechste folgende underthänigste relation mehrers weisen würdt. Ewre churfürstliche Durchlaucht zu beharrlichen churfürstlichen huld mich darbey underthänigst und gehorsahmst befelchendt ewrer churfürstlichen Durchlaucht Underthänigster diener Maximilian Kurz. Turin, den 10. Decembris 1650. Anlage 3: Diarium des Obersthofmeisters Maximilian Graf Kurz von Senftenau vom 15. Januar bis zum 31. März 1651, darin der Bericht über die ProcuraVermählung Kurfürst Ferdinand Marias am 12. Februar 1651 in München. Textvorlage: Geheimes Hausarchiv München, Korrespondenzakten 631/4, unfoliiert. Titel: Anno 1651 Januarius. Continuation des diarii oder der verzeichnüß deßen, was sich bey hiesiger churfürstlicher hofstat denckwürdiges und anders verloffen. Von dem 15. Januarii 1651 biß umb selbige zeit dis anfangenden 1652 jahrs. Den 15. Januarii 1651 Diesen tag binn ich abendts umb 3 uhr wieder von der mir gnädigst aufgetragenen gesandtschafft von Turino aus Savoya, Gott sei gedanckt, glücklich sambt dem mir zuegebenen comitat71 alhier eingelangt und bey beeden churfürstlichen Durchlauchtigkeiten72 den anfang meiner underthänigsten relation gemacht. 16. Januarii Diesen tag hab ich folgendts mein relation underthänigst abgeleget. 17. Januarii Seindt vormittag ihre churfürstliche Durchlaucht die churfürstin nach Alttenhof, alßdann spazieren vf dem Hirschannger73 nachmittag gefahren. Hatt auch der abgeordtnete vonn Hall, Buechenberger, bey ihrer churfürstlichen Durchlaucht, meinem gnädigsten herrn, audienz gehabt. Abendts hab ich weiters wegen meiner saphoischen verrichtung underthänigst referiret. 18. Nichts vorgangen.
___________ 69
Gemeint ist das Castello del Valentino in Turin. 9. Dezember 1650. 71 Gefolge. 72 Kurfürst Maximilian I. und Kurfürstin Maria Anna (1610-1665). 73 Ca. 1 km nordöstlich der Residenz. 70
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19. Nichts vorgangen. 20. Seindt ihre churfürstliche Durchlaucht, meine gnädigste frau, zu den heiligen herren Jesuitern gefahren. Alda dem ambt bey St. Sebastiansaltar beygewohnt. Nachmittags gen Niederholzen74 gefahren. 21. Seind meine gnädigste churfürstin inn die Crufft75 zur gewönlichen devotion gefahren. 22. Ist herr von Seinßheimb ins Reich verreiset und 6 wochen erlaubnus bekommen. 23. Seind meine gnädigste churfürstin nachmittag uf den Hirschanger gefahren. 24. Seind ihr churfürstliche Durchlaucht, meine gnädigste frau, morgens nach Altenhof, nachmittags aber auf Niederholzen gefahren. 25. Nichts vorgangen. 26. Seindt meine gnädigste churfürstin zu den heiligen herren Augustinern76 gefahren. 27. Nichts vorgangen. 28. Seindt früh umb 7 uhren die churfürstliche prinzen77, dann umb 9 uhr meine gnädigste churfürstin in die Krufft gefahren. 29. Nichts vorgangen. 30. Seindt ihre churfürstliche Durchlaucht meine gnädigste frau zu den heiligen herren Augustinern gefahren. 31. Seindt sie frühe zue den heiligen herren Jesuitern gefahren.
___________ 74
Bei Sendling (München)? In der St. Michaelkirche in München. 76 Augustinerkloster in München. 77 Ferdinand Maria und Maximilian Philipp (1638-1705). 75
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1. Februarii Nichts vorgangen. 2. Seindt zu hof die lichtmeß solenniteten und procession wie jährlich gewönlich gehalten worden. Abendts ein courrier von Maylandt, der gewönlich vonn dem Orabone gebraucht worden, mit schreiben aus Savoyen ankommen. 3. Diesen tag ist ein courier von Linz mit schreiben vonn ihrer kayserlichen Majestät78 angelangt. 4. Nichts vorgangen. 5. Ist der kaiserliche courier wieder abgefertiget worden. 6. Seindt meine gnädigste churfürstin zu den heiligen herren Carmelitern79 gefahren. 7. Seindt sie abendts zu den heiligen Jesuitern zur vigil herzog Wilhelms80 hochlöblichster gedechtnus gefahren. 8. Diesen morgen alda dem seelambt beygewohnet. Nachmittag seindt die churfürstlichen prinzen uf den schlitten gefahren, sambt etlichen herren cammerern und hof damas. Hernach ist umb 3 uhr die comœdy vonn den hof musicis probirt worden, darbey die chur- und fürstlichen persohnen gewesen. Auch den stattleüten solche zuesehen gnädigst erlaubt. 9. Februar Seindt vormittag ihr churfürstliche Durchlaucht, die churfürstin, zu den heiligen Carmelittern gefahren. Hernach hatt umb 9 uhr bey ihr churfürstliche Durchlaucht, dem churfürsten, der schweizerische abgeordnette Sebastian Pillegrin Zweyer81, obrister und landthauptmann zu Ury, audienz gehabt.
___________ 78
Kaiser Ferdinand III. (1608-1657). Karmeliterkloster in München. 80 Herzog Wilhelm V. (1548-1626). 81 Sebastian Peregrin Zwyer (1597-1661), Landammann in Uri. 79
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Nachmittag seindt ihr churfürstliche Durchlaucht, die churfürstin, von des herzog Albrechts82 Durchlaucht uf den schlitten geführet worden. Nach dero die 2 churfürstliche prinzen, die hof dames und herren cammerer gefahren. 10. Nichts vorgangen. 11. Vormittag seindt meine gnädigste churfürstin und zuvor beede churfürstliche prinzen inn die krufft gefahren. 12. Ist nachmittag der obrist Zweyer expedirt und aus dem wirtshauß gelöset worden. Abendts ein kaiserlicher courier wieder nach Wien abgefertigt worden. 12. [sic] Seindt vormittag ihre fürstliche gnaden von Freising83 sambt 23 persohnen und 18 pferden uf vorgangene einladung ankommen. Zuvor aber ein stuckh wegs vor der statt von herrn hofmarschallen84 und etlichen trüchseßen empfangen, eingeholt und in die churfürstliche residenz logirt. Und der von Ginßhaimb zum commissario verordnet worden. Abendts umb 4 uhren seindt alle chur und fürstlichen persohnen sambt des herrn bischofs fürstliche gnaden inn einer schönen ordnung und köstlichen apparat zu unser lieben frauen kirchen gefahren außer ihr churfürstliche Durchlaucht des Churfürsten. Ihr Durchlaucht Herzog Ferdinand aber, alß fürstlicher sposo85, seindt geritten. Ihr fürstliche gnaden von Freising haben pontificirt. Bey dem eingang der kirchen ihre churfürstliche Durchlaucht die churfürstin und des herzog Ferdinands Durchlaucht empfangen und weitters zum hohen Altar begleitet. Alda zur rechten ein schön baldaquin für ihr churfürstliche Durchlaucht die churfürstin, herzog Albrechts86, Herzog Maximilians87 und des herren Coadiutoris88, DDD, ufgerichtet. Gegen über ein anders für den churprinzen und gleich bey dem Alttar eins für des herrn bischofs fürstliche gnaden. Hiernach hatt die hof musicq angefangen, das Te Deum Laudamus gesungen, und was weiters dabey vorgangen, ein absonderliche zu papire gebrachtte relation solcher folgender ubrig [?] vorgangenen solenniteten zeiget. Nach diesem haben samtliche chur- und fürstliche persohnen die mahlzeit in der ritterstuben in publico. Hernach einen danntz haltten laßen, darbey alle chur- und fürstliche persohnen, auch die herren cammerer und andere officieri neben dem stattfrauenzimmer gewesen, so biß gegen mitternacht gewehret.
___________ 82
Herzog Albrecht VI. (1584-1666). Veit Adam von Gepeckh, Bischof von Freising (1584-1651). 84 Hans Georg Christoph Freiherr von Haslang. 85 Verlobter, Bräutigam. 86 Herzog Albrecht VI. 87 Maximilian Heinrich (1621-1688). 88 Albrecht Sigmund, Koadjutor im Bistum Freising. 83
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13. Morgens ist ein solennes ambt in der hofcapell gehalten. Alda ihr fürstliche gnaden von Freising pontificirt. Umb ein uhr nachmittag haben ihr churfürstliche Durchlaucht, die churfürstin, sich anbey 23 andern uf den schlitten führen laßen. Nachmittag umb 2 uhr ist die schöne comœdy in gegenwart aller chur und fürstlichen persohnen und andern spectatoren gehalten worden, deren dissegno absonderlich beschrieben. 14. Februar Ist abendts der verstorbenen Kaiserin Leopoldinae89 vigil bey den heiligen Jesuitern celebrirt worden, alda meine gnädigste churfürstin sambt beeden churfürstlichen prinzen beygewohnt. 15. Morgens ist das seelambt gehalten worden, darbey höchstgnädigste chur- und fürstliche persohnen nicht wenige sich befunden. Diesen vormittag ist der churfürstliche carabiner, der St. Urbain, mit einer expedition per posta nach Turino abgeschickt. Nachmittag ist wieder ein comoedy bey den heiligen Jesuitern gehalten worden, darbey alle chur- und fürstliche persohnen gewesen. 16. Ist ankommen ein abbt von dem herzog von Modena. Der ist in das gesanten hauß logirt, und ihm der junge Tanner90 zum commissario zuegeben worden. 17. Hat iezt gemelter abt bey meinem gnädigsten churfürsten audienz gehabt. 18. Februar Seindt meine gnädigste churfürstin und beede churfürstliche prinzen inn die chrufft zu abstattung gewönlicher devotion gefahren. Nachmittag eine staffete von Wien über Regenspurg. Hernach abendts ein courier vonn Linnz ankommen. Seindt auch die landtschaffs herrn wieder vonn hier heimb gereiset. 19. Februar Nachmittag seind die chur- und fürstliche persohnen sambtlich zu den heiligen Jesuitern, alda selbigen tags ablaß gewesen, gefahren, und vesper beygewohnet. Ist selbigen tag aus gnädigster bewilligung fechtspiel gehalten worden. Abendts der kaiserlicher courier vonn Linnz wieder abgefertigt.
___________ 89 90
Maria Leopoldine (1632-1649), die zweite Gemahlin Kaiser Ferdinands III. Gemeint Christoph Dismas Freiherr von Thann?
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20. Früh hat sich der abgesantte vonn dem herzog vonn Modena wieder licentyrt und ist die spesa im wirtshauß für ihne bezahlt worden. Nachmittag hat mann den churfürstlichen carabiner Jean nach Turin per posta abgefertiget. Abendts haben etliche churfürstliche cammerer und hof cavalieri sambt etlichen stattfrauenzimmer ein schöne mascara per die 20 paar vonn allerhandt frembden aufzügen gehalten. Und zu hof im beyseyn aller chur und fürstlichen persohnen, gedachte cavallieri gedanzet, alda ihnen hernach ein vornehme collation gegeben worden. Und selbige festa biß auf mitternacht gewehret. 21. Seindt nachmittag meine gnädigste churfürstin nach Niederholzen gefahren, und haben daselbsten ein stuckh wildt geschoßen. 22. Ist nachmittag dem h. P. Reformatorum Provincialis [?] aus Niederlandt die churfürstliche residenz gewiesen worden. 23. Ist sie gewiesen worden Andre vonn Ernau91, herrn zur Mosburg und Glanegg aus Kärnten. 24. Seindt zur nachmittagsmahlzeit der jährlichen gewohnheit nach zwölf arme weiber in der churfürstlichen residenz gespeiset und von meiner gnädigsten churfürstin ihnen die speisen vorgestellet worden. Ist auch hieher kommen Achatius Bidermann vonn Heydelberg. 25. Ist der gehaime raths secretarius Franz Mayer92 nach Turino incognito verschickt worden und abgereiset, deme mitgegeben der mit einer dispatitio vonn Maylandt hieher geschickte lieutenant, der Schmidt, so aber allein biß gehn Maylandt mit ihm gereiset und alda verblieben. Seind auch vormittag die churfürstlichen prinzen umb 7, dann meine gnädigste churfürstin umb 9 uhren in die krufft gefahren. 26. Februar Nachmittag seindt beede churfürstliche prinzen uf dem schlitten nach Schleißham93 gefahren.
___________ 91 92
burg. 93
Andreas von Ernau (1610-1673). Franziskus Freiherr von Mayer, später Geheimer Rat und Gesandter in RegensSchleißheim bei München.
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27. Seindt meine gnädigste churfürstin hinaus in den Endtenbach gefahren. 28. Seindt die churfürstliche prinzen uf den schlitten außer thors gefahren. 1. Martii Nichts vorgangen. 2. Seindt meine gnädigste churfürstin erben des Herzogs Ferdinandt Durchlaucht allein, weile herzog Maximilian sich etwas unpäßlich befunden, nach St. Petter94 gefahren, alda den gewöhnlichen Gottes dienst vor dem Oelberg beygewohnt. 3. Ist nachmittag Johann Fridrich von Holstein, einem vom adel aus Dennemarckh, die churfürstliche residenz gewiesen worden. 4. Seindt meine gnädigste churfürstin und des herzog Ferdinandt Durchlaucht ohne den herzog Maximilian, so noch etwas ubel aufgewesen, in die Krufft gefahren. 5. Haben beede churfürstliche prinzen inn dem zwinger zur scheiben geschoßen. 6. Seindt die regenspurgische deputirte, Joachim Kerscher95 des raths alda und doctor Johann Schlossenreuter, ankhommen. 7. Nichts vorgangen. 8. Ist früh herr cammer præsident96 nach Wien verreiset. Abendts seindt von Wien ankommen herr Wolf Georg Graf vonn Castel97, und Hanß Conradt Varnbühler98, beede fürstlich Wirtenbergische gesandte, darbey auch einen gefärten mitgeben. Georg Fürstenauer, abgeordtneter vonn der statt Heerfordt, hatten 2 trompeter, 19 diener und 26 pferdt. 9. Seindt beede fürstliche wirtembergische gesantte nacher hof zue audienz geführt worden, und von herrn Edelweckhen99 alß commissario begleytet. Warbey die herren
___________ 94
Pfarrkirche St. Peter in München. Joachim Kerscher, Mitglied des Inneren Rates der Stadt Regensburg. 96 Johann Mandl (Mändl), Freiherr von Deutenhofen. 97 Wolf Georg Graf von Castell. 98 Dr. Johann Konrad Varnbühler. 99 Johann Jakob Edelweck, Hofrat. 95
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cammerer, truchseßen, räthe und die herrn vonn München sich befunden und aufgewartet. Nachmittag ist ihnen die churfürstliche residenz gewiesen worden. Seindt auch hernach die churfürstliche prinzen auf den schlitten vor dem thor. Abendts aber meine gnädigste churfürstin zur angst100 gefahren. Damals auch beede carabiner St. Urbain und Jean wieder von Turino khommen. 10. Martii Nichts vorgangen. 11. Martii Seyndt die churfürstliche Durchlaucht, meine gnädigste frau, und beede prinzen in der krufft gefahren. Diesen tag auch die fürstlich wirtembergische abgesantte wieder wegk und aus dem Wirtshauß gelöset worden. 12. Nichts vorgangen. 13. Seindt meine gnädigste churfürstin sambt beeden churfürstliche prinzen nach Niederholzen gefahren und daselbsten 3 stuckh wildt geschoßen. Ist herr Dr. Krebs101 nach Straßburg verschickt worden. Auch einem dannischen von adel, Magno Krage, und einem österreichischen herren die residenz gewisen, wie nicht weniger dem Bidermann von Heidelberg. 14. Nichts vorgangen. 15. Nichts vorgangen. 16. Seindt meine gnädigste churfürstin abendts zu der angst nach St. Peter gefahren. 17. Haben nachmittag ihr churfürstliche Durchlaucht, mein gnädigster herr, die pferdt im hofstall besichtiget. Vormittag aber mein gnädigste churfürstin zu den nunnen in dem Biderichregulhauß102 gefahren.
___________ 100
Gemeint ist vermutlich eine Andacht zur Zeit des Angstläutens am Donnerstagabend. 101 Dr. Johann Adolf Khrebs. 102 Püttrichkloster in München.
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18. Seindt meine gnädigste churfürstin sambt den churfürstlichen prinzen in die crufft gefahren. Nachmittag ist die churfürstliche residenz gewiesen worden herrn Aede Sestern, Christian Sparzen, beeden vom adel aus Dennemarckh, undt Wolf Ferdinandt Jobst von Jöbstlberg, österreichischen freyherr. 19. Haben alle chur- und fürstliche persohnen dem Gottesdienst bey den heiligen Carmelitern beygewohnt. 20. Ist herr oberst von Haslang103 uf seine guter verreiset. 21. Seindt meine gnädigste churfürstin und die churfürstliche prinzen nach Häching gefahren, zwischen da und Freymann104 7 füchs und 1 hasn gefangen. 22. Seindt meine gnädigste churfürstin zum anger gefahren, unnd bey dem mittagmahl alda verblieben. 23. Seindt sie abendts nach St. Peter zur angst gefahren. 24. Ist der vonn Geißhaimb nach Wien verreiset. 25. Abendts hatt herr P. Provincial den PP. Revormatorum bey ihr churfürstliche Durchlaucht wieder gnädigsten herrn audienz gehabt. 26. Seindt die Bertolsgadische abgeordtnete, herr dechant Johann Paul Bertram, Dr. Sebastian Bombra, canzler und Adam Stäckel ihr hofmeister ankommen. Hatt auch die freüle [?] Gräfin vonn Sulz von hof abschiedt genommen und vonn gnädigsten churfürstin ihr ein ring vonn 50 tahlern verehrt worden. 27. Haben nachmittag des herzog Ferdinandts Durchlaucht ihr examen philosophica inn beyseyn meiner Durchlaucht, herrn vonn Metternich105, herrn marschalls106, herrn von Pienzenau, und herrn vonn Leibelfing gehalten.
___________ 103
Georg Christoph Freiherr von Haslang, Oberstkämmerer. Freimann bei München. 105 Johann Adolf Freiherr von Metternich, Hofmeister Ferdinand Marias. 106 Hans Georg Christoph Freiherr von Haslang. 104
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28. Haben die Bertolsgadische abgeordnete inn dem churfürstlichen gehaimen rath ihre commission abgelegt. Seindt meine gnädigste churfürstin morgens nach Loreto, nachmittag zur littaney nach Forstenriedt107 gefahren. den 30. Martii Nichts vorgangen. 31. Ist herr vonn Seimßheimb wieder khommen. […]
___________ 107
Forstenried bei München.
Im Anblick des Fremden Über Fremdheit, Gewalt und Identität in der Frühen Neuzeit
Von Karl H. Metz, Erlangen
I. Die anderen und der Fremde Der Augenblick, in dem der Mensch sich selber fremd wird, ist der dramatischste in der Geschichte des Geistes. Der Augenblick, in dem ein Mensch fremd wird unter den anderen, ist der dramatischste in der Geschichte der Gesellschaft. Die Fremdheit vor sich selbst führt zur Frage nach dem Göttlichen als dem absolut Fremden und dem Wunsch, durch Teilhabe an ihm die eigene Fremdheit zu überwinden. Die Fremdheit unter den anderen führt zur Frage nach einer Gesellschaft, in welcher der einzelne mit allen anderen identisch ist und dem Wunsch, diese herbeizuführen. Wo sich die Überwindung der sozialen Fremdheit mit jener der Fremdheit vor dem Göttlichen verbindet, kommt es zum Konflikt mit denen, die sich dieser Identität nicht fügen. Ihre Anwesenheit stört die Einheit von Göttlichem und Sozialem. Sie sind die Fremden, die dem Heil im Wege stehen: Babylon vor den Pforten des Paradieses. Sie aus dem Weg zu zwingen bedeutet Gewalt anzuwenden, eine Gewalt, die im Kreis des Heils steht, eine Gewalt, die den Feind erkennt, indem sie ihn als den Fremden identifiziert. Wenn die der Geschichte, d. h. der Unvollkommenheit verfallene Gesellschaft eine Ansammlung von anderen ist, die sich irgendwie zwischen Fremdheit und Identität zueinander verhalten und die Politik eine Tätigkeit des stückweisen Ausgleichs zwischen ihnen, so ist eine Gesellschaft, die nach Vollkommenheit strebt, eine Gesellschaft jenseits der Geschichte, die keine anderen mehr kennt, nur noch Gleiche, Identische und eben jene Fremden, denen man die Gewalt entgegensetzt. Fremdheit macht Angst, und je größer die Fremdheit, desto größer die Bereitschaft zur Gewalt oder die Furcht davor. Fremdheit und Identität, Gewalt und Angst sind Formen des Bewußtseins, die in der Gesellschaft ihren Ursprung haben. Die Gemeinsamkeit von Regeln, Werten, Riten stiftet Vertrauen, schafft Teilhabe. Der Fremde ist dann einer, der am symbolischen Bestand einer Gesellschaft nicht partizipiert, dennoch in
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ihr vorhanden ist. Seine Nichtteilhabe, die immer auch ein Stück Verweigerung ist, läßt ihn als Feind erscheinen, vor allem, wenn dieser symbolische Bestand metaphysisch begründet ist. Seine Ablehnung wird zur Verweigerung vor Gott, er selbst zu einem Feind Gottes, was den Kampf gegen ihn zur Heilstat werden läßt, weit über alle Pragmatik einer weltlichen Auseinandersetzung um Güter und Macht hinaus. In der Religion, in den Ordnungen absoluter Weltdeutung überhaupt, wird die Fremdheit total, wenn die Anerkennung verweigert wird. Ein Fremder kann sein, wer das Erste einer Gemeinschaft nicht teilt, die Selbstverständlichkeiten des praktischen Lebens, wie Sprache und Sitten. Zum Feind braucht er nicht zu werden. Er muß es werden, wenn er die Anerkennung des Göttlichen verweigert, wie sie die dominierende Gesellschaft festgelegt hat. In den Jahrhunderten der Alten Gesellschaft, in der die Regionen die nationale Sprache bis fast zur Unverständlichkeit differenzierten und die ständische Ordnung eine extreme Ungleichheit der Menschen nicht nur festlegte, sondern sogar feierte, war das „Erste“ einer Gesellschaft als etwas Einheitliches kaum faßbar.1 Dennoch verhielten sich vormoderne Gesellschaften nicht unbedingt großzügiger gegenüber Fremden. Gerade weil im Ersten des alltäglichen Lebens die Vielfältigkeit bestimmend blieb, war im „Letzten“, dem religiösen Bekenntnis kein Raum für Vielfalt. Gesellschaften der extremen Ungleichheit integrieren durch die Verbindlichkeit der einen Religion. Wer ihr nicht angehört, bleibt Geschöpf der Gnade. Er partizipiert nicht am Wesentlichen, der sozialen Verehrung des Göttlichen, aus der die Gesellschaft ihre metaphysische Sanktion bezieht. Damit ist er überhaupt unfähig zur Partizipation in dieser Gesellschaft. Die Juden sind deshalb die exemplarischen Fremden der Frühen Neuzeit. Fremdheit sicherte hier Identität, die der Juden wie der Christen. Die Juden existierten als kleine Minderheit im Land einer großen Mehrheit, der sie nicht angehören wollten, einem Land, das Exil für sie war. Man kann aber auch fremd werden im eigenen Land, denn Minderheiten können ebenso gut Herren sein wie Knechte. Die Fremdheit von Iren und Engländern war von dieser Art. Die englische Minderheit in Irland war eine der Herren, und die Fremdheit, in der sie sich als Herrenschicht zu erhalten suchte, war die der Eroberung, Unterwerfung und Niederhaltung, ein kolonialer Zustand voller Gewalt, weil die unterdrückte Mehrheitsbevölkerung immer gewaltfähig blieb und die Minderheit der Herren ohne eine überlegene Gewaltfähigkeit weder sozial noch physisch überlebt hätte. Radikal wurde dieser Gegensatz, als mit der konfessionellen Spaltung des westlichen Christentums das „Letzte“ in der sozialen Verbindung von Herren und Knechten, die Gemeinsamkeit der religiösen Verehrung, zerbrach und die Fremdheit der anderen total wurde. ___________ 1 Vgl. Helmut Neuhaus, Fremd in der Nähe – nah in der Ferne. Leben mit Fremden in der Frühen Neuzeit (Erlanger Forschungen, Reihe A, Bd. 77), Erlangen 1997, S. 7 ff.
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II. Der Ire als der Fremde des Engländers Im Iren erkennt der Engländer, was er nicht ist noch sein will. Der Ire ist nicht ein Anderes-Ich, er ist ein Gegen-Ich, einer den keine Gemeinsamkeit mehr faßt. Für Irland beginnt die Neuzeit mit dem konfessionellen Bruch, der im 17. Jahrhundert gewalttätig wird. Die Gewalt eskaliert zum Krieg gegen den „Anti-Christ“, den man im Feind jeweils zu erkennen glaubte. Zwar reichte die Abgrenzung des Engländers vom Iren weit zurück. Bereits in den Statuten von Kilkenny (1366) war eine Art Rassen-Schranke zwischen gälischen Iren und anglo-normannischen Eroberern errichtet worden, um die „Degeneration“ der Herren durch jede Art von sexueller Verbindung mit den Unterworfenen zu verhindern. Aber auch der Gebrauch der gälischen Sprache oder die Übernahme einheimischer Sitten wurde untersagt.2 Das Irische war das „Barbarische“, das durch nichts zu heilen war. Es blieb allein das Band eines gemeinsamen Bekenntnisses. Doch selbst dieses war bereits geschwächt durch die Drohung an alle Engländer, bei einem Bruch der Statuten exkommuniziert zu werden. Das für strikt hierarchisierte Gesellschaften kennzeichnende Verbot des Konnubiums war hier auf ein ganzes Volk ausgedehnt worden, das durchaus selbst hierarchisch gegliedert war, wenngleich nicht in der feudalen Form der anglonormannischen Herrschaft. So blieb auch die Gemeinsamkeit der Religion ein Herrschaftsverband, denn die katholische Kirche wurde von den Eroberern kontrolliert, ihre Hierarchie war englisch. Daher scheiterte denn auch das Bemühen König Heinrichs VIII., in Irland die Reformation durchzuführen, weil zwar die Hierarchie gehorchte, das einfache Volk jedoch die Gefolgschaft verweigerte, dem diese Hierarchie stets fremd geblieben war. Die Reformation vertiefte damit den Gegensatz zwischen Iren und Engländern zum metaphysischen Bruch. Der Versuch Heinrichs VIII., die Iren durch Reformation und die Ablösung des Clan-Systems zu Engländern zu machen, was zugleich die Aufhebung der ethnischen Diskriminierung bedeutet hätte, war gescheitert. Im Gegenteil, das Festhalten am Katholizismus vertiefte noch die „Barbarei“ des Iren in den Augen der Engländer. Die kurze Idee einer Bekehrung der Iren, reformatorisch wie zivilisatorisch, zum Zustand des Englischseins wich erneut der Überzeugung, dergleichen sei unmöglich. Der Versuch, Irland durch Siedler zu kolonisieren, war eine Konsequenz dieser Unmöglichkeit, die Iren zu Engländern zu machen. Das blutige Scheitern des irischen Widerstands zeigte die zivilisatorische Differenz als Differenz militärischer Kapazität. Erst der Zusammenbruch der politischen Ordnung in England und der beginnende Bürgerkrieg ließ daher die Möglichkeit entstehen, sich der Fremden zu entledigen, durch Totschlag und Vertreibung. Der Aufstand von 1641 begann mit einem Massaker: Die Angst vor der Gewalt der Herren schlug ___________ 2
James C. Beckett, Geschichte Irlands, 4. Aufl. Stuttgart 1997, S. 29 ff.
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in Haß um, sobald diese nur ihre Fähigkeit zur Gewalt verloren zu haben schienen. Vor den Iren schützte die Siedler lediglich ihre überlegene Fähigkeit, Gewalt auszuüben. Für die Iren verkörperte sich die Fremdheit der Engländer in der Gewalt. Sie war es, welche die Fremden konstituierte, sie war es, die sie vernichtete. Der blutige Leib Christi versöhnte nicht in gemeinsamem Erschrekken, er schürte noch den Haß auf den Feind, der als Feind Gottes selbst gedeutet wurde. Iren wie Engländer fühlten sich als Opfer, die als Täter lediglich die „Gerechtigkeit“ wiederherstellten, die Gerechtigkeit eines Gottes, der nur Freunde oder Feinde kannte. Diese Vorstellung, daß man im Feind den Feind Gottes selbst erschlug, daß man das „Werkzeug“ Gottes war, wie bewußtlos sein Werk tat, eskalierte dann im radikalen Puritanismus und in der Rückeroberung Irlands durch das puritanische Heer Cromwells (1649-52).3 Apokalypse und Plünderung: Das waren die elementaren Triebkräfte des Feldzugs in Irland. Gott war in der Geschichte präsent und sein Werk zu tun hieß, die Verblendeten, Verworfenen zu strafen, ehe Er in Gestalt Christi kam, endgültig, um zu richten und zu strafen. Die Vorstellung der Reinigung des Landes vor seinem Kommen entsteht, der Reinigung von den Engländern, der Reinigung von den Iren, fort nach Nordamerika oder zumindest nach Westen, eingeschlossen im kargen Connaught, abgeschlossen von den wahren Gläubigen.4 Doch wenn diese selbst Herren sein wollten, konnten sie der Knechte nicht entbehren. Die Iren blieben, fremd im eigenen Land5, mit der Gewalt als einzigem Zeichen einer Humanität, die sie mit den Herren verband, einer menschlichen Gewalt, die im Bewußtsein gründete, in der Religion. Zu apokalyptischen Feinden, von deren Verwerfung das Heil der Seele abhängt, das eigene wie jenes der Gemeinschaft insgesamt, kann man keine Brücke bauen: Der Abgrund ist es, der rettet. Und auch den katholischen Iren waren die puritanischen Engländer so apokalyptisch fremd wie der Satan selbst und der Krieg mit ihnen ein Spiegelbild des Kampfes zwischen Gott und Teufel. In der Totalität des Feindes ist dieser nur noch als Finsternis wahrnehmbar, die zu durchschreiten zur Prüfung wird.
___________ 3 Wilbur C. Abbot (Ed.), The Writings and Speeches of Oliver Cromwell, Vol. 2, Cambridge Mass. 1939, S. 125, S. 127 f. 4 Vgl. Peter B. Ellis, Hell or Connaught! The Cromwellian Colonisation of Ireland, London 1975. 5 Karl H. Metz, „A Tale of Troy“: Geschichtserfahrung und die Anfänge der Nationwerdung in Irland 1641-52, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 38 (1987), S. 466-477.
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III. Der Jude als der Fremde des Christen Fremdheit besitzt stets ein Potential der Gewalt. Iren wie Engländer benutzten sie gleichermaßen. Die Juden hingegen blieben zu schwach und zu zerstreut, um gewaltfähig zu sein. Sie blieben Opfer. Die Fremdheit des Juden war wesentlich eine religiöse und zwar in ungleich entschiedenerer Weise als die des Iren. Im katholischen Iren zeigte sich nur das Verächtliche des „Papisten“, doch sein Verschwinden hätte allenfalls England gerettet. Der Jude hingegen besetzte eine geschichtstheologische Position. Seine Weigerung, Jesus als Messias anzuerkennen, blockierte die christliche Heilsgeschichte, galt doch die Überzeugung, die Parusie und die jüdische Anerkennung als Messias seien heilsgeschichtlich aufeinander bezogen. Bis dahin war die Ausgrenzung der Juden, die durch ihre Leugnung Jesu die ganze christliche Rettungsbotschaft in Frage stellten, unabdingbar für deren Wahrheitserweis. Ihre Unterworfenheit bewies, daß den Leugnern Unheil widerfuhr und eben dies bewies, daß diese Leugnung Lüge war. Das Verbot des Konnubiums wie eine äußere Kennzeichnungspflicht (Judenzeichen, Judenhut), der Ausschluß von allen ehrenhaften Berufen wie von öffentlichen Ämtern fixierten diese Ausgrenzung auch rechtlich. Das geschah allerdings anderen Gruppen ebenso, die ohne ständische Ehre lebten, am Rande der Gesellschaft, geduldet oder verfolgt. Sie waren entbehrlich, die Juden nicht, weder theologisch noch ökonomisch6, und eben deshalb blieb ihre Fremdheit Provokation, wurden die Juden zum Feind. Ihre Exklusivität schürte den Haß und erhielt sie zugleich. Die große Welle der Vertreibungen an der Wende zum 16. Jahrhundert verschloß ihnen viele Territorien und die meisten Städte. Ihren Zusammenhalt konnte sie nicht zerstören. Mochte auch der Tempel in Trümmern liegen, „Jerusalem“ war nicht zerstörbar, weil es längst in der Geographie des Bewußtseins seinen Platz gefunden hatte. Deshalb auch war der Versuch des Sabbatai Zewi vergeblich, als Messias sein Volk in ein gemauertes Jerusalem zurückzuführen (1664-66).7 Die Begeisterung, die er zeitweise auslöste, hatte ihren Ursprung nicht einfach in einem „irischen“ Wunsch, ohne die unterdrückenden Fremden im eigenen Land zu leben. Es ging nicht um eine einzelne „trojanische“ Geschichte, sondern um eine eschatologische, welche die ganze Menschheitsgeschichte umwenden sollte. Die Fremdheit der Juden war eschatologisch gegründet und der Jude daher ein Mensch, der die Verachtung, welcher er ausgesetzt war, ertragen konnte, ohne sein Selbstbewußtsein zu verlieren. Fremdheit war hier bewußte Annahme des Fremdseins als Zeichen der kollektiven Auserwähltheit durch Gott, sie war Zeichen der Treue, vor der alles zweitrangig ___________ 6 Friedrich Battenberg, Das Europäische Zeitalter der Juden, Bd. 2, Darmstadt 1990, S. 103 ff, S. 112 ff. 7 Ebd., S. 38 ff.
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wurde. Diese Treue erwies sich als Treue zum Gesetz in seiner talmudischen Auslegung, das eine Gemeinsamkeit mit Nicht-Juden im Teilen des Mahls, im Gemeinsamen von Festen, Riten, Heiraten ausschloß. Die Fremdheit war auch Schutz vor den Gefahren einer Gemeinsamkeit, in der das Eigene verlorenzugehen drohte. Fremdheit definierte Identität und schützte sie zugleich. Daß diese „Blindheit“ als Kraft der Verweigerung in der Religion ihre stärkste Wurzel hatte, war jenen wohl bewußt, die versuchten, das Widerständige dieser Fremdheit aufzubrechen, weil sie es als Bedrohung auffaßten. Luthers Forderung, die Lehrhäuser der Juden abzureißen und den Talmud zu verbrennen8, zielte auf die Zerstörung der Identität, ähnlich der Unterdrückung der katholischen Kirche in Irland, mit dem symbolischen Preis für einen ausgelieferten Priester, der dem eines erschlagenen Wolfs entsprach. Doch ließ sich diese Radikalität immer weniger aufrechterhalten, je mehr der Staat seine eigene Rationalität als Administration und Verrechtlichung zu organisieren begann. Dieser Staat versuchte, alle in seinem Territorium lebenden Personen regelhaft zu erfassen. Wo Juden geduldet worden waren, kam es seit der Wende zum 17. Jahrhundert zunehmend zu speziellen Judenordnungen, in denen die jeweils privilegierten Juden in das gesellschaftliche Gefüge „eingeordnet“ wurden, an ihrem Rand, doch nicht außerhalb davon. Sie blieben Fremde in der christlichen Gesellschaft, doch die religiöse Totalität dieser Fremdheit war aufgebrochen durch eine rechtliche Anerkennung. Damit war der Weg bereitet für eine Ablösung des Staates von der Konfession und für seine weltanschauliche Neubegründung von der Nation her. In Irland führte das zur Selbstbehauptung als Nation von einer „trojanisch“ erfahrenen Geschichte her und zur heftigen Reaktion einer Minderheit, die sich um ihre Siege betrogen glaubte. Für das Judentum jedoch war die Herausforderung des neuen Zeitalters noch größer. In den Ländern, in denen sie lebten, konnten sich die Juden als kleine Minderheit von meist weniger als 1 Prozent nicht als Nation konstituieren, wenn sie denn dort bleiben wollten. Andererseits wirkten die Erfahrungen der Abgrenzung, Ausgrenzung fort, auf beiden Seiten. Die Nähe wuchs, doch die Distanz blieb erhalten.9 Eine neue, gebrochene Fremdheit entstand, in der eine abergläubische Furcht unter der Mehrheit mit einer assimilatorischen Furcht unter der Minderheit gegeneinander wirkten, Ergebnis einer eschatologischen Vergiftung des Verhältnisses von Juden und Christen über die Jahrhunderte hinweg. Aus der Unfähigkeit, die Halbheit zu ertragen, sie allmählich zu mindern, erwuchs eine neue Fremdheit. ___________ 8
Battenberg, Zeitalter (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 192 ff. Karl H. Metz, Nähe und Distanz. Judenemanzipation und Antisemitismus im Kaiserreich, in: Frank-Lothar Kroll (Hg.), Neue Wege zur Ideengeschichte, Paderborn 1996, S. 361-66. 9
Im Anblick des Fremden
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IV. Der Fremde als das andere Ich Die Radikalität des anderen ist der Fremde. Er wird zum Feind, wo er als Bedrohung wahrgenommen wird. Die Fremdheit der anderen wird meist dann zur Bedrohung, wenn die eigene soziale Identität unsicher geworden ist. Das 17. Jahrhundert mit dem Schrecken des religiösen Bürgerkriegs ist die Katastrophe der englischen Gesellschaft, in der sich die Engländer selbst zu Fremden wurden und Furcht voreinander empfanden. Im Bild des katholischen Iren beruhigte sich der Schrecken vor der eigenen Fremdheit. In ihm erwies sich das Englischsein als Kreis einer Gemeinsamkeit, in dem selbst der englische Gegner noch eine Heimat besaß. Im Blick auf den Juden minderte sich die Fremdheit zwischen Christen, wie sie durch die Glaubensspaltung aufgebrochen war. Der Jude stand an den Grenzen des Christentums wie ein feindlicher Wächter, der dennoch unentbehrlich schien. Die Pragmatik der Welt stellte sich dann zwar auf das Vorhandensein der Fremden ein, regelte es durch Gesetze: „Judenordnungen“, „Penal Laws“, die den Fremden an den Grenzen fixieren und anerkennen. Die Anerkennung der Fremden wird zur Anerkennung einer gebrochenen Welt, in der man sich einzurichten hat, die nicht „gerettet“ werden kann. Nach den Vertreibungen am Übergang zum 16. Jahrhundert fixierte der entstehende absolutistische Staat die Juden an ihrem Platz, diskriminiert, doch in ihrem fremden Dasein nicht bezweifelt. Nach den gewalttätigen Umbrüchen des 17. Jahrhunderts erhielten die Iren einen ähnlichen Platz zugewiesen. Bemerkenswert ist, daß die neue Idee der „Toleranz“ zuerst auf die Juden angewandt wurde, bei J. Locke (1689) und J. Toland (1714). Als unpolitische Religion eines Volkes ohne Land konnte das Judentum in einer Gesellschaft Aufnahme finden, in der Religion und Politik getrennt bleiben sollten. Den Iren hingegen wollte man die Toleranz verwehren, einem Volk mit Land, dessen Religion folgerichtig politisch war. Deshalb wurde die „Emanzipation“ der katholischen Iren zum Beginn ihrer politischen Selbstbehauptung, blieb die „bürgerliche Verbesserung“ der Juden eine philanthropische Bemühung, ehe sie sich zu politisieren begann, als Aufgabe der Fremdheit etwa bei Gabriel Riesser oder als deren Behauptung im Zionismus. Im Konflikt in Nordirland beginnt erst jetzt die Fremdheit zu weichen und in den Palästinensern begegnen den Juden neue Fremde. Die Fremdheit endet nicht. Sie bleibt eine das Bewußtsein gründende Erfahrung und eine die Politik wägende Herausforderung.
Der Dichter als Störenfried: Angelus Silesius und die Debatte um seine „Türcken-Schrifft“ von 1663
Von Thomas Nicklas, Reims Einem zeitgenössischen Kenner der frühneuzeitlichen Reichsordnung wie dem württembergischen Staatsrechtslehrer Johann Jacob Moser (1701-85) war die Brüchigkeit des 1648 errichteten Reichsfriedens wohl bewußt. Er warnte sogar die Männer seines eigenen Standes, die Juristen, vor verunklarenden Interpretationen des Instrumentum Pacis, die nur Unfrieden stifteten und dazu beschaffen waren, die Religionsparteien aneinander zu hetzen. „Bösewichter und gelehrte Kriegs-Gurgeln“ nannte Moser diejenigen Autoren, die in ihren Schriften nicht die gehörige Bedachtsamkeit im Umgang mit dem Text des Westfälischen Friedens walten ließen. Er mahnte ihre unnachsichtige Bestrafung an.1 Konnte man schon den Juristen nicht trauen, so mußte man erst recht die nicht juristisch geschulten Skribenten fürchten, die aus Überschwang oder bösem Willen der zerbrechlichen Reichsordnung einen Stoß versetzen konnten, zumal wenn sie von religiöser oder politischer Leidenschaft ergriffen waren. Dies galt besonders für katholische Schriftsteller, konnte man doch niemals sicher sein, ob sie nicht als Sprachrohr mächtiger Interessen des deutschen Klerus oder gar der römischen Kurie dienten. Immerhin hatte Papst Innozenz X. in seiner Protestbulle „Zelo Domus Dei“ den Friedensschluß von 1648 verworfen und damit in den Augen des katholischen Europa seine Legitimität in Frage gestellt. Allerdings hatten die kontrahierenden Parteien den Widerstand aus Rom bereits vorhergesehen und in einer Vertragsklausel des Osnabrücker Friedens jeden Protest ausdrücklich für unwirksam erklärt.2 ___________ 1 Johann Jacob Moser, Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. 4: Von denen Teutschen Reichs-Tags-Geschäfften, Frankfurt am Main 1768, S. 302. 2 Art. XVII § 3 IPO. Zur Diskussion des päpstlichen Protests gegen den Westfälischen Frieden ausführlich: Konrad Repgen, Der päpstliche Protest gegen den Westfälischen Frieden und die Friedenspolitik Urbans VIII., in: Historisches Jahrbuch 75 (1956), S. 94-122; Ders., Wartenberg, Chigi und Knöringen im Jahre 1645 – Die Entstehung des Plans zum päpstlichen Protest gegen den Westfälischen Frieden als quellenkundliches und methodisches Problem, in: Rudolf Vierhaus/Manfred Botzenhardt (Hg.), Dauer und Wandel der Geschichte. Aspekte europäischer Vergangenheit. Festgabe für Kurt von Raumer zum 15. Dezember 1965, Münster 1966, S. 213-268; zuletzt: Martin Heckel,
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Dennoch blieben Unklarheiten, die an der Belastbarkeit des 1648 erneuerten Religionsfriedens zweifeln ließen. Dies galt zumal, wenn das Reich großen Herausforderungen von außen ausgesetzt war oder wenn im Inneren die Religionsparteien aufeinander stießen. Für Unruhe sorgten bereits ab 1653 die Rekatholisierungsmaßnahmen der habsburgischen Landesherrschaft in Schlesien. Dieses Gebiet stellte einen „Sonderfall im Alten Reich“ dar, weil sich dort beide konfessionelle Kulturen nebeneinander entwickelten.3 Diese schlesische Bikonfessionalität hatte der Prager Frieden von 1635 zwischen Kaiser Ferdinand II. und dem Kurfürsten von Sachsen abgesichert, weil in dieser Übereinkunft die freie Religionsausübung für einzelne Gebietsteile Schlesiens garantiert wurde (Stadt Breslau, Oels, Münsterberg, Liegnitz, Brieg). Diese Teilgarantien zugunsten der Protestanten erneuerte das Instrumentum Pacis Osnabrugense.4 Es schränkte das Ius reformandi des habsburgischen Landesherrn in Schlesien teilweise ein, gab ihm jedoch auch das Recht, dieses in den durch die vertraglichen Beschränkungen nicht betroffenen Gebieten entschlossen wahrzunehmen.5 So setzte Wien ab 1653 die Gegenreformation in den Teilen Schlesiens in Gang, deren protestantische Bewohner keine friedensvertraglichen Garantien genossen. Dies hatte zur Folge, daß in den schlesischen Herzogtümern der Westfälische Frieden unmittelbare Bedeutung für die religionspolitischen Konflikte hatte. Von hier aus wurde er mit einer ganz unerwarteten Heftigkeit in Frage gestellt, als das Reich im Türkenkrieg 1663/64 einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt war. ___________ „Zelo Domus Dei?“ Fragen zum Protest des heiligen Stuhls gegen den Westfälischen Frieden, in: Bernd-Rüdiger Kern/Elmar Wadle/Klaus-Peter Schroeder/Christian Katzenmeier (Hg.), Humaniora. Medizin – Recht – Geschichte, Festschrift für Adolf Laufs zum 70. Geburtstag, Berlin 2006, S. 93-121. 3 Arno Herzig, Schlesischer Barock im konfessionellen Spannungsfeld des 17. Jahrhunderts, in: Mirosáawa Czarnecka/Andreas Solbach/Jolanta Szafarz/Knut Kiesant (Hg.), Memoria Silesiae. Leben und Tod, Kriegserlebnis und Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Zum Gedenken an Marian Szyrocki (1928-1992), Wrocáaw 2003, S. 63-69 (hier S. 63); vgl. auch Norbert Conrads, Schlesien in der frühen Neuzeit (1469-1740), in: Ders., Deutsche Geschichte im Osten Europas: Schlesien, Berlin 1994, S. 291 ff.; Franz Machilek, Schlesien, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung 1500-1650, Bd. 2, Münster 1990, S. 102-138. 4 IPO Art. V § 38. Außerdem erhielten die AC-Verwandten das Recht zum Gottesdienstbesuch jenseits der schlesischen Grenzen (§ 39); sie durften drei Kirchen bei Schweidnitz, Jauer und Glogau errichten (§ 40) und die Krone Schweden behielt sich ein Interventionsrecht zugunsten der schlesischen Protestanten vor (§ 41). Siehe auch: Christian-Erdmann Schott, Die Bedeutung des Westfälischen Friedens für die Evangelischen in Schlesien, in: Bernd Hey (Hg.), Der Westfälische Frieden 1648 und der deutsche Protestantismus, Bielefeld 1998, S. 99-111. 5 Karsten Ruppert, Die kaiserliche Politik auf dem Westfälischen Friedenskongreß (1643-1648), Diss. Bonn 1977, S. 334-337.
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I. Angelus Silesius und seine „Türcken-Schrifft“ Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn als konfessionspolitischer Polemiker schreckte der Dichter Angelus Silesius auch nicht mehr vor frontalen Angriffen auf das Instrumentum Pacis zurück. Er stellte die Geltung einzelner Artikel des Vertragswerkes für seine schlesische Heimat offen in Frage. Im Osnabrücker Frieden (Art. V § 41) hatten sich die Krone Schweden und die evangelischen Reichsstände vorbehalten, zugunsten der Religionsfreiheit der Protestanten in den kaiserlichen Erblanden Fürbitte einlegen zu dürfen.6 Gegen eine Intervention des Kurfürsten von Sachsen zugunsten seiner bedrückten Glaubensgenossen in Schlesien beharrte Kaiser Leopold I. im Jahre 1669 aber auf seinem Jus territorii in den Herzogtümern, das er nicht durch Einreden der evangelischen Reichsstände einschränken lassen wollte.7 Diese kaiserliche Zurückweisung flankierte eine polemische Schrift des Angelus Silesius, die 1670 in der erzbischöflichen Druckerei zu Prag erschien und in der die Gültigkeit des betreffenden Passus im IPO bestritten wurde. Zum einen waren, so stellte der Verfasser fest, die schlesischen Protestanten durch dogmatische Verirrung von der allein bewilligten Augsburger Konfession abgewichen, zum anderen hatten sie durch politisches Aufbegehren ihrerseits gegen den Friedensartikel verstoßen, der es ihnen zur Pflicht machte, sich „tranquillè et pacificè“ zu verhalten.8 Gegen diese Ansicht des schlesischen Konfessionskämpfers legte der Leipziger Gelehrte und spätere Theologieprofessor Valentin Alberti (1635-97) Widerspruch ein, so daß sich eine heftige Kontroverse mit Schriften und Gegenschriften entwickelte.9 Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Ruf des Dichters Angelus Silesius als unerbittlicher Polemiker der Gegenreformation im protestantischen Deutschland bereits gefestigt. 1624 geboren, war er unter dem Namen Johannes Scheffler in einer wohlhabenden lutherischen Familie in Breslau aufgewachsen. In der schlesischen Metropole und in Straßburg erhielt er eine solide akademische ___________ 6 Instrumenta Pacis Westphalicae. Die Westfälischen Friedensverträge 1648, bearb. von Konrad Müller, Bern 1966, S. 127. 7 Matthias Weber, Das Verhältnis Schlesiens zum Alten Reich in der Frühen Neuzeit, Köln 1992, S. 360. 8 Kurtze Erörterung der Frage / Ob die Lutheraner in Schlesien / der in Instrumento Pacis denen Augsburgischen Confessions-Verwandten verliehenen Religions-Freyheit / sich getrösten können, Prag 1670. Vgl. Ernst Otto Reichert, Johannes Scheffler als Streittheologe. Dargestellt an den konfessionspolitischen Traktaten der „Ecclesiologia“, Gütersloh 1967, S. 14 ff. Kritisch zu Reicherts Darstellung: Walter Dürig, Johannes Scheffler als Streittheologe. Marginalien zu der gleichnamigen Veröffentlichung von Ernst Otto Reichert, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 28 (1970), S. 78-92. 9 Weber, Verhältnis Schlesiens (wie Anm. 7), S. 358 f.; siehe auch: Mario Bertelli, Diritto di natura e luteranesimo in Valentin Alberti, in: Rivista di filosofia 96 (2005), S. 351-373.
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Ausbildung, die ihm ein glänzendes Medizinstudium in Leiden und in Padua ermöglichte.10 An der Paduaner Universität zum Doctor medicinae promoviert, kehrte er im Jahr des Westfälischen Friedens 1648 nach Schlesien zurück, wo er als Leibarzt des Herzogs Silvius Nimrod von Württemberg-Oels (1622-64) zu praktizieren begann. Er schloß sich dem Kreis schlesischer Mystiker um Abraham von Franckenberg (1593-1652) an, in dem besonders die Schriften des Görlitzer Philosophen Jakob Böhme rezipiert wurden.11 Die intensive Beschäftigung mit religiösen Fragen entfremdete den jungen Arzt dem Luthertum seines Elternhauses. In einer eigenartigen gedanklichen Wendung führte Scheffler es später auf den Einfluß der mystischen Vorstellungen Jakob Böhmes zurück, wenn er sich schließlich dem Katholizismus zuwandte.12 Ein heftiger Zusammenstoß mit dem lutherischen Hofprediger zu Oels, Christoph Freitag, tat ein Übriges.13 Der Übertritt Schefflers, der sich nun Angelus Silesius nannte, zur Römischen Kirche im Jahre 1653 fiel zusammen mit dem Beginn der von Wien gesteuerten gegenreformatorischen Offensive in den schlesischen Herzogtümern. Die Konversion des bekannten Mediziners aus angesehener evangelischer Familie fand daher Beachtung über Schlesien hinaus. Diese Aufmerksamkeit für das Einzelschicksal Schefflers wurde durch eine Buchveröffentlichung genährt, in der die Motive des Konvertiten dargelegt waren.14 Im Jahre 1657 gab der Dichter die erste Auflage seiner „Geistreiche(n) Sinnund Schlussreime“ heraus, deren zweite Ausgabe 1675 dann den Titel „Der Cherubinische Wandersmann“ erhalten sollte. 1661 empfing Angelus Silesius in Neiße die Priesterweihe. Als Geistlicher gehörte er zu den vertrauten Mitarbeitern Sebastians von Rostock (1607-71), des Generalvikars der Diözese Breslau. 1664 wurde Rostock, trotz seiner Herkunft aus einfachen Verhältnissen, zum Fürstbischof gewählt. Kaiser Leopold I. ernannte ihn daraufhin auch zum ___________ 10
Zur Vita weiterhin sehr nützlich: Georg Ellinger, Angelus Silesius. Ein Lebensbild, Breslau 1927; Hugo Föllmi, Czepko und Scheffler. Studien zu Angelus Silesius’ „Cherubinischem Wandersmann“ und Daniel Czepkos „Sexcenia Monodisticha Sapientum“, Diss. Zürich 1968; Walter Dürig, Zum 300. Todestag des Angelus Silesius, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 35 (1977), S. 115-140; überhaupt nicht förderlich hingegen: Martin Hoffmann, Angelus Silesius. Seine Thesen in heutiger Sicht und Bedeutung, Karlsruhe 2007. 11 Theodorus Cornelis van Stockum, Zwischen Jakob Böhme und Johannes Scheffler: Abraham von Franckenberg (1593-1652) und Daniel Czepko von Reigersfeld (16051660), Amsterdam 1967 (= Mededelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen / Afd. Letterkunde, Nieuwe Reeks 30). 12 Ellinger, Angelus (wie Anm. 10), S. 25. 13 Ebd., S. 90. 14 Johannis Schefflers von Breßlaw / Philosophiae & Medicinae Doctoris, Gewesenen Fürstlichen Würtembergischen Oelßnischen Leib- und Hoff-Medici Gründtliche Ursachen und Motiven, Warumb er von dem Lutherthumb abgetretten / und sich zu der Catholischen Kyrchen bekennet hat, Ingolstadt 1653.
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Oberlandeshauptmann von Schlesien, so daß der Kirchenfürst über die nötige Macht verfügte, um die Sache der Gegenreformation in den Herzogtümern entschlossen voranzutreiben.15 Dieses Programm machte sich Scheffler nun mit der für ihn typischen Konsequenz zu eigen. Seine spektakulären Auftritte bei den erstmals seit einem Jahrhundert in Breslau wieder abgehaltenen öffentlichen Prozessionen ließen ihn als emblematische Figur der katholischen Offensive erscheinen.16 Der im Jahre 1663 beginnende Türkenkrieg gab ihm schließlich die Gelegenheit, sich auch als Polemiker gegen den Protestantismus hervorzutun.17 Die Nachricht von der osmanischen Eroberung der oberungarischen Festung Neuhäusel (Nové Zámky) im Sommer 1663 sorgte in Schlesien für große Unruhe, rechnete man doch mit einem bevorstehenden Einfall der Truppen des Sultans.18 Die sich ausbreitende apokalyptische Stimmung schien dem Dichter Angelus Silesius günstig für ein groß angelegtes Bekehrungswerk. Er veröffentlichte seine in der Vorrede auf den 29. Oktober 1663 datierte „TürckenSchrifft“, die zum Ausgangspunkt einer heftigen und langwierigen Kontroverse wurde.19 In der Argumentation des Dichters und Geistlichen erscheint die auf dem Heiligen Römischen Reich lastende Türkengefahr als Sündenstrafe, die sich die „hochlöbliche Deutsche Völckerschafft“ kollektiv zugezogen hat: „Es muss eine solche Sünde seyn / die in Bürgerlichen Sachen eine Gleichheit mit einem allgemeinen Auffstande oder Empörung eines Reichs gegen seinen natürlichen Herrn hat […]. Diese Gleichheit hat aber keine andere Sünde / als die ___________ 15
Zu Rostock vorerst nur: Schlesische Lebensbilder 3 (1928, 21985), S. 65-70; zur gegenreformatorischen Praxis in Schlesien: Usha Maria Govil, Landbevölkerung und Gegenreformation in den schlesischen Fürstentümern Neisse, Breslau und Brieg, in: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 76/77 (1997/98), S. 63-98. 16 Ellinger (wie Anm. 10), S. 166 f. 17 Zum polemischen Genre der frühneuzeitlichen Literatur vgl. Georg Braungart, Zur Rhetorik der Polemik in der Frühen Neuzeit, in: Franz Bosbach (Hg.), Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der polischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit, Köln 1992, S. 1-21. 18 Thomas Winkelbauer, Ständefreiheit und Fürstenmacht. Länder und Untertanen des Hauses Habsburg im konfessionellen Zeitalter (= Österreichische Geschichte 15221699), Wien 2004, S. 151. 19 Johannis Schefflers, Phil. & Med. Doctoris, Weiland Röm. Keyserl. auch zu Hungarn und Böhaimb Königlicher Majest. Ferdinandi III. glorwürdigsten Andenckens HofMedici; anietzo der Heiligen Römischen Kirchen Priesters / Türcken-Schrifft von den Ursachen der Türckischen Uberzeihung / Und der Zertretung des Volckes Gottes, [Neiße] 1664; vgl. Gerhard Dünnhaupt, Personalbibliographien zu den Drucken des Barock, 5. Teil, Stuttgart 1991, S. 3538 (die zahlreichen Gegenschriften: S. 3528 f.). Siehe auch: Richard von Kralik, Johannes Scheffler als katholischer Apologet und Polemiker, Trier 1913. Einige wichtige Aspekte des Themas berührt: Barbara Becker-Contarino, Johann Scheffler und die Kontroverse um seine Tuercken-Schrifft, in: Memoria Silesiae (wie Anm. 3), S. 71-78.
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Abgötterey oder Ketzerey / das ist der Abfall von dem ersten alten wahren Glauben und Gottesdienst.“20 Die Reformation ist als Rebellion gegen die legitime Herrschaft und den wahren Glauben ein originärer Sündenfall des Reiches, der als politisches Vergehen eine Bestrafung im Hier und Jetzt nach sich zieht, wenn sich die Deutschen nicht wieder ganz zur Römischen Kirche hinwenden, um so der Strafe zu entgehen. Die Religionsgeschichte des Vorderen Orients, des Byzantinischen Reiches und der lateinischen Christenheit wird vom Verfasser kundig als Beweis seines Axioms herangezogen: Abfall vom wahren Glauben führt in den Untergang. Besonders die byzantinische Geschichte sieht Angelus Silesius als ein Gleichnis für die deutsche an: „Denn wann ich die Warheit sagen soll/ so hat das Teutsche Kaiserthumb eben ein solches Angesichte/ wie das Griechische eine gute Zeitlang vor seinem Untergang hatte.21 [...] Denn ob zwar das Haubt der Römische Kayser der Römischen Kirchen andächtig zugethan ist: so seynd doch die meisten Glieder des Leibs durch die schädliche Ketzereyen von derselben abgewandt / und geben keine Hoffnung einiger Bekehrung von sich.22 […] Wie nun Griechenland damals beschaffen war / so ist auch seyd Luthers Auffstande / und also schon eine geraume Zeit / das Deutschland. Die meisten Stände und Städte des Reichs schlaffen. Denn ob sie gleich immer hören/ dass ihres Nachbars Hauß brennt; so meynen sie doch / es gehe sie nicht an / Ungarn sey noch weit von ihnen.“23 Außerdem wünschen die Protestanten im Reich aus religionspolitischen Gründen keinen Sieg der Habsburger über die Osmanen: „Sollten sie dem Hauß Oesterreich mit kräfftigem Beystand den Türcken verjagen helffen / so möchte der Kaiser zu groß werden / und ihnen hernach die Catholische Religion auffdringen wollen. Derowegen wenn sie gleich etwas thun / so ist es doch nicht darauff angesehen / dass man den Türcken überwinden / sondern dass man ihn nicht überwinden solle.“24 Außerdem zeige die Geschichte von Byzanz, daß ketzerischen Heeren der rechte Mut abgehe: „Denn alle Ketzerey ist faul / träg / verdrossen / furchtsam und ohne Vertrauen zu Gott: es sey dann wann sie wider die Warheit streiten soll / da ist sie wütende genug: derowegen hat sie auch kein Herz noch Sinn wieder den Erbfeind etwas kühnes und beständiges vorzunehmen.“25 Angelus spricht vom Niedergang des Reiches, wie er sich seit der Reformation mit unerbittlicher historischer Notwendigkeit vollzogen habe: Bauernkrieg; Verlust der lothringischen Bistümer an Frankreich; Verwüstung des Reichsgebietes im Dreißigjährigen Krieg; Verluste von Grenzgebieten im Westfälischen Frieden.26 ___________ 20
Türcken-Schrifft, S. 7. Ebd., S. 26. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 27. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 33. 21
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Der Protestantismus trage allein die Schuld an der Schwäche des Reiches und seinem offensichtlichen Verfall. Ohne die Opposition der evangelischen Reichsfürsten hätten die habsburgischen Kaiser der osmanischen Bedrohung längst Einhalt geboten. Es falle unter die Verantwortung der Augsburgischen Konfessionsverwandten, wenn dem Reichsoberhaupt nicht die erforderliche Hilfe gegen den Feind geleistet wurde: „Sie musten dem Kaiser nicht sehr beystehn / sonst möchte er den Türcken überwunden / und ihnen den Abgott ihrer Vernunfft die Lutherische Freyheit / sampt der Politischen Göttin der Augspurgischen Confession genommen haben.“27 Mit einer bei einem Dichter nicht überraschenden Naivität hielt Scheffler bereits das Erscheinen seiner „Türcken-Schrifft“ für einen Erfolg gegen den Protestantismus. Er ließ ihr wenige Monate später die „Christen-Schrifft“ folgen,28 in der er den Beweis anzutreten suchte, „daß der errettung und beschirmung vor dem Türken keine andere ursache / alß die treue beybleibung bey dem Römisch-Catholischen Gottesdienst sey.“29 Mochte sein Denken auch im Bann apokalyptischer Deutungsmuster stehen, wie sie die frühneuzeitlichen Konfessionskulturen weithin kennzeichneten,30 so setzte er den mit der türkischen Bedrohung im Reich verbundenen Endzeiterwartungen doch ein zukunftsoffenes Konzept menschlichen Handelns in der Geschichte entgegen. Durch die Bekehrung zur römischen Kirche konnten sich die Deutschen von dem drohenden Verhängnis befreien. Durch ihre Abwendung vom Protestantismus würden sie der drohenden Apokalypse entgehen und eine neue Geschichte unter dem Vorzeichen des Heils beginnen. Die Bekehrung war die Voraussetzung für ein Wunder und für die Errettung vor den Gefahren der Welt. Scheffler hob die emblematische Bedeutung des Sieges von Mühlberg hervor, den Kaiser Karl V. im Jahre 1547 über den Schmalkaldischen Bund errungen hatte. Dabei habe es sich um ein „Wunder“ gehandelt, wobei des Angelus Betonung des vermeintlichen Mirakels von Mühlberg eine weitere schwere Provokation der Protestanten bedeuten mußte. So habe die Sonne bei der Schlacht von Mühlberg 1547 einige Stunden am Himmel stillgestanden „wie zu den Zeiten Josue“, um Kaiser Karl V. die vollständige Besiegung des kursächsischen Heeres zu ermögli___________ 27
Ebd., S. 34 f. Johannis Schefflers, Phil. & M. D. Der Heiligen Römischen Kirchen Priesters Christen-Schrifft / Von dem herrlichen Kennzeichen deß Volkes Gottes / und der wunderbahren Errettung der Christen, Neiße 1664. 29 Ebd., 3 (Vorrede). 30 Vgl. vor allem: Robin B. Barnes, Prophecy and Gnosis. Apocalypticism in the Wake of the Lutheran Reformation, Stanford CA 1988; Thomas Klingebiel, Apokalyptik, Prodigienglaube und Prophetismus im Alten Reich. Einführung, in: Hartmut Lehmann/Anne-Charlotte Trepp (Hg.), Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1999, S. 17-32. 28
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chen.31 Sieg und Wunder bewiesen demnach hinlänglich, daß der Reformation jede Legitimation fehlte. Mit dieser Aussage rüttelte der Dichter und Polemiker an den Grundfesten des Religionsfriedens im Reich, er stellte indirekt aber auch die Herrschaft der evangelischen Reichsfürsten in Frage. Damit trat die Reflexion von der theologischen in die politische Dimension ein. Entsprechend heftig fielen die Reaktionen auf die Schriften des Angelus Silesius aus.
II. Die Polemik um die „Türcken-Schrifft“ Die Kontroverse um Schefflers polemische Veröffentlichung aus dem Jahre 1663 ließ nicht lange auf sich warten und sie schlug sich in einer ganzen Reihe von Schriften nieder.32 Als Hauptwidersacher des Schlesiers traten dabei die lutherischen Theologen Christian Chemnitz (1615-66) aus Jena und Johann Adam Schertzer (1628-83) aus Leipzig hervor. Während Chemnitz vor allem theologische Argumente gegen Scheffler aufbot,33 nahm Schertzer den politischen Kampf gegen ihn auf, was für den Dichter gefährlich werden sollte. Als Lehrer für hebräische Sprache an der Universität Leipzig in keiner sehr günstigen beruflichen Position, verband Schertzer mit dem Kampf gegen seinen katholischen Widersacher zweifellos auch die Hoffnung auf einen günstigen Karriereverlauf in Kursachsen. Diese Erwartungen sollten auch nicht enttäuscht werden, wechselte er doch 1666 auf eine einträgliche theologische Professur in Leipzig, wurde 1668 Domherr in Meißen, 1670 Konsistorialassessor und wiederholt Universitätsrektor.34 Für den im böhmischen Eger geborenen und aus seiner Heimatstadt vertriebenen Protestanten war es aber auch ein persönliches ___________ 31 Ebd., S. 35-37 (hier S. 36). Scheffler beruft sich auf den Schlachtbericht des spanischen Geschichtsschreibers Luis de Avila y Zuñiga (dt. Geschichte des Schmalkaldischen Krieges. Mit Zusätzen und Erläuterungen, Berlin 1853). 32 Ein vollständiges Verzeichnis der Gegenschriften bei: Dünnhaupt, Personalbibliographien (wie Anm. 19), S. 3528 f.; anders als der Titel erwarten ließe, behandelt der Aufsatz von Becker-Contarino lediglich die „Türcken-Schrifft“ selbst und ihren Inhalt: Barbara Becker-Contarino, Johann Scheffler und die Kontroverse um seine TuerckenSchrifft, in: Memoria Silesiae (wie Anm. 3), S. 71-78. 33 Chemnitz hatte bereits die Schefflersche Bekehrungsschrift von 1653 (vgl. Anm. 14) zu widerlegen gesucht (Veritas religionis Lutheranae defensa, Jena 1655). Im Verlauf seiner Kontroverse mit Angelus Silesius veröffentlichte er allein im Jahre 1664 sechs meist kurze Schriften (aufgeführt bei Dünnhaupt, Personalbibliographien (wie Anm. 19), S. 3528). 34 Die Daten zur Vita Schertzers in: Andreas Gößner, Personelle Struktur und Nachwuchsrekrutierung an der Theologischen Fakultät Leipzig im 17. Jahrhundert. Mit einem Quellenanhang zu den theologischen Promotionen zwischen 1601 und 1701, in: Ders. (Hg.), Die Theologische Fakultät der Universität Leipzig. Personen, Profile und Perspektiven aus sechs Jahrhunderten Fakultätsgeschichte, Leipzig 2005, S. 72-161 (hier S. 80 Anm. 28).
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Anliegen, gegen den Vordenker der Gegenreformation in Schlesien zu Felde zu ziehen. So erklärt sich auch die erbitterte Art und Weise, mit der sich die Opponenten bekämpften. Schertzer trat in die Arena mit seiner in der Vorrede auf den 21. März 1664 datierten „Deduction-Schrifft“,35 in welcher er sich vornahm, den Gegner heftig anzugreifen: „Scheffler ist weder gelehrt / noch höfflich / sondern ein freveler Lästerer / welcher keine lindere Feder meritiret.“36 Vor allem sei er kein Vorkämpfer der wahren Religion, wie er selbst meine, sondern ein „Meutmacher“ und politischer Unruhestifter, der streng zu bestrafen sei. Auch die Katholiken im Reich würden ihn als Rebellen erkennen, dessen „Chartecken“ verbrannt werden müßten, wenn sie erst „gewahr worden / wie dieser Scheffler denen Evangelischen hohen Potentaten und Ständen des heiligen Römischen Reichs und dero underthanen sampt und sonders unerhörte grausame Calumnien, Lästerungen / Beschmutzungen / Frevel-Geiffer und Schand-Speichel / mit vollem Rachen / öffentlich ins Angesicht speye.“37 In der drastischen Sprache barocker Polemik klagte Schertzer den schlesischen Geistlichen als Störer des Religions- und Profanfriedens an. Scheffler behaupte nämlich, daß Unwahrhaftigkeit und Mißtrauen das Verhältnis zwischen Kaiser und protestantischen Reichsständen bestimmten, daß die Evangelischen dem Reichsoberhaupt nicht gegen die Türken helfen wollten, daß sie vielmehr politisch ein Gegengewicht gegen ihn schafften und mit ihrer Ketzerei erst die Ursache zur Türkennot des Reiches geliefert hätten: „so wiedersetzten sich die Evangelische Stände Ihrer Majestät und trachteten allezeit / wie sie dem Keyser die Wage halten / und seine Macht / wenn sie zu hoch steigen sollte / alsbald wieder dämpffen möchten.“38 Dieses offene Ansprechen von Gegensätzen bedrohe den Bestand des Reiches, stellte Schertzer fest. Wenn auf solche Art der Streit im Reich geschürt würde, wie sollten die Deutschen dann einhellig gegen den äußeren Feind zusammenstehen? Besonders wandte er sich gegen die vom Dichter geäußerte Ansicht, daß dem Kriegsvolk, das von protestantischen Fürsten in den Türkenkrieg geschickt würde, mit dem rechten Glauben auch der wahre Mut fehle. Scheffler unterstelle nämlich, die evangelischen Soldaten seien „alle lauter feige Memmen und Cujonen, die kein Pulver riechen können / und dem Feind unter Augen zu gehen / kein Hertz im Leibe haben […]. Wo Evangelische Soldaten bey der Reichs Armee / wieder den Erbfeind sind / da ist ganz kein Sieg / ___________ 35 Deduction-Schrifft / Daß Joh. Schefflers / Phil. & Medic. Doctoris, TürckenSchrifft / Darinnen er Ihre Keys. Majest. sambt allen hohen Potentaten / und Protestirenden Stände des heil. Röm. Reichs unverantwortlich lästert / eine abscheuliche LästerSchrifft / Er aber […] deßwegen ernstlich zu bestraffen / sey, Leipzig 1664. 36 Ebd., A 4 (Vorrede). 37 Ebd., S. 2. 38 Ebd., S. 36.
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sondern vielmehr die gewisse Ruin zu gewarten / weil Gott allen Segen entziehet.“39 Scheffler sei es gerade, der die Protestanten vom Türkenkrieg als einer gemeinsamen Aufgabe aller Reichsstände ausschließen möchte,40 zugleich aber der Gegenseite vorwerfe, nichts für die Belange des Vaterlandes zu leisten. So sei er ein gefährlicher Friedensstörer, der die Eintracht der Konfessionen im Reich zu einer Zeit bedrohe, in der an nichts so sehr gelegen sei, wie am einträchtigen Widerstand gegen den türkischen Feind. Der so Angegriffene versuchte in seiner Antwort an Schertzer gegenzusteuern. Bei einer Einengung der Debatte auf das Politische, die seinen Intentionen keineswegs entsprach, konnte er nur verlieren. Angelus Silesius wähnte sich weiter auf dem richtigen Weg. Mit seinen Schriften habe er „den Prädicanten mit entdekung der wahrheit […] eine schmertzhaffte Wunde gemacht, […] derowegen wollten sie mich gerne für einen Auffrührer angeben und aus dem Wege räumen“, erwiderte er auf Schertzers Angriff.41 Dadurch würden sie ihn aber lediglich zum Märtyrer Christi machen, denn er sei alles andere als ein Friedensstörer und Rebell. Jeder unvoreingenommene Betrachter müsse nämlich zugestehen, „dass ich nichts anders als vereinigung und wiederstand wieder den Türcken suche: Wie sol ich dann ein Aufrührer und Abtreiber der Hülffe sein!“42 Die Kontroverse zwischen den beiden Kontrahenten zog sich mit einer ganzen Reihe von Schriften und Gegenschriften über das ganze Jahr 1664 hin und wurde von Schertzer immer mehr auf reichspolitische Themen zugespitzt, um den Gegner tödlich zu treffen.43 Dieser habe sich die Lästerung des Westfälischen Friedens zuschulden kommen lassen, die ein schweres politisches Verbrechen sei. Die Logik Schefflers ziele direkt auf das Herz des Religionsfriedens: „Mit den evangelischen Potentaten und Ketzeren sich wider den Türcken vereinigen und politischen Frieden zumachen / were eben so viel als wenn man sich mit dem Teufel auf gut politisch vereinigte.“44 Wenn solche Ansichten Gemeingut würden, wäre das friedliche Zusammenleben der Konfessionen im Reich auf ewig dahin. Daher müsse Scheffler mit allen Mitteln bekämpft ___________ 39
Ebd., S. 17. „Wer nicht mit ihm am Paternoster kneuffelt / der könne kein Generalat, Obersten Stell / oder andere charge im Türcken-Krieg überkommen“: ebd. 41 Abdruck eines Sendschreibens D. Johannis Schefflers der Heiligen Römischen Kirchen Pristers / Die verläumbderische Schmäh-Karte betreffende / Welche Johann Adam Schertzer / der Heiligen Schrifft Licentiat (wie er sich schreibt) / Wieder dessen Türkenschrifft außgeworffen hat, Neiße 1664, A II. Diese Antwort ist datiert auf den 18. April 1664. 42 Ebd. 43 Siehe auch: Angelus Silesius. Sämtliche poetische Werke, Bd. 1, hg. und eingeleitet von Hans Ludwig Held, München 1952, S. 285-301. 44 Johann Adam Schertzer, Beweiß / dass D. Johann Scheffler Abschied / hinter der Thür genommen, Leipzig 1664, S. 69. 40
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werden. Schertzer verweist auf die Tatsache, daß die Schriften des Schlesiers „cum licentia Superiorum“ erschienen seien. Hier liege das eigentliche Problem. Mochte der Breslauer Autor auch ein Narr sein, so Schertzer, dann stelle sich aber umso nachdrücklicher die Frage nach der Position seiner Vorgesetzten. Halten sie auf den Religionsfrieden? Diese für den Bestand des Reiches zentrale Frage war nicht in der literarischen Fehde zu entscheiden, sondern in dem dafür zuständigen Gremium, dem Reichstag als dem „Zentrum eines handelnden Reiches“.45
III. Die „Türcken-Schrifft“ auf dem Regensburger Reichstag Wegen der sich anbahnenden Türkengefahr hatte Kaiser Leopold I. am 8. Februar 1662 eine Reichsversammlung nach Regensburg einberufen, um die Hilfe der Reichsstände gegen die Bedrohung aus dem Südosten zu erhalten.46 Der im Januar 1663 eröffnete Reichstag faßte unter dem Eindruck des Falles der Festung Neuhäusel im September 1663 die von Leopold erwarteten grundsätzlichen Beschlüsse zur Gewährung von Hilfen gegen die Osmanen. Freilich bedurfte es dann in den folgenden Monaten noch der persönlichen Anwesenheit des Kaisers, aber auch seines politischen Gegenspielers, des Mainzer Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn, ehe der Entschluß zur Formierung eines unter den kaiserlichen Oberbefehl stehenden Reichsheeres Gestalt annahm.47 Als Grundlage für das von den Reichskreisen organisierte militärische Aufgebot der Reichsstände diente die Wormser Matrikel von 1521. Heftig diskutiert wurde jedoch nicht nur in Regensburg über die Frage, wer für die Befehlsstellen in der erstmals bestellten Reichsgeneralität in Betracht kommen sollte. Diese Debatten erreichten ihren Höhepunkt im Februar 1664, als die Reichsversammlung sich der Frage der Generalität annahm, „so über die Reichs-Völker zu bestellen.“48 In dieser heiklen Phase der Regensburger Beratungen nahm auch die Aufregung über die im Oktober 1663 veröffentlichte „TürckenSchrifft“ des Angelus Silesius immer größere Ausmaße an, so daß die gegenre___________ 45
Helmut Neuhaus, Der Reichstag als Zentrum eines ‚handelnden‘ Reiches, in: Heinz Schilling/Werner Heun/Jutta Götzmann (Hg.), Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806: Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806, Essays, Dresden 2006, S. 43-52. 46 Ebd., S. 49 f. 47 Klaus Herbers/Helmut Neuhaus, Das heilige Römische Reich. Schauplätze einer tausendjährigen Geschichte (843-1806), Köln 2005, S. 249 f. 48 Hier nach: Anton Schindling, Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg. Ständevertretung und Staatskunst nach dem Westfälischen Frieden, Mainz 1991, S. 111.
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formatorische Kampfschrift aus Schlesien nun eine für die gemäßigten Kräfte äußerst unerwünschte reichspolitische Wirkung entfaltete. Für einige protestantische Reichsstände bot die Veröffentlichung des schlesischen Dichters allerdings die willkommene Gelegenheit, den katholischen Ständen ein klares Bekenntnis zur Geltung des Religionsfriedens im Reich abzufordern, andernfalls sie nicht zur militärischen Hilfeleistung nach dem Beschlüssen des Reichstages schuldig seien. Zum Sprecher dieses Anliegens machte sich das von dem albertinischen Administrator August von SachsenWeißenfels (1614-80) regierte Erzstift Magdeburg, das nach den Bestimmungen des Westfälischen Friedens nach dem Tod dieses Wettiners als weltliches Herzogtum an Brandenburg fallen sollte. Während die Verhandlungen über die Reichsgeneralität und die Verpflegung der Reichstruppen in Ungarn bereits für genügend Arbeit auf dem Reichstag sorgten, brachte der Magdeburger Vertreter zur allgemeinen Überraschung auf der Sitzung des Fürstenrates am 8./18. Februar 1664 die „Türcken-Schrifft“ zur Sprache: „Sonsten müste man auch gedenckhen, daß unlengst einer, mit nahmen Scheffler, ein leichtfärtiges scriptum wieder die A. C. verwande [sic] herauß gehen lassen, darinnen er denenselben nit allein imputire, daß sie einig und alleine ursache an diesem Türckhenkriege, sondern auch dieselbe sonsten gar unverschämbt angriffe. Weiln nun dergleichen schmäheschrifften wieder die Reichs Constitutiones wie das Instrumentum Pacis lieffen; alß weren Ire Keyserliche Majestät aller underthenigst zuersuchen, den allergnedigsten anstalt zumachen, daß dergleichen hinfüro verbleibe und der Author dieses leichtfertigen scripti zu gebührender straffe gezogen werde.“49 Durch eine exemplarische Bestrafung des Schlesiers sollte Kaiser Leopold deutlich machen, daß er den Religionsfrieden gegen jede Infragestellung verteidigte. Nicht nur das Reichsoberhaupt war aber in die Pflicht zu nehmen, die Anfrage richtete sich ebenso an die katholischen Mitstände im Fürstenrat. Das verdeutlichte die folgende Einlassung des Gesandten aus dem seit 1648 der Krone Schweden gehörenden Herzogtum (vormaligen Erzstift) Bremen: „Waß sonsten das angedeüte scantologe und unverschämbte scriptum [Schefflers] belangete, da könnte man wohl erachten, dass die Herren Catholische selbsten kein belieben daran tragen würden, hielte aber sehr nützlich, wenn sie dero darüber habendes missfallen publicè contestiren möchten.“50 Das auf dem frühneuzeitlichen Reichstag übliche Umfrageverfahren hatte zur Folge, daß jeweils Reichsstände beider Konfessionen im Wechsel ihre Voten abgaben. Von katholischer Seite blieben zunächst Reaktionen auf diese aufgeworfenen Fragen aus. Daher führte der Gesandte des ernestinischen Herzogtums SachsenAltenburg mit seiner Äußerung eine weitere Zuspitzung herbei. Er deutete an, ___________ 49 Staatsarchiv Nürnberg, Fürstentum Brandenburg-Ansbach, Reichstagsakten 157 (unfol.): Sessio LXII, 8./18. II. 1664. 50 Ebd.
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daß Scheffler nur ein „Werkzeug“ sein könnte, mit dem der Religionsfrieden in Deutschland unterminiert werden solle: „Deß Scheffleri scriptum belangendt, were zubeclagen, dass da man aniezo von einigkeit der gemüther reden sollte, sich solche werckhzeüge finden, welche nit alleine durch dergleichen schrifften, sondern auch durch predigten, vielleicht auch hiesigen orths, zu mehrer verbitterung der gemüther ursach geben.“51 Hierauf mußten die katholischen Reichsstände reagieren. In die komplexen Strukturen des Heiligen Römischen Reiches eingebunden und auf den Religionsfrieden angewiesen, konnten sie die gegenreformatorischen Maximen und Methoden des Breslauer Fürstbischofs Sebastian von Rostock und seiner Mitarbeiter nicht unbesehen übernehmen. Der Mehrzahl der katholischen Reichsstände lag es 1664 vollkommen fern, die Legitimität des Westfälischen Friedens zu bestreiten, die der schlesische Konvertit mit seinem Feuereifer untergrub. Eine politische Lösung des Problems konnte darin bestehen, der Prophetie des Schlesiers, die dem Reich den Untergang voraussagte, wenn sich die Protestanten nicht bekehrten, eine spiegelbildlich verkehrte Version gegenüberzustellen, um beide dann als außerhalb des Grundkonsenses im Reich stehend zu benennen und zu verurteilen. Diesen Weg schlug in der Sitzung des Reichsfürstenrates der Vertreter des dem Habsburger Sigismund Franz (1630-1665) unterstehenden Hochstifts Augsburg ein: „Im übrigen hette man ungerne vernommen, dass ein dergleichen scriptum […] an das Tagesliecht gekommen, dadurch dann nunmehr verbütterung unter den gemüthern verursachet würde. Es were aber guth, wenn man nit alleine dieses, sondern auch deß Capistrani durchteuffelte, vermaledeyete, verzweiffelte und gottslästerliche propheceijung, so zu Schaffhausen gedruckhet, hier offentlich verbrennete, ja daß man die Authores selbsten haben und selbige mit gebührender Straffe ansehen konnte, massen dann der Capistranus nit allein Ihr Keyserliche Majestät, sondern auch das hanze Hauß Österreich also leichtfertiger weiße angegriffen und vermaledeyet, dass es ärger nit könnte gedacht werden.“52 1663 war in Schaffhausen eine vermeintliche Prophezeiung des Johannes von Capestrano (1386-1456) nachgedruckt worden, in der dem Reich aufgrund der Verderbtheit von Kaiser, Haus Habsburg und Papsttum ein furchtbarer Untergang vorhergesagt wurde. Diese Weissagung war bereits in den Anfangsjahren des Dreißigjährigen Krieges gesondert publiziert worden,53 fand sich jedoch erstmals interpretiert und kommentiert in der im Jahre 1600 zu Lauingen an der Donau gedruckten Textsammlung „Lectiones memorabiles“ des späthumanistischen lutherischen Ge___________ 51
Ebd. Ebd. 53 Capistrani Prophezey / Vom Zustand des Römischen Reichs. / Seit der Offenbahrung des heiligen Evangelii / Gedruckt im Jahr 1621, o. O [UB Erlangen: H61/4 TREW.R 484]. 52
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lehrten Johannes Wolff (1537-1600) aus der Pfalz.54 Diese apokalyptische Vision eines nahen Unterganges von Reich und deutscher Nation aus protestantischer Sicht konnte den polemischen Schriften des Angelus Silesius entgegen gestellt werden, so daß sich beide endzeitlichen Versionen gegenseitig neutralisierten. Dieses konfessionell ausgewogene Vorgehen gegen reichsfeindliche Schriften jeder Couleur fand bei den reichsständischen Vertretern im Fürstenrat begeisterte Zustimmung, die bis hin zur makabren Imagination der Reichseinheit im Angesicht der brennenden Scheiterhaufen für unerwünschte Autoren führen konnte, wie es der Gesandte von Braunschweig-Calenberg artikulierte: „Schefflers leichtfertiges schandbuch betreffend, wehre zuewünschen, daß man denselben beneben dem Capistrano und seiner propheceyung hier zur stelle hette, damit man die Authores zusambt den scriptis auff den holzheuffen sezen, und andern zum abscheü, verbrennen könnte, der ungezweiffelten hoffnung, es würden sowohl die Catholischen alß protestirenden Stände gerne ihre pferde dazu hergeben, damit man das holz herbey führen könnte.“55 Bei dieser Gelegenheit, so warf der Halberstädter Gesandte ein, müsse man auch gegen die Kalenderschreiber vorgehen, die „sich unterstünden, selzame gefährliche dinge, ja gar den untergang, dem Römischen Reich zu propheceyen, und vom gegenwärtigen Reichstage übel zu prognosticiren, dadurch leicht einer und anderer geärgert und verführet werden könnte.“56 Andernfalls, so ergänzte Osnabrück in Anspielung auf eine der bekannten Fabeln Aesops, ergehe es den Deutschen „wie dorten von den fröschen gemeldet würde, daß in deme man sich hier miteinander zanckhete, der storch der Türck mit seinem außgestreckhten langen schnabel kehme und uns alle verschlünge.“57 Das Reich handelte geschlossen und entschlossen gegen die Propheten seines Unterganges, lag doch in jeder Prophezeiung die Gefahr ihrer Erfüllung. Das Fürststift Salzburg wurde wegen seines Vorsitzes im Fürstenrat beauftragt, an den Kaiser heranzutreten, damit harte Maßnahmen gegen diejenigen ergriffen würden, die es in ihren Schriften wagten, über den Untergang des Reiches zu spekulieren. Daraufhin wandte man sich in Regensburg wieder der Aufstellung der Reichsarmee zu. ___________ 54
Zu Johannes Wolff und seinen ‚Lectionum memorabilium et reconditarum centenarii XVI’ vgl. Sabine Schmolinsky, Prophetia in der Bibliothek – die Lectiones memorabiles des Johannes Wolff, in: Klaus Bergdolt/Walther Ludwig (Hg.), Zukunftsvoraussagen in der Renaissance, Wiesbaden 2005, S. 89-130 (bes. S. 129 f.); zuletzt auch: Dies., Im Angesicht der Endzeit? Positionen in den Lectiones memorabiles des Johannes Wolff (1600), in: Wolfram Brandes/Felicitas Schmieder, Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen, Berlin 2008, S. 369-418. 55 StAN (wie Anm. 49), unfol. 56 Ebd. 57 Ebd.
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Nach dem Sieg seiner Truppen über die Osmanen in der Schlacht von Sankt Gotthard an der Raab am 1. August 1664 schloß Kaiser Leopold I. sogleich den Frieden von Vasvár (Eisenburg) mit dem Sultan. Dies enthob ihn der Notwendigkeit eines Vorgehens gegen den schlesischen Dichter Angelus Silesius als Friedensstörer. Der Reichstag, der nun als immerwährender Gesandtenkongreß in Regensburg versammelt blieb, insistierte auch nicht mehr. Überdies wäre aufgrund der Exemtionsprivilegien ein Vorgehen des Reichshofrates gegen einen schlesischen Untertanen sehr unwahrscheinlich gewesen.58 Dies galt erst recht für eine bekannte Persönlichkeit wie Angelus Silesius, der sich als Protegé des Fürstbischofs von Breslau mächtiger Fürsprecher am Wiener Hof erfreute. Allerdings dürfte dem Dichter auch der Wink zuteil geworden sein, sich künftig nicht mehr zu reichspolitischen Themen zu äußern. Um das Reich hat er sich jedenfalls in seiner weiteren Laufbahn als konfessioneller Polemiker nicht mehr gekümmert.
___________ 58
Vgl. Weber, Verhältnis Schlesiens (wie Anm. 7), S. 305-315.
Gab es Religionskriege in Europa? Landfrieden und Völkerrecht statt Glaubenskampf und „Strafgericht Gottes“*
Von Anton Schindling, Tübingen Im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation wurden in der Frühen Neuzeit auf der Ebene der offiziellen Kriegsbegründungen und Kriegslegitimationen von Seiten der wichtigsten Entscheidungsträger keine expliziten Religionskriege geführt, mit der einzigen Ausnahme des Kampfes gegen die Türken zur Verteidigung der Christenheit.1 Von der theoretischen Möglichkeit, einen Ketzerkrieg, das heißt einen Kreuzzug gegen Ketzer, zu führen, wie es noch gegen die Hussiten im 15. Jahrhundert geschehen war, wurde von den habsburgischen Kaisern gegen die Protestanten kein Gebrauch mehr gemacht. Kaiser Karl V. setzte hierin einen Maßstab, als er den Schmalkaldischen Krieg 1546/47 mit peinlicher Sorgfalt als einen Krieg gegen landfriedensbrüchige Reichsfürsten deklarierte und erscheinen ließ.2 Die mittelalterliche Vorstellung vom Ketzerkrieg wurde obsolet durch die Verrechtlichung des Heiligen Römischen Reichs und dessen seit der Goldenen Bulle und dem Wormser Reichslandfrieden vor___________ * Diese Studie fußt auf Ergebnissen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Universität Tübingen eingerichteten Sonderforschungsbereiches 437 „Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ (1999–2008). Hierzu vgl. unter anderem die in den Fußnoten 1 und 21 angeführten maßgeblichen Sammelbände zum methodischen Konzept der Erfahrungsgeschichte von Kriegen. 1 Manfred Rudersdorf, „Reformationskrieg“ oder Landfriedensexekution? Ein Kommentar zur ersten Tagungssektion, in: Franz Brendle/Anton Schindling (Hg.), Religionskriege im Alten Reich und in Alteuropa, Münster 2006, S. 119-131. Neben diesem SFBSammelband ist grundlegend: Matthias Asche/Anton Schindling (Hg.), Das Strafgericht Gottes. Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, 2. Auflage Münster 2002. 2 Georg Schmidt/Siegrid Westphal, Artikel: Schmalkaldischer Krieg, in: Gerhard Krause/Gerhard Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 30, Berlin/New York 1999, S. 228-231; Alfred Kohler, Karl V. 1500–1558. Eine Biographie, München 1999; Gabriele Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Krieg (1546/47). Ein kaiserlicher Religionskrieg?, in: Brendle/Schindling (Hg.), Religionskriege (wie Anm. 1), S. 93-105.
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wiegend säkulare Struktur.3 Das Ergebnis der Reichsreform um 1500 brachte die sakrale Aura des Heiligen Römischen Reiches fast zum Verschwinden – was sich in dem jetzt aufkommenden Namenszusatz „deutscher Nation“ ebenso ausdrückte wie in der Titelführung „Erwählter römischer Kaiser“ ohne die Krönung durch den Papst. Auch die evangelischen Reichsfürsten der Reformationszeit vermieden es sorgsam, Kriege, die sie um der Religion willen führten, als solche zu erkennen zu geben.4 Luthers Zwei-Reiche-Lehre ließ ein derartiges Verhalten ebenso geraten erscheinen wie die tatsächlichen Militärbündnisse unter konfessionsverschiedenen Fürsten im Zeichen einer antihabsburgischen Ständepolitik.5 Ein Kriegsfürst, der nicht offen über die Religion sprach, ___________ 3 Anton Schindling, Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg. Ständevertretung und Staatskunst nach dem Westfälischen Frieden, Mainz 1991; ders., Corpus evangelicorum et corpus catholicorum. Constitution juridique et réalités sociales dans le Saint-Empire, in: Jean-Pierre Kintz/Georges Livet (Hg.), 350e anniversaire des Traités de Westphalie 1648–1998. Une genèse de l’Europe, une société à reconstruire. Actes du Colloque International, Strasbourg 1999, S. 43-55; ders., Kaiser, Reich und Reichsverfassung 1648–1806. Das neue Bild vom Alten Reich, in: Olaf Asbach/Klaus Malettke/Sven Externbrink (Hg.), Altes Reich, Frankreich und Europa. Politische, philosophische und historische Aspekte des französischen Deutschlandbildes im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 25-54; Axel Gotthard, Das Alte Reich 1495–1806, 3. Auflage Darmstadt 2006; Franz Brendle/Anton Schindling, Der Augsburger Religionsfrieden und die Germania Sacra, in: Carl A. Hoffmann (Hg.), Als Frieden möglich war. 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden. Begleitband zur Ausstellung im Maximilianmuseum Augsburg, Regensburg 2005, S. 104-118; dies., Germania Sacra – Reichskirche, in: Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hg.), Lesebuch Altes Reich, München 2006, S. 211-215. 4 Franz Brendle, Dynastie, Reich und Reformation. Die württembergischen Herzöge Ulrich und Christoph, die Habsburger und Frankreich, Stuttgart 1998; ders., Les relations franco-allemandes au temps de la Réforme, in: Les Annales de l’Académie d’Alsace 66 (2000), S. 17-32; ders., „Bündnis versus Bekenntnis“. Philipp der Großmütige von Hessen, die deutschen Protestanten und Frankreich im Zeitalter der Reformation, in: Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 87-109; ders., Um Erhalt und Ausbreitung des Evangeliums. Die Reformationskriege der deutschen Protestanten, in: Brendle/ Schindling (Hg.), Religionskriege (wie Anm. 1), S. 71-92. 5 Eike Wolgast, Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände. Studien zu Luthers Gutachten in politischen Fragen, Gütersloh 1977; Joachim Lauchs, Bayern und die deutschen Protestanten 1534–1546. Deutsche Fürstenpolitik zwischen Konfession und Libertät, Neustadt an der Aisch 1978; Gerhard Müller, Bündnis und Bekenntnis. Zum Verhältnis von Glauben und Politik im Deutschen Luthertum, in: Martin Brecht/Reinhard Schwarz (Hg.), Bekenntnis und Einheit der Kirche. Studien zum Konkordienbuch, Stuttgart 1980, S. 23-43; Alfred Kohler, Antihabsburgische Politik in der Epoche Karls V. Die reichsständische Opposition gegen die Wahl Ferdinands I. zum römischen König und gegen die Anerkennung seines Königtums (1524–1534), Göttingen 1982. Volker Press, Die württembergische Restitution von 1534. Reichspolitische Voraussetzungen und Konsequenzen, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 87 (1987), S. 44-71; ders., Ein Epochenjahr der Württembergischen Geschichte. Restitution und Reformation 1534, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 47 (1988), S. 203-234; Volker Mantey, Zwei Schwerter – zwei Reiche. Martin
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brauchte sich von Konfessionsverwandten und Konfessionsgegnern keine unangenehmen Fragen stellen zu lassen. Die politische Kultur in dem von Monarchen bestimmten Europa der Frühen Neuzeit entwickelte die diplomatische Kunst der „Dissimulation“, des Verschweigens der wahren Motive für politisches und militärisches Handeln in öffentlichen Erklärungen und Akten. Die offiziellen Kriegsgründe, die in Kriegsmanifesten und der Propaganda genannt wurden, waren vielfach nicht identisch mit den tatsächlichen Beweggründen, die in der Arkansphäre der Kabinette verhandelt und vom Schleier der Staatsräson verhüllt wurden. Für die Einschätzung von Kriegen der Frühen Neuzeit als Religionskriege sind die Fragen nach der „dissimulatio“ sowie der Trennung von „arcanum“ und „publicum“ bei den Entscheidungsträgern – und zwar auf Seiten aller Beteiligten – von zentraler Bedeutung.6 Etwas völlig anderes waren vielfach die Wahrnehmungen der überwiegend passiv von den Kriegen betroffenen Menschen – derjenigen in den Feldlagern ebenso wie in den Städten und Dörfern – sowie die massenmedialen Deutungen in Predigten, in der Publizistik und Propaganda aus den Druckerpressen.7 Für diese Erfahrungsgruppen und Rezipienten waren religiöse beziehungsweise konfessionelle Beweggründe durchaus glaubhaft und plausibel.8 Der ‚Krieg des ___________ Luthers Zwei-Reiche-Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund, Tübingen 2005. 6 Heinrich Lutz, Ragione di stato und christliche Staatsethik im 16. Jahrhundert, mit einem Textanhang: Die Machiavelli-Kapitel aus Kardinal Reginald Pole’s „Apologia ad Carolum Quintum Caesarem“, Münster 1961; Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, hg. v. Walter Hofer, 3. Aufl. München 1963; Michael Stolleis, Arcana imperii und Ratio status. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts, Göttingen 1980; ders., Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, Frankfurt am Main 1990. 7 Frank Kleinehagenbrock, Die Grafschaft Hohenlohe im Dreißigjährigen Krieg. Eine erfahrungsgeschichtliche Untersuchung zu Herrschaft und Untertanen, Stuttgart 2003. 8 Gerd Zillhardt, Der Dreißigjährige Krieg in zeitgenössischer Darstellung. Hans Heberles ‚Zeytregister‘ (1618–1672). Aufzeichnungen aus dem Ulmer Territorium. Ein Beitrag zu Geschichtsschreibung und Geschichtsverständnis der Unterschichten, Stuttgart 1975; Ortrun Fina (Hg.), Klara Staigers Tagebuch. Aufzeichnungen während des Dreißigjährigen Krieges im Kloster Mariastein bei Eichstätt, Regensburg 1981; Jan Peters (Hg.), Ein Söldnerleben im Dreißigjährigen Krieg. Eine Quelle zur Sozialgeschichte, Berlin 1993; Winfried Schulze (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996; Benigna von Krusenstjern, Selbstzeugnisse der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Beschreibendes Verzeichnis, Berlin 1997; Gerhard Menk, Vom Chaos des Krieges zur Ordnung in Reich und Territorien. Eine Orientierung der Forschung, in: Wilhelm A. Eckhardt/Helmut Klingelhöfer (Hg.), Bauernleben im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Die Stausebacher Chronik des Caspar Preis 1636– 1667, Marburg 1998, S. 5-16; Benigna von Krusenstjern/Hans Medick (Hg.), Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe, Göttingen 1999; Holger
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kleinen Mannes‘ oszillierte zwischen Facetten eines Religionskrieges und eines Kampfes ums nackte Überleben.9 Das „Strafgericht Gottes“ belohnte die Guten und bestrafte die Bösen.10 Vor diesem Hintergrund eröffnete sich für den reuigen Sünder die Möglichkeit zur Versöhnung mit Gott, gerade auch an Bußund Bettagen, die in Kriegszeiten vermehrt eingeführt wurden, oder durch Gelöbnisse, etwa für kollektive und individuelle Wallfahrten oder für die Stiftung von Kirchen und sakralen Denkmälern.11 Es finden sich aber auch immer wieder Wunderberichte über ein direktes Eingreifen Gottes sowie – auf Seite der Katholiken – Marias oder einzelner Heiliger in das militärische Geschehen, was zum Sieg über die Konfessionsgegner oder zur wunderbaren Rettung in einer scheinbar ausweglosen Situation führen konnte.12 Kriegsherren, wie nicht nur der protestantische König Gustav II. Adolf von Schweden, ließen sich als Beauftragte des Allerhöchsten mit dem himmlischen Strafschwert zur Vollziehung von Gottes Strafgericht porträtieren.13 Gedeon (Gideon) oder Judas Makkabäus ___________ Thomas Gräf (Hg.), Söldnerleben am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges. Lebenslauf und Kriegstagebuch 1617 des hessischen Obristen Caspar von Widmarckter, Marburg 2000; Maurus Friesenegger, Tagebuch aus dem 30jährigen Krieg. Nach einer Handschrift im Kloster Andechs, hg. v. Willibald Mathäser, München 2007. 9 Wolfram Wette (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, 2. Auflage München 1995; Bernhard R. Kroener, „Kriegsgurgeln, Freireuter und Merodebrüder“. Der Soldat des Dreißigjährigen Krieges, Täter und Opfer, in: ebd. S. 5167; ders. (Hg.), Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, Paderborn 1996; ders., „Die Soldaten sind ganz arm, bloß, nackend, ausgemattet“. Lebensverhältnisse und Organisationsstruktur der militärischen Gesellschaft während des Dreißigjährigen Krieges, in: Klaus Bußmann/Heinz Schilling (Hg.), 1648. Krieg und Frieden in Europa, 3 Bde., Ausstellungskatalog Westfälisches Landesmuseum Münster /Kulturgeschichtliches Museum Osnabrück 1998/99, hier: Bd. 1: Geschichte, Religion, Recht und Gesellschaft, Münster/Osnabrück 1998, S. 285-292; Stefan Kroll/Kersten Krüger (Hg.), Militär und ländliche Gesellschaft in der frühen Neuzeit, Münster 2000; Michael Kaiser/Stefan Kroll (Hg.), Militär und Religiosität in der Frühen Neuzeit, Münster 2004. 10 Anton Schindling, Das Strafgericht Gottes. Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Erfahrungsgeschichte und Konfessionalisierung, in: Asche/Schindling, Strafgericht Gottes (wie Anm. 1), S. 11-51; ders., Religionskriege als Gerechte Kriege? Waffengewalt im Zeichen von Humanismus, Reformation und Gegenreformation, in: Julia Dietrich/Uta Müller-Koch (Hg.), Ethik und Ästhetik der Gewalt, Paderborn 2006, S. 177198. 11 Jean Delumeau, Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, 2 Bde., Reinbek bei Hamburg 1985. 12 Olivier Chaline, La bataille de la Montagne Blanche (8 novembre 1620). Un mystique chez les guerriers, Paris 1999; ders., Religion und Kriegserfahrung. Die Schlacht am Weißen Berge 1620, in: Brendle/Schindling, Religionskriege (wie Anm. 1), S. 511518; Klaus Schreiner, Märtyrer, Schlachtenhelfer, Friedensstifter. Krieg und Frieden im Spiegel mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Heiligenverehrung, Opladen 2000. 13 Sverker Oredsson, Geschichtsschreibung und Kult. Gustav Adolf, Schweden und der Dreißigjährige Krieg, Berlin 1994; Matthias Asche/Anton Schindling (Hg.), Däne-
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boten alttestamentliche Vorbilder für heldenhafte Kämpfer im Glaubenskrieg.14 Sogar der Tod von unbewaffneten Opfern wurde durch die christliche Märtyrertradition sinnvoll in eine religiöse Deutung des Krieges integriert.15 Die Verwendung des Begriffs ‚Religionskrieg‘ ist von den jeweiligen Wahrnehmungsmustern und Standorten, den die Perspektive bestimmenden Sehepunkten, abhängig.16 Es sollte eine negative Konnotierung des Worts vermieden werden, wie sie in der heutigen Umgangssprache üblich ist. In der Wissen___________ mark, Norwegen und Schweden im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Nordische Königreiche und Konfession 1500–1660, Münster 2002; Maik Reichel/Inger Schuberth (Hg.), Gustav Adolf, König von Schweden – die Kraft der Erinnerung 1632– 2007. Begleitband zur Ausstellung im Schloß Lützen 2007, Dößel 2007. 14 Georg Friedrich Händel widmete 1746 sein Oratorium „Judas Maccabaeus“ dem Sieger in der Schlacht von Culloden über die katholischen Stuarts und die schottischen Jakobiten, Herzog Wilhelm August von Cumberland, einem Sohn König Georgs II. von Großbritannien. 15 Über den heiliggesprochenen Kapuzinermärtyrer Fidelis von Sigmaringen, ein Opfer der „Bündner Wirren“ im Dreißigjährigen Krieg: Matthias Ilg, Der Kult des Kapuzinermärtyrers Fidelis von Sigmaringen (1578–1622) zwischen „Ecclesia Romana triumphans“ und „Pietas Austriaca“, in: Helvetia Franciscana 30 (2001), S. 34-62; ders., Der Kult des Kapuzinermärtyrers Fidelis von Sigmaringen als Ausdruck katholischer Kriegserfahrungen im Dreißigjährigen Krieg, in: Asche/Schindling, Strafgericht Gottes (wie Anm. 1), S. 291-439. – Über den hingerichteten lutherischen Pfarrer Johannes Bissendorf: Christian Plath, Konfessionskampf und fremde Besatzung. Stadt und Hochstift Hildesheim im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges (ca. 1580–1660), Münster 2005, S. 243-258. – Beiträge und Quellen über den von den Schweden zu Tode gefolterten katholischen Pfarrer Liborius Wagner in: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 43 (1981). 16 Zum Typus und Begriff des Religionskriegs: Wilhelm Janssen, Artikel: Krieg, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 567-615; Konrad Repgen, Kriegslegitimationen in Alteuropa. Entwurf einer historischen Typologie, in: ders., Von der Reformation zur Gegenwart. Beiträge zu Grundfragen der neuzeitlichen Geschichte, hg. v. Klaus Gotto/Hans Günter Hockerts, Paderborn 1988, S. 67-83; ders., Was ist ein Religionskrieg?, in: ebd., S. 84-97; Anton Schindling, Glaubensvielfalt als Kulturkonflikt – Europa in der Frühen Neuzeit, in: Klaus J. Bade (Hg.), Die multikulturelle Herausforderung. Menschen über Grenzen – Grenzen über Menschen, München 1996, S. 46-66; Johannes Burkhardt, Artikel: Religionskrieg, in: Gerhard Krause/Gerhard Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 28, Berlin/New York 1997, S. 681-687; ders., Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: Zeitschrift für historische Forschung 24 (1997), S. 509-574; Franz Brendle/Anton Schindling, Religionskriege in der Frühen Neuzeit. Begriff, Wahrnehmung, Wirkmächtigkeit, in: dies., Religionskriege (wie Anm. 1), S. 15-52; Anton Schindling, Kriegstypen in der Frühen Neuzeit, in: Dietrich Beyrau/Michael Hochgeschwender/Dieter Langewiesche (Hg.), Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn/München/Wien/Zürich 2007, S. 99119; ders., Gerechte Kriege im Zeitalter der Glaubenskämpfe? Krieg und Religion im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation im 16. und 17. Jahrhundert, in: Friedrich Edelmayer/Martina Fuchs/Georg Heilingsetzer/Peter Rauscher (Hg.), Plus ultra. Die Welt der Neuzeit. Festschrift für Alfred Kohler, Münster 2008, S. 191-210.
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schaftssprache muß der Terminus ‚Religionskrieg‘ deshalb phänomenologisch als beschreibender und Merkmale verdichtender Typenbegriff benutzt werden. Der eingeführte Quellenbegriff des „Religionskriegs“ sollte zwar beibehalten werden, etwa mit Blick auf die Französischen Religionskriege in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.17 Von „Religion“ in bezug auf den Krieg wird in den einschlägigen Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts immer gesprochen. Es eröffnet sich hier jedoch ein semantisches Verständigungsproblem zwischen den Quellen und der heutigen Geschichtswissenschaft. Die Gläubigen der großen christlichen Kirchen, wie Katholiken, Lutheraner, Calvinisten, Anglikaner und Orthodoxe, sollten in einer reflektierten wissenschaftlichen Begriffsbildung als Angehörige einer christlichen Konfession bezeichnet und von den nichtchristlichen religiösen Gemeinschaften, wie Muslimen und Juden, unterschieden werden, die ihrerseits, genauso wie die Christenheit als Ganzes, mit dem Begriff der Religion zu benennen sind.18 Einschränkend zu dieser trennscharfen Begriffsdefinition muß freilich in Rechnung gestellt werden, daß die christlichen Konfessionen sich jeweils als die allein wahre und rechtmäßige Ausformung des christlichen Glaubens verstanden und somit den ganzheitlichen Anspruch des Christentums für ihre Konfessionskirche erhoben.19 Jede Konfession war für ihre Anhänger alleinselig___________ 17 Ilja Mieck, Die Bartholomäusnacht als Forschungsproblem. Kritische Bestandsaufnahme und neue Aspekte, in: Historische Zeitschrift 216 (1973), S. 73-110; Wolfgang Kaiser, Die „Bonnes Villes“ und die „Sainte Union“. Neuere Forschungen über die Endphase der französischen Bürgerkriege, in: Francia 13 (1985), S. 638-650; Denis Crouzet, Les Guerriers de Dieu. La violence au Temps des Troubles de Religion (vers 1525–vers 1620), 2 Bde., Seyssel 1990 ; Georges Livet, Les Guerres de Religion (1559– 1598), 7. Auflage Paris 1993; Mack P. Holt, Putting Religion back into the Wars of Religion, in: French Historical Studies 18 (1993), S. 524-551; Arlette Jouanna, Histoire et dictionnaire des guerres de religion, Paris 1998; Michael Wagner, Kreuzzug oder Klassenkampf? Zur Sozialgeschichte der französischen Religionskriege im späten 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift für historische Forschung 25 (1998), S. 85-103; Rainer Babel, Kreuzzug, Martyrium, Bürgerkrieg. Kriegserfahrungen in den französischen Religionskriegen, in: Brendle/Schindling, Religionskriege (wie Anm. 1), S. 107-117; Cornel Zwierlein, Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland, Göttingen 2006. 18 Josef Engel, Von der spätmittelalterlichen respublica christiana zum Mächteeuropa der Neuzeit, in: Theodor Schieder (Hg.), Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 3: Die Entstehung des neuzeitlichen Europa, Stuttgart 1971, S. 1-443; Jean-Marie Mayeur/Norbert Brox (Hg.), Die Geschichte des Christentums, Bd. 7: Von der Reform zur Reformation (1450–1530), hg. v. Marc Venard/Heribert Smolinsky, Freiburg im Breisgau 1995; Bd. 8: Die Zeit der Konfessionen (1530–1620/30), hg. v. Marc Venard/ Heribert Smolinsky, Freiburg im Breisgau 1992. 19 Ernst Walter Zeeden, Die Entstehung der Konfessionen. Grundlagen und Formen der Konfessionsbildung im Zeitalter der Glaubenskämpfe, München 1965; ders., Konfessionsbildung. Studien zur Reformation, Gegenreformation und katholischen Reform, Stuttgart 1985.
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machend. Die Benennung von kriegerischen Konflikten des 16. und 17. Jahrhunderts in den Quellen als „Religionskriege“ hat somit ein reales Fundament in der Selbst- und Fremdwahrnehmung der betroffenen europäischen Christen und erstreckte sich nicht allein auf den genuinen Religionskrieg der christlichen Gemeinwesen gegen den Islam. Für den Begriff des Religionskriegs ist nicht maßgeblich, ob Theologen und Geistliche daran mitwirkten, wenngleich Feldprediger und fanatische Mönche oftmals eine beträchtliche Rolle in den Auseinandersetzungen spielten. Der moderne Forschungsbegriff des ‚konfessionellen Bürgerkriegs‘ trägt zwar den Bedenken gegen die undifferenzierte Verwendung des Begriffs ‚Religionskrieg‘ Rechnung, unterstellt aber mit dem Begriff des Bürgerkriegs ein Maß an Kohärenz innerhalb des weltlichen Herrschaftssystems, das staatliche Einheiten wie das Heilige Römische Reich deutscher Nation, aber auch die nationalen Ständemonarchien West- und Nordeuropas im 16. Jahrhundert nur begrenzt aufwiesen. Kirchlich-konfessionelle Loyalität stand in dieser Epoche zumindest gleichwertig neben politischer Loyalität gegenüber dem Monarchen oder gegenüber den Mitständen und ihren Rechten. Semantisch und typologisch hilft der Kunstbegriff des ‚konfessionellen Bürgerkriegs‘ immerhin, die Phänomene des Religionskriegs und des innerchristlichen Konfessionskriegs mit einiger Trennschärfe gegeneinander abzugrenzen und geschichtswissenschaftlich zu unterscheiden. Dieser Forschungsbegriff ‚konfessioneller Bürgerkrieg‘ wird vor allem im Horizont einer Geschichte der politischen Ideen mit Blick auf die Theorien von Jean Bodin und Thomas Hobbes nahegelegt, welche jenseits des aus dem Konfessionskonflikt erwachsenen Bürgerkriegs die Maßstäbe für den modernen säkularen Staat setzten.20 Seit Bodin und Hobbes galt die Zähmung der konfessionellen Gewaltpotentiale als die primäre Tat des auf inneren Frieden, Recht und Ordnung – das heißt auf Überwindung des „bellum civile“ – zielenden staatlichen Leviathans. Kriege waren und sind realgeschichtlich immer nur multikausal aus einem Bündel von Ursachen und Anlässen zu erklären. Es muß dabei jeweils (1.) die Ebene von Entscheidungsträgern, (2.) von aktiv und passiv Betroffenen, (3.) von Autoren und Adressaten von Propaganda sowie (4.) von Trägern der Kriegs-Memoria unterschieden werden. Durch den methodischen Ansatz der Erfahrungsgeschichte wird die nach Kausalitäten fragende klassische Ereignisgeschichte wesentlich erweitert.21 Der Begriff ‚Religionskrieg‘ kann auf den ___________ 20 Reinhart Koselleck (Hg.), Hobbes-Forschungen, Berlin 1969; Horst Denzer (Hg.), Jean Bodin. Verhandlungen der Internationalen Bodin-Tagung in München, München 1973; Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. v. Iring Fetscher, übersetzt v. Walter Euchner, Frankfurt am Main 2002. 21 Hierzu maßgeblich die Tübinger SFB-Sammelbände: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Dieter Langewiesche/Hans-Peter Ullmann (Hg.), Kriegserfahrungen. Studien
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vier genannten Ebenen verwendet werden, wenn konfessionelle beziehungsweise religiöse Gründe für die multiperspektivischen und facettenreichen Wahrnehmungen und Deutungen der Akteursgruppen eine dominante Rolle spielten. Diese aufgefächerte und differenzierte Begriffsverwendung im Sinne der Erfahrungsgeschichte hat den Vorteil, die Erkenntnisse über den Anteil und das Mischungsverhältnis von Religion, Macht und Krieg genauer zu erfassen. Sie ermöglicht so eine konkretere Beschreibung und Benennung von Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten der handelnden Menschen auf den verschiedenen Akteursebenen.22 Die pauschalisierende Benennung eines Konflikts, wie des Dreißigjährigen Kriegs oder des Siebenjährigen Kriegs, als ‚Religionskrieg‘ ist problematisch und muß vor allem von der Betrachtung der Ebene der Entscheidungsträger abhängig gemacht werden.23 Da ein gesellschaftliches Phänomen wie ‚Religionskrieg‘ immer politisch definiert ist, müssen die politischen Veränderungen und Kontexte mit Priorität Beachtung finden. Zudem sind die historiographische Deutung ex post und die heutige wissenschaftliche Typologisierung einerseits sowie das Gedächtnis und die Memoria der mitlebenden Zeitgenossen und der unmittelbaren Nachkriegszeit andererseits zu unterscheiden. Die Verwendung des Begriffs ‚Religionskrieg‘ in einem abwertenden Sinn seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts unterstellt ein Ende dieses Phänomens, dessen Dominanz in der abgelaufenen Epoche zurückblickend kritisiert wurde. Zumindest für das Heilige Römische Reich deutscher Nation läßt sich das Ende der Religionskriege mit dem Westfälischen Frieden von 1648 datieren.24 Der funktionierende Religionsfrieden ließ Kriege um der Religion willen ___________ zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, Essen 1997; Dietrich Beyrau (Hg.), Der Krieg in religiösen und nationalen Deutungen der Neuzeit, Tübingen 2001; Nikolaus Buschmann/Horst Carl (Hg.), Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn 2001; Asche/Schindling (Hg.), Strafgericht Gottes (wie Anm. 1); Horst Carl/Hans-Henning Kortüm/Dieter Langewiesche/Friedrich Lenger (Hg.), Kriegsniederlagen, Erfahrungen und Erinnerungen, Berlin 2004; Brendle/Schindling (Hg.), Religionskriege (wie Anm. 1); Beyrau/Hochgeschwender/Langewiesche, Formen des Krieges (wie Anm. 16). 22 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989; ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2003. 23 Johannes Burkhardt, Abschied vom Religionskrieg. Der Siebenjährige Krieg und die päpstliche Diplomatie, Tübingen 1985; ders., Konfession als Argument in den zwischenstaatlichen Beziehungen. Friedenschancen und Religionskriegsgefahren in der Entspannungspolitik zwischen Ludwig XIV. und dem Kaiserhof, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume europäischer Außenpolitik im Zeitalter Ludwigs XIV. (Zeitschrift für historische Forschung Beiheft 11), Berlin 1991, S. 135-154. 24 Anton Schindling, Reichsinstitutionen und Friedenswahrung nach 1648, in: Ronald G. Asch/Wulf Eckart Voß/Martin Wrede (Hg.), Frieden und Krieg in der Frühen Neu-
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nicht mehr ausbrechen. Durch den Ewigen Landfrieden von 1495 waren Kriege innerhalb des Reichs, die nicht explizit der Landfriedenswahrung galten, ohnehin geächtet. Die Reichsacht war die angemessene Strafe für Landfriedensbrecher, wie sie 1546 Kursachsen und Hessen, 1620 die Kurpfalz und ihre Anhänger und 1706 Kurbayern und Kurköln sowie im 16. Jahrhundert adelige Rebellen wie Götz von Berlichingen, Franz von Sickingen und Wilhelm von Grumbach traf.25 Die Regulierung und Begrenzung der Kriegsführung im Zeitalter der stehenden Heere des Absolutismus und der europäischen Gleichgewichtspolitik – die „Zähmung der Bellona“ – schien überdies zu einer Überwindung der Religionskriegsproblematik zu führen.26 Dennoch sollte der Faktor ‚Religion‘ in den Kriegen des 18. Jahrhunderts und dann insbesondere in den Kriegen der Französischen Revolution und Napoleons wiederum eine Rolle spielen.27 Was die Kriegserfahrungen der Europäer angeht, so wurden bis in das 19. Jahrhundert hinein die Kriege unter Christen von den Kriegen der christlichen Mächte gegen Muslime und andere Nichtchristen unterschieden.28 Selbst wenn die Formen der Kriegsführung sich real oft an Grausamkeit, Brutalität und ver___________ zeit. Die europäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt (Der Frieden – Rekonstruktion einer europäischen Vision, Bd. 2), München 2001, S. 259-291. 25 Heinz Angermeier, Die Reichsreform 1410–1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart, München 1984; ders., Das alte Reich in der deutschen Geschichte. Studien über Kontinuitäten und Zäsuren, München 1991; Volker Press, Adel im Alten Reich. Gesammelte Vorträge und Aufsätze, hg. v. Franz Brendle/Anton Schindling, Tübingen 1998; ders., Das Alte Reich. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Johannes Kunisch, 2. Aufl. Berlin 2000. 26 Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des „Militarismus“ in Deutschland, Bd. 1: Die altpreußische Tradition, 2. Aufl. München 1954, S. 50-59; Johannes Kunisch, Von der gezähmten zur entfesselten Bellona. Die Umwertung des Krieges im Zeitalter der Revolutions- und Freiheitskriege, in: ders., Fürst – Gesellschaft – Krieg. Studien zur bellizistischen Disposition des absolutistischen Fürstenstaates, Köln/Weimar/Wien 1992, 203-226. 27 Hierzu vgl. in dem Sammelband Brendle/Schindling, Religionskriege (wie Anm. 1) die Beiträge von Antje Fuchs (313-343), Eric Godel (345-376), Claude Muller (377395), Gregor Maier (397-418), Ute Planert (419-431) und Julia Murken (519-527). – Desweiteren: Ute Planert, Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden. Alltag, Wahrnehmung, Deutung 1792–1841, Paderborn 2007. 28 Walter Sturminger, Bibliographie und Ikonographie der Türkenbelagerungen Wiens 1529 und 1683, Graz/Köln 1955; ders. (Hg.), Die Türken vor Wien in Augenzeugenberichten, Düsseldorf 1968; Karl A. Frank, Krummschwert über Wien. Der Türkensturm vor 300 Jahren, Düsseldorf/Wien 1982; Ferenc Szakály, Hungaria eliberata. Die Rückeroberung von Buda im Jahr 1686 und Ungarns Befreiung von der Osmanenherrschaft (1683–1718), Budapest 1986/87; Erich Feigl, Halbmond und Kreuz. Marco d’Aviano und die Rettung Europas, Wien/München 1993; Johanna Pisa/Isabella Wasner-Peter (Hg.), Marco d’Aviano – Prediger und Diplomat, Wien 2000; Jan Mikrut (Hg.), Die Bedeutung des P. Markus von Aviano für Europa, Wien 2003.
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heerender Gewalt nicht nachstanden, so waren die Kriegslegitimationen, die offiziellen Kriegserklärungen, die Wahrnehmungen, Kriegsdeutungen und Sinnzuschreibungen durch die Zeitgenossen, die diplomatischen Wege aus dem Krieg, die Formen der Friedensverhandlungen und Friedensschlüsse und des bei Kriegsbeendigung neu konstituierten Völkerrechts doch verschieden.29 Die Formel vom „christlichen Frieden“ – „Pax Christiana“ – die sich im Westfälischen Frieden von 1648 findet, entbehrte nicht der bewußtseins- und wahrnehmungsmäßigen Basis. Sie bestimmte auch als Dispositiv die Ausbildung von Kriegserfahrungen sowie deren Aufschreiben, Fortschreiben und Umschreiben. Europa konstituierte sich 1648 in seinem Völkerrecht in der Konstruktion eines christlichen Binnenraums und einer nichtchristlichen Außenwelt. Das war auch eine Art von mental map, mit der ein sich noch immer als die „Christianitas“ definierender Kontinent seine Außengrenzen markierte.30 Vom 15. bis zum 18. Jahrhundert wurde der Krieg gegen die Türken im Mittelmeerraum, auf dem Balkan, am Schwarzen Meer und im Kaukasus zumindest in den meisten Teilen Europas als ein Kampf von grundsätzlich anderer Qualität gesehen als der Krieg zwischen den christlichen Monarchen. Dies war das Problem von Binnenraum und Außengrenze.31 Diskutiert wurde noch dar___________ 29 Heribert Smolinsky, Deutungen der Zeit im Streit der Konfessionen. Kontroverstheologie, Apokalyptik und Astrologie im 16. Jahrhundert, Heidelberg 2000; Ulrich Andermann, Geschichtsdeutung und Prophetie. Krisenerfahrung und -bewältigung am Beispiel der osmanischen Expansion im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, in: Bodo Guthmüller/Wilhelm Kühlmann (Hg.), Europa und die Türken in der Renaissance, Tübingen 2000, S. 29-54; ders., Vom Amselfeld nach Wien. Osmanische Kriegsdrohung, Apokalypse und Geschichtsdeutung vom späten Mittelalter bis zum Konfessionellen Zeitalter, in: Beyrau, Krieg in religiösen und nationalen Deutungen (wie Anm. 21), S. 41-60; Thomas Kaufmann, „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türckischer Religion“ in Spätmittelalter und Reformation, Göttingen 2008. 30 Winfried Schulze, Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung, München 1978; Karl Otmar Freiherr von Aretin, Die Türkenkriege als Traditionselement des katholischen Europa, in: Wilfried Barner (Hg.), Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung, München 1989, S. 19-29; Franz Brendle, Habsburg, Ungarn und das Reich im 16. Jahrhundert, in: Wilhelm Kühlmann/Anton Schindling (Hg.), Deutschland und Ungarn in ihren Bildungs- und Wissenschaftsbeziehungen während der Renaissance, Stuttgart 2004, S. 1-25. 31 Franz Babinger, Mehmed der Eroberer und seine Zeit. Weltenstürmer einer Zeitenwende, München 1953; Ferenc Majoros/Bernd Rill, Das Osmanische Reich 1300– 1922. Die Geschichte einer Großmacht, Regensburg 1994; István György Tóth (Hg.), Relationes Missionarum de Hungaria et Transilvania (1627–1707). Berichte von Missionären über Ungarn und Siebenbürgen (1627–1707), Rom/Budapest 1994; ders., Türken und Mönche. Kriegserfahrungen der katholischen Missionare im Ungarn des 17. Jahrhunderts, in: Brendle/Schindling, Religionskriege (wie Anm. 1), S. 217-227; Edgar Hösch, Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, 4. Aufl. München 2002; Eszter Andor/István György Tóth (Hg.), Frontiers of Faith. Religious
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über, ob die schismatischen Griechen und Russen zur Christenheit gehörten, wenn in Polen und Litauen gelegentlich die Metapher von der „Vormauer der Christenheit“ – „antemurale Christianitatis“ – gegen das orthodoxe Moskauer Reich gewendet wurde. Aber ein Vorverständnis, daß der Herrschaftsraum des türkischen Sultans außerhalb dieser Vormauern Europas lag und an seinen Grenzen ein fast permanenter Krieg gegen die Muslime tobte, entsprach der allgemeinen Wahrnehmung der Zeitgenossen.32 Im Spannungsfeld von Religion und Krieg gab es also im Erfahrungsraum und Erwartungshorizont der abendländisch-christlichen Welt bis an die Schwelle der Moderne zwei Kategorien von kriegerischer Gewalt und damit zwei Typen von Religionskriegen: einerseits den konfessionellen Bürgerkrieg oder den Staatenkrieg zwischen Anhängern unterschiedlicher christlicher Bekenntnisse – also Kriege zwischen Christen um der Religion, besser: der Konfession willen – und andererseits den genuinen Religionskrieg von Christen gegen Nichtchristen an den Außengrenzen der Christenheit.33 Für die Deutung von Kriegserleben und dessen Verdichtung zu Kriegserfahrungen war dies kriterienbildend. Zumindest die grundsätzliche Annahme, daß getaufte Christen, wenn auch bekenntnisverschieden, untereinander ein Mindestmaß an zivilisierter Humanität und Rechtlichkeit auch im Krieg walten lassen, stand der elementaren Angst vor der Barbarei der nichtchristlichen Kriegsgegner gegenüber. Dies führte dann auch zur Bezichtigung grausamer Kriegsführung durch christliche Gegner, so etwa, wenn im Heiligen Römischen Reich zur Zeit der Eroberungskriege Ludwigs XIV. die Franzosen mit den Türken verglichen und das Attribut „Erbfeind“, das ursprünglich auf letztere bezogen war, auf Frankreich übertragen wurde.34 Andererseits war das christliche Verzeihen und Vergessen von Gewalttaten im Krieg, das heißt auch von Kriegsverbrechen, seit der Amnestieklausel des Westfälischen Friedens ein Kernbestandteil des europäischen Völkerrechts mit seiner Konzeption einer „Pax Christiana“. ___________ Exchange and the Constitution of Religious Identities 1400–1750, Budapest 2001; Suraiya Faroqhi, The Ottoman Empire and the world around it, London 2006. 32 Karl Vocelka, Die politische Propaganda Kaiser Rudolfs II. (1576–1612), Wien 1981; ders., Rudolf II. und seine Zeit, Wien 1982; Gernot Heiss (Hg.), Das Osmanische Reich und Europa 1683 bis 1789. Konflikt, Entspannung und Austausch, München 1983; Jan Paul Niederkorn, Die europäischen Mächte und der „Lange Türkenkrieg“ Kaiser Rudolfs II. (1593–1606), Wien 1993; István Zombori (Hg.), Fight against the turk in Central-Europe in the first half of the 16th century, Budapest 2004. 33 Georg Wagner, Das Türkenjahr 1664. Eine europäische Bewährung. Raimund Montecuccoli, die Schlacht von St. Gotthard-Mogersdorf und der Friede von Eisenburg (Vasvár), Eisenstadt 1964. 34 Franz Bosbach (Hg.), Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit, Köln/Weimar 1992; Martin Wrede, Das Reich und seine Feinde. Politische Feindbilder in der reichspatriotischen Publizistik zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg, Mainz 2004.
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Byzanz war vom lateinischen Abendland faktisch preisgegeben worden. Aber mit der Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453 und dem Ende des Oströmischen Kaisertums begann eine Offensive des Osmanischen Reiches gegen die christlichen Reiche des Westens, die ihre vorläufigen Höhepunkte mit der Vertreibung des Johanniterordens von der Insel Rhodos 1522, der Zerstörung des Königreichs Ungarn in der Schlacht von Mohácz 1526 und der ersten Türkenbelagerung Wiens 1529 fand. Im Westen gelang es zwar den Katholischen Königen von Spanien, im Jahre 1492 mit der Eroberung von Granada die Muslime von der iberischen Halbinsel zu verdrängen. Aber die nordafrikanischen Vasallenstaaten des Osmanischen Reiches in Algier und Tunis führten im 16. Jahrhundert einen gefährlichen Seekrieg gegen die Spanier im westlichen Mittelmeerraum. Von Gibraltar bis zur Ukraine wurde im 16. und 17. Jahrhundert ein fast permanenter Krieg zwischen den Türken und den christlichen Staaten geführt, wobei auf der christlichen Seite vor allem die Habsburger in Spanien und in Ungarn die Last des Kampfes gegen einen in manchem militärtechnisch sogar überlegenen Feind trugen. Ob offener Krieg mit großen Armeen im Feld und Flotten zur See oder „Kleiner Krieg“, die „Guerilla“, entlang der Grenze – der Krieg mit den Türken implizierte stets das Wahrnehmungsmuster des Glaubenskampfes, des bewaffneten Kampfes von Christen gegen die dem christlichen Glauben feindlich gesonnenen Muslime. Ein Bedrohungsszenario mit Kriegsgreueln, Versklavung, Unterdrückung des Christentums und Zwangsislamisierung, wie etwa bei der „Knabenlese“ für die Janitscharen, konstituierte ein wirkmächtiges Feindbild. Mit der Militärgrenze der Republik Venedig und vor allem der Habsburger Monarchie entstand zwischen der Adria und dem Karpatenbogen – von Dalmatien bis Siebenbürgen – eine eigene Zone, deren Lebenswelt von der ständigen Bedrohung durch den benachbarten Islam und den Kleinkrieg über die Grenze hinweg gekennzeichnet war.35 Der Umstand, daß die Lebensumstände der or___________ 35 Gunther E. Rothenberg, The military border in Croatia 1740–1881. A study of an imperial institution, Chicago 1966; Nikolaus von Preradovich, Des Kaisers Grenzer. 300 Jahre Türkenabwehr, Wien 1970; Carl Göllner, Die Siebenbürgische Militärgrenze. Ein Beitrag zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1762–1851, München 1974; Peter Krajasich, Die Militärgrenze in Kroatien, Wien 1974; Gerhard Ernst (Hg.), Die österreichische Militärgrenze. Geschichte und Auswirkungen, Regensburg 1982; Karl Kaser, Freier Bauer und Soldat. Die Militarisierung der agrarischen Gesellschaft an der kroatischslawonischen Militärgrenze (1535–1881), Wien/Köln/Weimar 1997; Drago Roksandiü (Hg.), Microhistory of the Triplex Confinium. International project conference papers, Central European University, Budapest 1998; ders., Constructing border societies on the Triplex Confinium. International project conference papers 2. „Plan and practice: how to construct a border society. The Triplex Confinium circa 1700–1750”, Central European University, Budapest 2000; Géza Dávid/Pál Fodor (Hg.), Ottomans, Hungarians and Habsburgs in Central Europe. The military confines in the era of Ottoman conquest, Leiden 2000; Österreichisches Staatsarchiv/Collegium Hungaricum (Hg.), Gemeinsam
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thodoxen Christen unter osmanischer Herrschaft sich in manchem differenzierter gestalteten, wurde im Abendland kaum wahrgenommen.36 Der Krieg gegen die Muslime galt als ein Gerechter Krieg, ein Verteidigungskrieg gegen den „Erbfeind des christlichen Namens“. Dem Römischen Kaiser kam hierbei auf Grund seines universalchristlichen Amtes eine besondere Aufgabe zu.37 Die Rechtfertigung des Türkenkriegs als Gerechter Krieg zur Verteidigung des christlichen Glaubens bildete die Mehrheitsmeinung unter den Christen im Abendland.38 Viele Prediger knüpften explizit an die mittelalterliche Kreuzzugstradition an, obwohl das Heilige Land seit der osmanischen Eroberung auch für Pilgerreisen kaum noch erreichbar war und der Krieg in Ungarn und um die Mittelmeerinseln tobte. Im Krieg gegen die Türken definierten die Ungarn39 sowie die Polen und Litauer40 ihre nationale Aufgabe als „antemurale Christianitatis“. Ebenso legitimierte sich auch der Staat der Johanniterordensritter auf Malta.41 Mit dem Schutzwall-Argument rechtfertigte des-
___________ gegen die Osmanen. Ausbau und Funktion der Grenzfestungen in Ungarn im 16. und 17. Jahrhundert, Ausstellungskatalog, bearb. v. Géza Pálffy, Budapest/Wien 2001. 36 Dorothea Wendebourg, Reformation und Orthodoxie. Der ökumenische Briefwechsel zwischen der Leitung der Württembergischen Kirche und Patriarch Jeremias II. von Konstantinopel in den Jahren 1573–1581, Göttingen 1986; Franz Brendle, Martin Crusius. Humanistische Bildung, schwäbisches Luthertum und Griechenlandbegeisterung, in: ders./Dieter Mertens/Anton Schindling/Walter Ziegler (Hg.), Deutsche Landesgeschichtsschreibung im Zeichen des Humanismus, Stuttgart 2001, S. 145-163. 37 Moritz Czáky, Karl V., die Türkenfrage und das Reich (zu Beginn der Regierung Ferdinands I. als König von Ungarn), in: Heinrich Lutz (Hg.), Das römisch-deutsche Reich im politischen System Karls V., München/Wien 1982, S. 223-237. 38 Martin Luther, Vom kriege widder die Türcken, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesammtausgabe, Bd. 30, 2. Abt., Weimar 1909; Rudolf Mau, Luthers Stellung zu den Türken, in: Helmar Junghans (Hg.), Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag, Bd. 1, Göttingen 1983, S. 647-662. 39 Béla Köpeczi (Hg.), Kurze Geschichte Siebenbürgens, Budapest 1990; Günter Schödl (Hg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas. Land an der Donau, Berlin 1995; Márta Fata, Ungarn, das Reich der Stephanskrone, im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Multiethnizität, Land und Konfession 1500–1700, hg. v. Anton Schindling/Franz Brendle, Münster 2000; Géza Pálffy, Türkenabwehr, Grenzsoldatentum und die Militarisierung der Gesellschaft in Ungarn in der Frühen Neuzeit, in: Historisches Jahrbuch 123 (2003), S. 111-148. 40 Norman Davies, Im Herzen Europas. Geschichte Polens, München 2000; Robert Bartczak, Religion und Krieg in der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Kriegserfahrungen der Jahre 1656–1667 in den Tagebüchern von Jan Antoni Chrapowicki und Bazyli Rudomicz, in: Brendle/Schindling, Religionskriege (wie Anm. 1), S. 229-260. 41 Ernle Bradford, Der Schild Europas. Der Kampf der Ritter vom hl. Johannes gegen die Türken – Malta 1565, Tübingen 1961; Gregory O’Malley, The Knights Hospitaller of the English langue 1460–1565, Oxford 2005.
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gleichen die Republik Venedig ihre Seeherrschaft in der Adria und im östlichen Mittelmeer.42 Die Türkenkriege standen einer Säkularisierung des Kriegs im Erfahrungsraum und Erwartungshorizont der Europäer entgegen.43 Hier schien der Kampf für den Glauben mit Waffen und militärischer Gewalt seinen legitimen Ort zu haben. Ebenso warfen die Kriege der Spanier in der Neuen Welt gegen die einheimischen Indianerreiche die Frage nach der Berechtigung von Kriegen zum Zweck der Ausbreitung des christlichen Glaubens auf. Die spanische Völkerrechtslehre des 16. Jahrhunderts hat diese Probleme sorgfältig und differenziert im Kontext des Naturrechts und der Moraltheologie erörtert.44 Viele der mit Waffengewalt in Amerika vordringenden Spanier dürften dagegen ihre Conquista einfach als die Fortsetzung der jahrhundertelangen Reconquista der iberischen Länder von der Herrschaft der Mauren gesehen haben, die unter dem Banner des Heiligen Jakobus bis zur Eroberung Granadas 1492 und zum Ende des andalusischen Islams geführt hatte. Der Bischof Bartolomé de Las Casas hat allerdings das Vorgehen seiner Landsleute in Amerika gegen die Indianer mit größter Schärfe als nicht gerechtfertigt gegeißelt.45 Die wortgewaltige Verwerfung und moralische Diskreditierung der spanischen Indianerkriege durch Las Casas wurde später im protestantischen Europa zum Bestandteil der gegen Spanien gerichteten ‚Schwarzen Legende‘, mit welcher die spanische Monarchie – vor allem von den nördlichen Niederlanden und England aus – in der Kriegspropaganda als eine tyrannische Herrschaft denunziert wurde.46 Gewaltsamer Widerstand gegen den Tyrannen erschien – gemäß der monarchomachischen Staatslehre – erlaubt und sogar geboten. Die ‚Schwarze Legende‘ brachte eine besondere publizistische Schärfe in Kriege von Protestanten gegen Katholiken. Sie trug dazu bei, militärische Auseinandersetzungen vom Niederländischen Freiheitskampf über den Angriff der Großen Armada gegen England und die Jakobitenkriege in Schottland und Irland ___________ 42 Ekkehard Eickhoff, Venedig, Wien und die Osmanen. Umbruch in Südosteuropa 1645–1700, 3. Aufl. Stuttgart 2008. 43 Thomas M. Barker, Doppeladler und Halbmond. Entscheidungsjahr 1683, Graz/Wien/Köln 1982. 44 Ernst Reibstein, Völkerrecht. Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis. Bd. 1: Von der Antike bis zur Aufklärung, Freiburg im Breisgau 1958; Ulrich Horst, Leben und Werke Francisco de Vitorias, in: ders./Heinz-Gerhard Justenhoven/Joachim Stüben (Hg.), Francisco de Vitoria: Vorlesungen (Relectiones). Völkerrecht, Politik, Kirche, Bd. I, Stuttgart 1995, S. 13-99. 45 Johannes Meier (Hg.), Bartolomé de Las Casas. Der Mann – das Werk – die Wirkung, Frankfurt am Main 1992; Mariano Delgado, Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit. Das Christentum des Bartolomé de Las Casas, Freiburg/Schweiz 2001. 46 Ricardo García Cárcel, La leyenda negra. Historia y opinión, Madrid 1992; Mario Escobar Golderos, La historia de una obsesión. Felipe II y su época, política religiosa nacional e internacional, Madrid 2001.
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bis hin zum Siebenjährigen Krieg propagandistisch als Religionskriege darzustellen. Im späten 17. Jahrhundert wurden die aggressiv antikatholischen Motive der ‚Schwarzen Legende‘ durch Wilhelm III. von Oranien polemisch von Philipp II. auf Ludwig XIV., also von Spanien auf Frankreich, übertragen. Als ein protestantischer Glaubenskrieger gegen habsburgisch-katholische „Tyrannei“ wurde in den evangelischen Teilen des Heiligen Römischen Reichs auch der „Löwe aus Mitternacht“, König Gustav II. Adolf von Schweden, wahrgenommen. Diese prononcierte Selbstdarstellung stützte im Dreißigjährigen Krieg die schwedische Intervention bis nach Süddeutschland propagandistisch ab. Wie sehr auch immer säkulare machtpolitische Motive für den Wasakönig und die schwedische Reichsführung wichtig gewesen sein mögen, so war doch die vorherrschende Sicht und Deutung unter den Deutschen – und zwar bei Protestanten wie Katholiken – die eines Religionskriegers, sei es auf der einen Seite als die eines gottgesandten Befreiers der Protestanten oder auf der anderen Seite als die eines Feindes und Schädigers des katholischen Glaubens.47 Das schwedische Heer hatte zumindest in den ersten Jahren in Deutschland auch noch einen durchaus konfessionell homogenen Charakter, wurde freilich dann – wie auch die Heere auf der katholischen Seite – zunehmend zu einer konfessionell bunt zusammengesetzten Söldnerarmee. Die deutschen Habsburger boten insgesamt weniger Anhaltspunkte für die Konstruktion einer ‚Schwarzen Legende‘ als ihre spanischen Verwandten. Im Heiligen Römischen Reich hatte Kaiser Karl V. ein Politikmodell vorgegeben, wenn er sorgfältig vermied, das militärische Vorgehen gegen die Protestanten im Schmalkaldischen Krieg 1546/47 als einen Religionskrieg gegen Ketzer darzustellen.48 Der offizielle Kriegsgrund war für ihn die Wahrung des Landfriedens gegen den Kurfürsten von Sachsen und den Landgrafen von Hessen, die sich mit der gewaltsamen Vertreibung des altgläubigen Herzogs von Braunschweig-Wolfenbüttel und der widerrechtlichen Okkupation des Wolfenbütteler Territoriums eines schwerwiegenden Landfriedensbruchs schuldig gemacht ___________ 47 Oredsson (wie Anm. 13); Asche/Schindling, Dänemark, Norwegen und Schweden (wie Anm. 13); Reichel/Schuberth (wie Anm. 13). 48 Horst Rabe, Karl V. und die deutschen Protestanten. Wege, Ziele und Grenzen der kaiserlichen Religionspolitik, in: ders. (Hg.), Karl V. Politik und politisches System, Konstanz 1996, S. 317-345; ders., Abschied vom Ketzerrecht? Zur Religionspolitik Karls V., in: Irene Dingel/Volker Leppin/Christoph Strohm (Hg.), Reformation und Recht. Festgabe für Gottfried Seebaß, Gütersloh 2002, S. 40-57; ders., Zur Entstehung des Augsburger Interims, in: Archiv für Reformationsgeschichte 94 (2003), S. 6-104; Alfred Kohler, Die Religionsfrage im politischen Kalkül Kaiser Karls V., in: Inge Auerbach (Hg.), Reformation und Landesherrschaft. Vorträge des Kongresses anlässlich des 500. Geburtstages des Landgrafen Philipp des Großmütigen von Hessen, Marburg 2005, S. 177-186.
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hatten.49 Hinzu kam der Vorwurf des Ungehorsams von Reichsständen gegenüber dem Gebot des Kaisers, das Konzil von Trient aufzusuchen. Ohne Zweifel war für Karl V. der wahre Kriegsgrund die Glaubensfrage. Nach dem Scheitern seiner Vermittlungsbemühungen auf den Reichstagen von Augsburg 1530 und Regensburg 1541 wollte er die Frage der „spaltigen Religion“ mit militärischer Gewalt lösen. Dafür erhielt er die Unterstützung des Papstes und des Königs von Frankreich. Aber der ‚Glaubenskrieg‘ durfte nicht als solcher erscheinen. Kaiser Karls Vorgehen gegen die Schmalkaldener sollte ein Krieg zur Landfriedenswahrung sein und blieb damit konform zu den Regeln der Reichsverfassung, wie sie der Ewige Landfrieden von Worms 1495 für das Reich etabliert hatte. Diese „dissimulatio“ der wahren Gründe hielt die Türen für eine schließlich rechtliche Regelung des Konflikts im Rahmen des Reichssystems offen. Karls V. Verbündeter im Schmalkaldischen Krieg, Herzog Moritz von Sachsen, hatte als Protestant ebenfalls alles Interesse daran, den ausschließlich reichsrechtlichen Charakter des Krieges gegen seinen ernestinischen Vetter als eine Strafmaßnahme gegen Landfriedensbrecher betont zu wissen.50 An einer Konfliktlösung im Rahmen des profanen Reichsrechts mußte der Albertiner elementar interessiert sein, um die Legitimität der Übertragung der sächsischen Kurwürde von der ernestinischen auf die albertinische Linie sicherzustellen. Auch vorher schon hatten Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen und seine Schmalkaldischen Bundesgenossen die militärischen Aktionen gegen das habsburgisch verwaltete Württemberg 1534 und gegen BraunschweigWolfenbüttel 1542 reichs- und landfriedensrechtlich begründet und die eindeu___________ 49 Franz Petri, Nordwestdeutschland im Wechselspiel der Politik Karls V. und Philipps des Großmütigen, in: Zeitschrift für hessische Geschichte und Landeskunde 71 (1960), 37-60; ders., Herzog Heinrich der Jüngere von Braunschweig-Wolfenbüttel. Ein niederdeutscher Territorialfürst im Zeitalter Luthers und Karls V., in: Archiv für Reformationsgeschichte 72 (1981), S. 122-157. 50 Karl Erich Born, Moritz von Sachsen und die Fürstenverschwörung gegen Karl V., in: Historische Zeitschrift 191 (1960), S. 21-69; Hermann Weber, Le Traité de Chambord (1552), in: Charles-Quint, le Rhin et la France. Actes des Journées d’études de Strasbourg, Strasbourg 1973, S. 81-94; Jean Daniel Pariset, Les relations entre la France et l’Allemagne au milieu du XVIe siècle. Humanisme, réforme et diplomatie, d’après des documents inédits, Strasbourg 1981; Karlheinz Blaschke, Moritz von Sachsen – ein Reformationsfürst der zweiten Generation, Göttingen/Zürich 1984; ders. (Hg.), Moritz von Sachsen. Ein Fürst der Reformationszeit zwischen Territorium und Reich, Internationales wissenschaftliches Kolloquium, Stuttgart 2007; Manfred Rudersdorf, Moritz von Sachsen. Zur Typologie eines deutschen Reichsfürsten zwischen Renaissance und Reformation, in: André Thieme/Jochen Vötsch (Hg.), Hof und Hofkultur unter Moritz von Sachsen (1521–1553), Beucha 2004, S. 15-39; ders., Herzog und Kurfürst Moritz von Sachsen (1541/47–1553), in: Frank-Lothar Kroll (Hg.), Die Herrscher Sachsens. Markgrafen, Kurfürsten, Könige 1089–1918, München 2004, S. 90-109, S. 329-331.
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tig entscheidungsleitenden konfessionellen Motive ganz zurücktreten lassen.51 Der säkulare dynastische Konflikt zwischen dem Haus Habsburg und den Häusern Valois beziehungsweise Bourbon überlagerte auch immer wieder die Glaubensfronten und führte zu Annäherungen zwischen dem katholischen „Roi Très Chrétien“ – „Rex Christianissimus“ – und den deutschen Protestanten.52 Die ‚Dissimulation‘ der eigentlichen Kriegsursachen von altgläubiger wie von protestantischer Seite in den Religionskriegen des 16. Jahrhunderts verwies die konfessionellen Auseinandersetzungen auf die Ebene der Landfriedensbewegung.53 Somit war die Möglichkeit, einen religiösen Ausgleich auf säkularer Grundlage zu schaffen, nicht nur von kaiserlicher Seite, sondern auch seitens der protestantischen Reichsfürsten durch die „dissimulatio“ der eigentlichen Kriegsmotive vorgegeben. Auf derselben säkularen Ebene der landfriedensrechtlichen Argumente, auf welcher der Krieg offiziell geführt wurde, ließ sich dann auch der Religionsausgleich pragmatisch herstellen.54 Hier war der Konsens möglich. Die Glaubensfrage zwischen Katholiken und Protestanten wurde erfolgreich zur Landfriedensfrage umdefiniert und damit aus der Zuständigkeit der Theologen in die Zuständigkeit der Juristen und Reichspolitiker übergeben.55 ___________ 51 Wolgast, Wittenberger Theologie (wie Anm. 5); ders., Die Religionsfrage als Problem des Widerstandsrechts im 16. Jahrhundert, Heidelberg 1980; Diethelm Böttcher, Ungehorsam oder Widerstand? Zum Fortleben des mittelalterlichen Widerstandsrechtes in der Reformationszeit. (1529–1530), Berlin 1991; Anton Schindling, Philipp der Großmütige und Hessen im Reich und in Europa – Erfahrungsräume eines Reformationsfürsten, in: Auerbach (wie Anm. 48), S. 347-373. 52 Stephan Skalweit, Die „affaire des placards“ und ihr reformationsgeschichtlicher Hintergrund, in: Erwin Iserloh/Konrad Repgen (Hg.), Reformata Reformanda. Festgabe für Hubert Jedin, Bd. 1, Münster 1965, S. 445-465; Karl Josef Seidel, Frankreich und die deutschen Protestanten. Die Bemühungen um eine religiöse Konkordie und die französische Bündnispolitik in den Jahren 1534/35, Münster 1970; Heinrich Lutz, Kaiser Karl V., Frankreich und das Reich, in: ders., Politik, Kultur und Religion im Werdeprozeß der frühen Neuzeit. Aufsätze und Vorträge, Klagenfurt 1982, S. 81-88. 53 Rolf Decot, Religionsfrieden und Kirchenreform. Der Mainzer Kurfürst und Erzbischof Sebastian von Heusenstamm 1545–1555, Wiesbaden 1980; Christoph Bauer, Melchior Zobel von Giebelstadt, Fürstbischof von Würzburg (1544–1558). Diözese und Hochstift Würzburg in der Krise, Münster 1998; Brendle, Dynastie, Reich und Reformation (wie Anm. 4); ders., „Bündnis versus Bekenntnis“ (wie Anm. 4). 54 Volker Henning Drecoll (Hg.), Der Passauer Vertrag (1552). Einleitung und Edition, Berlin/New York 2000; Winfried Becker (Hg.), Der Passauer Vertrag von 1552. Politische Entstehung, reichsrechtliche Bedeutung und konfessionsgeschichtliche Bewertung, Neustadt an der Aisch 2003. 55 Manfred Rudersdorf, 1555 als Achsenjahr der deutschen Geschichte. Zu zwei Aspekten reichsfürstlicher Politik im Zeichen des Augsburger Religionsfriedens, in: Gabriele Viertel/Renate Wißuwa (Hg.), Landesgeschichte und Archivwesen. Festschrift für Reiner Groß, Dresden 2002, S. 179-198; Axel Gotthard, Der Augsburger Religionsfrieden, Münster 2004; Wolfgang Wüst (Hg.), Der Augsburger Religionsfriede 1555. Ein
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Nach den Wechselfällen der Politik Kaiser Karls V. zwischen Triumph und Niederlage konnte sein jüngerer Bruder, König Ferdinand I., auf dieser reichsrechtlichen Grundlage zunächst den Passauer Vertrag von 1552 und daran anknüpfend 1555 den Augsburger Religionsfrieden schließen.56 Vorgezeichnet worden war der Weg des reichsrechtlichen Konfliktausgleichs bereits durch die „Stillstände“ Karls V. mit den protestantischen Reichsständen 1532 in Nürnberg und 1539 in Frankfurt am Main. Der Religionsfrieden zwischen Katholiken und Lutheranern wurde dann 1555 als Teil des vom Augsburger Reichstag erneuerten Wormser Reichslandfriedens zum Reichsgesetz erklärt und unterlag jetzt bei Ausklammerung der theologischen Wahrheitsfrage der Rechtsgarantie der Reichsinstitutionen, also des Reichstags, der Reichskreise und der obersten Reichsgerichtsbarkeit von Reichskammergericht und Reichshofrat.57 Das Friedenswerk von 1555 gab eine rechtliche und politische Friedensgarantie, die weder die kirchlich-theologische Auseinandersetzung beendete, noch den Absolutheitsanspruch der jeweiligen religiösen Partei berührte. Zumindest für eine Generation funktionierte die Regelung von Augsburg recht gut und bescherte dem Heiligen Römischen Reich eine Ruhe, welche auch die Drohung eines Religionskrieges fern rücken ließ, während eine solche in Westeuropa immer mehr zur blutigen Realität geführt hatte.58 ___________ Epochenereignis und seine regionale Verankerung (Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben, Bd. 98), Augsburg 2005; Martin Heckel, Der Augsburger Religionsfriede. Sein Sinnwandel vom provisorischen Notstands-Instrument zum sakrosankten Reichsfundamentalgesetz religiöser Freiheit und Gleichheit, in: Juristenzeitung 60 (2005), S. 961-970; ders., Politischer Friede und geistliche Freiheit im Ringen um die Wahrheit. Zur Historiographie des Augsburger Religionsfriedens von 1555, in: Historische Zeitschrift 282 (2006), S. 391-425; Heinz Schilling/Heribert Smolinsky (Hg.), Der Augsburger Religionsfrieden 1555. Wissenschaftliches Symposium aus Anlaß des 450. Jahrestages des Friedensschlusses, Gütersloh/Münster 2007. 56 Bernhard Sicken, Ferdinand I. 1556–1564, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hg.), Die Kaiser der Neuzeit 1519–1918. Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland, München 1990, S. 55-77, S. 472-473; Alfred Kohler, Ferdinand I. 1503– 1564. Fürst, König und Kaiser, München 2003. 57 Anton Schindling, Der Westfälische Frieden und die deutsche Konfessionsfrage, in: Manfred Spieker (Hg.), Friedenssicherung, Bd. 3: Historische, politikwissenschaftliche und militärische Perspektiven, Münster 1989, S. 19-36; ders., Ein historisches Beispiel für Gerechtigkeit und Fairneß im Verfahren: Der Westfälische Frieden. Die Regelung im konfessionellen Nebeneinander, in: Günter Bierbrauer (Hg.), Verfahrensgerechtigkeit. Rechtspsychologische Forschungsbeiträge für die Justizpraxis, Köln 1995, S. 245255. 58 Manfred Rudersdorf, Maximilian II. (1564–1576), in: Schindling/Ziegler, Kaiser der Neuzeit (wie Anm. 56), S. 79-97, S. 474-475; ders., Ludwig IV. Landgraf von Hessen-Marburg (1537–1604). Landesteilung und Luthertum in Hessen, Mainz 1991; ders., Die Generation der lutherischen Landesväter im Reich. Bausteine zu einer Typologie des deutschen Reformationsfürsten, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Bd. 7: Bilanz – Forschungsperspektiven – Register, Münster
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Das ‚Dissimulations-Modell‘ der Reformationszeit und des Augsburger Religionsfriedens bestimmte die nachfolgende Reichsgeschichte. Es gab offiziell von katholischer habsburgischer Seite keine Religionskriege im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Selbst auf dem Höhepunkt der Gegenreformation im Dreißigjährigen Krieg deklarierten Kaiser Ferdinand II. und die katholische Liga ihre militärischen Aktionen gegen die Protestanten immer als Verteidigungsmaßnahmen angesichts von Verletzungen des Landfriedens und als Landfriedens-Exekutionen. Die Durchsetzung des Augsburger Religionsfriedens – allerdings in einer maximalistischen katholischen Rechtsauslegung – wurde angeführt, um die Kriegszüge Tillys und Wallensteins und das Restitutionsedikt von 1629 vor der Reichsöffentlichkeit zu rechtfertigen.59 Die Umdefinition des Glaubenszwiespalts zur Landfriedensfrage erwies sich als dauerhaft und Konfessionen übergreifend als konsensfähig. Sie ermöglichte schließlich den Ausweg aus dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg durch den Westfälischen Frieden, der den Augsburger Religionsfrieden erneuerte und unter Einschluß der Calvinisten juristisch fortschrieb.60 Der Landfrieden als Argument war wirkungsmächtiger als die alleinseligmachende Glaubenswahrheit. Mit der säkularen Religionsfriedensordnung des Westfälischen Friedens von 1648 löste das Heilige Römische Reich deutscher Nation das Problem des pluralistischen Nebeneinanders mehrerer christlicher Konfessionen in einem politischen Gemeinwesen früher und dauerhafter als andere europäische Großreiche. Die Parität gewährleistete das Zusammenleben und verhinderte Religionskriege, indem durch Juridifizierung aus dem Krieg mit Waffen ein ‚rechtlicher Krieg‘ wurde.61 Jetzt schlug die Stunde der Rechtsgelehrten. Das verhinderte ___________ 1997, S. 137-170; Friedrich Edelmayer/Alfred Kohler (Hg.), Kaiser Maximilian II. Kultur und Politik im 16. Jahrhundert, Wien/München 1992; Maximilian Lanzinner, Friedenssicherung und politische Einheit des Reiches unter Kaiser Maximilian II. (1564– 1576), Göttingen 1993; Andreas Edel, Der Kaiser und Kurpfalz. Eine Studie zu den Grundelementen politischen Handelns bei Maximilian II. (1564–1576), Göttingen 1997; Dietmar Heil, Die Reichspolitik Bayerns unter der Regierung Herzog Albrechts V. (1550–1579), Göttingen 1998; Jens Bruning, Kurfürst August (1553–1586), in: Kroll (wie Anm. 50), S. 110-125; Andreas Neuburger, Reichstreue und Luthertum. Die Reichstagspolitik der württembergischen Herzöge Ulrich und Christoph unter den Bedingungen der Afterlehenschaft (1541–1567), in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 66 (2007), S. 113-135. 59 Martin Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter, 2. Auflage Göttingen 2001. 60 Bernd Mathias Kremer, Der Westfälische Friede in der Deutung der Aufklärung. Zur Entwicklung des Verfassungsverständnisses im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation vom Konfessionellen Zeitalter bis ins späte 18. Jahrhundert, Tübingen 1989. 61 Anton Schindling, Der Westfälische Frieden und das Nebeneinander der Konfessionen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in: Konrad Ackermann/Alois Schmid/Wilhelm Volkert (Hg.), Bayern. Vom Stamm zum Staat. Festschrift für Andreas Kraus, Bd. 1, München 2002, S. 409-432; ders., Die Deutschen und der Dreißigjährige
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allerdings nicht, daß der Ausgang des Dreißigjährigen Krieges von den konfessionellen Parteien in unterschiedlicher Weise wahrgenommen und interpretiert wurde: Das protestantische Empfinden, sich behauptet und damit einen Sieg errungen zu haben, verschaffte sich Ausdruck in zahlreichen Jubelfesten und Friedensfeiern.62 Bei den Katholiken herrschte demgegenüber eher eine verhaltene und gedrückte Stimmung vor.63 Dem entsprach auch, daß eine religiös konnotierte Helden- und Retterfigur wie Gustav II. Adolf von Schweden auf der katholischen Seite keine direkte Entsprechung hatte. Dort trat Maria als himmlische Fürsprecherin und Schlachtenhelferin, Trostspenderin und Schutzfrau prononciert in der Frömmigkeit hervor, was auch eine Transzendierung der Religionskriegsproblematik in jenseitiges Geschehen mit einschloß.64 Im Heiligen Römischen Reich war somit früh und erfolgreich das Problem von Religionskriegen als Gerechten Kriegen aus dem Kriegsdiskurs herausgenommen worden und blieb auf den Türkenkrieg jenseits der Reichsgrenzen beschränkt, zu dessen Führung auch die protestantischen Reichsstände immer wieder bereitwillig beitrugen.65 Der Türkenkrieg in Ungarn wurde freilich gerade von den deutschen Protestanten, auch eingedenk der anfänglichen Skepsis Martin Luthers und in der Tradition seiner Zwei-Reiche-Lehre, eher als eine nationale denn als eine religiöse Aufgabe angesehen. Die Reichshilfe für die habsburgischen Kaiser gegen die als „Erbfeind“ bezeichneten Türken sollte im 16. und 17. Jahrhundert eines der stärksten Bande der Reichsstände und aller Deutschen im Heiligen Römischen Reich sein – auch in Überbrückung der konfessionellen Spaltung.66 ___________ Krieg. Zeiterfahrung des steten Wechsels und Reichspolitik, in: Helmut Neuhaus/Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas. Festschrift für Johannes Kunisch, Berlin 2002, S. 185-200. 62 Helmut Neuhaus, Zwischen Krieg und Frieden. Joachim Sandrarts Nürnberger Friedensmahl-Gemälde von 1649/50, in: Helmut Altrichter (Hg.), Bilder erzählen Geschichte, Freiburg im Breisgau 1995, S. 167-199; Johannes Burkhardt (Hg.), Das Friedensfest. Augsburg und die Entwicklung einer neuzeitlichen Toleranz-, Friedens- und Festkultur, Berlin 2000. 63 Anton Schindling, War ‚1648‘ eine katholische Niederlage? in: Carl/Kortüm/ Langewiesche/Lenger (wie Anm. 21), S. 257-277. 64 Klaus Schreiner, Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München 1996; ders., Maria. Leben, Legenden, Symbole, München 2003; Urs-Beat Frei/Fredy Bühler, Der Rosenkranz. Andacht, Geschichte, Kunst. Ausstellungskatalog, Museum Bruder Klaus Sachseln, Bern 2003. 65 Franz Brendle, Die Rolle Johann Philipps von Schönborn (1605–1673) bei der Umsetzung des Westfälischen Friedens, dem jüngsten Reichsabschied und der Einrichtung des Immerwährenden Reichstages. Ein Beitrag zur Reichspolitik des Mainzer Kurfürsten, in: Peter Claus Hartmann (Hg.), Die Mainzer Kurfürsten des Hauses Schönborn als Reichserzkanzler und Landesherren, Frankfurt am Main 2002, S. 65-82. 66 Schulze, Reich und Türkengefahr (wie Anm. 30); Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999; Ale-
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Im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und vorher schon in der Schweizer Eidgenossenschaft wurden Kriege, bei denen es um die Religion – besser: um die Konfession – ging, zu Landfriedensfällen umdefiniert und damit durch Verrechtlichung und Ausklammerung der theologischen Wahrheitsfrage juristisch kanalisiert und so gezähmt.67 Ein Krieg der rechtsgelehrten Federn ersetzte vielfach den blutigen Religionskrieg mit Waffen. Demgegenüber überlagerte im europäischen Mächtesystem seit dem Dreißigjährigen Krieg das säkulare Prinzip der Staatsräson alle Ansätze, die Konfession als Kriterium der Außenpolitik und der Kriege zur Geltung zu bringen.68 Die Staatsräson schwankte zwischen Mächtegleichgewicht und Hegemonie.69 Das mit dem Westfälischen Frieden neu definierte Völkerrecht orientierte sich an den säkularen Kriterien von Souveränität und Gleichberechtigung der Mächte.70 Zumindest im europäischen Binnenraum gab es nach dem Dreißigjährigen Krieg noch weniger erklärte Religionskriege als zuvor, auch wenn konfessionelle Fragen weiterhin eine wichtige Rolle in Allianzen und Kriegserfahrungen, vor allem aber auch in der Kriegspropaganda, spielten. Die Religion war für die Entscheidungsträger jedoch weder in den Kriegen Ludwigs XIV., noch in den dynastischen Erbfolgekriegen und den Hegemonialkriegen des 18. Jahrhunderts oder in den Kriegen der Französischen Revolution und Napoleons der dominante Faktor. Religiöse Wahrnehmungsformen und Sinndeutungsmuster spielten andererseits allerdings bis in das 20. Jahrhundert hinein in sich ändernden Konfigurationen eine größere Rolle, als dies früher in der Geschichtsschreibung angenommen worden ist. Dies zeigen die Forschungen im Tübinger Sonderforschungsbereich 437 „Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neu___________ xander Schmidt, Vaterlandsliebe und Religionskonflikt. Politische Diskurse im Alten Reich (1555–1648), Leiden 2007. 67 Eike Wolgast, Religionsfrieden als politisches Problem der frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 282 (2006), S. 59-96. 68 Winfried Schulze (Hg.), Friedliche Intentionen – kriegerische Effekte. War der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges unvermeidlich?, St. Katharinen 2002; Friedrich Beiderbeck/Gregor Horstkemper/Winfried Schulze (Hg.), Dimensionen der europäischen Außenpolitik zur Zeit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, Berlin 2003; Heinz Schilling, Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1559–1660. Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen, Bd. 2, Paderborn 2007; ders. (Hg.), Konfessioneller Fundamentalismus. Religion als politischer Faktor im europäischen Mächtesystem um 1600, München 2007. 69 Franz Bosbach, Monarchia universalis. Ein politischer Leitbegriff der frühen Neuzeit, Göttingen 1988; Christoph Kampmann, Arbiter und Friedensstifter. Die Auseinandersetzungen um den politischen Schiedsrichter im Europa der Frühen Neuzeit, Paderborn 2001. 70 Heinz Duchhardt (Hg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie, politische Zäsur, kulturelles Umfeld, Rezeptionsgeschichte (Historische Zeitschrift Beiheft 26), München 1998.
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zeit“.71 Die europäischen Kriege in der ‚Sattelzeit‘ um 1800 verdienen dabei ein besonderes Interesse, da die Religionspolitik der Französischen Revolution die Problematik des Religionskriegs in einen ganz anderen, ungewohnten Kontext gestellt hatte und der neue Volkskrieg gegen Frankreich ohne die in den breiten Volksschichten lebendige Mobilisierungskraft der traditionellen, eingewurzelten christlichen Religion nicht zu führen war.72 Das europäische Völkerrecht konstituierte sich mit dem Westfälischen Frieden von 1648 auf einer Konfessionen übergreifenden, weitgehend säkularen ___________ 71 Horst Carl, Okkupation und Regionalismus. Die preußischen Westprovinzen im Siebenjährigen Krieg, Mainz 1993; ders., „Der Anfang vom Ende“ – Kriegserfahrungen und Religion in Belgien während der Französischen Revolutionskriege, in: Beyrau (wie Anm. 21), S. 86-110; ders., Kriegserfahrungen und religiöse Loyalitäten im 18. und frühen 19. Jahrhundert in West- und Mitteleuropa, in: Igor Narski (Hg.), Krieg als Kulturerscheinung. Deutsch-russisches Symposion in Tscheljabinsk, Moskau 2001, S. 129-142 [in russischer Sprache]; ders., Revolution und Rechristianisierung. Soziale und religiöse Umbruchserfahrungen im Rheinland bis zum Konkordat von 1801, in: Walter G. Rödel/Regina Schwerdtfeger (Hg.), Zerfall und Wiederbeginn. Vom Erzbistum zum Bistum Mainz (1792/97–1830). Ein Vergleich, Würzburg 2002, S. 87-102; ders., „Strafe Gottes“ – Krise und Beharrung religiöser Deutungsmuster in der Niederlage gegen die Französische Revolution, in: Carl/Kortüm/Langewiesche/Lenger (wie Anm. 21), S. 279295; Antje Fuchs, „Man suchte den Krieg zu einem Religions-Kriege zu machen“. Beispiele von konfessioneller Propaganda und ihrer Wirkung im Kurfürstentum Hannover während des Siebenjährigen Krieges (1756–1763), in: Kaiser/Kroll (wie Anm. 9), S. 207-224; dies., Der Siebenjährige Krieg als virtueller Religionskrieg an Beispielen aus Preußen, Österreich, Kurhannover und Großbritannien, in: Brendle/Schindling, Religionskriege (wie Anm. 1), S. 313-343; Stephan Fuchs, „Vom Segen des Krieges“. Katholische Gebildete im Ersten Weltkrieg. Eine Studie zur Kriegsdeutung im akademischen Katholizismus, Stuttgart 2004; Christian Rak, Krieg, Nation und Konfession. Die Erfahrung des deutsch-französischen Krieges von 1870/71, Paderborn 2004; Monique Scheer, Rosenkranz und Kriegsvisionen. Marienerscheinungskulte im 20. Jahrhundert, Tübingen 2006; Adam Peráakowski, Von Württemberg in die polnisch-litauische Adelsrepublik. Der Reisebericht Johann Wendel Bardilis als Quelle für Kriegserfahrungen 1703 bis 1704. Herzog Maximilian Emanuel von Württemberg-Winnental an der Seite König Karls XII. von Schweden, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 66 (2007), S. 205-237. 72 Werner K. Blessing, Umbruchkrise und ‚Verstörung‘. Die ‚Napoleonische‘ Erschütterung und ihre sozialpsychologische Bedeutung. Bayern als Beispiel, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 42 (1979), S. 75-106; ders., „Der Geist der Zeit hat die Menschen sehr verdorben“. Bemerkungen zur Mentalität in Bayern um 1800, in: Eberhard Weis (Hg.), Reformen im rheinbündischen Deutschland, München 1984, S. 229-247; ders., Reform, Restauration, Rezession. Kirchenreligion und Volksreligiosität zwischen Aufklärung und Industrialisierung, in: Wolfgang Schieder (Hg.), Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 11), Göttingen 1986, S. 97-119; Andreas Gestrich, Kirchliche Kriegsmentalität um 1800, in: Jost Dülffer (Hg.), Kriegsbereitschaft und Friedensordnung in Deutschland 1800–1814 (Jahrbuch für Historische Friedensforschung 3), Münster 1995, S. 183-201; ders., Einführung, in: Andreas Gestrich (Hg.), Gewalt im Krieg. Ausübung, Erfahrung und Verweigerung von Gewalt in Kriegen des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Historische Friedensforschung 4 (1995), S. 3-13.
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Grundlage, die allerdings noch immer – einschließend und ausgrenzend – als „christlicher Frieden“, als „Pax Christiana“, charakterisiert wurde.73 Diese religiöse Rückbindung des Völkerrechts in einem irenischen und interkonfessionellen christlichen Sinne wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend von einem Staatsräsondenken aufgesogen, welches mit der Kategorie des europäischen Gleichgewichts, der Mächtebalance im „europäischen Konzert“, an die internationalen Probleme heranging.74 Religionskriege kamen jetzt vor allem noch in der Kriegspropaganda vor – allerdings nicht ohne Wirkung, wie das Beispiel Friedrichs des Großen von Preußen im Siebenjährigen Krieg zeigt, der sich als protestantischer Glaubenskrieger gegen Österreich, als neuer Gustav Adolf, porträtieren ließ. Eine solche „fritzische“ Propaganda – indem der agnostische Aufklärer und private Religionsverächter von Sanssouci zu diesem Mittel griff –, zeigt zugleich die Wirkmächtigkeit und die Grenzen des Wahrnehmungsmusters ‚Religionskrieg‘ am Ende des Ancien Régime.75 Zur Rechtfertigung von Kriegen sowie in den Wahrnehmungsweisen und Deutungsmustern der Menschen blieb die Religion über das Konfessionelle Zeitalter hinaus sehr wichtig. Religionskriege waren zwar seit dem Westfälischen Frieden und insbesondere seit der Aufklärung verpönt. Der Begriff ‚Religionskrieg‘ selbst erhielt eine negative Konnotation. Aber diese terminologische Ächtung schließt nicht aus, daß es weiterhin Kriege gab, für deren Verursachung, Ablauf, Wahrnehmung und sinnstiftende Deutung die Faktoren Religion und Konfession eine große Rolle spielten. Freilich setzte sich seit der ___________ 73 Kurt von Raumer, Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, Freiburg im Breisgau 1953; Fritz Dickmann, Friedensrecht und Friedenssicherung. Studien zum Friedensproblem in der Geschichte, Göttingen 1971. 74 Heinz Duchhardt, Gleichgewicht der Kräfte, Convenance, europäisches Konzert. Friedenskongresse und Friedensschlüsse vom Zeitalter Ludwigs XIV. bis zum Wiener Kongreß, Darmstadt 1976; ders., Balance of power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700–1785. Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen, Bd. 4, Paderborn 1997; Anton Schindling, Reichstag und europäischer Frieden. Leopold I., Ludwig XIV. und die Reichsverfassung nach dem Frieden von Nimwegen (1679), in: Zeitschrift für historische Forschung 8 (1981), S. 159-177. 75 Stephan Skalweit, Frankreich und Friedrich der Große. Der Aufstieg Preußens in der öffentlichen Meinung des „ancien régime“, Bonn 1952; Manfred Schlenke, England und das friderizianische Preußen 1740–1763. Ein Beitrag zum Verhältnis von Politik und öffentlicher Meinung im England des 18. Jahrhunderts, Freiburg im Breisgau 1963; Burkhardt, Abschied vom Religionskrieg (wie Anm. 23); Peter Baumgart, Friedrich der Große als europäische Gestalt, in: Johannes Kunisch (Hg.), Analecta Fridericiana (Zeitschrift für historische Forschung Beiheft 4), Berlin 1987, S. 9-31; Anton Schindling, Friedrichs des Großen Toleranz und seine katholischen Untertanen, in: Peter Baumgart (Hg.), Kontinuität und Wandel. Schlesien zwischen Österreich und Preußen, Sigmaringen 1990, S. 257-272; Gabriele Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus. Ein Beitrag zur Geschichte des Reichsverbands in der Mitte des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1992; Johannes Kunisch, Friedrich der Große. Der König und seine Zeit, 2. Auflage München 2004.
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Französischen Revolution und der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in Europa die Nation als ein quasi-religiöser ‚Letztwert‘ für die Legitimierung von Kriegen im Bewußtsein der Menschen durch.76 Die Nationen sogen ältere konfessionelle Traditionen in sich auf und benutzten sie für ihre Selbstwahrnehmung und äußere wie innere Abgrenzung. Eine Sakralisierung und Mythisierung des Nationalen wurde jetzt zu einem Leitprinzip Europas im 19. und 20. Jahrhundert.77
___________ 76
Dieter Langewiesche, Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zwischen Partizipation und Aggression, Bonn 1994; ders., Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000; Jakob Vogel, Nationen im Gleichschritt. Der Kult der „Nation in Waffen“ in Deutschland und Frankreich, 1871–1914, Göttingen 1997; Hans-Martin Blitz, Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert, Hamburg 2000; Frank Becker, Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864–1913, München 2001. 77 Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hg.), Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt am Main 2001; dies. (Hg.), Nation und Religion in Europa. Mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2004; Nikolaus Buschmann/Dieter Langewiesche (Hg.), Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und der USA, Frankfurt am Main 2004; Planert, Mythos vom Befreiungskrieg (wie Anm. 27).
David Roentgen – Englischer Cabinetmacher Luxus, Leistung, und die Liebe zu Gott
Von Michael Stürmer, Berlin Goethe hat seine Möbel in Briefen und Schriften gerühmt: „Geräumig, köstlich und geschmackvoll“. 1779 sandte er ein Roentgen-inspiriertes Schreibmöbel an Frau von Stein auf Schloß Kochberg, das er selbst entworfen hatte, mit den Worten: „Meine Puppe, mein Spielzeug“. Die Fürsten seiner Zeit, von Versailles bis St. Petersburg, wetteiferten um Roentgens Erzeugnisse, wie heute Museen und Sammler. Bei den Preisen war, damals wie heute, der Himmel die Grenze. Und doch, was aussieht wie Kommoden, Schreibtische, Uhren, Schatullen – es waren nicht Möbel im landläufigen Sinne, Nutzobjekt und ein Stück Bequemlichkeit. Es ging letztlich um Rettung der Seele und Erwählung durch Gott. Möbel und mehr: höfisches Dekorum, technische Perfektion, vor allem aber Ausdruck immerwährender Suche nach „Gottes Seegen“, wie die Roentgens, fromme Leute, am Ende des Jahres den Gewinn verbuchten – wenn es denn einen gab.1 Diese Möbel nahmen mit großer Sensibilität die Geistesströmungen der Epoche auf: zwei Jahrzehnte lang die fließenden Formen eines englisch und französisch inspirierten Rokoko, dann die Eleganz des Übergangs, und endlich ___________ 1 Ausgangspunkt für die weitere Forschung: Hans Huth, Abraham und David Roentgen und ihre Neuwieder Möbelwerkstatt, 2. Auflage München 1974. Fortführung durch: Josef Maria Greber, David Roentgen, der Königliche Kabinettmacher aus Neuwied. Leben und Werk 1742-1807, Neuwied 1948; vgl. ferner Josef Maria Greber, Abraham und David Roentgen: Möbel für Europa, Starnberg 1980. Den größeren Kontext beschreiben: Heinrich Kreisel/Georg Himmelheber, Die Kunst des deutschen Möbels, Bd. 3, 2. Auflage München 1983. Die Sonderstellung der Hofhandwerker beleuchtet Michael Stürmer, Handwerk und höfische Kultur. Europäische Möbelkunst im 18. Jahrhundert, München 1982. Wertvolle Quellen- und Materialstudien bei Dietrich Fabian, Roentgenmöbel aus Neuwied. Leben und Werk von Abraham und David Roentgen, Bad Neustadt 1986. Zur Technik: Thomas Brachert, Beiträge zur Konstruktion und Restaurierung alter Möbel, 2. Auflage München 1988. Zu den englischen Einflüssen: Wolfram Koeppe, Kästchen aus der Werkstatt von Abraham Roentgen in amerikanischen Sammlungen, in: Carolin Bahr (Hg.), Zwischen Askese und Sinnlichkeit. Festschrift für Norbert Werner zum 60. Geburtstag, Dettelbach 1997, S. 98-111.
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einen vollendeten Klassizismus, mit Wirkungen auf die Stil- und Möbelentwicklung weit über Deutschland hinaus und bis tief ins 19. Jahrhundert. Das alles war nicht nur getrieben von den Luxusgewerben in Paris und London und dem Geschmack der Schönen und Reichen, sondern war auch Teil des großen Umschwungs vom fürstlichen Absolutismus der ersten Jahrhunderthälfte zu Natur, Logik und Vernunftstreben der zweiten. Die Ausgrabungen von Pompeji und Herculaneum setzten Umbrüche aller Art in Gang, von der Revolution des Kunstgeschmacks bis zum Umbruch der Staaten. Solche Prozesse spielten sich unbewußt ab, die Handelnden sind mehr Medium des Zeitgeistes als Theoretiker, wie Winckelmann, der auf die Antike schaute und „edle Simplicität“ predigte. Solchermaßen hatte in dem großen Abschied vom Mittelalter auch die Kunst ihre Rolle zu spielen und, ohne alle künstliche Trennungen, auch das Kunsthandwerk aller Art: Silber, Porzellan, Broncen, Möbel. In der höfischen Idee des Gesamtkunstwerks hatten die Möbel der Neuwieder Manufaktur ihren vornehmsten Platz. Beim Schloßbau des 18. Jahrhunderts ging die eine Hälfte des Geldes in Stuck und Steine, die andere in die Ausstattung, nicht zuletzt kostbare Mobilien. So kann man die Roentgenschen Möbel erklären: ökonomisch, technisch, künstlerisch. Aber das reicht nicht aus. Denn am meisten waren sie religiös bedingte Objekte, Ausdruck eines immerwährenden Seelenkonflikts zwischen den Gesetzen des Marktes und der Rettung der Seele gegen Welt und Mammon. Denn die Roentgens waren Herrnhuter, Protestanten puritanischer Observanz: Sie lebten in einer Ökonomie des gerechten Preises. Ihr Seelenheil war ihnen wichtiger als ein fragwürdiger Vorteil. Unter dem Schutz eines aufgeklärten Fürsten agierten sie außerhalb und oberhalb der alten, protektionistischen Handwerkszünfte. In einem überstaatlichen, vor-nationalen, alle Grenzen überspringenden europäischen Markt für „Fürstengut“ – Diplomatengepäck – hatten sie sich zu behaupten. Dieser Markt, aber auch die Gefahren des Transports und die Kosten der Versicherung gegen Räuber und Achsbruch brachten es mit sich, daß allein kapital- und arbeitsintensive Güter höchster Qualität den Test der Wirklichkeit bestanden. Die Herrnhuter, speziell die Roentgens, gehörten zwei Welten an, der des höfischen Luxus, dem sie dienten, und der der modernen, arbeitsteiligen Manufaktur, in der sie arbeiteten. Sie wußten, daß Jesus, das „Lämmlein“, in ihren Werkstätten spirituell anwesend war als eine strenge oberste Gewerbeaufsicht, ihnen bei der Buchführung auf die Finger schaute und von ihnen verlangte, ihre Arbeiter und Gesellen wie Brüder zu behandeln. Daraus folgte, daß jede Schluderei Höllenstrafen nach sich zog, daß der gerechte Preis nicht verhandelbar war, aber auch, daß der Prinzipal – um den romantischen Namen des Meisters zu meiden – sich verlassen konnte auf jeden einzelnen seiner Mitarbeiter, zuzeiten bis zu 300. Woher man das alles weiß? In Herrnhut im Archiv der Brüdergemeine liegen zahllose Berichte vom Wohl und Wehe der einzelnen Ge-
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meinden in Deutschland, den Niederlanden, und in Amerika. Darin kamen die Roentgens häufiger vor, als ihnen lieb war. David Roentgen ist viel gereist, von Hofhaltung zu Hofhaltung, er mußte verhandeln, antechambrieren, hier und da Hofbeamten eine verschwiegene kleine Verehrung zustecken, Transporte überwachen. Da blieb für die heimische „Fabrique“, wie die Roentgen-Manufaktur schon von Zeitgenossen genannt wurde, nicht viel Zeit übrig. Man darf sich nicht vorstellen, daß der Prinzipal selbst den Hobel geschwungen oder sich ums Polieren gekümmert hat. „Eigenhändig“ ist ohnehin mehr ein Begriff der akademischen Kunsthistorie als der ökonomischen Wirklichkeit. Solche Handwerksromantik war einer kleinen städtischen Zunftwerkstatt angemessen – ein Meister, zwei Gesellen und ein Lehrbub –, galt aber nicht für Hofhandwerker und Manufakturen, die europaweit operierten. Roentgens Umsatz über die Jahre war nicht geringer als der der Meißener Porzellanmacher. Der Vater Abraham Roentgen war noch halbwegs von der biederen Art. Aber auch er schaute schon ins Große und Weite, nutzte Arbeitsteilung, Serienbau, Modultechnik und Produktion auf Vorrat. Solches hatte er in London in den 1730er Jahren gelernt. Auf der Frankfurter Messe verkaufte er, um ein Beispiel zu nennen, Goethes Vater ein Dutzend Sessel – Gott weiß, was aus denen geworden ist, seitdem der Sohn Goethe am Ende alles auf die Auktion geschickt hat. Aber Abraham Roentgen schaute auch hilflos zu, als der Siebenjährige Krieg eine schwarze Schleppe der Depression durch das Land zog, den Absatz annullierte und das Unternehmen in eine lebensbedrohliche Absatzkrise trieb. Das Lager quoll über von unverkäuflichen Möbeln im Wert von mehr als 7000 Golddukaten. Schlimmer als das: Die Gemeindeoberen schauten bald voller Mißtrauen auf die Roentgens, die sich zu sehr mit der Welt eingelassen und damit – es konnte nicht anders sein – den Zorn Gottes auf sich und vielleicht die ganze Gemeine gezogen hatten. In den fetten Jahren hatten sie den „Seegen Gottes“ gern verbucht. Was aber, wenn die mageren Jahre kamen, rote Zahlen, und Segen sich in Fluch verwandelte? Hätte nicht der Fürst zu Wied in der Residenzstadt Neuwied seine Hand über die Roentgens gehalten – deren cashflow-Problem er besser verstand als die frommen Beter –, so hätten sie die Roentgens, Familie und Manufaktur, aus der Gemeinschaft gestoßen – was einer spirituellen und sozialen Katastrophe nahekam. Stattdessen zeigten sie ihren Unwillen, indem sie den ältesten Sohn, den erfindungsreichen David, vom Abendmahl ausschlossen. Das war für ihn, seine Frau und seine Kinder eine Prüfung, wie sie ernster nicht sein konnte. Seitdem setzte er alles daran, den Frommen der Gemeine zu beweisen, daß, wenn sie ihn schon verworfen hatten, Gott doch gnädig auf seine Werke schaute. Er rang mit dem Engel – dabei entstanden die besten Möbel, die es je in Deutschland gab.
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In der Tat, David Roentgen hatte Ärgernis gegeben. Er tat das, was Hofhandwerker und Luxusmanufakturen immer taten, wenn der Absatz zusammenbrach: Er organisierte eine Lotterie unter dem Patronat des Senats der Freien Reichsstadt Hamburg. Er setzte dafür Preise aus, alles Möbel, im Gesamtwert von 7140 Dukaten. Dementsprechend wurden Lose je zum Preis von drei Dukaten verkauft, per Prospekt, der auf der Frankfurter Messe verteilt und an alle Hofhaltungen geschickt wurde. Der Prospekt war ein vollmundiger Katalog alles dessen, was die Manufaktur zu bieten hatte, das meiste allerdings in einem Rokoko-Geschmack, der anno 1768 schon ein wenig passé war unter gebildeten Leuten. Gleichwohl wurde die Auktion ein Erfolg, die Manufaktur war gerettet. David Roentgen wurde zum großen Unternehmer. Produktinnovation, Prozeßinnovation, Marktinnovation: Er wußte, daß es keinen anderen Weg gab, wollte er seine Seele retten vor der Verdammnis. Die Lotterie hatte die Manufaktur über Frankfurt und den Mittelrhein hinaus bekannt gemacht. Aus Wörlitz, wo der Fürst die erste große palladianische Villa in den ersten großen englischen Park in deutschen Landen setzte, kamen Bestellungen und Zeichnungen im englischen Stil, die der Manufaktur die Ästhetik des Klassizismus beibrachten. Aus Paris schickte der Maler Wille Kupferstiche und Dessins der klassischen Formensprache. Die Muschelwelt des Rokoko war vorbei. Serienfertigung, bisher schon geübt, wurde perfektioniert. Eine in Deutschland bis dato unbekannte Marketerietechnik in Mosaik wurde aus London übernommen: nur noch drei Farben. Die broncenen Zierate wurden ebenso wie die Marketeriebilder von beachtlichen Künstlern der Epoche gestaltet. Der Prinzipal erlauschte die Wünsche der Machteliten. Noch immer besuchte er Messen, um zu verkaufen oder auch um Beschläge per mail order aus Birmingham zu bestellen. Vor allem aber verließ er sich auf fürstliche Kunden und die Hofgesellschaft. Nicht nur, weil dann alle Zollschranken fielen, sondern auch, weil nur an der vergoldeten Spitze der gesellschaftlichen Pyramide Geld, Geltungsdrang und Geschmack jene Konstellation ergaben, die den Luxus blühen ließ – solange es gut ging. Die Wirtschaftskrise der 1760er Jahre, die Auktion und die Exkommunizierung waren Ende und Anfang: Ende des Rokoko, Ende des handwerklichen Modus operandi, Ende der rheinisch-fränkischen Begrenzungen. Aber auch Anfang: edle Simplicität, Aufklärung als Weltgefühl und Stildiktat, zurück zu Natur und Vernunft. Mit David Roentgen kam einer, der sich in die großen Geistesströmungen des Klassizismus warf und sie für die höfische Kultur Europas in Möbel übersetzte. Den revolutionären, hochpolitischen Charakter des Geschmackswandels hat er schwerlich intellektuell analysiert. Wohl aber begriff er die ästhetische Botschaft und setzte sich in Design und Ausführung an die Tête. Den Höfen, statt ihre Wünsche entgegenzunehmen, bot er etwas Neues, Einmaliges, nie Dagewesenes.
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Alles hatte mit Depression, Krise und Lotterie begonnen. Die Flucht nach vorn hatte Roentgen im Alten Reich bekannt gemacht. Die Aufträge aus Wörlitz wurden Schlüssel zur englisch geprägten Moderne, denn Wörlitz wurde bald als Experimentierwerkstatt der Aufklärung bekannt. Seitdem kamen die Bestellungen von den Höfen in München, Berlin, Kassel, von überall her, ob weltliche oder geistliche Herren und Damen. Am wichtigsten waren die Käufe des Statthalters in den österreichischen Niederlanden mit der Hauptstadt Brüssel: Riesige Wandteppiche aus Marketerie, dazu Schreibsekretäre und Uhren in feinster Einlegearbeit gingen an Herzog Carl von Lothringen, Schwager der Kaiserin Maria Theresia, Onkel der Königin Marie Antoinette von Frankreich. Das wiederum öffnete die Straße zuerst an den Hof zu Versailles – Roentgen gewann den Titel eines Mecanicien du Roi et de la Reine –, dann in der Gilde der Menusiers-Ebenistes von Paris, wo Roentgen einen Laden in der rue de Grenelle auf der Rive gauche eröffnete. Damit aber gewann er die Aufmerksamkeit des Baron Grimm, damals der arbiter elegantiarum und Korrespondent der europäischen Höfe. Es folgten gewaltige Bestellungen aus St. Petersburg, hunderte von Möbeln, alle Mahagoni und Gold, für den Hof der Großen Katharina bestimmt wie für die Hofgesellschaft – manches davon gaben die Sowjets in den 1920er Jahren in Berliner Auktionen und von dort in den internationalen Kunstmarkt. Seit Mitte der 1780er Jahre indes ging es bergab. Der Weltuntergang kündigte sich an, den Käufern wurde angst und bange. Roentgen schloß die Niederlassung in Paris. Die Zarin warb einige der Neuwieder Handwerker ab. Die deutschen Höfe machten Einsparungen. 1792 lagerten auf dem linken Rheinufer die Franzosen. Die „Fabrique“ mußte geschlossen werden, das Magazin wurde nach Kaltenkirchen und dann nach Kassel verlagert. Der Prinzipal, zurück aus der großen Welt, und mit der Gemeine versöhnt, begab sich auf Reisen, um zu verhandeln und zumeist gegen langen Kredit zu verkaufen, was noch da war. Ein großes Kapitel europäischer Kunstgeschichte ging zu Ende. David Roentgen war eine Legende schon in seiner Zeit. Die Manufaktur erreichte einen Umsatz, der, wie gesagt, nicht geringer war als der der Meißener Porzellan-Manufaktur, und sie unterlag den gleichen geistigen und wirtschaftlichen Konjunkturen. An die 2000 Möbel, groß und klein, von puritanischer Schlichtheit bis zum Prunk der Zarenschlösser, kamen aus der Manufaktur. Etwa 600 sind bekannt, in Sammlungen und Museen oder noch immer, trotz aller Katastrophen, in situ, so in St. Petersburg, München, Berlin, Kassel und Herrnhut. Wie viele verloren sind, wie Goethes zwölf bequeme Sessel, kann man nicht einmal schätzen. Was nun ist es, was die Möbel Roentgens auszeichnet? Die einfachste Antwort verweist auf technische Perfektion, ästhetische Führungsrolle, raffinierte Mechanik. Die kompliziertere bezieht Arbeitsteilung und Ökonomie der Manu-
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faktur ein, die Leistung des Ferntransports und der Versicherung, die Kapricen der höfischen Welt. Die schwierigste Antwort liegt in der Religion. Die herrnhutische Wirtschaftsethik erlaubt nichts als die absolute Perfektion. Roentgen hat alles dies geleistet und noch mehr. Um seiner Seele willen mußte er beweisen, daß Gott das Verdikt seiner Glaubensbrüder nicht teilte und sein Tun am Ende segnen würde: „Gottes Seegen“ war sichtbar in den Bilanzen und wirksam in den Seelen. Dies sind Möbel, gewiß, und zumeist von durchaus gebrauchsfähiger Art, wiewohl selten gebraucht. Aber sie sind auch Zeugnis einer Wirtschaftsform außerhalb der Zunft und gegen sie. Sie erzählen vom Wagnis des Fernhandels, vom Anspruch der Höfe, vom ungeheuren Abstand zwischen dem Aufwand der Hofgesellschaft und dem täglich’ Brot der kleinen Leute. Sie berichten vom Geist der Zeit, vom Kampf um ästhetische Vollendung und wirtschaftlichtechnische Optimierung. Vor allem aber berichten sie von einem Mann der Widersprüche: handlungskräftig und melancholisch, pietistischer Frömmigkeit hingegeben und zugleich kaufmännischer Diplomat an den Höfen Europas, durchsetzungsstarker Unternehmer und zugleich ein Getriebener, der keine Ruhe findet. Ein Mann von Welt, dem doch Gewinn und irdischer Erfolg am Ende nichts waren als das Versprechen der Versöhnung und des Seelenheils.
„Mit dem Latein am Ende sein“ Die kulturhistorischen und philologischen Grundlagen einer sprichwörtlichen Redensart
Von Alfred Wendehorst, Erlangen Die sprichwörtliche Redensart „Mit dem Latein am Ende sein“, die je nach Situation und Tonmelodie meist resignierend, seltener verächtlich klingen kann, bezeichnet kein Bildungsdefizit in dem Sinne, daß Wortschatz und Grammatik der lateinischen Sprache noch nicht oder nicht mehr beherrscht würden. Die immer noch umfassendste Enzyklopädie deutscher Sprichwörter bietet dafür eine Anzahl älterer Belege, von denen einige die Deutung nahelegen: Mit dem Latein am Ende sein, habe den Sinn von Nicht-mehr-weiter-wissen.1 Das ist zweifellos richtig; doch gelangt man zum Kern des Problems, indem man weiterfragt nach der Ursache, warum jemand in einer bestimmten Situation sachlich und sprachlich nicht mehr weiterweiß. Es war Ernst Schubert, der einmal eher beiläufig darauf hinwies, daß neben Familiennamen und Flüchen Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten die wichtigste Quellengrundlage für eine Untersuchung dessen bilden, was auf einen Konsens einer längst vergangenen Gesellschaft zurückweist. Die auf prägnante Kürze bedachte Gestalt, die ältere Kommunikationselemente aufnehme, beginne sich im Mittelalter auszuformen. „Sprichworte sind als Produkte zwischenmenschlichen Erfahrungsaustausches Geschichtsquellen: Sie kennzeichnen einen Konsens der Zeitgenossen, der vor allem die Begegnungsformen von Menschen, die durch andere Quellen kaum erhellt werden können, abbildet“.2
___________ 1 Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hg.), Deutsches Sprichwörter-Lexikon 2, Leipzig 1870, Sp. 1803 f. 2 Alltag im Mittelalter – Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander, Darmstadt 2002, S. 150 f.
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Viele Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten haben ihren Ursprung im Mittelalter, z. B. „Man soll die Kirche im Dorf lassen“3, „Er hat Pech gehabt“4 oder „Ich drücke dir die Daumen“. Für letztere steht bis jetzt, da sie nicht in einen bestimmten sozialen Kontext eingeordnet werden kann, eine überzeugende Erklärung noch aus5; beim Daumendrücken ist das sprachlich-kulturelle Wissen, das ein Verständnis des Wunsches voraussetzt, völlig weggebrochen. Es wird heute einfach als „Glück wünschen“ verstanden. Zum kleineren Teil ist die Entstehung oder jedenfalls die Konkretisierung sprichwörtlicher Redensarten in der Frühen Neuzeit zu suchen, so z. B. „Das kommt mir spanisch vor“.6 Eher frühneuzeitlichen als spätmittelalterlichen Ursprungs ist auch die sprichwörtliche Redensart: „Das sind böhmische Dörfer“.7 Der Gang der Geschichte, der sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in ___________ 3 Alfred Wendehorst, Was bedeutet das Sprichwort „Man soll die Kirche im Dorf lassen“?, in: Ein Eifler für Rheinland-Pfalz. Festschrift für Franz-Josef Heyen zum 75. Geburtstag 2 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 105/2), Mainz 2003, S. 907-914. – Neudruck: Alfred Wendehorst, Siedlungsgeschichte und Pfarreiorganisation im mittelalterlichen Franken. Ausgewählte Untersuchungen (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte IX, 54), Würzburg 2007, S. 1120. 4 Die Angreifer einer Stadt oder einer Burg wurden von den äußeren Befestigungen aus mit heißem Pech begossen. 5 Die Ableitung aus den antiken Gladiatorenkämpfen, wie sie zuerst H. Schrader, Einen Daumen drücken, in: Zeitschrift für deutsche Sprache 8 (1895), S. 223-225, annahm, kann nicht überzeugen. Die sprichwörtliche Redensart beschreibt klar einen Gebetsgestus: Der Gutes Wünschende faltet die Hände und drückt dabei mit dem linken Daumen auf den rechten. Ich werde in anderem Zusammenhang auf diese Interpretation zurückkommen und sie näher erläutern. 6 Klaus Herbers, „Das kommt mir spanisch vor“– Zum Spanienbild von Reisenden aus Nürnberg und dem Reich an der Schwelle zur Neuzeit, in: Klaus Herbers/Nikolas Jaspert (Hg.), „Das kommt mir spanisch vor“ – Eigenes und Fremdes in den deutschspanischen Beziehungen des späten Mittelalters (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 1), Münster 2004, S. 1-30: Die sprichwörtliche Redensart geht wohl auf eine ältere in ganz Europa gebräuchliche – Spain is different – zurück; dahinter steht die Wahrnehmung des Fremden, der Spanien besuchte. – Wander (wie Anm. 1) 2, 1876, Sp. 652. – Christoph Gutknecht, Lauter böhmische Dörfer – Wie die Wörter zu ihrer Bedeutung kamen, München 1995, S. 67 f. erklärt die auch heute noch gebräuchliche Redensart „Das kommt mir spanisch vor“ mit dem Protest der deutschen protestantischen Gesellschaft gegen spanische Elemente, man könnte präzisieren: gegen das spanische Hofzeremoniell, die Gegenreformation und die Jesuiten als ihre ersten Repräsentanten; dahinter stehen später eingeflossene Erfahrungen derer, die im Reich Bekanntschaft mit Spaniern gemacht hatten. 7 Lutz Röhrich, Das große Lexikon sprichwörtlicher Redensarten 1, Freiburg u. a. 1991, S. 326 erklärt die Redensart unter Hinweis auf Grimmelshausens Simplicissimus (1, S. 25), der die Redensart nicht als erster verwandte, dessen erfolgreiches Buch (1669) aber zu ihrer Verbreitung beitrug: Deutsche, die der tschechischen Sprache nicht mächtig waren, empfanden Ortsnamen in Böhmen als fremdartig und die Aussprache bereitete ihnen Probleme.
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progressiver Beschleunigung befindet, bewirkte, daß der ursprüngliche Sinn einiger sprichwörtlicher Redensarten so verflacht oder gelegentlich auch verändert worden ist, daß das anfänglich Gemeinte nicht mehr ohne gelehrte Hilfe wiedererkannt werden kann. Wenn man es positiv ausdrücken will, könnte man mit Manfred Eikelmann sagen, daß die Semantik des Sprichworts „nicht in jedem Einzelfall mit der modernen Bedeutung gleichzusetzen ist“.8 Sprichworte und sprichwörtliche Redensarten sind dynamische und lebendige, aber auch dem Wandel unterworfene und vom Verschwinden bedrohte Phänomene. Mit dem politischen Zerfall des Imperium Romanum hat das Lateinische das Feld nicht geräumt, es überdauerte hauptsächlich deshalb, weil eine geistige Macht sich seiner weiterhin vorzüglich bediente: die römische Kirche. Sie konnte im Verein mit der Respublica eruditorum in den Schulen, Universitäten und Akademien einen lange weiterwirkenden, zwar allmählich schrumpfenden, doch grundsätzlich universellen Geltungsbereich behaupten. Doch veränderten die Jahrhunderte außerhalb dieser Bereiche die politische, wirtschaftliche, technische Umwelt, überhaupt die Lebensumstände des Menschen, auch Formen des Rechtes und der Verwaltung in einer Weise, daß sie mit dem antiken lateinischen Vokabular, das aber niemandes Muttersprache mehr war, sondern eine in der Schule gelernte Literatursprache, nicht mehr hinreichend genau abgedeckt werden konnte.9 Von den meisten Appellativen abgesehen, hatte im Deutschen und in anderen Nationalsprachen nicht mehr jeder Gegenstand, jeder Rechtsvorgang, jede technische Neuerung eine Entsprechung im Lateinischen. Sachen und Begriffe waren nicht mehr kongruent, die mittelalterliche, insbesondere die spätmittelalterliche Gesellschaft konnte den aus der Antike überkommenen lateinischen Wortschatz nicht mehr als ausreichend empfinden. Man verwendete ihn zwar noch nördlich der Alpen und östlich des Rheins weiter, hatte jedoch vorwiegend, allerdings nicht nur bei Rechtsgeschäften, das Bedürfnis, bestimmte Begriffe zu präzisieren. Gerade im Bereich der Rechtssprache zeigte sich, daß das Ergebnis der Übersetzung kein Duplikat war.10 Wenn man mit dem klassischen Latein, wie man es in der Dom- oder in der Klosterschule gelernt hatte, Begriff und Sache nicht mehr einigermaßen zur Deckung bringen konnte, auf jeden Fall als mehrdeutig oder unscharf empfand, dann wich man bei der sprachlichen Bewältigungsstrategie des Problems – sel___________ 8 Manfred Eikelmann, Zur historischen Pragmatik des Sprichworts im Mittelalter, in: Dietrich Hartmann/Jan Wirrer (Hg.), Wer A sägt, muss auch B sägen. Beiträge zur Phraseologie und Sprichwortforschung aus dem Westfälischen Arbeitskreis (Phraseologie und Parömiologie 9), Hohengehren 2002, S. 95-105, hier S. 96. 9 Walther Bulst, Über die mittlere Latinität des Abendlandes, Heidelberg 1946. 10 Zum weiteren Zusammenhang s. José Ortega y Gasset, Miseria y esplendor de la traduccion – Elend und Glanz der Übersetzung, Ebenhausen b. München 1956.
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ten im 12. Jahrhundert zunächst mit einfachem „id est“, seit der Mitte des 13. Jahrhunderts, gegen dessen Ende die sogenannten Privaturkunden an Zahl stark zunahmen, die Fälle von fehlenden Äquivalenten sich häuften, mit einem „vulgariter dicitur“ oder „nuncupatur“ – aus in ein leichter verfügbares Wort der Volkssprache, in welcher die Sache oder der Sachverhalt präzisiert und eine entsprechende Bezeichnung im Gedächtnis des Lesers oder Hörers als abrufbar unterstellt werden konnte.11 Wir wenden uns nun mit einzelnen Beispielen möglichst verschiedenen Sprachfeldern zu: von der Geographie über das Essen zur umfangreichsten Gruppe, nämlich Recht und Verwaltung, und schließlich zum Bereich der Technik. 1. Mit Diplom vom 19. Juni 1249 schenkte König Wilhelm von Holland dem Benediktinerinnenkloster Hemelpoort in Werendijke im Bistum Utrecht die „promontoria, que dune vulgariter appellantur“, gelegen zwischen Vronelantweche und Clinghenweghe.12 Die naheliegende deutsche Übersetzung des klassischen promontorium/promunturium würde lauten: Vorgebirge, Ausläufer eines Gebirges, auch Bergvorsprung13. Keine dieser Bedeutungen aber kann gemeint sein, da die vormalige Insel Walcheren (Prov. Zeeland), auf der das Kloster lag, platt wie ein Brett ist. Dem Diktator oder Schreiber des königlichen Diploms gelang eine Präzisierung nur mit dem volkssprachlichen Begriff „Düne“. 2. Im Mittelalter nahm man in Deutschland andere Nahrungsmittel zu sich als im Mittelmeerraum in der Zeit der Antike; die Zubereitung war schichtenspezifisch komplizierter, wenn man so will raffinierter.14 Mittelalterliche Speisekarten gehören zu den Seltenheiten der Überlieferung. Anlaß für die in unseren Zusammenhang gehörende Aufzeichnung einer Menüabfolge war für einen wohl in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts tätigen Schreiber des Bamberger Domkapitels die Notwendigkeit, Servitienlieferungen an das Domkapitel aus den Villikationen bis zu ihrer Verwendung auf dem gemeinsamen Tisch zu be___________ 11 Die wenigen Originalurkunden aus dem deutschsprachigen Raum, die in zweisprachiger Fassung überliefert sind, auf welche Hans Hattenhauer hinwies (Zum Übersetzungsproblem im hohen Mittelalter, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 81, 1964, S. 341-358), bleiben in unserem Zusammenhang außer Betracht. 12 Monumenta Germania Historica. Die Urkunden der Deutschen Könige und Kaiser (künftig: MGH), DD (Diplomata) W Nr. 91. 13 Da der Thesaurus Linguae Latinae erst bis zum Buchstaben P gediehen ist, bleibt man für den Rest des Alphabetes vorerst auf ältere Behelfe angewiesen. 14 Jaques André, L’alimentation et la cuisine à Rome (Études et commentaires 39), 2. Auf. Paris 1981.
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schreiben. Wir greifen aus dem Text die sonntägliche Menü-folge heraus, wie sie im Winter den Domherren verabreicht wurde.15 Die Mahlzeit, die nicht weniger als acht Gänge umfaßte, begann mit „carnes sicce id est tischgerihte“. Hier war die lateinische Bezeichnung (Trockenfleisch) für die Gemeinschaft der Essenden gewiß genau so eindeutig wie der uns heute unkonkret erscheinende Begriff Tischgericht, eine offenbar ortsübliche Bezeichnung. Der zweite Gang, „sorbicium cum pullis“ (Hühnersuppe), war so klar, daß er keiner Übersetzung bedurfte. Den dritte Gang bildete ein Zwischengericht („intercalare“), das als „bovinum“ (Rindfleisch) „id est unterrihte“ zu präzisieren versucht wurde; wobei die Benennung „unterrihte“, wie dies bei Speisen auch heute häufig der Fall ist, offenbar eine lokal gebundene Bezeichnung war. Viertens wurde „holus cum carnibus id est havenescen“ serviert, also Kohl mit Fleischstükken zusammengekocht, genannt Hafenessen, wofür man heute das nicht vor dem 20. Jahrhundert belegte Wort „Eintopfessen“ verwenden würde. Es folgte als fünfter Gang „cum sinapi intestina id est darme et blezzen“, also Innereien mit Senf, eine regional gebräuchliche Bezeichnung folgt als Erklärung. Der sechste Gang bestand aus einer „magna artocrea et carnes incise id est merschale et pastilli, qui vocantur reinvane“, also aus einer großen Pastete mit Hackfleisch sowie Küchlein, wobei jeweils die in Bamberg gebräuchliche deutsche Bezeichnung hinzugefügt wurde. Die Ankündigung „Septimo dantur assature“ (Braten) bedurfte keiner weiteren Erklärung. Am Ende der Mahlzeit wurden gereicht „stomachi farciti cum pipere et carnibus minutatim incisis et wizmuse et artocree cum farcimentis id est smelntrehe“, also gefüllte Mägen mit Pfeffer und kleingeschnittenem Fleisch, Weißkraut und Pasteten, Speisen also, deren lateinische Namen wiederum durch regional übliche deutsche Bezeichnungen determiniert wurden. Die Bamberger Wirtschaftsordnungen geben zum Thema Bezeichnungen von Speisen noch eine Fülle weiteren Materials, das hier nicht ausgebreitet werden kann. Doch wollen wir diesen Abschnitt nicht abschließen, ohne darauf hinzuweisen, daß ein so enormer Fleischverzehr, wie er in unserem Text zum Ausdruck kommt, im Mittelalter alles andere als normal war; er galt als Signal sozialer Unterschiede.16 3. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß das lateinische Wort „civis“ und sein Umfeld (civitas, ius civile usw.) bis weit über das frühe Mittelalter hinaus in keiner Weise auf bürgerliche und städtische Verhältnisse schließen läßt. Die la___________ 15
Erich Frhr. von Guttenberg (Bearb.), Urbare und Wirtschaftsordnungen des Domstifts zu Bamberg 1 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte X, 7, 1), Würzburg 1969, S. 112-114. 16 Ernst Schubert, Fress- und Sauffgrewel? Was man im Mittelalter aß und trank, Darmstadt 2005, S. 25.
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teinischen Wörter gerade aus dem Bereich des Rechtes und der Verwaltung sind von denkbaren deutschen Äquivalenzen so weit entfernt, daß es einer Brükke bedurfte, um zur Sache zu gelangen.17 Es sei nur an die im späten Mittelalter häufig verwendeten lateinischen Amtsbezeichnungen für Bürgermeister, Stadtrat und städtische Amtsträger erinnert, die Gerhard Pfeiffer für die Korrespondenz der Reichsstadt Nürnberg untersucht hat.18 Wir beginnen mit zwei Beispielen aus dem Hochstift Eichstätt, und zwar aus dem Bereich des kanonischen Rechtes. Am 1. Mai 1353 bestätigen der Eichstätter Bischof Berthold von Zollern (1351-1365) und sein Generalvikar („in spiritualibus et temporalibus gubernator generalis“) Albrecht von Hohenfels dem Alten Stift in Spalt das „officium wlgariter camerampt dictum“.19 Der weite, viele Arten von Ämtern umfassende Begriff „officium“ wird hier eingeschränkt und determiniert. Am 24. Juni 1354 verlieh König Karl IV. Bischof Berthold von Eichstätt in der Burg Mörnsheim und der unterhalb liegenden Stadt („opidum“) das „ius temporale, quod vulgariter halsgericht dicitur sive exercitium iusticie ac gladii potestatem [...].“ Hier wird einem lateinischen Appellativ von großer Bedeutungsbreite durch gleich zwei spezifizierende Elemente, nämlich eine volkssprachliche Entsprechung und eine lateinische Erläuterung, zu Eindeutigkeit und damit auch zu einer angestrebten Rechtssicherheit verholfen. In der gleichen Urkunde verleiht der König außerdem ein „quater in anno in oppido forum sive nundine, que jarmarkt vulgartiter nuncupatur [...]“.20 Hier liegt im Gegensatz zum eben genannten Beispiel keine Präzisierung eines Oberbegriffs vor, hier wird ein deutschrechtlicher Vorgang, nämlich eine Marktverleihung, zunächst ins Lateinische übersetzt („forum sive nundine“), dann aber, um eine Inkongruenz auszuschließen, durch eine Rückübersetzung ins Deutsche präzisiert. Bischof Herold von Würzburg bestätigte im Jahre 1170 Richard von Schweinshaupten und seinen Nachkommen anläßlich der Trennung der von ihm in Schweinshaupten errichteten und von der Pfarrkirche Hofheim (Unterfranken) getrennten Kapelle das Recht, im Forst Haßberg zu jagen mit der Ein___________ 17 Karl Hegel, Lateinische Wörter und deutsche Begriffe, in: Neues Archiv 18 (1893), S. 207-223 mit Beispielen vorwiegend aus dem Bereich des früh- und hochmittelalterlichen Städtewesens. 18 Gerhard Pfeiffer, Beobachtungen zum Gebrauch der deutschen und lateinischen Sprache in der Nürnberger Ratskorrespondenz des 15. Jahrhunderts, in: Formen mittelalterlicher Literatur – Siegfried Beyschlag zu seinem 65. Geburtstag, hg. von Otmar Werner und Bernd Naumann (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 25), Göppingen 1970, S. 215-228. 19 Staatsarchiv Nürnberg, Stift Spalt, Urk. 47. 20 Wilhelm Füsslein, Das älteste Kopialbuch des Eichstätter Hochstifts nebst einem Anhang ungedruckter Königsurkunden, in: Neues Archiv 32 (1907), S. 645 f. Nr. 20.
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schränkung „arcu tantum et balista, quod in teutonico dicitur birsen“21 (nhd. pirschen). Bei der Bestimmung der Art des Jagens gerät die Kanzlei in Probleme mit der lateinischen Sprache, die keinen Begriff bereithielt, den man als Duplikat hätte bezeichnen können, und stellt die Kongruenz mit Hilfe eines deutschen Wortes her. Mitte der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hat Hermann Hoffmann vorwiegend aus Würzburger Urkunden des 14. Jahrhunderts lateinische Begriffe des Rechts- und Wirtschaftslebens exzerpiert, die nicht mehr eindeutig waren und durch Zusätze, welche meist mit „vulgariter dicitur“ eingeleitet wurden, in das deutsche Äquivalent übersetzt wurden, so gut es eben ging.22 Im Jahre 1327 verkaufte Heinrich von Hohenlohe dem Stift Aschaffenburg Güter zu Gaubüttelbrunn, darunter „unum optimale, quod vulgariter dicitur ein bestheubt“.23 Das Besthaupt, eines Todfallabgabe, die beim Tode eines Hörigen fällig wurde und aus dem besten Stück Vieh bestand, das der Leiheherr aussuchen durfte24, war dem römischen Recht fremd. Die hohenlohische Kanzlei verfiel auf den allgemeinen Begriff „optimum“, der dann mit dem deutschrechtlichen Begriff „Besthaupt“ konkretisiert wurde. Sie hätte „optimum“ durch „caput“ ergänzen können, hat aber darauf verzichtet, weil die deutsche Bezeichnung allgemein geläufig war.25 Wenn die Würzburger Bischofskanzlei im 13. Jahrhundert das Wort ‚Zunft‘ (pl. Zünfte) zu übersetzen hatte, war sie mit ihrem Latein am Ende. Wenn der Bischof ein Verbot der Zünfte erließ oder erneuerte, hatte die Kanzlei keine Möglichkeit der Übersetzung des Wortes „Zünfte“ ins Lateinische, sie konnte ___________ 21
Monumenta Boica 37, S. 93-95 Nr. 112. Hermann Hoffmann, „Vulgariter Dicitur“. Ein Beitrag zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte Mainfrankens, in: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst 6 (1954), S. 72-105. – Von den älteren Behelfen, welche lateinisch-deutsche Entsprechungen vorwiegend in Urkunden des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit nachweisen, verdienen noch genannt zu werden: Vocabularius Teutonico-Latinus, Nürnberg 1482 (Neudruck 1970); Eduard Brinckmeier, Glossarium diplomaticum. Erläuterung schwieriger, einer diplomatischen, historischen, sachlichen oder Worterklärung bedürftiger lateinischer, hoch- und besonders niederdeutscher Wörter und Formeln, die sich in öffentlichen und Privaturkunden, Capitularia, Gesetzen, Verordnungen, Zuchtbriefen, Willküren, Weisthümern, Traditions- und Flurbüchern, Heberollen, Chroniken, Rechnungen, Inschriften, Siegeln u. s. w. des gesammten deutschen Mittelalters finden, 2 Bde., Gotha 1852/63 (Neudruck 1967); Lorenz Diefenbach, Glossarium Latino-Germanicum Mediae et Infimae Latinitatis, Frankfurt am Main 1857 (Neudruck 1968). 23 Hohenlohisches Urkundenbuch 2, hg. von Karl Weller, Stuttgart 1901, S. 239 Nr. 285. 24 Art. Besthaupt, in: Deutsches Rechtswörterbuch 2, Weimar 1932/35, Sp. 199 f. – Dieter Werkmüller, Besthaupt, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 1, 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 554. 25 Zahlreiche Beispiele: Hoffmann (wie Anm. 22), S. 76 f. 22
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nur den deutschen Begriff in den lateinischen Urkundentext einzusetzen. Im Jahre 1279 ließ sie schreiben: „societates, corpora sive collegia civitatis nostre Herbipolensis, que wlgariter zumpfte nuncupantur“.26 Einige Beispiele aus Urkunden ebenfalls des 13. Jahrhunderts der Westschweiz, in welchen von einem als unscharf empfundenen lateinischen Wort mit einem „vulgariter dicitur“ sowohl zu den deutschen als auch gegebenenfalls zu den französischen Entsprechungen übergeleitet wird, hat in jüngster Zeit David Vitali zusammengestellt und untersucht.27 4. Aus dem Bereich der Technik greifen wir den Festungsbau und die Waffentechnik heraus, die im späten Mittelalter bemerkenswerte Fortschritte erzielten. Der Klage des Eichstätter Bischofs Reinboto von Meilenhart (1279-1297) gegen Graf Ludwig d. J. von Oettingen wegen einer auf Eichstätter Boden in Ornbau errichteten Befestigung („quadam municionis structura“) gab König Rudolf von Habsburg am 17. März 1289 statt. Der König verurteilte den Beklagten mit Setzung einer Frist, die Befestigung niederzulegen, und bezeichnete dabei alle einzelnen Bestandteile, nämlich „portas, sepes, propugnacula, que vulgariter bercfrit dicuntur, et thuguria, que erker vulgariter nominantur, prope ipsam sepem et supra fossatum sita“.28 Einer Präzision bedurften also die Begriffe „propugnacula“ und „thuguria“, die deshalb mit „Bergfried“ und „Erker“ konkretisiert und damit für jeden damaligen Leser oder Hörer der Urkunde verständlich wurden. Ein Fortsetzer der „Gesta episcoporum Eistettensium“ berichtet von Bischof Friedrich IV. von Oettingen (1383-1415), einem von Reinbotos Nachfolgern, daß er die (Willibalds-)Burg in Eichstätt mit einer Mauer umgeben ließ, ebenfalls die südlich der Residenzstadt gelegene Burg Nassenfels: „Primo castrum Eystetense circumdedit muro ‚genant ein zwinger‘. [...] Item in castro Nassenfels [...] ipsum castrum novo muro ‚genannt ein zwinger‘ circulariter circumdedit“.29 Den Verfasser trieb sein Bemühen um Eindeutigkeit dazu, die Art der Mauer näher zu präzisieren. Da er dies mit Hilfe des Lateinischen nicht schaffte, setzte er das deutsche Wort „zwinger“ ein, worunter man eine Vormauer (äußere Mauer) verstand. Von den meisten Appellativen abgesehen, hatte längst nicht mehr jeder Gegenstand, jeder Rechtsvorgang, jede technische Neuerung eine Entsprechung im Lateinischen. Sachen und Begriffe waren nicht mehr kongruent, die spätmit___________ 26
Monumenta Boica 37, S. 507 f. Nr. 433. David Vitali, Mit dem Latein am Ende? Volkssprachlicher Einfluss in lateinischen Chartularen der Westschweiz (Lateinische Sprache und Literatur des Mittelalters 41), Bern u. a. 2007, S. 81 f., S. 295 f. 28 MGH Constitutiones 3, S. 365 Nr. 669. Franz Heidingsfelder (Bearb.), Die Regesten der Bischöfe von Eichstätt (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte VI,1), Erlangen 1938, Nr. 1055. 29 Gesta epp. Eichstettensium cont., MGH SS (Scriptores) 25, S. 603. 27
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telalterliche Gesellschaft konnte den aus der Antike überkommenen lateinischen Wortschatz weder als ausreichend noch als eindeutig empfinden. Man verwendete den „untoten“ Wortschatz zwar noch, hatte aber, gerade bei Rechtsgeschäften, das Bedürfnis, bestimmte Begriffe zu präzisieren. Etwa gleichzeitig läßt sich dieser Vorgang sowohl in anderen germanischen Sprachen als auch in slavischen beobachten.30 Latein und die romanischen Sprachen begannen zwar seit dem 6. Jahrhundert auseinanderzutreten, blieben aber wohl noch längere Zeit beiderseits verständlich, gleichwohl begegnen italienische Satzteile seit dem 10. Jahrhundert in lateinischen Urkunden.31 Waren in den Bereichen der germanischen und slavischen Sprache geeignete lateinische Äquivalenzen für bestimmte Begriffe nicht zu erbringen und die Grenzen der Übersetzbarkeit erreicht, mit anderen Worten: War man mit dem Latein am Ende, wich man aus, entweder direkt in die muttersprachliche Terminologie oder in einen lateinischen Begriff, dem man durch einen interpretierenden muttersprachlichen die erforderliche Eindeutigkeit verschaffte. Die Lebensumstände nördlich der Alpen hatten sich von den lateinischen Wörtern im Laufe der Jahrhunderte des Mittelalters so weit entfernt, daß immer deutlicher die Ungenauigkeit, gegebenenfalls auch die Rechtsunsicherheit der lateinischen Entsprechungen erkannt wurde, an die man sich recht und schlecht zu gewöhnen versucht hatte. Man konnte Abhilfe schaffen, indem man zur Beschreibung einer Sache oder eines Vorganges hilfsweise die Muttersprache benützte, in welcher man sich leichter und eindeutiger ausdrücken konnte. Anders gesagt: man empfand, daß man mit dem Latein am Ende war. Es handelte sich bei dem sich sehr allmählich vollziehenden Übergang zur deutschen und anderen nationalen Urkundensprachen um einen Epochenvorgang, welcher der europäischen Modernisierung angehört.32 Auch Chronisten des späten Mittelalters und des 16. Jahrhunderts, so Sigmund Meisterlin († 1497/98)33 und Lorenz Fries († 1550)34, haben auf die Be___________ 30 Lexicon Latinitatis Nederlandicae Medii Aevi – Woordenboek van het middeleeuws latijn van de noordelijke Nederlanden, 8 Bde., Leiden 1970/77-2008. – Slownik laciny sredniowiecznej w polsce – Lexicon Mediae et Infimae Latinitatis Polonorum, bis jetzt 7 Bde., Warszawa u. a. 1953/58-1992-2001. 31 Vitali (wie Anm. 27), S. 10. 32 Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300, hg. von Friedrich Wilhelm, fortgeführt von Richard Newald/Helmut de Boor/Diether Haacke, bis jetzt 5 Bde., Lahr u. a. 1932-2004. – Hans Hirsch, Zur Frage des Auftretens der deutschen Sprache in den Urkunden und der Ausgabe deutscher Urkundentexte, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 52 (1938), S. 227-242. – Karl Otto Langenbucher, Zum Aufkommen der deutschen Sprache in den Kölner Schreinsurkunden, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 70-78. 33 Sigmund Meisterlin’s Chronik der Reichsstadt Nürnberg. 1488 (Die Chroniken der deutschen Städte 3), Leipzig 1864, S. 108 f.
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grenztheit des lateinischen Wortschatzes und die sich daraus ergebenden Probleme hingewiesen. Die lateinische Sprache blieb bis zum Westfälischen Frieden (1648) erhalten in der Diplomatie, als selbstverständliches Kommunikationsmittel in der gelehrten Welt der Akademien und Universitäten bis in die Zeit der Aufklärung, deren Vertreter diese mit „elucidatio“ übersetzten, und zum Teil noch darüber hinaus. 1809 erschien die Schrift des damals bereits weltbekannten Mathematikers und Astronomen Carl Friedrich Gauß „Theoria corporum coelestium“. Der Verleger Friedrich Perthes wollte die bahnbrechende Untersuchung, die ihm zunächst in deutscher Fassung vorgelegen hatte, erst nach ihrer Übersetzung ins Lateinische zum Druck annehmen; andernfalls glaubte er eine Beeinträchtigung ihres Absatzes außerhalb des deutschen Sprachraumes befürchten zu müssen.35 Das Problem würde heute über das Englische gelöst. Im Jahre 1909, also ein Jahrhundert nach Gauß, wurde die Frage, ob die Gesamtausgabe der Werke des Schweizer Mathematikers Leonhard Euler († 1783), der seine Abhandlungen ganz überwiegend in lateinischer Sprache verfaßt hatte, in der Originalsprache oder in deutscher Übersetzung erscheinen sollten, kontrovers diskutiert. Aus Deutschland kam das lautstärkste Plädoyer für eine Übersetzung, da „es infolge des Vordringens der lateinlosen vollberechtigten Lehranstalten bereits heute eine ganze Anzahl Fachgelehrte gibt, die kein Latein verstehen, und ihre Zahl wird prozentuell von Jahr zu Jahr wachsen“.36 Mit anderen Worten: Man werde allgemein mit dem Latein bald am Ende sein. Die Schweizer Naturforschende Gesellschaft entschloß sich jedoch, Eulers „Opera omnia“, deren erster Band im Jahre 1911 erschien, nach den Originalschriften zu edieren. Eine Übersetzung sei nicht mehr Eulers Text, sondern eine Überarbeitung, und eine solche könne das Original nicht vertreten. Rückschauend und in die Zukunft blickend wird man die Frage, ob man mit dem Latein am Ende sei, die im späten Mittelalter für weite Bereiche der Kommunikation mit Ja beantwortet wurde, heute nicht mehr mit dieser Bestimmtheit entscheiden wollen. Denn in neuerer Zeit erleben wir analog der Weiterentwicklung des Griechischen im 19. Jahrhundert und des Hebräischen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch eine Fortentwicklung der lateinischen Sprache vorwiegend durch Vatikanische Gelehrte, weniger durch Öffnung für Fremdwörter als durch Erweiterung des Wortschatzes aus dem ___________ 34
Lorenz Fries, Chronik der Bischöfe von Würzburg 1, hg. von Ulrich Wagner und Walter Ziegler (Fontes Herbipolenses 2), Würzburg 1994, S. 210 f. 35 W(ilhelm) Ahrens, Vom Sterbelager des Gelehrtenlateins, in: Zeitschrift für Bücherfreunde NF 9/II (1918), S. 282-289, hier S. 282. 36 Ders., Latein oder Deutsch? Die Sprachenfrage bei der Herausgabe der Werke Leonhard Eulers, Magdeburg 1909, S. 12.
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Binnenraum des Lateinischen, der auch dem Postulat allgemeiner Verständlichkeit und Eindeutigkeit in jeder Kommunikationssituation nahekommt.37
___________ 37 Seit 1953 gibt eine Vatikan-Stiftung die Zeitschrift ‚Latinitas‘ heraus. 1992 erschien die italienische Ausgabe des von der Libraria Editoria Vaticana in Auftrag gegebenen ‚Lexicon Recentis Latinitatis‘, 1998 eine deutsche Bearbeitung mit dem Untertitel „Über 15.000 Stichwörter der heutigen Alltagssprache in lateinischer Übersetzung“, Bonn 1998, 2. Aufl. 2003, mit den Schwerpunkten Politik und Religion, Wissenschaft, Technik und Sport. In diesen Zusammenhang gehört auch das 1985 in Saarbrücken in zweiter Auflage erschienene ‚Lexicon Auxiliare – Ein deutsch-lateinisches Wörterbuch’ von Christian Helfer. Es handelt sich um eine Bestandsaufnahme, in welcher lateinische Entsprechungen von deutschen Wörtern aus der frühen Neuzeit und der neuesten Zeit nachgewiesen wurden.
III. Das Reich und seine Territorien Franken im Alten Reich – zeitliche Ferne im Nahbereich
Studien zur politischen Kultur des zölibatären Staats Das Herzogtum Franken
Von Stefan Benz, Bayreuth Wer die Hauptfestung und Residenz des Hochstifts Würzburg, die Festung Marienberg, betrat, mußte fast unweigerlich die Inschrift „Herbipolis sola judicat ense et stola“ wahrnehmen.1 Sie formulierte eine historische Besonderheit der Würzburger Bischöfe: Sie beanspruchten das Schwert seit unvordenklichen Zeiten, beanspruchten Herzöge Frankens zu sein. Nun führten auch andere geistliche Reichsfürstentümer wie Köln2, Lüttich oder Münster weltliche Herrschertitel für bestimmte genau definierte Gebiete, die ihnen im Laufe der Geschichte zugewachsen waren. Doch mit dem fränkischen Herzogstitel, weil er nicht ein bestimmtes Gebiet umschrieb, sondern einen allgemeinen Anspruch, konnte sich über den damit verbundenen Rechts- oder Gerichtsanspruch zugleich eine weiterreichende politische Ambition verbinden. Die Herzogswürde – so die Überlegung – könnte in den politischen Systemen des Heiligen Römischen Reichs, im Umgang mit dem Kaisertum und den politischen Nachbarn, in der Germania Sacra und natürlich nach innen in der Etablierung der Herrschaft über die Staatsuntertanen wirken.3 Damit ist die Frage nach der politischen Kultur eines geistlichen Staats gestellt. Politik verstand sich zeitgenössisch als Lehre von den Herrschaftsformen oder Regierungssystemen. Erst das frühe 19. Jahrhundert hatte die historische Erfahrung zu integrieren, daß die Vorstellung einer Dauer-Garantie einer Staatsform noch absurder wäre als das perpetuum mobile:4 Etliche faktisch, ___________ 1
Karl Borchardt (Bearb.), Die Würzburger Inschriften bis 1525 (Die Deutschen Inschriften 27), Wiesbaden 1988, S. 182/Nr. 399+, vor 1504. 2 Vgl. August Eugen Bernhard Franz Bodife, Origines praecipuorum iurium archiepiscopi et S.R.I. electoris Coloniensis, jur. Diss. Göttingen 1753: der Herzogstitel wird nicht einmal erwähnt. 3 Vgl. die Modellstudie von Thomas Nicklas, Macht oder Recht. Frühneuzeitliche Politik im Obersächsischen Reichskreis, Stuttgart 2002, hier bes. S. 8-10. 4 August Heinrich Ludwig von Heeren, Über die Entstehung, die Ausbildung und den praktischen Einfluß, der politischen Theorien in dem neueren Europa, in: Ders., Kleine historische Schriften, Teil 1, Wien 1817, S. 293-354, hier S. 295, S. 345.
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doch nicht theoretisch bestehende Staatsformen waren zertrümmert worden, insbesondere der zölibatäre Staat, das geistliche Fürstentum der Germania Sacra. Als theoretisch undenkbar war der zölibatäre Staat praktisch schon länger in die Defensive geraten, trotz seiner realen Erfolgsgeschichte, vergleicht man allein die Masse der dynastischen Kriege und Krisen des konkurrierenden und vorübergehend siegreichen Feudalsystems im 18. Jahrhundert. Doch die historiographische Behandlung der geistlichen Staaten bestimmte sich seit jeher vom unrühmlichen Ende ab 1803: Wer seine Existenz einbüßt, verliert gerne auch seine geschichtliche. Seitdem durfte man mit Hegel zweifeln, ob sie überhaupt Staaten gewesen seien.5 Ihre innere Qualität jedoch war – entgegen der Theorie – beachtlich. Wenn, wie in den letzten Jahren häufiger, aus den Archiven geforscht und nicht deduziert wurde, konnten grundsätzliche Mängel oder auch nur ein Reformbedarf nicht festgestellt werden.6 Und was ergäbe erst der zusätzliche Vergleich mit dem Vorzustand der Siegerstaaten, etwa den unsäglichen Württemberg und Hessen-Darmstadt, dem dauerbankrotten Kurbayern ___________ 5
Dagegen schrieb Karl Moritz Fabritius, Ueber den Wehrt und die Vorzüge geistlicher Staaten und Regierungen in Teutschland, Frankfurt/Leipzig 1797. 6 Frank Göttmann, Der nordwestdeutsche geistliche Staat der Frühen Neuzeit als Forschungsaufgabe, in: Bettina Braun/Frank Göttmann/Michael Ströhmer (Hg.), Geistliche Staaten im Nordwesten des Alten Reiches. Forschungen zum Problem frühmoderner Staatlichkeit (Paderborner Beiträge zur Geschichte 13), Köln 2003, S. 9-57; Bettina Braun/Frank Göttmann, Der geistliche Staat der Frühen Neuzeit. Einblicke in Stand und Tendenzen der Forschung, in: Ebd. S. 59-86; Wolfgang Wüst (Hg.), Geistliche Staaten in Oberdeutschland im Rahmen der Reichsverfassung (Oberschwaben. Geschichte und Kultur 10), Epfendorf 2002, hierin von Andreas Otto Weber, Gesamtbibliographie, S. 397-452; Peter Blickle/Rudolf Schlögl (Hg.): Die Säkularisation im Prozess der Säkularisierung Europas (Oberschwaben – Geschichte und Kultur 13), Epfendorf 2005; Kurt Andermann (Hg.), Die geistlichen Staaten am Ende des Alten Reiches. Versuch einer Bilanz. Epfendorf 2004 (Kraichtaler Kolloquien 4); Armgard von Rehden-Dohna, Das Fürstbistum Hildesheim in der Spätphase des Alten Reiches, in: Thomas Scharf-Wrede (Hg.), Umbruch oder Übergang? Die Säkularisation von 1803 in Norddeutschland, Hildesheim 2004 S. 25-46. Hans Ammerich, „Das Aussehen einer eine Reihe von Jahren hindurch wohladministrierten Staates [...]“ Das Ende des alten Bistums und des Hochstifts Speyer, in: Alte Klöster – neue Herren. Die Säkularisation im deutschen Südwesten 1803, 3 Bde. (Die Säkularisation im deutschen Südwesten Bd. 1: Ausstellungskatalog, Bd. 2.1 und 2.2 Aufsätze), Sigmaringen 2003, 2.1, S. 361-366; Franz Xaver Bischof, „Wir fanden ein äußerst schoenes, fruchtbares Land und gar manches weit besser, als wir es erwartet hatten [...].“ Das Ende von Hochstift und Bistum Konstanz und der rechtsrheinischen Teile der Hochstifte Basel und Straßburg, in: ebd., S. 347-360; Wolfgang Weiß, Die Säkularisation des Hochstifts Würzburg – „Das Trauerspiel“, in: Frankenland 2003/1, S. 10-20; Günter Dippold, Die Säkularisation des Hochstifts Bamberg, in: Frankenland 2003/1, S. 21-37 (als einziger eher negativ); Renate BaumgärtelFleischmann (Hg.), Bamberg wird bayerisch. Die Säkularisation des Hochstifts Bamberg 1802/03, Bamberg 2003; typisch für die übliche teleologische Beschreibung: Karl Hausberger, „Unterm Krummstab ist gut leben“. Zur Situation der fürstbischöflichen Germania Sacra am Vorabend der Säkularisation, in: 1803. Wende in Europas Mitte, hg. v. Peter Schmid/Klemens Unger, Regensburg 2003, S. 35-52.
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oder dem – so die Häme aus dem Süden – „Hungerstaat“ BrandenburgPreußen?7 Die schon länger an der Revision arbeitende Historiographie kann hier aber nicht unser Thema sein – dies gehörte ins Feld der analytischen Geschichtstheorie, die hier ein hervorragendes Arbeitsfeld vorfände, um praktisch zu zeigen, wie Systeme infolge ihrer Umbildung unter externen Ereignisbedingungen, die zu Funktion oder Sinn dieser Systeme sich zufällig verhalten, mittels historiographischer Deutung einzigartig, unverwechselbar und, wie hier hinzuzufügen ist, jederzeit sinnhaft zu werden trachten.8 Allerdings kann man sich dem Thema der politischen Kultur kaum zuwenden, ohne wenigstens kurz den ökonomischen Sektor anzusprechen, dessen Theorien einen wichtigen Baustein lieferten, nicht nur den geistlichen Staat, sondern insgesamt den katholischen als dem modernen Staat nicht entsprechend zu beschreiben – unabhängig von der sicherlich wechselnden Bewertung dieses Befunds. Nun hat Peter Hersche in seiner großen Synthese „Muße und Verschwendung“ über die katholische Mittelmeerwelt9 deutlich herausgestellt, daß Katholizismus und Kapitalismus im Untersuchungszeitraum keineswegs unvereinbar waren. Hinzuzufügen wäre, daß über ökonomische Erfolge oder Mißerfolge vornehmlich politische und naturräumliche Faktoren entschieden. Woher kommt nun die Legende vom Rückstand in der Praxis? Das Geschwätz einiger „Publicisten und Staatsklügler“10 muß einen Anhaltspunkt gefunden haben – wohl nicht in der Realbegegnung, sondern vielmehr in der Literatur. Das Urteil der vermeintlich schlechten oder doch rückständig geglaubten Regierungs- und Wirtschaftsform in den geistlichen Staaten im Vergleich zu ih___________ 7 Die Verteidigung der Germania Sacra geriet unversehens fast immer zu einer Anklage des Feudalismus, vgl. Fabritius (wie Anm. 5), S. 69-73, S. 102-105. Dies dürfte deren Stellung zusätzlich untergraben haben. Zu Preußen z. B. Vittorio Alfieri [17491803], Mein Leben, aus dem Italienischen von H. Hinderberger, Zürich 1949, S. 134 f., 143 f.; Etienne François, Augsburger Freiheit und preußische Tyrannei. Montesquieus Reisetagebuch durch Deutschland 1729, in: Geschichte in Räumen. Festschrift für Rolf Kießling zum 65. Geburtstag, Konstanz 2006, S. 73-83, hier S. 82. 8 Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel/Stuttgart 1977, abgewandelt nach S. 11 und 98. Vgl. dazu Harm Klueting, Zweihundert Jahre Reichsdeputationshauptschluß. Säkularisation und Mediatisierung 1802/03 in der Literatur um das Gedenkjahr 2003, in: Historische Zeitschrift 286 (2008), S. 403-417, bes. S. 417 zur von Klueting festgestellten positiven Neubewertung der Säkularisation durch katholische Literatur. Dagegen bemerkenswert: Joachim Schmiedl, 200 Jahre Säkularisation. Bemerkungen zu einem Jubiläum aus der Perspektive der Ordensgeschichtsschreibung, in: Europa und die Welt in der Geschichte. Festschrift zum 60. Geburtstag von Dieter Berg, Bochum 2004, S. 105-117. 9 Peter Hersche, Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, 2 Bde., Freiburg/Basel/Wien 2006. 10 Zitat: Fabritius (wie Anm. 5), S. 95.
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ren monarchischen Konkurrenten beruht faktisch-empirisch auf den statistischen Angaben, die Joseph Edler von Sartori in seinem „Staatsrecht der Erz-, Hoch- und Ritterstifte“ lieferte. Der Jurist war anfänglich noch ein Freund seines Gegenstands, dem er Bewunderung nicht versagte: Angesichts der vielen Kriege und anderen Zudringlichkeiten hätten die geistlichen Staaten doch längst unterliegen müssen. Aber er entwickelt sich im Laufe der sechsteiligen Darstellung zu einem entschiedenen Gegner. An Fakten kann er jedoch nur eine Übersicht von Bevölkerungszahlen in Relation zur Fläche bieten.11 Die hier gefolgerte geringere Bevölkerungsdichte wird noch mit dem Verweis auf die vielen unproduktiven Bettler und Geistlichen (wofür es aber keine Zahlen gibt) aufgeladen; man sei ein Drittel hinter den weltlichen Staaten zurück, ein paar Seiten später dann 50 Prozent und zwei Drittel sind sowieso arm; auch in den Weinländern Mainz und Würzburg wird eigentlich ständig Hungers gestorben. Der vorgenommene Vergleich zum Beispiel zwischen dem flächenmäßig riesigen Stift Münster und einem weltlichen mittelrheinischen Kleinfürstentum ist offensichtlich unseriös, völlig unabhängig von der Frage nach der Gültigkeit der Prämissen, was also von den Peuplierungsthesen des Josephinisten Sartori und seiner Zeitgenossen zu halten sei. Und noch heute ist der Augenschein zum Beispiel der historischen Bausubstanz als Indiz der Wirtschaftskraft dagegen zu halten: Weder fällt das trierische Andernach gegenüber dem pfälzischen Bacharach ab, noch das würzburgische Iphofen im Vergleich zum zollernschen Prichsenstadt. Eichstätt, die noch heute glänzende Barockstadt vornehmer und reicher Fassaden und Hauptstadt des Hochstifts, von Aufklärern als schmutziges Nest beschrieben zu sehen, mutet im Vergleich mit Berliner Stadtansichten des 18. Jahrhunderts seltsam an: Die preußische Kapitale glänzt mit einer weitgehend ungegliederten Masse schlichter, bestenfalls dreigeschossiger Häuser primitiven Zuschnitts.12 Daß die heute nahezu alle verschwunden sind, ist erst eine Folge der Entwicklung Berlins seit dem 19. Jahrhundert. Die wirtschaftsgeschichtliche Detailforschung hält sich daher mit konfessionellen Vorurteilen nicht auf:13 Schon seit dem Mittelalter kann ausgerechnet der ___________ 11 Joseph Edler von Sartori, Geistliches und weltliches Staatsrecht der deutschen, catholischgeistlichen Erz- Hoch- und Ritterstifter, 6 Teile, Nürnberg 1788-1791, hier 1/1, S. XII; 2/1/1, S. 427 (Statistik), S. 428-431, S. 434; 2/2/1, S. 954-960; 2/2/2, S. 754756. Wo Sartori (ehemals Ellwanger Hofrat) sich auskennt, weiß er von keinen konkreten Gebrechen: zu Ellwangen 2/1/1, S. 337. 12 Ekhart Berckenhagen, Die Malerei in Berlin vom 13. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert. Tafelband, Berlin 1964, mit den Veduten. 13 Als Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Werke 12), Frankfurt am Main 1970/1986, S. 111 f. am amerikanischen Beispiel auf den Zusammenhang Konfession und Wirtschaft/Politik hinwies, war es nicht seine Absicht, eine ökonomische Theorie auf einer Konfessionsthese zu fundieren, vielmehr ist die Argumentation in sein Entwicklungsmodell des Staats als Geschichtsprinzip eingebettet.
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geistliche Staat Lüttich als ökonomisches Zentrum kapitalistischer Produktionsformen mit enormer Entwicklung gelten.14 Die damit zum Beispiel einhergehende Proletarisierung hat bereits Philippe de Commynes (gest. 1511) erschreckt15, der als burgundischer Adeliger sich im Lütticher Gebiet nicht viel anders bewegte, als sei er im 19. Jahrhundert wiedergeboren.16 Ein der Untersuchung des Politischen irgendwie präjudizierliches ökonomisch unterentwickeltes System kann also ausgeschlossen und damit eine Detailuntersuchung in drei Schritten vollzogen werden – eingedenk der Tatsache, daß das Hochstift Würzburg sicher nicht als Beispiel für den Durchschnitt über die 34 geistlichen Staaten (einschließlich Churs und der Reichsabteien, aber ohne Besançon und das evangelische Lübeck) gelten kann, sondern größer, finanzkräftiger, unabhängiger und, wie sich zeigen wird, zugleich politisch ambitionierter war.17 Im ersten Schritt wird Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn als Wiederbegründer einer besonderen politischen Kultur seines Herzogtums Franken um 1600 skizziert; der zweite Abschnitt untersucht von einem historiographischen Fallbeispiel um 1700 ausgehend die historische Staatsidentität im Inneren, während der dritte Querschnitt in die Zeit des Siebenjährigen Kriegs führt und das Hochstift als wahrgenommenen Mitspieler im politischen und militärischen Geschäft zeigt.
I. Niemand wird bezweifeln, daß die Mitte des 16. Jahrhunderts für viele Reichsstände eine Krisenzeit war, und für die in ihrer Existenz durch die Reformation gefährdeten geistlichen erst recht. Mit dem zweiten Markgrafenkrieg, der Ermordung des Würzburger Fürstbischofs Melchior Zobel von Giebelstadt ___________ 14 Jean LeJeune, La Formation du capitalisme moderne dans la principauté de Liège au 16e siècle (Bibliothèque de la Faculté de philosophie et lettres de l'Université de Liège 87), Lüttich 1939; Myron P. Gutmann, Toward the modern economy, Philadelphia 1988, hier S. 7 f. mit dem expliziten Ausschluß der Konfessionsthese. Als Spezialstudie Georges Hansotte, La métallurgie wallone au XVIe et dans la première moitié du XVIIe siècle. Un état de la question, in: Hermann Kellenbenz (Hg.), Schwerpunkte der Eisengewinnung und Eisenverarbeitung in Europa 1500-1650, Köln/Wien 1974, S. 126-146. 15 Philippe de Commynes, Memoiren, übers. von Fritz Ernst, Stuttgart 1972, Buch 2/1-4, S. 7, S. 10-14, speziell S. 55, S. 62, S. 76, S. 80, S. 87 f. mit Erwähnung der Eisenhämmer. 16 Kein anderer geistlicher Staat hat zu seinen Lebzeiten so viele historiographische Darstellungen provoziert wie Lüttich, zuletzt Karl Moritz Eduard Fabritius, Geschichte des Hochstifts Lüttich, Leipzig 1792. Für die deutsche Forschung ist allerdings das reiche Hochstift wenig erschlossen. 17 Übersichten: Johann Joseph Pockh, Der politische catholische Passagier [Bd. 1], Augsburg 1718; Curieuser Schauplatz geistlicher Fürsten, Köln 1701; Franz Xaver Holl, Statistica ecclesiae germanicae, Bd. 1, Heidelberg 1779, S. 150-204.
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1558 und der sich anschließenden Adelsrebellion des Ritters Grumbach war für das prälatische Franken ein historischer Tiefpunkt erreicht.18 Von der Würzburger Bischofswahl im Spätherbst 1573 hing also viel ab. Aus ihr ging der 28jährige Domdekan Julius Echter von Mespelbrunn als Elekt hervor. Mit seiner bemerkenswerten peregrinatio academica hatte er sich allgemein empfohlen, denn er kannte nicht nur die alten Universitäten Mainz, Köln und Löwen, letztere beide zweifellos wichtige intellektuelle Zentren, sondern hatte zudem – unter anderem – an der von König Philipp II. neugegründeten Universität Douai studiert. Echters wohldosiertes Reform-, Rekatholisierungs- und Aufbauprogramm für sein verschuldetes Hochstift samt den – teilweise gescheiterten – Versuchen einer territorialen Arrondierung sollen hier nicht referiert werden. Statt der guten Policey, die sicher auch viele andere Fürsten auszeichnete, scheint die Besonderheit von Echters fast 50jähriger Regierung in seiner sehr bewußten Darstellung des Staats und des Fürsten nach innen und außen zu liegen. Bezeichnen wir dies als Versuch, diesem geistlichen Staat eine eigene politische Kultur zu verschaffen, und halten wir gleich fest, daß dies weit mehr sein wollte als nur eine Rekatholisierung. Als sich 1563 das Reich in Frankfurt am Main zu Wahl und Krönung Kaiser Maximilians II. traf, reiste der damalige Würzburger Fürstbischof mit einem Gefolge von rund 70 Personen an, blieb damit deutlich unter dem Aufwand der Kurfürsten oder der Herzöge. Der Reichstag von Regensburg 1593 sah Bischof Julius indes mit über 296 Kutschen- und Wagenpferden sowie einem Gefolge von weit über 300 Personen, darunter Edelknaben samt Präzeptor – eine für einen geistlichen Reichsfürsten damals eher ungewöhnliche Institution. Die Würzburger Delegation, die sich also mehr als vervierfacht hatte, instruierte den Reichsherold offensichtlich ganz genau, womit für uns heute erkennbar ___________ 18 Auf die Angabe der mittlerweile reichen Handbuchliteratur kann verzichtet werden. Grundlegend ist Alfred Wendehorst, Das Bistum Würzburg. Teil 3 (Germania Sacra NF 13 Das Bistum Würzburg 3), Berlin/New York 1978, für Echter S. 162-238; Echter interessierte naturgemäß die Konfessionalisten: Manfred Rudersdorf, Konfessionalisierung und Reichskirche. Der Würzburger Universitätsgründer Julius Echter von Mespelbrunn als Typus eines geistlichen Fürsten im Reich (1545-1617), in: Universität Würzburg und Wissenschaft in der Neuzeit [...] Peter Baumgart anläßlich seines 65. Geburtstages (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 53), Würzburg 1998, S. 37-61; Peter Baumgart, Konfessionalisierung und frühmoderne Staatlichkeit in Franken. Das Beispiel des Fürstbischofs Julius Echter, in: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 62/63 (2001), S. 575-589; hier eher: Erich Schneider, Architektur als Ausdruck der Konfession? Fürstbischof Julius Echter als Bauherr, in: „Bei dem Text des Heiligen Evangelii wollen wir bleiben“. Reformation und katholische Reform in Franken, hg. v. Helmut Baier/Erik Soder von Güldenstubbe (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 82), Neustadt a. d. Aisch 2004, S. 291-309. Generell jetzt Harm Klueting, Das konfessionelle Zeitalter, Darmstadt 2007.
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wird, wie wichtig dieser große Auftritt den Würzburgern war. Für den Reichstag 1593 war mit dieser teuren Selbstdarstellung sichtbar, daß das Herzogtum Franken, dessen sonst sparsamer Fürst schon mancherlei reichspolitische Aktivität entfaltet hatte (Kölner Pazifikationstag 1579 in der belgischen Sache), sehr bewußt und öffentlich zu den Kurfürstentümern und den wenigen bedeutenden Reichsfürsten aufzuschließen gedachte.19 Seitdem gehört das Hochstift zu den wahrgenommenen Mitspielern auf der öffentlichen Bühne des Reichstags.20 Auch für ihre Untertanen, also nach innen, hatten Staat und Fürst ihre Leistungen darzustellen, um über Anschauung politische Gruppenidentität in der im 16. Jahrhundert deutlich globaler und medialer gewordenen Welt zu erzeugen. Kurz: Wie wurde die Herrschaft sichtbarer, lesbar gemacht? Eine Besonderheit des schon viel gewürdigten Bauprogramms von Echter in seinem Hochstift sind die meist deutschsprachigen Inschriften zum Beispiel an den vielen Kirchenbauten, die allsonntäglich den Kirchgängern nolens volens in die Augen fielen. Zitieren wir ein Beispiel:21 „Liebs Franckenland du selig bist, Julius ein Friden-Fürst dir geben ist, Der dich vom Irrtumb uff die Bahn Des wahren Glaubens weiset an Mit schönen Kirchen dich auch zirt, Wie er dan diese restaurirt. Der treflich Fürst gethan hat vil, Wan mans nur recht erkennen wil. 1615“
An mehr als 95 Bauwerken des ganzen Landes finden oder fanden sich vergleichbare Verse aus fränkisch-würzburgischem Landespatriotismus, Fürstenfleiß, Religion und stets zeitgeschichtlicher Erinnerung, aufgegeben an die kommenden Generationen. Viel mehr als die angeblich typischen spitzen ___________ 19
De electione et inauguratione Maximiliani Austrij II. Rom. Regis [...], übers. aus dem Dt. v. Adam und Nicolaus Heyden, Frankfurt am Main 1563, o. Pag.; Peter Fleischmann, Kurtze und aigentliche Beschreibung/ des zu Regensburg in diesem 94. Jar gehaltenen Reichstag, Regensburg 1594, o. Pag. Dazu Karl Schottenloher, Kaiserliche Herolde des 16. Jahrhunderts als öffentliche Berichterstatter, in: Historisches Jahrbuch 49 (1929), S. 460-471. 20 Z. B. Carolus Carafa, Commentaria de Germania sacra restaurata, Köln 1639, S. 139, S. 140 (Kaiser, Darmstadt, Salzburg und Würzburg in der Prozession zum Dom während des Reichstags Regensburg, Kurköln und Kurmainz begrüßen). 21 Barbara Schock-Werner, Die Bauten im Fürstbistum Würzburg unter Julius Echter von Mespelbrunn 1573-1617, Regensburg 2005, S. 451, aus Güntersleben; allgemein zu den Inschriften S. 91-96, S. 449-456 Katalog; danach das Folgende, ferner Schneider (Anm. 18), S. 308 f.; Max H. von Freeden/Wilhelm Engel, Fürstbischof Julius Echter als Bauherr (Mainfränkische Hefte 9), Würzburg 1951.
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Kirchtürme – die man so auch in Thüringen findet – prägten diese Texte das Bewußtsein der Untertanen und schufen ein politisches „Alleinstellungsmerkmal“ des Hochstifts als Staat.22 Echter ging noch einen Schritt weiter: In Königshofen, dem nördlichen Einfallstor des Herzogtums gen Sachsen, ließ der Bischof sich lebensgroß und in Pontifikalkleidung als Brunnenfigur verewigen – eines der frühen dauerhaften figürlichen Herrscherdenkmäler im profanen Raum nördlich der Alpen, überdies selbstgesetzt und nicht von den Untertanen geschenktes Symbol der Anhänglichkeit.23 Wir dürfen annehmen, daß der westliche Vorposten des Hochstifts, Rippberg unweit vom kurmainzischen Walldürn, ein ähnliches Denkmal erhielt.24 Diese Akte der Personalisierung des Politischen als wichtiger Teil einer jeden politischen Kultur verweisen auf Belgien, das Echter ja kannte: In Antwerpen ließ sich Herzog Alba als Triumphator verewigen (1570), doch hat dieses Denkmal mit seiner Inschrift den Adel provoziert und wurde rasch zu den Fehlern von Albas Herrschaft gerechnet. Seiner Erfolge war sich Echter also sicher genug. Dementsprechend feierte er sich sowohl zu seinem dreißig- wie zu seinem vierzigjährigen Regierungsjubiläum und ließ die Länge seiner Herrschaft regelmäßig in die Inschriften übernehmen. Als Festschrift zu ersterem erschien 1604 eine reich mit Kupfern von Bauten gezierte „Encaenia et Tricennalia Juliana“, wobei der Jahrestag der Wahl besonders begangen wurde. Wenn auch der Begriff „Jubiläum“ nicht explizit zu fallen scheint, gehört doch diese Regierungsmaßnahme zur allgemeinen Erfolgsgeschichte dieses in der Frühneuzeit säkular reetablierten Kults.25 Die Festschrift wurde auch durchreisenden Diplomaten überreicht, um zum Beispiel im fernen Florenz vom Ruhm der Neubauten zu künden. Mochte man sich über den nach Art der Greise im Alter schon allzu geschwätzig in der Vergangenheit schwelgenden Bischof amüsieren, mußte man doch zugeben, daß al-
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Schneider (wie Anm. 18), S. 297 abwandelnd. Josef Sperl, Stadt und Festung Königshofen i. Grabfeld, Königshofen 1974, S. 65, noch 1676 aufgefrischt, heute verloren. Vgl. die Brunnenfiguren Württemberger Herzöge: Thomas von der Dunk, Das deutsche Denkmal. Eine Geschichte in Bronze und Stein vom Hochmittelalter bis zum Barock (Beiträge zur Geschichtskultur 18), Köln/Weimar/Wien 1999, S. 281 (Abb.), S. 282, S. 284: Lokale Heilige werden durch lokale Herrscher ersetzt; diese Säkularisierung des Brunnens als Bautyp (S. 282) ist hier auch der Opposition zu den Reichsstädten mit ihrer „kaiserlichen“ Ikonographie geschuldet. 24 Nur der Schloßbrunnen ist noch vorhanden; die dortigen offensichtlich umfangreichen Bauten Echters fehlen bei Schock-Werner (wie Anm. 21). 25 Abbildungen einzelner Blätter in fast allen Publikationen zu Echter; Winfried Müller, Das historische Jubiläum, in: Ders. (Hg.), Das historische Jubiläum, (Geschichte Forschung und Wissenschaft 3), Münster 2004, S. 1-75, hier bes. S. 3: die funktionale Beschreibung des Jubiläums trifft die Maßnahmen Echters genau. 23
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les, was in Würzburg von Belang zu sehen war, auf Echter zurückging.26 Diese allgegenwärtige Präsenz von Fürst und Staat im Land dürfte für die Zeit um 1600 nicht leicht ein zweites Beispiel finden. Die Anregung zur Tricennalia, der Jubiläumsfestschrift, hat Echter vielleicht dem monumentalen, aus 16 Bänden bestehenden Bibelkommentar des Jesuiten Alfons Salmeron entnommen, der ihm gewidmet worden war: Mit 30 waren David und Joseph zur Herrschaft gekommen, eine Zahl der Politik also, was für die Zukunft Echters nur bestes zu bedeuten schien.27 Mit Salmeron, einem der prominentesten Jesuiten und Theologen seiner Zeit, verlassen wir den engeren Raum des Hochstifts wieder und erinnern an die engen Beziehungen Echters vor allem zu westeuropäischen Gelehrten, die zu zahlreichen weiteren Buchwidmungen führten – darunter die des Hermes politicus28 von Julius Bellius (1608) – und den Fürsten sicherlich zu einem der ersten Mäzene der Wissenschaft seiner Zeit machten.29 In der Universität, einer Institution der res publica litteraria neben der res publica politica, können sich Wirkungen sowohl nach innen wie nach außen entfalten, denn hier begegnen sich idealerweise Landeskinder und Fremde, wird im Rahmen des Bildungsprozesses der Heranwachsenden die Identität der künftigen Elite auch politisch geformt, um später in Behörden, auf Kanonikaten, in Pfarrhäusern, aber auch in der Universität weit entlegenen fremden Orten davon zu zeugen und politisch zu wirken. Auch Julius mochte daher mit seiner Würzburger Universitätswiedergründung keine Hilfsschule für echtkatholische Landesbeamte stiften, sondern hatte mehr im Sinn. Man kann hier nur auf den ausführlichen und werbenden Bericht verweisen, den der Rechtsprofessor und geheime Rat Anton Salicetus (von Weidenfeld)30 seinem Freund Jakob Middendorp, einem seinerzeit bekannten Bildungsreformer und Kanoniker in Köln, übermittelt hat:31 Das Universitätsbauwerk in Würzburg selbst schon setze ein ___________ 26 Daniel Eremita, Aulicae vitae ac civilis Libri IV. Ejusdem opuscula varia, hg. v. Johann Georg Graevius, Utrecht 1701: Iter Germanicum (diplomat. Mission für Großherzog Cosimo von Toskana), S. 353-388, hier S. 379 f. 27 Alfons Salmeron, Commentarii in Evangelicam Historiam vel in Acta Apostolorum. Bd. 1: Prolegomena, Köln 1602, S. 367. 28 VD17 39:129142B. Die über das VD17 ermittelbaren Widmungen an Echter sind natürlich unvollständig. 29 Der Briefwechsel wurde gesammelt und 1631 zur Schwedenbeute: Theodor Friedrich Freytag (Hg.), Virorum doctorum Epistolae selectae ad [...] Julium episc. Herbip. datae, Leipzig 1831 (Handschrift in Dorpat). 30 Heinzjürgen N. Reuschling, Die Regierung des Hochstifts Würzburg 1495-1642 (Forschungen zur fränkischen Kirchen- und Theologiegeschichte 10), Würzburg 1984, S. 335 f. Salicetus stammte aus Köln. 31 Jakob Middendorp, Academiarum celebrium universi terrarum orbis Libri VIII, Köln 1602, 2. Pag., S. 221-232, hier S. 223, S. 229 f.
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Zeichen in Europa – außer dem Escorial gebe es nichts Vergleichbares. Und aus ganz Europa strömten der Universität die Studenten zu, darunter viele von Adel, die später zusammen mit den Franken ihrerseits ganz Europa bereichern würden, denn zahlreiche Absolventen haben bereits beste Stellen in Frankreich, Friesland und allen Gegenden des Reichs angetreten. Also gilt hier ebenfalls: Das Herzogtum Franken sollte zu den ersten Staaten aufschließen. Man kann dergleichen, Bauinschriften, Denkmäler, Jubiläen, Netzwerkbildung, Produktplazierung leicht als „Propaganda“ bezeichnen, trifft aber vermutlich nicht den Gehalt, denn schließlich gab es nichts zu beweisen, gab es keinen Konkurrenten um die Staatsgewalt. Julius Echter verwirklichte vielmehr ein Programm zum inneren und äußeren Aufbau eines Staats eigener kultureller Prägung, möglicherweise nach Vorstellungen ex negativo gewonnen in Belgien32, wo die spanische Herrschaft unaufhaltsam zu bröckeln schien. Eine kurz nach Echters Tode entstandene zeitgeschichtliche Würzburger Chronik resümiert dementsprechend, er werde mit unauslöschlichem Preis Pater Patriae genannt.33 Die Konfession, so wichtig sie Echter sein mochte, war in diesem Programm nur ein Element. Die Ernte fuhren die Nachfolger ein. In der von Würzburger Diplomaten erreichten Sicherung der wirtschaftlich sehr bedeutenden Stadt Kitzingen nach 1648, die während des Krieges aus dem Pfandbesitz der Zollernschen Markgrafen ausgelöst worden war, darf man einen Erfolg des Würzburger Staats sehen, der sich zu den Siegern von 1648 zählen durfte und dessen prominente Vertreter im Rückblick ihre jederzeit irenische Haltung – selbst um 1630 – priesen.34 Als Preis war allerdings schließlich das evangelische Bekenntnis der Untertanen hinzunehmen. Julius Echter hätte dem vermutlich zugestimmt.
II. Schon der Philosoph Hegel wies drauf hin, daß die Existenz eines Staates stets unvollkommen bliebe, solange sich kein Bewußtsein der Vergangenheit als integrierende Kraft eingestellt habe.35 Und von der Geschichte her gesehen, ___________ 32 Echter bemühte sich auffällig um belgische Gelehrte, selbst um Justus Lipsius; sein Hofarzt war ebenfalls „Belgier“. 33 Universitätsbibliothek Würzburg M.ch.f. 797, ohne Fol. Ehemals Bibliothek v. Schrottenberg. 34 Staatsarchiv Würzburg, Depositum Gräflich Schönbornsches Archiv Wiesentheid Korrespondenzakten Johann Philipp von Vorburg Nr. 1076, f. 4 f.: zur Veröffentlichung in Regensburg bestimmte Autobiographie des Würzburg-Mainzer Diplomaten (Fortsetzung in Nr. 1455, zweites Konvolut). Vgl. dazu aber Carafa (wie Anm. 20)! 35 Hegel (wie Anm. 13), S. 83 f.
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wird deren Kenntnis seit jeher auf das Politische als Zweck und Absicht gerichtet, so der Enzyklopädist Alsted während des Dreißigjährigen Krieges.36 Heute gilt politisches Denken ebenso als selbstverständlicher Teil eines reflektierten Geschichtsbewußtseins. Demnach ist die Frage zu stellen, ob der politischen Kultur des geistlichen Herzogtums Franken ein entsprechendes Geschichtsbewußtsein wenigstens der Eliten entsprach.37 Anknüpfungspunkt ist der problematische Franken-Begriff selbst38, den, wie es die oben zitierte Bauinschrift schon zeigte, das Hochstift Würzburg erfolgreich monopolisierte. Einer der genuin fränkischen Erinnerungsorte war Karlstadt, das sich samt gegenüberliegender Burg auf die Kaiser Karl den Großen, Karl den Dicken und Karl den Kahlen zurückführte. Als Fürstbischof Johann Philipp II. von Greiffenclau dort 1699 in festlicher Zeremonie die Huldigung entgegennahm, überreichten ihm, dem Herzog, Volk und Senat der Stadt eine historisch-poetische Festschrift. In ihr wird der neue Landesherr zugleich als hundertster Herzog, als Jubiläumsfürst gefeiert.39 Die Serie der Herzöge läuft, beginnend mit Genebald I. 326, über Dagobert, Ludwig I., Marcomir I., Pharamund (später König der Franken-Franzosen), Markomir II., Prunmesser (so!), Genebald II., Suno, Ludwig II., Ludomir, Hugbald, Helmeric, Gottfried, Genebald III., Ludwig III., Ehrenbert, Ludwig IV., Gosbert I. (unter dem der hl. Kilian in Franken predigte), Gosbert II., Hethan, der, kinderlos geblieben, dem Agnaten Pipin das Herzogtum qua Devolution überließ, auf Karl den Großen zu, an den sich Bischof Burkard anschließt. Er ist der erste Bischof, dem das Herzogtum Franken übertragen und bestätigt wird, und zugleich der Beginn der Bischofsreihe. Nach dieser Translatio beginnt dann die Bischofsreihe „Duces Episcopi“. Mit dieser Regentenreihe40, in der der heilige Kilian nur als Statist ___________ 36
Johann Heinrich Alsted, Encyclopaedia, Herborn 1630 (Neudruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1990), S. 1979. 37 Als vergleichende Studie zur Historiographie in Franken Stefan Benz, Modelle barocker Geschichtsschreibung in und über Franken, in: Dieter J. Weiß (Hg.), Barock in Franken (Bayreuther Historische Kolloquien 17), Dettelbach 2004, S. 133-196. 38 Franken. Vorstellung und Wirklichkeit in der Geschichte, hg. v. Werner K. Blessing/Dieter J. Weiß (Franconia 1), Neustadt a. d. Aisch 2003. 39 Trophaea bellica ex anteiquo (!) armamuntario Karoli M. Caesaris deprompta, Würzburg [1699], S. 20-22. 40 Zur möglichen Vorlage Abt Johannes Trithemius vgl.: Alphons Lhotsky, Apis Colonna. Fabeln und Theorien über die Abkunft der Habsburger, in: Ders., Das Haus Habsburg (Aufsätze und Vorträge 2), Wien 1971, S. 7-102, hier S. 92-98; Karl Borchardt, Die Franken und ihre Herzöge in der Geschichte, in: Franken (wie Anm. 38), S. 105-140, hier S. 109, S. 120 f., zur Übernahme bei Lorenz Fries 110. „Prunmesser“ anscheinend nach Sebastian Münster, Cosmographia, Ausgabe Basel 1628 (Reprint Lindau 1978); S. 1085 (Teil 3). Ferner Gerdt Melville, Vorfahren und Vorgänger. Spätmittelalterliche Genealogien als dynastische Legitimation zur Herrschaft, in: Peter-Johannes Schuler (Hg.), Die Familie als sozialer und historischer Verband, Sigmaringen 1987,
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auftaucht, wird das Herzogtum zwanglos an die sagenhaften karolingischen, merowingischen, habsburgischen und so weiter Spitzenahnen und letztlich den deutschen und französischen Königen und ihrer Abkunft von Noah angeschlossen. Mit der Figur der Translatio als der translatio imperii nachgebildet wird das Herzogtum Franken dem Kaisertum der Deutschen vergleichbar. In gewisser Weise werden so außerdem die Series der kurrheinischen Bischöfe erreicht und übertrumpft, die ihre Reihe nur auf Apostelschüler zurückführen konnten. Mag man heute historischen Scharfsinn in solchen Geschichtskonstruktionen vermissen, ist hier vor allem darauf hinzuweisen, daß offensichtlich die führenden Schichten in den Ackerbürgerstädten die besondere, profane Landesidentität mit dem Merkmal „Herzogtum“ trugen und diese eben keine akademischrhetorische Spielerei war. Von Karlstadt zurück nach Würzburg. Hier befand sich der Erinnerungsort der Frankenapostel, des heiligen Kilian, dessen kirchliche Mission nicht mehr so recht zum Würzburger Staat mit seinem heidnisch-säkular gegründeten Geschichtsbild zu passen schien. Es ist das Kollegiatstift Neumünster, dessen Kanoniker in der Tat auffällig stark unter den Besitzern der Würzburger „FriesChronik“ vertreten sind (deren Bedeutung für das Geschichtsbewußtsein der Franken hier nicht angerissen werden kann).41 Einem neugierigen Reisenden um 1700 kann der zufällig in der alten Stiftskirche anwesende Kanoniker aus dem Stand einen Vortrag aus den Chroniken über die Geschichte der fränkischen Apostel halten.42 Der Hochaltar des benachbarten Domes hingegen wurde von einem monumentalen Herzogshut gekrönt, Zurschaustellung eines Symbols weltlicher Geschichte am prominentesten Ort im Kirchenraum. Zusammen mit vielen reich wappengeschmückten Nebenaltären, Stiftungen der Domherren und damit Stände des Hochstifts bot der Dom im Inneren den Anblick einer Staats-Kirche, in der die Gründungsheiligen des Stifts um Kilian nur Prozessions-Gäste während der Kiliani-Octav waren.43 Zusammen mit anderen Bauten in Stadt und Land wie der „Pfalz“ Salzburg über der fränkischen Saale hatte sich damit aus Erzählungen, Bildern, Symbolen, Stiftungstexten und Ritualen ___________ S. 203-309; Jean-Pierre Bomer, Die französische Historiographie des Spätmittelalters und die Franken, in: Archiv für Kulturgeschichte 45 (1963), S. 91-118. 41 Thomas Heiler, Die Würzburger Bischofschronik des Lorenz Fries (gest. 1550) (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg 9), Würzburg 2001, S. 372. 42 Adolf Schwammberger (Hg.), Aus des Herrn de Blainville Reisen durch Holland, Deutschland, die Schweiz und Italien die Kapitel Franken, Würzburg 1978 (zugleich Jahresgabe der Fränkischen Bibliophilengesellschaft 1975) S. 23-26, ein Reflex auf die Franken-Geschichte S. 40. 43 Alles 1945 zerstört und nicht wieder hergestellt; die heutige Bezeichnung „Kiliansdom“ ist ebenso neu wie das Patrozinium; weiteres Beispiel in der Wallfahrtskirche Maria Limbach (bei Haßfurt). Im Brixener Dom scheint der Tabernakel des Hochaltars von einem Fürstenhut bekrönt zu sein.
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eine Geschichtslandschaft formiert44, die die historische Dimension der politischen Kultur bildete und zugleich anschaulich machte. Das berühmte und vieldiskutierte historiographische Ausstattungsprogramm der Würzburger Residenz Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Kaisersaal an der Spitze, das übrigens in nicht unwesentlichen Teilen 1945 verloren ging und bislang vom bayerischen Staat anders als viele „unpolitische“ Räume nicht wieder hergestellt wurde, erscheint demgegenüber schon fast als Nachgeschichte. Seit den 1720er Jahren hatten die Würzburger Gelehrten die Geschichte verstärkt akademisch erschlossen, was von den Eliten in der Stadt als Zuwendung zur Vergangenheit auch bemerkt wurde,45 und in fürstlichem Auftrag verschiedene historische Entwürfe und Bücher gefertigt.46 Man überließ die Geschichte in den Schloßbauten also nicht wie in manch anderem geistlichen Staat vielleicht geringerer politisch-historischer Reflexion dem Künstler, wie in Bruchsal,47 oder griff nicht einfach in den Bücherschrank, Abteilung „Allegorische Historie“, wie für den Kaisersaal im Schloß der Fürstäbte zu Fulda. Der dortige Kaisersaal erhielt ein Habsburger-Programm als Deckenfresko, während für die ___________ 44
Zu der großen Bedeutung der kleinen Formen der „Geschichtsschreibung“ wie etwa die Trophaea (wie Anm. 39) vor allem die Mittelalterforschung, zusammenfassend Birgit Studt, Zwischen historischer Tradition und politischer Propaganda. Zur Rolle der „kleinen Formen“ in der spätmittelalterlichen Geschichtsüberlieferung, in: Schriftlichkeit und Lebenspraxis im Mittelalter. Erfassen, Bewahren, Verändern, hg. von Hagen Keller/Christel Meier/Thomas Scharff (Münstersche Mittelalter-Schriften 76), München 1999, S. 203-218, hier S. 205; mehrere Fallbeispiele: Jarosáaw Wenta (Hg.), Die Geschichtsschreibung in Mitteleuropa. Projekte und Forschungsprobleme (Subsidia historiographica 1), Thorn 1999, und Hans-Werner Goetz (Hg.), Hochmittelalterliches Geschichtsbewußtsein im Spiegel nichthistoriographischer Quellen , Berlin 1998. 45 Würzburgische Chronik des Domvikars Johann Andreas Geissler 1729-1773, Handschrift HV Ms. fol. 205 im Staatsarchiv Würzburg, hier fol. 9v (retrospektiv). 46 Zusammenfassend zuletzt Johannes Erichsen, Kaiserräume – Kaiserträume. Forschen und Restaurieren in der Bamberger Residenz. Begleitbuch zur Ausstellung in der Bamberger Residenz, veranstaltet von der Bayerischen Verwaltung der Staatlichen Schlösser, Gärten und Seen, München 2007, hier S. 194-197 (Johannes Erichsen); Erich Schneider, „glorie und nutzen“. Tiepolos Fresken in der Würzburger Residenz als Plädoyer für die Francia orientalis, in: Nachdenken über fränkische Geschichte, hg. von Erich Schneider (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte IX/50), Neustadt a. d. Aisch 2005, Peter Stephan, Nicht nur „Europas schönster Pfarrhof“. Die Würzburger Residenz als Monument der Schönbornschen Reichsidee, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 65 (2005) [2007], S. 59-103, und Jarl Kremeier, „Der königlich vorplatz, so in 4eck zu bringen“. Bemerkungen zu Lage und Gestaltung des Vorplatzes der Würzburger Residenz, Barock in Mitteleuropa. Hellmut Lorenz zum 65. Geburtstag (Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte Bd. 55/56), Wien/Köln/Weimar 2007, S. 69-81. 47 Johann Zick, Unterthänigstes Denckmahl der schuldigsten Danckbarkeit bestehend in einem kurtz verfasten Historischen Begriff, des Ursprungs, Wachsthums und gegenwärtig-beglücktesten Zustandes des Bistums Speyer [...], Bruchsal [1756].
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Ecken Personifikationen der vier Weltreiche vorgesehen waren.48 Deren Standorte blieben indes leer: Offensichtlich hatte man angesichts des nahenden Aussterbens der Habsburger den fatalen Zusammenhang, den die Symbole ergäben, bemerkt.
III. Nachdem eine eigene politische Kultur und Identitätsbildung, und für diese im zweiten Querschnitt eine historische Dimension festgestellt wurde, kann nun im letzten Schritt überprüft werden, ob der geistliche Staat am AusnahmeBeispiel des Herzogtums Franken auch tatsächlich wahrnehmbar im politischen Reichssystem agierte, also nicht nur als kulturelle Fußnote präsent war. Eine günstige Gelegenheit zur Prüfung der Außenpolitik und der militärischen Fähigkeiten des Hochstifts bietet der Siebenjährige Krieg, als der Überfall Preußens auf Kursachsen das Reich auf die Probe stellte.49 Der damalige Würzburger Fürstbischof Adam Friedrich von Seinsheim war bekanntlich der erste Fürst, der die sich abzeichnende diplomatische Revolution vollzog. 1755 noch mit Kur-Braunschweig über einen Subsidienvertrag verhandelnd, entschied er sich im Sommer des Folgejahres für den Wechsel zu Österreich, eine langjährige Würzburger Bündniskonstellation aufgebend, da ab Juni 1756 durch ein Schreiben von Kaunitz aus Wien die neue Lage deutlich geworden war. Bis zum Spätsommer 1756 war der Wechsel vollzogen und waren dem Wiener Hof zwei Regimenter zugesagt, während schon die ersten Gerüchte vom preußischen Vorgehen in Sachsen eintrafen.50 ___________ 48 Erwin Sturm, Die Bau- und Kunstdenkmale der Stadt (Die Bau- und Kunstdenkmale des Fuldaer Landes 3), Fulda 1983, S. 420-425. 49 Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648-1763 (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte. Zehnte, völlig neu bearbeitete Auflage, Bd. 11), Stuttgart 2006, S. 396-442; Alois Schmid, Würzburg und Kurbayern im 18. Jahrhundert. Unter besonderer Berücksichtigung des Briefwechsels der Brüder Seinsheim, in: Wittelsbach und Unterfranken, hg. v. Ernst Günther Krenig, Würzburg 1999, S. 58-71, S. 58 mit einem Plädoyer für eine Historiographie der „Außenpolitik“ der kleinen Staaten. 50 Die im Staatsarchiv Würzburg gesammelten reichen Archivalien, verzeichnet im Repertorium Würzburger Kartons, hier Auswärtige Angelegenheiten Bd. 15/XXIX s. v. Siebenjähriger Krieg sind 1945 überwiegend verbrannt; verwendet noch von: Harald Ssymank, Fürstbischof Adam Friedrich von Seinsheims Regierung in Würzburg und Bamberg (1755-1779), phil. Diss. (masch.), Würzburg 1939; Wilhelm Hofmann, Die Politik des Fürstbischofs von Würzburg und Bamberg Adam Friedrich von Seinsheim während des Siebenjährigen Krieges, phil. Diss. München 1903; in großem Ausmaß dürfte auch darauf zurückgegriffen haben: Johann Ferdinand Huschberg, Die drei Kriegsjahre 1767, 1757, 1758 in Deutschland, hg. v. Heinrich Wuttke, Leipzig 1856. Für die anderen Stände: Richard Rüthnick, Die Politik des Bayreuther Hofes im siebenjährigen Kriege,
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Das Hochstift Würzburg war damals der einzige armierte Stand des fränkischen Reichskreises, was von den traditionell den Bischöfen opponierenden Zollern-Markgrafen als bedrohlich empfunden wurde.51 Zugleich war dies eine Würzburger Besonderheit unter den geistlichen Staaten52, die in der Regel nur ihren Beitrag zur Reichsarmee leisteten oder sich wie im Falle Lüttichs durch Geldzahlungen ganz von der Truppenstellung freikauften. Die Aufstellung und das Lager der beiden Regimenter in der Residenzstadt geriet zu einem Volksund Medienereignis: Die ganze Stadt, so der zeitgenössische Chronist, bewunderte die „schöne kriegsrüstung“.53 Dem Württemberger Herzog dagegen waren seine Haustruppen bei der Musterung desertiert, auch ein Medienereignis.54 Die Truppen waren außerdem militärisch in sehr gutem Zustand, wie ihre Begutachtung durch die Franzosen vor der Schlacht von Roßbach 1757 ergab. Nur die Darmstädter Haustruppen erhielten ein besseres Prädikat – aber Darmstadt war bankrott.55 Das französische Urteil erwies sich in der Schlacht von Roß___________ vornehmlich nach archivalischen Quellen dargestellt, in: Archiv für Geschichte und Altertumskunde von Oberfranken 22/3 (1905), S. 118-294; Otto Brunner, Die politische Stellung des fränkischen Reichskreises im Siebenjährigen Krieg, phil. Diss. Erlangen 1965; Bernhard Sicken, Leitungsfunktionen des Fränkischen Reichskreises im Aufklärungszeitalter, in: Wolfgang Wüst (Hg.), Reichskreis und Territorium. Die Herrschaft über der Herrschaft? (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 7), Stuttgart 2000, S. 251-278; zu Seinsheim speziell noch Burkard von Roda, Adam Friedrich von Seinsheim. Auftraggeber zwischen Rokoko und Klassizismus (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte VIII/6/Sonderband), Neustadt a. d. Aisch 1980; zur Bamberger Bischofswahl Seinsheims Johannes Burckhart, Abschied vom Religionskrieg. Der Siebenjährige Krieg und die päpstliche Diplomatie (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 61), Tübingen 1985; Helmut Neuhaus, Das Reich im Kampf gegen Friedrich den Großen. Reichsarmee und Reichskriegsführung im Siebenjährigen Krieg, in: Bernhard R. Kroener (Hg.), Europa im Zeitalter Friedrichs des Großen (Beiträge zur Militärgeschichte 26), München 1989, S. 213-243; unentbehrlich: Artur Brabant, Das Heilige Römische Reich teutscher Nation im Kampf mit Friedrich dem Großen, 3 Bde., Berlin/Dresden 1904-1931 (Neudruck Bad Honnef 1984). Titel der Einzelbände: Joseph Friedrich, Herzog zu Sachsen-Hildburghausen, des Heiligen Römischen Reiches teutscher Nation Generalissimus; Die Reichspolitik und der Feldzug in Kursachsen 1758; Der Kampf um Kursachsen 1759. 51 Rüthnick (wie Anm. 50), S. 165. 52 Heeresgeschichtliche Abtheilung des k. und k. Kriegs-Archivs (Hg.), Oesterreichischer Erbfolge-Krieg 1740-1748, Bd. 1/1, Wien 1896, S. 603. 53 Geissler (wie Anm. 45), fol. 142v. 54 Peter H. Wolson, Violence and the rejection of authority in eighteenth-century Germnay. The case of the swabian mutinies in 1757, in: German history 12 (1994), S. 126. 55 Lothar Frhr. v. Thüna, Die Würzburger Hilfstruppen im Dienste Österreichs 17561763, Würzburg 1893 (Reprint Bad Honnef o. J.), hier S. 59; Großer Generalstab. Kriegsgeschichtliche Abt[h]eilung II. Der siebenjährige Krieg 1756-1763 (Die Kriege Friedrichs des Großen [...]), 12 Bde., Berlin 1901-1913, Bd. 5, S. 219, S. 221, S. 225; Brabant (wie Anm. 50), Bd. 3, S. 540.
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bach (Würzburg: Bataille von Weißenfels56) als gerechtfertigt; denn das hier eingesetzte Regiment Blau-Würzburg scheint als einziges seine militärische Disziplin zu keinem Zeitpunkt verloren zu haben. Der Abzug durch Erfurt hindurch erfolgte mit klingendem Spiel.57 Ihre Feuertaufe hatte das Regiment samt etlichen Kreisverbänden bereits zuvor bestanden. Angesichts der militärstrategisch bedeutenden Rolle des fränkischen Kreises an der Grenze zu Sachsen und wohl auch bereits der politischen Rolle des Fürstbischofs Seinsheim, der unterdessen zum Bamberger Fürstbischof und damit zum Direktor des fränkischen Kreises gewählt worden war, hatte Friedrich II. von Böhmen aus ein Freikorps nach Franken geschickt, um die Kreisstände zu erschrecken, gar davon abzuhalten, ihre Truppen in das bei Kitzingen geplante Lager der Reichsexekutionsarmee zu senden. Tatsächlich wurden sowohl Nürnberg wie Kurbayern in heillose Verwirrung gestürzt und blamierten sich, indem sie mit dem marodierenden preußischen Obersten von Mayr Vereinbarungen abschlossen. Der Ansbacher Hof floh in das stark befestigte Würzburg, wo der Erbprinz (ein Bewunderer des Preußenkönigs) inkognito um Quartier zu bitten hatte.58 Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth, die Lieblingsschwester Friedrichs II., meinte dazu, der Ansbacher begebe sich in das Würzburger Gefängnis, das er bei einem Gesinnungswandel (im Sinne der hohenzollernschen Familiensolidarität) nicht mehr verlassen dürfe.59 Von Würzburg aus nun sandten der Herzog-Bischof und der kaiserliche Kreisgesandte den Preußen die sich sammelnden fränkischen Truppen entgegen, die diese in Vach bei Fürth stellten und zu einer ziemlich kopflosen Flucht zwangen (9. bis 10. Juni 1757). Juristisch war das Vorgehen prekär gewesen, denn schließlich hätte es eines Befehls aus Wien bedurft. Der Erfolg heiligte indes die Mittel: Der erste militärische Erfolg der gegen Preußen Verbündeten, rund zehn Tage vor Kolin, wurde vom kaiserlichen Hof begeistert aufgenommen. Der kommandierende Würzburger Johann Ferdinand Balthasar Kolb von Rheindorf wurde zum neuen Alexander erklärt und Seinsheim unsterblicher
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Geissler (wie Anm. 45), fol. 147v f. Großer Generalstab (wie Anm. 55). 58 Geissler (wie Anm. 45), fol. 143v. 59 Burrell, Thoughts for enthusiasts at Bayreuth [4]. Unpublished Journal „Voyage d’Italie“ and sixty unpublishes letters of the margravine of Bayreuth to Frederick the Great [...], London 1891, hier S. 116. Die spätere Ausgabe des Briefwechsels der Markgräfin Wilhelmine mit ihrem Bruder in Berlin (Friedrich II., Wilhelmine von Bayreuth [Briefe], Bd. 1: Jugendbriefe, hg. v. Gustav Berthold Volz, dt. v. Friedrich von OppelnBronikowski; Bd. 2: Briefe der Königszeit, Leipzig/Berlin 1924-1926) ist für politische Fragen nicht brauchbar. Volz kürzte alles Einschlägige weg. 57
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Ruhm bescheinigt.60 Kolb übrigens beendete seine militärische Karriere als Kommandant des durch die Reichsarmee 1759 befreiten Dresden. Weitere Militaria müssen nicht mehr ausgebreitet werden: Im Grundsatz ist klar geworden, daß auch ein geistlicher Staat militärisch durchaus bestehen konnte, was im Falle Würzburgs heißt, in der Lage zu sein, mit allen anderen Reichsständen unterhalb der beiden Großmächte symbolisch und faktisch konkurrieren zu können: Mit den Pfalzbayern wolle er es militärisch schon aufnehmen, ließ der Fürstbischof 1802 seinen wichtigsten Diplomaten wissen, als sich das Ende des Staats abzeichnete, wenn sich nur Preußen und Frankreich nicht einmischten.61 Dem Militärwesen im Krieg sollte nicht nur im Frieden eine hochrangige Diplomatie und eine dauernde Vertretung in den Gremien des Reichs entsprechen. Das Register des Werks über den Reichshofrat von Oswald von Gschließer zeigt, daß nahezu jederzeit ein Würzburger Intimus in diesem wichtigen Gremium vertreten war.62 Zur Zeit des Siebenjährigen Krieges war es Egid Valentin Felix von Borié63, der jüngst als Verfasser einer Schrift identifiziert wurde64, die Preußens Zerschlagung forderte, von der nach Meinung der Würzburger Räte auch das katholische Franken durch Gebietsgewinne profitieren sollte65; ferner gab es in Wien zwei weitere Würzburger Agenten und zeitweise noch einen Spezialgesandten.66 In Regensburg war Würzburg durch den Domherrn Johann Philipp Karl Anton von Fechenbach (1708–1779) ebenso hochrangig vertreten; er sandte auch Berichte aus München nach Würzburg und vertrat schließlich eine ganze Reihe Reichsstände in Regensburg.67 Er kann als der eigentliche Gegenspieler des preußischen Gesandten Erich Christoph Freiherr von Plotho gelten, der Berlin darauf hinwies, daß der Bamberg-Würzburger ___________ 60
Thüna (wie Anm. 55), S. 21, S. 24; vgl. auch Theodor Bitterauf, Die kurbayerische Politik im siebenjährigen Kriege, München 1901, S. 95. 61 Leo Günther, Fechenbach, Georg Karl von. Fürstbischof von Würzburg 17491808, in: Lebensläufe aus Franken, Bd. 4, hg. von Anton Chroust, (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte VII/4), Würzburg 1930, S. 133-141, hier S. 140. 62 Oswald v. Gschließer, Der Reichshofrat (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte des ehemaligen Österreich 33), Wien 1942. 63 Eduard Wertheimer, Zwei Schilderungen des Wiener Hofes im XVIII. Jahrhundert, in: Archiv für österreichische Geschichte 62 (1881), S. 199-222, hier S. 209: die Kaiserin befolge häufig seinen Rat. 64 Harm Klueting, Die Lehre von der Macht der Staaten (Historische Forschungen 29), Berlin 1986, S. 278 f. 65 Promemoria abgedruckt bei Hofmann (wie Anm. 50), S. 97 f. 66 Staatsarchiv Würzburg, Repertorium 15/XXIX (wie Anm. 50). 67 Alfred Wendehorst, Das Bistum Würzburg 6: Die Benediktinerabtei und das adelige Säkularkanonikerstift St. Burkard in Würzburg (Germania Sacra NF 40). Berlin/New York 2001, S. 330.
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Fürstbischof die treibende Kraft im Widerstand des Reichs sei, während die Kurfürsten dem Frieden und der Neutralität zugeneigt wären68. Dieses Engagement trug dem katholischen Franken zunächst eine große Konferenz von Diplomaten und Offizieren unter Leitung des Fürstbischofs im Spätherbst 1757 in Werneck ein, die – letztlich erfolglos – die Reform der Reichsarmee betrieb. Der Oberbefehlshaber Prinz Hildburghausen mußte auf Druck Seinsheims seinen Hut nehmen und wurde durch den frisch konvertierten Prinzen Friedrich Michael von Zweibrücken ersetzt. Die führende Position des Fürstbischofs verdroß naturgemäß Friedrich II., der noch drei weitere Male preußische Truppen vor allem ins Bamberger Territorium einmarschieren ließ, ohne politisch etwas und militärisch allzuviel auszurichten. Die Einfälle hatten allerdings durchwegs eine hohe symbolische Funktion und entsprechende Wirkung. Als im Frühjahr 1759, auf dem Höhepunkt der militärischen Krise des Reichs, die vollgeladenen Würzburger Staatskutschen Regensburg Richtung Süden passierten, packten in Panik sogleich die meisten Diplomaten, um sich vor den vermeintlich anrückenden Preußen in Sicherheit zu bringen.69 Die besondere Rolle ihres Landesherrn nahmen auch die Würzburger wahr: Abreise oder Flucht und schließlich glückliche Wiederankunft Seinsheims in seiner Residenzstadt kommentierte der Chronist, ein Würzburger Domvikar, leicht ironisch: „magna munera, magna secum ferunt onera.“70 Die Lasten des Siebenjährigen Krieges hat das Hochstift, von dem der Fürstbischof auch die verbündeten Franzosen mit Erfolg fernhielt, relativ leicht verkraftet. Wiewohl keine territorialen Gewinne verzeichnet werden konnten – es blieb ja alles beim Alten –, hatte das Hochstift militärisch und diplomatisch nach innen und außen bewiesen, daß es als ernstzunehmender Mitspieler gelten durfte. Selbst der Spötter Karl Heinrich von Lang gestand ihm noch retrospektiv zu, ein (Staats-)Schiff zu sein, das freilich 1797 angesichts der Ereignisse schon stark wankend geworden war.71 1805 wurde das Hochstift dann als weltliches Großherzogtum der toskanischen Habsburger für ein knappes Jahrzehnt nochmals revitalisiert.
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Brabant (wie Anm. 50), Bd. 3, S. 202. Ebd., S. 216. 70 Geissler (wie Anm. 45), fol. 159: Die Wahl des Lateinischen zeigt kontextuell Ironie an. 71 Karl Heinrich von Lang, Memoiren, hg. von Hans Hausherr, Stuttgart 1957, S. 166: Kontext ist Rastatt, Tagung einer Reichsdeputation. 69
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IV. Das Hochstift Würzburg als Herzogtum Franken stellt, wie schon eingangs betont, kein Durchschnittsbeispiel für einen geistlichen Staat dar. Die Ausbildung einer individuellen politischen Kultur in Theorie, Geschichte und Praxis nach innen und außen wurde durch die wirtschaftliche Potenz und den geopolitischen Spielraum des Hochstifts, das von keinem übermächtigen Nachbarn beherrscht wurde, begünstigt. Ähnliches gilt jedoch für das östlich benachbarte Hochstift Bamberg, dem wenigstens einige vergleichende Sätze gewidmet seien. Das Hochstift Bamberg wurde bekanntlich 1007 von Kaiser Heinrich II. gegen den erbitterten Widerstand des Würzburger Bischofs und gegen das Murren vieler süddeutscher Kirchen gegründet72, die sich gleichsam beraubt sahen73. Dem dialektischen Prinzip folgend, müßte Bamberg in seiner politischen Kultur vor allem hinsichtlich der historischen Dimension dem säkularen Würzburg ganz entgegengerichtet erscheinen. Die tumultuarischen Bamberger Gründungsereignisse wurden bald zu einem Narrativ vom heiligen Kaiserpaar umformuliert, eine Geschichte, die überaus erfolgreich war. Setzte Würzburg auf die Karte des Herzogtums, so propagierte Bamberg den Kult des heiligen Paars, das bis heute ikonographisch in den Kirchen ebenso präsent ist wie im Westen die echterzeitlichen Bauinschriften. Der Bamberger Staatskult ist ein Heinrichs- und Kunigundenkult, eine akademische Historiographie bildete sich anders als in Würzburg nicht heraus, wie schon im 18. Jahrhundert auffiel.74 Die Neuformulierungen der Viten Kaiser Heinrichs zu Bamberg wie Bischof Burkards in Würzburg jeweils im 12. Jahrhundert scheinen schon einen ersten Hinweis auf die völlig konträre politische Kultur zu geben, die sich wohl in bewußter Abgrenzung etablierte. Hier das heilige Bamberg, das die Rechtmäßigkeit und Einträchtigkeit seiner Gründung beschwor, dort die fränkische Res publica.75 ___________ 72 Vgl. zuletzt Ulrike Siewert, Das Bamberger Kollegiatstift St. Stephan (Historischer Verein Bamberg Schriftenreihe Bd. 42), Bamberg 2007. S. 18-33; 1000 Jahre Bistum Bamberg. Katalog, hg. von Luitgar Göller, Petersberg 2007. 73 Eine Augsburger Stimme aus dem 13. Jahrhundert: Peter Geffcken/Helmut Zäh, Bischof Brun und die Gründung des Stifts St. Moritz, in: Gernot Michael Müller (Hg.), Das ehemalige Kollegiatstift St. Moritz in Augsburg (1019-1803), Lindenberg 2006, S. 123-151, hier S. 142 f. 74 Johann Peter Ludewig, Volumen primum, complectens scriptores rerum episcopatus Bambergensis, Frankfurt/Leipzig 1718 (Novum Volumen scriptorum rerum Germanicarum, plurimam partem [...] Tomus I [...]), Vorrede. 75 Dirk Schlochtermeyer, Heiligenviten als Exponenten eines „zeitlosen“ Geschichtsbewußtseins, in: Goetz (Hg.) (wie Anm. 44), S.161-177, hier S. 172 f., S. 175 f.
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Im 18. Jahrhundert war die Wahrnehmung von außen dem aufklärerisch gewandelten Werthorizont entsprechend: Die Bamberger galten als bigotte Frömmler, denen im Glaubenswahn alles zuzutrauen war: Der borussische Publizist von Eicken hat 1878 aus den Kurtrierer Kriegsakten mit offensichtlicher Sympathie ein Gerücht übernommen, das sich nach dem zweiten preußischen Einfall 1758 in Franken in der Reichsarmee verbreitete: „Die frommen Bamberger aber glaubten sich für den Schrecken, den ihnen die Soldaten des ketzerischen Preußenkönigs eingejagt hatten, dadurch am besten revanchieren zu können, das [so] sie nach dem Abmarsche der Preußen, einige ihrer protestantischen Mitbürger plünderten und todtschlugen. ,Was hieraus aber entstehen dörffte, davon wird unterschiedlich gesprochen‘.“76 Ein Zeitgenosse ließ drukken: „Die Bamberger dachten unter dem Schutz der H. Cunigunda die Preussen abzutreiben.“ Später dann vertrauten sie jedoch ihren „Schutzgöttern“ nicht mehr und gaben den Widerstand auf.77 Man bedenke, daß Würzburg und Bamberg damals unter demselben Fürsten standen. Die Einschätzung beider Hochstifte durch Fremde fällt als Folge der von ihnen ausgeprägten politischen Kultur denkbar unterschiedlich aus. Das fränkische Herzogsschwert Würzburgs und der Domschatz Bambergs mit seinen vielen Geschichten um Heinrich und Kunigunde, die mit ihm verknüpft waren, sind zum Teil bis heute Symbole dieser staatlichen Identität78, wie sie geistliche Staaten im Heiligen Römischen Reich auszuprägen vermochten. Die politische Kultur der geistlichen Staaten variierte also trotz ähnlicher Rahmenbedingungen beträchtlich. Diese bisher kaum erforschte Individualität erklärt jedoch meines Erachtens kaum, warum die geistlichen Staaten trotz der Warnungen ihrer weitsichtigen Diplomaten, trotz des Kampfes einzelner Staaten79 und trotz des Interesses der bürgerlichen Elite in diesen Staaten an deren Erhalt untereinander zu keinem gemeinsamen Handeln, zu keinem Widerstand gegen ihre Beseitigung fanden. Zunächst ist aus dem Horizont der frühen Neuzeit heraus darauf zu verweisen, daß die geistlichen Staaten neben der weltlichen Hierarchie, die sich in der Sitzordnung auf dem Reichstag ausdrückte, un___________ 76
Heinrich von Eicken, Die Reichsarmee im Siebenjährigen Krieg, in: Preußische Jahrbücher 41 (1878), S. 1-14, S. 113-135, S. 248-267, hier S. 11. 77 [Johann Christoph Adelung], Denkwürdigkeiten Friedrichs des Grossen, itzt regierenden Königs in Preussen, o. O., 13 Teile, 1757-1764, hier T. 5, S. 26; T. 11, S. 173. 78 Frank Uhrmann, Das Herzogsschwert der Fürstbischöfe von Würzburg (Mainfränkische Studien 76), Würzburg 2007. Die Arbeit hilft auch die billigerweise zu stellende Frage anzureißen, wo denn die politische Kultur der geistlichen Staaten, die hier ja behauptet wird, im 19. und 20. Jahrhundert geblieben sei; Renate BaumgärtelFleischmann, Die Domschatz-Verzeichnisse des Subkustos Graff, in: Dies. (Hg.), Ein Leben für den Bamberger Dom. Das Wirken des Subkustos Graff (1682-1749) (Veröffentlichungen des Diözesanmuseums Bamberg 11), Bamberg 1999, S. 79-123. 79 Bitterauf (wie Anm. 60), S. 132, S. 136-138, S. 146, zu Fechenbach; Günther, Fechenbach (wie Anm. 61).
Studien zur politischen Kultur des zölibatären Staats
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tereinander auch in eine kirchliche Hierarchie verstrickt waren. Konnte man erstere mit vielem Streit unter den wirtschaftlich und politisch führenden Mainzer Suffraganen im Laufe der Zeit durch Alternationen weitgehend stabilisieren, blieb letztere damit unvereinbar – hier fehlte dem Zeremoniell faktisch eine dritte Dimension des Raumes, um einen Kompromiß zu erzielen.80 Ein 1628 geplantes großes Bischofstreffen, von Kurbaiern initiiert, scheint an den Rangstreitigkeiten der Bischöfe gescheitert zu sein81, so daß die deutsche Bischofssynode von 1848 als Premiere zu gelten hat. Vorher, als geistliche Reichsfürsten, fanden die Bischöfe anscheinend zu keinem gemeinsamen politischen Handeln. Die Dynastien konnten dagegen letzten Endes immer ein Mindestmaß an Solidarität untereinander wahren und retteten so das feudale System ins 19. Jahrhundert. Neben der Unvereinbarkeit zweier historisch-politischer Hierarchien als Zeitgrund mag man noch einen prinzipiellen politischen Grund zur Resignation nennen. Möglicherweise ahnten oder wußten die adeligen Prälaten, daß das zölibatäre System anders als ein dynastisches keine Kooptation bieten kann, keine Einheirat, kein teilbares symbolisches Kapital. Sie hatten einem Talleyrand, einem Bonaparte nichts zu bieten. Das war letztlich das Todesurteil des zölibatären Staates.
___________ 80 Vgl. Helmut Neuhaus, Der Streit um den richtigen Platz. Ein Beitrag zu reichsständischen Verfahrensformen in der Frühen Neuzeit, in: Vormoderne politische Verfahren, hg. v. Barbara Stollberg-Rilinger (Zeitschrift für historische Forschung Beiheft 25), Berlin 2001, S. 281-302. 81 Paul Warmbrunn, Das Bistum im 17. Jahrhundert, in: Friedheim Jürgensmeier (Hg.), Das Bistum Worms. Von der Römerzeit bis zur Auflösung 1801 (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte 5). Würzburg 1997, S. 194-224, hier S. 199 f.
„Der Arme König“ Dom Miguel I. (König Michael I.) von Portugal im Exil*
Von Helmut Castritius, Braunschweig/Darmstadt Der Reichsverfassung und Reichspolitik, den Reichsständen und überhaupt der Verfaßtheit des frühneuzeitlichen Alten Reichs galt und gilt das Hauptinteresse des Jubilars. Dazu liegen als Erträge intensiver, quellengesättigter Forschung grundlegende Arbeiten von ihm vor1, die auch über den Wissenschaftsbetrieb an den Hochschulen und Forschungsinstitutionen hinaus weitere Kreise erreichten und erreichen und in denen die Summe wissenschaftlicher Erkenntnis benutzerfreundlich gezogen wird. Zudem war es dem Jubilar mit Blickrichtung auf den Geschichtsunterricht stets ein Anliegen, wesentliche historische Strukturen, Prozesse und Bedingungsfaktoren in ihren sozialen, ökonomischen und politischen Bedingtheiten zu thematisieren und in Form einer forschendfragenden Untersuchung als vertiefende Handreichung für die Lehrerhand darzustellen2. Daß für Lehrer und Schüler bei der Behandlung der Französischen Revolution das Thema Absolutismus eine wichtige, ja zentrale Rolle einnehmen muß, bedarf keiner Begründung, und entsprechend erörterte der Jubilar in dem Lehrerhandbuch „Herrschaft – Gesellschaft – Wirtschaft“ in einer faßlich klaren und unprätentiösen Sprache Staatsidee und Herrschaftssystem des Abso___________ * Folgenden Personen (und Institutionen) habe ich für freundliche Hilfestellung und Unterstützung sehr zu danken: Dr. K.-P. Decker, Büdingen; Dr. A. Dieterle, Kleinheubach; Prof. Dr. E. Franz, Hess. Staatsarchiv Darmstadt; Herrn u. Frau Immelt, Hess. Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt; Martina Heine, Staatsarchiv Wertheim; G. Kolb, Langenselbold; Helgard Somoza, Zeilhard; L. F. Marques da Gama, Staatsarchiv Lissabon. 1 Das Zeitalter des Absolutismus. 1648-1789 (Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellungen Bd. 5), Stuttgart 1997; Das Reich in der Frühen Neuzeit, Enzyklopädie Deutscher Geschichte Bd. 42, München 2. Aufl. 2003. 2 Helmut Castritius/Friedrich Lotter/Hermann Meyer/Helmut Neuhaus, Herrschaft – Gesellschaft – Wirtschaft. Geschichtsbetrachtung unter didaktischem Aspekt. Darstellungsband, Donauwörth 1973; dies., Quellenband II, Donauwörth 1973; Helmut Neuhaus, Religiöse Bewegungen und soziale Umbrüche. An der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Kurs: Geschichte/Politik. Unterrichtsmaterialien für die Sekundarstufe II, Düsseldorf 1980.
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lutismus3. In der Diskussion über Charakter und Inhalt des in Europa praktizierten Absolutismus bezog er dabei klar Stellung, indem er die Existenz einer durchorganisierten Herrschafts- und Befehlsordnung verneinte und bezüglich der Deutungsalternative totaler oder disziplinierter Staat die soziale Disziplinierung als das wesentliche Merkmal des absolutistischen Staates herausarbeitete4. Es mag auch unter Historikern nicht überall bekannt sein, daß einer der letzten Vertreter einer durch keine Konstitution eingeschränkten monarchischen Herrschaft immerhin knapp ein Viertel seiner Lebenszeit (1802-1866) im Exil in der Region am unteren Main verbringen mußte und dort auch seine für lange Zeit letzte Ruhestätte fand, ehe seine sterblichen Überreste 1967 in die königliche Grablege in Lissabon überführt wurden. Es handelt sich um Dom Miguel (Michael) I., König von Portugal von 1828 bis1834, dessen Beharren auf den uneingeschränkten königlichen Prärogativen in Portugal einen Bürgerkrieg auslöste, der erst mit der Vertreibung Dom Miguels endete5. Die Exilsperiode nach Sturz und Vertreibung aus Portugal im Jahre 1834 und der dadurch bedingte Aufenthalt in Italien und Rom haben immerhin eine wenn auch knappe Darstellung gefunden6, der Rückzug in die Mainregion hingegen, der ein endgültiger werden sollte, hat kaum Aufmerksamkeit hervorgerufen, wenn man einmal vom Echo auf seine Hochzeit mit der Prinzessin Adelheid von LöwensteinWertheim-Rosenberg in Kleinheubach am 24. September 1851 absieht7. Anders sieht es allerdings in Bezug auf die Beschäftigung mit Miguels erster Lebenshälfte aus. Seine Kindheit und Jugend mit der königlichen Familie in Brasilien, ___________ 3
Darstellungsband (wie Anm. 2), bes. S. 215-223, Quellenband II, S. 27-44. Darstellungsband (wie Anm. 2) S. 216-218; zur Diskussion über die Verwendbarkeit und Angemessenheit des Absolutismusbegriffs vgl. Ernst Hinrichs, Fürsten und Mächte. Zum Problem des europäischen Absolutismus, Göttingen 2000, bes. S. 19-36, S. 233-250. 5 Vgl. den – allzu knappen – Überblick über die Kämpfe und Bürgerkriege in Portugal nach dem Ende der französischen Fremdherrschaft von Richard Konetzke, in: Handbuch der europäischen Geschichte Bd. 5, hg. v. Walter Bussmann, Stuttgart 1981, S. 925-929; die europäische Dimension von Krieg, Bürgerkrieg und Konsolidierung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ist ausgezeichnet herausgearbeitet in dem Urban-Taschenbuch Bd. 583 von Thomas Nicklas, Das Haus Sachsen-Coburg. Europas späte Dynastie, Stuttgart 2003-123, S. 108-123, (S. 223 f. die weiterführenden Literatur). 6 In: Historisch-politische Blätter 61, München 1868: Beiträge zur neueren Geschichte der pyrenäischen Halbinsel. Zweiter Beitrag: Dom Miguel in der Verbannung (17 S.); die mit der Familie Görres in Verbindung stehenden Historisch-politischen Blätter galten als das bedeutendste Organ der gebildeten deutschen Katholiken. Von wenigen Ausnahmen abgesehen werden keine Verfasser der einzelnen Artikel genannt. 7 Die Leipziger „Illustrirte Zeitung“ Nr. 435 vom 1.11.1851 berichtete über diese Fürstenhochzeit mit einem Bild des Ehepaars. In einer Sonderbeilage („Michaelismesse Miltenberg“) des „Boten vom Untermain“ vom 23.8.1991 erinnerte Alf Dieterle in einem ganzseitigen Beitrag an die Vermählungsfeierlichkeiten in Schloßkapelle und Schloß Kleinheubach. 4
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die Rückkehr mit ihr nach Portugal im Jahre 1821 und die zeitweise zu Staatsstreichen und regelrechten Bürgerkriegen eskalierenden politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bis zum endgültigen Sturz Miguels I. im Jahre 1834 sind immer wieder Thema des Meinungsstreits auch unter Historikern gewesen. Neben der schon zeitgenössischen, vor allem von Staatsrechtlern geführten wissenschaftlichen Diskussion ist die Biographie Miguels I. aus der Feder des Luxemburger Pädagogen und Historikers Arthur Herchen (18501931)8 aus dem Jahre 1908 hervorzuheben. Ihr liegt ein umfangreiches, vor allem handschriftliche wie gedruckte portugiesische Quellen berücksichtigendes Studium der damaligen Situation9 zugrunde, sie endet allerdings mit der letztmaligen Rückkehr Miguels I. nach Portugal (Mitte Februar 1828). Vielleicht hatte der Autor beabsichtigt, die Regierung Miguels I. und seine letzte Lebensperiode ab 1834 zu bearbeiten und deshalb seine 1908 erschienene Biographie als Band 1 deklariert, aber aus unbekannten Gründen davon Abstand genommen (obwohl Herchen erst 1931 starb). Herchen bekennt auch offen, daß die Eruierung der Gründe und Hintergründe der portugiesischen Thronwirren seit 1821 und eine objektive Beurteilung der Rolle, die Miguel I. dabei spielte, auch im „nationalen moralischen Interesse für das Luxemburger Volk“ liege10, was sich aus der Tatsache erklärt, daß Miguel I. ein direkter Vorfahr der Luxemburgischen Herrscherfamilie war11. Als sein Hauptanliegen bezeichnet Herchen den Nachweis, daß Miguel I. nach Verfassungsrecht und nach den Zeugnissen der Zeitgenossen der rechtmäßige Erbe der portugiesischen Krone sei und das dessen älterer Bruder – seit 1822 als Dom Pedro I. Kaiser von Brasilien – als Ausländer jeden Anspruch darauf eingebüßt habe12. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stand kaum eine Herrscherpersönlichkeit so in der „Parteien Gunst und Haß“13 wie Dom Miguel. Dies hängt damit zusammen, daß sein Leben nach der Rückkehr aus Brasilien ständig durch Peripetien gekennzeichnet war. Als Oberbefehlshaber des portugiesischen Heeres wurde er nach einem halbherzigen Staatsstreich von seinem Vater König Johann VI. aus Portugal verbannt und in Wien – wo er am 10. November 1824 ___________ 8 Arthur Herchen, Dom Miguel I., König von Portugal. Sein Leben und seine Regierung, Bd. 1, Luxemburg 1908. 9 Vgl. ebd., S. VI f. u. XI. 10 Ebd., S. IX f. 11 Miguels I. Tochter Maria Anna (geb. in Bronnbach 1861, gest. 1942 in New York) war mit Großherzog Wilhelm IV. von Luxemburg (1852-1912, reg. 1905-1912) verheiratet. 12 Herchen (wie Anm. 8) bes. S. 204-214. Damit war nach Herchen auch die Weitergabe der Krone durch Pedro I. (als König von Portugal Pedro IV.) an seine Tochter Maria (II.) da Glória unrechtmäßig und ein Verfassungsbruch. 13 Friedrich Schiller, Wallenstein, Prolog; dieselben Verse stellte Herchen (wie Anm. 8, S. 95) seinem IV. Kapitel voran.
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eintraf – unter die Fittiche Metternichs gegeben14. Dort lebte er wie ein Staatsgefangener und abgeschnitten von jeglichem Informationsfluß, beargwöhnt und bespitzelt von den Agenten und Schergen des allmächtigen Kanzlers15. In dieser Isolation blieb Miguel I. keine andere Wahl als sich den Forderungen Metternichs zu unterwerfen, die Rechte seines Bruders anzuerkennen und am 4. Oktober 1826 einen Eid auf die „Charte“ sowie auf die von den Großmächten getragenen „Wiener Beschlüsse“ abzulegen. Diese Unterwerfung Miguels geschah nicht ohne rechtliche Vorbehalte im Hinblick auf die eigenen Ansprüche auf die Krone, denen allerdings in so weit Rechnung getragen wurde, daß ihm durch ein feierliches Ehegelöbnis und Proklamation16 die noch minderjährige, im Kindesalter stehende Maria (II.) da Glória als zukünftige Gattin und Königin angetraut wurde. Damals mag Miguel I. zunächst auch entgangen sein, daß er nach einem Dekret seines Bruders nach erfolgter Rückkehr nach Portugal nicht die Position des Regenten, sondern die des Statthalters einnehmen sollte17. Entgegen den von Miguel beeideten „Wiener Beschlüssen“ rief eine Ständeversammlung am 11. Juli 1828 den Statthalter/Regenten Miguel zum König Miguel I. aus und leitete damit eine Periode brutaler Auseinandersetzungen und eines regelrechten Bürgerkriegs („Miguelistenkrieg“) ein, an dessen Ende nicht zuletzt durch die der Konstitutionalistenpartei zuteil werdende englische militärische Unterstützung die Vertreibung Miguels I. (am 1. Juni 1834) aus Portugal stand18. Auf den noch im selben Jahr verstorbenen Bruder Miguels I. König Peter IV. (als Kaiser von Brasilien Peter I.) folgte dessen Tochter Maria II. da Glória als die letzte Vertreterin des Hauses Bragança auf den portugiesischen Königsthron19. Noch während der Regierungszeit Miguels I. erschien in Hamburg anonym eine aus zwei Teilen bestehende Schrift eines (wohl wirklichen) Augenzeugen, ___________ 14
Herchen (wie Anm. 8) S. 131-133. Ebd., bes. S. 158-161. Metternichs und Österreichs Interesse an den portugiesischen Verhältnissen rührten zum einen daraus, daß die – damals schon verstorbene – Gattin Dom Pedros I. eine Tochter Kaiser Franz’ I. (als letzter Kaiser des Alten Reichs Franz II.) war. Zum anderen war Metternich jedes Zugeständnis an eine durch eine Konstitution geregelte und eingeschränkte Regierungsform als gegen die Grundprinzipien der „Heiligen Allianz“ gerichtet allein schon verdächtig. Das galt auch für die qua Dekret von Pedro I. (IV.) für Portugal erlassene Carta Constitucional (in der Literatur auch Charte genannt). 16 Herchen (wie Anm. 8) S. 238-245. 17 Ebd., S. 284 f. 18 Vgl. Konetzke (wie Anm. 5) S. 927 f. 19 Mit Marias Gatten Ferdinand und ihren gemeinsamen Nachkommen regierte in Portugal bis zum Umsturz von 1910 das Haus Sachsen-Coburg-Koháry in Portugal, vgl. Nicklas (wie Anm. 5). 15
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deren erster Teil den Charakter einer klassischen Invektive hat20. In Herchens Miguel-Biographie ist sie merkwürdigerweise nicht berücksichtigt; zudem ist eine Identifizierung des Verfassers wohl noch nicht gelungen. Der anonyme Verfasser, der vorgibt, schon den Knaben und Jüngling Miguel in Brasilien – mit Abscheu – erlebt zu haben, behauptet die illegitime Geburt des späteren Königs durch den Ehebruch seiner Mutter (wobei er vorgibt, sogar den richtigen Vater Dom Miguels zu kennen) und macht größtenteils die Politik Wellingtons für das Unglück Portugals verantwortlich21. Der zweite Teil der anonymen Schrift22 offenbart sich als ein 1829 in London gedrucktes und ins Deutsche übersetztes Manifest, in dem mit staats- und verfassungsrechtlichen Argumenten für die Thronrechte Dom Pedros (König Peter IV.) und seiner Tochter Maria da Glória (Königin Maria II.) gestritten und plädiert wird. Die Gegenposition zum Anonymus wurde immerhin einige Jahrzehnte später in den „HistorischPolitischen Blättern“ vertreten, in denen Miguels I. Aufenthalt und Exil in Italien und seine Nähe zum Vatikan und zu Papst Gregor XVI. dargestellt wird23. Als Kronzeugen für ein positives Miguel-Bild wird dort unter anderen der hessen-darmstädtische Prinz Friedrich angeführt24, einer jener nachgeborenen Söhne der zahlreichen Souveräne im Deutschen Bund, die ihr Glück im Militärdienst auswärtiger Mächte zu machen versuchten25. Daß sich Miguel I. nach seiner Vertreibung aus Portugal zuerst nach Italien wandte und viele Jahre in Rom verbrachte, hatte damit zu tun, daß er als treuer Sohn der Kirche und Leitbild für einen katholischen Souverän mit deren uneingeschränkten, d. h. auch materiellen Unterstützung rechnen konnte. Auf diese war er auch deshalb angewiesen, weil er bald nach seiner Flucht seine Abdan___________ 20 Dom Miguel I. Usurpator des portugiesischen Thrones. Ein Beitrag zur neuesten Geschichte Portugals von einem Augenzeugen, Hamburg 1832 (108 S.). 21 Ebd., bes. S. 1, S. 3, S. 21 u. S. 48-51; der anonyme Verfasser schreibt den Namen Wellingtons nur ein einziges Mal aus (S. 21) und benutzt ansonsten lediglich den Anfangsbuchstaben „W“ (an Stelle des ausgeschriebenen Namens folgt dann eine Punktierung); er trägt nach eigenen Angaben die Uniform eines Stabsoffiziers (ebd., S. 30). 22 Ebd., S. 53-108. 23 Wie Anm. 6. 24 Wie Anm. 6, S. 17. 25 Prinz Friedrich von Hessen-Darmstadt (1788-1867) war ein Sohn der Landgräfin, später Großherzogin Luise von Hessen-Darmstadt, stammte nicht von ihrem Gatten Landgraf Ludewig X., später Großherzog Ludewig I., war aber gleichwohl von Ludewig I. legitimiert worden. Prinz Friedrich stand in Diensten verschiedener europäischer Mächte (Österreich, Frankreich) und war russischer und hessischer Titulargeneral. Er reiste viel in Europa umher, kam so auch nach Spanien, Portugal und sogar nach Afrika (Marokko), lebte zeitweilig in Paris und in Genf und konvertierte zum Katholizismus. Auf dieser ‚Schiene‘ dürfte auch seine Verbindung zu Miguel I. zustande gekommen sein (briefl. Mitteilung von E. Franz vom 18.12.2008; vgl. auch Eckhart G. Franz, Das Haus Hessen. Eine europäische Familie, Stuttgart 2005, Urban-Tb. 606, S. 137, Stammtafel).
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kung widerrufen hatte und daraufhin der vom portugiesischen Staat zugesagten Apanage vollständig verlustig gegangen war26. Weshalb er dann zu Beginn der 1850er Jahre Italien verließ und sich zunächst in die Region am Untermain begab, wo die zu Standesherren herabgesunkenen, also nicht mehr souveränen Fürstenfamilien Löwenstein-Wertheim-Rosenberg und Isenburg-Büdingen zu Birstein über umfangreiche Besitzungen verfügten, ergibt einen Sinn, wenn er bereits in Rom seine spätere Ehefrau Adelheid von Löwenstein-WertheimRosenberg kennengelernt hat 27. Auch mag Miguel I. bereits während seines Exils in Wien in Kontakt zu führenden deutschen und österreichischen Adelshäusern gekommen sein28. Für die lange Periode seines letzten Exils (von 1834 bis 1866) allerdings könnte man fast den Eindruck gewinnen, daß er zunehmend das Opfer einer Art Verschwörung des Verschweigens geworden war, wozu seine sich anscheinend steigernde Zurückgezogenheit nach der Abreise aus Italien wie auch seine eigene Mittellosigkeit beigetragen haben werden. Schon in seinem langewährenden italienischen Exil scheint sich Miguel I. kaum noch Hoffnungen auf eine Wiedererlangung der Königswürde in Portugal gemacht zu haben, obwohl das Land unter Maria II. da Glória und ihrem Ehegatten Ferdinand von Sachsen-Coburg-Koháry – seit der Geburt des ersten Sohnes 1837 Titularkönig – ununterbrochen von Machtkämpfen zerrüttet wurde29. Die Machtfrage stellte sich lediglich dergestalt, welche der Verfassungen (die liberale von 1822 oder die von Pedro IV. dekretierte von 1826) die Grundlage der politischen gesellschaftlichen Ordnung bilden sollte. Das absolutistische Modell stand auch in dem als besonders rückständig geltenden Portugal längst nicht mehr auf der Tagesordnung. In der Reklamierung gewisser ihm zustehender Rechte wurde Dom Miguel allerdings unmittelbar vor der bevorstehenden Geburt seines ersten Kindes Maria de las Neves (geb. 5. August 1852 in Kleinheubach) aktiv, indem er sich damals an die europäische Öffentlichkeit wandte. Die frischvermählten Miguel I. und Adelheid von Löwenstein-Wertheim-Rosenberg hatten nach ihrer Hochzeit am 24. September 1851 in der Kapelle des Schlosses Kleinheubach30 zunächst das Isenburgische Schloß in Langenselbold bezogen. Zur Familie der Fürsten von Isenburg-Büdingen bestanden wohl engere Beziehungen seitens ___________ 26
Zum Exil in Italien vgl. wie Anm. 6. Dieser Hinweis findet sich in der Erzählung von Ludwig Storch (wie Anm. 38) über den König im „Schmollwinkel“. 28 Es gab Heiratsverbindungen der Familie Löwenstein-Wertheim-Rosenberg mit den österreichischen Fürstenfamilien Windisch-Grätz und Liechtenstein. 29 Vgl. Nicklas (wie Anm. 5) S. 114-119. 30 Bericht über die Trauung mit Bild des Hochzeitspaars in der Leipziger „Illustrirten Zeitung“ Nr. 435 vom 1.11.1851; vgl. auch Alf Dieterle, Glänzende Uniformen und Sterne verliehen der fürstlichen Vermählung Pracht, in: Bote vom Untermain, Michaelismesse Miltenberg (Sonderbeilage) vom 23.8.1991. 27
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der ‚Löwenstein-Wertheim-Rosenberger‘, auch heiratete einige Jahre später (1859) der Schwager Miguels I., Fürst Karl von Löwenstein-WertheimRosenberg, eine Adelheid von Isenburg-Büdingen zu Birstein. Unter Inanspruchnahme von Vermittlerdiensten ihm noch nahestehender Personen lancierte Miguel I. über eine Pariser Zeitung eine Protestnote, mit der die europäische Öffentlichkeit aufgerüttelt werden sollte. In dem in französischer Sprache geschriebenen, auf den 18. Juni 1852 datierten und im Schloß Langenselbold unterfertigten Text31 macht der Exkönig einen Viererbund („QuadrupelAllianz“)32 für seinen Sturz und seine Verbannung aus Portugal verantwortlich. Unter Verweis auf seine am 20. Juni 1834 in Genua veröffentlichte Protestnote reklamiert Miguel I. ausdrücklich alle persönlichen und politischen Rechte weiter für sich und seine Nachkommen und weist darauf hin, daß er lediglich gezwungenermaßen seinen Wohnsitz in einem fremden Land nehmen mußte. Damit habe sich die Nationalität seiner zu erwartenden Kinder (aus seiner gerade geschlossenen Ehe) nicht geändert, und er werde dafür Sorge tragen, daß sie gemäß den Gefühlen und den Sitten der portugiesischen Nation wie den Prinzipien der katholischen Religion erzogen würden33. Den Hintergrund dieser von Miguel I. als notwendig erachteten Erklärung bildet die seit dem Tode Königs Johanns VI. 1826 hohe Wellen schlagende Auseinandersetzung – die schließlich in einen viele Opfer kostenden Bürgerkrieg einmündete – zwischen Miguel I. und seinem älteren Bruder Pedro IV. ‚dem Kaiser von Brasilien‘ (als Pedro I.). Pedros portugiesischen Thronrechte sind von den ‚Miguelisten‘ vor allem mit dem Argument bestritten worden, Pedro sei durch die Proklamation zum Kaiser von Brasilien (und durch die damit verbundene Loslösung vom portugiesischen Mutterland) zum Ausländer geworden, während nach einem bis in die Frühzeit der portugiesischen Monarchie zurückreichenden und allseits anerkannten Grundsatz (der allerdings durchaus auch gebrochen worden war, man denke an die Herrschaft Philipps II. von Spanien und seiner Nachkommen von 1580 bis 1640) nur ein in Portugal geborener und nach den oben genannten Prinzipien erzogener Prinz (oder Prinzessin) zur Übernahme der Herrschaft legitimiert war. Es ging Miguel I. also hauptsächlich um die Wahrung des Anspruchs seiner Nachkommenschaft auf den portugiesischen Königsthron und weniger um die Behauptung seiner eigenen Ansprüche, an deren Erfüllung er anscheinend selbst nicht mehr glaubte. ___________ 31 Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Wertheim, StAWt-R Lit. D 394. Als einer der Zeugen der Unterzeichnung des Protestschreibens wird der langjährige treue Gefolgsmann Miguels I., der von ihm zum Vicomte de Queluz erhobene A. B. Pires, genannt. 32 Gemeint sind damit wohl die unter der Ägide von Metternich zustande gekommenen Beschlüsse zwischen Österreich, England, Frankreich und Spanien. 33 „[…] je promets à la face de l´Europe de leur donner […] l’éducation toute portugaise qui convient aux princes et princesses de mon sang“ (wie Anm. 31).
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Noch vor der Geburt seiner Tochter Maria de las Neves (also vor dem 5. August 1852) zogen Miguel I. und seine Gattin Adelheid, jetzt Herzogin von Bragança, von Langenselbold in das repräsentative Schloß Kleinheubach der Fürstenfamilie Löwenstein-Wertheim-Rosenberg, wo noch zwei weitere Kinder des Ehepaars das Licht der Welt erblickten. Wenige Jahre später, wohl 1856, erfolgte ein weiterer Wohnsitzwechsel, diesmal in Räume des damals etwas hergerichteten ehemaligen Klosters Bronnbach34 im Taubertal unweit von Wertheim am Main. Die anscheinend äußerst harmonische Ehegemeinschaft endete mit dem Tode Miguels am 14. November 1866 im Jagdschlösschen Karlshöhe; man verbrachte seine Leiche zunächst nach Kleinheubach, um sie am 17. November 1866 in der Grablege der Familie Löwenstein-WertheimRosenberg bei der Wallfahrtskirche des Klosters Engelberg beizusetzen. Dort fand seine Ehefrau Adelheid, die erst am 16. Dezember 1909 als Benediktinerin auf der Isle of Wight verstarb, ebenfalls ihre – vorerst letzte – Ruhestätte. Beider sterblichen Überreste wurden schließlich 1967 in die Grablege der Dynastie Bragança – São Vicente de Fora in Lissabon – überführt und dürften dort ihre endgültige Ruhe gefunden haben. Die bescheidenen und bei der wachsenden Kinderzahl eher engen Verhältnisse im Kloster Bronnbach waren der Ausgangspunkt für eine allerdings eher kurzfristige, jedenfalls nicht nachhaltige Legendenbildung um König Miguel I. Sein früher Tod nach einem etwa zehnjährigen Aufenthalt in Bronnbach und der 1897 erfolgte Eintritt seiner Ehefrau Adelheid35 in den Benediktinerorden, der mit einem Wohnsitzwechsel nach Frankreich, dann nach England verbunden war, mögen verhindert haben, daß die Figur des ‚armen Königs‘ sich im Bewußtsein der Menschen der Region über Generationen hinweg festsetzen konnte. Einen Ansatzpunkt und Startschuß dafür lieferte allerdings der im 19. Jahrhundert vielgelesene Dichter und Schriftsteller Ludwig Storch (18031881). Der heute praktisch vergessene36, lange Zeit durchaus populäre, aber finanziell wenig erfolgreiche Vielschreiber37 setzte Miguel I. in der „Gartenlaube“ ein Denkmal und rief damit den vergessenen König noch wenige Jahre vor
___________ 34
Es handelte sich um die ehemalige Prälatur des Klosters. Das GrafschaftsMuseum (sic!) Wertheim widmete 1999 der Herzogin von Bragança eine kleine Ausstellung unter dem Reihentitel „Wertheimer Frauenzimmer“. 36 Immerhin nahm man Ludwig Storch noch in die „Deutsche Biographische Enzyklopädie“ (DBE) 9, 1998, S. 558 auf und etikettierte ihn als einen der Pioniere des historischen Romans. Einen ausführlichen Eintrag erhielt Storch in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) 36, 1893, S. 439-442 von Ludwig Fränkel. 37 In Auswahl (!) wurden seine Erzählungen und Novellen in 31 Bänden, hg. v. Ernst Keil, Leipzig 1853-1862, veröffentlicht, dazu seine „Gedichte“, hg. v. Ernst Keil, Leipzig 1854. 35
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dessen Tod in die allgemeine Erinnerung zurück38. Der Thüringer Ludwig Storch hatte sich nach einem ruhelosen, immer wieder von blanker finanzieller Not gekennzeichneten Leben 1866 – im Todesjahr von Miguel I. – in Kreuzwertheim niederlassen können, nachdem ihm die Schiller-Stiftung eine Pension ausgesetzt und ihm damit einen ruhigen Lebensabend ermöglicht hatte. In seinem dichterischen wie schriftstellerischen Werk hatte Storch die Einflüsse der Klassik wie der Romantik aufgenommen, sich in seinen großen und immer mehrbändigen Romanen39 vor allem der Historie als Stofflieferant bedient. Obwohl nach unseren Kriterien im 19. Jahrhundert zum Bestsellerautor geworden, kam er auf Grund der Machenschaften einiger seiner Verleger nie über die Sicherung eines Existenzminimums hinaus und mußte die Gewährung einer Pension durch die Schiller-Stiftung als Rettungsanker begreifen. Leergeschrieben versiegte dann in seiner Kreuzwertheimer Zeit bis zu seinem Tode die große Romanproduktion40. Ludwig Storch stieß noch vor seiner endgültigen Niederlassung in Kreuzwertheim auf den verbannten, in bescheidenen Verhältnissen im nahen ehemaligen Zisterzienserkloster Bronnbach lebenden Miguel I. und dessen Familie und ergriff die Gelegenheit, diese seinen Lesern zu präsentieren. „Die Gartenlaube“ bot sich für eine kurze Erzählung – in die eine Schilderung der Reize der Natur wie von Land und Leuten noch ganz im Sinne der Romantik eingebaut war – von der Mittellosigkeit und Bescheidenheit, andererseits des sehr bürgerlich anmutenden Familienglücks des Exkönigs geradezu an. Freimütig bekennt Ludwig Storch, daß er König Miguel I. als einem typischen Vertreter „seiner fluchbeladenen Ahnen“ in besonderer Weise gegrollt, ja ihn ursprünglich mit verbissenem Haß verfolgt habe. Geschult an den Vertretern des historischen Romans wie Walter Scott oder Wilhelm Hauff hat Storch intensiv recherchiert, als Ergebnis präsentiert er zunächst einen von zügellosen Begierden geleiteten und ein Schreckenssystem etablierenden König. Man gewinnt den Eindruck, daß Storch die 1832 in Hamburg publizierte Invektive41 gekannt und dafür ausgewertet hat. Über den Bürgerkrieg (‚Miguelistenkrieg‘) in Portugal erweist er sich als ebenso gut unterrichtet wie über Details während des Exils Miguels in Italien. So erfahren wir, daß Miguel I. Prinzessin Adelheid vom LöwensteinWertheim-Rosenberg, seine spätere Ehefrau, in Rom kennen lernte. Dieses Bild ___________ 38 Ludwig Storch, Der Schmollwinkel eines verbannten Königs, in: Die Gartenlaube 1863, Heft 43, S. 682-685. 39 Als sein Mammutwerk könnte man die 9 Bände „Ein deutscher Leineweber“ (geschrieben 1849) bezeichnen. 40 Ludwig Storch war kein Heimatdichter im engeren Sinne, als den man ihn üblicherweise sehen wollte, wenn man ihn nicht sogar gänzlich aus dem Literaturbetrieb eliminierte, vgl. den einfühlsamen Vortrag von H.-D. Schmidt, Entdecken wir Ludwig Storch. Eine Ansprache, Wertheimer Jahrbuch 1980/81, S. 99-111. 41 Wie Anm. 20.
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vom „Scheusal“ Miguel I. gerät dann im Fortgang der Erzählung mehr und mehr ins Wanken, bedingt durch die Auslassungen von Informanten vor Ort. Die allseits dem Exilkönig entgegengebrachte Liebe und Verehrung, ja Anbetung seitens der Armen und Hilfsbedürftigen läßt den Autor auf den Gedanken kommen, alle schlimmen Nachrichten über Miguel I. seien Ausfluß und Erfindung des Parteienhasses. Die jetzt total heruntergekommene, ehemals prunkvolle Einrichtung und Ausstattung der Abtei – nur der Anblick von Klosterkirche und Kreuzgang versöhnt nach dem Autor mit dem Anblick des Verfalls rundum – stellt Storch dann in direkte Beziehung zur Situation seiner jetzigen Bewohner, deren bescheidene Verhältnisse andererseits ein besonderes Familienglück hervorgebracht hätten42. Das Resümee Storchs offenbart, wie ernsthaft und um Objektivität bemüht er sich mit der Person Miguels I. und seinem Wirken auseinandergesetzt hat. Als Historiker kommt er zu dem Urteil, daß Miguel I. ohne Verständnis für seine Zeit und deren Wandel gewesen sei und in einer merkwürdigen Selbsttäuschung gelebt habe, während er der Poesie zugesteht, eine mildere Stimme über ihn abgeben zu dürfen. Letzte Klarheit – wenn es überhaupt so etwas gibt – über Person und Wirken Königs Miguels I. im Konzert des Weltgeschehens zu gewinnen, dürfte schwerfallen. Zu sehr stand er in der Parteien Gunst oder Haß. Auch Zeitgenossen können geirrt haben, und den Einfluß der Macht der Verhältnisse auf die Taten und Untaten der handelnden Personen und Gruppen einzuschätzen, ist doppelt schwer. Zudem hat der Jubilar darauf aufmerksam gemacht, daß im Weltgeschehen auch der Zufall43 immer wieder eine Rolle spielt und daß gerade die Zufälle – wie im November 1989 vor Augen geführt – als Einbrüche des Unerwarteten und Unvorhersehbaren unserem Geschichtsverständnis und Urteilsvermögen deutliche Grenzen setzen.
___________ 42 Ludwig Storch spricht von sieben Prinzessinnen, worin er sich allerdings irrte, denn unter den sieben Kindern befand sich auch ein Knabe (Miguel Maria, geb. 19.9.1853 in Kleinheubach, gest. am 11.10.1927 auf Schloß Seebenstein/ Niederösterreich, den die portugiesischen Legitimisten als König Miguel II. bezeichneten). Inwieweit das Bild von den bescheidenen Lebensverhältnissen der großen Familie zutrifft, ist davon abhängig, welche Maßstäbe man anlegt. Die Frauen aus dem Hause LöwensteinWertheim-Rosenberg haben in der Regel bei ihrer Eheschließung Erbverzicht geleistet, allerdings bei Versorgung mit einem Kapital, dessen Zinserträge ihnen dann zustanden (freundl. Hinweis von Martina Heine auf die Dokumente StAWt-R Lit. D und StAWtR G 62 im Staatsarchiv Wertheim). 43 Helmut Neuhaus, Der Historiker und der Zufall, in: Henning Kößler (Hg.), Über den Zufall, Erlangen 1996, S. 83-111.
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Anhang Aus: Die Gartenlaube (Berlin), 1863, H. 43, S. 682-685. Der Schmollwinkel eines verbannten Königs. Von Ludwig Storch. Die Dichter künftiger Zeiten werden in der poetischen Darstellung der unsrigen zumeist das gänzliche Mißverstehen des nach seiner vollständigen Reife und der dieser entsprechenden freien Bewegung empordrängenden Volksgeistes als tragischen Hebel für den Sturz der Könige und der Dynastien gebrauchen; in jedem Falle ein poetischer Vorwurf und um so bedeutender, wenn die Träger der sich feindlich gegenüberstehenden Ideen, und namentlich der unterliegende, als Individuen unsere Achtung, zuweilen sogar unsere Verehrung in Anspruch nehmen dürfen. Diese Betrachtung kam mir im verwichnen Frühling im einsamen Wohnsitz eines von der Welt vergessenen Fürsten, der, einem alten, durch Verkehrtheiten und Schicksale der seltsamsten Art ausgezeichneten Regentenstamme entsprungen, die unbeneidenswerthe Mission hatte, den intriguanten und despotischen Geist dieser Dynastie in seiner Person zur verderblichsten Gipfelblüthe zu bringen, eines der schönsten und reichsten Länder Europa’s, ganz im Sinne seiner fluchbeladenen Ahnen, zum Schauplatze eines abscheulichen Bürger-, beziehentlich Bruderkriegs zu machen und dessen staatliche und sociale Entwicklung auf geraume Zeit zurückzuwerfen. Ich hatte mehr als ein Motiv, von Wertheim den lieblichen Taubergrund aufwärts zu wandern. Die hauptsächlichste Veranlassung war der ewig junge Reiz der Natur, der milde, warme, süße Charakter des südlichen Deutschlands, der in diesen Gegenden des untern Mains und des Odenwaldes so klar zu Tage tritt; eine zweite: die alten berühmten Stätten unserer Vorfahren zu besuchen, die sich unter dieser milden Sonne wohnlicher und gastlicher erhalten haben, als sonst wo. Und darunter nimmt die ehemalige Cistercienserabtei Brombach [Bronnbach] nicht die niedrigste Stelle ein. Ein dritter, obwohl untergeordneter Grund war, zu sehen, wie das alte Klostergebäude sich als Residenz des ehemaligen Königs, beziehentlich Usurpators der Krone von Portugal, jetzigen Herzogs von Braganza, Dom Miguel, ausnehme. Man ist in Franken daran gewöhnt, die zahlreichen, meist leidlich erhaltenen, ehemals prächtigen Gebäude der säcularisirten Klöster zu den verschiedensten Zwecken verwendet zu sehen. In den Städten sind es meist Casernen geworden, auf dem Lande Fabriken; die reichste und prächtigste Abtei Frankens, wahrscheinlich ganz Deutschlands, das Cistercienserkloster Ebrach im Steigerwalde ist – Gott sei’s geklagt! – ein Zucht- und Zwangsarbeitshaus, und die stolze Benedictinerabtei Banz ein eben so stolzes Fürstenschloß. Brombach hat als Witwe keine Schwester, sie allein ist Residenz eines im Exil lebenden Königs. Ich war doch neugierig, wie sie zusammenpassen möchten, die alte Abtei und der Sproß des alten Königsgeschlechts, und wie der Ruhm des Hauses, so war auch der ihres fürstlichen Insassen mir nicht unbekannt geblieben. Der Ruhm Dom Miguels? wird der Leser erstaunt fragen. Gewiß! Auch ich war erstaunt, als ich von diesem Ruhm zuerst vernahm, nachdem ich in meiner Jugend diesem Fürsten wegen seiner Aufführung mehr und länger gegrollt, als irgend einem Andern. Es ist ein natürlicher Zug des Menschen, unter den Mitlebenden an den Altersgenossen, zumal in der Jugend, den meisten Antheil zu nehmen. Als ich zuerst anfing das Auge von Homer und Virgil auf die Weltbegebenheiten zu werfen, die mit mir zugleich auf
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der Lebensbühne in Scene gingen, waren nach dem Wartburgfeuer 1817, dessen Funken in meiner Seele die Flammen der Begeisterung für Recht, Tugend, Wahrheit und Schönheit und für Deutschlands Größe und Herrlichkeit entzündet hatten, Sand’s blutige That, die Karlsbader Beschlüsse, deren nächste Folgen uns armen Gymnasiasten übel aufspielten, und die Revolution in Portugal mit Dom Miguel’s politischem Debüt die Dinge, die mich zumeist bewegten. Der portugiesische Prinz war nur einige Monate älter als ich, was Wunder, wenn ich seine schmutzige Laufbahn mit bitterem Groll und zuletzt mit verbissenem Haß verfolgte. Derweil ich und meine Altersgenossen auf dem Gymnasium uns mit den griechischen und lateinischen Autoren abmühten, um etwas Erkleckliches zu lernen, und von unseren Lehrern wahrlich nicht als Herren behandelt wurden, kam dieser Knabe von Brasilien nach Lissabon, um eine gerechte Volkserhebung in Blut zu ertränken, nach der Krone seines Vaters zu greifen, die kaum errungene liberale Verfassung umzustürzen, Pfaffen und Junkern wieder den alten verderblichen Einfluß zu geben, und die Fackel der Zwietracht gleichsam in jedes Haus des unglücklichen Landes zu werfen. Nach drei Jahren hatte er dermaßen Alles untereinander geworfen, daß der vertraute Rathgeber seines Vaters, des Königs Johann VI., der Marquis Loulé ermordet, die Minister verhaftet und der König im Palast streng bewacht wurde. Freilich geschah dies Alles und noch weit mehr Schlimmeres auf Antrieb seiner intriguanten, herrschsüchtigen Mutter, einer spanischen Infantin, die den unliebenswürdigen Prinzen, nichtsdestoweniger ihren Liebling, in Brasilien wie einen wilden Rangen hatte aufwachsen lassen und nun zur Ausführung ihrer volksfeindlichen Pläne zu benutzen suchte. Aber das saubere Weiber-, Pfaffen- und Junkerstückchen mißlang, und Prinz Miguel mußte mit seiner Mutter nach Wien auswandern, wo er wie ein Held aufgenommen, wohl gepflegt und so zur Fortsetzung seiner ungezügelten Lebensweise aufgefordert wurde. So trieb er’s denn zwei Jahre lang, bis zum Tode seines Vaters 1826, um nun das Hauptstück in Scene zu setzen, dessen Vorspiel er geliefert und in welchem er eine so wenig dankbare Rolle spielte. Dom Pedro, Kaiser von Brasilien, war auch der gesetzliche Erbe der portugiesischen Königskrone, entsagte aber derselben zu Gunsten seiner siebenjährigen Tochter Donna Maria da Gloria, nachdem er dem Lande eine Verfassung gegeben hatte. Die volks- und freiheitfeindliche Partei der Königin Wittwe erklärte dagegen Dom Miguel zum rechtmäßigen Thronerben. Aber Dom Pedro hatte diese Pläne dadurch vereitelt, daß er den Bruder zum künftigen Gemahl der jungen Königin und bis zu deren Volljährigkeit zum Landesregenten erklärt hatte. Auf diese Weise wurde die Partei der Königin Witwe in Schach gehalten. Dom Miguel nahm die Anerbietungen Dom Pedro’s an, verlobte sich mit dessen Tochter, beschwor dessen Constitution und wurde von diesem zum Regenten ernannt. Im Februar 1826 in Lissabon angekommen, übernahm er die Regentschaft, löste die Versammlung der verfassungsmäßigen Landesvertreter auf und berief die alten feudalen Cortes, von welchen er sich zum legitimen (absoluten) König von Portugal erklären ließ. Somit war die Constitution, der Pfahl im Fleische der Junker- und Pfaffenpartei, beseitigt, und der Absolutismus fuhr übermütig mit vollen Segeln einher. Die Königin Witwe und ihre Partei hatten ihr Ziel erreicht, ihr Liebling war absoluter König, die unumschränkte Gewalt war hergestellt, Junker und Priester reichten sich vergnügt die Hand zur Unterdrückung und Verhöhnung der Volksrechte. Und das Glück begünstigte das nichtswürdige, treulose Unternehmen. Was half es, daß Dom Pedro seinen eidbrüchigen Bruder aller ihm zugestandenen Rechte für verlustig erklärte und dessen Verlobung mit seiner Tochter aufhob; er war im fernen Brasilien, und sein hüfloses Kind segelte eben von dort her der portugiesischen Küste zu, von welcher, durch den Machtbefehl des Usurpators zurückgewiesen, es nach England ging, wo ein kalter Empfang seiner wartete, da das Ministerium des Königs Georg IV. auf Dom Miguel’s Seite stand.
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Die zehnjährige Königin sah sich deshalb veranlaßt, im folgenden Jahre 1829 nach Brasilien zurückzukehren. In Portugal entbrannte zwar der Kampf der Parteien, aber er war von kurzer Dauer. Dom Miguel’s Waffen siegten, die Partei der Donna Maria da Gloria floh, vollständig geschlagen, aus dem Lande, theils nach England, theils nach Brasilien, und die aristokratisch-klerikale Partei hatte nun ganz freie Bahn. Und Dom Miguel benutzte sie nach Herzenslust. Das scheußlichste Schreckenssystem, vom frechsten Uebermuthe und hohnlachender Tyrannenlaune gehandhabt, wurde jeder liberalen Regung im Lande verderblich. Der sechsundzwanzigjährige König überließ sich allen tollen Eingebungen seiner zügellosen Begierden. Alle niedrigen Eigenschaften der Dynastie Braganza, die das Verdienst beanspruchen darf, das unter dem großen Könige Emanuel einst so blühende Portugal moralisch und materiell an den Bettelstab gebracht zu haben, kamen in ihm noch einmal und zwar zur höchsten Blüthe. So wahnsinnig hatte keiner seiner Vorfahren gewirthschaftet. Er zeigte für nichts Sinn als für Jagden, Jäger, Hunde, Pferde, Stiergefechte und Weiber und beging mit den adligen und geistlichen Dienern seiner Lüste unerhörte Ausschweifungen. Alle Zeitungen waren voll von Details solcher Abscheulichkeiten. Ich erinnere mich noch einzelner Mittheilungen, die mich wahrhaft empörten. So wurde unter Andern berichtet, seine liebste Kurzweil sei das Schlachten: er sei nicht nur ein trefflicher Jäger, sondern auch ein guter Metzger und tauche seine Hände gern in Blut. Genug, Dom Miguel wurde für ein Scheusal ausgeschrieen, das unter den Lebenden nicht seines Gleichen hatte, und sein Ruf brachte den Haß aller Liberalen gegen die aristokratisch-klerikale Partei aller Länder zum Siedepunkte. Und es ging ein wahrer Jubel durch die civilisirte Welt, als den beiden Nachbarssöhnen, Schwägern und Gesinnungsgenossen, die die ganze pyrenäische Halbinsel in blutige Verwirrung gestürzt und an den Rand des Verderbens gedrängt hatten, schnell hintereinander das treulose Handwerk gelegt und sie vom Schauplatz ihrer volksfeindlichen Thaten verjagt wurden. Don Carlos, der Prätendent von Spanien, mußte, von seinem Bruder, dem König Ferdinand VII., nach Portugal verwiesen, bald nach dessen Tode (29. Septbr. 1833) sich nach England einschiffen, während Dom Miguel vom Heere seines in Portugal gelandeten Bruders Dom Pedro, der unterdessen auch durch eine brasilianische Revolution vom dortigen Kaiserthrone vertrieben war, geschlagen und von der Quadrupelallianz zwischen Spanien, Portugal, England und Frankreich feindlich behandelt, sich in einer Capitulation verpflichten musste, ferner in Rom zu leben und allen Ansprüchen auf die portugiesische Krone zu entsagen. Daß aber diesem Prinzen Eide und Versprechungen nichts galten, hatte er bereits sattsam bewiesen, und so widerrief er denn auch schon nach wenigen Tagen in Genua seine Verzichtleistung; wodurch er der ihm von der portugiesischen Regierung ausgesetzten Jahresgelder verlustig ging. Dagegen wurde er, in Rom angekommen, vom Papste als König von Portugal anerkannt, wofür Se. Heiligkeit die Ehre hatte, diesen König standesgemäß zu unterhalten. So lange Gregor XVI. lebte, mochte dies Verhältniß halbweg erträglich sein, zumal die aristokratisch-klerikale Partei bei den fortdauernden fieberhaften Zuckungen des portugiesischen Staatskörpers stets in der Hoffnung erhalten wurde, ihren Schützling Dom Miguel noch auf den dortigen Königsthron zu bringen. Als aber Pius IX. die päpstliche Regierung unter Auspicien antrat, welche Dom Miguel’s Hoffnungen nicht begünstigen zu wollen schienen, obgleich es sich, wie sich bald zeigte, anders verhielt; als in Folge dieser merkwürdigen Täuschung der gute Papst aus Rom flüchten mußte, wie Dom Miguel schon zweimal aus Portugal; als dann nach der Wiederkehr des Papstes (1850) die französische freundschaftliche Unterstützung eintrat: da mochte Dom Miguel ein lästiger Kostgänger Roms sein und auf der andern Seite seine unsichere Lage ihm unerträglich werden. Er that dazu, sich derselben zu entziehen, indem er, der fast fünf-
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zigjährige Mann, sich mit einer in Rom lebenden zwanzigjährigen deutschen Prinzessin vermählte (Septbr. 1851). Die Gemahlin des Herzogs von Braganza ist die Tochter des verstorbenen Erbprinzen von Löwenstein-Wertheim-Rosenberg aus Heubach am Untermain. Daß Dom Miguel von seinen Hoffnungen auf die portugiesische Königskrone keine aufgegeben, zeigte sich bei der Geburt seiner ältesten Tochter, wo von ihm und seiner Partei unzweideutige Demonstrationen in dieser Richtung gemacht wurden, welche, von den durch den schwankenden Charakter der Königin von Portugal herbeigeführten neuen Wirren unterstützt, zu Tage brachten, daß Dom Miguel unter dem alten Adel und der Pfaffheit in Portugal noch eine Partei habe, die nur auf eine günstige Gelegenheit lauere, um die Königin mit ihrem Gemahle, Herzog Ferdinand von Coburg, zu verdrängen und Dom Miguel oder dessen Tochter auf den Thron zu heben. Der unerwartete Tod der vierunddreißigjährigen Königin Donna Maria da Gloria (15. Nov. 1853) brachte diese Bestrebungen vor der Hand zur Ruhe. In Deutschland hat es die öffentliche Aufmerksamkeit nicht weiter erregt, daß Dom Miguel mit seiner Gemahlin in deren Heimath zog und von der Residenz der katholischen Linie des fürstlich Löwenstein’schen Hauses, wo er anfangs wohnte, die seinige in die ehemalige Abtei Brombach, eine Besitzung der Löwenstein-Rosen-berg’schen Familie, verlegte. Mir wenigstens war Alles neu, was ich in Wertheim über Wohnung, Familienverhältnisse und Lebensverhältnisse des Herzogs von Braganza erfuhr. In Wertheim kannte Jedermann die Person Dom Miguel’s, und sie wurde mir einstimmig als eine von Ansehen sehr unbedeutende geschildert. Mehr als einmal wurde mir gesagt: er sehe aus wie ein alter kleiner Jude. Was mich aber in das größte Erstaunen setzte, war die allgemeine Versicherung von Hoch und Niedrig, daß der Herzog von Braganza ein höchst gütiger, sanfter, liebenswürdiger und vor Allem ein ungemein wohltätiger Herr sei, für den seine Dienerschaft schwärme, der von allen Menschen in Heubach, Wertheim, Brombach und in der ganzen dortigen Main- und Taubergegend geliebt und geehrt, von den Armen und Hülfsbedürftigen aber wahrhaft angebetet werde. Er thue keinem Thiere weh, geschweige einem Menschen, im Gegentheil wo und wie er einen Menschen erfreuen könne, besänne er sich nicht, sondern gebe im Nu hin, was er eben habe. So sei es buchstäblich schon vorgekommen, daß er den Rock vom Leibe, die Stiefeln von den Füßen an Bettler verschenkt habe. Es wurden mir wahrhaft rührende Beispiele von der Mildherzigkeit und dem Edelsinne des Herzogs erzählt, und sie kamen mir von so glaubhaften Personen und aus den verschiedensten Schichten der Bevölkerung zu, daß an ihrer Wahrheit durchaus nicht zu zweifeln war. Aber noch mehr: durch den Bruder einer Dame, die Dom Miguel in Rom jahrelang gekannt und zu beobachten Gelegenheit gehabt hatte erfuhr ich, daß er dort eben so sanft, gut und mildthätig gewesen war, wie jetzt in Franken. Ein ehrenwerther Mann, der den Herzog, gut kannte, sagte mir: „Es ist keine Spur von Verstellung in ihm; er giebt sich stets und zu aller Zeit, wie er ist. Der Grundton seines Wesens ist Milde, Güte, Menschenfreundlichkeit; und deshalb muß er immer so gewesen sein, denn es ist doch ganz unmöglich, daß die menschliche Gemütsart sich mit der Zeit in ihr Gegenteil verkehre und daß ein blutgieriges Ungeheuer zum sanftesten Menschenfreund werde. Die geschichtlichen Berichte über das frühere Leben und Gebahren des Herzogs und sein jetziger Lebenswandel, der doch offen vor Jedermanns Augen liegt, sind ein psychologischer Widerspruch, ein unauflösliches Räthsel. Ich bin deshalb fest überzeugt, daß die schlimmen Dinge, die über den Herzog in Umlauf gesetzt worden sind, entweder Erfindungen des Parteihasses waren, oder von Andern, von seinen Anhängern, auf seinen Namen begangen wurden. In Brasilien von der leidenschaftlichen Mutter verzogen, ohne Bildung aufgewachsen, von Weibern und Pfaffen gegängelt und gemißbraucht, beging er natürlich Verkehrtheiten, und Unbeson-
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nenheiten in Menge, und besonders seinem bis zur Verächtlichkeit schwachen Vater gegenüber, sobald man ihm die Ueberzeugung beigebracht, daß er die alleinige Hoffnung und Stütze des Thrones und des Altars in Portugal sei. Seine Thaten sind aus der alten Weltanschauung des König- und des Priesterthums, die er ja mit Tausenden theilt, aus Leichtsinn und Verführung entstanden. Man sollte bei seiner Beurteilung wenigstens das Eine fest in’s Auge fassen, daß er nie Heuchler war, sondern seine Ueberzeugung stets offen bekannte und für sie als eine ihm heilige Sache nie den Kampf scheute.“ Dies ist die Ansicht eines ehrlichen vorurteilsfreien Mannes, der den Herzog genau kannte. Ich gebe sie ohne Zusatz wieder und lasse sie an ihren Ort gestellt sein. – Wir gingen an einem der schönsten Junimorgen über die Berge und teilweise durch Wald, den sehr anmutigen tiefen Taubergrund, in den uns oft die freundliche Einsicht vergönnt war, zur Rechten, nach dem nur eine Meile entfernten LöwensteinRosenberg’schen Gute Brombach. Von weitem schon sahen wir es von einer Berghöhe liegen, und der Anblick erweckt bedeutende Erwartungen, deren größere Hälfte freilich nachher nicht erfüllt wird. Die ehemalige stattliche Abtei liegt auf einer sanft aufsteigenden Fläche der linken Thalseite, ziemlich nahe am Flusse. Der Taubergrund trägt fast in seiner ganzen sechzehnmeiligen Länge denselben Charakter eines tiefen Einschnittes mit steilen Bergwänden, die auf der Südseite mit Wein, auf der Nordseite mit Holz bestanden sind. Die Thalsohle selbst besteht aus üppigen Wiesen. Die Fruchtbarkeit des Thales wird gerühmt, die Tauberweine sind beliebt. Die meist tiefe Einsamkeit des Thals trägt zuweilen das Gepräge der Schwermut. Dies ist namentlich im Brombach der Fall. Ein weit ausgedehnter hochbewaldeter Berg liegt dem Kloster Gegenüber, aus dessen Fenstern das Auge vom hellen Grün der Wiesen sich zum dunklern des prächtigen Waldes erhebt. Die Geschichte Brombachs, welches 1151 gegründet wurde, ist die aller Cistercienserklöster von hoher Blüthe bis zum Fall durch innere Verderbniß und den Untergang durch den siegenden Protestantismus. Drei Mal war es den Bischöfen von Würzburg gelungen, die Mönche in das wiedereroberte Heiligthum zurück zu führen. Der nach der dritten Rückkehr des Ordens nöthig gewordenen Restauration verdanken die Gebäude und Anlagen die nun so sehr in Verfall gerathene Pracht. Denn die letzten anderthalb Jahrhunderte ihres Bestehens bis zur Säcularisation gediehen diese Mönche bis zur üppigsten Raffinerie des Lebensgenusses. Man sieht es heute noch zur Genüge an der verblichnen Herrlichkeit dieser Gebäude und Gärten, in welch reicher und kostbarer Blüthe die Abtei zuletzt gestanden hat. Nach der Säcularisation (1803) wurde Brombach der katholischen Linie Löwenstein-Wertheim-Rochefort (Rosenberg) als Entschädigung für die im Frieden von Lüneville verlornen Besitzungen des fürstlichen Hauses im Luxemburgischen, in Lothringen [Abbildung „Die Cistercienserabtei Brombach in Franken“] und der linksrheinischen Pfalz überlassen, worauf sie eine der bedeutendsten Landwirthschaften hier errichtete, die weitläufigen Gebäude aber als Jagdschloß benutzte, bis sie in der neuesten Zeit den verbannten portugiesischen Usurpator als einsamer Schmollwinkel aufnahmen. Man sieht, die alte Mönchszelle hat ein wechselvolles und fast romantisches Schicksal gehabt. Zuerst fällt die bis zur Armseligkeit herangekommene ehemalige prunkvolle Einrichtung in’s Auge, der prätentiöse Uebergang des Renaissance- in den Rococostyl an den Gebäuden, die überall nur ärmlich oder gar nicht ausgebessert sind, die verwilderten Gärten, die die fürstlich reiche Anlage noch erkennen lassen, die defecten, obsoleten, ursprünglich schon so unnatürlich gezierten Statuen, die ganze nüchterne, nun durchlöcherte und fetzenhafte forcirte Herrlichkeit, womit die Aristokratie und der Klerus in der
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zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Wunden und Schäden zu verkleben suchte, die der dreißigjährige Krieg dem unglücklichen Vaterlande geschlagen. Während die malerischen Trümmer eines alten Bergschlosses oder eines Klosters stets einen poetischen Eindruck auf das Gemüth des sinnigen Beschauers machen, erregt der Anblick solcher vom Zahn der Zeit nur erst benagten, von dem durch und durch lügenhaften verzerrten Geiste, der sie sich geschaffen, nun schon über ein halbes Jahrhundert verlassnen, aber doch noch gleichsam nach Moschus, Schminke und Moder duftenden Exuvien des 17. und 18. Jahrhunderts Ekel und Widerwillen. Welch eine auffallende Uebereinstimmung zwischen diesem verlumpten und verloderten Rococo und seinem jetzigen Bewohner, dem letzten Träger des durch jenen Geist so übel berüchtigten Namens Braganza, in welchem er noch einmal, dem verlöschenden Lichtflämmchen am Dochte gleich, mächtig emporgeschlagen, um nun als ohnmächtiges, still schleichendes, unheimliches Gespenst in diesen ihm analogen Räumen zu spuken! Doch man wird mit der Unheimlichkeit des Gebäudes und des Geistes darin versöhnt. Mit jener durch die Kirche und den Kreuzgang, welche wahrhaft wundersame Bauten seltner reiner, ja vielleicht einziger Schönheit sind. In der That gilt dieses Münster in der Geschichte der mittelalterlichen Baukunst als classisches Unicum, das manchen Kunstkenner nach Brombach zieht und zu genußreicher Bewunderung hinreist. Wir haben hier nämlich einen specifisch deutschen Bau der romanischen Architektur des 12. Jahrhunderts vor uns, von französischen Elementen beeinflußt, aber doch selbständig behandelt. Alle Verhältnisse sind höchst edel und rein und machen auf die Seele des Beschauers einen erhebenden Eindruck. Dieser muß selbst sowohl auf den nüchternen Protestantismus der Schweden und der lutherischen Grafen Löwenstein, als auch auf den wunderlich erhitzten Schnörkelgeist der Rococoschnitzer ein sehr starker gewesen sein; denn die Einen, wie die Andern haben die poetisch schönen Formen der Kirche und des Kreuzganges unberührt gelassen, so daß man in ihrem Genusse nicht durch die andersartigen Anhängsel und die Verballhornisirung des 17. und 18. Jahrhunderts gestört wird, wie bei so vielen, ja den meisten aus dem 12., 13. und 14. Jahrhundert stammenden Kirchenbauten. Die Versöhnung mit dem Geiste, der ihm so angemessen jetzt in der alten Abtei lebt, mit dem Manne, der kein Verständniß für seine Zeit hat, wird durch seine Armuth und sein glückliches Familienleben bewirkt. Die Armuth dieses Königs im Exil, die uns auf jedem Schritte in Brombach mitleiderregend entgegentrat, stimmte uns wehmüthig. In dem wahrhaft imposanten Pferdestalle der ehemaligen Aebte standen zwei kleine unansehnliche Pferde und eine Kuh, in der Remise eine Kutsche, die keinerlei Anspruch auf Eleganz erheben durfte. Das war die Equipage der herzoglichen Familie. Die jüngsten Kinder wurden von einer Bonne in einem Kinderwäglein spazieren gefahren, wie es die bürgerlichen Mittelclassen zu besitzen pflegen. In dieser Art war Alles, was wir sahen. Uebrigens das Haus unheimlich öde. Die bewohnten Zimmer waren natürlich nicht für uns zugänglich auch hatten wir keine Lust, sie zu betreten. Wir hatten in Wertheim gehört, Dom Miguel sei im Bade in Mergentheim. Als wir in Brombach nach ihm fragten, lächelte der Einwohner, der uns Auskunft gab, mit den Worten: „Der kann in kein Bad gehen; er verreist nie, er bleibt Sommer und Winter hier.“ „Aber womit beschäftigt er sich denn das ganze Jahr lang?“ fragte ich von dieser Antwort schmerzlich berührt.
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„Er geht viel auf die Jagd, die er leidenschaftlich liebt.“ „Aber er kann doch nicht immer auf die Jagd gehen? Er liest und schreibt wohl viel oder dictirt seinem Secretair, vielleicht seine Memoiren, die gewiß interessant werden dürften?“ Der Mann schüttelte mit dem Kopfe. „Davon hab’ ich nie gehört. Die herzogliche Familie gewährt sich selbst die beste und schönste Unterhaltung, denn ihre Glieder lieben sich einander sehr zärtlich.“ So ist Dom Miguel ein glücklicher Familienvater; wirklich wurde uns die Herzogin als eine vortreffliche und sehr liebenswürdige Dame geschildert, die an dem alternden Gatten mit großer Liebe hange und opferfreudig das Exil mit ihm theile. Sieben allerliebste Prinzessinnen sind dieser glücklichen Ehe bereits entsprungen und wachsen in der idyllischen Einsamkeit dieser Taubereinöde auf, ihrem, wie die Eltern der Sage nach hoffen, künftigen glänzendem Loose entgegen. Der Herzog soll die jugendliche Gattin und die blühende Kinderschaar mit der größten Zärtlichkeit lieben, in seiner ältesten Tochter die dereinstige legitime Königin von Portugal, in den anderen die Gemahlinnen europäischer Fürsten sehen. Fließt doch in ihren Adern reinstes Fürstenblut, und ist er doch überzeugt, daß der Absolutismus und die katholische Kirche wieder in schönsten Flor kommen werden. Der Mann lebt in einer merkwürdigen Selbsttäuschung, aber wie er nun einmal ist in seiner Totalität, ist er eine interessante poetische Erscheinung. Die Geschichte hat über Dom Maria Evarist Miguel, Herzog von Braganza, zu Gericht gesessen und ihr strenges, jedenfalls gerechtes Urtheil über ihn gesprochen – später wird auch die Poesie ihre mildere Stimme über ihn abgeben, und vielleicht tragen dann diese Spalten der Gartenlaube dazu bei, daß ihr Urtheil freundlicher und versöhnender werde.
„Je lenger, je unfleysiger“ Sebald X. Tucher und die Niederlassungen der Tucherschen Handelsgesellschaft in Genf und Lyon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts
Von Michael Diefenbacher, Nürnberg „Je lenger, je unfleysiger“ – mit diesen Worten charakterisierte Wolfgang III. Tucher in einem Brief die beiden Familienvertreter der Tucherschen Handelsgesellschaft in Genf und Lyon.1 Er schrieb den Brief am 27. Februar 1525 von Genf aus an den Chef der Handelsgesellschaft in Nürnberg, Linhart II., eingegangen am 17. März. Angesprochen mit dieser Charakterisierung wurde in erster Linie Hieronymus IV. Tucher, der langjährige Familienresident in Lyon, aber auch der ihn über weite Strecken begleitende oder zumindest zeitweise auch verführende Sebald X. Tucher in Genf. Der angeführte Brief ist Bestandteil des im Stadtarchiv Nürnberg verwahrten Briefarchivs der älteren Linie der Nürnberger Patrizierfamilie Tucher.2 Dieses war bislang lediglich durch die Angabe von Absendern und Empfängern sowie Ausstellungsdaten erschlossen, wurde aber dennoch schon mehrmals für umfangreiche Forschungsarbeiten herangezogen.3 In den Jahren 2007/08 finanzierte das Stadtarchiv die intensive Erschließung dieses Bestands durch Vollrege___________ 1
Stadtarchiv Nürnberg (StadtAN), E 29/IV Nr. 555. Bestand E 29/IV. 3 So z. B.: Hermann Kellenbenz, Nürnberger Safranhändler in Spanien, in: Fremde Kaufleute auf der Iberischen Halbinsel, hg. v. demselben (Kölner Kolloquien zur internationalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1), Köln/Wien 1970, S. 197-225. – Christa Schaper, Die Hirschvogel von Nürnberg und ihr Handelshaus (Nürnberger Forschungen 18), Nürnberg 1973. – Matthias Beer, Eltern und Kinder des späten Mittelalters in ihren Briefen. Familienleben in der Stadt des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit mit besonderer Berücksichtigung Nürnbergs (1400-1550) (Nürnberger Werkstücke zur Stadtund Landesgeschichte 44), Nürnberg 1990. – Ders., Das Verhältnis zwischen Eltern und ihren jugendlichen Kindern im spätmittelalterlichen Nürnberg. – Kaufmännische Ausbildung im Spiegel privater Korrespondenzen, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg (= MVGN) 77 (1990), S. 91-153. – Zum Jahreswechsel 2008/09 zeigte das Stadtarchiv Nürnberg mit dem Museum für Kommunikation, Nürnberg, eine gemeinsame Ausstellung mit Katalog über die Tucherbriefe. 2
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sten4, eine Arbeit, die seit Jahren als Desiderat der Forschung gilt5, und schon jetzt ist ablesbar, welch dichte Aussagekraft für fast alle historischen Forschungsgebiete des 16. Jahrhunderts in dieser Überlieferung gebündelt ist. So stützt sich auch der vorliegende Beitrag zu Sebald X. Tucher und die Tuchersche Handelsgesellschaft in ihren Niederlassungen in Genf und Lyon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts überwiegend auf diese Quellen.
I. Der angeführte Brief Wolfgangs III. an Linhart II. vom 27. Februar 1525 zeigt uns fast alle Hauptakteure der Familie um Sebald X.: Linhart II., der in Nürnberg weilende Chef der Handelsgesellschaft, Mitglied der älteren Tucherlinie, ist am 10. Februar 1487 als Sohn des späteren Vordersten Losungers Anton II. Tucher (1457-1524) und seiner Frau Anna Reich (1466-1493) geboren. Ab 1501 in Lyon, dem wichtigsten Handelsstützpunkt der Tucherschen Handelsgesellschaft, zur Ausbildung, trat er 1504 in die väterliche Firma ein, in deren Auftrag ihn Geschäftsreisen nach Italien, Frankreich und in die Niederlande führten. Spätestens ab 1507 leitete Linhart II. im Namen seines Vaters und zusammen mit dessen Vettern Hans IX. (1452-1521) und Martin I. (1460-1528) das Familienunternehmen, das unter seiner und seines Vetters Lorenz II. (14901554) Führung die größte Blüte erlebte.6 Auch im Dienste der Reichsstadt Nürnberg errang Linhart höchste Würden: Ab 1512 Genannter des Größeren Rats, wurde er an Stelle seines Onkels Martin I. 1529 in den Kleineren Rat gewählt, dem er bis 1565 angehörte (Jüngerer Bürgermeister 1529, Älterer Bürgermeister 1532, Septemvir 1532/33, Zweiter Losunger 1536, Vorderster Losunger 1544). Aus „Altersschwachheit“ resignierte er 1565.7 Linhart II. war somit nach seinem Großvater Anton I. und seinem Vater Anton II. der dritte Vorderste Losunger aus dem Hause Tucher in direkter Generationenfolge, zugleich aber auch der letzte. Er bestimmte maßgeblich die Nürnberger Politik in ___________ 4
Durchgeführt von Helge Weingärtner M.A., Nürnberg. Ihm sei auch an dieser Stelle nochmals herzlichst gedankt für die Kärrnerarbeit, die er nicht nur der NürnbergForschung leistete. 5 Zuletzt moniert von Michael Diefenbacher, Der Handel des Nürnberger Patriziats nach Osten. – Das Beispiel Tucher um 1500, in: MVGN 94 (2007), S. 49-80, hier: S. 53. 6 Das Große Tucherbuch. CD-ROM, hg. vom Haus der Bayerischen Geschichte und dem Stadtarchiv Nürnberg (Handschriften aus bayerischen Bibliotheken und Archiven auf CD-ROM) (Texte erstellt von Horst-Dieter Beyerstedt und Michael Diefenbacher), fol. 118r-121v. Vgl. hier auch das Folgende. 7 Vgl. jüngst auch Peter Fleischmann, Rat und Patriziat in Nürnberg. Die Herrschaft der Ratsgeschlechter in der Reichsstadt Nürnberg vom 13. bis zum 18. Jahrhundert, 3 Bde. (Nürnberger Forschungen 31), Nürnberg 2008, Bd. 2, S. 1019-1021. Fleischmann führt Linhart II. als Leonhard I.
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in den Auseinandersetzungen um die Augsburger Konfession und im Schmalkaldischen Bund sowie mit Markgraf Albrecht Alcibiades von Brandenburg und im Zweiten Markgrafenkrieg. Die Familientradition im Großen Tucherbuch charakterisiert ihn als rechtschaffen, fleißig und gottesfürchtig. Als weitere Beteiligte nennt der Brief von 1525 seinen Verfasser Wolfgang III. Tucher, den älteren Bruder unseres Hauptakteurs Sebald X., und ferner dessen entfernten Vetter Hieronymus IV.: Wolfgang III., Mitglied der jüngeren Tucherlinie, wurde am 27. Mai 1494 als Sohn von Sebald VII. Tucher (14631513) und Barbara Waldstromer geboren. In Frankreich und Spanien wurde er zum Kaufmann ausgebildet. In erster Ehe war er mit Trusiana, der Tochter des Jobst Ulstatt und der Katharina Holzschuher verheiratet (Eheschließung 11. August 1528). Nach Trusianas Tod heiratete er am 25. Februar 1550 Margaretha, die Tochter des Nürnberger Patriziers Hans Holzschuher (gest. 1549) und der Ursula Franck. 1529 als Genannter in den Größeren Rat aufgenommen, wurde Wolfgang III. 1537 an Stelle seines Vetters Hieronymus II. (1491-1536), der 1531-1536 den Rang eines Jüngeren Bürgermeisters innehatte, als Alter Genannter Mitglied des Kleineren Rats. Da Wolfgang III. weiterhin in der Tucherschen Handelsgesellschaft engagiert blieb, bat er 1542 um Entlassung aus dem Kleineren Rat. Seit 1537 war er, den Administrator Linhart II. unterstützend, an der Verwaltung der Dr.-Lorenz-Tucher-Stiftung beteiligt. Wolfgang III. erkrankte in Lyon und starb am 26. März 1551 im Alter von 57 Jahren auf der Rückreise in Genf, wo er in der Kathedrale St. Pierre begraben liegt.8 Hieronymus IV., Mitglied der älteren Tucherlinie, wurde am 7. Juli 1502 als dritter Sohn von Anton III. Tucher (1478-1514) und Cordula Wolf (von Wolfsthal) geboren. Am 21. August 1531 heiratete er Katharina, die Tochter des Nürnberger Patriziers Jakob Muffel (1476-1526) und der Agatha Schlüsselfelder, und wurde im folgenden Jahr Genannter des Größeren Rats der Reichsstadt. Seine Ausbildungszeit zum Kaufmann erledigte er nicht immer zur vollen Zufriedenheit der ihn beurteilenden Familienmitglieder, wie der eingangs zitierte Brief zeigt, auch erscheint er in den ausgewerteten Quellen als recht ambivalente Persönlichkeit. Dennoch charakterisierte ihn der 1519 in der Lyoner Niederlassung der Tucher weilende Dr. Christoph II. Scheurl (1481-1542) positiv.9 Als Kaufmann beteiligte er sich an der Tucherschen Handelsgesellschaft seiner Vettern Linhart II. und Lorenz II. vor allem im Geschäft mit Frankreich. Hieronymus IV. verstarb kinderlos am 1. März 1546.10 ___________ 8 Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 154r-156v. – Fleischmann (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 1022 f. 9 Christoph II. Scheurl aus Lyon an Anton II. Tucher in Nürnberg 4. Oktober 1519 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1538). 10 Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 115r-115v.
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Hieronymus IV. Tucher und seine Ehefrau Katharina Muffel, Stadtarchiv Nürnberg, Tucherbuch
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II. Nun aber zur Hauptperson, Sebald X. Tucher: Als Mitglied der jüngeren Tucherlinie erblickte er am Montag nach dem Thomastag (23. Dezember) 1498 als achtes von dreizehn Kindern des Sebald VII. Tucher und der Barbara, Tochter von Franz Waldstromer und Ursula von Peern, das Licht der Welt. Die 1462 geborene Mutter starb 1507 im Kindbett ihres 13. Kindes, der 1463 geborene Vater sechs Jahre später 1513. Die Vormundschaft über die noch nicht volljährigen Kinder übten Sebald IV. Pfinzing (1487-1543)11 und Niclas II. Tucher (1464-1521), ein direkter Vetter Sebalds VII.12, aus.13 Sebald VII. gilt als Stammvater aller heute noch lebenden Tucher der jüngeren Linie.14 Sebalds X. Eltern bewohnten das über die Mutter Barbara in die Ehe gekommene Waldstromerhaus in der Judengasse (= Wunderburggasse 4).15 Sie hatte darüber hinaus für 500 Gulden von den Erben des Georg Rebel (gest. 1488)16 die Eigenschaft an einem Haus unter der Vesten17 erworben, über die zwischen Sebald X. und seinen Geschwistern Streit ausgebrochen war.18 Über Sebalds X. Kindheit und Jugend ist nichts überliefert, er ist erst als fast 20jähriger 1517 in den Quellen faßbar. Damals befand er sich auf dem Weg von Lyon nach Nürnberg, wo er einen Rock seines Verwandten Hieronymus IV. geliehen bekam. Dieser weilte in Lyon zur Ausbildung und hatte die Erlaubnis schriftlich an seinen Großvater Anton II. übermittelt.19 Sebald war also 1517 ebenfalls in der Tucherschen Faktorei in Lyon zu finden, die ihren Ursprung in den Aktivitäten der Handelsgesellschaft unter Anton II., Hans IX.
___________ 11
Zu ihm Fleischmann (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 800 f. Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 76r-76v. Niclas’ II. und Sebalds VII. Großvater war der Gründer der jüngeren Tucherlinie, Endres I. Tucher (gest. 1440). 13 StadtAN, B 14/II Nr. 10, fol. 135r und 142r. 14 Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 108r-111v (Sebald VII. und Familie), fol. 110r110v (Sebald X.). 15 Identifiziert nach Karl Kohn, Häuserbuch der Stadt Nürnberg (Typoskript: StadtAN, F 5 Nr. 317). Heutige Adresse etwa Martin-Treu-Straße 26-28. 16 StadtAN, GSI 152 (Genanntendatenbank): 1461-1488 Genannter des Größeren Rats. 17 Identifiziert nach Kohn (wie Anm. 15) als Burgstraße 23 (heute zusammengelegt mit ehemals Burgstraße 25). Georg Rebel hat das Haus 1464 gekauft (StadtAN, A 1, 1464 Oktober 8), jedoch ist 1479 bereits Ulman Stromer als Besitzer verzeichnet (StadtAN, E 11/II Nr. 1764, fol. 2v). 18 StadtAN, E 29/II Nr. 249, undatiert. 19 Hieronymus IV. aus Lyon an Anton II. Tucher in Nürnberg 27. Februar 1517 (StadtAN, E 29/IV Nr. 236). 12
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und Martin I. ab etwa 1483 hatte und spätestens seit 1517 dauerhaft mit einem Mitglied der Familie besetzt war.20 Anscheinend war Sebald X. beauftragt, ein Auge auf den vier Jahre jüngeren Auszubildenden Hieronymus IV. zu werfen, obwohl sein eigener Lebenswandel von anderen nicht unbedingt als tadellos beurteilt wurde. So berichtete Hieronymus IV. im September 1517 seinem Großvater von einer Krankheit, die er auf zu hitziges Trinken zurückführte. Der ebenfalls in Lyon weilende Nürnberger Kaufmann Hans von Thill (gest. 1527)21 tat diese als vorgegaukelt ab und schlug vor, Hieronymus mit einer Tracht Prügel zu heilen. Als Schuldigen für Hieronymus’ Krankmacherei machte Thill Sebald X. aus, der Hieronymus bösen Frauen zugeführt habe. Einen solchen Lebenswandel bestritt Hieronymus vehement und führte als Gegenargument das Lob seines Lehrherrn Urbano Parensi aus Lucca an.22 In den Jahren 1518 bis 1520 war Sebald X. mehrfach Überbringer von Briefschaften zwischen Hieronymus IV. in Lyon und Anton II. in Nürnberg. Dies kann als Indiz dafür gewertet werden, daß man Sebald häufiger nach Nürnberg beorderte, um ihm entweder Brisantes mündlich anzuvertrauen oder – viel eher noch – gehörig die Leviten zu lesen, weil man mit ihm und/oder Hieronymus unzufrieden war. Er bewältigte die Strecke, die normalerweise über Genf, Freiburg im Uechtland (Fribourg), Bern, Schaffhausen, Stein am Rhein, Buchhorn (Friedrichshafen) und Ulm verlief, unabhängig von der Jahreszeit in 17 bis 21 Tagen23, schaffte den Weg aber auch in 13 (1524)24 oder sogar in zehn Tagen (1538).25 ___________ 20 Vgl. Michael Diefenbacher, Die Tucherisch Compagnia. Ein Nürnberger Handelshaus um 1500, in: Wirtschaft – Gesellschaft – Städte, Festschrift für Bernhard Kirchgässner zum 75. Geburtstag, Hans-Peter Becht/Jörg Schadt (Hg.), Ubstadt-Weiher 1998, S. 79-93, hier S. 88. – Ders., Handel nach Osten (wie Anm. 5), S. 75. 21 StadtAN, GSI 152 (Genanntendatenbank): Hans (II.) Thill, heiratet vor 1512 Ursula Sattler, 1512-1527 Genannter des Größeren Rats, wohnhaft in der Gilgengasse (identifiziert nach Kohn [wie Anm. 15] als Haus des Schwiegervaters Jacob Sattler, Theresienstr. 6/Fünferplatz 5, heute Teil des Parkplatzes am Fünferplatz, östlich des Rathauses). 22 Hieronymus IV. aus Lyon an Anton II. Tucher in Nürnberg 5. September 1517 (StadtAN, E 29/IV Nr. 242). Name des Lehrherrn erwähnt in StadtAN, E 29/IV Nr. 130, 140, 244, 261-264, 415. 23 StadtAN, E 29/IV Nr. 247 (geschrieben 27. Februar 1518, Eingang am 17. März = 18 Tage), Nr. 256 (geschrieben 20. Februar 1519, Eingang am 11. März = 19 Tage), Nr. 261 (geschrieben 16. Dezember 1519, Eingang am 2. Januar 1520 = 17 Tage), Nr. 265 (geschrieben 12. September 1520, Eingang am 3. Oktober = 21 Tage). 24 StadtAN, E 29/IV Nr. 554 (geschrieben 13. Dezember 1524, Eingang am 26. Dezember). 25 StadtAN, E 29/IV Nr. 1145 und 330 (geschrieben 3. April 1538, Eingang am 13. April).
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Sebald war in diesen Jahren zumindest von Hieronymus IV. als Vorbild auserkoren worden, vielleicht auch von dessen Großvater Anton II. (und Onkel Linhart II.) als Unterstützung für diesen vorgesehen gewesen. Weil Anton II. häufig Mängel in Hieronymus’ Ausbildung monierte26, entkräftete dieser wiederholt die Vorhaltungen mit dem Hinweis, er wolle sich am Vorbild Sebalds orientieren und von dessen Ausbildung im Rechnen profitieren.27 Hierbei sollte Sebald vom Lyoner Faktor der Tucher, dem Nürnberger Kaufmann Hans Scheufelein (gest. 1541)28, unterstützt werden29, dem spätestens ab 1519 zusammen mit dem nun auch häufiger in Lyon zu findenden späteren Teilhaber Linharts II. in der Tucherschen Handelsgesellschaft, Lorenz II. Tucher (14901554)30, eine Art Oberaufsicht über Hieronymus’ Ausbildung übertragen wurde.31 Vielleicht war damals in der Nürnberger Zentrale der Unmut über Sebald X. schon so groß, daß solche Maßnahmen als notwendig erachtet wurden. Am 16. Dezember 1519 mußte sich Hieronymus IV. bei seinem Großvater zum Gehorsam gegenüber Hans Scheufelein verpflichten, und auch in den Jahren 1521 bis 1523 ermahnte der Großvater seinen Enkel in Lyon mehrfach, auf Hans Scheufelein zu hören.32
III. Inzwischen hatten aber weitere Ereignisse das Verhältnis zwischen der Nürnberger Zentrale und Sebald X. getrübt. 1520 legte Sebald persönlich der Firmenleitung Rechnungen aus Lyon und Genf zur Prüfung vor. Sein Weg ___________ 26
Hieronymus IV. aus Lyon an Anton II. Tucher in Nürnberg 5. September 1517, 28. April 1518, 18. September 1518, 20. Februar 1519, 12. Juli 1519 (StadtAN, E 29/IV Nr. 242, 259, 253, 256, 258). 27 Hieronymus IV. aus Lyon an Anton II. Tucher in Nürnberg 28. April 1518, 18. September 1518 (StadtAN, E 29/IV Nr. 249, 253). – Beer, Verhältnis (wie Anm. 3), S. 122 f. 28 StadtAN, GSI 152 (Genanntendatenbank): Hans (I.) Scheufelein, heiratet vor 1525 Ursula Vischer, 1525-1541 Genannter des Größeren Rats, wohnhaft ab 1536 am Zotenberg (identifiziert nach Kohn [wie Anm. 15] als Tucherstraße 1/Dötschmannsplatz 2, heute etwa Tucherstraße 1). 29 Hieronymus IV. aus Lyon an Anton II. Tucher in Nürnberg 18. September 1518, 7. Dezember 1518, 20. Februar 1519, 12. Juli 1519 (StadtAN, E 29/IV Nr. 253, 254, 256, 258). – Beer, Verhältnis (wie Anm. 3), S. 115, mit Beleg StadtAN, E 29/IV Nr. 254. 30 Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 123r-124v. – Fleischmann (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 1018. 31 Hieronymus IV. aus Lyon an Anton II. Tucher in Nürnberg 20. Februar 1519, 12. Juli 1519 (StadtAN, E 29/IV Nr. 256, 258). 32 Hieronymus IV. aus Lyon an Anton II. Tucher in Nürnberg 16. Dezember 1519 (StadtAN, E 29/IV Nr. 261), Anton II. aus Nürnberg an Hieronymus IV. Tucher in Lyon 28. Oktober 1521, 1. Mai 1522, 19. Januar 1523 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1623).
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führte ihn zunächst zu Linhart II. nach Nördlingen und von dort zu Anton II. nach Nürnberg. In Nördlingen hatte Linhart Unstimmigkeiten in der Genfer Rechnung festgestellt, die anscheinend im Bargeldbereich lagen. Dies bestärkte Linhart in seinem bereits gefaßten Beschluß, von Nördlingen aus nach Genf und Lyon aufzubrechen, um persönlich den Mitarbeitern in den dortigen Kontoren, aber auch den eigenen Verwandten auf die Finger zu schauen. Sebald X. mußte ihn begleiten.33 Schon in Nördlingen lag auf der Hand, daß sich der Verlust in Genf wohl erst nach dem endgültigem Abschluß der Rechnung klären ließe, die die Faktoren Linhart Rottengatter (gest. 1569)34 und Hans von Thill erst noch vervollständigen mußten.35 Dem war aber nicht so: Auch im Dezember 1520 waren die Probleme mit der Genfer Rechnung noch nicht aus der Welt geschafft. Denn die Recherchen in Genf hatten ergeben, daß der eingangs erwähnte Wolfgang III. Tucher die Rechnung von Hans von Thill in Genf erhalten und mit nach Lyon genommen hatte (wo er sie Sebald X. aushändigte, der sie nach Nördlingen bzw. Nürnberg bringen sollte). Es wäre wohl besser gewesen, wenn der Tucherfaktor Linhart Rottengatter von Lyon nach Genf gekommen wäre, dort die Rechnung übernommen und nach Nürnberg gebracht hätte. So wurde nun spekuliert, ob der Genfer Verlust auf die Übergabe der Rechnung samt Bargeld von Hans von Thill an Wolfgang III. und deren unnötigen Transport von Genf nach Lyon und von Lyon wieder über Genf nach Nürnberg zurückzuführen sei.36 1521 ging der Zwist um die Genfer Rechnung in die nächste Runde: Sebald X. Tucher brach am 16. Mai mit Hans Scheufelein und den beiden nun endgültig erstellten Rechnungen von Lyon nach Genf auf, von dort reisten beide weiter nach Nördlingen, wo Scheufelein bei Verwandten zurückblieb. Sebald ging alleine nach Nürnberg. In Lyon zurück blieben Wolfgang III. und Hieronymus IV. Quintessenz des abermaligen Rapports in der Nürnberger Zentrale war, daß weiterhin ein Fehlbetrag in der Genfer Rechnung bestehen blieb. Neben den Ungenauigkeiten in der Bargeldabrechnung fehlte nun auch 1 Zentner Wachs. ___________ 33 Linhart II. aus Nördlingen an Anton II. Tucher in Nürnberg 3. Oktober 1520, Martin I. aus Regensburg an Anton II. Tucher in Nürnberg 12. Oktober 1520, Linhart II. aus Nördlingen an Anton II. Tucher in Nürnberg 22. Oktober 1520, Linhart II. aus Lyon an Anton II. Tucher in Nürnberg 24. November 1520 (StadtAN, E 29/IV Nr. 315, 460, 317, 318). 34 StadtAN, GSI 152 (Genanntendatenbank): heiratet 1530 Margarethe Kurz, 15331569 Genannter des Größeren Rats, wohnhaft in der Hirschelgasse. Zu ihm vgl. auch Schaper (wie Anm. 3), S. 277, Anm. 1022. 35 Martin I. aus Regensburg an Anton II. Tucher in Nürnberg 12. Oktober 1520 (StadtAN, E 29/IV Nr. 460). 36 Martin I. aus Regensburg an Anton II. Tucher in Nürnberg 14. Dezember 1520 (StadtAN, E 29/IV Nr. 465).
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Die Nürnberger Realisten gingen jedoch davon aus, daß sich dieser Verlust wohl nicht mehr aufklären lasse.37
IV. Probleme mit der Rechnungslegung, mit Abrechnungen und Warenverlusten ziehen sich wie ein roter Faden vor allem durch die ersten beiden Jahrzehnte von Sebalds Geschäftsleben. Die Nürnberger Zentrale beschwerte sich immer wieder über fehlerhafte Abrechnungen aus den Filialen in Genf und Lyon.38 1524 fehlten nach einer Inventarisierung der in Genf gelagerten Waren durch Hieronymus IV. und Wolfgang III. drei Ringe Draht, was die beiden spekulieren ließ, Sebald hätte Kaufleuten aus Nantua (Dép. Ain) mehr Draht abgegeben, als er in die Bücher eintrug.39 Bei einer weiteren Prüfung durch Wolfgang III. fehlten in der Rechnung aus Lyon Draht und 1 Zentner Wachs, in der aus Genf 1 ½ Zentner Draht und Geld, und einige Posten Tuche waren nicht vermerkt. In diesem Falle wurden Wolfgang III. und der Lyoner Faktor der Tucher, Vinzenz Perckhamer (gest. 1563)40, beauftragt, alle Vorgänge in Genf genau zu beobachten. Der Abgang an Draht in der Genfer Rechnung wurde abermals auf Sebalds Unachtsamkeit beim Verkauf an die Leute aus Nantua zurückgeführt, fehlende Gelder auf eventuelle Spielschulden Sebalds und Hieronymus’ IV.41 Auch Sebald X. wurde als Kassenkontrolleur herangezogen. 1528 stellte er in Lyon einen Kassenfehlbetrag von 25 Gulden fest, den Vinzenz Perckhamer bis auf eine Differenz von 6 Gulden aufklären konnte. Im Gegenzug hatte dieser zusammen mit Sebald die in Genf gelagerten Waren überprüft und gefunden, daß Blech und Wachs ordnungsgemäß verbucht waren. Beim Messing er___________ 37 Linhart II. aus Lyon an Anton II. Tucher in Nürnberg 15. Mai 1521 (StadtAN, E 29/IV Nr. 319). 38 Hieronymus IV. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 24. Oktober 1524, Wolfgang III. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 13. Dezember 1524. 27. Februar 1525, Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 30. November 1525, 13. Mai 1528, Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 5. Oktober 1528, 11. Oktober 1532, Lorenz II. aus Nördlingen an Linhart II. Tucher in Nürnberg 1. September 1533 (StadtAN, E 29/IV Nr. 282, 554, 555, 557, 576, 1358, 1372, 425). 39 Hieronymus IV. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 24. Oktober 1524 (StadtAN, E 29/IV Nr. 282). 40 StadtAN, GSI 152 (Genanntendatenbank): heiratet 1538 in Augsburg Anna Weyer (s. auch StadtAN, E 29/IV Nr. 1384). 41 Wolfgang III. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 13. Dezember 1524, 27. Februar 1525 (StadtAN, E 29/IV Nr. 554, 555).
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gab sich jedoch ein Minus von 8 Pfund, beim Draht dagegen ein Plus von 23 bis 24 Pfund.42 Das System der gegenseitige Kontrolle funktionierte gut: Im Frühjahr 1530 kam Hieronymus IV. aus Lyon nach Genf zum Rechnungsabschluß, im Dezember Wolfgang III.43 In Lyon hatte man 1531 wieder einen Abgang an Draht, Messing und Wachs feststellen müssen, wohingegen eine Spezialrechnung über die via Genf nach Nürnberg gesandten Felle und Tuche anscheinend in Ordnung war.44 Dagegen war die Nürnberger Zentrale regelrecht alarmiert, als Hieronymus IV. die Eigenwilligkeiten Sebalds in der Rechnungsführung der Genfer Filiale weitermeldete. Angeblich sei weder das Schuldbuch dupliziert noch ein Journal geführt worden. Alle Geschäftsvorgänge würden nur auf Makulatur oder losen Zetteln vermerkt werden. Dies führte dazu, daß man umgehend Hieronymus und Lorenz II. mit einer genaueren Untersuchung beauftragte.45 Da es keine weiteren Meldungen über diese oder ähnliche Mißstände in den Quellen gibt, ist davon auszugehen, daß entweder Hieronymus wie schon öfter übertrieben hatte oder die Normalität im Genfer Kontor sehr schnell wieder hergestellt worden ist. 1532 stellte man in Genf abermals einen kleinen Verlust an Draht fest, den Sebald X. eigenhändig gewogen hatte. Aber auch in der Rechnung aus Lyon ergab sich eine Differenz von 5 Scudi.46 Die 1533 erfolgte Rechnungsprüfung in Genf zeigte wieder ein Defizit bei den Blechen auf, zugleich jedoch auch einen Überschuß von 2 Gulden.47 1535 wurde in Lyon abermals ein Verlust an Draht moniert, 1537 wurde die Rechnung zur Pariser Messe beanstandet und fahndete man bei Sebald X. nach verschwundenem Geld (200 Scudi), 1539 hatte Sebald an den Kaufmann Huguet Hesterlein aus Bourges48 zuviel Geld ausbezahlt49, und 1551 wurde Sebald gar verdächtigt, eine Rechnung, die ihm nach ___________ 42
Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 5. Oktober 1528 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1358). 43 Hieronymus IV. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 1. März. 1530, Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 14. Dezember 1530 (StadtAN, E 29/IV Nr. 285, 582). 44 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 23. September 1531 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1363). 45 Hieronymus IV. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 13. Dezember 1531 (StadtAN, E 29/IV Nr. 280). 46 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 11. Oktober 1532 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1372). 47 Anton V. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 29. September 1533 (StadtAN, E 29/IV Nr. 60). 48 Er war der Lehrherr Christophs III. Tucher, s. unten S. 380. 49 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 27. September 1535, Linhart Rottengatter aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 4. Mai 1537, Anton V. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 29. Dezember 1537, Wolfgang III.
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Nürnberg mitgegeben worden war, nicht abgeliefert zu haben, was sich aber als falsch herausstellte.50
V. Doch zurück zu den Ereignissen des Jahres 1520: Die Reise Linharts II. zu den Niederlassungen der Tucherfirma in Genf und Lyon wirft weitere Schatten auf die beiden jungen Repräsentanten der Familie vor Ort. In einem Bericht an seinen Vater beurteilt er am 24. November 152051 vor allem Sebald als wenig vertrauenswürdig und fordert, ihn in Lyon nicht mit Hieronymus IV. alleine zu lassen. Letzterem werden dank anhaltendem Fleiß in diesem Brief immerhin vielversprechende Anlagen attestiert. Wie schwer die Anschuldigungen gegen Sebald gewesen sein mögen, zeigt Linharts Hinweis, er wolle seinem Vater Weiteres über ihn mündlich berichten. Martin I. Tucher, Mitgesellschafter der Tucherschen Handelsgesellschaft52, rekapitulierte wenig später Antons und Linharts Urteil: Sebald Tucher verhalte sich absolut anders als erwartet. Er habe die Anlagen dazu, vernünftig und geschickt zu sein, wenn er denn seinen Verstand richtig einsetzen würde.53 Martin I. unterstützte die Planung seines Vetters Anton II. (die sicherlich mit Linhart II. abgestimmt war), Sebald X. erst einmal nach Nürnberg zurückzubeordern, damit man feststellen könne, worin seine Probleme lagen. Ob und wann dies geschehen ist, läßt sich den Quellen nicht entnehmen. Sebalds Lebenswandel scheint sich aber nicht gebessert zu haben. So schildert Hieronymus IV., als er 1524 bei Sebald X. in Genf weilte, seinen Verwandten als einen Menschen, der Umgang mit schlechter Gesellschaft pflege. Er treibe sich mehrere Tage in der Woche mit Schlemmern und Prassern herum und unterhalte engen Kontakt zu Frauen, was nicht nur viel Geld koste, sondern bereits den Unmut der Nachbarn hervorgerufen habe und auch dem in Genf lebenden Erasmus I. Tucher (1493-1528)54 aufgefallen sei. Als Einzelbeispiel für ___________ aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 22. November 1539 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1380, 1523, 67, 587). 50 Herdegen IV. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 16. Dezember 1551 (StadtAN, E 29/IV Nr. 203). Die angeblich unterschlagene Rechnung (StadtAN, E 29/IV Nr. 169) hat Sebald am 4. Dezember 1551 Linhart übergeben. 51 StadtAN, E 29/IV Nr. 318. 52 Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 90r-91r. – Fleischmann (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 1017. 53 Martin I. aus Regensburg an Anton II. Tucher in Nürnberg 14. Dezember 1520 (StadtAN, E 29/IV Nr. 465). 54 Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 134r-135r. Erasmus I., ebenfalls Mitglied der jüngeren Tucherlinie, war der Sohn Bertholds V. Tucher (1454-1519) und unterhielt mit dem
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diesen schlechten Umgang führt er den der Nürnberger Firmenzentrale bekannten Berner Hauptmann Franz Argenbrüster an, dem Sebald ebenfalls eine Frau zugeführt habe. Ehrbare Leute in Genf können diese Aussagen bestätigen. Abschließend bittet Hieronymus um vertrauliche Behandlung des Gesagten und erklärt sich bereit, Lorenz II., sobald er komme, mündlich noch Genaueres zu berichten.55 Lorenz II., dem späteren Teilhaber der Tucherschen Handelsgesellschaft, kam in jener Zeit offensichtlich die Aufgabe eines von der Nürnberger Zentrale und dem Firmenchef Linhart autorisierten Kontrolleurs zu. Es liegt auf der Hand, daß Hieronymus die Anschuldigungen gegen Sebald nicht ohne eigene Hintergedanken zu Papier brachte. Wollte er damit von sich selbst ablenken, da auch er von Nürnberg aus unter Beobachtung stand? Wolfgang III., der an Stelle Lorenz’ II. von Lyon aus nach Genf geschickt worden war, um die Verhältnisse in Augenschein zu nehmen, berichtete, daß beide – Sebald und Hieronymus – sicherlich gerne in schlechter Gesellschaft verkehrten. Seinen Bruder Sebald charakterisierte er dabei als „kindisch“ und leichtgläubig, aber als willig.56 Dieser Bericht wurde übrigens von Sebald X. persönlich nach Nürnberg überbracht, also war er wohl nach den Anschuldigungen Hieronymus’ IV. einmal mehr in die Zentrale zum Rapport befohlen worden. Kurze Zeit später, als er abermals seitens der Nürnberger Zentrale von Lyon nach Genf zur Aufsicht beordert worden war, bestätigte Wolfgang III. das bereits Bekannte (beide seien noch recht kindisch und pflegten Umgang mit schlechter Gesellschaft). Nun aber drehte er den Spieß um und sah in Hieronymus IV. den Verursacher der entstandenen Turbulenzen. Er sei der Unbotmäßige, der alle Ermahnungen ignoriere, Befehle zwar annehme, aber nicht ausführe. In diesem Zusammenhang fielen auch die eingangs zitierten Worte „je lenger, je unfleysiger“. Obwohl Wolfgang nicht bestätigen konnte, daß die beiden ihr Geld mit Frauen verpraßten, attestierte er ihnen doch Spielschulden. Aber auch hier sah er in Hieronymus, der sowohl bei Conrad Scheufelein als auch beim Wirt des Genfer Wirtshauses zum Bären, das in der Nachbarschaft der Tucherschen Niederlassung lag57, und bei dem Schweizer Piero Lewin Schulden hatte, den größeren Übeltäter. Als Lösungsvorschlag bot Wolfgang III. an, Hieronymus mit zu sich zurück nach Lyon zu nehmen, wo er ihn besser unter ___________ jüngeren Bruder seines Vaters, Hans X. Tucher (1468-1527), eine eigene Handelsfirma. Er trieb Handel nach und in Genf, wo er sich auch niederließ, heiratete und verstarb. 55 Hieronymus IV. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 24. Oktober 1524 (StadtAN, E 29/IV Nr. 282). 56 Wolfgang III. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 13. Dezember 1524 (StadtAN, E 29/IV Nr. 554). 57 Hektor Amman, Oberdeutsche Kaufleute und die Anfänge der Reformation in Genf, in: Zeitschrift für Württembergische Landeskunde 13 (1954), S. 150-193, hier: S. 170.
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Kontrolle habe und dieser sich wieder mehr dem Handel und weniger seinen sonstigen Ambitionen widmen könne.58 Wie sehr sich Wolfgang hierin irrte, zeigen ähnliche Klagen aus Lyon, die er 1526/27 Linhart II. in Nürnberg zukommen ließ.59 Der Lebenswandel Sebalds X., der nach wie vor unter Beobachtung seines Bruders Wolfgang stand60, schien sich nach 1525 gebessert zu haben. 1527 berichtete dieser nur von Sorgen, die ihm die Vorgänge in Genf bereiten würden, weshalb er Sebald angewiesen habe, Waren nie lange zu behalten, sondern möglichst umgehend weiterzuleiten.61 Welche Vorgänge dem älteren Bruder Sorge bereiteten, ob sie eher politischer oder doch familiärer Art waren, geht aus dieser Quelle nicht hervor. Es sind aber doch wohl eher politische Ereignisse gemeint gewesen wie Händel in und um Lyon oder die kriegerischen Auseinandersetzungen in Oberitalien.62 Doch bereits im folgenden Jahr stimmte Wolfgang erneut Klagen über Sebald an, er werde immer nachlässiger, was nun auch Wolfgang auf den schlechten Umgang seines Bruders zurückführte. So brachte er nun ebenfalls eine Versetzung Sebalds in eine andere Faktorei der Firma zur Sprache.63
VI. Daraus wurde jedoch nichts, da Sebald X. am 2. Februar 1528 in Genf Ottene, die wenig bemittelte Tochter des Franz Rossette, geheiratet hatte. Ottenes Mutter entstammte dem Geschlecht der Permeten de la Torre aus dem Roussillon.64 Das angehende Familienoberhaupt in Nürnberg, Linhart II., tobte, da ihm die Heiratsabsichten wie auch die Hochzeit selbst verheimlicht worden waren. ___________ 58
Wolfgang III. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 27. Februar 1525 (StadtAN, E 29/IV Nr. 555). Den Vorwurf, Hieronymus verbrauche zu viel Geld, erhob Linhart bereits 1524: Hieronymus IV. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 24. Oktober 1524 (StadtAN, E 29/IV Nr. 282). 59 Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 23. April 1526, 3. Mai 1526, 27. August 1526, 23. Mai 1527, 7. Dezember 1527 (StadtAN, E 29/IV Nr. 561, 562, 563, 568, 572). 60 Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 3. Mai 1526, 16. Mai 1526 (StadtAN, E 29/IV Nr. 562, 559). 61 Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 2. September 1527 (StadtAN, E 29/IV Nr. 570). 62 Lorenz II. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 6. Dezember 1526, Lorenz II. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 23. Dezember 1526 (StadtAN, E 29/IV Nr. 416, 566). 63 Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 15. Januar 1528 (StadtAN, E 29/IV Nr. 573). 64 Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 110r-110v.
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Sebald X. Tucher und seine Ehefrauen Ottene Rossette und Ursula Ketzel, Stadtarchiv Nürnberg, Tucherbuch
Erst von seinem Vetter Lorenz II. hatte er von der Hochzeit erfahren, ein Vorgang, der völlig inakzeptabel war. Nun hatte Linhart bei Sebalds Bruder Wolfgang in Lyon Nachforschungen über dessen Schwägerin eingeholt, von diesem jedoch nur erfahren, daß Ottene zwar züchtig und fromm sei, aber nur
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450 Scudi mit in die Ehe bringe. Das restliche Vermögen der Ehefrau wäre erst in zwei Jahren fällig. Die Hochzeitsfeierlichkeiten sollten in kleinstem Familienkreise Ottenes nach Ostern (12. April) stattfinden – ein weiterer Affront in den Augen der Tucher. Wolfgang schickte Hieronymus IV., dem er inzwischen wohl wieder mehr vertraute, nach Genf, um dort vor Ort Einblicke in die neuen Verhältnisse Sebalds zu bekommen. Wenigstens eine Hoffnung bestehe aber – in Zukunft werde sich wohl unter Ottenes Einfluß der Lebenswandel Sebalds bessern.65 Diese Hoffnung wurde Realität, denn fortan finden sich im Briefwechsel der Tucher keine Andeutungen mehr über Sebalds schlechten gesellschaftlichen Umgang. Wie unvorstellbar Sebalds Heiratsverhalten in Nürnberg war, zeigt die Tatsache, daß Linhart II. Wolfgang III. auch noch später verdächtigte, als Bruder von der Heirat vorab Kenntnis gehabt zu haben, was dieser aber vehement verneinte.66 Von Ottenes Existenz wurde in der Familie wie auch im offiziellen Nürnberg fortan wenig Kenntnis genommen, und in der Familienüberlieferung im Großen Tucherbuch wird die Tatsache, daß die Verehelichung heimlich geschah, totgeschwiegen.
VII. An Stelle Sebalds geriet nun bald Ottene in die Schußlinie der Familie. 1531 kritisiert der zu jener Zeit wieder einmal in Genf weilende Hieronymus IV. die Zustände in der dortigen Niederlassung: Das morgendliche Auf- und abendliche Zusperren des Ladens, der wohl nicht im Haus lag (s. unten), habe die Hausmagd zu besorgen, die Schlüssel zum Gewölbe hingen in der Küche, Magd und Ehefrau gingen im Kontor ein und aus. Schuld an diesen Zuständen habe das neue Regiment Ottenes. Im gleichen Tenor greift Hieronymus den sich zu jener Zeit ebenfalls in Genf aufhaltenden Wolfgang III. an. Ihm wirft er Geltungs- und Prunksucht vor, die darin gipfele, daß er mit Unterstützung seines Bruders Sebald, dem Hieronymus ebenfalls riskante Geldgeschäfte unterstellt, ein etwa eine halbe Meile von Genf entferntes Schlößchen angemietet habe. Überdies verdächtigt er Wolfgang, zusammen mit anderen eine eigene Handelsfirma gegründet zu haben.67 Wie schon bei seinen Anschuldigungen ___________ 65
Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 6. Februar 1528 (StadtAN, E 29/IV Nr. 574). 66 Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 13. Mai 1528 (StadtAN, E 29/IV Nr. 576). 67 Hieronymus IV. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 13. Dezember 1531 (StadtAN, E 29/IV Nr. 280).
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gegenüber Sebald X. 152468 bittet Hieronymus um vertrauliche Behandlung seiner Vorwürfe. Er hat diesen Brief heimlich verfaßt und hierfür sogar aus Sicherheitsgründen noch nicht einmal das im Genfer Kontor übliche Schreibpapier, sondern einen Bogen mit anderem Wasserzeichen verwendet.69 Das mit so üblen Verhältnissen beleumdete Haus in Genf ging auf Sebalds voreheliche Verbindung mit Ottene zurück. Denn 1525 war das Haus, in dem die Tuchersche Handelsgesellschaft residierte, von seinem Besitzer André Gut verkauft worden.70 Die Tucher hatten darin zwar bis 1527 ein vertraglich geregeltes Nutzungsrecht, der neue Besitzer „Ihan Baudischon“ (= Jean Baudichon de la Maisonneuve) machte jedoch ab 1526 Ansprüche auf die Räumlichkeiten geltend, die bislang der alte Besitzer Gut selbst hätte benutzen dürfen. So war man gezwungen, baldmöglichst eine neue Bleibe zu finden. Hierfür hatte Louis Fetta, ein Stiefbruders Ottenes, die Sebald damals als „donna mia“ betitelte, ein Haus angeboten, das Sebald jedoch nicht allzusehr zusagte.71 Dennoch scheint es zum Einzug in dieses Haus gekommen zu sein, denn 1537 schildert Anton V., daß das Haus der Genfer Filiale vom Schwager von Ottenes Stiefmutter errichtet und später Ottene vermacht worden sei, was zu einem Rechtsstreit mit weiteren Verwandten Ottenes geführt habe. Das Haus wird zwar als etwas abseitig gelegen beschrieben (was wohl 1525 zu Sebalds ablehnender Haltung geführt hatte), dafür aber mit zwei Magazinen, mehreren Kammern, einem Kontor und einem Stall für fast zwanzig Pferde als äußerst praktisch bewertet.72 In dieser Aufzählung fehlt ein Verkaufsraum, ein offener Laden („püttigen“), wie er im früheren Haus vorhanden war (auch dies vielleicht ein Grund für Sebalds ablehnende Haltung 1525). Einen solchen samt einem Gemach, nicht weit entfernt vom Standort des alten Hauses gelegen, hatte 1533 Ulrich Emmler den Tucher zu mieten angeboten, was sie aber aus Sicherheitsgründen abgelehnt hatten.73 ___________ 68
Hieronymus IV. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 24. Oktober 1524 (StadtAN, E 29/IV Nr. 282). 69 Freundlicher Hinweis von Helge Weingärtner M.A., Nürnberg. 70 Nach Amman (wie Anm. 57), S. 170 und S. 178 (vgl. hier auch die Identifikation des Käufers), lag das Haus in der Rue des Allemands (heute: Rue de la Confédération). Diesem folgt Ludwig Grote, Die Tucher. Bildnis einer Patrizierfamilie, München 1961, S. 33. 71 Sebald X. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 23. März 1525 (StadtAN, E 29/IV Nr. 521). 72 Anton V. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 29. Dezember 1537 (StadtAN, E 29/IV Nr. 67). 73 Lorenz II. aus Nördlingen an Linhart II. Tucher in Nürnberg 18. September 1533, 27. September 1533, 23. Oktober 1533 (StadtAN, E 29/IV Nr. 430, 432, 438). – Amman (wie Anm. 57), S. 178 (hier auch die Lokalisierung), stellt die Anmietung bei Emmler als vollzogen dar, kennt aber nicht – obwohl er sich auf das Tuchersche Briefarchiv als Quelle beruft (S. 170 Anm. 19) – das 1537 von Anton V. beschriebene Haus.
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VIII. Auf das geschäftliche Verhältnis zwischen der Nürnberger Firmenleitung und der Genfer Niederlassung wirkte sich Sebalds verheimlichte Heirat nicht aus. 1523 hatte Kaspar I. Nützel (um 1471-1529), damals einer der sieben Älteren Herren im Nürnberger Kleineren Rat74, seinen erst jüngst in die Familie aufgenommenen Schwiegersohn Linhart II. Tucher75 beauftragt, ihm in Antwerpen einen Reit(maul)esel zu besorgen.76 In Antwerpen war – trotz mehrjährigen Suchens – kein geeigneter aufzutreiben, weshalb Linhart 1527 Wolfgang III. in Lyon diesen Auftrag übertrug.77 Auch für ihn wurde es schwierig, dem Wunsch Nützels nachzukommen, und so beauftragte er damit seinen Bruder Sebald in Genf, wo es ohnehin bessere Reitesel gäbe, und bat ihn zugleich, einen Sattel anfertigen zu lassen.78 Auch dieser hatte jedoch keinen Erfolg, die Suche nach einem geeigneten Tier zog sich weiter hin79, bis schließlich Hieronymus IV. in Lyon doch noch eines auftreiben konnte. Das gefundene Tier war lammfromm, sechs Jahre alt und konnte einem Edelmann, der sich als Söldner verdingt hatte und nun in Geldnöten war, abgekauft werden. Es wurde Sebald X. in Genf überstellt, wo der Esel am 14. Juli 1528 eintraf. Sebald sollte ihn weiter nach Nürnberg schicken.80 Dieser jedoch verzögerte die Auslieferung, weil er befürchtete, daß das Tier, das er im Alter unter vier Jahre schätzte, einen von Hieronymus geplanten Gewaltritt des Boten Martin Gro-Ro, der am 20. August von Genf aufbrechen wollte, aber bereits neun Tage später in Nürnberg sein mußte, nicht unbeschadet überstehen würde. Sebald übergab das Tier deshalb lieber einem Boten, der die Strecke in 18 Tagen zu bewältigen gedachte. Die Verzögerung wiederum sorgte in Lyon für Verwunderung.81 Ob sich der ___________ 74
Fleischmann (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 739-741. Die Hochzeit Linharts mit Katharina Nützel fand am 7. Oktober 1522 statt, Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 118r-121v. 76 Kaspar I. Nützel aus Nürnberg an Linhart II. Tucher in Nürnberg, undatiert [Oktober 1523] (StadtAN, E 29/IV Nr. 1301). 77 Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 7. Dezember 1527 (StadtAN, E 29/IV Nr. 572). 78 Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 6. Februar 1528, 22. Februar 1528 (StadtAN, E 29/IV Nr. 574, 575). 79 Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 13. Mai 1528, Lorenz II. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 21. Mai 1528, 25. Mai 1528 (StadtAN, E 29/IV Nr. 576, 419, 420). 80 Hieronymus IV. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 18. Juli 1528, Vinzenz Perckhamer aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 20. Juli 1528 (StadtAN, E 29/IV Nr. 272). 81 Sebald X. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 23. August 1528, Hieronymus IV. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 27. August 1528 (StadtAN, E 29/IV Nr. 522, 273). 75
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Besteller überhaupt an seinem Reitesel noch erfreuen konnte, ist ungewiß, da er bereits am 25. September 1529 „nach qualvollem Siechtum“82 verstorben ist.
IX. Trotz seiner Heimlichtuereien war Sebald X. bereits im Oktober 1528 wieder aktiver Bestandteil des üblichen Familientratsches. Sowohl er als auch Linhart Rottengatter meldeten Wolfgang III. nach Lyon, wie sehr sich ihr Faktor Vinzenz Perckhamer um die Witwe des am 8. März verstorbenen Erasmus I. Tucher, Franzisca de Genere83, bemühe und wie wenig diese an Perckhamer interessiert sei. Eine solche Verbindung wäre wohl in der Nürnberger Firmenzentrale gerne gesehen worden, wo man sich noch 1530 Gedanken machte, wie man Perckhamer am besten verheiraten könnte.84 Als weiteren Beleg für die trotz Sebalds verheimlichter Heirat auch 1528 gut funktionierende Zusammenarbeit zwischen der Firmenzentrale in Nürnberg und der Genfer Außenstelle kann man die Überlegungen Linharts II. und Wolfgangs III. werten, den in Lyon zur Ausbildung befindlichen Neffen des Firmenchefs, Anton V. Tucher (1510-1569)85, nach Genf zu schicken.86 Ohnehin scheinen Sebald X. und Genf zunehmend in Ausbildungsangelegenheiten der Tucherfirma eingebunden worden zu sein. Schon 1525 hatte er für den Sohn eines Freundes von André Gut, den wir bereits als Verkäufer des ersten Hauses der Tucherschen Handelsgesellschaft in Genf kennengelernt haben87, in Nürnberg nach einer Lehrstelle gesucht.88
___________ 82
Fleischmann (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 741. Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 134r-135r. 84 Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 27. Oktober 1528, 28. November 1528, Linhart II. aus Nürnberg an Wolfgang III. Tucher in Lyon 18.Mai 1530 (StadtAN, E 29/IV Nr. 578, 579, 581). 85 Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 161r-163r. – Fleischmann (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 1024. 86 Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 27. Oktober 1528 (StadtAN, E 29/IV Nr. 578). 87 Vgl. oben S. 374. 88 Sebald X. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 14. Februar 1525 (StadtAN, E 29/IV Nr. 520). – Beer, Verhältnis (wie Anm. 3), S. 109. 83
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Leonhard II. Stromer und seine Ehefrauen Magdalena Stromer und Katharina Nützel, Stadtarchiv Nürnberg, Tucherbuch.
Tragischer gestalteten sich die langjährigen Bemühungen um Ausbildungsstellen für Pankraz Reich (gest. 1544), über Linharts Mutter Anna Reich ein Verwandter und bis 1534 ein Mündel Linharts II. Dieser hatte ihn seit 1527 zu
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vermitteln versucht89 und einen ersten Lehrherrn 1529 in Louis Thomas in Macon gefunden, mit dem beide recht zufrieden zu sein schienen.90 Im Herbst 1529 erkrankte Pankraz am Fieber, das er zunächst in Lyon bei Wolfgang III. und schließlich in Genf bei Sebald X. Tucher auszukurieren suchte.91 Das alte Dienstverhältnis in Macon war hierüber zerbrochen, so daß Wolfgang beauftragt wurde, nach einem neuen Lehrherrn Ausschau zu halten. Einen solchen fand man in Lyon in dem Gewürzhändler Anton Andrian.92 Auch mit diesem war man sehr zufrieden, Pankraz Reichs Lehrzeit wurde bis 1532 verlängert.93 Am 6. März 1532 jedoch verstarb Anton Andrian unter Hinterlassung etlicher Schulden an der Pest94, und Pankraz Reich stand wieder ohne Lehrherrn da. Vom bereits bekannten Faktor der Tucherfirma in Lyon, Vinzenz Perckhamer, wurde Reich nun wieder nach Genf zu Sebald Tucher geschickt. Inzwischen fahndeten Kommissare des französischen Königs wegen illegalem Güterversands nach ihm.95 Sebald X. hatte also nicht nur den Auftrag, ihm einen neuen Dienstherrn zu suchen, sondern vor allem, ihn vor den französischen Häschern zu verstecken. Sebald vermittelte ihn an einen Rechenmeister und der bereits erwähnte Tucherfaktor Linhart Rottengatter an einen Schreiber.96 Im Sommer 1532 konnte Pankraz dann doch nach Lyon zurückkehren, wo ihn Perckhamer wieder zu einem Rechenmeister gab, aber im August erkrankte er abermals am Fieber, was einerseits – wohl zutreffend – als Syphilis, andererseits als Blattern diagnostiziert wurde.97 Wahrscheinlich war das hartnäckige „Fieber“ 1529/30 ___________ 89
Thomas Reich aus Augsburg an Linhart II. Tucher in Nürnberg 22. März 1527, 9. April 1528 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1429, 1431). 90 Pankraz Reich aus Macon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 29. April 1529, 14. August 1529 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1400, 1401). 91 Pankraz Reich aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg November 1529, 5. Dezember 1529, 18. Dezember 1529, Januar 1530, 21. Januar 1530, 2. Februar 1530, Pankraz Reich aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 27. Juli 1530 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1402, 1403, 1404, 1406, 1405, 1407, 1408). 92 Pankraz Reich aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 7. Dezember 1530 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1411). 93 Pankraz Reich aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 8. Februar 1531, 15. Mai 1531, 15. Oktober 1531, 7. Februar 1532 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1412, 1413, 1414, 1415). 94 Pankraz Reich aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 30. März 1532, Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 7. Mai 1532 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1416, 1367). 95 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 27. März 1532 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1366). 96 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 7. Mai 1532, Pankraz Reich aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 24. Mai 1532 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1367, 1417). 97 Pankraz Reich aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 2. September 1532, Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 11. Oktober 1532, Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 4. November 1532, Pankraz
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bereits auf die Infizierung mit Syphilis zurückzuführen. Die inzwischen als unheilbar bezeichnete Krankheit erschwerte eine weitere Vermittlung des Auszubildenden, dennoch konnte eine neue Anstellung bei einem Apotheker in Lyon gefunden werden, der Pankraz Reich aber nur bis zur künftigen Ostermesse behielt.98 Im Herbst 1533 kehrte Pankraz mit Briefschaften aus Lyon und Genf nach Nürnberg zurück. In Nördlingen machte er Zwischenstation, wohin Lorenz II. mit seiner Familie und den Kindern sowie anderen Verwandten Linharts vor der in Nürnberg grassierenden Pest ausgewichen war.99 Zu Hause angekommen, fragte ihn Linhart dezent über die Verhältnisse in der Niederlassung der Tucherfirma in Lyon aus.100 Ob er nun krankheitshalber vorübergehend oder längere Zeit in der Heimat blieb, ist den Quellen nicht zu entnehmen. 1534 jedenfalls wurde vor dem Stadtgericht Nürnberg Linharts Vormundschaft für ihn für beendet erklärt101, und 1538 hielt er sich in Neunhof im Knoblauchsland auf dem 1535 gekauften Familiensitz der Reich auf.102 1544 verstarb Pankraz auswärts als Junggeselle.103
X. Auch in die Ausbildung zweier Söhne Linharts II. war Sebald X. Tucher involviert. Christoph III. Tucher (1525-1550)104, dem Anton V. von Lyon aus eine Lehrstelle bei seinem alten Lehrherrn in Orléans vermitteln wollte105, wurde ___________ Reich aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 4. November 1532 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1418, 1372, 583, 1419). 98 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 13. Februar 1533, Pankraz Reich aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 13. Februar 1533, 8. März 1533 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1373, 1420, 1421). – Ostern fiel 1533 auf den 13. April. 99 Notizzettel Linhart Tuchers über Ausgaben für den Aufenthalt seiner Kinder in Nördlingen 28. Juli 1533 bis 21. Januar 1534 (StadtAN, E 29/IV Nr. 980), Kopiebüchlein Linhart Tuchers über die Sendungen an seine Kinder in Nördlingen 8. August 1533 bis 25. Februar 1534 (StadtAN, E 29/IV Nr. 981). – Beer, Eltern und Kinder (wie Anm. 3), S. 276-279. 100 Lorenz II. aus Nördlingen an Linhart II. Tucher in Nürnberg 18. September 1533, 23. September 1533, 18. Oktober 1533, 23. Oktober 1533 (StadtAN, E 29/IV Nr. 430, 431, 437, 438). 101 StadtAN, B 14/II, Nr. 36, fol. 68v, und Nr. 37, fol. 58r. 102 Pankraz Reich aus Neunhof an Linhart II. Tucher in Nürnberg 23. März 1538, 13. Mai 1538 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1422, 1423). – Robert Giersch/Andreas Schlunk/Bertold Frhr. von Haller, Burgen und Herrensitze in der Nürnberger Landschaft, Lauf a. d. Pegnitz 2006, S. 303. 103 Helene Burger, Nürnberger Totengeläutbücher III. St. Sebald 1517-1572, Neustadt/Aisch 1972, Nr. 2912. 104 Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 120r. 105 Anton V. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 28. Januar 1538, 3. Februar 1538 (StadtAN, E 29/IV Nr. 69, 70).
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1538 zu Huguet Hesterlein, einem Kaufmann, der eng mit der Tucherfirma zusammenarbeitete, nach Bourges geschickt.106 1543/44 arbeitete er in der Niederlassung der Tucher in Lyon107, und am 30. März 1544 ist er wegen der Repressalien, denen die deutschen Kaufleute im Gefolge des erneuten Krieges zwischen Kaiser Karl V. und König Franz I. von Frankreich in Lyon ausgesetzt waren108, in der Genfer Filiale bei Sebald X. eingetroffen.109 Hier wurde er, obwohl er bereits die Buchhaltung der Firma betreute und Wareneingänge sowie deren Versand überwachte, noch in Buchführung unterwiesen, worin ihm Sebald X. Tucher als leuchtendes Vorbild hingestellt wurde. Sebald beurteilte den jungen Vetter als gehorsam und verläßlich.110 Auch Christophs jüngerer Bruder Gabriel I. (1526-1588)111 traf infolge der kritischen Lage in Lyon im Mai 1544 in Genf ein.112 Er wurde ebenfalls in der Buchhaltung der Genfer Niederlassung beschäftigt und betreute Kunden und Fuhrleute, was ihm ein Lob Sebalds X. einbrachte.113 Ein letztes Mal wirkte Sebald X. 1552 bei der Ausbildung junger Tucher mit, nun aber nur noch beratend. Gabriel I. hatte ihm den Plan seines Vaters Linhart unterbreitet, den damals 18jährigen Tobias I. (1534-1590)114, Sohn des 1551 verstorbenen Wolfgang III. und somit Sebalds Neffe, zum Spezialbeauftragten der Firma für Spanien und die dortigen Safraneinkäufe heranzuziehen. Obwohl über seine bisherige Lehrzeit (Rechnen, Schreiben, Italienisch) nur Positives zu berichten war und es denkbar war, ihn in Spanien einzusetzen, teilte ___________ 106
Jacob Reuter aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 2. August 1538, 15. August 1538 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1456, 1457). – Beer, Verhältnis (wie Anm. 3), S. 105107. 107 Christoph III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 22. Dezember 1543, 4. Februar 1544, 23. Februar 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 74, 75, 76). 108 Gabriel I. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 26. April 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 128). – Zur politischen Lage in Lyon vgl. Gerhard Pfeiffer, Die Bemühungen der oberdeutschen Kaufleute um die Privilegierung ihres Handels in Lyon, in: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs, hg. vom Stadtarchiv Nürnberg, Bd. 1, S. 407-455, hier: S. 414 f. 109 Christoph III. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 8. April 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 78). 110 Linhart Rottengatter aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 12. Mai 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1526). 111 Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 120v. 112 Seit dem 3. Mai 1544 sind für ihn in Genf getätigte Ausgaben in einer Rechnung aus Lyon ausgewiesen (StadtAN, E 29/IV Nr. 77). 113 Linhart Rottengatter aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 12. Mai 1544, Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 31. Oktober 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1526, 588). 114 Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 188r-189v. – Fleischmann (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 1025.
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Sebald doch Gabriels Meinung, daß dies Tobias zur Zeit noch überfordere, und riet, die Entscheidung zumindest um ein Jahr zu verschieben. Im darauffolgenden Jahr wurde Tobias dann in der Tat im Auftrag der Firma nach Spanien geschickt, wo er 1556 bis 1561 die Niederlassung in Saragossa leitete.115
XI. Die bisher ausgewerteten Quellen zeichnen bereits ein relativ scharfes Bild von Sebald X. Tucher. Er führte in der Genfer Niederlassung der Tucherschen Handelsfirma ein eigenständiges und nicht immer mit den Vorstellungen der Zentrale in Nürnberg konformes Dasein. Trotz aller charakterlichen Eigenheiten, persönlichen Eskapaden und eigenwilligen Alleingänge war er sowohl in der Familie als auch in der Firma gut eingebunden. Dies verdeutlichen sehr schön die sich überschlagenden politischen Ereignisse der frühen 1530er Jahre:116 Die alte Bischofsstadt Genf und die gleichnamige Grafschaft (Genévois) waren seit dem Hochmittelalter Teile des Reiches. Nachdem die Grafen (seit 1416 Herzöge) von Savoyen 1401 das Genévois ohne die Stadt Genf erworben hatten, versuchten sie zunehmend, unter Zurückdrängen des Bischofs Einfluß auf das weltliche Regiment der von ihrem Territorium umgebenen Stadt zu erhalten. In Abwehr Savoyens schloß Genf mit Bern und Freiburg im Uechtland (Fribourg) 1526 einen Städtebund, der die Stadt zunächst dem starken Einfluß Berns aussetzte und sie zusehends der Eidgenossenschaft annäherte. 1536 wurde Genf als Stadtrepublik zugewandter Ort der Eidgenossenschaft. Herzog Karl III. von Savoyen (1486-1553), der 1504 die Regentschaft antrat, sah in den Auseinandersetzungen Kaiser Karls V. mit König Franz I. von Frankreich die Chance, Genf seiner Herrschaft zu unterwerfen. Sein militärisches Engagement auf Seiten des Kaisers – formal war Savoyen Bestandteil des burgundischen Teils des Heiligen Römischen Reichs und seit 1512/21 Mitglied des Oberrheinischen Reichskreises – führte jedoch ab 1536 zur langjährigen Annexion seines Herzogtums durch Frankreich. ___________ 115 Gabriel I. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 6. September 1552, 30. September 1553, Sixtus IV. aus Saragossa an Linhart II. Tucher in Nürnberg 18. März 1556, Levinus aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 17. September 1557, Tobias I. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 13. September 1559, Tobias I. aus Saragossa an Linhart II. Tucher in Nürnberg 27. November 1560, Linhart II. aus Nürnberg an Tobias I. Tucher in Saragossa 22. Dezember 1560, Herdegen IV. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 12. Juni 1561, Linhart II. aus Nürnberg an Lazarus I. Tucher in Antwerpen 27. Juni 1561 (StadtAN, E 29/IV Nr. 181, 183, 547, 309, 549, 550, 551, 231, 406). 116 Die folgende Darstellung ist kompiliert aus einschlägigen Seiten des Internets sowie Artikeln in Konversationslexika.
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In diese Auseinandersetzungen Herzog Karls III. mit Frankreich und seinem Drängen nach Genf waren das Handelshaus der Tucher und vor allem seine Niederlassungen in Lyon und Genf in bislang wenig bekannter Weise involviert. 1530 fanden überall in Frankreich Musterungen von Kriegsknechten statt, so auch in Lyon. Im Gegenzug rüstete Herzog Karl im Piemont und in der Tourraine, um gegen Genf und den 1526 geschlossenen Städtebund zu ziehen, hatte aber zu wenig Geld für seine Rüstungen. Deswegen versuchte er in Lyon, dem Geldplatz Frankreichs, sein Silbergeschirr zu beleihen. Im Hause Tucher wird vermutet, daß dieses Darlehensgeschäft um mindestens 12.000 Scudi Jakob I. Welser (1468-1541), der Gründer der Nürnberger Welserfirma117, an die Bonvisi – eine ebenfalls in Lyon agierende italienische Firma, die wie die Tucher im spanischen Safrangeschäft engagiert war – vermittelte, um hierüber noch stärker in das aragonesische Safrangeschäft einsteigen zu können.118 Wenig später berichtete Sebald X. aus Genf über die Folgen der Auseindersetzung Herzog Karls mit Bern, Genf und Freiburg im Uechtland, die die drei Städte für sich hatten entscheiden können.119 1531 bemühte sich der weiterhin rüstende Herzog von Savoyen abermals um ein Darlehen in Höhe von 4.000 Scudi, und nun stieg auch die Tucherfirma ein. Über einen Mittelsmann, der mit 1.000 Scudi an der Summe beteiligt war, lieh man dem Schatzmeister Karls III. 3.000 Scudi zu 4 Prozent. Im normalen Geldgeschäft hätte man nur 2 bis 2 1/2 Prozent erzielt. Als Sicherheit erhielt die Tucherfirma herzogliche Kleinode (Gold, Silber, Perlen, Rubine, Saphire, einen Smaragd etc.); das Recht zu deren Verwertung ließ man sich verbriefen. Das Geschäft war nach der Lyoner Ostermesse abgeschlossen worden, der Vertrag lief bis zur Allerheiligenmesse.120 In der Folgezeit wurde die Rückzahlung des Darlehens dem Herzog mehrfach, aber eher halbherzig in Erinnerung gebracht121. Denn die Tucher verdienten wacker an dem Kreditgeschäft. Bereits im September 1531 wies die Rechnung einen Überschuß von 527 Gulden 1 Schilling aus, was nicht allein, aber doch maßgeblich auf das Darlehen an den savoyardischen Herzog zurückzuführen war.122 ___________ 117
Fleischmann (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 1076-1078. Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 14. Dezember 1530 (StadtAN, E 29/IV Nr. 528). 119 Anton V. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 1. Februar 1531 (StadtAN, E 29/IV Nr. 45). 120 Vinzenz Perkhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 9. Juni 1531 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1361). Die Auflistung der Pfandgegenstände ist dem Brief beigegeben. – Ostern fiel 1531 auf den 9. April, Allerheiligen ist der 1. November. 121 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 8. September 1531, 23. September 1531, 27. März 1532 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1362, 1363, 1366). 122 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 23. September 1531 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1363). 118
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Und Karl III. brauchte immer noch Geld, um gegen Frankreich aufzurüsten. Der in Lyon ansässige Italiener Carlo Mareschelli lieh ihm im September 1531 weitere 6.000 Scudi123, die Tucherfirma, ohne daß der Name Linharts damit in Verbindung gebracht wurde, im Februar 1532 abermals 5.000 Scudi und zum selben Zeitpunkt der Faktor der Firma in Lyon, Vinzenz Perckhamer, nochmals 1.550 Scudi, beides wiederum um 4 Prozent. Und wieder wurde entlastend als Argument ins Feld geführt, daß man zur Zeit recht viel Geld übrig habe und dieses im normalen Wechselgeschäft nicht über 2 Prozent erzielen würde. Ansonsten versuchte man, den Unterhändler des Herzogs schriftlich auf einen Kurs von 42 Schilling pro Scudo zu fixieren, worauf dieser angesichts der Tatsache, daß der Scudo wohl auf 40 Schilling falle, nicht einging. Nichtsdestotrotz hielt man an der Hoffnung fest, daß bei der Fälligkeit des Darlehens um Ostern (20. April) 1532 der Scudo bei 40 bis 45 Schilling stehe.124 Im März 1532 wurde festgehalten, daß Herzog Karl Linhart Tucher zur Zeit 1.700 Scudi zu 4 Prozent, den Scudo zu 42 Schilling gerechnet, bis Ostern (20. April) schuldet.125 Ob die 1.700 Scudi Teil des Tucherschen Firmendarlehens waren und der Herzog das restliche Geld zu dieser Zeit bereits getilgt hatte oder ob diese 1.700 Scudi ein weiteres Darlehen der Firma oder ein privates Darlehen Linharts an Karl darstellten, läßt sich den Quellen nicht entnehmen. Sicher ist, daß Karl III. den Tucher ihr Darlehen noch vor Ablauf der Frist an Ostern 1532 zurückgezahlt hatte und die Firma bereits im Mai desselben Jahres abermals um einen Kredit in Höhe von 4.000 bis 5.000 Scudi anging. Diesmal aber hat man sein Begehren mit dem Hinweis abgelehnt, die Firma brauche ihr Kapital für die kommende Messe.126 Was die Verantwortlichen in Nürnberg und in Lyon ihre Politik gegenüber dem Savoyarden ändern ließ, bleibt Spekulation. Waren es Gerüchte, die die Tucher leiteten? Hatten sie auf einmal Zweifel an der Bonität des Herzogs? Oder glaubten sie nicht mehr an den Erfolg von Karls militärischen Aktivitäten?
XII. Karl III. brauchte aber weiterhin Geld. So traf die Tucher in Nürnberg wie in Lyon eine Nachricht im Spätjahr 1535 wie ein Keulenschlag – ihr Genfer Resi___________ 123
Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 23. September 1531 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1363). 124 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 28. Februar 1532 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1365). 125 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 27. März 1532 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1366). 126 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 7. Mai 1532 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1367).
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dent Sebald X. war vom Herzog von Savoyen gefangen genommen worden. Lag der Grund für diese Untat schon Jahre zurück? 1530 hatten Linhart II. und Wolfgang III. auf Sebald X. eingewirkt, eine im Briefwechsel nicht näher bezeichnete Angelegenheit zu unterlassen. Sebalds Antwort war, er habe nie im Sinn gehabt, Übles über den Herzog von Savoyen zu verbreiten. Die familieninternen Nachforschungen haben jedoch ergeben, daß er dies wohl doch getan hatte. Dasselbe wurde 1535 wiederholt, nun wurden jedoch die Schmähreden um angebliche Brandanschläge Sebalds auf Karls Untertanen erweitert.127 Wenn man seine Schmähreden als politische Hetze gegen Karl III. interpretiert, dann könnten diese wie auch Brandanschläge auf herzogliche Untertanen ausreichend Motivation für die Gefangennahme Sebald Tuchers gewesen sein. In Nürnberg informierte Linhart, zu jener Zeit bereits Älterer Bürgermeister, einerseits umgehend den Kleineren Rat der Reichsstadt, der aber nicht sofort Partei für das alteingesessene Patriziergeschlecht ergriff, sondern sich zunächst neutral verhielt, um die Sachlage faktisch zu überprüfen. Der Herzog hätte ja im Recht sein können. Andererseits beauftragte der Firmenchef Vinzenz Perckhamer in Lyon, weder Kosten noch Mühen zu sparen, um Sebald wieder frei zu bekommen. Außerdem wurde ein Brief an den Herzog verfaßt mit der Bitte, diesen an seinen Kastellan (wohl den Kastellan, der Sebald gefangen hielt) weiterleiten zu lassen.128 Wenig später meldete Vinzenz Perckhamer, daß ein Schreiber von „Roll“129 ihm die Untaten, die der Herzog Sebald vorwerfe, mitgeteilt habe. Daraufhin wurde Wolfgang III., ausgestattet mit einer Bittschrift der deutschen Kaufleute zu Lyon an Herzog Karl, mit einer Bittschrift Hans Kleebergers (1486-1546)130 an den Schultheiß/Vogt von Bern („Fockett von Pern“), einen Freund des Herzogs, und vor allem mit viel Geld, ausgesandt, um seinen Bruder auszulösen. Sebald selbst habe direkt nach seiner Gefangennahme 200 bis 300 Scudi für seine Freilassung geboten, die aber abgelehnt worden seien. Linhart in Nürnberg wie auch der Rat der Stadt Bern wurden um weitere Bittschriften an Herzog Karl gebeten. Auch den Sekretär des Herzogs, einen guten Bekannten Sebalds, der sich zur Zeit in Basel aufhielt, wollte man einschalten. Wenn alles nichts nütze, solle Linhart nochmals den Nürnberger Rat um Intervention bitten. Herzog Karl braucht dringend Geld, dem König von ___________ 127 Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 14. Dezember 1530, Linhart II. Tucher in Nürnberg an Vinzenz Perckhamer in Lyon an 3. Dezember 1535 (StadtAN, E 29/IV Nr. 582, 1381). 128 Linhart II. Tucher in Nürnberg an Vinzenz Perckhamer in Lyon an 3. Dezember 1535 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1381). 129 Wohl Rolle im Waadtland (heute: Schweizer Kanton Vaud), eine savoyardische Burg am Genfer See, seit 1531 im Besitz von Johann Amadeus von Beaufort. Freundlicher Hinweis von Helge Weingärtner M.A., Nürnberg. 130 StadtAN, GSI 152 (Genanntendatenbank): heiratet 1528 Felicitas Pirckheimer (gest. 1530) und nach 1535 Pelonne Bousin.
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Frankreich bietet er bereits gefangene französische Soldaten für Lösegeld an, und er rüstet weiter auf.131 Im Mai 1536 befand sich Sebald X. Tucher wieder auf freiem Fuß und war beauftragt, ausstehende Schulden einzutreiben. Zu jener Zeit war der Krieg zwischen Karl III. von Savoyen und Frankreich so gut wie entschieden und Karls Griff nach Genf gescheitert. Das Bündnis mit Freiburg im Uechtland und Bern hatte Genf gerettet. Ob dies für die Genfer ein Segen war, bleibt offen, denn nun beanspruchte Bern die ehemaligen Hoheitsrechte des Bischofs und des Herzogs von Savoyen für sich. Linhart II. instruierte Sebald, nach Lyon auszuweichen, sollte er in Genf nicht mehr geduldet werden.132 Ob dies notwendig war oder nicht, ist nicht bekannt, jedenfalls hielt sich Sebald ein Jahr später immer noch oder wieder in Genf auf.133
XIII. Hektor Amman stellte 1954 die Gefangennahme Sebalds X. Tucher wie folgt dar: Sebald X., seit 1527 Kreditgeber der Stadt Genf und Kupferlieferant zum Gießen von Büchsen, war spätestens seit der Heirat mit Ottene in Genf „vollständig verwurzelt“. Er erwarb Grundeigentum, war Mitglied und seit 1531 Prior der deutschen Bruderschaft. Bereits 1527 wurde er Hakenbüchsenschütze. 1530 erwarb er das Genfer Bürgerrecht und wurde 1534 in den Rat der 200 gewählt (bis 1537 ununterbrochen Mitglied), 1538 wurde er in den Rat der 60 aufgenommen. Als führender Kopf der Genfer Lutheraner und seit 1530 als einer der Wortführer der antisavoyardischen Partei wurde Sebald Tucher (= Theobaldus Tocker) mit anderen Genfer Bürgern während einer Verhandlung mit Berner Ratsboten außerhalb der Stadt von Karls Truppen am 11. Oktober 1535 widerrechtlich gefangengenommen und in des Herzogs Hauptfestung am Genfer See, Chillon, verbracht. Obwohl sich ein Bote des Nürnberger Rats sowie die Städte Bern und Freiburg im Uechtland und sogar der Berner ___________ 131 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 23. Dezember 1535 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1383). – Die Gefangennahme Sebalds X. Tucher ist in der älteren Literatur nur als Randglosse behandelt: Richard Ehrenberg, Hans Kleberg der gute Deutsche. Sein Leben und sein Charakter, in: MVGN 10 (1893), S. 1-51, hier S. 18, und Eugène Vial, L’histoire et la Légende de Jean Cleberger dit „Le bon Allemand“, Lyon 1914, S.81. Beide beziehen sich – aufeinander aufbauend – aber nur auf die Beteiligung Kleebergers, die sie überbewerten. Die in den vorliegenden Briefen erwähnten Einzelheiten kennen sie nicht. Freundlicher Hinweis von Helge Weingärtner M.A., Nürnberg. 132 Linhart Rottengatter aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 2. Mai 1536 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1521). 133 Linhart Rottengatter aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 4. Mai 1537 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1523).
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Schultheiß um seine Freilassung bemühten, wurden Sebald und andere Mitgefangene Ende März 1536 erst von Berner Truppen, die inzwischen das ganze Waadtland erobert hatten und nun auch Chillon einnahmen, befreit. In Genf wurden die Befreiten am 1. April triumphal empfangen.134 In der Tucherschen Familienüberlieferung findet sich kein Beleg dafür, daß Sebald X. das Genfer Bürgerrecht besessen habe oder gar in den Genfer Rat aufgenommen worden sei. Die Tatsache, daß er nach der Heirat mit Ottene 1528 nicht – wie bei frisch vermählten Patriziern sonst üblich – automatisch Genannter des Größeren Rats seiner Heimatstadt geworden war, kann natürlich damit zusammenhängen, daß in Nürnberg seine Genfer Ambitionen bekannt waren oder er vielleicht das heimatliche Bürgerrecht bereits aufgegeben hatte. Vielleicht hat man auch die dauerhaft im Ausland weilenden Patriziersöhne, zumal wenn sie in dort ansässige Familien einheirateten, aus diesem Automatismus ausgeschlossen. Ein solches Vorgehen kann man bei zwei weiteren Mitgliedern der Familie Tucher erkennen. Weder Erasmus I. (1493-1528), dauerhaft wohnhaft in Genf und verheiratet mit Franziska de Genere aus Genf, noch Lazarus I. Tucher (1491-1563), dauerhaft wohnhaft in Antwerpen und verheiratet mit Jakobina Cocquiel aus Tournai, wurden nach ihrer Heirat zu Genannten des Nürnberger Größeren Rats berufen.135 Im Falle Sebalds X. wäre jedoch auch denkbar, daß die Nürnberger Tucher, denen nicht nur die Umstände der heimlichen Verehelichung ein Dorn im Auge waren, sondern von denen zumindest Linhart II. Sebalds Verbindung mit Ottene generell für eine Mesalliance hielt, die Berufung in den Nürnberger Größeren Rat gezielt hintertrieben haben. Es mutet schon komisch an, daß Sebalds Liebschaft mit Ottene, die er Linhart gegenüber bereits 1525 – also drei Jahre vor der Hochzeit – schriftlich als „donna mia“ bezeichnete136, von der Familie überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurde und alle nach der Verehelichung so taten, als sei Ottene ganz plötzlich über sie gekommen. Die Macht, eine Aufnahme des unbotmäßigen Genfer Residenten in den Kreis der Genannten zu verhindern, hätte Linhart allemal besessen. Er selbst kam zwar erst mit der österlichen Wahl des Jahres 1529 als Jüngerer Bürgermeister in den Kleineren Rat, es saßen aber 1528 mit Martin I. bis zu dessen Tod am 9. Juli Linharts Onkel als Älterer Bürgermeister und – um vieles einflußreicher – Endres III. Tucher (1453-1531) von 1526 bis 1530 als einer der alles bestimmenden sieben Älteren Herren in diesem Gremium.137 ___________ 134
Amman (wie Anm. 57), S. 179-181. Ihm folgt Grote (wie Anm. 70), S. 84. Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 130r-132r (Lazarus I.), 134r-135r (Erasmus I.). – StadtAN, GSI 152 (Genanntendatenbank). 136 Sebald X. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 23. März 1525 (StadtAN, E 29/IV Nr. 521). 137 Fleischmann (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 1016 f. und 1019. 135
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XIV. Weitere Punkte aus Hektor Ammans Darstellung der Ereignisse 1535/36 lassen sich nicht mit den im Tucherschen Briefarchiv überlieferten Quellen in Einklang bringen. Einem etwaigen Genfer Bürgerrecht Sebalds, mehr noch seiner Mitgliedschaft im Genfer Rat der 200, aber auch dem triumphalen Empfang der Befreiten in Genf am 1. April138 widerspricht Linharts schriftliche Aufforderung vom Mai 1536, der aus der Gefangenschaft befreite Sebald solle sich nach Lyon absetzen, sollte er in Genf nicht mehr geduldet werden.139 Auch der von Amman formulierte Einsatz des Nürnberger Rats140 entspricht keinesfalls den Schilderungen Linharts II. vom Dezember 1535, dieser stellt seine Ratsfreunde eher als zögerlich und abwägend hin.141 Bei aller vordergründigen Stimmigkeit des von Amman Geschilderten können hinter der Gefangennahme des Genfer Tucherresidenten durch Herzog Karl noch andere Gründe vermutet werden. Besteht nicht vielleicht ein Zusammenhang zwischen dieser Tat und den Kreditvergaben der Tucherfirma an den Savoyarden? Die Tucher mögen nicht die größten Gläubiger des Herzogs gewesen sein, die addierten Summen der ihm von der Firma zur Verfügung gestellten Darlehen von fast 10.000 Scudi142 ergeben aber doch bei einem in den Quellen belegten Umrechnungswert von 40 Schilling pro Scudo 400.000 Schilling, mithin also 20.000 Gulden. Und dies können wir nicht mehr mit Hektor Amman als „kleinere Darlehen, etwa an den Herzog von Savoyen“143 bezeichnen. Wen wundert es, daß sich der Herzog, der anders als die meisten Potentaten seiner Zeit wohl nicht nur den Tucher ihre Darlehen fristgerecht oder sogar noch – wie 1532 geschehen – vor der Frist zurückzahlte, auf andere, damals wie heute durchaus übliche Wege der Geldbeschaffung verlegte, als die Tucher ihm einen weiteren Kredit von 4.000 bis 5.000 Scudi (bei 40 Schilling pro Scudo 8.000 bis 10.000 Gulden) verweigerten.144 Vielleicht hatte er, als ihm 1535 der wegen seiner antisavoyardischen Agitation ohnehin verhaßte Sebald X. so ___________ 138
Amman (wie Anm. 57), S. 180. Linhart Rottengatter aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 2. Mai 1536 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1521). 140 Amman (wie Anm. 57), S. 180: „Am 16. November [1535] erschien dann ein Nürnberger Bote, der sich für ihn [Sebald Tucher] verwandte“. 141 Linhart II. Tucher in Nürnberg an Vinzenz Perckhamer in Lyon an 3. Dezember 1535, Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 23. Dezember 1535 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1381, 1383). 142 Vgl. oben S. 382 f. 143 Amman (wie Anm. 57), S. 175. 144 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 7. Mai 1532 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1367). 139
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fanggerecht in die Hände lief, die gute Gelegenheit beim Schopfe ergriffen und sich ein prachtvolles Faustpfand für weitere umfangreiche Kredite dieser potenten Firma auf Burg Chillon reserviert. Daß sowohl die Nürnberger Firmenleitung als auch die Lyoner Filiale ebenfalls in diese Richtung dachten, belegen die Hinweise, für die Verhandlungen zur Freilassung Sebalds genügend Geld bereit zu halten.145 Sicherlich waren sowohl die Firma als auch die Familie froh, ihr Mitglied ohne größere Lösegeldzahlungen wieder frei bekommen zu haben.
XV. Die umfangreiche Kreditvergabe an Herzog Karl III. von Savoyen verändert ohnehin das vertraute, bis heute immer wieder gezeichnete Bild, die Tucher (außer Lazarus I. in Antwerpen) hätten ihren Reichtum nur mit solidem Warenhandel und nicht mit riskanten Kreditgeschäften erworben. Allein in den Jahren 1531/32, als die Tucher Herzog Karl bis zu 10.000 Scudi (20.000 Gulden) liehen, haben sie weitere kleinere Darlehen gewährt: Jan Sandening 546 ½ Scudi gegen Silberschmuck und Gold sowie einigen Bankiers nicht genannte Summen im September 1531146, 1.400 Scudi an einen nicht genannten Empfänger im Februar 1532147, Jan Sandening und Jacques Brunas jeweils 400 Scudi im März 1532148, Sebastian Pansa 1.000 Scudi irgendwann im Zeitraum 1531/32.149 Die bezifferten Summen ergeben neben den 10.000 Scudi für Herzog Karl 3.746 ½ Scudi (7.493 Gulden). Die Tucherfirma hatte also allein in den Jahren 1531/32 fast 27.500 Gulden für mehr oder weniger riskante Kreditgeschäfte übrig. Über eine solche Summe frei verfügen zu können, scheint in der Tucherschen Handelsgesellschaft jener Zeit nichts Außergewöhnliches gewesen zu sein. Bereits 1520 sprach Linhart II. seinem Vater Anton II. gegenüber von 30.300 Gulden Außenständen bei eigenen Verpflichtungen in Höhe
___________ 145 Linhart II. Tucher in Nürnberg an Vinzenz Perckhamer in Lyon an 3. Dezember 1535, Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 23. Dezember 1535 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1381, 1383). 146 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 23. September 1531 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1363). 147 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 28. Februar 1532 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1365). 148 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 27. März 1532 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1366). 149 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 11. Oktober 1532 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1372).
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von 2.300 Gulden, und auch 1525 wies das Konto in Lyon deutliche Überschüsse aus.150 Mit dem Darlehensgeschäft erzielte man stattliche Gewinne. Die errechnete ausgeliehene Summe von 27.500 Gulden hätte bei 4 Prozent 1.100 Gulden an Zinseinnahmen erbracht. Mit dem ersten, im Juni 1531 gewährten Darlehen an Karl III. von 3.000 Scudi (6.000 Gulden) zu 4 Prozent und weiteren Gewinnen aus Wechsel- und anderen Darlehensgeschäften erzielte man bis September desselben Jahres 527 Gulden 1 Schilling Gewinn151, und im Februar 1532 wurden Überschüsse von 1.700 Gulden verzeichnet, worin die Gewinne aus den Darlehen an Herzog Karl und weiteren verliehenen 1.400 Scudi nicht eingerechnet sind.152 Setzt man die mit Herzog Karl vereinbarten 4 Prozent Zinsen im Darlehensgeschäft auch für diesen Gewinn voraus, so steckt hinter den erzielten 1.700 Gulden ein verliehenes Kapital von 42.500 Gulden oder 21.250 Scudi. Rechnet man diesem die in der Gewinnsumme nicht angesetzten Darlehen (Herzog Karl 10.000 Scudi, N.N. 1.400 Scudi) hinzu, ergibt sich für 1531/32 eine Gesamtsumme von 32.650 Scudi bzw. 65.300 Gulden an Geldern, die die Tucherfirma in diesen Jahren allein in Lyon als Darlehen verliehen hatte. Selbst wenn diese Berechnungen einige Unschärfen und Ungenauigkeiten enthalten, kann man doch an der enormen Summe erkennen, daß es auch den Tucher immer nur um den größtmöglichen Gewinn ging. Während im normalen Wechselgeschäft nur zwischen 2 und 2 ½ Prozent zu erzielen waren153, gab Herzog Karl 4 Prozent.154 Dennoch mußte man gelegentlich Darlehen wegen der zu geringen Nachfrage um 2 1/2 Prozent verleihen.155 Reine Geldanlagen, wie sie die Lyoner Bankiers bevorzugten, erbrachten bis zu 16 Prozent.156 Dennoch nahm man notfalls auch Wechselgeschäfte in Kauf wie im Oktober 1532 ___________ 150 Linhart II. aus Nördlingen an Anton II. Tucher in Nürnberg 3. Oktober 1520, Wolfgang III. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 27. Februar 1525 (StadtAN, E 29/IV Nr. 315, 555). 151 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 23. September 1531 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1363). 152 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 28. Februar 1532 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1365). 153 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 9. Juni 1531, 28. Februar 1532 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1361, 1365). 154 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 9. Juni 1531, 28. Februar 1532, 27. März 1532 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1361, 1365, 1366). 155 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 27. März 1532, 11. Oktober 1532 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1366, 1372). 156 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 8. September 1531 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1362).
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mit 2.000 Scudi in Spanien.157 Wenn es sich nicht lohnte, Gelder anzulegen oder gegen Pfänder zu verleihen (hier waren nach Meinung der Verantwortlichen der Tucherschen Handelsgesellschaft Edelmetalle wie Gold und Silber Edelsteinen vorzuziehen158), ließ man Gelder auch schon mal ungenutzt in der Truhe liegen wie 2.300 Gulden in Gold im März 1532 bzw. 4.000 Gulden im Dezember 1547159 oder spekulierte mit Geldanlagen in Safran oder Salz.160
XVI. Stand in den aufgezählten Geldgeschäften die Filiale der Tucher in Lyon zweifelsohne im Zentrum, so muß man im westeuropäischen Warenhandel der Tucherfirma die Niederlassungen in Genf und in Lyon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts immer im regen Austausch miteinander betrachten. Der Warenverkehr zwischen beiden Filialen lief meist über Seyssel (Dép. HauteSavoie), westlich von Annecy am östlichen Rhoneufer gelegen, wo sich im November 1524 Sebald X., im Dezember desselben Jahres Wolfgang III. oder 1528 der Faktor Vinzenz Perckhamer aufhielten, um den Warentransport von Genf nach Lyon zu organisieren161. In Seyssel kauften die Tucher aber auch gerne Wein ein, insbesondere Chardonnay.162 Erwähnung finden im Briefwechsel der Außenstellen mit der Zentrale überwiegend Waren, die die Nürnberger Familienmitglieder selbst bestellten und die somit meist für den eigenen Gebrauch bestimmt waren. Dennoch ist häufig auch vom übrigen Warengeschäft die Rede, bevorzugt vom Safran-, Pastell(Waid-), Draht-, Messing-, Kupfer-, Zinn-, Wachs-, Zobel-, Barchent- und Tuchhandel. Über Genf wurden außerdem nach Nürnberg geliefert: Handschuhe, Tisch-, Umlege-, Mund- und Taschentücher, Servietten, Tuche (vorwiegend ___________ 157
Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 11. Oktober 1532 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1372). 158 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 8. September 1531 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1362). 159 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 27. März 1532, Jacob Reuter aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 5. Dezember 1547 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1366, 1478). 160 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 27. März 1532, Lorenz II. aus Nördlingen an Linhart II. Tucher in Nürnberg 15. Oktober 1533, 31. Oktober 1533 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1366, 436, 439). 161 Anton V. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 7. November 1524, Wolfgang III. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 13. Dezember 1524, Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 5. Oktober 1528 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1, 554, 1358). 162 Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 23. November 1524, 5. Dezember 1524 (StadtAN, E 29/IV Nr. 552, 553).
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aus Carcassonne und Perpignan, aber auch aus Mailand oder England), Leinwand, Schamlot, Samt, Atlas (u. a. aus Lucca), Hanf, eingelegte Quitten, gezuckerte Anisschnitten und anderes Konfekt, Konfitüre, Latwerg, Zucker, Mandeln, Gewürze (u. a. Anis, Koriander, Pfeffer), Kohlsamen zum Teil aus Katalonien und welscher Salatsamen, Lebensmittel, Rebhühner, Granatäpfel aus Spanien, Weine (Chardonnay aus Seyssel, Muskateller aus Burgund und Rotwein), Felle (aus Italien, Burgund, Frankreich und Spanien, weiße Felle, rauhe Felle, Mäuse-, Schafs- und Wolfsfelle), Heftlein (z. B. aus Carcassonne), Rapier- und andere Klingen, Scheiden, Karten, Papier, Bücher, Geldbeutel, Gürtel (auch aus Spanien), Hemden, Hüte, Kleider, Pelzmäntel aus dem Limousin und andere Rauchwaren, Kehrbesen163 sowie der bereits erwähnte Reit___________ 163 Linhart II. aus Nördlingen an Anton II. Tucher in Nürnberg 3. Oktober 1520, 22. Oktober 1520 (StadtAN, E 29/IV Nr. 315, 317), Martin I. aus Regensburg an Anton II. Tucher in Nürnberg 14. Dezember 1520 (StadtAN, E 29/IV Nr. 465), Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 23. November 1524, 5. Dezember 1524, 30. November 1525, 23. Mai 1527, 14. November 1527, 7. Dezember 1527, 15. Januar 1528, 6. Februar 1528, 27. Oktober 1528, 28. November 1528, 31. Oktober 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 552, 553, 557, 568, 571, 572, 573, 574, 578, 579, 588), Sebald X. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 17. Februar 1525, 23. August 1528 (StadtAN, E 29/IV Nr. 520, 522), Hans von Thill aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 22. Mai 1525 (StadtAN, E 29/IV Nr. 893), Lorenz II. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 3. Dezember 1525, 6. Dezember 1526 (StadtAN, E 29/IV Nr. 415, 416), Lorenz II. aus Nördlingen an Linhart II. Tucher in Nürnberg 31. Oktober 1533, 27. Dezember1533, 6. Januar 1534, 12. Januar 1534 (StadtAN, E 29/IV Nr. 439, 450, 452, 454), Hieronymus IV. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 13. Dezember 1525, 18. Juli 1528, 27. August 1528, 21. September 1528, 25. August 1529, 26. September 1529, 15. November 1529, 16. August 1530, 1. Oktober 1530 (StadtAN, E 29/IV Nr. 272, 273, 274, 275, 276, 277, 278, 284, 286), Hieronymus IV. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 1. März 1530 (StadtAN, E 29/IV Nr. 285), Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 5. Oktober 1528, 8. September 1531, 23. September 1531, 23. August 1532, 11. Oktober 1532, 27. September 1535 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1358, 1362, 1363, 1370, 1372, 1380), Anton V. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 8. Februar1532, 4. November 1532, Januar 1533 (Eingang: 14. Februar 1533), 21. Februar 1534, 2. Mai 1534, 17. Januar 1538 (StadtAN, E 29/IV Nr. 52, 54, 57, 62, 63, 68), Linhart Rottengatter aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 4. Mai 1537, 9. Mai 1545 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1523, 1534), Linhart Rottengatter und Christoph III. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 12. Mai 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1527), Linhart Rottengatter aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 17. Mai 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1529), Rechnungen aus Lyon 30. Mai 1544, 23. Juni bis 6. September 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 77, 502), Rechnung aus Genf 2. Juni bis 18. September1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 500), Christoph III. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 8. April 1544, 21. Juni 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 78, 79), Christoph III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 18. April 1545, 1. September 1545 (StadtAN, E 29/IV Nr. 84, 90), Gabriel I. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 2. November 1545, 3. Dezember 1545, 23. Januar 1546, 2. Januar 1552, 17. Oktober 1554 (StadtAN, E 29/IV Nr. 130, 133, 136, 173, 185), Gabriel I. aus Saragossa an Linhart II. Tucher in Nürnberg 28. Mai 1547 (StadtAN, E 29/IV Nr. 152), Linhart II. aus Nürnberg an Sebald X. Tucher in Genf 28. Januar 1546 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1633), Gregor Heipel aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 21. Mai 1546 (StadtAN,
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esel.164 Meist war Genf dabei nur Zwischenstation, manche Waren wurden aber auch direkt in Genf besorgt. Transportiert wurden die Waren in Fässern, Säcken oder Ki-sten. Wertvolle Sachen wurden meist in Fässer zu anderen Waren gesteckt oder in Fell und Stroh eingewickelt in separaten Behältern transportiert165, normale Kleinware schlug man gerne in Tuchballen ein oder steckte sie ebenfalls zu anderen Waren in Fässer.166 Nicht immer erreichten die Waren ihren Bestimmungsort. So schickte Anton V. Tucher von Lyon aus dem Firmenchef in Nürnberg eine Rapierklinge, die unterwegs aus Versehen liegen blieb und dann statt nach Genf ihren Weg nach Lausanne nahm. Als man sie dort wieder auftrieb, wurde sie Sebald X. Tucher überstellt, der sie in einem Faß sicher von Genf nach Nürnberg bringen ließ. Weitere Unachtsamkeiten traten auf: In Lyon kamen um die Jahreswende 1532/33 sechs Ballen Safran (wohl aus Spanien) an, die dort auf ihre Qualität geprüft und als trocken genug für den Weitertransport über Genf nach Nürnberg befunden wurden. Man verpackte sie in Säcke und schickte sie los, vergaß jedoch diese zu numerieren. Manche Waren erreichten nicht unversehrt ihren Bestimmungsort wie eine in Leinwand eingeschlagene Sendung, die – in Nürnberg losgeschickt – verdorben in Genf ankam.167
XVII. Obwohl Genf im Warentransport eher die Etappe Lyons zu sein scheint, war keine der beiden Filialen der anderen unterstellt. Dennoch fehlte es nicht an gegenseitiger Kritik. So kaufte Hieronymus IV. 1530 in Lyon Konfekt und Tuche für Linhart, schickte diese nach Genf und bat Sebald X. schriftlich, sie nach Nürnberg weiterzuleiten. Dieser wartete keine eigene Fuhre der Tucher von Genf nach Nürnberg ab, sondern übergab die Lieferung den Imhoff, womit Hieronymus weniger zufrieden war, weil dies zusätzliche Kosten (Fuhrlohnbeteili___________ E 29/IV Nr. 795), Jacob Reuter aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 25. April 1547, 14. August 1547 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1473, 1474), Paulus IV. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 5. Juli 1547 (StadtAN, E 29/IV Nr. 508), Herdegen IV. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 14. Dezember 1550, 20. Februar 1551 (StadtAN, E 29/IV Nr. 200, 201), Daniel I. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 4. Januar 1551, 20. Januar 1551 (StadtAN, E 29/IV Nr. 121, 123). 164 Vgl. oben S. 375 f. 165 Sebald X. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 14. Februar 1525 (StadtAN, E 29/IV Nr. 520). 166 Vinzenz Perckhamer aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 8. September 1531, 27. September 1535, Gabriel I. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 23. Januar 1546 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1362, 1380, 130). 167 Alle drei Beispiele im Brief Antons V. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg Januar 1533 (Eingang: 14. Februar 1533) (StadtAN, E 29/IV Nr. 57).
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gung bei den Imhoff) verursachte.168 Der Tucherfaktor Linhart Rottengatter drückte seinen Ärger über die manchmal mangelnde Zusammenarbeit beider Filialen im August 1528 folgendermaßen aus: „Wir sein oder [aber] so trew onenander, das keiner dem andren dinen mocht“.169 Das Verhältnis der beiden Tucherniederlassungen in Genf und Lyon änderte sich kurzzeitig 1544 aufgrund der politischen Großwetterlage. Im Jahr 1542 begann Franz I. von Frankreich einen erneuten Krieg gegen Kaiser Karl V. Als sich 1544 der Reichstag auf die Seite des Kaisers stellte, waren die deutschen Kaufleute in Lyon bislang nicht gekannten Repressalien seitens der französischen Krone ausgesetzt, die darin gipfelten, daß sie und auch ihre Waren die Stadt nicht mehr verlassen durften.170 Wer konnte, entwich dennoch aus der Stadt oder versuchte, Bürger einer eidgenössischen Stadt zu werden, um dem Druck der französischen Behörden zu entkommen. So unterbreitete auch der Buchhorner Bürger Jacob Reuter, der seit 1533 im Dienst der Firma stand171 und 1550 verstarb172, Linhart Rottengatter den Vorschlag, die Firmenleitung zu bitten, ihn zu beurlauben und in seinem Bestreben zu unterstützen, Bürger in Bern, Basel, St. Gallen oder einem anderen Schweizer Ort zu werden. Denn nur so könne er weiter die Güter der Tucher schützen und in ihrem Sinne frei Handel treiben.173 Rottengatter unterstützte ihn aber nicht, sondern riet sogar von dem Vorhaben ab.174 Die Nürnberger Firmenleitung gab ihm Recht, obwohl die Nürnberger Welser in St. Gallen und die Ulmer Weickmann in Schaffhausen sowie andere gerade diesen Weg eingeschlagen haben.175 Dennoch strebte Reuter weiter danach, Schweizer Bürger, am liebsten von Bern, zu werden.176 ___________ 168 Hieronymus IV. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 1. März 1530 (StadtAN, E 29/IV Nr. 285). 169 Hieronymus IV. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 27. August 1528 (StadtAN, E 29/IV Nr. 273). 170 Gabriel I. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 26. April 1544, Linhart Rottengatter aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 21. Juni 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr.128, 1532). 171 Dienstvertrag vom 28. Juli 1533 in StadtAN, E 1/1871 Nr. 18. 172 Herdegen IV. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 14. Dezember 1550 (StadtAN, E 29/IV Nr. 200). 173 Jacob Reuter aus Lyon an Linhart Rottengatter in Genf 8. Mai 1544, Linhart Rottengatter aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 27. Mai 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1458,1530). 174 Linhart Rottengatter aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 27. Mai 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1530). 175 Linhart Rottengatter aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 13. Juni 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1531). 176 Linhart Rottengatter aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 17. Mai 1544, 27. Mai 1544, 21. Juni 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1529, 1530, 1532).
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Den Tucher und den meisten ihrer maßgeblichen Mitarbeiter gelang es, sich nach Genf abzusetzen. Christoph III. Tucher traf am 30. März 1544 in Genf ein177, Linhart Rottengatter zwischen dem 26. April und dem 8. Mai178, Gabriel I. Tucher zwischen dem 3. und 12. Mai179 und schließlich Sixtus IV. Tucher von Limoges über Lyon am 19. September.180 Stallwache in Lyon mußten Jacob Reuter und Gregor Heipel halten. Heipel wurde sogar der Besuch bei seinem sterbenden Vater in Straßburg untersagt181, und im Mai 1544 überlegte man, ob nicht auch diese beiden aus Lyon fliehen sollten.182 Ein halbes Jahr lang, ab April 1544183, wurde die Lyoner Niederlassung der Firma von Genf aus verwaltet und geleitet, im Mai forderte man, die Firmenbücher der Lyoner Niederlassung entweder in Lyon sicher zu verstecken oder – besser noch – sie ebenfalls nach Genf verbringen zu lassen, was dann auch geschehen ist.184 Zu handeln gab es während dieser Zeit ohnehin recht wenig (und wenn, dann nur gegen Bargeld), was sich bis nach Antwerpen und Spanien auswirkte185. Anscheinend sind die Tucher und ihre Niederlassung in Lyon noch recht glimpflich behandelt worden, so wurden sie auch im Gegensatz zu anderen deutschen Kaufleuten weder seitens der französischen Krone noch seitens der Stadt mit Sonderabgaben belegt; erst im September scheint man das Lager der Niederlassung geräumt und die Waren vor unrechtmäßigem Zugriff versteckt zu ha-
___________ 177
Christoph III. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 8. April 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 78). 178 Gabriel I. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 26. April 1544, Jacob Reuter aus Lyon an Linhart Rottengatter in Genf 8. Mai 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 128, 1458). 179 Seit dem 3. Mai 1544 sind für ihn in Genf getätigte Ausgaben in einer Rechnung aus Lyon ausgewiesen (StadtAN, E 29/IV Nr. 77), Linhart Rotengatter teilt Linhart II. Gabriels Ankunft am 12. Mai 1544 mit (StadtAN, E 29/IV Nr. 1526). 180 Linhart Rottengatter aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 21. Juni 1544, Jacob Reuter aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 19. September 1544, Sebald X. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 22. September 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1532, 1459, 525). 181 Gregor Heipel aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 26. April 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 794). 182 Linhart Rottengatter aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 17. Mai 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1529). 183 Christoph III. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 8. April 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 78). 184 Linhart Rottengatter aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 17. Mai 1544, 27. Mai 1544, 21. Juni 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1529, 1530, 1532). 185 Christof Kurtz aus Antwerpen an Linhart II. Tucher in Nürnberg 8. April 1544, Linhart Rottengatter aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 12. Mai 1544, 17. Mai 1544, 21. Juni 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1156, 1528, 1529, 1532).
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ben.186 Der briefliche Austausch zwischen Genf und Lyon lief in jenen Zeiten in der Regel über Schweizer Boten187, in äußerst wichtigen Fällen (Überbringen der Jahresrechnung o. ä.) dachte man, sich unterwegs – etwa in Nantua (Dép. Ain) – treffen zu können188, oder doch Jacob Reuter, der anscheinend jederzeit Lyon problemlos verlassen konnte, persönlich nach Genf kommen zu lassen.189
XVIII. Nachdem Franz I. und Karl V. am 18. September 1544 in Crépy (Dép. Aisne), nordöstlich von Paris, Frieden geschlossen hatten, normalisierte sich die Lage allmählich. Der Friede wurde am 23. September in Lyon verkündet und gefeiert190, danach schickte Sebald X. am 30. September Christoph III. und Sixtus IV. zurück nach Lyon, Sixtus weilte jedoch nochmals von Oktober 1544 bis Januar 1545 in Genf zur Ausbildung.191 Wann Linhart Rottengatter nach Lyon zurückkehrte, ist nicht bekannt. Den letzten Brief aus Genf schrieb er am 21. Juni 1544 nach Nürnberg192, und am 15. April 1545 ist er wieder in Lyon zu finden193. Sebald X. selbst verließ Genf im Oktober 1544 Richtung Nürnberg wegen einer grassierenden Epidemie, über die man munkelte, es sei die Pest, oder die man auf einen Giftanschlag zurückführte; als Verantwortlicher blieb in Genf bis Mai/Juni 1545 Linharts Sohn Gabriel I., danach Gregor Heipel.194 ___________ 186 Linhart Rottengatter aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 21. Juni 1544, Sebald X. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 22. September 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1532, 525). 187 So z. B. Linhart Rottengatter aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 17. Mai 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1529). 188 Linhart Rottengatter aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 13. Juni 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1531). 189 Linhart Rottengatter aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 21. Juni 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1532). – Reuter kam am 16. Juni aus Lyon an und verließ Genf am 18. Juni wieder in Richtung Lyon. 190 Gabriel I. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 3. Oktober 1544 (StadtAN, E 29/IV Nr. 500). 191 Sebald X. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 3. Oktober 1544, Christoph III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 14. Oktober 1544, Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 31. Oktober 1544, Wolfgang III. aus Genf (Rechnung) an Linhart II. Tucher in Nürnberg 22. Januar 1545 (StadtAN, E 29/IV Nr. 526, 80, 588, 83). 192 StadtAN, E 29/IV Nr. 1532. 193 Christoph III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 18. April 1545 (StadtAN, E 29/IV Nr. 84). 194 Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 31. Oktober 1544, Gabriel I. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 5. Dezember 1544, 30. April 1545, 23. Mai 1545 (StadtAN, E 29/IV Nr. 588, 154, 131, 132). – Gabriel kam am 24. Juni 1545 mit einer Genfer Rechnung in Nürnberg an (StadtAN, E 29/IV Nr. 87).
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Wann Sebald aus Nürnberg nach Genf zurückkehrte, wissen wir nicht, jedenfalls finden wir ihn im Januar 1546 wieder dort.195 Sebalds X. Zeit in Genf war aber vorüber. Bereits im Mai 1545 war Gregor Heipel Linharts Ansprechpartner in Genf196, und dieser wurde 1547 von Mathes Manlich abgelöst.197 Es ist anzunehmen, daß sich unser Hauptakteur zu dieser Zeit – im Alter von fast 48 Jahren – weitgehend aus dem aktiven Geschäft zurückgezogen hat und in seine Heimatstadt zurückgekehrt war, der er seit 1538/39 wieder enger verbunden war. Denn am 13. November 1537 war Sebalds von der Familie zumindest anfangs so wenig akzeptierte Ehefrau Ottene verstorben. Sie war bereits seit einem Jahr krank gewesen und in den letzten sechs Wochen vor ihrem Tod sehr „geschwollen“. Sebald war seit Ostern (1. April) ununterbrochen bei ihr in Genf. Bis zuletzt wurde sie von zwei Ärzten betreut.198 Da sie keine Kinder hatten, hatte Ottene in ihrem Testament Sebald zum alleinigen Erben ihrer kleinen Hinterlassenschaft gemacht.199 Am 3. April 1538 brach Sebald X. zusammen mit Anton V. nach Nürnberg auf200, um sich dort erneut zu verehelichen. Anton war im Dezember 1537 von Nürnberg kommend kurz bei Sebald in Genf gewesen und dann weiter nach Lyon gereist, wo er sich um Ausbildungsstellen für Linharts Söhne Christoph III. und Gabriel I. kümmern mußte.201 Schon damals scheint die gemeinsame Rückreise nach Nürnberg geplant gewesen zu sein, deren Antritt von Lyon aus Anton für den 6. März ankündigte.202 Von Lyon nahm er Christof Kurtz mit nach Genf, der während Sebalds Abwesenheit dort die Geschäfte leiten sollte,
___________ 195 Linhart II. aus Nürnberg an Sebald X. Tucher in Genf 28. Januar 1546 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1633). 196 Gabriel I. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 23. Mai 1545 (StadtAN, E 29/IV Nr.132). 197 Jacob Reuter aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 14. August 1547, 30. August 1547, Gregor Heipel aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 17. August 1547, Linhart II. aus Nürnberg an Paulus IV. Tucher in Lyon 17. August 1547, Paulus IV. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 12. September 1547 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1474, 1475, 797, 940, 512). 198 Sebald X. an Linhart II. Tucher in Nürnberg 22. November 1537 (StadtAN, E 29/IV Nr. 524). – Beer: Eltern und Kinder (wie Anm. 5), S. 139. 199 Sebald X. an Linhart II. Tucher in Nürnberg 22. November 1537 (StadtAN, E 29/IV Nr. 524). 200 Christof Kurtz aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 3. April 1538 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1145). 201 Anton V. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 29. Dezember 1537, 17. Januar 1538, 24. Februar 1538 (StadtAN, E 29/IV Nr. 67, 68, 73). 202 Anton V. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 24. Februar 1538 (StadtAN, E 29/IV Nr. 73).
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in Lyon blieb Jacob Reuter zurück.203 Kurtz arbeitete spätestens seit 1533 in der Lyoner Tucherfiliale204 und verstarb nach dem 30. August 1545 in Antwerpen, wo ihn die Tucher zuletzt eingesetzt hatten.205 Bereits am 13. April, nach zehn Tagen Reisezeit, kamen Sebald X. und Anton V. in Nürnberg an.206 Dort wurde zunächst ein Ehevertrag mit Ursula Ketzel ausgehandelt207, die Hochzeit fand dann am 21. Mai 1538 statt.208 Ursula war 1500 als Tochter des Sebald Ketzel (gest. 1530), Eisenhändler und Hammerherr zu Thalheim209, und der Katharina Harsdörffer geboren worden. Am 17. Januar 1520 heiratete sie Hans VI. Haller (1492-1536), seit 1520 Genannter des Größeren Rats.210 1521 als Alter Genannter in den Kleineren Rat gewählt, versah Haller seit 1523 bis zu seinem Tod am 21. Februar 1536 das Amt des Ratsbaumeisters.211 Ursula verstarb am 30. Juni 1570.212 Die verwitwete Hallerin, die Sebald X. Tucher 1538 geheiratet hatte, war also zwei Jahre jünger als er. Sie brachte das Hallersche Haus am Obstmarkt213 mit in ihre zweite Ehe. Als geborene Ketzel war sie standesmäßig zwar auch nicht „erste Sahne“ in Nürnbergs festgezurrter gesellschaftlicher Rangordnung, aber immerhin zählte die Familie ihrer Mutter, Harsdörffer, zu den anerkannten, wenn auch „jüngeren“ Geschlechtern der Reichsstadt, und die Familie ihres ersten Mannes, Haller, sogar zu den ältesten und bedeutendsten Geschlechtern der Stadt. Der Makel, den Sebald X. in den Augen Linharts II. Tucher mit der Heirat Ottenes über die Familie gebracht hatte, war mit seiner zweiten Ehe nun mehr als wett gemacht. In logischer Konsequenz wurde Sebald auch im Folge___________ 203 Anton V. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 24. Februar 1538, Christof Kurtz aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 3. April 1538 (StadtAN, E 29/IV Nr. 73, 1145). 204 Lorenz II. aus Nördlingen an Linhart II. Tucher in Nürnberg 1. September 1533 (StadtAN, E 29/IV Nr. 425). 205 Christof Kurtz aus Antwerpen an Linhart II. Tucher in Nürnberg 30. August 1545, Gabriel I. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 11. November 1545 (StadtAN, E 29/IV Nr. 1159, 125). 206 Linhart II. Tucher in Nürnberg an Christof Kurtz aus Genf 26. Mai 1538 (StadtAN, E 29/IV Nr. 330). 207 Geschlossen am 3. Mai 1538 (StadtAN, B 14/I Nr. 50, fol. 196v-197r). 208 Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 110r-110v. 209 StadtAN, GSI 152 (Genanntendatenbank): Sebald II. Ketzel, heiratet 1500 Katharina Harsdörffer, 1503-1530 Genannter des Größeren Rats. 210 StadtAN, GSI 152 (Genanntendatenbank): Hans III. Haller. 211 Fleischmann (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 519. 212 Theodor Aign, Die Ketzel. Ein Nürnberger Handelsherren- und Jerusalempilgergeschlecht (Freie Schriftenfolge der Gesellschaft für Familienforschung in Franken 12), Neustadt/Aisch 1961, S. 127. 213 Identifiziert nach Kohn (wie Anm. 15) als Obstmarkt 9 (heute größtenteils einbezogen in das Rathausgebäude Fünferplatz 2).
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jahr 1539 als Genannter in den Größeren Rat der Reichsstadt berufen.214 Spätestens jetzt, eher schon zur Zeit seiner Eheschließung mit Ursula Ketzel muß er auch das bei Hektor Amman genannte Genfer Bürgerrecht und seine dortigen Ratsämter wieder aufgegeben haben.215 In seiner Funktion als Genannter des Größeren Rats tritt Sebald beispielsweise 1550 als Mitsiegler des Testaments von Hans Tetzel (1489-1553)216, des kurpfälzischen Pflegers zu Pfaffenhofen bei Neumarkt/Opf., auf.217
XIX. Wann genau Sebald X. nach seiner zweiten Heirat wieder nach Genf zurückkehrte, ist den Quellen nicht zu entnehmen. Im November 1539 ist er erneut in Geschäfte der Firma verwickelt218, aber erst während der dramatischen Ereignisse des Jahres 1544 sowie im Jahr 1546 ist er mit Sicherheit wieder in der Schweizer Niederlassung der Firma nachzuweisen.219 Vermutlich hielt sich Sebald X. danach nur noch einmal für einen längeren Zeitraum in seiner langjährigen Wahlheimat Genf auf. Im September 1551 teilte Gabriel I. in Ulm seinem Vater in Nürnberg mit, er wolle wegen unsicherer Warentransporte auf der Route Lyon-Genf-Nürnberg zunächst nach St. Gallen und dann weiter nach Genf reiten, um dort nach dem Rechten zu sehen. Er wünschte ausdrücklich, Sebald X. möge ebenfalls nach Genf kommen.220 Dies ist auch geschehen, da Sebald am 4. Dezember 1551 mit der Abrechnung der Lyoner Augustmesse von Genf aus wieder in Nürnberg eintraf, wo er sich später dem Vorwurf ausgesetzt sah, er habe die Rechnung nicht ordnungsgemäß abgeliefert.221 Sicherlich ließ dieser Vorwurf seiner altersbedingten Unzuverlässigkeit in dem nun 53jährigen endgültig den Entschluß reifen, sich aus dem Geschäft der Tucherschen Handelsgesellschaft zu verabschieden. 1552 wurde er noch einige ___________ 214
StadtAN, GSI 152 (Genanntendatenbank): Genannter 1539-1561. Vgl. oben S. 386 f. 216 StadtAN, GSI 152 (Genanntendatenbank): Sohn des Hans (VI.) Tetzel und der Cordula Hirschvogel, heiratet 1521 Barbara Meichsner und nach deren Tod (1542) seine Dienerin Barbara Dürnberger. 217 20.Juli 1550 (StadtAN, E 17/IV Nr. 60). 218 Wolfgang III. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 22. November 1539 (StadtAN, E 29/IV Nr. 587). 219 Vgl. oben S. 380, S. 394, S. 396. 220 Gabriel I. aus Ulm an Linhart II. Tucher in Nürnberg 25. September 1551 (StadtAN, E 29/IV Nr. 170). 221 Herdegen IV. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 16. Dezember 1551 (StadtAN, E 29/IV Nr. 203). Die angeblich unterschlagene Rechnung geht über den Zeitraum 29. Mai bis 6. Oktober 1551 (StadtAN, E 29/IV Nr. 169). 215
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Male um Rat angegangen222, es ist aber bezeichnend, daß nur sein Vetter Gabriel I., der damals in Lyon und Genf die Firma vertrat, auf die langjährigen Erfahrungen des ehemaligen Genfer Residenten zurückgreifen wollte. Nach seiner Heirat mit Ursula Ketzel lebte Sebald X. in deren Haus am Obstmarkt. Als 1549 Linharts II. ältester Sohn Paulus IV. (1524-1603)223 Ursula Scheurl heiratete, lud Linhart zu den diversen Werbungs- und Hochzeitsfeierlichkeiten zwar Sebalds Frau Ursula ein, nicht jedoch Sebald X. selbst.224 Dies war aber nicht Ausfluß alter oder neuer Mißstimmungen zwischen den beiden, sondern einzig und allein der Tatsache geschuldet, daß Sebald wie auch seine Brüder Wolfgang III. und Silvester I. (1505-1563)225 im Verwandtschaftsgrad stärker mit der Braut verbunden und deshalb nach Nürnberger Brauch von der Brautseite zu laden war. Daß Ursula Scheurl mit Sebald X. Tucher enger verwandt war als mit Linhart und Paulus IV., läßt sich über die väterliche Abstammung (Scheurl, Tucher) nicht erklären, denn Ursulas Vater, Albrecht I. Scheurl (1482-1531), war einer der beiden Söhne aus der Ehe Christof I. Scheurls (1457-1519) mit Helena Tucher (1462-1516), Helena Tucher also die Großmutter Ursula Scheurls. Da Helena aber Tochter des Herdegen I. Tucher (gest. 1462) und seiner Frau Elisabeth Pfinzing (1433-1510) war, gehörte sie der älteren Tucherlinie an226, war also mit ihrem Schwiegervater und Bräutigam aus der älteren Linie näher verwandt als mit den drei Brüdern Wolfgang, Sebald und Silvester aus der jüngeren Tucherlinie. Das engere Verwandtschaftsverhältnis muß demnach aus der mütterlichen Abstammung herrühren.
XX. Je mehr sich Sebald X. aus dem aktiven Geschäft der Tucherschen Handelsgesellschaft zurückgezogen hatte, um so mehr wurde er mit innerfamiliären Aufgaben betraut. Nachdem Linhart II. 1536 Zweiter Losunger geworden war, war er so stark in die Pflichten für die Reichsstadt Nürnberg eingebunden, daß ___________ 222 So in der Frage um die Anstellung des Jörg von Basel und der Ausbildung Tobias I. Tuchers. – Gabriel I. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 26. Januar 1552, 6. September 1552, Gabriel I. aus Genf an Linhart II. Tucher in Nürnberg 20. April 1552 (StadtAN, E 29/IV Nr.175, 178, 181). 223 Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 164r-166r. – StadtAN, GSI 152 (Genanntendatenbank): 1550-1603 Genannter des Größeren Rats. – Fleischmann (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 1023 224 StadtAN, E 29/IV Nr. 1065. 225 Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 111r-111v. – StadtAN, GSI 152 (Genanntendatenbank): 1535-1563 Genannter des Größeren Rats. 226 Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 60r-63r.
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er seinen sonstigen Verpflichtungen zumindest teilweise entsagen mußte. So zog er sich, obwohl er nominell und faktisch die Fäden weiterhin in den Händen behielt und vom Kleineren Rat hierfür auch Dispens erhalten hatte, zusehends aus dem operativen Geschäft der Tucherschen Handelsgesellschaft zurück.227 Ähnlich verhielt er sich bei der Verwaltung der 1503 gegründeten Familienstiftung, der bis heute existierenden Dr. Lorenz-Tucher-Stiftung.228 Linhart II. hatte 1528 die Administration der Stiftung von Martin I. Tucher übernommen.229 Dieser war hierin seit 1525 von seinem Vetter aus der jüngeren Tucherlinie, Hans X. Tucher (1468-1527)230, unterstützt worden231, dem Geschäftspartner und Onkel jenes Erasmus I. Tucher, der wie Sebald X. lange Jahre in Genf verwurzelt war und dort auch 1528 verstarb.232 Nach der Wahl zum Zweiten Losunger beteiligte Linhart 1537, das System der Co-Administration übernehmend, Sebalds Bruder Wolfgang III., den wir als langjährigen Leiter der Tucherfiliale in Lyon kennengelernt haben, an der Verwaltung der Stiftung.233 Es wird genauso wie beim weiteren Mitwirken Linharts in der Handelsfirma gewesen sein: Er selbst blieb nominell Administrator der Stiftung und zog weiterhin die Fäden, faktisch wurde die Arbeit jedoch auf Wolfgang III. übertragen. Als Wolfgang 1550 ein letztes Mal nach Lyon aufbrach, wo ihn Linharts Sohn Herdegen IV. im Dezember erwartete234, auf der Rückreise erkrankte235 und am 26. März 1551 in Genf verstarb236, setzte Linhart an seiner Stelle Sebald X. als Co-Administrator der Familienstiftung ein.237 Diese Aufgabe übte er bis zu seinem Tod 1561 aus. ___________ 227 Michael Diefenbacher/Rudolf Endres (Hg.), Stadtlexikon Nürnberg, 2. Aufl. Nürnberg 2000, S. 1090 (Michael Diefenbacher, Tucher, Linhart II.). – Fleischmann (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 1020. 228 Michael Diefenbacher, Das Nürnberger Stiftungswesen – Ein Überblick, in: MVGN 91 (2004), S. 1-34, hier S. 9-11. 229 Dieser war seit 1521 Administrator. – Volker Alberti, Die Herrschaft Simmelsdorf. Grundherren und Untertanen vom 14. bis 19. Jahrhundert, Lauf 1995, S. 80. 230 Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 71v-72r. 231 StadtAN, E 29/III Nr. 154, fol. 37r. 232 Vgl. oben S. 379, S. 376, S. 386. 233 StadtAN, E 29/III Nr. 154, fol. 37v. 234 Herdegen IV. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 14. Dezember 1550 (StadtAN, E 29/IV Nr. 200). 235 Herdegen IV. aus Lyon an Linhart II. Tucher in Nürnberg 23. März 1551 (StadtAN, E 29/IV Nr. 202). 236 Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 154r-156v. – Inventar der Hinterlassenschaft Wolfgangs III.: StadtAN, E 29/II Nr. 248. 237 StadtAN, E 29/III Nr. 154, fol. 38r.
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XXI. Am 12. Mai 1558 verfaßte Sebald X. Tucher sein Testament.238 Da auch seine zweite Ehe kinderlos geblieben war239, vermachte er darin verschiedene Legate an Geschwister, Neffen, sonstige Verwandte und Bekannte, stiftete 100 Gulden für Hausarme, bedachte in Nürnberg das Heilig-Geist-Spital, die vier Siechkobel und die Findelkinder. Als wichtigste Bestimmung aber bildete er aus seinem Sitz in Behringersdorf bei Nürnberg testamentarisch eine Vorschikkung 240 für die jüngere Tucherlinie. Hans XVIII. (1490-1548), der älteste Bruder Sebalds X.241, hatte 1532 von Elisabeth (gest. 1542), der Witwe des Wolf Peringsdorfer (gest. 1508)242, den sog. Spitalsitz in Behringersdorf erworben.243 Nach Hans’ XVIII. kinderlosem Tod war Sebald X. sein Erbe geworden. Erst Christoph V. Tucher (1540-1610), ein Neffe Sebalds X.244, der 1580 von Philipp Geuder (1538-1581)245 den sog. Grolandschen Sitz in Behringersdorf gegen Güter zu Hüttenbach tauschte246, richtete endgültig die Vorschickung Behringersdorf ein.247. Behringersdorf ist bis heute im Besitz der jüngeren Tucherlinie geblieben. Als die beiden Linien der Familie Tucher von Simmelsdorf 1815 in die Freiherrenklasse des bayerischen Adels immatrikuliert wurden, erhielt die jüngere Linie als offizielle Namenserweiterung die Nennung nach diesem Besitz: „Freiherren Tucher von Simmelsdorf auf Behringersdorf“.248 ___________ 238 Kopie (22. April 1560) des Testaments und zweier Ergänzungsbestimmungen des Jahres 1559: StadtAN, E 29/II Nr. 250. 239 Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 110r-110v. 240 Zur Nürnberger Vorschickung vgl. Diefenbacher (wie Anm. 228), S. 8. 241 Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 152-153r. – StadtAN, GSI 152 (Genanntendatenbank): heiratet 1526 Felicitas Zinner, 1539 Magdalena Zollner, 1527-1548 Genannter des Größeren Rats. 242 StadtAN, GSI 152 (Genanntendatenbank): Wolff Peringsdörfer, erste Ehefrau: Dorothea Groß, 2. Ehefrau: Elisabeth Mair, 1484-1508 Genannter des Größeren Rats. 243 Giersch/Schlunk/Haller (wie Anm. 102), S. 34. 244 Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 198r-200r. – Fleischmann (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 1026. 245 StadtAN, GSI 152 (Genanntendatenbank): heiratet Katharina Welser, 1564-1581 Genannter des Größeren Rats, 1565 Alter Genannter, 1566 Jüngerer Bürgermeister, 1576 Septemvir, 1579 Dritter Oberster Hauptmann. – Fleischmann (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 423 f. 246 StadtAN, E 29/II Nr. 1049. 247 Vergleich zur uneingeschränkten Nutzung der Vorschickung für Christoph und seine Nachkommen, 1. Februar 1578, Testament Christophs V. und seiner Ehefrau Maria Tetzel (gest. 1613), 24. April 1607: StadtAN, E 29/II Nr. 1043. 248 Michael Diefenbacher, Adelsbier aus Nürnberg – Nürnberger Patrizier und die Tucher-Brauerei, in: Adel als Unternehmer im bürgerlichen Zeitalter, hg. von Manfred Rasch (Vereinigte westfälische Adelsarchive e. V. Veröffentlichung 17), Münster 2006, S. 219-236, hier: S. 224.
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Drei Jahre, nachdem er sein Testament gemacht hatte, verstarb Sebald X. Tucher nicht ganz 63jährig am 22. April 1561 im Haus am Obstmarkt. Seine Frau Ursula überlebte ihn um neun Jahre, sie verstarb am 29. Juni 1570 am selben Ort.249
XXII. Sebald X. hatte über Jahrzehnte hinweg in der florierenden Handelsgesellschaft der Tucher mitgewirkt. Er kam in jungen Jahren nach Lyon und Genf, die zusammen neben Antwerpen im 16. Jahrhundert die wichtigsten Außenposten der Firma bildeten. Dort prägte er eher die Etappe Genf, während sein Bruder Wolfgang III. und sein entfernter Vetter aus der älteren Tucherlinie Hieronymus IV. an der vordersten Linie in Lyon wirkten. Besonders mit dem unwesentlich jüngeren Hieronymus IV. war er anfangs eng verbunden. Beide spielten lange Zeit zum Mißfallen der Firmenchefs Anton II. und Linhart II. in Nürnberg die „enfants terribles“ der Familie, wobei Sebalds Persönlichkeitsstruktur weniger ambivalent zu Tage tritt als Hieronymus’. Den Höhepunkt von Sebalds „Fehlverhalten“ bildete in den Augen der „Nürnberger“ sicherlich seine Heirat mit Ottene 1528. Trotz aller Probleme miteinander blieb Sebald im Familien- wie im Firmenverbund integriert, wie der „Fall“ Pankraz Reich, die Einbindung in die Ausbildung von Linharts Söhnen oder die Umstände um die Gefangennahme Sebalds durch Herzog Karl III. von Savoyen belegen. Gerade die frühen 30er Jahre des 16. Jahrhunderts zeigen auch die Tucherfirma und die Handelspolitik ihrer Chefs Linhart II. und Lorenz II. in neuem Licht: Sie sind weitaus risikofreudiger als bislang angenommen. Durch seine zweite Heirat mit Ursula Ketzel, verwitwete Haller, band sich der „Genfer“ Sebald wieder enger an Nürnberg und an die Familie, obwohl er im Krisenjahr 1544 nochmals „raus“ nach Genf mußte, um von dort aus mit der nächsten Tuchergeneration die Lyoner Niederlassung zu verwalten. Im Alter ist er dann endgültig nach Nürnberg zurückgekehrt, wo er die große Familienstiftung betreute und mit Behringersdorf in ähnlicher Weise für seine eigene Familie, die jüngere Tucherlinie, sorgte.
___________ 249 Tucherbuch (wie Anm. 6), fol. 110r-110v. – Totengeläutbücher (wie Anm. 103) III, Nr. 6831 (Sebald X.), Nr. 9550 (Ursula).
Zu einer vergessenen Wurzel deutscher föderativer Staatlichkeit í die konfessionelle Pluralität des Reiches nach 1648
Von Gabriele Haug-Moritz, Graz
I. Föderative Staatlichkeit – eine neue Erzählung deutscher Geschichte Geschichtliches Nachdenken über europäische Staatlichkeit im allgemeinen und über deutsche Staatlichkeit im besonderen hat seit 1989, und endgültig seit den verschiedenen (bislang gescheiterten) Versuchen, europäische Staatlichkeit neu zu organisieren, Konjunktur. In Hinblick auf das Verständnis deutscher Staatlichkeit hat es, so zumindest das Fazit, das die Oxforder Historikerin Abigail Green 2003 zieht, inzwischen eine „neue Erzählung“ der deutschen Geschichte hervorgebracht, an deren Etablierung auch der Jubilar seinen Anteil hat.1 In einer Sammelrezension etlicher deutsch- und englischsprachiger Neuerscheinungen zur deutschen Geschichte um 1800, konstatiert sie die Herausbildung einer „new narrative about state building and nationhood in Germany, a narrative that emphasizes the heritage of the Holy Roman Empire and the ‚federal‘ qualities of much pre-unification nationalism.“2 Inzwischen wurde damit Wirklichkeit, was Kurt von Raumer schon vor mehr als fünfzig Jahren seinen Kollegen empfahl í „die föderativen Kräfte (…) in unserer Wissenschaft noch mehr als bisher – auch in Richtung auf das Problem der Freiheit – zum Gegenstand eines die Alleingeltung der ‚Dämonie der Macht‘ im älteren Europa ein___________ 1
Helmut Neuhaus, The Federal Principle and the Holy Roman Empire, in: Hermann Wellenreuther (Hg.), German and American Constitutional Thought. Contexts, Interaction, and Historical Realities, New York/Oxford/München 1990, S. 27-49; deutsch: Providence/Oxford 1991, S. 31-53; ders., Auf dem Wege von „Unsern gesamten Staaten“ zu „Unserm Reiche“. Zur staatlichen Integration des Königreiches Bayern zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Wilhelm Brauneder (Hg.), Staatliche Vereinigung: Fördernde und hemmende Elemente in der deutschen Geschichte. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 13.-15.3.1995, Berlin 1998, S. 107-126. 2 Abigail Green, The federal Alternative? A new view of modern German history, in: The Historical Journal 46 (2003), S. 187-202, hier: S. 189.
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grenzenden Nachdenkens“3 zu machen. Doch erst die tiefgreifenden politischen Umbruchsprozesse der Gegenwart haben dem „Um-Schreiben“ der Geschichte und der Verabschiedung der alten, wenn auch immer noch wirkmächtigen Erzählung vom Sonderweg der deutschen Geschichte4 den Weg gebahnt und ihr die notwendige gesellschaftliche Akzeptanz verschafft.5 Was jenseits dieser tagespolitischen Konstellationen ebenso den Erfolg dieser Erzählung ausmacht wie ihre Problematik begründet, gibt die Rezension Greens jedoch auch zu erkennen – als föderalistisch/föderativ apostrophiert oder als Föderalismus charakterisiert wird Grundverschiedenes. Föderalismus gehört zu den Begriffen, die, wie Ernst Deuerlein in einer der bis heute wichtigsten Referenzstudien zum Thema bereits 1972 bemerkte, „je mehr über sie geredet wird, um so weniger (…) verstanden“6 werden. Selbst wenn man vernachlässigt, daß „internationale und philosophische, [...] staatliche und soziologische Themenbereiche“7 gleichermaßen mit dem Begriff des Föderalen etikettiert werden und Föderalismus, was hier geschehen soll, ausschließlich als verfassungsrechtliches Organisationsprinzip versteht und damit eine bewußt staatszentrierte Sicht einnimmt, so macht es doch die „Vielfalt der föderalistischen Begriffs- und Vorstellungswelt (nicht eben) leicht, die Eigenart föderaler Institutionalisierung konzeptionell zu erfassen“8. Die Schwierigkeiten potenzie___________ 3
Kurt von Raumer, Absoluter Staat, korporative Libertät, persönliche Freiheit, in: Walther Hubatsch (Hg.), Absolutismus, Darmstadt 1988, S. 152-201, hier: S. 177 f. 4 Hierzu zuletzt Dieter Langewiesche, Staatsbildung und Nationsbildung in Deutschland – ein Sonderweg? Die deutsche Nation im europäischen Vergleich, in: ders., Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa, München 2008, S. 145-160; ders., Das Alte Reich nach seinem Ende. Die Reichsidee in der deutschen Politik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Versuch einer nationalgeschichtlichen Neubewertung in welthistorischer Perspektive, in: ebd., S. 211-234. 5 „Und nur wenn beides zusammenfindet, der gesellschaftliche Umbruch und das Umschreiben der Geschichte, nur in diesem Kairos entsteht eine neue Sicht auf die Vergangenheit, die von der Gesellschaft angenommen wird.“ (Dieter Langewiesche, Erinnerungsgeschichte. Ihr Ort in der Historiographie, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kirchengeschichte 100 (2006), S. 13-30, hier: S. 26. Online verfügbar: http://www.unifr.ch/szrkg/pdf/leseprob/2006_07/langewiesche.pdf (Aufruf: 15.9.2008). 6 Ernst Deuerlein, Föderalismus. Die historischen und philosophischen Grundlagen des föderativen Prinzips, München 1972, S. 9. 7 Michael Dreyer, Föderalismus als ordnungspolitisches und normatives Prinzip. Das föderative Denken der Deutschen im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main u. a. 1987, S. 7; systematischer Überblick: ebd. S. 3-6. 8 Giuseppe Duso/Werner Krawietz/Dieter Wyduckel, Vorwort, in: dies. (Hg.), Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, Berlin 1997, S. V-IX, hier: S. V; vgl. hierzu auch: Karl Härter, Föderalismus, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 1046-1049; und zum ‚sozietalen Föderalismus‘ Althusiusscher Provenienz: Dreyer (wie Anm. 7), S. 30-36; Deuerlein (wie Anm. 6), S. 33-37; Duso/Krawietz/Wyduckel; Thomas O. Hüglin, Sozietaler Föderalismus. Die politische Theorie des Johannes Althusius, Berlin/New York 1991.
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ren sich, wenn der Begriff auf die vormoderne politische Verfaßtheit von Gemeinwesen Anwendung findet. Denn die Definition, daß „F. als politisches Prinzip [...] eine gesellschaftliche und staatliche Organisation (bezeichnet), die sich von unten nach oben vollzieht“ und daß ihr „Gegensatz […] ein zentralistischer, von oben nach unten in straffen Weisungsverhältnissen organisierter Staatsaufbau mit umfassender Lenkung der Politik und Verwaltung durch eine Zentralinstanz in der Hand eines Monarchen, einer politischen Elite oder auch einer demokratisch legitimierten Regierung“9 ist, kann für die Beschreibung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse vor der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht herangezogen werden.10 Zwar dominiert nun bei der Suche nach den Wurzeln des deutschen Föderalismus nicht mehr, wie lange Zeit, eine Forschungsstrategie, die in traditionell geistesgeschichtlichem Zugriff das Föderale im politischen Denken von Althusius bis Kant zu verorten sucht11 und den politischen Föderalismus des 19. Jahrhunderts als verfassungsrechtliches Organisationsprinzip im Spannungsfeld von „Bundesstaat“ und „Staatenbund“ diskutiert,12 doch eine Verständigung darüber, was als „föderal“ zu charakterisieren ist, ist in weitere Ferne gerückt denn je. Bezogen auf das Reich des 18. Jahrhunderts werden so verschiedene Dimensionen der historischen Wirklichkeit wie die staatsrechtliche Verfaßtheit des Reiches im allgemeinen und die bündischen Traditionen im besonderen, die reichspatriotischen und reichsreformerischen Diskurse und auch die spezifische Spielart kleinstaatlicher Aufklärung und deren symbolische Repräsentationen unter dem Begriff des Föderalen subsumiert.13 Die Frage nach den föderalen ___________ 9 Thomas Würtenberger, Zur Legitimation des Föderalismus, in: Duso/Krawietz/ Wyduckel (wie Anm. 8), S. 355-368, hier: S. 355. 10 Vgl. etwa zur Genese der Dichotomie von „föderal/Föderalismus – zentral/Zentralismus“ in der Revolution von 1848/49 Deuerlein (wie Anm. 6), S. 329. 11 Nicht nur, aber auch als geistige Höhenkammwanderung gestaltet Reinhart Koselleck, Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 582-671, seinen Artikel; vgl. auch Dreyer (wie Anm. 7), S. 30-54; Deuerlein (wie Anm. 6), S. 33-70. 12 Daß diese statische Sichtweise der „Vielschichtigkeit und Entwicklungsdynamik föderaler Strukuren“ (Duso/Krawietz/Wyduckel [wie Anm. 6], S. VI) nicht gerecht wird, hat die Forschung erkannt und die Entwicklungsdynamik inzwischen gerade in Hinblick auf die Geschichte des Deutschen Bundes präzise herausgearbeitet; zur neueren Bundesforschung vgl. mit einschlägigen Literaturhinweisen Hellmut Seier, Der Deutsche Bund als Forschungsproblem 1815 bis 1960, in: Helmut Rumpler (Hg.), Deutscher Bund und deutsche Frage 1815-1866, Wien 1990, S. 31-58; Jürgen Angelow, Der Deutsche Bund, Darmstadt 2003; Jürgen Müller, Der Deutsche Bund 1815-1866, München 2006; Langewiesche, Reich (wie Anm. 4), S. 230-232. 13 Alle bibliographischen Nachweise bei Green (wie Anm. 2); vgl. darüber hinaus auch Wolfgang Burgdorf, Reichskonstitution und Nation: Verfassungsreformprojekte für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im politischen Schrifttum von 1648 bis 1806, Mainz 1998; Karl Otmar v. Aretin, Das Alte Reich 1648-1806, 4 Bde., Stuttgart
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Implikationen der seit 1648 endgültig anerkannten konfessionellen Pluralität für die deutsche Geschichte wurde freilich bislang nicht aufgeworfen. Bevor dies jedoch geschehen kann, bedarf es der begrifflichen Klärung.
II. Was heißt „föderativ/föderal“ im 18. Jahrhundert? Föderativ/föderal und noch viel mehr deren Substantivierung sind Begriffe, die aus dem Französischen, Englischen und auch, allerdings erst spät rezipiert, Amerikanischen in die deutsche Sprache übernommen wurden. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts bzw., in Hinblick auf den Begriff des Föderalismus, erst seit dessen Mitte fanden sie vermehrt Eingang in den deutschen Sprachgebrauch.14 Seit dieser Zeit tritt Föderalismus als gesellschaftliches, verfassungsrechtliches, völkerrechtliches Organisationsprinzip, aber auch als Gegenstand philosophischer Reflexion entgegen. Im Französischen jedoch, in der Sprache, in der sich der Begriff „föderativ“ erstmals 1814 im Pariser Frieden auf das ehemalige Reich bezogen findet und deren Begriffsverständnis am frühesten und umfänglichsten im deutschen Sprachraum rezipiert wurde, ist der Begriff deutlich enger gefaßt. So heißt es im 14., 1765 publizierten Band der Encyclopédie15, Montesquieusches Gedankengut paraphrasierend, von einem föderativen Gemeinwesen sei dann die Rede, wenn „plusieurs corps politiques consentent à devenir citoyens d’un état plus grand qu’ils veulent former.“16 „Föderativ“ in diesem Sinn meint also eine spezifische, auf ein Gemeinwesen bezogene politische Organisationsform, in der mehrere politische Korporationen aus freier Übereinkunft, zu ergänzen: dauerhaft, zu staatlicher Einheit verbunden sind, kurzum: das Prinzip der vertikalen Machtteilung.17 Solche Gemeinwesen, die entweder demokratisch oder aristokratisch verfaßt seien, so fährt der Verfasser des Enzyklopädieartikels fort, seien, und hier folgt er wieder Montesquieu, als Republiken zu definieren. Sie seien dadurch gekennzeichnet, daß sie sich im Inneren der „bonté du gouvernement [...] de chacune“ erfreuten, ___________ 1997-2000, v. a. Bd. 1: Föderalistische oder hierarchische Ordnung (1648 – 1684), 2. Aufl. Stuttgart 1997. 14 Koselleck (wie Anm. 11), S. 637 Anm. 285, S. 652; zur späten Rezeption der amerikanischen Verfassungsdiskussion der 1780er Jahre vgl. auch Deuerlein (wie Anm. 6), S. 50, S. 59 f. 15 Der Text der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert steht nunmehr auch digitalisiert als Originaltext und Transkription zur Verfügung. . 16 http://fr.wikisource.org/wiki/Page:ENC_14-0158.jpg. 17 Zum Prinzip der Machtteilung, die entweder „horizontal“ oder „vertikal“ strukturiert sein kann und zur politiktheoretisch lange vernachlässigten Dimension des Letzteren, vgl. jetzt luzide Alois Riklin, Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung, Darmstadt 2006, hier v. a. S. 214-221.
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nach außen aber, „par la force de l’association, tous les advantages des grandes monarchies“ genössen. Als „république fédérative“ werden in der französischen Sprache demnach solche Formen politischer Vergemeinschaftung bezeichnet, die im Deutschen als Bünde bzw. Konföderationen firmieren. Für deren Beschreibung hat sich seit dem dritten Dezennium des 19. Jahrhunderts die analytische Unterscheidung von Bundesstaat und Staatenbund durchgesetzt, die durch die seit 1770 zu beobachtende Konjunktur des Bundesbegriffs ebenso bedingt ist wie sie diese fortschrieb.18 Sie wirkt, wiewohl ihr beschränkter heuristischer Wert inzwischen erkannt ist, bis in die Gegenwart forschungsleitend.19 Ungleichheit der einzelnen Mitglieder nach Größe und Macht, so wiederum der Verfasser des Enzyklopädieartikels, sei ein Charakteristikum solch staatlicher Gebilde. Zwei Prinzipien ließen sich beobachten, die es erlaubten, das politische Ungleichgewicht mit dem Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe der Föderierten im „conseil commun“ in Einklang zu bringen: entweder würde sich, wie im antiken Lykien, in der im gemeinsamen Rat von jedem Mitglied geführten Stimmenzahl das Macht- und das damit verbundene Leistungsgefälle niederschlagen, oder, so in den Niederlanden, stünde jedem „corps politique“ eine Stimme zu und der Einfluß im Rat und die Leistungen für das Gemeinwesen würden sich nach den jeweiligen Machtressourcen bemessen. Die „république fédérative d’Allemagne“, so die Bezeichnung des Reiches, zähle auch zu dieser Art von Gemeinwesen, sie sei aber „plus imparfaite que celle de Hollande“, da sie nur erhalten bleibe, „parce qu’elle a un chef“, das „en quelque façon le monarque“20 sei. Als unvollkommenes föderatives Gemeinwesen wird das Reich demnach definiert, weil die aus dem Anspruch der Glieder auf gleichberechtigte Teilhabe sich herschreibende, für föderative Gemeinwesen charakteristische Egalität der Föderierten unvereinbar erscheint mit den monarchischen Bestandteilen, die die Verfassungsordnung des Reiches kennzeichnen. Die 1814 im Pariser Frieden getroffene Festlegung, daß die auf dem Wiener Kongreß vorzunehmende politische Neuorganisation durch ein „föderatives Band“ („lien fédératif“) zu erfolgen habe, war daher keine, der inhaltlichen Arbeit des Kongresses unpräjudizierliche Formulierung, sondern enthielt implizit eine politische Konzeption, die es zwar erlaubte, politische Ungleichheit in der ___________ 18 Zur Begriffsgeschichte von Bund vgl. immer noch Koselleck (wie Anm. 11), S. 640-652 und S. 652 Anm. 351 (Unterscheidungsmerkmale Staatenbund – Bundesstaat wie sie im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden); Joachim Bahlcke, Konföderation, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6, Stuttgart 2007, Sp. 1074-1080. 19 Vgl. oben Anm. 12 und z. B: Elmar Wadle, Staatenbund oder Bundesstaat? Ein Versuch über die alte Frage nach den föderalen Strukturen in der deutschen Verfassungsgeschichte zwischen 1815 und 1866, in: Brauneder (wie Anm. 1), S. 137-170. 20 http://fr.wikisource.org/wiki/Page:ENC_14-0159.jpg.
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zu schaffenden politischen Ordnung abzubilden, nicht aber, das Prinzip der Gleichberechtigung aller Föderationsmitglieder durch die bevorrechtete Position eines Mitglieds der Föderation zu durchbrechen. Und so erstaunt es nicht, daß Wilhelm von Humboldt im März 1815 auf den Vorschlag des russischen Verhandlungsführers Ioannes Antonios Capodistrias, die Kaiserwürde zu retablieren, in seiner ablehnenden Stellungnahme auf die Rede vom „lien fédératif“ rekurriert und festhält: „quoique cette phrase [i. e. lien fédératif] n’exclue pas littéralement le rétablissement de la dignité Impériale, nous savons tous, que cette exclusions [sic!] étoit dans l’intention des parties contractantes.“21 Fédératif/ve beschreibt also im 18. Jahrhundert ein innerstaatliches, politisches Organisationsprinzip. Der Begriff impliziert die Vorstellung der gleichberechtigten, nicht gleichgewichtigen Teilhabe aller Föderierten im Gemeinwesen, die als unvereinbar mit jedwedem, wie auch immer begründeten, Überund Unterordnungsverhältnis vorgestellt wird. Wie die, seit den 1760er Jahren im Reich geläufigen Begriffe der „Konföderation“ und des „Bundes“22, indiziert dessen Verwendung, daß man im alten, im 18. Jahrhundert an kommunikativer Intensität gewinnenden und sich im Vorzeichen des deutschen Dualismus immer mehr machtpolitisch aufladenden Streit um die „forma Imperii“ eindeutig Stellung bezog und das Reich im Sinne einer Verfassungskonzeption deutete, in der der Kaiser nicht als (Ober-)Haupt des Reiches, sondern als dessen mächtigstes (Mit-)Glied und Mandatar der Reichsstände erscheint. Folgerichtig wird die Souveränität in dieser Deutung den Reichsständen zuerkannt, sei es in ihrer Gesamtheit, oder, so erstmals in den 1760er Jahren in den antikaiserlichen Propagandaschriften Justis, jedem einzelnen. Zur Verfassungsrealität des Reiches, mit ihrer altüberkommenen, 1648 tradierten und seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts wieder konsolidierten, um den Kaiser zentrierten politischen Ordnung, die Partizipationschancen hierarchisch, nach ständischem Rang, verteilte,23 verhielt sich eine solche Verfassungskonzeption diametral.
___________ 21 Eckhardt Treichel (Bearb.), Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes, Bd. 1/1,2: Die Entstehung des Deutschen Bundes, München 2000, S. 1147. 22 Zur politischen Aufladung des Begriffs der „Konföderation“ im Siebenjährigen Krieg vgl. unten; zur programmatischen Übernahme des Begriffs im Pressburger Frieden (26.12.1805), in dem die französische Seite vom Reich als „confédération germanique“ spricht, der Kaiser das Reich aber mit der Metapher des „Staatskörpers“ umschreibt, vgl. auch Koselleck (wie Anm. 11), S. 653. 23 Hierzu zuletzt, mit einer deutlichen Tendenz, diese Spannungen im Sinne seines Konzepts der „konstruktiven Doppelstaatlichkeit“ zu relativieren, Johannes Burkhardt, Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 11: Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648-1763, 10. Aufl. Stuttgart 2006.
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III. „Erinnerungsgeschichte“: das „alte“ Reich in den Analysen der deutschen Diplomaten des Wiener Kongresses So unabweislich es ist, daß das 1648 der Verfassungsordnung eingeschriebene Spannungsverhältnis zwischen den föderal-egalitär-fürstlichen und unitarisch-hierarchisch-kaiserlichen Bestandteilen nicht, wie es die borussianische Meistererzählung glauben machen wollte, ein langes politisches Siechtum des Reiches einläutete, so ausschlaggebend erweist es sich für die Ausgestaltung föderaler Staatlichkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Es grundiert noch, wie angedeutet, die Verfassungsverhandlungen auf dem Wiener Kongreß, und es tritt auch in den historischen Analysen der in Wien 1814/15 mit der Neuorganisation von Europas Mitte befaßten Diplomaten entgegen. Einigkeit herrschte bei den Wiener Akteuren, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, in den Kernpunkten ihrer Arbeit. 1. Die „nationelle Einheit“ tritt in den Gutachten und Stellungnahmen verschiedenster Provenienz als Prämisse aller Überlegungen entgegen,24 wozu sicherlich auch die Diskurse um Nation und Vaterland des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, die sich gegenwärtig intensiven Forschungsinteresses erfreuen,25 das ihre beigetragen haben, deren Quintessenz von Wilhelm von Humboldt 1813 mit Emphase vorgetragen wurde. „Auch lässt sich das Gefühl, daß Deutschland ein Ganzes ausmacht, aus keiner Deutschen Brust vertilgen, und es beruht nicht bloß auf Gemeinsamkeit der Sitten, Sprache und Literatur […] sondern auf der Erinnerung an gemeinsam genossene Rechte und Freiheiten, gemeinsam erkämpften Ruhm und bestandene Gefahren, auf dem Andenken einer engeren Verbindung, welche die Väter verknüpfte, und die nur noch in der Sehnsucht der Enkel lebt“.26 Auch aus der Erinnerung an das Reich, allerdings an dessen „langsame(s) Ersterben“27 im ausgehenden 18. Jahrhundert, speiste sich die in Wien weit verbreitete Überzeugung, daß es ___________ 24 Treichel (wie Anm.21), S. 286; vgl. auch ebd., S. 8-25, S. 48-59, S. 67-88, S. 108115 (verschiedene Gutachten österreichisch, preußischer, hannoverscher und mindermächtiger Provenienz, über die künftige Verfassung Deutschlands). Vgl. auch Michael Hundt, Die mindermächtigen deutschen Staaten auf dem Wiener Kongreß, Mainz 1996, S. 138-149. 25 Vgl. die bei Green (wie Anm. 2) nachgewiesenen Titel sowie als eine derjenigen Arbeiten, die diesem Feld zuerst ihre Aufmerksamkeit zuwandten, Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches, München 1999, S. 306-326 und jetzt zusammenfassend Langewiesche, Reich (wie Anm. 4). 26 Treichel (wie Anm. 21), S. 74. 27 Ebd., S. 75.
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2. keine Rückkehr zum Status quo ante des Jahres 1802 geben könne und solle28 und das hieß vor allem, daß die durch Säkularisation und Mediatisierung evozierten Transformationsprozesse deutscher Staatlichkeit nicht rückgängig gemacht werden sollten. Zudem war 3. die Auffassung, die besonders prononciert in den Gutachten des englischhannoverschen Vertreters Herbert Ernst Friedrich Graf Münster entgegentritt, im Kern unumstritten29, daß die innere Ordnung der Föderationsmitglieder so zu gestalten sei, daß der seit 1806 herrschende ‚Despotismus‘ beseitigt wird, der, so vom Stein, „15 Millionen Deutsche [...] der Willkür von 36 kleinen Despoten Preiß gegeben“30 hat. Ein, so Münster, „system répresentatif“ sei daher zu etablieren, das „en Allemagne aussi ancien que les premiers monuments de notre histoire“31 sei. Und schließlich 4. teilten die in Wien anwesenden Politiker die Überzeugung, daß die überkommene „zusammengesetzte Staatlichkeit“ erhalten bleiben, die europäische Mitte als „Föderativnation“ (Langewiesche) zu organisieren und vor allem der Besitzstand „alter wenigstens ehemals mannigfach um Deutschland verdienter Fürstenhäuser (nicht) anzutasten“32 sei. Denn, so wiederum Humboldt: „Die ___________ 28 Zuletzt Uwe Puschner, Reichsromantik. Erinnerungen an das Alte Reich zwischen den Freiheitskriegen 1813/14 und den Revolutionen von 1848/49, in: Heinz Schilling/Werner Heun/Jutta Götzmann (Hg.), Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806, Essays, Dresden 2006, S. 319-329; Eckhardt Treichel, Einleitung, in: ders. (wie Anm. 21), S. XI-CXXXVII, hier S. LXXXVIII-XCV; Hundt (wie Anm. 24), S. 313-320. Eine Deutung, die den Untergang der „Kleinstaaten“ nur als Folge ihrer Unfähigkeit zu militärischer Selbstbehauptung ableitet (Dieter Langewiesche, Kleinstaat – Nationalstaat. Staatsbildungen des 19. Jahrhunderts in der frühneuzeitlichen Tradition des zusammengesetzten Staates, in: ders. [wie Anm. 4], S. 194-210), greift zu kurz. Sie übersieht, daß die sich vorrangig als Überschuldungskrise äußernden Strukturprobleme der Kleinstaaten (vgl. z. B. Jürgen Ackermann, Verschuldung, Reichsdebitverwaltung, Mediatisierung: eine Studie zu den Finanzproblemen der mindermächtigen Stände im Alten Reich: das Beispiel der Grafschaft Ysenburg-Büdingen 1687 – 1806, Marburg 2002), sich auch, aber nicht nur aus ihrer Unfähigkeit zu machtpolitisch-militärischem Handeln herschreibt. 29 Daß der konkrete Zuschnitt ebenso kontroverse Diskussionen evozierte wie der spätere Art. 13 der Bundesakte, steht auf einem anderen Blatt. Bezeichnenderweise wurden von den kaiserlichen Räten Lösungen propagiert, die der Idee einer „Volks“Vertretung sehr nahe kamen, um bei „dem noch fortwährenden Kampfe zwischen Democratism und Aristocratism (…) durch eine solche alle Classen berücksichtigende Bestimmung ein schönes Denkmal deutscher Freyheit (zu) gewähren.“ (Treichel [wie Anm. 21], S. 1141 f.). Diese Wiener Linie wurzelt in der Mitte der 1760er Jahre geführten Nationalgeistdebatte, die zu Zeiten des Fürstenbundes erneut von Wien publizistisch aufgegriffen wurde, und in der sich der Kaiser als Garant der „deutschen Volksfreiheit“ präsentierte (vgl. Burgdorf [wie Anm. 13], S. 191-235, S. 291-302). 30 Treichel (wie Anm. 21), S. 19. 31 Ebd., S. 111. vgl. auch zu dieser, in Art. 13 der Bundesakte realisierten Forderung Hundt (wie Anm. 24), S. 229 f.; Treichel, Einleitung (wie Anm. 21), LXX-LXII u. ö. 32 Treichel (wie Anm. 21), S. 77.
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Richtung Deutschlands ist ein Staatenvereyn zu seyn, und daher ist es weder, wie Frankreich und Spanien, in eine Masse zusammengeschmolzen, noch hat es, wie Italien, aus unverbundenen einzelnen Staaten bestanden.“33 Wie aber die „Einheit im Bunde der Föderation“ ausgestaltet werden sollte, darüber herrschte Dissens, in dem der alte Streit um die politische Gestalt der europäischen Mitte in neuem Gewande wieder aufbrach.34 Holzschnittartig verkürzt lautete die Alternative: a) die Föderation als „eine vollkommene gleiche und freie Verbindung, wie sie von souveränen Fürsten geschlossen wird“35 vorrangig zum Zweck der gemeinsamen Behauptung nach außen zu gestalten, so der Vorschlag Humboldts, oder b) die Einheit nach dem Vorbild des untergegangenen Reiches als eines aus „Haupt und Gliedern“ bestehenden Staatskörpers zu schaffen. Bot das Reich den Verfechtern der erstgenannten Lösung, allen voran den neu gekürten bayerischen und württembergischen Königen, bezeichnender Weise keine Anknüpfungspunkte für die von ihnen propagierte Konstruktion der Beziehungen innerhalb der Föderation, denn nicht auf das ehemalige Reich, sondern auf die völkerrechtlichen Vereinbarungen der Jahre seit 1805 referieren sie sich,36 so tritt das aufgelöste Reich resp. dessen „Fehler“ bei den Verfechtern letzterer prominent entgegen. Ihnen, d. s. die kaiserlichen Räte, die Vertreter der Mindermächtigen37 und auch der Reichsfreiherr vom Stein38, schien die zweite Variante allein schon deswegen geboten, um „den Abglanz alter deutscher National-Würde zu erhalten“, und sich nicht selbst auf eine Stufe mit „einem micrologischen Schweitzer- oder einem AmericanerBunde herabzusetzen“39. Im einzelnen werden von ihnen als Fehler der „alten Ordnung“, die es künftig zu vermeiden gilt, namhaft gemacht: 1. die Gestaltung
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Ebd. S. 78. So eingängig und zutreffend der Begriff „Föderativnation“ resp. „föderative Nation“ auch ist (Dieter Langewiesche/Georg Schmidt [Hg.], Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000; Dieter Langewiesche, Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa, München 2008), diese Dimension, d. i. die konkrete Gestalt, in der die vertikale Machtteilung entgegentritt, wird durch den Begriff eher verdeckt denn erhellt. 35 Treichel (wie Anm. 21), S. 78. 36 Ebd., S. 421-423, S. 452-458. 37 Vgl. exemplarisch die Analyse des sachsen-weimarischen Bevollmächtigten auf dem Wiener Kongreß, Ernst Ludwig von Gersdorff (ebd., S. 701-705). Weitere Belege lassen sich, dank des exzellenten Sachregisters, mühelos erschließen. 38 Zur Bewertung Steins und seiner Bedeutung für die Wiener Verfassungsverhandlungen vgl. Michael Hundt, Stein und die deutsche Verfassungsfrage in den Jahren 1812 bis 1815, in: Heinz Duchhardt/Andreas Kunz (Hg.), Reich oder Nation? Mitteleuropa 1780-1815, Mainz 1998, S. 141-180. 39 Treichel (wie Anm. 21), S. 291. 34
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der Exekutive40, 2. die Gestaltung des Reichstags und zwar in mehrfacher Hinsicht: a) die nicht vorhandene Bindung des Stimmrechts an „ein(em) politische(s) Prinzip“41; b) die ungleiche Verteilung der Stimmen zwischen Katholiken und Protestanten42; c) die eingeschränkte Geltung des Mehrheitsprinzips bei Abstimmungsverfahrens und, damit einhergehend, das „jus eundi in partes und alle(r) auf die Religions-Verschiedenheit habenden Einrichtungen“43. Und schließlich 3. und in engem Zusammenhang mit letzterem, soll künftig, so der Vorschlag, die „Gleichheit der Religion“ festgeschrieben werden, damit, so die Begründung des kaiserlichen Rates Frank, „tausend politische Reibungen“ aufhörten. Denn „nichts würde die Einheit ‚Einer Nation mehr erhöhen als eben eine solche Verfügung“44. ,
Kurzum: Die „Fehler“, die das Reich als ein aus „Haupt und Gliedern“ bestehenden Staatskörper hatten sterben lassen, werden nicht ausschließlich, aber vorrangig in den Auswirkungen der 1648 etablierten Reichsreligionsverfassung verortet.
IV. Die Reichsreligionsverfassung des 18. Jahrhunderts und das Entstehen des Corpus Evangelicorum Als eine der großen Leistungen der westfälischen Friedensordnung zählt zu Recht die Anerkennung der ‚genauen und gegenseitigen Gleichheit katholischen und evangelischen Bekennens und die Integration der aus der religiösen Pluralität erwachsenden Problemstellungen der Vorkriegszeit in die politische Ordnung: durch Normaljahrsregelung und landesherrliches Reformationsrecht auf territorialer Ebene und durch die Beachtung des Prinzips der Parität auf Reichsebene.45 Parität meint zum einen Zahlenparität, d. h. die Ergänzung des ,
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Ebd., S. 354. Hier und im Folgenden wird jeweils nur eine Belegstelle angeführt bzw. die Zitate nachgewiesen, das differenzierte Sachregister von ebd., S. 1643-1671 erlaubt die rasche Erhebung weiterer Nachweise. 41 Ebd., S. 347. 42 Ebd., S. 23. 43 Ebd., S. 11, S. 23. 44 Ebd., S. 345. 45 Allein schon wegen der Beschränkung des Seitenumfangs verzichte ich auf Einzelnachweise und beziehe mich hier und, so weit nicht anders angegeben, im Folgenden für die allgemeine verfassungsgeschichtliche Entwicklung auf die, nunmehr in rascher Folge erscheinenden Überblickswerke zur Geschichte des Reiches, die allesamt den Zugang zur älteren Literatur eröffnen, d. h. neben den bereits erwähnten Darstellungen von v. Aretin (wie Anm. 13), Schmidt (wie Anm. 25) und Burkhardt (wie Anm.23) auf Helmut Neuhaus, Das Reich in der frühen Neuzeit, 2. Aufl. München 2003; Axel Gotthard, Das Alte Reich, 3. Aufl. Darmstadt 2006; Barbara Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806, München 2006.
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herkömmlichen Verfahrens, wie etwa bei Prozessen vor den Reichsgerichten, durch die Beachtung des Grundsatzes der zahlenmäßig gleichen Vertretung von Katholiken und Protestanten bei allen Agenden, an denen konfessionsverschiedene Akteure beteiligt sind. Zum anderen aber – und wesentlich bedeutsamer –, bedeutet Parität in allen institutionellen Zusammenhängen, in denen Zahlenparität nicht realisiert werden konnte, wie z. B. auf dem Reichstag mit seiner zahlenmäßigen Überlegenheit der Katholiken in Kurfürsten- und Fürstenkurie und der Protestanten in der Städtekurie, die Ersetzung des gewöhnlichen Verfahrens durch ein dem Prinzip des schiedlichen Ausgleichs verpflichtetes Procedere, d. i. die sog. Verfahrensparität. In „Religions- und anderen Angelegenheiten“, in denen die Stände nicht als „unum corpus“ betrachtet werden können, so IPO Art. V § 52, wurde das Mehrheitsprinzip und das kuriale Entscheidungsfindungsverfahren außer Kraft gesetzt und die Stände ‚gehen in zwei Teile , d. i. das Jus eundi in partes, mit dem Ziel, zwischen den Teilen eine „amicabilis compositio“, einen schiedlichen Ausgleich, herbeizuführen. Die Vertreter des Kaisers waren dabei nicht, wie im herkömmlichen Reichstagsverfahren, diesem über-, sondern in dieses eingeordnet. Vom „Haupt“ wurde der Kaiser zum „Glied“, wenn auch zum mächtigsten, des katholischen Teils der Reichsstände. ’
War und blieb bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Umgestaltung des Reichstagsverfahrens samt seinen föderativen Implikationen eine Potentialität, so warfen die komplexen Restitutionsregelungen des Friedens und die Ungeklärtheit des Verhältnisses von Normaljahrsregelung zu landesherrlichem Reformationsrecht schon unmittelbar nach dem Friedensschluß ein Problem auf, dessen „Lösung“ für die kaiserlichen Handlungsmöglichkeiten im Reich ebenso folgenreich war, wie die Neugestaltung des reichstäglichen Entscheidungsfindungsverfahrens: das Problem, inwieweit der Kaiser seine oberstrichterliche Prärogative auch in solchen Streitfällen zur Geltung bringen konnte, bei denen Belange protestantischer Reichsstände oder Untertanen tangiert waren. Wurde aber die kaiserliche oberstrichterliche Funktion in Frage gestellt, dies hatte ___________ Und zur Entwicklung der Reichsreligionsverfassung auf meine, mit allen Detailnachweisen versehenen Aufsätze v. a. Gabriele Haug-Moritz, Kaisertum und Parität. Reichspolitik und Konfessionen nach dem Westfälischen Frieden, in: Zeitschrift für Historische Forschung 19 (1992), S. 445-482; dies., Corpus Evangelicorum und deutscher Dualismus, in: Volker Press/Dieter Stievermann (Hg.), Alternativen zur Reichsverfassung in der Frühen Neuzeit?, München 1995, S. 189-207; dies., Kreittmayr und die Religionsverfassung des Reichs im Zeichen der Rekonfessionalisierung, in: Richard Bauer/Hans Schlosser (Hg.), Wiguläus Xaver Aloys Freiherr von Kreittmayr 1705-1790. Ein Leben für Recht, Staat und Politik. Festschrift zum 200. Todestag, München 1991, S. 141-157 (zur Übernahme zentraler Bestandteile des protestantischen Verfassungsbildes durch die mächtigen katholischen Reichsstände, allen voran Bayern); dies., Das Reich, das Reichsstaatsrecht und die Protestanten, in: Peter Claus Hartmann/Florian C. Schuller (Hg.), Das Heilige Römische Reich und sein Ende 1806. Zäsur in der deutschen und europäischen Geschichte, Regensburg 2006, S. 98-111.
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schon Chemnitz 1640 klar erkannt, so war das Haupthindernis beseitigt, um die Reichsverfassung im fürstlich-föderativen Sinne umzugestalten.46 Von Anbeginn der 1648er Ordnung war demnach die Frage, inwieweit der Kaiser seine Stellung als Reichsoberhaupt behaupten und damit die monarchischen Bestandteile der Verfassungsordnung erhalten konnte, nicht nur, aber vor allem strukturell aufs engste mit Problemstellungen verknüpft, die sich aus der konfessionellen Pluralität des Reiches ergaben. Es ist genau dieser Umstand, der den kaiserlichen Rat Frank noch 1814 zur Aussage veranlaßte, daß der „protestantische Religions Theile (…) seit dem Ursprunge der Reformation bis auf die neuesten Zeiten“, gemeint waren hier die Verhandlungen über die Umgestaltung des Reichstags nach 180347, „stets eine Opposition gegen die kaiserliche Authorität bildete“48. Diese Behauptung Franks ist ebenso irrig wie aufschlußreich. Irrig ist sie, weil in der 47jährigen Regierungszeit Kaiser Leopolds I. (1658-1705), der Zeit, so Volker Press, des kaiserlichen Wiederaufstiegs49, von protestantischer „Opposition“ gegen die ‚kaiserliche Autorität , zumindest bis zum Jahr 1697, keine Rede sein kann, was sich ebenso als Ausdruck wie Ursache der retablierten monarchischen Machtstellung deuten läßt. Aufschlußreich aber ist sie, weil sie den politischen Stellenwert der Kontroversen zu erkennen gibt, die im 18. Jahrhundert aus den konfessionsrechtlichen Regelungen des Westfälischen Friedens erwuchsen. ’
Mannigfaltig sind die Gründe, daß die konfessionelle Pluralität des Reiches gerade in den ersten beiden Dezennien des 18. Jahrhunderts eine solche Konfliktdynamik gewann. Sie reichen von einer in den 1680er Jahren im Vorzeichen der Aufhebung des Edikts von Nantes und der Glorious Revolution gemeineuropäisch gesteigerten Sensibilisierung für religiös amalgamierte politische Problemlagen, über kontingente Momente, wie etwa die Möglichkeit Kursachsens, der traditionellen protestantischen Vormacht, um den Preis der Konversion zum Katholizismus 1697 die polnische Königskrone zu erlangen und der Infragestellung des Normaljahrsprinzips in den von Frankreich restituierten Gebieten im mittelrheinischen Raum im gleichen Jahr in der sog. Rijswjiker Klausel, bis hin zu strukturellen Veränderungen. Von letzteren ist ganz allge___________ 46 Auch Chemnitz’ Dissertatio de ratione status liegt nunmehr im Originaltext der Ausgabe von 1640 digitalisiert vor (); vgl. v. a. S. 121-157. Die Implikationen der Rede von den Fürsten als einem „Corpus“ werden im Folgenden verdeutlicht werden; zu Chemnitz’ Verfassungsdeutung jetzt Riklin (wie Anm. 17), S. 204. 47 Otto Friedrich Winter, Österreichs Pläne zur Neuformierung des Reichstags 18011806, in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 15 (1962), S. 261-335. 48 Treichel (wie Anm. 21), S. 333. 49 Volker Press, Die kaiserliche Stellung im Reich zwischen 1648 und 1740 – Versuch einer Neubewertung, in: ders., Das Alte Reich. Ausgewählte Aufsätze, 2. Aufl. Berlin 2000, S. 189-222 (Erstveröffentlichung: 1989).
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mein auf das im Laufe des 18. Jahrhunderts immer wahrnehmbarer werdende machtpolitische Gefälle zwischen den sog. „armierten“ Reichsständen, d. s. die großen weltlichen Reichsfürsten, die überwiegend protestantische Länder regierten, und den überwiegend katholischen Mindermächtigen aufmerksam zu machen, aber auch auf die Umschichtung politischer Macht in der Gruppe der protestantischen Reichsstände selbst. Denn auch wenn Stimmen nicht gezählt, sondern gewogen wurden, so war doch der zwischen 1648 und 1714 erfolgende Konzentrationsprozeß der protestantischen Stimmführung auf dem Reichstag nicht ohne Bedeutung. Er hatte zur Folge, daß sich der Anteil der von den Kurfürsten geführten Stimmen zwischen 1648 und 1714 verdoppelte, von einem Sechstel auf ein Drittel aller Voten, und zugleich die Zahl derjenigen protestantischen Fürsten von der Hälfte auf ein Drittel zurückging, die nur über eine Stimme verfügten. Da das politische Entscheidungsfindungsverfahren im Reich aber nicht Machtverhältnisse abbildete und Stimmen eben nicht, wie 1814 angemahnt, nach einem „politischen Prinzip“ verteilt waren, sondern die ständische Rangstellung wiederspiegelten50, begann sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts abzuzeichnen, was in dessen weiterem Verlauf immer offenkundiger werden sollte – die Diskrepanz zwischen realem Machtzuwachs der armierten Stände und der Unmöglichkeit, solange die bestehende politische Ordnung nach den altüberkommenen, von Kaiser und der numerischen Mehrheit der mindermächtigen Reichsstände gewährleisteten51 Mechanismen funktionierte, die veränderten Machtkonstellationen in neue Formen politischer Entscheidungsfindung zu überführen. Daß es ihnen im Schlagabtausch mit dem Kaiser in den Jahren 1716 bis 1720 aber gelang, ein neues, kohärentes Verständnis der Verfassungsordnung zu propagieren, die Principia Evangelicorum, und sie ein erstes Mal handelnd zu verwirklichen, markiert einen Wendepunkt in der Geschichte des Reiches. Den Auftakt des Konflikts machte ein kaiserliches Kommissionsdekret. In ihm zieh Karl VI. die Protestanten, seine oberstrichterlichen Prärogative durch die in den vergangenen Jahren gehäuften Rekurse an den Reichstag gegen reichsgerichtliche, vor allem reichshofrätliche Entscheide52 in Frage zu stellen ___________ 50 Zu den Diskrepanzen eindrücklich, die Wiener Analysen des Jahres 1802 anführend, Winter (wie Anm. 47), S. 267 f. 51 „Il ne faut pas oublier que la proportion qui existait autrefois entre la maison Impériale et la plûpart des nombreux Etats Allemands, est tellement changée depuis les sécularisations et les médiatisations que là, où l’Empereur n’avoit besoin autrefois que de prononcer sa volonté, il devroit maintenant envoyer des armées“, so zutreffend Humboldt (Treichel [wie Anm. 21], S. 1148). 52 Die Rekurspraxis harrt unter rechts- wie allgemeingeschichtlichen Aspekten gleichermaßen immer noch der wissenschaftlichen Aufarbeitung. Anonymus, Verzeichnis derer seit dem Anfange des gegenwärtigen allgemeinen Reichstages, an selbigen gelangten Recurs-Beschwerden gegen den Kaiserlichen Reichs-Hofrath, o. O. 1788.
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und „bey nahe aus lediglichen Rechts- ganze Glaubens-Sachen und Geschäffte“53 zu machen. Diese, von seinem Vater stets vermiedene explizite Benennung des seit 1697 schwelenden, 1718 im Vorzeichen des Streits um den konfessionellen Status quo im mittelrheinischen Raum an Dynamik gewinnenden Konfliktes54 zeitigte auf protestantischer Seite Reaktionen, die dazu führten, daß die Protestanten innerhalb von fünf Jahren eine argumentativ geschlossene Lesart der Reichsverfassung entwickelten. Gelang es sie handelnd umzusetzen, so war der Kaiser, so Moser, seines rechten wie linken Armes, des Reichstags und Reichshofrats, beraubt und, so die kaiserliche Einschätzung, der Umsturz der Reichsverfassung Wirklichkeit. Und auch der an der Ausarbeitung des protestantischen Schlüsseldokuments, des Vorstellungsschreibens vom November 1720, beteiligte württembergische Reichstagsgesandte Schütz war sich sicher, daß ein solches „pro ascendis et vindicandis Juribus Principum, sonderlich derer Evangelischen Reichsständen“ verfaßtes Schriftstück „(bislang) niemahlen zum Vorschein in dem Reich gekommen“55. Dreh- und Angelpunkt des protestantischen Verfassungsbildes war die, erstmals 1720 dezidiert aus den Bestimmungen des Westfälischen Friedens (IPO Art V § 52, Art. VIII § 2) abgeleitete, vom Kaiser niemals anerkannte Prämisse, daß die Gesamtheit der auf dem Reichstag vertretenen protestantischen Stände als ein Corpus politicum zu betrachten sei. Die Legitimität des eigenen Verfassungsverständnisses wurde demnach als Legalität präsentiert und konnte daher vom Kaiser, der 1648 seines Rechtes, das Reichsrecht einseitig auszulegen, verlustig gegangen war, zwar hinsichtlich seiner Prämissen in Frage gestellt, aber nicht kurzerhand für ungültig erklärt werden. Erst 1720 wurde aus den evangelischen Reichsständen, die 1648 als ein „pars“ der Verfassungsordnung aufscheinen, eine Korporation, eben das Corpus Evangelicorum. Auf dem festen Boden des Korporationsrechts stehend, deduzierten sie daraus das Recht, sich nach eigenem Gutdünken zu versammeln, durch Mehrheitsentscheidungen Beschlüsse herbeizuführen, die auch den Dissentierenden zuzurechnen waren56, und diese Conclusa Dritten gegenüber zu kommunizieren. Als ___________ 53
Das Kommissionsdekret findet sich bei Johann Jacob Moser, Von denen Teutschen Reichs-Tags-Geschäfften, 2 Bde, Franckfurt 1768, hier Bd. 1, S. 511-514, S. 513 (Zitat). 54 Konfessionell aufgeladene Konfliktlagen hatten sich im Gefolge der ludovizianischen Expansionspolitik nicht nur in der Kurpfalz aufgebaut, sondern betrafen den gesamten mittelrheinischen Raum (vgl. Renate Adam, Die Rolle des Corpus Evangelicorum in konfessionellen Konflikten des frühen 18. Jahrhunderts. Das Beispiel PfalzZweibrücken, Freiburg 2008; ungdr. Magisterarbeit). 55 Zitiert nach Haug-Moritz, Kaisertum (wie Anm. 45), S. 475. 56 Zu diesem zentralen, unauflöslich mit der Setzung, daß die Gesamtheit der protestantischen Reichsstände eine Korporation (universitas) darstelle, verknüpften Aspekt vgl. Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, 4. Aufl. Berlin 2003, S. 211-219.
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Korporationen der Evangelischen im speziellen seien sie ermächtigt, „alle Sachen, welche das Evangelische Religionswesen […] oder auch sonst das gemeinsame Interesse der Evangelischen im Reich betreffen, und entweder […] anhängig gemacht [...] oder dafür angesehen werden, dass es die Nothdurft erfordere, sich derselbigen ex officio und unersucht anzunehmen“57, zum Gegenstand ihrer Beratungen zu machen. Nach dem Natur- und geschriebenen Recht obläge ihnen eine besondere Verpflichtung gegenüber „ihren bedrängten Glaubensgenossen im Reich“58, die sie berechtige, vermittelnd einzugreifen, notfalls aber auch indirekte oder direkte Gewalt anzuwenden. Bei allen Agenden, derer sich das Corpus Evangelicorum annehme, sei auf dem Reichstag zudem ausschließlich die „tractatio de corpore ad corpus“ statthaft und zwar so lange bis ein gütlicher Ausgleich gefunden sei59. Gelang es die Principia Evangelicorum umzusetzen, so war, so die Einschätzung der kaiserlichen Seite schon 1720, der Umsturz der altüberkommenen Reichsverfassung eingetreten. Die Reichspolitik wurde dann vom Kaiser als Vormacht des katholischen und den drei heftig konkurrierenden protestantischen Kurfürsten – dem Kurfürsten von Sachsen und König von Polen, dem Kurfürsten von Brandenburg und König von bzw. in Preußen und dem Kurfürsten von Braunschweig und König von England – als Vormächten des Corpus Evangelicorum gestaltet, an die sich, auf der einen wie anderen Seite, die Mindermächtigen nur „anzuschmiegen“ vermochten, so die Formulierung, die der badische Gesandte Marschall 1814, sich an die Verhältnisse im Reich erinnernd, wählte60. Bei allen Differenzen im Detail gehorchte die Reichspolitik dann einer Logik, wie sie 1814/15 den Verhandlungsgang in Wien prägte61 und 1815 institutionell im Engeren Rat des Deutschen Bundes abgebildet wurde.
V. Föderative Staatlichkeit und konfessionelle Pluralität – Fazit Die Bestimmungen der Reichsreligionsverfassung, und nur diese, besaßen also das Potential, die politische Ordnung nicht nur föderativ zu interpretieren, ___________ 57 Johann Jacob Moser, Von der teutschen Religions-Verfassung, ND 1967, S. 387 (Erstausgabe: 1774). 58 Eberhard Christian Wilhelm von Schauroth (Hg.), Vollständige Sammlung aller Conclusorum, Schreiben und anderer übrigen Verhandlungen des hochpreißlichen Corporis Evangelicorum, 3 Bde., Regensburg 1751/52, hier: Bd. 1, S. 366 f. 59 Ebd., Bd. 3, Register, sub verbo „amicabilis compositio“. 60 Treichel (wie Anm. 21), S. 899. 61 Vgl. hierzu Gabriele Haug-Moritz, Die Friedenskongresse von Münster/Osnabrück (1643-1648) und Wien (1814/15) als „deutsche“ Verfassungskongresse – ein Vergleich in verfahrensgeschichtlicher Perspektive, in: Historisches Jahrbuch 124 (2004), S. 125178.
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sondern diese Interpretation auch in ein politisches Handeln zu überführen, das den Kaiser seiner reichsoberhauptlichen Handlungsmöglichkeiten beraubte. Hierin wurzelt die Bedeutung des Corpus Evangelicorum für die föderalen Traditionen der deutschen Geschichte. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, daß sich 1. die zu Beginn der 1720er Jahre erarbeitete Deutung der Reichsverfassung bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts nur kurzfristig in politisches Handeln überführen ließ, daß 2. das 1648 kreierte Reichsreligionsrecht die militärische Eskalation konfessionell aufgeladener Spannungen tatsächlich verhinderte62 und 3. weite Politikbereiche auch noch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts jenseits der allumfassenden Handlungsvollmacht standen, die sich die Protestanten 1720 zugeschrieben hatten. Demnach waren es gerade die Aktionen des Corpus Evangelicorum, die die Schwäche der kaiserlichen Machtposition evident machten. Im Vorzeichen des deutschen Dualismus war es von 1750 bis 1785 und damit 35 Jahre lang auf den verschiedensten Feldern der Reichspolitik nahezu ununterbrochen präsent – unter anderem intervenierte es 1750 militärisch für seine bedrängten Glaubensgenossen, verhinderte 1761 die kaiserliche Bevollmächtigung für den in Augsburg geplanten Friedenskongreß und brachte schließlich die Reichstagsarbeit in den Jahren 1780 bis 1785 zum Erliegen. Daß seine Aktivitäten nicht nur im „Reich der Schriftlichkeit“ (Burkhardt), sondern auch in Europa medial vielfältig und umfassend reproduziert und perzipiert wurden63 und damit weitere Öffentlichkeiten erreichten als alle anderen, eine ___________ 62 Frank Kleinehagenbrock, Die Erhaltung des Religionsfriedens. Konfessionelle Konflikte und ihre Beilegung im Alten Reich nach 1648, in: Historisches Jahrbuch 126 (2006), S. 135-156; dies betont nachdrücklich auch Burkhardt (wie Anm. 23), S. 339 f. 63 Für das „Reich der Schriftlichkeit“ (Burkhardt [wie Anm. 23], S. 442-460) konnte Adam (wie Anm. 54) jüngst zeigen, daß nicht nur, wie bereits bekannt, einschlägige Zeitschriften über die Aktivitäten des Corpus Evangelicorum berichteten, sondern auch Zeitungen. Und auch Nikolaus August Herrich (Hg.), Sammlung aller Conclusorum, Schreiben und anderer Verhandlungen des hochpreißlichen Corporis Evangelicorum vom Jahre 1753 bis 1786 / als eine Fortsetzung des Schaurothischen Werks, nach Ordnung der Materien (…), Regensburg 1786, S. IV, betont, daß ihn das rege Interesse an der Schaurothschen Sammlung zu seiner Publikation veranlaßt habe, von deren Auflage von 1500 Exemplaren nur noch 50 verfügbar seien. Die vom Corpus selbst publizierten Schriftstücke lassen sich zudem durch die online-Recherchemöglichkeiten, z. B. im KVK < http://www.ubka.uni-karlsruhe.de/ (Aufruf: 18.9.2008)>, rasch eruieren und auch der juristische Diskurs kann über die Werke von Johann Jacob Moser und Johann Stephan Pütter, hier insbesondere Pütters „Litteratur des Teutschen Staatsrechts, 3 T., Göttingen 1776-1783“ gut erschlossen werden. Auf die Wahrnehmung im europäischen Ausland deutet ein Fund in der Bibliothèque Nationale in Paris (Gédéon Huet, Catalogues des Manuscrits allemands de la Bibliothèque nationale, o. O. 1894/95, S. 12-18 [Dokumente zum Corpus Evangelicorum der Jahre 1753-1764]); digital verfügbar unter: http://www.bnf.fr/pages/catalog/mssocnum3.htm (Aufruf: 18.9.2008)>. Dieser Aspekt der Geschichte des Corpus Evangelicorum verdiente eingehendere und systematischere Würdigung.
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föderative Umgestaltung des Reiches propagierenden Diskurse64, ist dabei ein Aspekt, der besondere Erwähnung verdient. „Lästig (…) in mannigfachen Betrachtungen“65, so ein zeitgenössisches Gutachten aus den 1780er Jahren, war Joseph II. seine kaiserliche Würde daher geworden, als er sich, mit den bekannten Konsequenzen, entschied, als mächtigstes Mitglied des Reiches und nicht mehr als dessen Oberhaupt Politik zu machen. Damit aber hatte auch das Corpus Evangelicorum seine Rolle ausgespielt und es verschwand 1785 als politischer Akteur. Und auch wenn daher keine kontinuierliche Linie vom Corpus Evangelicorum zur Föderativnation des 19. Jahrhunderts führt, so haben die Zeitgenossen, wie gezeigt, nicht vergessen, welche Rolle ihm mit seiner Delegitimierung der monarchischen Bestandteile der Verfassungsordnung auf dem Weg zu einer föderativen Umgestaltung der politischen Ordnung in der Mitte Europas zu Beginn des 19. Jahrhunderts zugekommen war. Auch und gerade die rekonfessionalisierte Reichspolitik hatte das ihre dazu beigetragen, daß, so wünschenswert vielen, und beileibe nicht nur etlichen Diplomaten66, eine andere Lösung erschienen war, sie sich doch 1815 nicht der Auffassung Humboldts verschließen konnten: „quels que soient les défauts d’une fédération, manquant de chef, […] elle seule est possible.“67
___________ 64 So charakterisiert etwa Burgdorf (wie Anm. 13), S. 502 f. das reichsreformerische Schrifttum als einen ‚intergouvermentalen Diskurs’. 65 Karl Otmar von Aretin, Heiliges Römisches Reich 1776-1806. Reichsverfassung und Staatssouveränität, 2 Bde., Wiesbaden 1967, hier: Bd. 2: Ausgewählte Aktenstücke, Bibliographie, Register, S. 98. 66 Der kaiserliche Rat Spiegel war sich sicher, als er im Vorfeld der Kongreßverhandlungen für die Einführung einer erblichen Kaiserwürde plädierte, daß dieser Wunsch ‚aus mehrhundertjähriger dankbarer Verpflichtung’ eine „allgemeiner Nationalwunsch“ sei, so daß sich sein Wunsch mit jenem „von Millionen“ vereine (Treichel [wie Anm. 21], S. 291). 67 Treichel (wie Anm. 21), S. 1147; zur Bewertung der gefundenen Lösung durch die Kongreßteilnehmer vgl. ebd., S. 1551-1587.
Eine Idee von Versailles in Franken Macht- und Kunstpolitik beim Aufstieg Erlangens zur zweiten Residenzund sechsten Landeshauptstadt des Markgraftums Brandenburg-Bayreuth Von Andreas Jakob, Erlangen „Im Vertrauen auf die von den Hugenotten erwarteten wirtschaftlichen Leistungen gedachte Markgraf Christian Ernst, mit der Errichtung einer nach idealen Gesichtspunkt angelegten Planstadt einen Traum zu verwirklichen, den barocke Fürsten, gleich welcher Konfession, in ganz Europa seit dem 16. Jahrhundert hegten. Lediglich zur Unterbringung der Réfugiés wäre das Projekt nicht notwendig gewesen. Der Bau der Neustadt Erlangen begann am 14.7.1686 mit der Grundsteinlegung für den ‚temple‘ – die Hugenottenkirche – und war erst Mitte des 18. Jahrhunderts abgeschlossen, als der langanhaltende Bauboom abzuflauen begann.“1 Diese von Helmut Neuhaus getroffene Feststellung verweist auf eine in Erlangen besonders auffällige Verknüpfung von fürstlicher Ideal- und Realpolitik, einerseits also auf die Bedeutung bestimmter idealer Vorstellungen für das fürstliche Denken und Handeln, andererseits aber auf den Versuch, das Ideale soweit wie möglich auf eine reale Basis zu stellen.
I. Eine Fabrik- und Handelsstadt mit europäischen Wurzeln und ästhetischen Werten Als nach idealen Gesichtspunkten angelegte Planstadt entsprach die 1686 gegründete „Hugenottenstadt“ Erlangen nicht lokalen oder regionalen, sondern europäischen Architektur- und Geistesströmungen, die vor allem an den Fürstenhöfen gepflegt wurden. Als eine Frucht dieser internationalen Idee entstan___________ 1 Helmut Neuhaus, Die Hugenottenstadt, in: Christoph Friederich/Bertold Frhr. von Haller/Andreas Jakob (Hg.), Erlanger Stadtlexikon, Nürnberg 2002, S. 62-65, hier S. 63. Grundlegend dazu Andreas Jakob, Die Neustadt Erlangen. Planung und Entstehung (Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung, Bd. 33, Sonderband), Erlangen 1986; Ders., Die Legende von den „Hugenottenstädten“. Deutsche Planstädte des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Volker Himmelein (Hg.), „Klar und lichtvoll wie eine Regel“. Planstädte der Neuzeit, Karlsruhe 1990 (Ausstellungskatalog des Badischen Landesmuseums Karlsruhe), S. 181-198.
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den vom 16. bis 18. Jahrhundert in mehr als 14 Ländern zwischen Finnland und Spanien, Rußland und Malta weit über 140 Städte sowie ungezählte Stadtteile und Vorstädte oder Straßenzüge nach denselben Gesichtspunkten, bei denen Symmetrie und Regularität sowie die offenkundige Rationalität des Projektes eine besondere Bedeutung besaßen. Beispiele dafür sind in Deutschland etwa Hanau und Freudenstadt 1597, Mannheim 1606, Berlin-Dorotheenstadt 1674, Berlin-Friedrichstadt und Kassel-Oberneustadt 1688, Neu-Isenburg und (Bad) Karlshafen 1699, Karlsruhe 1715 oder eben Neustadt Erlangen 1686 und Altstadt Erlangen 1706. Auch die Erlanger Partnerstadt Eskilstuna in Schweden wurde 1658 als Planstadt ausgebaut. Nicht zuletzt wegen der aufzubringenden Kosten, die die Möglichkeiten der Staatskassen in der Regel überstiegen, benötigte die Realisierung der fürstlichen Idee einen rationalen Grund. Im Markgraftum Bayreuth war dies die Förderung der nach dem Dreißigjährigen Krieg darniederliegenden Wirtschaft, die man sich von der Ansiedlung tüchtiger Hugenotten und neuer Gewerbe erhoffte. Mit dem rationalen Motiv verband sich ein aus heutiger Sicht irrationales, nämlich der als Antrieb nicht zu unterschätzende Wunsch des Fürsten, sich als Stadtgründer ein Denkmal zu setzen. Entsprechend ihrer Aufgabe war die Anlage der Neustadt Erlangen von ihrer Konzeption her eine reine Handwerker- und Gewerbestadt, was sich aber im Straßenbild nicht negativ auswirkte. Denn von der Struktur und der Gestaltung der Straßen, Plätze und Häuser war die Stadtanlage nicht nur rational und modern, sondern galt, weit entfernt von der Tristesse späterer Arbeitersiedlungen, als im ästhetischen Sinne „schön“. So schrieb der Gefreeser Pfarrer Johann Michael Füssel in seinem 1787 erschienenen Reisetagebuch, daß Erlangen aufgrund seiner geometrischen Gestaltung für eine der schönsten Städte Deutsch lands gehalten werde. Erst mit der Entdeckung der deutschen Romantik im 19. Jahrhundert begann sich diese Einschätzung ins Gegenteil zu verkehren. Ausdruck der nun distanzierten Haltung war 1908 das verhängnisvolle Verdikt von Georg Dehio von Erlangen als der „Stadt der freundlichen Langeweile“, das bei der Bevölkerung geradezu einen tiefsitzenden Komplex bewirkte und den Ort für den Tourismus ebenso wie für die wissenschaftliche Forschung als uninteressant erscheinen ließ. Mit der Gründung der Neustadt 1686 begann in Erlangen jedoch eine Entwicklung, wie sie auch bei den europäischen Planstädten einmalig gewesen sein dürfte. Nicht nur erwies sich die in die „Hugenottenstadt“ gesetzte Hoffnung im Unterschied zu anderen „Kunstschöpfungen“ dieser Art – etwa Ansbach, Bremer Neustadt, (Bad) Karlshafen oder Richelieu – letztendlich, nach zahlreichen Anfangsschwierigkeiten und nicht zuletzt dank der Erweiterung der Zielgruppe auf Deutsch-Reformierte und Lutheraner, als trag- und lebensfähig. Bereits
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1701, und später noch mehrmals mußte die Neustadt nach Süden, Norden und Osten erweitert werden.
Plan der Alt- und Neustadt Erlangen mit sieben Randbildern, kolorierter Kupferstich, Johann Baptist Homann, 1721, Stadtarchiv Erlangen.
Eine zweite, nach Idee und den Grundzügen der Struktur fast identische Planstadt entstand 20 Jahre nach Gründung der Neustadt 1686, nachdem die nur einige hundert Meter nördlich gelegene Altstadt am 14. August 1706 binnen weniger Stunden fast vollständig abgebrannt war und innerhalb weniger Monate nach dem Vorbild ihrer jüngeren Schwester mit einem – soweit das die hier schwierigeren Geländeverhältnisse zuließen – weitgehend regulierten Grundriß und mit zweigeschossigen Reihenhäusern wieder aufgebaut wurde.2 Hier kam es zu dem in der Geschichte der europäischen Idealstädte wohl einzigartigen Sonderfall zweier benachbarter Planstädte, von denen die eigentlich ___________ 2 Andreas Jakob, „Der Ort stieg aus seiner Asche viel schöner empor“. Der Brand der Altstadt Erlangen am 14. August 1706 und ihr Wiederaufbau als moderne Planstadt bis 1712, in: Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung 51 (2006), S. 9-47.
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ältere, die noch bis 1812 selbständig verwaltete Altstadt Erlangen, als Planstadt baugeschichtlich jünger ist als die Neustadt Erlangen. Eine völlig andere Richtung nahm die als Manufaktur- und Handelsstadt geplante Neustadt durch den Bau eines Schlosses an der Ostseite des großen Stadtplatzes 1700 bis 1703 und die Anlage eines direkt dahinter anschließenden großen Schloßgartens. Dabei bildete der höfische Bereich keinen Gegensatz zum gewerblichen Erscheinungsbild der Stadt, sondern ergänzte sich mit ihm auf das vorteilhafteste. Rückblickend erscheint die Konzeption des bürgerlichen und des höfischen Bereiches heute wie aus einem Guß. Einerseits förderte die Anwesenheit des Hofes die weitere Entwicklung der Stadt, der sie Glanz und einen anderen Charakter verlieh. Erlangen wurde binnen weniger Jahre zur zweiten, für einige Jahre dann sogar zur ersten Residenz des Fürstentums. Auf der anderen Seite profitierte, wie sich zeigen wird, auch das Schloß von der durch die Idealstadtanlage gegebenen Situation.
Plan des Erlanger Schloßgartens mit acht Randbildern, kolorierter Kupferstich, Johann Baptist Homann, 1721, Stadtarchiv Erlangen.
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II. Markgräfin Elisabeth Sophie, der „preußische Statthalter“? Initiatorin und treibende Kraft dieser Ereignisse war offenkundig die dritte Ehefrau von Markgraf Christian Ernst, Elisabeth Sophie, deren Tatkraft der später von Wilhelmine von Bayreuth bei der Ausgestaltung der Residenzstadt Bayreuth an den Tag gelegten Energie in nichts nachstand. Nachdem in Erlangen zunächst nicht der Markgraf, sondern Erbprinz Georg Wilhelm das Schloß und im Anschluß daran einen kleinen Garten begonnen hatte, erreichte das Projekt eine andere Dimension, nachdem es der Landesherr am 12. September 1703 erworben und drei Tage später seiner neuen Gemahlin geschenkt hatte3, mit der er seit dem 30. März 1703 verheiratet war. Seiner Frau, der Stiefschwester von – seit 1701 – König Friedrich I. in Preußen und verwitweten Herzogin von Kurland, gelang es von Anfang an, von ihrem gut 30 Jahre älteren Mann eine Reihe von für die Zeit und für die Verhältnisse des Fürstentums ungewöhnlichen Zugeständnissen zu erhalten.4 Bei den Verhandlungen zum Ehekontrakt, die sie selbst leitete, erreichte sie die fast vollständige Anerkennung ihrer außerordentlich hohen finanziellen Forderungen.5 Auf ihre Initiative hin erhielt sie im sogenannten Unterland des Fürstentums neben Neustadt an der Aisch einen zweiten Witwensitz6, nämlich das in der Neustadt Erlangen neu erbaute Schloß, und noch zu Lebzeiten ihres Mannes – gegen Brauch und Recht ihrer Zeit7 – auf ihren Gütern weitgehende Herrschafts- und Verwaltungsrechte. Um ihre finanziellen Ansprüche aus den Eheverträgen erfüllen zu können, wurden ihr die Einkünfte mehrerer Ämter und 1704 die aus allen Bergwerken im Fürstentum übereignet.8 Dies war eine durchaus übliche Methode zur Finanzierung von Ansprüchen, die sie aber geschickt zu erweitern verstand. „Die nachträgliche Erhöhung der Eheverträge, die Schenkung des Heiratsguts und der vorzeitige Antritt ihrer Wittumsregierung9 zeigen, dass Elisabeth Sophie ihren ___________ 3 Andrea Schödl, Frauen und dynastische Politik (1703-1723). Die Markgräfinnen Elisabeth Sophie von Brandenburg und Christiane Charlotte von Ansbach (Die Plassenburg. Schriftenreihe für Heimatforschung und Kulturpflege in Ostfranken, Bd. 56), Naila o. J. (2007), S. 139. 4 Ebd., S. 146 f. 5 Ebd., S. 134-138, S. 146 f. 6 Ebd., S. 138 f. 7 Ebd., S. 246 ff. 8 Ebd., S. 148 f. 9 Vgl. das Dekret Christian Ernsts vom 29. Januar 1709. Darüber hinaus räumte Christian Ernst seiner Gemahlin eigentlich ihm als Landesherrn vorbehaltene Jurisdiktions-, Kirchen- und Herrschaftsrechte ein (Schödl, Dynastische Politik [wie Anm. 3], S. 242). Lediglich ihrem Versuch gegenüber, bei der Geburt eines Sohnes diesem im Unterland eine souveräne Herrschaft einzurichten, blieb der Markgraf reserviert (Ebd., S. 221).
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Gatten zu ungewöhnlichen und reichsrechtlich bedenklichen Schritten bewegen konnte.“10 In interessantem Gegensatz zu der insgesamt positiv eingeschätzten Lieblingsschwester Friedrichs des Großen und spitzzüngigen Autobiographin, der prachtliebenden und verschwenderischen Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth, steht einige Jahrzehnte früher, aber in einer politisch und wirtschaftlich durchaus vergleichbaren Situation, die Bewertung von Elisabeth Sophie. Nicht zuletzt, weil sie auch das Unterschriftenfaksimile ihres Mannes besessen haben soll11, nannten sie ihre Untertanen der „preußische Statthalter“.12 Bei diesem negativen Urteil spielten preußische Gebietsinteressen in Franken13, vor allem die Besetzung der Kulmbacher Plassenburg 1707 durch preußische Truppen, eine Rolle und wohl auch das sich durch sie verschärfende Zerwürfnis zwischen dem Markgrafen und seinem Sohn Georg Wilhelm. Dieser mußte zeitweilig um den Verlust seines Erbes fürchten und bat deswegen sogar den Kaiser um Intervention.14 Und letztlich läßt das in den schriftlichen Quellen nachweisbare Bestreben der persönlich mit großen Reichtümern ausgestatteten Frau15, aus dem relativ armen Land höchstmögliche Summen zugesprochen zu bekommen, sie – wie schon den Zeitgenossen16 – nicht sympathischer erscheinen. Gleichwohl widerspricht in neuerer Zeit Andrea Schödl der von Rudolf Endres geäußerten Meinung, wonach Elisabeth Sophie bald nach ihrer von Christian Ernst ungeduldig herbeigesehnten Eheschließung „der eigentliche Regent“ gewesen sei, mit dem gut belegten Hinweis, daß sich unmittelbare Eingriffe der Markgräfin in die Regierungsgeschäfte in den Akten kaum nachweisen lassen:17 „Betrachtet man Elisabeth Sophies Handlungsspielräume in der Regierung, so ist zwar festzustellen, dass sie weitreichende Befugnisse auf sich vereinigen konnte, von einer Regierungsusurpation kann aber nicht gesprochen ___________ 10
Ebd., S. 220. Vgl. dazu ausführlich ebd., S. 175 ff., S. 301 f. 12 Vgl. zu dieser Bezeichnung und ihrem Urheber ebd., S. 108. 13 In Hinblick auf den damals erwarteten Anfall der fränkischen Markgraftümer prüften die Preußen die Möglichkeit, die Neustadt Erlangen oder den Rathsberg als Festung auszubauen (Andreas Jakob, Artikel Festung, in: Erlanger Stadtlexikon [wie Anm. 1], S. 255 f.; vgl. dazu auch Schödl, Dynastische Politik [wie Anm. 3], S. 224 Anm. 600). 14 Schödl, Dynastische Politik (wie Anm. 3), S. 252-263 und weiterhin bis S. 304. 15 1712 verfügte Elisabeth Sophie über ein geschätztes Privatvermögen von 2 Millionen [unklar ob Gulden oder Reichstalern] (Ebd., S. 164). Dies entsprach in etwa der gesamten Verschuldung des Staates. – Aus ihrem Vermögen gewährte die Fürstin ihrem Gemahl großzügige Privatkredite, wofür sich dieser in den Testamenten und der Wittumsextension dankbar zeigte (Ebd., S. 178 f.). 16 Vgl. dazu ebd., S. 108 ff. 17 Ebd., S. 164; vgl. dagegen zur Vertretung des Markgrafen, ebd., S. 174 f. 11
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werden. [...] Die Brandenburgerin hob sich in ihrem Regierungsengagement allerdings insofern von anderen fürstlichen Frauen ab, als sie selbst die politische Mitwirkung suchte und es ihr aufgrund ihrer guten Beziehung zu ihrem Gatten gelang, im inneren Beraterkreis des Markgrafen eine wichtige Funktion einzunehmen. Christian Ernst bezog sie in alle wichtigen Regierungsfragen ein und übertrug ihr während seiner Erkrankungen die Zeichnungsberechtigung.“18 Der von Schödl der Markgräfin attestierte konsequente Ausbau der Neustadt Erlangen und ihrer Wirtschaft19 läßt sich aus den Quellen zwar nicht belegen bzw. mit der Fürstin in Verbindung bringen. Doch tatsächlich half bereits der Baubeginn des Schlosses und dann die häufige Anwesenheit des Hofes zur endgültigen Überwindung der 1688 bis 1697 im Bauwesen anhaltenden Stagnation und bei der Entstehung eines Baubooms, der bis Mitte des 18. Jahrhunderts anhielt.20 Konkret nachweisbar sind jedoch der durch sie betriebene Ausbau des höfischen Bereichs und ihre repräsentativen Maßnahmen, die der Stadt nutzten. Nachdem Elisabeth Sophie das Schloß im September 1703 übertragen bekommen hatte, fand im Juli 1704 mit dem Besuch des Herzogs von Saalfeld die erste offizielle Veranstaltung statt. Am 27. Juli feierte der Markgraf – wie dann noch 1705, 1710 und 171121 – hier seinen Geburtstag mit einer offenen Tafel und einer Illumination der Stadt. In Erlangen war Elisabeth Sophie die treibende Kraft für die Vergrößerung des Gartens und dessen Ausstattung mit Orangerie, (Hugenotten)Brunnen und Reiterdenkmal. „Die Entwicklung der Stadt läßt sich exemplarisch an den Ereignissen des Jahres 1708 nachvollziehen: Im März proklamierte Christian Ernst die Stadt feierlich zur [6. Landes]Hauptstadt, im Mai fand der zweite Haupt-, Roß- und Viehmarkt statt, im Juni wurde die Eventualwittumshuldigung auf die Markgräfin vollzogen, im Juli beschrieb der Professor für französische Sprache, Daniel Meyer, in einer [in Bayreuth vorgetragenen] öffentlichen Rede den Schlossgarten von Erlangen, im August wurde der Bau der [an Stelle eines Palisadenzauns steinernen] Stadtmauer in Angriff genommen und im Oktober holte Elisabeth Sophie auf Wunsch ihres Gatten wichtige Teile der Bayreuther Regierung nach Erlangen. Im Frühjahr 1708 verlieh ihr Christian Ernst für ihre Verdienste um die Stadt außerdem das ‚Droit de Consumption‘ in Erlangen.“22 Noch 1711, kurz vor dem Tod Christian Ernsts, verfolgte Elisa___________ 18
Ebd., S. 184. Ebd., S. 180. 20 Jakob, Neustadt Erlangen (wie Anm. 1), S. 66-102. 21 Zu diesem Geburtstag war neben dem Ansbacher Markgrafen auch die Tochter Christian Ernsts, die Königin von Polen, mit ihrem Sohn eingeladen (Schödl, Dynastische Politik (wie Anm. 3), S. 284). 22 Ebd., S. 180 f. 19
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beth Sophie Pläne für ein – nicht ausgeführtes – prachtvolles großes Lustschloß Mon Plaisir in Schallershof.23 Durch diese Entwicklung lief die 1686 gegründete Hugenottenstadt in nur knapp zwei Jahrzehnten der Residenzstadt Bayreuth den Rang ab. Wie Schödl resümierte, wählte Markgraf Christian Ernst „nach der Beendigung der aktiven Militärkarriere (1707) [...] die neuerbaute Residenz seiner Gattin in Erlangen zum bevorzugten Aufenthaltsort. So wurde Christian-Erlang spätestens seit 1708 [...] zum eigentlichen Regierungszentrum des Landes.“24
III. Markgraf Christian Ernst als Reichsfürst und dreifacher Generalfeldmarschall So schön dieses Bild – die energische, aber herrschsüchtige und raffgierige preußische Königsschwester und ihr seiner schönen Frau restlos verfallener „altersschwacher Gemahl“25 Christian Ernst – auch sein mag, es zeigt nur einen Teil der geschichtlichen Wahrheit. Einen wesentlichen Anstoß für eine differenziertere Sicht gibt hier Helmut Neuhaus. In seinem Aufsatz „Franken in Diensten von Kaiser und Reich (1648 – 1806)“26 arbeitete er präzise die Neigungen und den Ehrgeiz heraus, die den 1661 schon mit 17 Jahren an die Regierung gekommenen Markgrafen zu den höchsten militärischen Führungspositionen gelangen ließen. Am 20. Februar 1664 vom Convent des Fränkischen Reichskreises zum Kreisoberst gewählt, wurde Christian Ernst am 17. September 1672 in kaiserlichen Diensten Reichsgeneralfeldwachtmeister und am 25. April 1704 – mit 60 Jahren – evangelischer Reichsgeneralfeldmarschall, sowie zusätzlich in Österreichischen Diensten am 27. März 1676 Generalfeldmarschall-Leutnant, am 24. November 1683 General der Kavallerie und am 16. August 1691 Generalfeldmarschall.27 Diese Positionen, um die er nicht nur immer wieder sehr aktiv eingekommen war, sondern die er mitunter heftiger als ihm zustehend eingefordert hatte, ver___________ 23
Andreas Jakob, Schallershof oder Monplaisir. Zur Geschichte des ehemaligen Frauenauracher Landgutes, in: Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung 35 (1987), S. 59-89. 24 Schödl, Dynastische Politik (wie Anm. 3), S. 191; vgl. ebd., S.277 f. 25 Christina Hofmann-Randall, Elisabeth-Sophie von Brandenburg, in: dies. (Hg.), Das Erlanger Schloß als Witwensitz 1712-1817 (Schriften der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, Bd. 41), Erlangen 2002, S. 63-78, S. 65. – Vgl. dazu auch Schödl, Dynastische Politik (wie Anm. 3), S. 104 ff. 26 Helmut Neuhaus, „Franken in Diensten von Kaiser und Reich (1648 – 1806)“, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 53 (Festschrift Alfred Wendehorst Bd. II), Neustadt an der Aisch 1992, S. 131-158. 27 Ebda., S. 158.
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dankte Christian Ernst, der im Laufe seines Lebens immerhin an mindestens 30 Feldzügen teilnahm28, weniger militärischen Siegen oder dem dafür notwendigen besonderen Talent, wie dies der „Türkenlouis“ oder Prinz Eugen besaßen. Wesentlicher waren zum einen die Beschlüsse des Westfälischen Friedens, weil durch die Forderung, auch bei der militärischen Führung der Reichsarmee die paritätische Beteiligung der Konfessionen zu beachten, die durch die sowieso vorhandenen Parteiungen und Konkurrenzen komplizierte Situation noch weiter erschwert wurde, und zum anderen die geringe Auswahl der für diese Führungspositionen zur Verfügung stehenden Reichsfürsten. Der militärische Ehrgeiz hatte aber noch eine andere wesentliche, eine politische Seite. „Zugleich ging es dem Bayreuther aber auch um den Beweis seiner kaiser- und reichstreuen Gesinnung gerade in einer Krisenzeit; er sah wie viele andere aus dem hohen Reichsadel im Reichskriegsdienst eine Möglichkeit, in eine noch sichtbarere Kaisernähe zu rücken. Dies konnte nicht nur durch Eintritt in den militärischen Reichsdienst geschehen, sondern auch durch Aufstieg in der Generalshierarchie der Reichsarmee.“29 So gesehen war es nur folgerichtig, wenn Christian Ernst nach dem Tod des „Türkenlouis“, des katholischen Reichsgeneralfeldmarschalls Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden, am 4. Januar 1707, die Chance nutzte, sich gegen alle Widerstände – vor allem die Zweifel, ob er in seinem Alter den Strapazen der Feldzüge noch gewachsen sei30, weniger gegen eine (sich erst im nachhinein als berechtigt erweisende) Kritik an seiner Qualifikation – das alleinige Oberkommando übertragen zu lassen. „Obwohl es angesichts des ‚allzuwohl bekhandten [...] schlimme[n] Reichs-Zustand [es ...] bey Gott nicht zu verantworten [war], daß man dem Marggrafen v[on] Bareyth daz Commando im Reich‘ gegeben habe, wie sich Prinz Eugen im Juni 1707 gegenüber dem Wiener Hofkriegsrat ausdrückte, hatte Christian Ernst am 21. Februar 1707 das oberste Reichskommando vom Reichstag erhalten.“31 Während andere, vielleicht „klügere“ Befehlshaber in richtiger Einschätzung der aufgrund der französischen Übermacht am Rhein zu erwartenden Ereignisse erkrankten oder sich anderweitig entschuldigten32, begnügte sich Christian Ernst nicht mit den repräsentativen Titeln, sondern versuchte das Kommando ungeachtet der damit für ihn verbundenen Strapazen und persönlichen Gefahren auszuüben. So kommandierte er zwischen dem 25. ___________ 28
Schödl, Dynastische Politik (wie Anm. 3), S. 111. Neuhaus, Kaiser und Reich (wie Anm. 26), S. 135 f. 30 Schödl, Dynastische Politik (wie Anm. 3), S. 115 f. 31 Neuhaus, Kaiser und Reich (wie Anm. 26), S. 139. 32 Franz Willax, Das Fürstentum Brandenburg-Ansbach und der Fränkische Kreis im Spanischen Erbfolgekrieg. Die Karriere des Generals Lebrecht Gottfried Jahnus von Eberstädt vom Ansbachischen Offizier zum General Zar Peter des Großen (Mittelfränkische Studien, Bd. 16), Ansbach 2003, S. 164, S. 168. 29
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Januar und Mitte August die Reichsarmee an der Rheinfront33, wo der Feldzug am 22. Mai 1707 in der Niederlage an der Stollhofener und Bühler Linie endete und der Fürst mit Hohn und Spott überschüttet wurde. „Spätestens seit Anfang Juni 1707 wurde in Wien die Ablösung ‚des guten alten, schier in die Kindheit gerathenen Marggrafen von Bareith‘ betrieben“34, wogegen sich dieser allerdings vehement widersetzte. „Er zeigte sich vielmehr unter Zurückweisung aller gegen ihn erhobenen Vorwürfe und aller auf sein Alter und seine Gesundheit abzielenden Empfehlungen entschlossen, sein ‚saures commando fort[zu]führen‘ [...] Der fränkische Markgraf war nicht willens, seine Reichsfunktion aufzugeben. Gleichwohl teilte bereits fünf Tage später Kaiser Joseph I. seinem Prinzipalkommissar in Regensburg mit, daß Christian Ernst seinen Rücktritt vom Reichskommando ‚wegen zustossender Indisposition‘ eingereicht habe, ohne daß ein Rücktrittsgesuch vorgelegen hätte. Der Bayreuther mußte sich als abgesetzt betrachten und reagierte am 12. August 1707 [...] mit Empörung und Bestürzung [...].“35 Bemerkenswerter Weise nahm Elisabeth Sophie, die ihren Gatten zum Rücktritt bewegen sollte, diesen gegen Angriffe aus Wien in Schutz.36 Trotz der Absetzung vom Kommando legte Christian Ernst seinen Rang als Reichsgeneralfeldmarschall nicht ab. „Der Bischof von Passau [...] hatte schon in seinem Bericht nach Wien vom 19. Juli 1707 richtig vermutet, daß der Entlassene ‚solche Ehre unzweifenlich gern mit ins grab nehmen wolte, dannenhero zu einer formlichen ablegung ohne harte nöthigung nicht zu bringen sein würde‘.“37 Inwieweit diese Entwicklung Christian Ernst wirklich beeindruckte, läßt sich nicht feststellen. Äußerlich reagierte er ähnlich wie bei der sich am Ende seines Lebens in seinem Fürstentum zuspitzenden Finanzkrise, in der er die nur zu berechtigte Kritik – auch die von seinem Sohn, dem Erbprinzen, vorgebrachte – nicht zuließ: „Christian Ernst wiederum wollte nach fünf Jahrzehnten Regierung seine Reputation nicht beeinträchtigt sehen. So lehnte er jede Verantwortung für diese Entwicklung ab: Das Fürstentum sei ohne sein Verschulden in diese Staatskrise geraten.“38 Die Niederlage am Rhein führte er auf fehlende Unterstützung unter anderem durch den preußischen König zurück.39 Wenngleich es richtig sein mag, daß Christian Ernst schon 1704 Schwierigkeiten hat___________ 33
Schödl, Dynastische Politik (wie Anm. 3), S. 119 f. Neuhaus, Kaiser und Reich (wie Anm. 26), S. 140. – Vgl. dazu auch Schödl, Dynastische Politik (wie Anm. 3), S. 121. 35 Neuhaus, Kaiser und Reich (wie Anm. 26), S. 140 f. 36 Schödl, Dynastische Politik (wie Anm. 3), S. 120 f. 37 Neuhaus, Kaiser und Reich (wie Anm. 26), S. 141; s. dazu auch Willax, Erbfolgekrieg (wie Anm. 32), S. 184 ff. 38 Schödl, Dynastische Politik (wie Anm. 3), S. 195. 39 Tatsächlich hatte er 10.000 bis 12.000 Mann, die ihm König Friedrich I. versprochen hatte, nicht erhalten (ebd., S. 120). 34
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te, vom Pferd zu steigen, er „in den folgenden Jahren [...] körperlich zusehends“ verfiel40 und es nach einem Podagraanfall einmal seiner Frau überließ, ein Dokument zu unterzeichnen41, ließ er sich in für ihn ganz charakteristischer Weise von dergleichen Beeinträchtigungen nicht in seinen Aktivitäten behindern. Bis kurz vor seinem Tod bereiste er häufig die Ämter seines Fürstentums.42 Und ebenfalls bis an sein Lebensende war er bemüht, die Regierung seines Landes – trotz aller Versäumnisse oder des vorhandenen Reformstaus – selbst in Händen zu behalten.43
IV. „[...] daß in Ermangelung glänzender Kriegstaten nichts so sehr die Größe und den Geist der Fürsten kennzeichnet wie Bauten [...]“ Obwohl die Niederlage Christian Ernsts am Rhein in den zeitgenössischen deutschen Berichten oft gar nicht einmal erwähnt wurde44, entschied sie nicht nur seine militärische Karriere, sondern auch seine spätere Beurteilung durch Historiker und Kunsthistoriker, die ihn und seine Leistungen fast durchwegs negativ bewerteten. So spielen Mißwirtschaft und Überanstrengung des Staatshaushaltes für Kriegsführung oder fürstliche Reputation in Bauwesen und Lebensführung, die für die Zeit der Renaissance und des Barock in den deutschen Staaten eher die Regel als die Ausnahme waren, im historischen Rückblick bei wohl kaum einem anderen Fürstentum eine ähnliche Rolle, wie bei der Bewertung der Markgrafschaft Brandenburg-Bayreuth. Nicht untypisch ist die geradezu groteske Behauptung von Marco Ritter, wonach die fränkischen Hohenzollern „zu den ärmsten europäischen Dynastien“ gezählt hätten.45 Dabei war das Fürstentum nicht nur wegen seiner zentralen Lage im Reich und seiner bedeutenden Stellung im Fränkischen Reichskreis von Interesse.46 Ähnlich wie später Markgraf Friedrich, der Gemahl Wilhelmines, wurde – und wird – Christian Ernst aber von einer immer noch bemerkenswert borussophil geprägten Geschichtsschreibung auch seine dritte Ehe mit der Stiefschwester des preußi___________ 40
Ebd., S. 118 ff., S. 121 ff. Hofmann-Randall, Elisabeth-Sophie (wie Anm. 25), S. 66, Schödl, Dynastische Politik (wie Anm. 3), S. 119. 42 Schödl, Dynastische Politik (wie Anm. 3), S. 121, S. 297. Nur acht Tage, bevor Christian Ernst am 12. Mai 1712 im Alter von 68 Jahren im Erlanger Schloß starb, war er schon unpäßlich von einer Reise nach Bayreuth zurückgekehrt (Ebd., S. 304). 43 Ebd., S. 122 f., S. 150 ff., S. 300 und passim. 44 Eucharius Gottlieb Rinck, Ludewigs des XIV. Königes in Franckreich wunderwürdiges Leben oder Steigen und Fall, anderer Theil, o. O. 1710, S. 706 f. 45 Marco Ritter, Isidor Rosenthal. Forscher – Arzt – Politiker (Festschrift zur 200Jahrfeier der Physikalisch-Medizinischen Sozietät zu Erlangen), Erlangen/Jena 2008, S. 129. 46 Vgl. dazu Schödl, Dynastische Politik (wie Anm. 3), S. 56 f. 41
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schen Königs, Elisabeth Sophie, überwiegend nachteilig ausgelegt, da man wichtige Entscheidungen und Leistungen eher der Ehefrau anrechnete und das ganze Fürstentum als preußische Provinz ansah, in der alles auf die Hohenzollernresidenz Berlin ausgerichtet war. Wenn bei der Beurteilung der Ereignisse immer wieder der höhere Rang der Preußin als Schwester eines Königs hervorgehoben wird, bleibt unberücksichtigt, daß auch die Bayreuther und Ansbacher Nebenlinien der 1363 in den Reichsfürstenstand erhobenen Hohenzollern zum engeren Kreis der fürstlichen Familien des Reiches gehörten. „So resümierte Andreas Kraus bewusst pointiert, dass Europa bis zum Ende des Ancien Régime ‚von einer einzigen Familie beherrscht (wurde), die aufgeteilt war in viele Linien, die große Familie der europäischen Dynastien‘.“47 Der niedrigere Rang Christian Ernsts gegenüber Elisabeth Sophie darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die fränkischen Hohenzollern für Königskinder bzw. Könige oder königsfähige Familien durchaus passende Ehepartner, d.h. noch standesgemäß waren. Vor seiner dritten Eheschließung wurde Christian Ernst selbst, um ihn fester an sich zu binden und ihn eventuell sogar zur Konversion zu bewegen, sogar eine Eheverbindung mit einer Tochter Kaiser Leopolds I. angeboten, was für ihn aber wegen des von ihm geforderten Wechsels zum katholischen Glauben nicht in Frage kam.48 Die Tochter Christian Ernsts und Schwester Markgraf Georg Wilhelms, Christiane Eberhardine, wurde 1697 (Titular)Königin von Polen49, die Ansbacher Prinzessin Wilhelmine Karoline ehelichte Georg von Hannover, der ab 1727 König von England war50, Sophie Magdalene von Brandenburg-Bayreuth heiratete 1721 König Christian VI. von Dänemark, die Markgrafen Friedrich von Bayreuth und Karl Wilhelm Friedrich von Ansbach erhielten Töchter König Friedrich Wilhelms von Preußen zur Gemahlin. Auch mit den badischen, bayerischen, hessischen, sächsischen oder württembergischen Herrscherhäusern, nicht zuletzt mit den preußischen Verwandten, waren die fränkischen Hohenzollern immer wieder aufs neue versippt und verschwägert. Als Markgraf Christian Ernst am 15. September 1703 seiner dritten Gemahlin Elisabeth Sophie das nunmehr nach ihr „Elisabethenburg“ benannte Schloß in der Neustadt Erlangen schenkte, die seit 1701 offiziell nach ihm „Christian Erlang“ hieß und am 13. September 1707 das Allianzwappen des Herrscherpaares als Stadtwappen erhielt, gehörte die junge Idealstadt einem Fürstenpaar, das auf den ersten Blick grundverschieden, auf den zweiten durch besonderes Prestigedenken und wohl nicht nur einseitige Sympathien engstens miteinander ___________ 47
Zit. nach Schödl, Dynastische Politik (wie Anm. 3), S. 13. Ebd., S. 143 f. 49 Ebd., S. 209. 50 Rudolf Endres, Franken während der preußisch-österreichischen Kriege 1740/63, in: Max Spindler (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte III/1, S. 240. 48
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verbunden war. So wie sich Christian Ernst nicht als nur mit dem Blick nach Preußen ausgerichteter kleiner Sproß einer hohenzollernschen Nebenlinie begreifen läßt, war Elisabeth Sophie nicht der verlängerte Arm ihres königlichen Bruders in Franken; vielmehr „unterschieden sich die Versorgungsinteressen Elisabeth Sophies erheblich von Friedrich I. herrschaftlichen Ambitionen.“51 Nachweise für ein von ihr zur Wahrung preußischer Interessen betriebenes Doppelspiel lassen sich denn auch nicht erbringen; im Gegenteil schadete sie sich mit ihrer auf die eigene Selbständigkeit bedachten Haltung selbst: Als sie sich Mitte 1707 ebenso wie ihr Gemahl nachdrücklich für den Abzug der preußischen Truppen von der Plassenburg einsetzte, verschärfte sich der Tonfall zwischen den Geschwistern. König Friedrich I. warf Elisabeth Sophie Undankbarkeit vor und verweigerte ihr später bei der Einforderung der kurländischen Apanagegelder und der Einforderung ihrer Wittumsgelder seine Unterstützung.52 Auch Markgraf Christian Ernst hatte genügend Gründe, nicht gut auf den preußischen König zu sprechen zu sein. Wurde er von diesem zunächst noch in seinen Ambitionen zur Gleichstellung der beiden Reichsgeneralfeldmarschalle unterstützt53, verweigerte Friedrich I. ihm nach der Niederlage 1707 am Rhein gegen Frankreich seinen Rückhalt.54 Am 18. Juni 1707 schrieb ihm der König, er solle „dieses mit so wenig aggreement begleitete, [...] fast unanständige Commando nur je eher je lieber von sich ablegen und solches jemand andern, der nicht so viel als [er] dabey zu risquiren hat, überlaßen.“55 Wenn auch Christian Ernst, dem schon in jungen Jahren „ein langsames ingenium“, dafür jedoch große Geduld und hohe Ausdauer bescheinigt worden war56, im Alter bei der Verfolgung seiner Ziele tatsächlich immer mehr an Augenmaß verloren haben mag57, sich den Wünschen seiner Frau gegenüber immer wieder „in geradezu fahrlässiger Weise nachgiebig“ zeigte58, zunehmend einen fatalen Altersstarrsinn an den Tag legte und schließlich durch sein Verhalten nach der Niederlage am Rhein auch an Ansehen bei Kaiser und Reich verlor, ändert das nichts an der Tatsache, daß er 1703 bei seiner Hochzeit mit ___________ 51
Schödl, Dynastische Politik (wie Anm. 3), S. 202 f., S. 231 ff., S. 241 f. Ebd., S. 232 f. 53 Neuhaus, Kaiser und Reich (wie Anm. 26), S. 138. 54 Willax, Erbfolgekrieg (wie Anm. 32), S. 184 f. 55 Neuhaus, Kaiser und Reich (wie Anm. 26), S. 140. 56 Michael Peters, Wege zur Toleranz. Historische Grundlagen der Ansiedlung von Hugenotten im Fürstentum Brandenburg-Bayreuth, in: Christoph Friederich (Hg.), 300 Jahre Hugenottenstadt Erlangen. Vom Nutzen der Toleranz (Ausstellungskatalog), Nürnberg 1986, S. 93-99, hier S. 95. 57 Neuhaus, Kaiser und Reich (wie Anm. 26), S. 138. 58 Schödl, Dynastische Politik (wie Anm. 3), S. 124. 52
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Elisabeth Sophie auf dem Höhepunkt seiner Macht stand und ab 1704 als dreifacher Generalfeldmarschall über ein enormes Ansehen verfügte, das weit über das eines kleinen Landesherrn hinausging. Wenn es richtig ist, was der französische Minister Colbert dem „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. sagte, „daß in Ermangelung [= außer] glänzender Kriegstaten nichts so sehr die Größe und den Geist der Fürsten kennzeichnet wie Bauten, und die ganze Nachwelt mißt sie mit der Elle dieser erhabenen Gebäude, die sie zu ihren Lebzeiten errichtet haben“59, kamen Markgraf Christian Ernst und – bezogen auf das Bauwesen – Markgräfin Elisabeth Sophie diesen beiden höchsten Idealen barocker Fürsten sehr nahe.
V. „ein solcher Garten [...] / der auch einem König nicht missfallen sollte“ „Das soziale Ansehen eines Fürsten, besonders während der Barockzeit, hing überwiegend von zwei Faktoren ab, seinem kriegerischen Erfolg und seinem Repräsentationsvermögen. Dabei wurde seine Zurschaustellung von Luxus mit seiner Macht gleichgesetzt.“60 Vor diesem Hintergrund gewinnen der Schloßbau in Erlangen und die Anlage des Schloßgartens und seine Ausstattung eine andere Bedeutung. Hier baute nicht nur einer der zahlreichen kleinen „Duodezfürsten“ eine eigentlich über seine wirtschaftlichen Fähigkeiten hinausgehende Residenz, sondern eine Prinzessin von königlichem Geblüt, die Gemahlin eines Reichsfürsten auf dem Zenit seines Aufstiegs, der weitergehende Ansprüche auf seine Stellung als oberster Militär des Reiches erhob, und dessen baldiges Scheitern beim Beginn des Projektes noch nicht abzusehen war. Völlig richtig macht Schödl darauf aufmerksam, „dass sich das Standesbewusstsein eines Fürsten im 18. Jahrhundert nicht unbedingt von der Größe seines Fürstentums oder der wirtschaftlichen Potenz ableitete, sondern aus dem Alter und Ruhm seines Geschlechtes und den von ihm erworbenen Reichsehren.“61 Ausdruck des fürstlichen Selbstbewußtseins von Christian Ernst und Elisabeth Sophie wurde das Schloß und der im Vergleich zur Stadtanlage riesige, etwa 280 breite und 550 m lange Schloßgarten in Erlangen62, für den Anfang ___________ 59
Rolf Hellmut Förster, Die Welt des Barock, München 1970, S. 163. Bert Beitmann, Wanderungen durch deutsche Barockgärten. Geschichte der Gartenkunst, Bd. II (www.gartenkunst-beitmann.de (23.09.2008), S. 5. 61 Schödl, Dynastische Politik (wie Anm. 3), S. 27. 62 Die von Gisela Schaller vorgetragene These eines ursprünglich wesentlich längeren und dann unter Georg Wilhelm angeblich um 295,8 m (!) gekürzten Gartens (Gisela Schaller, Schloßgarten Erlangen. Rekonstruktion und Umgestaltung der ersten Anlage, ungedruckte Magisterarbeit Erlangen 1986, S. 128, Andrea M. Kluxen, Der Erlanger Schloßgarten, in: Christina Hofmann-Randall [Hg.], Das Erlanger Schloß als Witwensitz 1712-1817 [wie Anm. 25], S. 171-182, hier S. 182 Anm. 38) ist nicht haltbar. Obwohl eine Ausdehnung des Gesamtgartens unter Elisabeth Sophie von 940 x 2570 oder 272 x 60
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1704 aus der Waldung Stubenloh für 2400 Gulden rheinisch 30 Morgen Holz erworben wurden.63 Noch im Frühjahr desselben Jahres begannen die Arbeiten64, bei denen unter anderem das Gelände planiert und das für die Anpflanzungen nötige gute Erdreich aus dem „Erlach“ bei Bruck (heute Stadtteil), d. h. aus größerer Entfernung herbeigeschafft werden mußte. Die Bedeutung dieser Anlage ist nicht hoch genug einzuschätzen: „Nachdem der Garten nicht mehr allein der Ernährung sondern bei einer Oberschicht überwiegend der sinnlichen Bereicherung diente, wurde er zu einem der wichtigsten Statussymbole, einem Luxusprodukt, das wie kaum ein anderes in der Lage war, die soziale Stellung eines Menschen zu unterstreichen [...].“65 Mit vergleichsweise erheblichem Aufwand binnen kürzester Zeit aus dem kargen Erlanger Sandboden gestampft, enthielt der Garten alle Elemente – Orangerie, Brunnen, Statuen, Menagerie, Fasanerie, Längs-, Quer- und Sichtachsen etc. –, die der Zeit entsprachen und genügte damit in seiner Gestaltung vollkommen ___________ 746 m (Schaller, Schloßgarten, S. 22; Ursula Frenzel, Beiträge zur Geschichte der barocken Schloß- und Gartenanlagen des Bayreuther Hofes, München 1959, S. 21 Anm. 37) in den Akten nachgewiesen ist und auch ein Grundriß mit einem entsprechend schmalen, überlangen Grundstück existiert, kann der in diesem Areal enthaltene eigentliche Lustgarten von Anfang an nur die 1721 im Homannschen Plan dargestellte Größe gehabt haben. Abgesehen von dem in der am Goldenen Schnitt orientierten barocken Planstadt undenkbaren unschönen Größenverhältnis des Gartens von Breite zu Länge von etwa 1 : 3 ist die von Schaller rekonstruierte Verschiebung der Seitenquartiere gegenüber den inneren Parterrefeldern (Schaller, Schloßgarten, S. 84) nicht anzunehmen; hatten aber alle parallel angeordneten Felder dieselbe Länge, wären Fasanerie und Irrgarten – wie auch um 1714 im zweiten Prospekt des Gartens von Decker und Delsenbach dargestellt – neben dem Theater angeordnet gewesen, und erübrigt sich die weitere starke Verlängerung des Gartens nach Osten. Ein deutlicheres Indiz gegen die Rekonstruktion von Schaller ist der bereits im Juni 1704 begonnene Einschlag der drei Sichtachsen (Ebd., S. 83), der sicherlich vom Ostende des Gartens aus betrieben worden sein dürfte. Möchte man nicht annehmen, daß die beiden äußeren Achsen später verlegt, d. h. an anderer Stelle und im anderen Winkel neu angelegt wurden oder auf der Höhe der Östlichen Stadtmauerstraße schräg auf die Längsseiten des Gartens trafen, kann dieser 1704 nicht weiter als bis zu dieser Linie gereicht haben, d. h. der Garten erstreckte sich schon damals nicht über die im Homann-Plan gezeigte Grenze hinaus. Und schließlich belegt auch der dort noch zu sehende Überrest des runden Teiches dessen ursprünglichen Standort, möchte man nicht annehmen, daß der Abschluß des längeren Gartens in derselben Reihenfolge mit Theater, Rundteich und Waldschneisen in der verkürzten Anlage wiederholt wurde. Vielmehr erklärt sich die Überlänge durch den nach dem Teich folgenden, noch zum höfischen Gartenbezirk gerechneten Wald (Ebd., S. 58 f., S. 62). Wohl zu Recht stellt Frenzel deswegen fest, daß „sich die unter Georg Wilhelm vorgenommenen Änderungen fast ausschließlich auf rein gärtnerische Eingriffe beschränkten“ (Frenzel, Schloß- und Gartenanlagen, S. 20 Anm. 36; S. 23). 63 Frenzel, Schloß- und Gartenanlagen (wie Anm. 62), S. 5. 64 Helmut Eberhard Paulus, Die „Grosse Fontaine“ des Erlanger Schloßgartens. Der sogenannte „Hugenottenbrunnen“, in: Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung, 22. Jg., 1. Heft, 1975, S. 85-99, hier S. 88. 65 Beitmann, Barockgärten (wie Anm. 60), S. 2.
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allen fürstlichen Ansprüchen. Mit seinen bunten und vielgestaltigen Blumenrabatten und sonstigen Anpflanzungen muß die riesige Fläche einen festlichen Anblick geboten haben. Dementsprechend urteilte Johann Christoph Volkamer in seiner 1714 erschienenen „Continuation der Nürnbergischen Hesperiden“, die auch zwei Prospekte des Erlanger Gartens enthielt, fast euphorisch: „haben höchstgedachter Frau Marggräfin Königl. Hoheit / [...] ein fürtreffliches Schloss daselbst anbauen / auch einen grossen / mit den schönsten Fontainen / kostbarsten Alleen / künstlichsten Statuen, stattlichsten Orangerien, und vielen andern kostbaren Raritäten bestversehensten Garten / anlegen lassen. [...] so werde ich dadurch ein genugsames Zeugnis abstatten / dass abermal an einem vorher ungebauten und sandigten Ort / nichts desto weniger wieder / durch grossen Fleiss und Kosten / ein solcher Garten neulich entstanden seye / der auch einem König nicht missfallen sollte.“66
VI. „[...] geradezu gesuchte Bezüge zur preußischen Königsresidenz“? So sehr der Garten ganz offenkundig den Ansprüchen der Zeitgenossen genügte, so tat und tut sich die Forschung mit der Analyse und Bewertung der Anlage erstaunlich schwer. 1901 nahm Friedrich Hofmann67 den Herrenhausener Garten als Vorbild für die Gesamtkonzeption der Erlanger Anlage an. Auch Friedrich Schmidt und Ernst Deuerlein sahen 1913 Herrenhausen als Vorbild und hielten „einen der besten Lenotre-Schüler“ für den Schöpfer des Erlanger Gartens.68 1950 identifizierte Erich Storch das 1687 im Berliner Lustgarten von Nering erbaute Pomeranzenhaus als Vorbild für die Erlanger Orangerie.69 Ursula Frenzel schrieb 1959 Gottfried von Gedeler den Gesamtplan der Schloßanlage und dem aus Nürnberg stammenden Hofgärtner Georg Wolf d. Ä. den Hauptanteil an der Gestaltung des Erlanger Schloßgartens zu.70 Sylvia Habermann vermutete 1982 Georg Wolf d. Ä. oder den – bei der Anlage des Gartens bereits verstorbenen! – Architekten des Schlosses, Antonio della Porta († 1702), als Schöpfer der Gartenanlage; das Ausgreifen der Gartenachsen in die Landschaft war ihrer Ansicht nach „ganz im Sinne des klassischen französischen Barockgartens“; in der reichen Ausgestaltung des „Giardino segreto“ hinter der Orangerie sah sie Anregungen durch Le Notres Boskette in Versailles; als „völlig ungewöhnlich“ und „absolute Ausnahmeerscheinung“ in der deut___________ 66
Zit. nach Frenzel, Schloß- und Gartenanlagen (wie Anm. 62), S. 8. Hofmann, Friedrich, Die Kunst am Hofe der Markgrafen von Brandenburg. Fränkische Linie, Straßburg 1901, zit. nach Frenzel, Schloß- und Gartenanlagen (wie Anm. 62), S. 1. 68 Frenzel, Schloß- und Gartenanlagen (wie Anm. 62), S. 2. 69 Ebd., S. 3. 70 Ebd., S. 31. 67
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schen Gartenkunst des Barock erkannte sie die Anordnung des Heckentheaters – des ältesten in Süddeutschland71 – am Ende der Mittelachse des Gartens, dessen Vorbild Herrenhausen war.72 Bernhard Rupprecht hielt 1982 – leider ohne ein einziges (zumal früheres!) Beispiel zu nennen – „die Idee, ein Stadtschloß als Zentrum einer Planstadt zum Bindeglied einer durch Garten und Park stufenweise beherrschten und erschlossenen Landschaft zu machen, [...] für die absolutistische Zeit charakteristisch“; lediglich bei der Orangerie nannte er das Pomeranzenhaus von Nering in Berlin als unmittelbares Vorbild.73 Die bis zu diesem Zeitpunkt gründlichste Gesamtanalyse versuchte Gisela Schaller 1986.74 Demzufolge bildete das Schloß „ganz im französischen Sinn“ den Ausgangspunkt für die Gartenanlage. Französische Vorbilder sah sie in der Lage der Orangerie in der Nähe des Schlosses, in der Lage der Menagerie, in dem Prinzip, „daß mit zunehmender Entfernung vom Schloß die Gestaltungsdichte abnimmt, während die Wuchshöhe ansteigt“, und in der Verknüpfung des Gartens mit dem anschließenden Wald. Die Verwendung nur eines einzigen Parterretyps, die figürlichen Baumverschnitte, die „vermutlich um die Parterres angeordneten Zwergstatuen“, den halbrunden Abschluß des Heckentheaters, den dahinter angelegten runden Teich, die Gestaltung der Bosketts mit Obstbäumen sowie die zentralisierte Anlage des Labyrinths hielt sie für von Holland beeinflußt. Die im Boden versteckten Wasserspiele folgten ihrer Meinung nach italienischen Beispielen. Aufgrund ihrer Analyse zog Schaller ein in Hinblick auf die Vielzahl der Vorbilder überraschendes Gesamtresumée: „Was die Herleitung des einzelnen anbelangt, so müssen französische und holländische Gartenvorstellungen [...] ebenso in die Betrachtung einbezogen werden, wie eigens die Situation in Brandenburg-Preußen, die aufgrund der familiären Bindung Elisabeth Sophies von Bedeutung ist.“75 Mit dieser Erkenntnis traf sie einen ganz zentralen Grundsatz der deutschen Gartenbaukunst, nämlich kein Vorbild exakt
___________ 71 Rudolf Meyer, Hecken- und Gartentheater in Deutschland im XVII. und XVIII. Jahrhundert (Die Schaubühne, Quellen und Forschungen zur Theatergeschichte, Bd. 6), Emsdetten 1934, S. 154; Kluxen, Erlanger Schloßgarten (wie Anm. 62), S. 178. 72 Sylvia Habermann, Bayreuther Gartenkunst. Die Gärten der Markgrafen von Brandeburg-Culmbach im 17. und 18. Jahrhundert (Grüne Reihe Quellen und Forschungen zur Gartenkunst, Bd. 6), Worms 1982, S. 41 ff. 73 Bernhard Rupprecht, Die barocke Stadt – Plan und Verwirklichung, in: Alfred Wendehorst (Hg.), Erlangen. Die Geschichte der Stadt in Darstellung und Bilddokumenten, München 1984, S. 47-58, S. 53. 74 Schaller, Schloßgarten (wie Anm. 62). 75 Ebda., S. 105.
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nachzuahmen, sondern viele Vorbilder zu einer neuen Synthese zu verschmelzen.76 Demgegenüber bedeutete es einen Rückschritt, wenn Bernd Nürmberger 2007 die Erlanger Schloßanlage wieder kurzerhand nur als nach Berliner Vorbildern entstanden bezeichnete77 bzw. die Struktur des Gartens an dem (ab 1697 im französischen Stil angelegten) Schloßgarten von Charlottenburg orientiert sah78, der als erster deutscher Garten im französischen Stil gilt.79 In einer im selben Jahr erschienenen, vorzüglichen Untersuchung vermutete Karl Möseneder, daß der „königlichen Auftraggeberin“ Elisabeth Sophie und ihrem Architekten Gottfried von Gedeler „offenbar Bauten im Umkreis der Hohenzollernresidenz“ Berlin sowie Niederschönhausen vor Augen gestanden haben.80 Die Statue des Markgrafen Christian Ernst auf dem „Hugenottenbrunnen“ sah er an der 1651/52 von Dieussart geschaffenen Statue des Großen Kurfürsten orientiert, die „den Herrscher mit Kommandostab im Harnisch auf einem Postament in einem kleinen Wasserbecken [zeigt], in das von Puten gehaltene Delphine Wasser speien.“81 Und nicht zuletzt die offenkundige Orientierung des 1712 in Auftrag gegebenen Reiterdenkmals des Markgrafen an Schlüters Bronzedenkmal für den Großen Kurfürsten bestätigte für ihn „also aufs neue die offenbar geradezu gesuchten Bezüge zur preußischen Königsresidenz.“82 Doch Preußen, das geht aus dem Aufsatz Möseneders deutlich hervor, war auch in Erlangen nicht alles. Nachdem er einzelne Bauten bzw. Figuren so detailliert auf dortige Vorbilder zurückführen konnte, muß es verwundern, daß ausgerechnet das markanteste und wichtigste Monument der gesamten Anlage, der das Schloßparterre prägende „Hugenottenbrunnen“ als Motiv des „wasserumspülten Felsenberges [...] um 1700 selbst für öffentliche Plätze keine Rarität ___________ 76
Vgl. Beitmann, Barockgärten (wie Anm. 60), S. 4: „Die Gartenkunst als solche bestand dabei immer und überall aus geistigen Synthesen, Synthesen, die oft in einem ganzen Leben eines Erbauers heranreiften ...“. 77 Bernd Nürmberger, Historische Kunst im öffentlichen Raum, in: ders. (Hg.), Erlangen. Kunst im Stadtbild, Nürnberg 2007, S. 22-33, S. 22. 78 Bernd Nürmberger, Kunsthistorische Verbindungen von Thüringen und Sachsen mit der Architektur Erlanger Kirchen, in Andreas Jakob/Hans Markus Horst/Helmut Schmitt (Hg.), Das Himmelreich zu Erlangen – offen aus Tradition? Aus 1000 Jahren Bamberger Bistumsgeschichte (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Erlangen, Nr. 5), Nürnberg 2007, S. 132-139, hier S. 132. 79 http://www.spgs.de/index.php?id=1018 (26.10.2007). 80 Karl Möseneder, Erlangen, Berlin, Paris – Bezugsfelder eines barocken Denkmalbrunnens und zweier Orangerien, in: Nicole Riegel/Damian Dombrowski/Severin Josef Hansbauer (Hg.), Architektur und Figur. Das Zusammenspiel der Künste (Festschrift Stefan Kummer), München 2007, S. 391-404, S. 391. 81 Ebd., S. 395. 82 Ebd., S. 396.
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mehr“ dargestellt haben soll.83 Zwar hat Möseneder, wie bereits früher schon Paulus, sicherlich recht, wenn er darauf verweist, daß es als zerklüftete Felsen gestaltete Brunnen bereits vor Erlangen in Italien oder Mähren gegeben hat. Zu nennen wären etwa der 1647-1651 entstandene Vierströmebrunnen Gian Lorenzo Berninis auf der Piazza Navona in Rom, der 1690-95 nach Plänen von Johann Bernhard Fischer von Erlach errichtete Parnas-Brunnen in der mährischen Stadt Brünn oder Fischer von Erlachs Brunnenentwürfe 1688 für Schloß Schönbrunn bei Wien.84 Jedoch bilden sie unter den vielgestaltigen und phantasievollen Schöpfungen der brunnenreichen Barockzeit ausgesprochene Raritäten. Eine mehr als nur entfernte strukturelle Ähnlichkeit mit dem Erlanger Brunnen läßt sich nirgendwo feststellen. Diese im deutschen Schloßbau singuläre Raumlösung, der aus Schloß, Sandparterre, Hugenottenbrunnen und zwei flankierenden Orangerien bestehende Bereich, in dessen Anordnung sich sogar die Struktur des Petersplatzes in Rom85 mit Kirche, Obelisk und Kolonnaden spiegelt – diese Situation verstärkten die in den Deckerschen Stichen (s. u.) Schloß und Orangerie verbindenden, jedoch nie gebauten Arkadengänge! –, war das Herzstück und Charakteristikum des Erlanger Schloßgartens. Für die Gesamtsituation war die Existenz von zwei spiegelbildlich angeordneten Orangerien als Klammern im Denken der Zeitgenossen offenbar derartig zwingend erforderlich, daß der niemals vollendete Bau der Konkordienkirche gegenüber auf der Südseite auf allen Plänen des 18. Jahrhunderts und sogar in den Darstellungen in verschiedenen Studentenstammbüchern als vollständig realisiert wiedergegeben wurde. Bereits Ursula Frenzel hatte die „für die Zeit ganz ungewöhnliche Platzlösung“ gewürdigt und die Gestaltung des gesamten Vorplatzes als „mächtiger Festraum unter freiem Himmel, der dem höfischen Zeremoniell und der Prachtentfaltung barocken Lebens dient.“86 Die Außergewöhnlichkeit der Erlanger Anlage klingt auch bei Möseneder an, wenn er von „Gedelers einzigartige[r] Gestaltung der Gartenparterres vor dem Erlanger Schloß“ spricht.87 Neben Berlin müssen also noch andere berühmte Vorbilder eine Rolle gespielt haben. Dies deutet Möseneder an, wenn er die Gestaltung des Erlanger Gartenparterres „als gartengerechte Verwandlung der zweigeschossigen Fronten des Pariser Königsplatzes“ hinterfragt88, oder Kluxen, wenn sie feststellt, „die monumentale Zone entspricht ___________ 83
Ebd., S. 397. Hans Sedlmayr, Johann Bernhard Fischer von Erlach, Wien 1976, Bildtafeln 3638, S. 245 f. 85 Vgl. Möseneder, Bezugsfelder (wie Anm. 80), S. 395. 86 Frenzel, Schloß- und Gartenanlagen (wie Anm. 62), S. 22. 87 Möseneder, Bezugsfelder (wie Anm. 80), S. 400. 88 Ebd., S. 400. 84
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ganz französischen Anforderungen und erfüllt repräsentative und gesellschaftliche Ansprüche.“89
VII. Eine Idee von Versailles Denn so zutreffend die Beobachtungen bezüglich preußischer „Vorbilder“ im einzelnen auch sind, so bleibt doch festzuhalten, daß jedesmal in der Gesamtanlage die Unterschiede die Gemeinsamkeiten bei weitem übertreffen. Weder einzeln noch zusammen reichen sie aus, den Erlanger Schloßgarten auch nur annähernd vollständig zu erklären. Wenn in Preußen geschulte Künstler ihre Formensprache nach hierher mitbrachten, war das nur natürlich. Wie die verschiedenen Beispiele zeigen, wurden die Vorbilder aber selten – am meisten noch beim Reiterstandbild des Markgrafen – vollständig übernommen, sondern ihre Idee zu etwas selbständigen weiterentwickelt. Dies gilt auch für das für Fürsten der Barockzeit wichtigste Vorbild, nämlich das Schloß des französischen Königs in Versailles, zu dem nicht nur der Garten, sondern genauso die auf der anderen Seite errichtete Stadt gehörte. Natürlich kann nicht bestritten werden, daß sich alle Gestaltungselemente der dortigen Gartenanlage bereits früher nachweisen lassen.90 Dadurch ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß die Residenz Ludwigs XIV. doch in einigen Punkten für Erlangen direktes Vorbild gewesen sein kann. Die Umsetzung geschah, wie die zahlreichen von Schaller und anderen für den Erlanger Garten genannten Vorbilder zeigen, nicht durch die Größe oder die Übernahme formaler Merkmale, sondern durch ein bestimmtes inhaltliches Programm und die Strukturen. Voraussetzung für die Orientierung an Versailles, wo 1671 vor dem Schloß mit dem Bau einer geometrisch gestalteten Planstadt begonnen worden war und sich dadurch erstmals in der europäischen Kunstgeschichte die Konstellation eines zwischen planmäßig angelegtem Garten und einer kleinen Planstadt gelegenen Schlosses findet, war in Erlangen die bereits vorhandene Idealstadt. An der Nahtstelle zwischen einer Idealstadtanlage und einem nach vergleichbaren idealen Gesichtspunkten künstlich gestalteten Garten gelegen, entsprach hier die Situation des Schlosses erstmals in Süddeutschland der von Versailles. Nach heutigen Vorstellungen hätte die Neustadt Erlangen als eine bis zu diesem Zeitpunkt fast reine und darüber hinaus noch unvollendete Industriestadt eigentlich keinen Anreiz zum Bau eines Schlosses gegeben. Die Bevölkerung bestand mehrheitlich aus Ausländern, wenngleich die Franzosen die bei Hof bevorzugte Sprache sprachen und aufgrund der von ihnen erwarteten wirt___________ 89 90
Kluxen, Erlanger Schloßgarten (wie Anm. 62), S. 175. Beitmann, Barockgärten (wie Anm. 60), S. 1.
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schaftlichen Leistungen gegenüber den alteingesessenen Untertanen besonders privilegiert waren. Obwohl der Bau des Schlosses ähnlich wie die Gründung der Ritterakademie 1696/99 als Maßnahme zur Förderung des Stadtbaus verstanden werden kann, erklärt das noch keineswegs den Bau der prächtigen Gartenanlagen. Das Projekt wird erst verständlich, berücksichtigt man die Modernität der Stadtanlage, die nicht nur ästhetische Werte besaß, sondern etwa auch die vom absolutistischen Fürsten geschaffene Ordnung des Staates widerspiegelte, in die sich der einzelne Untertan einzuordnen hatte.91 Dies entsprach auch der Intention von Versailles. Dort sollte sich im „Stadtbild [...] die glückliche Regierung des absoluten Monarchen im Wechselverhältnis zu den vollkommen abhängigen Untertanen widerspiegeln. Ganz besonderer Wert wurde auf das gepflegte, heitere Erscheinungsbild der Stadt gelegt.“92 Das Schloß schmückte nicht nur die Stadt, sondern umgekehrt die, wie erwähnt, seit 1701 nach ihrem Gründer „Christian-Erlang“ benannte Stadt ihren Fürsten! Die Tatsache jedoch, daß in Erlangen nicht der Markgraf, sondern zunächst der Erbprinz der Schloßherr war, und ein Plan, der zunächst eine kleinere Lösung für den Garten vorsah, erwecken den Eindruck, daß hier das vorhandene Potential zunächst nicht vollständig erkannt worden war. Ausschlaggebend war in Erlangen aber nicht nur die Existenz einer regelmäßig angelegten Stadt allein, sondern deren Struktur, in die sich bereits das zugleich als Abschluß der östlichen Front des großen Platzes dienende Schloß hatte einordnen müssen.93 Wie bei verschiedenen anderen deutschen Residenzen der Zeit konnte dieser Platz als Schloß- und Marktplatz, d. h. als fürstlicher und bürgerlicher bzw. privater und öffentlicher Bereich genutzt werden. Wesentliches Strukturelement war – ähnlich wie in Versailles und bei französischen und niederländischen Landschlössern94 sowie bei mehreren zeitgenössischen Schlössern in Deutschland, etwa Oranienbaum (ab 1693), Charlottenburg (ab 1695), Neuwied (ab 1706), Rastatt, Bruchsal und Mannheim95 –, die Erlanger Hauptstraße als den Platz teilende Querstraße. ___________ 91
Jakob, Neustadt Erlangen (wie Anm. 1), S. 38-43. Karin Stober, 140 Planstadtanlagen in Europa, in: Badisches Landesmuseum, „Klar und lichtvoll wie eine Regel“ (wie Anm. 1), S. 339-363, hier S. 362. 93 Das Schloß verwirklicht die vom Idealplan von 1686 geforderte einheitliche Bebauung der gesamten Hauptfront des großen Platzes durch ein oder mehrere größere, architektonisch anspruchsvoller gestaltete Gebäude. Vgl. dazu Andreas Jakob, Zur Planung und Entstehung der Neustadt Erlangen. Die Bedeutung von Hanau und Mannheim als Vorbilder, in: Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung 37 (1989), S. 185-205, hier S. 192 f. 94 Martin Engel, Das Forum Fridericianum und die monumentalen Residenzplätze des 18. Jahrhunderts (www.diss.fu-berlin.de/2004/161/H-Residenzpl2.pdf, S. 229-249, hier S. 236. 95 Ebd., S. 235 f. und später. 92
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Ausgangspunkt für die Anlage des Schloßgartens war die Baublockeinteilung der Neustadt, die seine Breite bestimmte.96 Wenn beim Garten die „schematische Anlage mit ihrem etwas einfallslosen Achsenraster“ kritisiert wird97, bleibt außer acht, daß diese sich mit der Betonung von Symmetrie und Regularität, mit ihren geometrischen Strukturen und der Gestaltung spiegelbildlich zu ihrer Mittelachse, genau nach denselben Prinzipien richtete, die bei der Gründung der Neustadt 1686 und beim regulierten Wiederaufbau der Altstadt nach dem Brand von 1706 für die Konstruktion der Stadtgrundrisse maßgeblich waren.98
Das Erlanger Schloß und der „Hugenottenbrunnen“ von Osten, Fotografie, um 1910 Stadtarchiv Erlangen.
Die Orientierung der Erlanger Anlage an Versailles demonstriert am deutlichsten der mächtige Dreistrahl, das „wohl berühmteste gartenkünstlerische Motiv der Barockzeit“99, der aber nicht wie dort vom Schloß aus die Stadt durchdringt, sondern hier Schloßgarten und Landschaft miteinander verbindet.100 Sogar der bei dem französischen Königsschloß durch ein Eisengitter ___________ 96
Vgl. Schaller, Schloßgarten (wie Anm. 62), S. 67. Sylvia Habermann, Bayreuther Gartenkunst (wie Anm. 72), S. 40. 98 Jakob, Brand der Altstadt Erlangen (wie Anm. 2). 99 Engel, Residenzplätze (wie Anm. 94), S. 229-249. 100 Andrea Kluxen stellt wenigstens einen allgemeinen Bezug her, wenn sie meint: „Diese Verbindung zwischen Herrschaftszentrum, Garten und Landschaft, zwischen hie97
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vom Vorhof abgetrennte und zum erweiterten Schloßbezirk gerechnete riesige runde Vorplatz, von dem die drei Achsen ausgehen101, findet sich Erlangen in dem ebenfalls außerhalb des Lustgartenbereichs angelegten kreisrunden, 101,5 m102 durchmessenden Fischteich angedeutet. Allerdings münden die Waldschneisen nicht in dieser Kreisfläche, sondern treffen, verlängert man sie, genau im Schloß zusammen.103
VIII. Der Erlanger Fama-Felsen-Brunnen
Der Famabrunnen in Herrenchiemsee, Fotografie A. Jakob, 2008.
Der wichtigste Anhaltspunkt für eine direkte Orientierung der Erlanger Anlage an Versailles ist jedoch der sog. „Hugenottenbrunnen“, den man getrost zu den am meisten verkannten Denkmälern der Barockzeit in Franken rechnen kann. Die Kette der Argumentation führt dabei zunächst zeitlich rückwärts über zwei Königsschlösser, die ihrerseits jeweils Versailles zum Vorbild hatten, nämlich Herrenchiemsee und La Granja bei San Ildefonso in Spanien. In dem vom bayerischen König Ludwig II. seit 1878 auf der Chiemseeinsel gebauten ___________ rarchisch geordneten Bereichen ist typisch für den Absolutismus, der sich am Beispiel Versailles orientierte, da hier Herrschaftsansprüche über den bebauten Bereich hinaus postuliert wurden“ (Kluxen, Erlanger Schloßgarten [wie Anm. 62], S. 174). 101 Engel, Residenzplätze (wie Anm. 94), S. 229 ff. 102 Schaller, Schloßgarten (wie Anm. 62), S. 57, S. 67. 103 Ebd., S. 64.
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Schloß stehen auf dem Gartenparterre in den großen flachen Wasserbecken zwei mächtige, als pyramidal aufsteigende Felsen gestaltete Anlagen, der Fama-Brunnen und der Fortuna-Brunnen. Allerdings wurden sie nach Michael Petzet und Gerhard Hojer dem Versailler Vorbild angeblich nur hinzugefügt! Beide Brunnen sollen stattdessen lediglich das ab 1720 von König Philipp V., dem ersten Bourbonen auf dem spanischen Thron, nach Versailler Vorbild errichtete Schloß La Granja bei San Ildefonso in Spanien zum direkten Vorbild haben.104 Zeitlich noch einmal mehr als 16 Jahre vor den Brunnen in La Granja – und 21 Jahre nach den großen Wasserbecken in Versailles – wurde in einem ca. 30 x 19 m großen querovalen Bassin die „große Fontaine“ in Erlangen errichtet. Das steil aufragende, etwa 9,5 m hohe und mit über 20 Figuren besetzte Monument hat an der annähernd quadratischen Basis einen Durchmesser von 5,8 m.105 Ursprünglich sprudelte das Wasser in dünnen Strahlen aus 30 Öffnungen, etwa dem Feldherrenstab des Markgrafen und den Hälsen der Adler. Möchte man nicht annehmen, daß der Erlanger Hugenottenbrunnen Vorbild für die Brunnen in La Granja und damit auch Herrenchiemsee war oder mit diesen nur eine, allerdings dann sehr merkwürdige, Ähnlichkeit hatte, muß es in Versailles eine – vielleicht nur geplante, aber nicht realisierte – ähnlich gestaltete Anlage gegeben haben. In Frage kommen etwa die beiden 1685 geschaffenen großen Wasserbecken auf der dortigen Schloßterrasse, wo die großen Figuren in der Mitte aber nicht zur Ausführung gekommen waren.106 Möglicherweise orientierte sich der Erlanger Brunnen aber nicht nur an einem Vorbild, sondern an mehreren. Wie die geflügelte Frauengestalt mit der Trompete in der Linken auf der Spitze der Anlage zeigt, die einen heute verlorenen Lorbeerkranz über den in antikisierender Uniform als Generalfeldmarschall auf einem mit Waffen und Kriegsinstrumenten geschmückten Postament stehenden Markgrafen hielt, handelt es sich bei der „großen Fontäne“ in Erlangen um einen Fama-Brunnen.107 Einen solchen Brunnen gab es auch in Versailles.108 Jedoch kann dieser alleine ___________ 104 Michael Petzet/Gerhard Hojer, Neues Schloss Herrenchiemsee, Amtlicher Führer (Bayerische Verwaltung der staatlichen Schlösser), 1976, S. 10 f. – http://de. wikipedia.org/wiki/Palacio_Real_(La_Granja) (12.09.2008). 105 Schaller, Schloßgarten (wie Anm. 62), S. 40 f.. 106 Gerald van der Kemp/Simone Hoog/Daniel Meyer, Versailles. Das Schloß, die Gärten und Trianon, Paris 1986, S. 102. 107 Einen Fama-Brunnen schuf Elias Räntz 1708 auch für Bayreuth. 108 Vgl. den Kupferstich in: Rinck, wunderwürdiges Leben (wie Anm. 44). – Eine von J.-B. Martin um 1700 geschaffene Ansicht der Gartenanlagen von Versailles zeigt in einem von einem breiten Weg umgebenen runden Brunnen eine pyramidenförmige Skulptur (Pyramide und Nymphenbad); Abb. in: Daniel Meyer, Versailles-Besichtigung
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nicht das direkte oder einzige Vorbild gewesen sein. Vielmehr scheint der „Hugenottenbrunnen“ noch mehrere andere Themen zu vereinigen, für die es in Versailles jeweils eigene Brunnen gab, nämlich neben dem Fama-Brunnen einen Felsenbrunnen und vielleicht auch einen Brunnen des Bacchus.109
Der Famabrunnen in Versailles, Kupferstich aus: Eucharius Gottlieb Rinck, Ludewigs des XIV. Königes in Franckreich wunderwürdiges Leben oder Steigen und Fall, anderer Theil, 1710.
___________ Schloss, Park und Trianon, Paris 1987, S. 64, S. 84, die vielleicht Vorbild für den Erlanger Hugenottenbrunnen gewesen sein könnte. 109 Kupferstiche jeweils bei Rinck, wunderwürdiges Leben (wie Anm. 44).
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Der Felsenbrunnen in Versailles, Kupferstich aus: Eucharius Gottlieb Rinck, Ludewigs des XIV. Königes in Franckreich wunderwürdiges Leben oder Steigen und Fall, anderer Theil, 1710.
Das komplizierte, sehr anspruchsvolle und höchst selbstbewußte ikonologische Programm des Erlanger Brunnens, das sich nicht nur in der Nachahmung irgendwelcher Vorbilder erschöpft, läßt sich durch die einst auf den großen Kartuschen aufgemalten Inschriften erschließen, die in einer am 27. Juli 1708, dem Geburtstag des Markgrafen, von dem Gymnasialprofessor Meyer in Bayreuth in französischer Sprache gehaltenen und 1713 im Druck erschienenen Rede überliefert sind.110 Sie geben der allgemeinen Ikonologie einen bestimmten Sinngehalt. Demzufolge sah man hinter Christian Ernst „die Göttin Fama oder den Ruhm, die in ihrer Rechten einen Lorbeerkranz [das Symbol für den
___________ 110 David Meyer, Harangue du delicieux jardin, de la novelle ville de ChristianErlang, Bayreuth 1713.
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Frieden nach dem Sieg über einen Feind111] über das Haupt des Markgrafen hält, in der Linken eine Trompete, die die großen Heldentaten dieses Herrschers in alle vier Seiten der Welt ertönen läßt“. Zu Füßen des durch das Monogramm „CEMZB“ – Christian Ernst, Markgraf zu Brandenburg – und die mit dem großen Bayreuther Staatswappen geschmückte Fahne an der Trompete eindeutig identifizierten Fürsten sitzen nach den Himmelsrichtungen vier bärtige Männer, wohl Quellgottheiten, mit wasserspendenden Füllhörnern – übrigens dem Attribut der Fortuna –, die die Wohltaten der markgräflichen Regierung symbolisierten. Dazwischen halten kleine Putten, also positive, dem Menschen wohlgesonnene Naturgeister, drei Kartuschen, deren Inschriften die militärischen und fürstlichen Tugenden – vor allem seine Clementia – und die Persönlichkeit des Fürsten würdigten. Nach Osten las man: „CHRISTIANI ERNESTI / BELLICAM FORTITUDINEM / METALLO EXPRESSAM VIDES / TOTUM ANIMUM VIDERES / SI VIVAX INGENIUM / PROMPTA QUE CLEMENCIA / EXPRIMI METALLO POSSET.“112
Nach Norden und Süden verkündete die Inschrift: CHRISTIANO ERNESTO / REGIAM ORIS MAJESTATEM / AETERNA VINDICAT HAEC IMAGO / IN REGIAS VIRTUTES ET HEROICA FACTA / POTESTATIS NIHIL FATIS RELIQUIT FAMA.“113
Auf der nächst tieferen Ebene sitzen vier Adler – sowohl die Wappenvögel des Markgrafen, als auch die seiner Gemahlin, zugleich aber auch Symbole für Stärke und Tapferkeit – mit steil nach oben gereckten, mit Kronreifen geschmückten Hälsen, die mit der rechten Klaue Kartuschen halten, deren Inschriften die Leistungen des Markgrafen in absolutistischem Sinne konkretisierten. Nach Osten, in Richtung auf die durch den Wald geschlagenen Sichtachsen, wurde die Hierarchieachse Garten – Schloß – Stadt – Land – Fürst betont: „FONS / ORNAT HORTUM / HORTUS ARCEM / ARX URBEM / URBES ORBEM / SED AB UNO / CHRISTIANO ERNESTO / ConDeCorantVr / oMnIa.“114
___________ 111 Deutung der Symbole zumeist nach P. W. Hartmann, Das große Künstlerlexikon (http://www.beyars.com/kunstlexikon/lexikon_a_1.html). 112 „Christian Ernsts Tapferkeit im Kriege siehst du durch Metall (Kriegsgerät) zum Ausdruck gebracht, die ganze Persönlichkeit würdest du sehen, wenn ein blühendlebendiger Geist und eine großzügige Milde durch Metall ausgedrückt werden könnten“ (Paulus, Grosse Fontaine [wie Anm. 64], S. 91) 113 „Dem Christian Ernst bestätigt dieses Bild ewiglich eine fürstliche Größe – wenn auch nur mit Worten. Von den königlichen Tugenden und heldenhaften Taten seiner Herrschaft hat Fama nichts den Unglücksgöttinnen überlassen“ (Frenzel, Schloß- und Gartenanlagen [wie Anm. 62], S. 13, Paulus, Grosse Fontaine [wie Anm. 64], S. 91). 114 „Der Brunnen ziert den Garten, der Garten das Schloß, das Schloß die Stadt, die Städte das Land, aber alles wird von einem, von Christian Ernst, ausgeschmückt“; das in den beiden letzten Zeilen des Chronostichons enthaltene Jahreszahl 1706 benennt das
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Der „Hugenottenbrunnen“ von Westen, Fotografie um 1910, Stadtarchiv Erlangen.
___________ Jahr der Fertigstellung des Brunnens (Frenzel, Schloß- und Gartenanlagen [wie Anm. 62], S. 13 f., Paulus, Grosse Fontaine [wie Anm. 64], S. 92).
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Nach Westen, der Hauptansichtsseite, stellte die aus der Sicht der Hugenotten formulierte Inschrift in Richtung Frankreich und die Residenz des Sonnenkönigs, dabei den Namen des Markgrafen geistreich gegen den Ehrentitel des französischen Königs setzend, die von Christian Ernst gewährte Aufnahme in direktem Gegensatz zum Vorgehen Ludwigs XIV.: „REX CHRISTIANISSIMUS / NOBIS / AQUA TERRAQUE INTERDIXIT / NUNC / VONTEM CHRISTIANI / QUEM BIBIMUS / CORONAMUS.“115
Nach Süden, in Richtung auf die kaiserlichen Residenz Wien, rühmte die Inschrift nicht weniger anspruchsvoll die von Christian Ernst als evangelischer Reichsgeneralfeldmarschall für ganz Deutschland erbrachte Leistung und insbesondere noch einmal die Aufnahme der Hugenotten: „MENS / PRINCIPIS NOSTRI / UNIVERSAM PASCIT GERMANIAM / NUNC ETIAM GALLIS EXULIBUS / FONTES APERIT.“116
Während die bisherigen Inschriften Christian Ernst als absolutistischen Fürsten, Militär und christlich handelnden Landesherrn würdigten, wandte sich die letzte, nach Norden gerichtete Inschrift direkt an die Untertanen, indem sie dazu einlud, aus dem Wasser der Quelle zu trinken, also den Garten zu besuchen und hier die fürstliche Freigiebigkeit und Großmut zu genießen: „ADESTE CIVES / ALBA CUM VESTE VENITE / ET MANIBUS PURIS / SUMITE FONTIS AQUAM.“117
Die angesprochenen Bürger – angestammte Untertanen ebenso wie die Hugenotten – sind tatsächlich Wasser (das Symbol für den Quell allen Lebens) mit Krügen (Symbolen der Reinwaschung, Reinheit und Freundschaft) und Tassen schöpfend und trinkend in der – auch rangmäßig – untersten Ebene des Brunnens dargestellt. Damit verbindet die Darstellung in für die Zeit einzigartiger Weise reale und allegorische Elemente. Sie zeigt überdeutlich die Hierarchie des barocken Fürstenstaates, an dessen Spitze, Gott am nächsten, der Landesherr steht, dessen vom Ruhm überstrahlte segensreiche Regierung durch Flußgötter mit Füllhörnern, die Adler, vier große, jeweils von zwei (zusammen acht) Männern gehaltene Muschelschalen – Symbole für die Pilgerschaft –, Blumen und Früchte sowie eine Reihe mythologischer Gestalten symbolisiert wird. Diese sind, abgesehen von einem zurückgelehnten Bacchus, kaum genau___________ 115
„Der allerchristlichste König hat uns ausgeschlossen von Heimaterde und Wasser, jetzt zieren wird die Quelle Christians, aus der wir trinken“ (Frenzel, Schloß- und Gartenanlagen [wie Anm. 62], S. 14, Paulus, Grosse Fontaine [wie Anm. 64], S. 92 f.). 116 „Der Geist unseres Fürsten sorgt für ganz Deutschland. Jetzt öffnet er auch den verbannten Galliern die Quellen“ (Frenzel, Schloß- und Gartenanlagen [wie Anm. 62], S. 14, Paulus, Grosse Fontaine [wie Anm. 64], S. 93 f.). 117 „Seid anwesend ihr Bürger, kommt in weißer Kleidung und schöpft mit reinen Händen das Wasser der Quelle“ (Frenzel, Schloß- und Gartenanlagen [wie Anm. 62], S. 14, Paulus, Grosse Fontaine [wie Anm. 64], S. 94).
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er zu identifizieren. Da in dem anspruchsvollen Konzept des protestantischen Fürsten ein Weingott wenig motiviert erscheint, handelt es sich bei ihm vielleicht um eine Allegorie des Herbstes. Der bärtige Mann mit Mütze links von der Muschel könnte – dann entgegen der üblichen Reihenfolge angeordnet – der Winter sein, auch der Putto darüber trägt eine Mütze. Sind mit diesen Kopfbedeckungen aber Phrygische Mützen gemeint, könnten sie als Symbole der Freiheit zu deuten sein. Insgesamt sind die Figuren, die die auf quadratischem Grundriß eigentlich streng symmetrisch aufgebaute Grundstruktur des Brunnens (das Viereck gilt als Zeichen des von Menschen geschaffenen Ordnungsprinzips) überspielen und auflockern, heute wohl zu sehr durch Umwelteinflüsse geschädigt, als daß man in Ermangelung ausgeprägter Attribute oder erkennbarer Vorbilder das ursprüngliche Programm rekonstruieren könnte. Wie weit der von Christian Ernst erhobene Machtanspruch möglicherweise über das Gebiet und die Möglichkeiten des kleinen Fürstentums hinausgriff, deutet ein Hinweis von Möseneder an, der in Hinblick auf diese „ruhmreiche Antwort auf die Vertreibung calvinistischer Christen durch Ludwig XIV.“ auf zwei Denkmäler in Frankreich aufmerksam macht, auf die der Hugenottenbrunnen vielleicht nicht nur formal, sondern auch inhaltlich Bezug nehmen wollte. In einem Privatgarten stellte ein der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 errichtetes Denkmal „den Sonnenkönig als römischen Imperator in triumphaler Gebärde über der Personifikation der Häresie“ dar. 1686 wurde in Paris auf der Place des Victoires ein Denkmal aufgestellt, das Ludwig XIV. – in ähnlicher Pose wie Christian Ernst und die Fama in Erlangen – von der Victoria gekrönt zeigt.118 Angesichts der formalen Ähnlichkeiten und Vielfalt der Bezüge der durch die Hugenotten geschaffenen Verbindung kann die Frage, ob es sich beim Hugenottenbrunnen um ein Gegenprojekt zum Pariser Monument gehandelt haben könne, „als Antwort, die ‚statt Vorrang und Unterwerfung pathetisch zu rühmen, christliche Brüder willkommen heißt und Erquickung verspricht“119, in dem Sinne beantwortet werden, daß dort zumindest geistige Anregungen eingeholt wurden. Trifft die Beobachtung Möseneders zu, setzte sich Christian Ernst mit dem Programm des Hugenottenbrunnens in direkten Gegensatz zu Ludwig XIV. und dessen Machtanspruch! Nicht zuletzt durch die zahlreichen Putten wird der strenge militärische und machtpolitische Charakter des Brunnens (die Ausrichtung nach den Himmelsrichtung; die Zahl acht der die Muscheln tragenden Männer ist das Symbol unter anderem für Herrschaft) jedoch sehr stark abgemildert. Vordergründiges Thema ist somit insgesamt weniger der Krieg oder ein Machtanspruch, als der Frieden und der Segen der markgräflichen Regierung. Der Markgraf ist durch ___________ 118 119
Möseneder, Bezugsfelder (wie Anm. 80), S. 399 f. Ebd., S. 400.
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diesen allegorischen Apparat zwar von seinen Untertanen getrennt, erreicht sie aber durch das von oben herabströmende lebensspendende Element, das Wasser. Die Gestaltung des Berges durch antike Gottheiten und der Standort der Fama auf Wolken erlauben es auch, den Hugenottenbrunnen – wenn auch nicht nach dem Vorbild des „Parnasse François“ in Versailles120 – als Götterberg anzusehen, was bereits Alwin Schultz 1897 und Greißelmayer 2002 angenommen121, aber Paulus 1975 und Möseneder 2007 abgelehnt haben.122 „Über die Barockgärten versuchten die Fürsten ihre Legitimation zu unterstreichen. Mit Hilfe von klassischen Gestaltungsprinzipien und symbolischen Skulpturenfolgen versuchten sie dabei ihre Stellung von einer göttlichen Ordnung abzuleiten. Am bekanntesten ist dieser Versuch bei Ludwig XIV. in Versailles. [...] Man ließ sich in seiner Selbstdarstellung als ein Gott (z. B. als Apoll in Versailles oder in Schwetzingen) oder als Heros (z. B. als Herkules in Kassel) darstellen.“123 Natürlich haben sich Fürsten der Barockzeit bereits zu Lebzeiten realistische Standbilder errichten lassen, darunter der Große Kurfürst 1651/52 als Brunnenfigur124 (s. o.) und auch Ludwig XIV. Weder bei den genannten allegorischen Darstellungen noch bei den realen findet jedoch eine ähnliche Durchmischung beider Bereiche statt, wie beim Erlanger Hugenottenbrunnen, wo unterhalb der Götterzone zeitgenössisch gekleidete Menschen und oberhalb Markgraf Christian Ernst als Markgraf Christian Ernst zu sehen sind. Was zumal heute als weit übersteigertes Selbstgefühl gelten mag, übertraf bereits 1706 das, was andere Fürsten für angemessen hielten125, bei weitem. Eine mehr als nur formale Orientierung an Preußen wäre ihm völlig fremd gewesen. Zu recht urteilte daher Frenzel: „Mittelpunkt dieser großartigen, als Freiraum aufgefaßten Platzlösung ist der Hugenottenbrunnen, der durch die Wahl seines plastischen Programms und den zahlreichen Inschriften keine Lustgartenfontai___________ 120 Der in der älteren Literatur als Vorbild für den Hugenottenbrunnen genannte „Parnasse François“ entstand erst ab 1708 (Möseneder, Bezugsfelder [wie Anm. 80], S. 403 Anm. 33). 121 Vgl. Paulus, Grosse Fontaine (wie Anm. 64), S. 89, Volkmar Greiselmayer, Sachartikel Hugenottenbrunnen, in: Erlanger Stadtlexikon (wie Anm. 1), S. 378 f. 122 Paulus, Grosse Fontaine (wie Anm. 64), S. 89, Möseneder, Bezugsfelder (wie Anm. 80), S. 403 Anm. 34. 123 Beitmann, Barockgärten (wie Anm. 60), S. 9. 124 Bereits der Würzburger Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn und Württembergische Herzöge ließen sich zur Personalisierung ihres machtpolitischen Anspruchs als Brunnenfiguren darstellen; s. dazu den Beitrag von Stefan Benz, hier in diesem Band, S. 326. 125 So wurde etwa Prinz Eugen 1718 nicht hoch zu Roß gezeigt, sondern stehend in ritterlicher Rüstung, wie er, offenkundig aus Bescheidenheit, damit beschäftigt ist, die „Fama“ daran zu hindern, seinen Ruhm zu verkünden (Karl Müssel, Der Bayreuther Marktplatzengel. Zur Deutung und Würdigung des Famabrunnens (http://www.barnick. de/bt/lexikon/lexikon.php?q=lexikon&su=m (15.09.2008).
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ne im üblichen Sinne darstellt, sondern mehr den Charakter eines zur persönlichen Verherrlichung des Herrschers dienenden und auf geschichtliche Dokumentation angelegten Brunnendenkmals trägt.“126 Insgesamt stellt der Hugenottenbrunnen, bei dem der spröde Werkstoff bis an den Rand seiner Möglichkeiten ausgenutzt wurde, eine bedeutende künstlerische Leistung dar, die trotz der die Feinheiten der Oberflächengestaltung beeinträchtigenden Umwelteinflüsse und verschiedener Schäden immer noch wahrgenommen werden kann. Den Anspruch des fürstlichen Paares vervollständigte das Figurenprogramm auf der Attika des Schlosses, das „auf die herausragende militärische Stellung des Markgrafen“ verwies127, und das Reiterdenkmal, die höchste Form der Verherrlichung einer geschichtlichen Person in der Kunst des christlichen Abendlandes, das Christian Ernst als Türkensieger würdigte.128
IX. „Gartenkunst [...] aus geistigen Synthesen“ Als weitere Parallelen zu Versailles könnte man die offenkundige Unterwerfung der eigentlich für diesen Zweck ungeeigneten Natur sowie ihre Gestaltung nach den Vorstellungen des Fürstenpaares und die Verlegung der Residenz von der Hauptstadt in das neue Schloß ansehen.129 Jedoch waren nicht die Größe der Anlage oder formale Ähnlichkeiten entscheidend, sondern die dahinterstehende Idee der gleichermaßen künstlichen Gestaltung von Stadt und Natur um den fürstlichen Sitz als Mittelpunkt! Das Ergebnis war also nicht eine Kopie ___________ 126
Frenzel, Schloß- und Gartenanlagen (wie Anm. 62), S. 12. Rupprecht, barocke Stadt (wie Anm. 73), S. 52. 128 Die noch von Kluxen, Erlanger Schloßgarten (wie Anm. 62), S. 176, für möglich gehaltene Errichtung der Statue als Denkmal für den Vater der Markgräfin, den Großen Kurfürsten, und erst nachträgliche „Umwidmung“ auf Christian Ernst ist äußerst unwahrscheinlich, zunächst wegen des eigenen Anspruchs der deutlich zur Verherrlichung ihres Mannes, des Markgrafen Christian Ernst, ausgerichteten Residenz, zum anderen wegen des für den Großen Kurfürsten nicht zutreffenden Türkenmotivs. Nicht zuletzt wegen des Datums der Aufstellung des Denkmals 1711/12, bei dem Elisabeth Sophie noch die Schloßherrin war, beweist auch die Zuschreibung der Statue auf einer Zeichnung im Besitz des Historischen Vereins von Oberfranken an „Mgr. Georg Wilhelm“ (Abb. bei Habermann, Bayreuther Gartenkunst [wie Anm. 72], S. 48) als Irrtum. 129 Als weitere Parallele zwischen Christian Ernst und Ludwig XIV. könnte man sehen, daß beide zur Verwirklichung ihrer Ideale, vor allem für Kriegführung und Bauten, die Wirtschaft ihrer Länder mit dramatischen Folgen für die Bevölkerung ruinierten. Nach dem Tod des Markgrafen 1712 stand die Stimmung der Untertanen am Rand des Aufruhrs (Schödl, Dynastische Politik [wie Anm. 3], S. 154). In Frankreich führte die Teuerung besonders des Brotes zu Tumulten. Nachdem Ludwig XIV. 1715 gestorben war, zündeten die Bürger Freudenfeuer an und bewarfen seinen Sarg mit Steinen (Förster, Welt des Barock [wie Anm. 59], S. 213 f.). 127
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von Versailles130, zu dem die Unterschiede mindestens genauso groß sind wie die Gemeinsamkeiten, sondern etwas eigenes. Bei der Bewertung des Erlanger Gartens müßten auch die allgemeine Entwicklung der höfischen Gartenbaukunst im Deutschland des 17. Jahrhunderts und der frühe Zeitpunkt der Anlage ebenso berücksichtigt werden, wie das insbesondere bei der ja nicht statischen Gartenbaukunst auftretende Problem, das genaue Aussehen der wachsenden und häufig veränderten Anlagen zu einem exakten Zeitpunkt feststellen zu können.131 „In Deutschland begann die barocke Gartenkunst am Ende des 17. Jhrdts. (zeitlich verschoben durch den 30-jährigen Krieg und die zunächst drükkende Armut im Lande). [... Es wurden] kurzfristig Moden überall aufgegriffen wo sie sich boten und Kurzweil versprachen, in Deutschland besonders aus Venedig und aus Versailles.“132 Erlangen vergleichbare fürstliche Barockgärten nach französischem Geschmack gab es in Franken vorher nur in Gaibach133 und Seehof.134 „Die Gartenkunst als solche bestand dabei immer und überall aus geistigen Synthesen ...“.135 Bemerkenswerterweise kam von den genannten Arbeiten lediglich Gisela Schaller zu dem in aller Klarheit ausgesprochenen Ergebnis, daß der Erlanger Schloßgarten, trotz – oder gerade wegen – der zahlreichen, aus unterschiedlichsten Richtungen kommenden Vorbilder „zu einer eigenständigen, neuen Form findet.“136 Obwohl in den meisten kunsthistorischen Untersuchungen immer wieder die Einzigartigkeit von Teilen der Anlage angesprochen wurde, fiel das Gesamturteil der in Erlangen erbrachten Leistung trotzdem eher abschätzig aus. Als fatal erweist sich die von Beitmann mehrfach kritisierte Methode vieler Forscher, zum Vergleich möglichst hochrangige Vorbilder heranzuziehen, gegenüber denen das untersuchte Beispiel deutlich abfällt.137 Vielleicht spielt auch eine Rolle, daß der Erlanger Garten bereits seit 1786 in einen englischen Garten umgewandelt und Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem großen Teil von Gebäuden der Universität überbaut worden war, und ___________ 130 Dies gilt nicht zuletzt für die gigantischen Größenunterschiede: das Schloß von Versailles übertrifft mit einer Breite von 580 m die Länge der Erlanger Neustadt von 1686 um fast das Doppelte und das Erlanger Schloß fast um das Sechsfache. 131 Das Problem wird verschärft, weil viele Barockgärten erst im 19. Jahrhundert nach dem Vorbild von Versailles rekonstruiert, d. h. neu angelegt wurden; vgl. dazu Beitmann, Barockgärten (wie Anm. 60), S. 1. 132 Ebd., S. 8. 133 Anlage seit ca. 1694 (Georg Dehio, Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler, Bayern I: Franken, bearb. von Tilmann Breuer/Friedrich Oswald/Friedrich Piel/Wilhelm Schwemmer u. a. Fachkollegen, München 1979, S. 297). 134 Anlage seit 1698 (Dehio [wie Anm. 133], S. 770). 135 Beitmann, Barockgärten (wie Anm. 60), S. 4. 136 Schaller, Schloßgarten (wie Anm. 62), S. 125. 137 Beitmann, Barockgärten (wie Anm. 60), S. 1, S. 3, S. 5, S. 11.
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daß das Schloß durch das nach dem Brand von 1814 zu niedrige neue Dach viel von seinem einst repräsentativen Aussehen verloren hat. Ganz offenkundig war und ist auch die negative Einschätzung von Markgraf Christian Ernst und die Vorstellung des Fürstentums als preußische Provinz zu prägend, als daß man den weit über die preußischen Vorbilder hinausgehenden Ansatz und das eigentlich Besondere an der Erlanger Anlage hätte erkennen können.
X. Erlangen unter Markgraf Georg Wilhelm Dem in der Forschung verbreiteten Bild von Elisabeth Sophie und Christian Ernst zufolge überforderte der Versuch, Erlangen zur (Neben)Residenz auszubauen, die schwachen Kräfte des Landes und nahm daher ein ebenso vorhersehbares wie verdientes Ende. Am Heiligen Abend 1709 eröffneten die Landschaftsdeputierten dem Markgrafen im Erlanger Schloß den Schuldenstand des Staates in Höhe von 1.030.633 Gulden.138 Trotz aller Gegenmaßnahmen stieg das Staatsdefizit bis November 1711 auf 2 Millionen Gulden bei einer Neuverschuldung von jährlich 350.000 Gulden.139 Am 10. Mai 1712 endete mit dem Tod Christian Ernsts auch die Macht seiner Gemahlin, die auf Druck des nunmehr an die Regierung gekommenen Stiefsohns Georg Wilhelm umgehend auf alle Ansprüche aus Eheverträgen und Schenkungen verzichten mußte und bereits am 2. Juni 1714 das Land verließ. Jedoch ist auch dieses naheliegende Bild mit Vorsicht zu interpretieren. Denn Georg Wilhelm, der militärisch und auch als Bauherr140 in die Fußstapfen seines Vaters trat141, erwies sich rasch als noch prachtliebender und verschwenderischer als seine ihm verhaßte Stiefmutter, nachdem er zu Lebzeiten seines Vaters noch um Eindämmung der Staatsausgaben bemüht gewesen war und Elisabeth Sophie als Hauptschuldige an diesem „Schulden-Labyrinth“ bezeichnet hatte.142 Sein Schicksal aber ist es, in Ermangelung von Kriegstaten oder von ihm errichteter glänzender Bauten in der Geschichte Erlangens und des ___________ 138
Schödl, Dynastische Politik (wie Anm. 3), S. 154 f. Ebd., S. 163. 140 Noch als Erbprinz gründete Georg Wilhelm bei Bayreuth 1702 das nach ihm benannte „St. Georgen am See“ als kleine, streng symmetrisch angelegte barocke Planstadt. 141 Georg Wilhelm übernahm 1702 das Kreis-Kürassierregiment seines Vaters, wurde 1701 kaiserlicher Generalwachtmeister und 1704 Feldmarschalleutnant des Kreises, nach seinem Regierungsantritt 1712 auch Kreisoberst. Er übernahm auch die beiden kaiserlichen Regimenter seines Vaters, wurde durch seinen Onkel, August den Starken, königlich polnischer General der Kavallerie, 1712 oder 1713 kaiserlicher Feldmarschall und 1713 Reichsgeneral der Kavallerie (Willax, Erbfolgekrieg [wie Anm. 32], S. 164 Anm. 646). 142 Schödl, Dynastische Politik (wie Anm. 3), S. 158 ff., S. 164. 139
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Markgraftums Bayreuth heute fast vergessen zu sein. Unter ihm erlebte Erlangen aber eine Fortsetzung der Residenzzeit bis zum frühen Tod des Markgrafen 1726. Zwar wurde der zu prachtvolle und daher zu kostspielige Garten vereinfacht143, jedoch der höfische Bereich 1715-1722 durch einen großen Gebäudekomplex mit Markgrafentheater (1715/19), Redoutensaal (1718) und fürstlichem Marstall (1721/22) erweitert. Wiederholt war Erlangen Schauplatz glänzender Karnevalsumzüge. Nicht weniger wichtig für das Erscheinungsbild der Stadt erwies sich ihr Ausbau, der den Zusammenhang von Planstadt, Schloß und Garten noch einmal sichtbar verstärkte. Durch die Erweiterung bis zur östlichen Grenze des Schloßgartens um 1720, für die, was den Zuzug von Bauwilligen anging, noch gar kein Bedarf gewesen wäre, wurde der riesige Garten in die nach ähnlichen strukturellen Gesichtspunkten angelegte Stadt hereingeholt und mit ihr harmonisch verschmolzen. Auch diese Lösung ist in der Geschichte der europäischen Planstädte ziemlich einzigartig.144 Daß diese ästhetische Interpretation der Verhältnisse nicht nur eine heutige Sicht darstellt, zeigt Johann Ernst Basilius Wiedeburg, der 1759 in seiner „Nachricht von dem gegenwärtigen Zustande der Akademie Erlangen“ schrieb: „Es ist ein besonders reizender und angenehmer Anblick, wenn man auf die Mitte des Markts stehet, von dar man gerade hinaus, hinunter zum Nürnberger Tor siehet, rückwärts die lange Strasse nach der Altstadt, und in der Mitte quer über den Marckt hinüber, mitten durch das [offene] Schloß[tor], durch die prächtigste Fontaine in den Garten, welche innerhalb eine Öffnung hat, gegen das an dem Ende des Gartens von lebendigen Alleen und Bäumen angelegte Theater schauet. Dieser Garten hat etwas überaus prächtiges an sich, und es ist nicht allein derselbige eine Zierde von Erlangen [...].“145
XI. Madrid, Paris, Nürnberg, Würzburg, Erlangen und andere Städte Die Orientierung an den großen Vorbildern und die in Erlangen verwirklichte Idee konnten im Stadtbild selbst nur ungenügend wahrgenommen bzw. umgesetzt werden. Als ideal für ihre Darstellung und Verbreitung erwiesen sich daher die Möglichkeiten der graphischen Kunst. So stellte sie Paul Decker der Ältere in seinem berühmten Architekturtraktat „der fürstliche Baumeister“ meisterhaft dar, indem er die tatsächliche geographische Situation mit rein künst___________ 143
Schaller, Schloßgarten (wie Anm. 62), S. 128 ff. Eine ähnliche, auch am Vorbild von Versailles orientierte Entwicklung, bei der der Schloßgarten innerhalb der starken Bastionärbefestigung zu liegen kam, findet sich in Rastatt. 145 Wiedeburg, S. 20. 144
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lerischen Mitteln ins Gegenteil verkehrte und aus der Längserstreckung der Stadt deren Schmalseite und aus dieser die Längsachse machte; aus dem real steilen Ziegeldach wurde ein Flachdach, ähnlich wie in Versailles. Wenngleich diese Darstellung darüber hinaus noch stark überhöht wurde, zeigte sie doch, daß Erlangen vom Prinzip her einem Ideal der Zeit entsprach. Auf diesem Weg wurde entsprechend der Verbreitung des 1711 und 1716 in zwei Teilbänden gedruckten „Fürstlichen Baumeisters“, der als „die wichtigste Architekturpublikation des deutschen Barock überhaupt“ gilt146, in ganz Europa ein wenn auch stark idealisiertes Bild Erlangens bekannt, bei dem es nicht in erster Linie auf topographische „Richtigkeit“ ankam. Hier muß auf Bernhard Rupprecht verwiesen werden, der nach einer Untersuchung der Deckerschen Entwürfe auf ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit bzw. auf ihre Realisierbarkeit hin auf das Theatralische der Schloßversion aufmerksam machte und zu dem Ergebnis kam, daß es sich bei ihnen in Wirklichkeit um eine Inszenierung, um einen Theaterprospekt gehandelt habe.147 Von der Beliebtheit dieses Motivs zeugt die Tatsache, daß es bis um 1770 mehrfach als Guckkastenblatt nachgestochen wurde. Auf diese Weise verbreitete sich das Bild Erlangens und des Erlanger Schlosses auch über die Jahrmärkte beim einfachen Volk. Daß Erlangen einem Ideal der Zeit nahegekommen sein muß und allen Erwartungen und Ansprüchen an eine fürstliche Residenz genügte, beweisen auch die beiden 1721, und damit ebenfalls noch in der Phase als Residenzstadt entstandenen Homannschen Pläne148, von denen der Plan der Neustadt zusammen mit Ansichten von Madrid, Gibraltar, Paris, Nürnberg, Würzburg und anderen bedeutenden europäischen Städten und Festungen noch 1741 im zweiten Teil des vom Nürnberger Homann-Verlag veröffentlichten „großen Atlas“ enthalten ist.149 Wenn Helmut Neuhaus recht mit der Annahme hat, daß „in der Frühen Neuzeit der Streit um den richtigen Platz kein ‚Gerangel um Sitzplätze‘ war, um besser sehen und hören zu können, sondern es darum ging, ‚dem eigenen ___________ 146
Barbara Kutscher, Paul Deckers „Fürstlicher Baumeister“ (1711/16) (Europäische Hochschulschriften, Reihe 28 Kunstgeschichte, Bd. 241), Frankfurt am Main 1995, S. 13. Vgl. Andreas Jakob, Artikel Fürstlicher Baumeister, in: Erlanger Stadtlexikon (wie Anm. 1), S. 294 f. 147 Bernhard Rupprecht, Das Erlanger Schloß in den Darstellungen Paul Deckers d. Ä. im „Fürstlichen Baumeister“, in: Karl Möseneder/Gosbert Schüßler (Hg.), „Bedeutung in den Bildern“. Festschrift für Jörg Traeger zum 60. Geburtstag, Regensburg 2002, S. 255-271, hier S. 269. 148 Andreas Jakob, Erlanger Stadtansichten. Vom Ruf Erlangens, „eine der hübschesten Städte Deutschlands zu seyn ...“, in: Andreas Jakob/Christina Hofmann-Randall (Hg.), Erlanger Stadtansichten. Zeichnungen, Gemälde und Graphiken aus sieben Jahrhunderten (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Erlangen, Nr. 1), Nürnberg 2003, S. 1249, hier S. 16. 149 Ebd., S. 26 f.
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Rang gemäß und im Verhältnis zu andern adäquat‘ gesehen zu werden“150, haben Christian Ernst und Elisabeth Sophie ihr Ziel vollkommen erreicht.
Idealvedoute des Erlanger Schlosses von Osten (Guckkastenblatt), nach einem Stich von Paul Decker, um 1750, Stadtarchiv Erlangen.
Deutlicher als in der Realität wurde die Situation des Schloßplatzes und der fürstliche Anspruch in zwei 1713 und um 1715 entstandenen Kupferstichen von Paul Decker und Bernhard Anckermann, die den Platz – und damit unter besonderer Betonung des Bezuges auf Versailles151 – durch ein in Wirklichkeit aber nie vorhandenes mächtiges, geschwungenes Gitter unterteilt zeigen, und das tatsächlich aber im Schloßgarten aufgestellte Reiterstandbild Christian Ernsts in der Platzmitte.
___________ 150 151
Zit. nach Schödl, Dynastische Politik (wie Anm. 3), S, 27. Engel, Residenzplätze (wie Anm. 94), S. 232.
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Idealvedute des Erlanger Schlosses von Westen, Kupferstich nach einem Entwurf von Paul Decker, Augsburg 1713, Stadtarchiv Erlangen.
XII. Erlangen als sechste Landeshauptstadt Zwar war, wie die Verlegung der markgräflichen Residenz von Kulmbach nach Bayreuth im Jahre 1603 zeigt, auch in den vergleichsweise statischen Strukturen der absolutistischen Staaten die Änderung alter Ordnungen möglich. Selbst wenn eine erneute Verlagerung nach Erlangen und die Schaffung eines Herrschaftszentrums im Unterland nur 100 Jahre später sehr unwahrscheinlich klingt, wäre sie doch nicht vollständig ausgeschlossen gewesen, wie auch der Plan von Elisabeth Sophie zeigt, im Falle der Geburt eines Sohnes dort für ihn eine souveräne Herrschaft zu errichten.152 Wie die Entwicklung verlaufen wäre, hätten die Markgrafen Christian Ernst bzw. Georg Wilhelm noch einige Jahre länger regiert, bleibt der Spekulation überlassen. Mit dem Regierungsantritt des pietistischen und sparsamen Markgrafen Georg Friedrich Karl (1688-1735) 1726 war für Erlangen die Phase höfischer Prachtentfaltung erst einmal zu Ende. Die Stadt profitierte aber auch so ganz enorm von den fürstlichen Träumen von Macht und fortwährendem Nachruhm. Für wenige Jahre war es der Vorort ___________ 152
Ebd., S. 221.
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absolutistischer Idealplanungen in Deutschland. Über die verschiedenen Kupferstiche wurde es in ganz Europa als fürstliche Residenz bekannt. Konkreter war der reale Nutzen, den Erlangen aus den flankierenden Maßnahmen zog, mit denen Christian Ernst die Residenz aufwertete. In Hinblick auf das Alter der Neustadt Erlangen von gerade einmal 22 Jahren war es ein unerhörter Erfolg, wenn sie zusammen mit der sekundären Altstadt Erlangen am 3. März 1708 zum Sitz einer Amtshauptmannschaft erhoben und zur sechsten Landeshauptstadt ernannt wurde. Während der glänzendere, seit 1711 in markgräflichen Dekreten geführte Titel einer „Hochfürstlichen Residenzstadt“ und der jedoch nur inoffizielle Rang als – nach Bayreuth – zweiter Residenzstadt ohne weitere Konsequenzen blieb, brachte die Erhebung der damals modernsten und schon zweitgrößten Stadt des Fürstentums zur sechsten Landeshauptstadt eine Reihe wichtiger Rechte. Neu- und Altstadt Erlangen folgten hierarchisch nach Bayreuth, Kulmbach, Hof, Wunsiedel und Neustadt an der Aisch, erhielten das allerdings zu diesem Zeitpunkt schon bedeutungslose Recht, mit ihnen paritätisch an den Landtagen teilzunehmen und deren sonstige Privilegien zu genießen, sowie einen nicht meßbaren, aber wohl erheblichen Zuwachs an Renommee. Zahlreiche Adelsfamilien ließen sich in der Stadt nieder, die mehrfach Sitz der Verwaltung des Ritterkantons Steigerwald war. 1724, lediglich 21 Jahre nach der Errichtung einer lutherischen Pfarrei, wurde die Pfarrei Neustadt Erlangen zum Sitz einer Superintendentur, aus der 1810 das heutige Dekanat hervorging. Erlangen löste sich binnen weniger Jahre aus der seit dem Mittelalter bestehenden Abhängigkeit von Forchheim bzw. Baiersdorf und wurde selbst regionales Zentrum. 1743 wurde es Sitz der Landesuniversität. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts erlebte Erlangen einen anhaltenden Bauboom und überflügelte viele andere Städte. Beim Übergang der Markgrafschaften Ansbach und Bayreuth an das Königreich Preußen 1791/92 war es das wichtigste Industriezentrum des Fürstentums mit einem Anteil von 24 Prozent an den Erzeugnissen aller Fabriken und Manufakturen des Landes und 31 Prozent am Export. Zwar war die Doppelstadt Erlangen, die 1792 8.178 und 1812 8.592 Einwohner hatte, um das Jahr 1800 deutlich kleiner als Nürnberg (1806 25.176), Bamberg (1811/12: 18.143), Würzburg (1805: 16.422), Ansbach (1811/12: 11.924), Bayreuth (1811/12: 12.198) und Fürth (1803 12.611), jedoch bedeutend größer als Forchheim (1811/12: 2.972), Baiersdorf (1811/12: 1.408), Herzogenaurach (1811/12: 1.383) und Höchstadt an der Aisch (1811/12: 1.504).153 ___________ 153 Andreas Jakob, „... das volle Glück des Friedens ...“. Die gefährlichen Zeiten beim Übergang Erlangens von Preußen an Bayern, in: Michael Diefenbacher/Gerhard Rechter (Hg.), Vom Adler zum Löwen. Die Region Nürnberg wird bayerisch 1775-1835 (Ausstellungskatalog des Stadtarchivs Nürnberg Nr. 17), Nürnberg 2006, S. 281-299,
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Die Neugründung von 1686 machte also dank der Macht-, Kunst- und Realpolitik der Landesherren eine für die Zeit atemberaubende Karriere, über die der heute gerne abschätzig beurteilte Titel als „lediglich“ sechste Hauptstadt nicht hinwegtäuschen sollte. Bis 1817 fungierte Erlangen wiederholt als Witwenresidenz. Zum Segen wurden Schloß und Schloßgarten für die Universität, die nach dem Tod der letzten Markgräfin-Witwe am 22. Dezember 1817 die höfischen Liegenschaften erhielt, die sie großenteils heute noch nutzt. Für die Stadt blieb ein Titel ohne weitere Mittel sowie das große dreischildige Stadtwappen, das mit Brandenburger und Preußischem Adler sowie dem Böhmischen Löwen wichtige Bezugspunkte der Erlanger Geschichte enthält und an die große Zeit der Barockstadt erinnert, in der von hier aus für einen historischen Moment wahrhaft fürstlicher Glanz nach ganz Europa ausstrahlte.
___________ hier S. 287. – Alle Einwohnerzahlen sind entnommen aus: Erich Keyser/Heinz Stoob (Hg.): Bayerisches Städtebuch, Teil 1, Stuttgart usw. 1971.
Reunionspolitische Konzeptionen im Kontext der reichspolitischen Entwicklung 1539/1540 Zur Vorgeschichte des Hagenauer Konventes vom Sommer 1540
Von Albrecht P. Luttenberger, Regensburg In der reichspolitischen Auseinandersetzung um das Verfahren, das zur Lösung des Religionsproblems zu wählen war, war die Frage nach der letztlich maßgeblichen und entscheidungsberechtigten religiös-kirchlichen Autorität und nach der Verantwortung und Kompetenz der politischen Führung von zentraler Bedeutung. Wiederholt hatte man neben dem Generalkonzil ein Nationalkonzil bzw. eine Nationalversammlung ins Auge gefaßt. Diese Beschlußlage blieb allerdings aus Gründen, die im gegebenen Zusammenhang nicht zu erörtern sind, bis in die zweite Hälfte der 1530er Jahre ohne praktische Konsequenz. Die Erprobung der Alternative, Reunionsbemühungen auf einem Reichstag zu organisieren, scheiterte 1530 in Augsburg. In Nizza hatte sich dann Karl V. im Sommer 1538, angeregt durch eine von Kurfürst Joachim von Brandenburg inspirierte Initiative König Ferdinands, unter dem Eindruck der gegebenen Umstände, die ein baldiges Generalkonzil nicht erwarten ließen, mit Konsens des Papstes für einen konzilsunabhängigen Reunionsversuch entschieden, ohne freilich dessen Modalitäten, was den Teilnehmerkreis, die Verfahrensweise, die Entscheidungskriterien etc. betraf, im Einzelnen festzulegen. Dies hatte man auf Vorschlag des Erzbischofs von Lund, der für Karl V. die Verhandlungen führte, im Frankfurter Anstand vom 19. April 1539 nachgeholt, der vorsah, daß auf einem ständischen Konvent, der auf Einladung des Kaisers Anfang August 1539 in Nürnberg zusammentreten sollte, ein Ausschuß kompetenter und verständigungsbereiter Theologen beider Konfessionen das Reunionsprojekt in Angriff nehmen sollte. Der Kaiser und König Ferdinand sollten ebenfalls auf dem Konvent vertreten sein. Die Mitwirkung des Papstes lehnten die Protestierenden vehement ab. Die vermittelnden Kurfürsten von der Pfalz und von Brandenburg wollten die Entscheidung darüber dem Kaiser überlassen. Die Diskussion über die Umsetzung dieses Modells und damit zusammenhängend über die grundsätzliche Frage nach der dazu erforderlichen ordnungsgemäßen religionspolitischen Kompetenz führte im Spätjahr 1539 – nicht zuletzt unter dem Einfluß der päpstlichen Nuntien in Wien, die sich einer Diskreditierung des Papsttums ent-
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schieden widersetzten – zur Stagnation der kaiserlichen Religionspolitik. Die Entscheidung König Ferdinands, den Verhandlungsauftrag, den der Erzbischof von Lund zur Fortsetzung der Verständigungspolitik aus Spanien erneut mitgebracht hatte, nicht zur Durchführung kommen zu lassen, um die persönliche Einflußnahme des Kaisers auf die geplanten Religionsverhandlungen zu ermöglichen und die Mitwirkung des Papstes sicherzustellen, barg nicht unerhebliche Risiken. Denn sie unterschätzte das mittlerweile geschärfte Problembewußtsein führender Reichsstände und verkannte die Gefahr, daß die Glaubwürdigkeit der kaiserlichen Politik in Mißkredit geriet und ein dadurch verursachtes Führungsdefizit zur Entwicklung religionspolitischer Alternativen ermutigen konnte. Die kaiserliche Weigerung, den Frankfurter Anstand zu ratifizieren, die Furcht mancher geistlichen Stände vor einer Mediatisierung nach dem Beispiel Utrechts und Lüttichs, die Gerüchte über eine bevorstehende Abmachung zwischen Kaiser und Papst über einen Religionskrieg in Deutschland, die zunehmenden Spannungen im Konflikt Karls V. mit Jülich um Geldern, die mißtrauischen Mutmaßungen über die kaiserlichen Rüstungen, die nicht gegen das Reich gerichtet waren, sondern in Wahrheit zur Stabilisierung der Niederlande und zur Unterwerfung Gents betrieben wurden, und die Interpretation der undurchsichtigen Untätigkeit des Kaisers als Desinteresse am Reichsfrieden ließen im Herbst 1539 eine Atmosphäre entstehen, in der die Warnung vor einer hemmungslosen habsburgischen Expansion, vor der Unterdrückung der deutschen Libertät und einem militärisch gestützten religionspolitischen Diktat brisante Resonanz finden konnte1. Der Verdacht, die kaiserliche Politik lege es darauf an, Beratungen der Reichsstände über die anstehende religionspolitische Problematik und damit deren Lösung zu verhindern, weckte bzw. bestärkte vor allem auf protestantischer Seite das Interesse an der Einberufung eines Reichstages oder einer sonstigen Veranstaltung, die geeignet sein konnte, ohne den Kaiser den Prozeß der ständischen Meinungsbildung einzuleiten und voranzubringen.2 Die Option für die zweite Variante warf die Frage auf, auf wel___________ 1 Zur politischen Stimmung im Reich vgl. Max Lenz (Hg.), Briefwechsel Landgraf Philipp’s des Grossmüthigen von Hessen mit Bucer, 3 Bde., Leipzig 1880-1891 (Publicationen aus den K. Preussischen Staatsarchiven 5, 28, 47), Bd. I, S. 395, S. 397, S. 399402. Zur religionspolitischen Entwicklung 1538/1539 und zur Politik Karls V. und Ferdinands vgl. Albrecht P. Luttenberger, König Ferdinand I., der Frankfurter Anstand von 1539 und die Reunionspolitik Karls V., in: Friedrich Edelmayer u. a. (Hg.), Plus ultra. Die Welt der Neuzeit, Festschrift für Alfred Kohler zum 65. Geburtstag, Münster 2008, S. 53-84. 2 Vgl. die fünf Geheimen von Ulm an Landgraf Philipp von Hessen, 18. November 1539, Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, Beilage III, Documente Nr. 3, S. 434436, hier S. 435; das Memorial Pfalzgraf Ottheinrichs für eine Unterredung mit Herzog Wilhelm von Bayern, ebd. Nr. 6, S. 446-448, hier S. 447; Martin Bucer an Landgraf Philipp von Hessen, Straßburg, 14. Januar 1540, Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, Nr. 43, S. 125-130, hier S. 128-130; ders. an dens., 17. März 1540, ebd. Nr. 57, S. 151159, hier S. 152-153 und S. 156, Anm. 8, S. 156-158, hier S. 157-158 und Pfalzgraf Ott-
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che Weise die reichspolitische Mitverantwortung der Reichsstände ohne Kooperation mit dem Kaiser im legalen Rahmen der Reichsordnung mit Aussicht auf Erfolg zur Geltung gebracht werden konnte. Eben darauf konzentrierten einige führende Reichsstände ihre Überlegungen seit dem Spätjahr 1539. Die Analyse dieser Diskussion verspricht Aufschluß über die Variabilität reichspolitischer Handlungsformen, ihre Reichweite und deren Grenzen, mithin auch ganz allgemein über das verfügbare Handlungs- und Lösungspotential, das in der Auseinandersetzung um das Glaubensproblem genutzt werden konnte. Mit dem Verdacht, daß der Kaiser seiner Verantwortung für das Reich nicht gerecht werde, ließ sich im Spätjahr 1539 die Notwendigkeit einer reichspolitischen Initiative der Stände plausibel begründen, mithin auch das Plädoyer für den Versuch, durch eine religions- und friedenspolitische Übereinkunft zwischen den gemäßigten altgläubigen und den protestantischen Ständen die Religionsfrage politisch zu neutralisieren und zugleich einen festen Zusammenhalt herzustellen, um die befürchtete habsburgische Repressionsoffensive erfolgreich abzuwehren3. Einen entsprechenden konkreten Plan ließ Kurfürst Johann von Trier am 7. November 1539 unter Bezug auf die Warnung Jülichs vor einem von Kaiser und Papst vorbereiteten Religionskrieg in Deutschland dem hessischen Landgrafen vortragen. Demnach sollten führende Reichsstände die Initiative ergreifen, um unter sich die religiöse Einheit wiederherzustellen. Falls nur eine Teilkonkordie gelang, sollten die noch strittigen Punkte vertagt und ein Bund abgeschlossen werden mit dem Zweck, daß die Mitglieder in politischen Fragen „und ins glaubens sachen gleich als wol einander vor gewalt handthabten, als ob sie einerlei glaubens weren“. Wenn der Kaiser das Ergebnis des Reunionsversuches annehme, so sei dies zu begrüßen. Lehne er ab, so sei man durch den Bund gegen einen Religionskrieg gesichert. Der Trierer Kurfürst, der sich im übrigen zugleich von der Politik und der Konzeption des Nürnberger Bundes von 1538 distanzierte, hoffte, neben den Protestierenden Köln, Pfalz, Würzburg und das Mainzer Domkapitel für seinen Plan gewinnen zu können4. ___________ heinrich an Herzog Wilhelm von Bayern, Neuburg, 4. Januar 1540, HStA München, KBÄA 2094, fol. 6r-6v (Ausf.): „[...] Und wiewol wir verhofftn, so ain reichstag gehaltn, es wurde den sachen rat und in sunderhait frid zu schaffn sein, so wissen wir doch nit, wie ksl. Mt. zu haltung desselbn bewegt werden mocht, es geschehe dann ain anhaltung von vilen stendn des reichs [...]“. 3 Diese Strategie war schon im Spätjahr 1538 von Jülich angeregt, auch von den schmalkaldischen Verbündeten 1539 gelegentlich diskutiert worden, vgl. Georg Mentz, Johann Friedrich der Großmütige, 3 Bde., Jena 1903-1908, Bd. II, S. 171, S. 180-182 und S. 198-200. 4 Vgl. die Aufzeichnung über die Werbung des Trierer Kanzlers bei Landgraf Philipp von Hessen am 7. November 1539, Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, Beilage III, Dokumente Nr. 1, S. 431; Vgl. ergänzend den Bericht des Landgrafen an die Dreizehn von Straßburg, Kassel, 7. November 1539, Otto Winckelmann (Hg.), Politische Correspondenz der Stadt Straßburg im Zeitalter der Reformation Bd. II, Heidelberg 1887,
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Die schmalkaldischen Verbündeten zeigten sich, nachdem bereits zuvor die von Landgraf Philipp umgehend informierten Städte Straßburg, Augsburg und Ulm positiv reagiert hatten5, trotz mancher Vorbehalte des ebenfalls von Jülich angesprochenen sächsischen Kurfürsten geneigt, sich auf das Trierer Projekt einzulassen und die Veranstaltung eines Fürstenkonventes anzustreben, der ihren religions- und reichspolitischen Anliegen Rechnung tragen, d. h. für eine allgemeine Kirchenreform nach den Prinzipien der neugläubigen Theologie optieren bzw. zumindest den interkonfessionellen Frieden sichern und verbürgen sollte6. Sie vergaßen darüber allerdings auch nicht die Aufforderung des Erzbischofs von Lund, sich auf die Fortführung der kaiserlichen Verständigungspolitik einzustellen und entsprechende Vorbereitungen zu treffen. Diesem Zweck dienten nicht nur die Gutachten, die die kursächsischen und die hessischen Theologen im Auftrag ihrer Obrigkeiten über den protestantischen Spielraum bei Reunionsverhandlungen ausarbeiteten, sondern auch die in Arnstadt beschlossene Gesandtschaft, die dem Kaiser das Friedensinteresse der protestantischen Stände und ihre Bereitschaft zum Religionsgespräch nach der in Frankfurt vereinbarten Konzeption erläutern und klären sollte, ob von seiner Seite eine konstruktive Reichspolitik im protestantischen Sinne erwartet werden durfte7. Parallel dazu setzte Landgraf Philipp seine bereits im November begonnenen Bemühungen fort, das Trierer Projekt, das auf die reichspolitische Isolation des Kaisers und des Nürnberger Bundes zielte, zur Formierung einer militanten überkonfessionellen, antihabsburgischen Front auszuweiten, die sich einer skrupellosen, für das Reich und die ständische Libertät ruinösen kaiserlichen ___________ Nr. 651, S. 643-645. Um die gleiche Zeit wies der bayerische Gesandte Johann Weissenfelder, um die Notwendigkeit einer konsequent antiprotestantischen Politik und der Stärkung des Nürnberger Bundes zu begründen, in Wien König Ferdinand u. a. auf die Gefahr hin, daß sich die gemäßigten Altgläubigen mit den Protestierenden verständigten, vgl. das dem König eingereichte Memorandum Weissenfelders, 16. November 1539, Acta Reformationis Catholicae Ecclesiae Germaniae concernentia saeculi XVI. Die Reformverhandlungen des deutschen Episkopats von 1520 bis 1570, hg. von Georg Pfeilschifter, Bd. III, Regensburg 1968 (künftig: ARC), Nr. 42, S. 62-67, hier S. 63. 5 Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, S. 404-405. 6 Zur entsprechenden Beschlußfassung auf dem schmalkaldischen Bundestag in Arnstadt vgl. Mentz, Johann Friedrich (wie Anm. 3), Bd. II, S. 201-202; Zur protestantischen Konzeption für die postulierte Kirchenreform im Reich vgl. besonders Martin Bucer an Landgraf Philipp von Hessen, 25. März 1540, Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, Nr. 61, S. 162-165, hier S. 162-163; Vgl. auch Dr. Gereon Sailer an Landgraf Philipp von Hessen, Augsburg, 17. November 1539, Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, Beilage III, Documente Nr. 2, S. 432-434, hier S. 432-433. 7 Mentz, Johann Friedrich (wie Anm. 3), Bd. II, S. 212-215; Instruktion für die Gesandtschaft der Schmalkaldener zum Kaiser, 20. Januar 1540, Klaus Ganzer/Karl-Heinz zur Mühlen (Hg.), Akten der deutschen Religionsgespräche im 16. Jahrhundert, Bd. I: Das Hagenauer Religionsgespräch (1540), 2 Teilbde., Göttingen 2000, Bd. I,2, Nr. 388, S. 1062-1069 und Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen an Georg von der Planitz, Kassel, 2. Februar 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 290, Nr. 120, Vol. 1, fol. 26r-30v.
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Machtpolitik in den Weg stellen und an der auch Bayern sich beteiligen sollte8. Daß sich Pfalzgraf Ottheinrich von dem Phantom der angeblich bevorstehenden kaiserlichen Tyrannis durchaus stark beeindrucken ließ und den Mittelsmann zu Bayern abgab, besagte nicht allzu viel, weil Herzog Wilhelm sich hütete, auf die hessische Initiative einzugehen9. Zwar betonte Leonhard von Eck im Rahmen der Sondierungsgespräche, die Dr. Gereon Sailer in hessischem Auftrag mit ihm führte, wiederholt das bayerische Interesse an der Verteidigung der ständischen Libertät gegen die Ambitionen des Hauses Habsburg, übte aber zugleich auch massive Kritik am Protestantismus und seiner Entwicklung und sprach sich unmißverständlich gegen reunionspolitische Bestrebungen aus10. Trotz aller stets latenten antihabsburgischen Vorbehalte setzte Bayern damals auf die Festigung des Nürnberger Bundes unter Führung des Kaisers und Ferdinands in Kooperation mit dem Papst, um der protestantischen Expansion entgegenzuwirken11, eine Konzeption, die mit den friedens- und integrationspolitischen Intentionen des Trierer Projektes nicht kompatibel war. Ecks Einlassungen und taktische Winkelzüge hatten offenbar den Sinn, Aufschluß zu gewinnen über die politischen Pläne der Protestierenden bzw. über ihr Meinungsbild und die grundsätzliche Abneigung Bayerns gegen eine Politik der Verständigung im religiösen Kompromiß zu signalisieren. Eben für eine solche Politik plädierte Georg von Karlowitz, der den auf dem Leipziger Religionsgespräch Anfang Januar zwischen Bucer und Witzel ausgehandelten Reunionsentwurf kannte und Ende Dezember 1539 mit dem Vorschlag hervortrat, noch vor Ankunft des Kaisers, von dem er annahm, daß er sich dem päpstlichen Einfluß nicht würde entziehen können, in ständischer Regie – auf einem vom Mainzer Kurfürsten einberufenen Fürstenkonvent – reli___________ 8 Landgraf Philipp von Hessen an Leonhard von Eck, Homberg, 1. Januar 1540, HStA München, KBÄA 2094, fol. 1r-5r (Ausf.) und das Memorial Pfalzgraf Ottheinrichs für eine Unterredung mit Herzog Wilhelm von Bayern, o. D., Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Beilage III, Documente Nr. 6, S. 446-448. 9 Vgl. Pfalzgraf Ottheinrich an Herzog Wilhelm von Bayern, Neuburg, 4. Januar 1540, HStA München, KBÄA 2094, fol. 6r-6v (Ausf.). 10 Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, S. 405-407 und S. 418-420; Dr. Gereon Sailer an Landgraf Philipp von Hessen, Augsburg, 20. Dezember 1539, Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, Beilage III, Documente Nr. 4, S. 436-443, hier S. 436-437, ders. an dens., Augsburg, 16. Januar 1540, ebd. Nr. 8, S. 449-450; ders. an dens., Augsburg, 18. Januar 1540, ebd. Nr. 9, S. 451-454, hier S. 451; ders. an dens., Augsburg, 9. März 1540, ebd. Nr. 11, S. 457-460 und Leonhard von Eck an Landgraf Philipp von Hessen, München, 9. Februar 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 348, Nr. 136, fol. 105r106v. 11 Vgl. das König Ferdinand übergebene Memorandum Weissenfelders, Wien, 16. November 1539, ARC III, Nr. 42, S. 62-67; den Abschied des Landshuter Bundestages der katholischen Liga, 20. Januar 1540, ebd. S. 88, Anm. 135 und die dem Kaiser in Gent eingereichte Denkschrift Herzog Heinrichs von Braunschweig, 10. März 1540, ebd. Nr. 55, S. 89-90.
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giös-theologische Ausgleichsverhandlungen in die Wege zu leiten und durch die Vorlage ihrer Ergebnisse die kaiserliche Regierung mit dem Ziel einer allgemeinen, einvernehmlichen Kirchenreform unter Druck zu setzen. Karlowitz ging dabei davon aus, daß die religiösen Differenzen nur äußerliche Dinge, nicht die Glaubenssubstanz betrafen, und empfahl das Vorbild der frühchristlichen Kirche als Maßstab für die angestrebte Reform, für die er zugleich einen eigenen Entwurf vorlegte12. Von diesem Projekt setzte er nicht nur Landgraf Philipp von Hessen in Kenntnis, sondern auch Kurfürst Albrecht von Mainz und über Bischof Johann von Meißen auch König Ferdinand, der allerdings ausweichend reagierte und auf die Kompetenz des Kaisers verwies13. Unterstützung für seinen Plan fand Karlowitz, der zuvor bereits Martin Bucer kontaktiert hatte14, bei Kurfürst Joachim von Brandenburg, der umgehend den Mainzer Erzbischof zu gewinnen suchte und diesen veranlaßte, den ihm empfohlenen Reunionsentwurf unter seinen Suffraganen zur Prüfung kursieren zu lassen15. Außerdem sollte Kurfürst Albrecht einen Konvent führender Reichsstände einberufen, der über die Konkordie beraten, gegebenenfalls auch nur eine Teilkonkordie vereinbaren sollte, die dann die Grundlage für weitere Reunionsbemühungen abgeben konnte. Diese brandenburgische Anregung, die darauf baute, daß in kleinerem Kreis effektiver beraten werden konnte als auf einem Reichstag, war wie das Konzept Georgs von Karlowitz vornehmlich gedacht ___________ 12
Vgl. Georg von Karlowitz an Landgraf Philipp von Hessen, Schönfeld, 26. Dezember 1539, Christian G. Neudecker (Hg.), Urkunden aus der Reformationszeit, Cassel 1836, Nr. CLXIX, S. 635-644. 13 Mentz, Johann Friedrich (wie Anm. 3), Bd. II, S. 217 und Georg von Karlowitz und Eustachius von Schlieben an Kurfürst Joachim von Brandenburg, Schönfeld, 11. Februar 1540, GStAPK Berlin, 1. HA, Rep. 14, Nr. 1, Fasz. 1, vol. 3r-7v (Ausf.), hier fol. 3r-3v. 14 Martin Bucer an Landgraf Philipp von Hessen, Marburg, 25. Dezember 1539, Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, Nr. 42, S. 120-122, hier S. 122 mit Anm. 3. 15 Morone an S. Fiore, Gent, 6. März 1540, Franz Dittrich (Hg.), Nuntiaturberichte Giovanni Morones vom deutschen Königshofe 1539-1540, Paderborn 1892 (Quellen und Forschungen aus dem Gebiete der Geschichte Bd. I Teil 1), Nr. 47, S. 88-92, hier S. 88-89; auch NB I,5, Nr. 61, S. 110-112, hier S. 110-111. Dabei handelte es sich um den Reunionsentwurf, auf den sich Bucer und Witzel auf dem Leipziger Religionsgespräch im Januar 1539 verständigt hatten und der entweder schon in Frankfurt 1539 durch Bucer oder Ende 1539 durch Georg von Karlowitz in die Hände Kurfürst Joachims von Brandenburg gelangt sein dürfte. Vgl. Ludwig Cardauns, Zur Geschichte der kirchlichen Unions- und Reformbestrebungen von 1538-1542, Rom 1910 (Bibliothek des Kgl. Preussischen Historischen Instituts in Rom Bd. V), S. 14-16 und Volkmar Ortmann, Reformation und Einheit der Kirche. Martin Bucers Einigungsbemühungen bei den Religionsgesprächen in Leipzig, Hagenau, Worms und Regensburg 1539-1541, Mainz 2001 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Abt. für Abendländische Religionsgeschichte Bd. 185), S. 49-75, bes. S. 71-73. Die Leipziger Artikel sind gedruckt in: Cornelis Augustijn (Hg.), Martin Bucers deutsche Schriften Bd. 9,1: Religionsgespräche (1539-1541), Gütersloh 1995 (Martini Buceri opera omnia Series I: Deutsche Schriften), S. 23-51.
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zur Beschleunigung des Meinungsbildungsprozesses, die dem Interesse an der religiösen Konkordie im Reich, ungeachtet fremder Einflüsse, Priorität verschaffen und den Kaiser unter Zugzwang setzen sollte, indem ihm eine konkrete religionspolitische Handreichung angeboten wurde. Von der Zweckmäßigkeit dieses Konzeptes glaubte Joachim nicht nur die einzuladenden Stände, sondern auch König Ferdinand überzeugen zu können16. Seiner umgehenden Realisierung stand allerdings vorab der Vorbehalt des Mainzer Kurfürsten entgegen, der ohne ausdrücklichen Konsens des Kaisers nicht aktiv werden wollte. Auf der Kasseler Konferenz konnte zwar der Landgraf zusammen mit Kurfürst Johann Friedrich die brandenburgischen Gesandten für den Versuch gewinnen, die Initiative Kurfürst Joachims mit dem Trierer Projekt zu kombinieren, wobei die Einladung zu einem Fürstenkonvent von Mainz, Pfalz und Brandenburg gemeinsam oder nur von den beiden Hohenzollern übernommen werden sollte17. Aber auch diese Variante erwies sich als nicht praktikabel. Schon im Dezember 1539 vorsichtig geworden und durch die besorgniserregenden Reden des Reichsvizekanzlers Held und die Abmahnung König Ferdinands18, den Held über die ständischen Bestrebungen informierte19, vollends irritiert20, ___________ 16 Vgl. den Entwurf für ein Schreiben Kurfürst Joachims von Brandenburg an König Ferdinand, o. O., 8. Februar 1540, GStAPK Berlin, 1. HA, Rep. 13, Nr. 6, Fasz. 9, fol. 8r-9v und fol. 15r-16r und den Instruktionsentwurf Kurfürst Joachims für eine Werbung bei führenden Reichsständen, o. D., ebd. fol. 10r-14r. 17 Landgraf Philipp von Hessen an Martin Bucer, Kassel, 16. Februar 1540, Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, Nr. 49, S. 139-140. Auch Georg von Karlowitz und Eustachius von Schlieben dachten daran, den Kurfürsten von der Pfalz ins Spiel zu bringen, vgl. ihr Schreiben an Kurfürst Joachim von Brandenburg, Schönfeld, 11. Februar 1540, GStAPK Berlin, 1. HA, Rep. 14, Nr. 1, Fasz. 1, fol. 3r-7v (Ausf.), hier fol. 4r-4v. 18 König Ferdinand an Kurfürst Johann von Trier, [22. Februar 1540], GStAPK Berlin, 1. HA, Rep. 13, Nr. 6, Fasz. 9, fol. 29r-30v (Kopie). Demnach war Ferdinand über das Trierer Projekt informiert. Er warnte den Kurfürsten davor, sich auf Religionsverhandlungen ohne Konsens des Kaisers einzulassen, und forderte ihn auf, den Kaiser über die Gutachten seiner Suffragane und Theologen zur Religionsvergleichung zu unterrichten. Zur Datierung des Schreibens vgl. den Bericht Heinrichs von Kalenberg über seine Verhandlungen mit dem Kurfürsten von Trier Anfang März 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 348, Nr. 136, fol. 115r-117v, hier fol. 115v. In gleicher Weise wandte sich König Ferdinand auch an den Mainzer Kurfürsten, vgl. dessen Schreiben an Kurfürst Joachim von Brandenburg, 17. März 1540, GStAPK Berlin, Rep. 14, Nr. 5, fol. 11r-12v (Ausf.), hier fol. 11r. 19 Möglicherweise hatte Held in Aschaffenburg von den ständischen Aktivitäten erfahren. Zu seinem dortigen Aufenthalt vgl. sein Schreiben an Herzog Heinrich von Braunschweig, Augsburg, 17. Januar 1540, ARC III, Nr. 52, S. 84-85, hier S. 84 mit Anm. 127. 20 Vgl. den Bericht des hessischen Gesandten Heinrich von Kalenberg über seine Verhandlungen mit dem Kurfürsten von Trier, o. D., HStA Weimar, Reg. H pag. 348, Nr. 136, fol. 115r-117v. Demnach war Held von Trier nach Luxemburg weitergereist, um König Ferdinand zu treffen. Danach traf Ferdinands Brief vom 22. Februar beim Trierer Kurfürsten ein. Zur Abfertigung Kalenbergs zum Trierer Kurfürsten vgl. Landgraf Philipp von Hessen an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, 21. Februar 1540,
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mochte sich der Trierer Kurfürst für sein Projekt vom November nicht exponieren und wollte dem pfälzischen Kurfürsten den Vortritt lassen, der seinerseits keinen akuten Handlungsbedarf sah, da König Ferdinand ihn auf der Durchreise in Heidelberg über die Bereitschaft des Kaisers zu neuen Verhandlungen mit den Protestanten informiert haben dürfte21. Und Mainz scheute sich wie auch Brandenburg, den Kaiser zu übergehen22. Trier, Mainz und allem Anschein nach auch Pfalz mochten sich vorab nicht definitiv festlegen und verwiesen auf die bevorstehenden Verhandlungen der vier Kurfürsten am Rhein23. Damit reduzierten sich die weiter greifenden Pläne für eine reichspolitische Führungsinitiative eines Fürstenkonventes auf das kleinere, unspektakulärere Format eines rheinischen Kurfürstentages, der dann am 10./11. März 1540 in Gelnhausen stattfand. Daß der Landgraf von Hessen dem Kurfürsten von Trier und der brandenburgische Marschall Adam von Trott dem Mainzer Kurfürsten klar zu machen suchten, daß der Kaiser unter dem Eindruck der Gegenargumente der Spanier, des Papstes und gewisser Pariser Theologen Religionsverhandlungen in einer ähnlichen Form, wie sie im Frankfurter Anstand vorgesehen war, nicht zulassen werde, obwohl der Ruin des Reiches zu befürchten sei, und daß es den ___________ ebd. fol. 53r-56r und fol. 61v. Noch am 9. Februar 1540 hatte Kurfürst Johann von Trier dem hessischen Landgrafen über seine laufenden Bemühungen bei Pfalz und Kurfürst Albrecht von Mainz, der sich durchaus geneigt gezeigt habe, um die Einberufung eines Fürstenkonventes berichtet, vgl. sein Schreiben an den Landgrafen, Pfalzel, 9. Februar 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 348, Nr. 136, fol. 49r-49v. 21 Zur Entscheidung Ferdinands für die Reiseroute über Heidelberg vgl. ARC III, S. 76, Anm. 114, S. 76-77. Am 14. Februar 1540 hielt sich der König in Heidelberg auf, vgl. ARC III, S. 91, Anm. 138. Am 18. Februar sagte Pfalzgraf Friedrich das für den 3. März zu Verhandlungen über die dänische Frage geplante Treffen in Eisenach ab, das der sächsische Kurfürst und der hessische Landgraf nutzen wollten, um den Pfalzgrafen für ihre religions- und reichspolitischen Pläne zu gewinnen, vgl. Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, S. 416. 22 Mentz, Johann Friedrich (wie Anm. 3), Bd. II, S. 218 und die Relation der brandenburgischen Gesandten über die Antwort des Mainzer Kurfürsten, o. D., HStA Weimar, Reg. H pag. 348, Nr. 136, fol. 119r-119v. Auch Georg von Karlowitz und Eustachius von Schlieben empfahlen, den Kaiser von Joachims Plan in Kenntnis zu setzen, vgl. ihr Schreiben an Kurfürst Joachim von Brandenburg, Schönfeld, 11. Februar 1540, GStAPK Berlin, 1. HA, Rep. 14, Nr. 1, Fasz. 1, fol. 3r-7v (Ausf.), hier fol. 4r-6v den Entwurf für ein entsprechendes Schreiben an Karl V. Zur Kritik Kurfürst Johann Friedrichs und Bucers an der Rücksichtnahme auf den Kaiser vgl. Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen an Landgraf Philipp von Hessen, Weimar, 20. Februar 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 348, Nr. 136, fol. 50r-52v, hier fol. 51r; ders. an dens., 8. März 1540, ebd. fol. 95r-98v, hier 96r-96v und Landgraf Philipp von Hessen an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, 4. März 1540, ebd. fol. 93r-94v, hier fol. 93v-94r. 23 Vgl. den in Anm. 18 angezogenen Bericht Heinrichs von Kalenberg, hier fol. 115r und fol. 117r; die Antwort des Mainzer Kurfürsten auf die Werbung der brandenburgischen Gesandten, o. D., HStA Weimar, Reg. H pag. 348, Nr. 136, fol. 119r-119v und Landgraf Philipp von Hessen an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, 8. März 1540, ebd. fol. 110r-114r und fol. 118r-118v.
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Protestierenden nur um eine christliche Reformation, nicht um die Abschaffung der Hochstifte und ihrer weltlich-fürstlichen Herrschaftsrechte zu tun sei24, blieb ohne die gewünschte Wirkung. Dagegen hatten die an Trier und Mainz gerichteten Ermahnungen Ferdinands vom 22. Februar 1540 Eindruck gemacht25. In Gelnhausen beschlossen die kurfürstlichen Gesandten neben einer Stellungnahme zur kursächsischen Wahlopposition und dem Plädoyer für die gütliche Beilegung des Konfliktes um Geldern zwar die Veranstaltung einer Rätekonferenz, die am 2. Mai zusammentreten und sich mit der Religionsvergleichung befassen sollte, aber man legte großen Wert darauf, nicht den Anschein antikaiserlicher Bestrebungen zu erwecken, nicht zuletzt weil deren bisherige Voraussetzung, die Unterstellung nämlich, daß der Kaiser die Interessen des Reiches mißachte und eine militante, repressive Politik plane, mittlerweile durch gegenläufige Informationen und Indizien fragwürdig geworden war. Das Beratungsergebnis von Gelnhausen, das dem brandenburgischen Kurfürsten zu späterer Kooperation erst im Nachhinein mitgeteilt werden sollte, sollte als eine Art Vorüberlegung und Argumentationshilfe in den folgenden offiziellen Meinungsbildungsprozeß auf Reichsebene eingebracht werden26. Es ging nur darum, den Weg zu Verhandlungen zu öffnen und damit die Richtung für die weitere Behandlung der Religionsfrage auf Reichsebene vorzugeben. Dieser Plan stand unter dem Vorbehalt der späteren persönlichen Zustimmung der vier Kurfürsten und des kaiserlichen Einverständnisses. Für eine eigenständige religionspolitische Initiative führender Reichsstände mit antikaiserlicher Tendenz bot der Gelnhausener Abschied vom 11. März 1540 keine Grundlage. Er dokumentierte allerdings ein starkes Interesse an einer friedlichen Lösung der Religionsproblematik und an entsprechenden Verhandlungen, das sich aus der besonderen reichspolitischen Verantwortung des Kurkollegs ableiten ließ und das man kaiserlicherseits ernst nehmen mußte.
___________ 24
Landgraf Philipp von Hessen an Kurfürst Johann von Trier, 7. März 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 348, Nr. 136, fol. 103r-104v und fol. 107r-107v und Adam von Trott an Kurfürst Albrecht von Mainz, 7. März 1540, ebd. fol. 108r-109v. Die Argumente beider Schreiben stimmen weitgehend überein. 25 Vgl. den Bericht Heinrichs von Kalenberg über seine Verhandlungen mit dem Kurfürsten von Trier Anfang März 1540, o. D., HStA Weimar, Reg. H pag. 348, Nr. 136, fol. 115r-117v, hier fol. 115v und die vier rheinischen Kurfürsten an König Ferdinand, [11. März 1540], GStAPK Berlin, 1. HA, Rep. 14, Nr. 5, Fasz. 2, fol. 14r-15v (Kop.). Vgl. außerdem wie Anm. 18. 26 Vgl. die vier rheinischen Kurfürsten an Kaiser Karl V., [11. März 1540], GStAPK Berlin, 1. HA, Rep. 14, Nr. 5, Fasz. 2, fol. 5r-10v (Kop.), den Abschied des rheinischen Kurfürstentages in Gelnhausen, 11. März 1540, ebd. fol. 1r-4r (Kop.) und Kurfürst Albrecht von Mainz an Kurfürst Joachim von Brandenburg, 17. März 1540, ebd. fol. 11r12v (Ausf.).
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Der Kaiser hatte sich zwar Anfang Januar 1540 für eine Politik, die auf die Wahrung der altkirchlichen Interessen zielte, aufgeschlossen gezeigt27, hatte aber seine Verhandlungsbereitschaft nicht explizit widerrufen. Allerdings bestanden offenbar Zweifel, ob auf protestantischer Seite ein ernsthafter Wille zur Verständigung tatsächlich gegeben war28. Der Instruktion der protestantischen Gesandtschaft, die am 24. Februar Audienz erhielt, konnte der Kaiser dann – für ihn offenbar überraschend – entnehmen29, daß die schmalkaldischen Verbündeten an baldigen Religionsverhandlungen, allerdings auf der Grundlage des Frankfurter Anstandes, durchaus interessiert waren30. Ob er bereits zuvor oder erst unmittelbar nach dieser Audienz die auf Kontakte der Grafen Manderscheid und Neuenahr zu Johann von Naves zurückgehende Anregung, Granvelle als Unterhändler einzuschalten, unter der Bedingung akzeptierte, daß die Gegenseite keine Verschleppungspolitik betreibe31, ist unklar. Jedenfalls reiste Naves offenbar in den letzten Februartagen nach Schleiden, wo er sich noch am 28. Februar aufhielt. Seine Informationen über seine Gespräche mit Granvelle ___________ 27
Karl V. an König Ferdinand, 2. Januar 1540, ARC III, Nr. 49, S. 81-82. In der ihm gewährten Audienz gewann Naves den Eindruck, der Kaiser sehe es lieber, „das die sachen in der gute dan sunst hingelegt und verainiget wurden und gmelten H. von Grantvelles fur andern in den handlungen wol leiden mögten, sover das schleunig, der pilligkait nach und entlich one umweg gehandelt mogt werden. So aber des nit, sonder wie bisher di sachen unfruchtbar verlengert solten werden, were unvonnöten sich zu bemugen, dann solchs die sachen mehr verbittern dan fordern wurde“, vgl. Johann von Naves an Graf Wilhelm von Neuenahr, Schleiden, 28. Februar 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 348, Nr. 136, fol. 127r-128v, hier fol. 127r-127v. Vgl. auch Dr. Siebert von Löwenberg an Landgraf Philipp von Hessen, 14. März 1540, Christian G. Neudecker (Hg.), Merkwürdige Aktenstücke aus dem Zeitalter der Reformation, Nürnberg 1838, Nr. XLVII, S. 230-232, hier S. 231. 29 Die Instruktion wurde dem Kaiser dreisprachig in deutscher, lateinischer und französischer Fassung übergeben. Scepper teilte den Gesandten nach der Audienz informell mit, der Kaiser werde bald antworten, „da ir Mt. sich viel einer anderen sach im anbringen, dann bescheen, vorsehen gehabt“, vgl. Georg von Boyneburg an Landgraf Philipp von Hessen, Gent, 25. Februar 1540, Neudecker, Merkwürdige Aktenstücke (wie Anm. 28), Nr. XLII, S. 199-206, hier S. 200-201, das Zitat S. 201. 30 Instruktion der schmalkaldischen Verbündeten für ihre Gesandten zum Kaiser, 20. Januar 1540, Ganzer/zur Mühlen, Akten (wie Anm. 7), Bd. I,2, Nr. 388, S. 1062-1069, hier S. 1064. 31 Johann von Naves an Graf Wilhelm von Neuenahr, Schleiden, 28. Februar 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 348, Nr. 136, fol. 127r-128v und das Zitat aus diesem Schreiben oben in Anm. 28. Über den Friedenswillen des Kaisers und die Möglichkeit einer Vermittlerrolle Granvelles informierte Neuenahr bereits Ende Januar Georg von der Planitz, vgl. dessen Schreiben an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, Köln, 30. Januar 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 290, Nr. 120, Vol. 1, fol. 139r-144v, hier fol. 142r-143v. Zur Rolle der beiden Grafen vgl. auch die Instruktion Graf Dietrichs von Manderscheid und Graf Wilhelms von Neuenahr für Dr. Siebert von Löwenberg zur Werbung bei Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen und Landgraf Philipp von Hessen, o. O., 31. März 1540, GStAPK Berlin, XX. Königsberg HBA A 2 = K 2, unfol. und die Zusammenfassung der Werbung Löwenbergs, o. Datum, ebd. 28
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und dem Kaiser veranlaßten Graf Dietrich von Manderscheid, sich zur Anbahnung von Verhandlungen Anfang März an den hessischen Landgrafen zu wenden32. Auffällig ist, daß sich Cornelius Scepper, der der Umgebung Granvelles bzw. der Königin Maria zuzurechnen ist, bereits am 24. Februar zielstrebig um Kontakt zu den protestantischen Gesandten bemühte und sich Granvelle einige Tage später gegenüber dem hessischen Gesandten Georg von Boyneburg bemerkenswert entgegenkommend und wohlwollend äußerte33. In den Tagen vor dem 9. März scheint dann die kaiserliche Entscheidung für die Mission der beiden Grafen Dietrich von Manderscheid und Wilhelm von Neuenahr zum schmalkaldischen Bundestag gefallen zu sein34. Um die gleiche Zeit konferierte der hessische Sekretär Heinrich Lersener in Köln mit dem Erzbischof von Lund, dessen baldige Ankunft in den Niederlanden der Kaiser dringend wünschte35. Bei dieser Gelegenheit betonte Lund die grundsätzliche Friedfertigkeit des Kaisers und einer kleinen, aber sehr einflußreichen Gruppe seiner Räte in der Religionsfrage, benannte allerdings auch die Vertreter der Gegenposition, verteidigte die Forderung nach Restitution der Kirchengüter und die Autorität der kirchlichen Hierarchie, ließ in einigen religiösen Streitfragen seine persönliche Konzessionsbereitschaft durchblicken und bekundete seine Absicht, in Kürze Reformen in seiner Diözese durchzuführen. Er erklärte sich schließlich bereit, für einen Friedstand und für die Suspension der in Religionssachen anhängigen Kammergerichtsprozesse einzutreten, und befürwortete ausdrücklich umgehende Religionsverhandlungen mit dem Ziel der Reunion36. Diese Einlassungen Lunds und die Nachrichten aus den Niederlanden stießen ___________ 32
Graf Dietrich von Manderscheid an Landgraf Philipp von Hessen, 4. März 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 348, Nr. 136, fol. 125r-126v. 33 Georg von Boyneburg an Landgraf Philipp von Hessen, Gent, 25. Februar 1540, Neudecker, Merkwürdige Aktenstücke (wie Anm. 28), Nr. XLII, S. 199-206, hier S. 200-201 und ders. an dens., Gent, 9. März 1540, ebd. Nr. XLIV, S. 210-216. 34 Dr. Siebert von Löwenberg an Landgraf Philipp von Hessen, Gent, 9. März 1540, Neudecker, Merkwürdige Aktenstücke (wie Anm. 28), Nr. XLV, S. 217-220. Demnach hatte Löwenberg Kenntnis von einer Instruktion für eine Gesandtschaft zum sächsischen Kurfürsten und hessischen Landgrafen, von der Beauftragung von Unterhändlern und von dem Plan für Sondierungen zur Vorbereitung eines Religionskolloquiums, dessen Ergebnisse einigen Kurfürsten und Fürsten dann zu offizielleren Beratungen vorgelegt werden sollten. Vgl. außerdem ders. an dens., Gent, 14. März 1540, ebd. Nr. XLVII, S. 230-232, hier S. 230-231. 35 Erzbischof Johann von Lund an Landgraf Philipp von Hessen, Augsburg, 20. Februar 1540, Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, Beilage III, Documente Nr. 17, S. 470-471. 36 Vgl. den Bericht Heinrich Lerseners über seine Konferenz mit dem Erzbischof von Lund in Köln, 5./6. März 1540, Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, Beilage III, Documente Nr. 19, S. 475-488, Vgl. auch die Instruktion Landgraf Philipps für Heinrich Lersener zu dieser Konferenz, Kassel, 20. Februar 1540, ebd. Nr. 18, S. 471-474.
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im protestantischen Lager auf Skepsis und Mißtrauen37, boten aber auch Ansatzpunkte zur vorsichtigen Differenzierung des bislang favorisierten Feindbildes vom Kaiserhof und zur Reflexion über eine reichspolitische Alternative38, nachdem die weitgreifenden, offensiven Pläne des hessischen Landgrafen für ein Bündnis der Schmalkaldener mit Jülich und England und für die Mobilisierung einer großen reichsständischen Oppositionsbewegung gegen den Kaiser gescheitert waren39. Noch bestand freilich keine definitive Klarheit über die Absichten des Kaisers. Seine Antwort vom 13. März auf die Werbung der schmalkaldischen Gesandten deutete nur sehr allgemein seine Bereitschaft zu Religionsverhandlungen an und vermied eine befriedigende Friedenszusage und das geforderte Zugeständnis einer Suspension der Kammergerichtsprozesse in Religionskonflikten40. Allerdings hielt man es für angebracht, auf protestantische Empfindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. So weigerte sich Granvelle, den Nuntien Kopien der einschlägigen Akten zukommen zu lassen41. Daß in der kaiserlichen Antwort der Papst unerwähnt blieb, entschuldigte er mit dem Hinweis, daß „Lutherani non vogliono sentir tal nome“42. Die Möglichkeit, die religionspolitische Kommunikation in Gang zu bringen, sollte offen gehalten werden. Am 11. März bat König Ferdinand Herzog Wilhelm von Bayern um sein Gutachten über das künftige religionspolitische Procedere ,43 erhielt freilich nur eine aus___________ 37 Vgl. Martin Bucer an Landgraf Philipp von Hessen, 17. März 1540, Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, Nr. 57, S. 151-159, hier S. 151-155 mit Anm. 8, S. 156158 und ders. an dens., 25. März 1540, ebd. Nr. 61, S. 162-165. 38 Landgraf Philipp von Hessen an Martin Bucer und Philipp Melanchthon, o. D., Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, Nr. 52, S. 143-144; ders. an dies., 15. März 1540, ebd. Nr. 55 S. 147-149, hier S. 147 und ders. an Bucer, 22. März 1540, ebd. Nr. 60, S. 161. Vgl. auch Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen an Landgraf Philipp von Hessen, Gotha, 11. März 1541, HStA Weimar, Reg. H pag. 348, Nr. 136, fol. 129r-133v (Reinkonz.). 39 Landgraf Philipp von Hessen an Martin Bucer und Philipp Melanchthon, o. D., Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, Nr. 52, S. 143-144, hier S. 143; ders. an dies., 15. März 1540, ebd. Nr. 55, S. 147-149, hier S. 148-149 und ders. an Martin Bucer, o. D., ebd. Nr. 53, S. 144-145. 40 Die Gesandten der schmalkaldischen Verbündeten an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen und Landgraf Philipp von Hessen, Gent, 14. März 1540, Neudecker, Merkwürdige Aktenstücke (wie Anm. 28), Nr. XLVI, S. 221-229, die kaiserliche Antwort vom 13. März 1540 hier S. 227-229. 41 Farnese an Papst Paul III., Gent, 13. März 1540, NB I,5, Nr. 65, S. 115-119, hier S. 115-116. 42 Morone an S. Fiore, Gent, 13. März 1540, Dittrich, Nuntiaturberichte (wie Anm. 15), Nr. 49, S. 95-97, hier S. 95. 43 König Ferdinand an Herzog Wilhelm von Bayern, Gent, 11. März 1540, ARC III, Nr. 56, S. 91-92.
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weichende Antwort44. Zugleich vertraten der Kaiser und seine Umgebung unmißverständlich die Auffassung, daß das Interesse an der Kirchenreform die Konfiskation von Kirchengütern und die Mißachtung von Eigentumsrechten nicht legitimieren könne45. Dementsprechend wurde die Kirchenpolitik der Protestierenden, die ohne den Zugriff auf das vorhandene Kirchengut nicht auskommen konnte, als unzulässige, gravierende Störung der Rechtsordnung wahrgenommen. Dieses rechtlich akzentuierte Problemverständnis, dem ein systemimmanenter Kirchen- und Reformbegriff entsprach, rechtfertigte die Taktik, die Protestierenden mit dem Vorwurf des permanenten Rechtsbruchs unter Druck zu setzen. Damit wollte sich die kaiserliche Regierung allerdings nicht auf einen Kurs konsequenter Konfrontation festlegen. Dem stand die Absicht entgegen, die Möglichkeiten einer Verständigung, die offenbar nicht als aussichtslos galt, durch Verhandlungen auszuloten. Daß ein solcher Versuch sinnvoll erscheinen konnte, setzte die Vermutung voraus, daß genügend Spielraum für Konzessionen vorhanden war. Man operierte also kaiserlicherseits Mitte März 1540 mit einem ambivalenten Problemverständnis. Daraus erklärt sich das Interesse des Kaisers, nicht nur Aufschluß zu gewinnen über die Haltung der Protestierenden in der Frage der Kirchengüter, deren Einziehung ihnen als eigennützige Selbstbereicherung und als rechtswidriges Vergehen angelastet wurde, sondern auch die Ernsthaftigkeit ihrer signalisierten Verständigungsbereitschaft zu prüfen46. Diesem Zweck sollte jedenfalls die geheime Mission der Grafen Manderscheid und Neuenahr dienen, die bei den schmalkaldischen Verbündeten deren Bereitschaft zu Zugeständnissen und deren Grenzen eruieren und dabei nicht nur über das Interesse des Kaisers und Granvelles an einer friedlichen Lösung des Religionsproblems, sondern auch über deren Verdacht informieren sollten, daß die Protestierenden nur aus reinem Eigennutz Kirchengüter einzogen und eine Hinhaltetaktik verfolgten, ohne tatsächlich in Religionsverhandlungen eintreten zu wollen. Dabei sollte auch deutlich werden, daß der Kaiser sich der kirchlichen Mißstände durchaus bewußt war und selbst die ___________ 44
Herzog Wilhelm von Bayern an König Ferdinand, München, 22. März 1540, ARC III, Nr. 58, S. 93. Ohne genaue Kenntnis der kaiserlichen Pläne und Absichten wollte sich Herzog Wilhelm nicht definitiv äußern. 45 Vgl. Siebert von Löwenberg an Landgraf Philipp von Hessen, Gent, 14. März 1540, Neudecker, Merkwürdige Aktenstücke (wie Anm. 28), Nr. XLVII, S. 230-232, hier S. 231; die Instruktion Graf Dietrichs von Manderscheid und Graf Wilhelms von Neuenahr für Dr. Siebert von Löwenberg zur Werbung bei Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen und Landgraf Philipp von Hessen, o. O., 31. März 1540, GStAPK Berlin, XX. Königsberg HBA A 2 = K 2, unfol. und die Zusammenfassung der Werbung Löwenbergs, o. Datum, ebd. 46 Siebert von Löwenberg an Landgraf Philipp von Hessen, Gent, 14. März 1540, Neudecker, Merkwürdige Aktenstücke (wie Anm. 28), Nr. XLVII, S. 230-232, hier S. 231 und Georg von der Planitz an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, Antwerpen, 20. März 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 290 Nr. 120, Vol. 1, fol. 192r-197r.
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Reform der Kirche wünschte, allerdings die Reformkonzeption der Protestierenden für verfehlt hielt. Er wollte offenbar unter Einschaltung Granvelles, König Ferdinands und der beiden Grafen unverzüglich in Verhandlungen mit Kursachsen und Hessen eintreten und zuvor die Ausgangspositionen beider Seiten präzise geklärt wissen. Dementsprechend rieten die beiden Grafen den beiden Bundeshauptleuten, die lauteren Motive der protestantischen Religionspolitik glaubwürdig darzulegen und vor allem, was den Umgang mit den Kirchengütern betraf, den Vorwurf der Habgier überzeugend zu entkräften, um eine Verständigung in den übrigen strittigen Fragen zu ermöglichen, die offenbar in einem zweistufigen, durch einen Friedstand gesicherten Verfahren, zu einem Teil zunächst in vertraulichen Verhandlungen mit dem Kaiser bzw. seinen Vertretern, vor allem Granvelle, und in den dann noch unverglichenen Punkten unter informeller Mitwirkung von Theologen beider Konfessionen erreicht werden sollte. Die strikte Geheimhaltung dieser Gespräche – Planitz gegenüber verwies man in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Augsburger Erfahrungen von 1530 – sollte die unerwünschte, störende Einflußnahme Dritter ausschließen. Das Ergebnis dieser Reunionsbemühungen, über das sich der Kaiser mit dem Papst im Nachhinein verständigen wollte, konnte dann auf einem Reichstag veröffentlicht und für rechtskräftig und allgemein verbindlich erklärt werden47. Dabei war – dies gilt zumindest für einige kaiserliche Räte – angenommen, daß auf der Basis beiderseitiger Zugeständnisse eine Lösung des Religionsproblems im Kompromiß gefunden werden könne48. Dagegen sollte sich ___________ 47 Vgl. die Instruktion Graf Dietrichs von Manderscheid und Graf Wilhelms von Neuenahr für Dr. Siebert von Löwenberg zur Werbung bei Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen und Landgraf Philipp von Hessen, o. O., 31. März 1540, GStAPK Berlin, XX. Königsberg HBA A 2 = K 2, unfol.; die Zusammenfassung der Werbung Löwenbergs, o. Datum, ebd. und Georg von der Planitz an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, Antwerpen, 20. März 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 290 Nr. 120, Vol. 1, fol. 192r-197r. Vgl. außerdem Mentz, Johann Friedrich (wie Anm. 3), Bd. II, S. 238-240; Philipp Melanchthon an Martin Luther, ca. 11. April 1540, Corp. Reform. III, Nr. 1949, Sp. 1003-1005; Siebert von Löwenberg an Landgraf Philipp von Hessen, Gent, 9. März 1540, Neudecker, Merkwürdige Aktenstücke (wie Anm. 28), Nr. XLV, S. 217-220, hier S. 217-219 und ders. an dens., Gent, 14. März 1540, ebd. Nr. XLVII, S. 230-232. 48 Vgl. den Bericht Heinrich Lerseners über seine Konferenz mit dem Erzbischof von Lund am 5. und 6. März 1540 in Köln, Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, Nr. 19, S. 475-489, hier S. 486-489 die Äußerungen Lunds zu strittigen Reformfragen und Erzbischof Johann von Lund an Landgraf Philipp von Hessen, 8. Mai 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 355, Nr. 138, fol. 102r-106v, fol. 102v-103r: „Mein einfeltig mainung ist und dabey bleib ich, solt man die religionsach zu Gottes ehr und bestendiglichen vertragen, so musten wir auf beide seiten Got allain fur augen haben und auf beiden seiten frumb sein und frum leuthe darzwuschen handlen lassen und uff beide seiten, sovil immer mit Gottes ehr beschehen mag, nachlassen, damit unter den heubtern ain christlich und freuntlich vertrauen gepflantzt werd. So zweivelt ich gar nit, Got der almechtig wurdt uns erhoren, stets bey uns sein und sein gnad miltiglichen mittailen, damit seine sach gefordert und ewiglich vertragen wurt. Dartzu weis ich euere fstl. Gn. mit allem
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nach protestantischer Vorstellung die Reunion aus einer „christlichen“ Reformation ergeben, die der neuen Theologie zu allgemeiner Geltung verhelfen sollte, eher in zwischenständischen Verhandlungen zu erreichen als vom Kaiser zu erwarten war und allenfalls vorübergehend bzw. in marginalen Fragen der Gegenseite entgegenkommen konnte49. Die schmalkaldischen Verbündeten, denen zugleich daran gelegen war, in der Hoffnung auf den Einfluß gemäßigter kaiserlicher Räte ihr Interesse an der Suspension der gegen sie gerichteten Kammergerichtsprozesse und Achtverfahren in Erinnerung zu bringen50, bekräftigten denn auch in ihrer Stellungnahme zur Werbung der beiden Grafen ihr Bekenntnis zur neuen Lehre, rechtfertigten ausführlich ihren Umgang mit Kirchengut, lehnten jede Abweichung von der Confessio Augustana entschieden ab, bekundeten erneut ihr dringendes Interesse an einer gründlichen Kirchenreform auf der Basis der Hl. Schrift und der apostolischen Lehre und verwiesen auf die Bestimmungen des Frankfurter Anstandes über ein öffentliches Religionsgespräch. Das Interesse an der Reunion definierten sie als Auftrag zur grundlegenden Reform der Kirche51. Diese Positionsbestimmung lag in der Lo___________ hertzen gnaigt. Dieselbig kan auch fur andern di sach wol forderen. Es were auch hoch vonnoten“. 49 Die gravierenden Unterschiede im Reunionsverständnis brachte Jakob Sturm in seiner Stellungnahme zum Vorschlag, über Granvelle Religionsverhandlungen anzustreben, treffend auf den Punkt: „Die sache were eben geferlich; zeiget man disen leuten nit frei an, wahin wir trachten und wamit wir der religion halben zu settigen sein, so verstohn sie unser erpieten zur vergleichung und vertrösten unser gelindigkeit fil milter dann wirs thun. Und alß sie sich, alß zu besorgen, umb not der kirchen, reine der religion, pflicht und tringen der war gleubigen gewissen wenig verstohn, sonder vergleichung der religion und alle glaubenssachen iren weltlichen hendlen nach achten, fassen sie inen hoffnung von unß fil nachgebens, auch in dingen, darin wir nichts nachgeben könden. Weil sie dann irs mutmaßens alß kluge leut gewiß sein und irem herren nicht vergeben wahn uffreden wöllen, ist zu besorgen, wenn man zur handlung komen solte und dann das nicht nachgeben möchte, des sie sich und ire herren auß unserem erpieten vertröstet hetten, das solichs dann bei inen selb und irem herren unß zu meerer verbitterung, wie auch dises mans erstes erpieten laute, gereiche. Solle man aber disem mann und seinsgleichen frei anzeigen, waruff unser sachen staht, so ist die sorge ja da, das er dadurch unß zu notwendiger verhör und handlung zu helfen abgeschrecket werden. Und diese rechnung herr Jacob’s bestoht bei mir.“, vgl. Martin Bucer an Landgraf Philipp von Hessen, 25. März 1540, Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, Nr. 61, S. 162-165, hier S. 162, auch S. 163-165. Vgl. außerdem ders. an dens., 8. März 1540, ebd. Nr. 51, S. 141-143; ders. an dens., 11. März 1540, ebd. Nr. 54, S. 145-147 und ders. an dens. 17. März 1540, ebd. Nr. 57, S. 151-159, bes. S. 151-153 mit Anm. 8, S. 156-158. 50 Instruktion der schmalkaldischen Verbündeten für Georg von der Planitz zu Verhandlungen mit Granvelle, Cornelius Scepper und dem Kaiser, Schmalkalden, 11. April 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 290, Nr. 120, Vol. 1, fol. 85r-91r. 51 Antwort der schmalkaldischen Verbündeten auf die Werbung der Grafen Dietrich von Manderscheid und Wilhelm von Neuenahr, Schmalkalden, ca. 11. April 1540, Ganzer/zur Mühlen, Akten (wie Anm. 7), Bd. I,1, Nr. 21, S. 81-89, die oben angesprochene Definition hier S. 87: „Vocamus illam bonam conciliationem ac pacificationem, per quam patefacta veritate possit ecclesie provideri, erroribus pristinis mederi et verus dei
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gik der Beratungen der voraufgehenden schmalkaldischen Bundestage seit dem Frühjahr 1539 und war durch deren Beschlüsse gedeckt. Ihr kam deshalb ein hoher Verbindlichkeitsgrad für die protestantische Partei zu. Diese Stellungnahme, die am 8. Mai in dreisprachiger Fassung in Gent vorlag52 und deren Argumentationsmuster mit den einige Wochen zuvor eingereichten Eingaben und Erklärungen der schmalkaldischen Gesandtschaft im Wesentlichen übereinstimmte53, scheint zusammen mit der Ankunft des Kurfürsten von Köln und der Grafen von Manderscheid und Neuenahr in den Niederlanden innerhalb der kaiserlichen Regierung noch einmal eine Diskussion ausgelöst zu haben54, ohne daß dies freilich zur Revision bereits erfolgter Weichenstellungen führte. Der ihnen voraufgehende Entscheidungsprozeß gestaltete sich allem Anschein nach höchst komplex. Nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlungen mit Frankreich war in absehbarer Zeit kein dauerhafter Friedensschluß und damit keine verläßliche außenpolitische Entlastung zu erwarten. Dies bedeutete auch, daß das viel beschworene Generalkonzil erneut in weite Ferne rückte und die Entscheidung von Nizza für eine konzilsunabhängige Reunionspolitik ihre Aktualität behielt. Zudem war trotz des Teilerfolges, den Hieronymus Lasky mit dem von ihm ausgehandelten, allerdings auf wenige Monate befristeten Waffenstillstand erzielt hatte, mit der Gefahr eines erneuten
___________ cultus in integrum restitui, et cum toties nobis ex parte Caesa. Mtis promissum est, bene consideratis rerum fundamentis controversie omnes terminari et pacificari debere, sub nomine conciliationis non intelligimus confirmationem veterum errorum aut negligentiam veritatis.“ 52 Siebert von Löwenberg an Landgraf Philipp von Hessen, Gent, 9. Mai 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 355, Nr. 138, fol. 100r-101v, hier fol. 100r-100v. 53 Vgl. die Eingabe der protestantischen Gesandten an den Kaiser, [Gent, März 1540], NB I,6, Beilagen Nr. 4, S. 245-252. Der Argumentationsgang dieses Schriftstücks scheint auf das Anbringen der beiden Grafen geradezu zugeschnitten zu sein. Er trägt offenbar der dieser Mission voraufgehenden Diskussion am kaiserlichen Hof Rechnung, von der Siebert von Löwenberg und die schmalkaldischen Gesandten Kenntnis erhielten. Vgl. auch Ganzer/zur Mühlen, Akten (wie Anm. 7), I,1, S. 70 Anm. 1 und ARC Bd. III, S. 150, Anm. 217, S. 150-152. Vgl. außerdem Bucers Dialog „Von Kirchengütern“, der zur Rechtfertigung der kirchlichen Praxis der Protestanten im Frühjahr 1540 erschien, vgl. Ortmann, Reformation, S. 102-111. 54 Erzbischof Johann von Lund an Landgraf Philipp von Hessen, Gent, 8. Mai 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 355, Nr. 138, fol. 102r-106v, hier fol. 104r: „Nechten ist beschlossen, das röm. kgl. Mt. solt am kunftigen Montag, den 10. dieses, von hinnen nach Hagnaw auf den ausgeschriebnen tag verrucken. Man sagt, das Dr. Mathis Helt mit ir Mt. soll, ich bin der sachen nit nutzlich, went ich bin lutherisch etc. Heut ist man ander mainung, und wirt sich röm. kgl. Mt. raise noch villeicht verlengern, weis nit, ob es des Kf. zu Collen und der zweier Gff. Newnar und Manderschiet zukunft ursach sey. Der Kf. zu Collenn wirt diesen tag zu Brussel inreiten, wie man sagt, und am negstkunftigen Montag zu ksl. Mt. kommen“.
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türkischen Angriffs zu rechnen55. Unter diesen Umständen konnte die kaiserliche Regierung den politischen Druck, der sich aus den eingehenden Informationen und Andeutungen über ständische Aktivitäten und Bestrebungen im Februar/März 1540 aufbaute, nicht ignorieren. Die Planungen für eine ständische Führungsinitiative zur Lösung des Religions- und Friedensproblems im Reich mußte man ernst nehmen, auch wenn sie schließlich abgefangen werden konnten und vorläufig im Sande verliefen. Sie signalisierten dringenden Kommunikationsbedarf auf ständischer Seite und waren jederzeit wiederholbar. Klar war auch, daß die weitgehenden Erwartungen der Protestierenden nicht erfüllt werden konnten, nicht nur weil dies den Grundüberzeugungen des Kaisers und seiner Räte widersprochen hätte, sondern auch, weil dies zum Zerwürfnis mit der Kurie und zur scharfen Konfrontation mit der katholischen Aktionspartei führen mußte. Mit deren Rückhalt verlangte Herzog Heinrich von Braunschweig, der am 9. März in Gent eintraf, entschieden eine konsequente Politik der Einschüchterung und Bedrohung gegenüber den Protestanten, die mit einem offensiven Vorgehen gegen Herzog Heinrich von Sachsen eingeleitet werden konnte, um die Bischöfe von Meißen und Merseburg gegen dessen Übergriffe zu schützen und dessen Herzogtum beim Nürnberger Bund zu halten56. Diese Argumentation fand in der kaiserlichen Regierung unterschiedliche Resonanz. Der Erzbischof von Lund etwa, den der Kaiser eilends in die Niederlande berufen hatte57, plädierte wie offenbar auch Granvelle, Naves und Scepper nach wie vor für einen konzilianten Kurs gegenüber den Protestierenden. Damit verbanden sich die Bereitschaft zu vertretbaren Konzessionen und zum Kompromiß und die klare Einsicht in den enormen Reformbedarf der römischen Kirche. Diese Haltung lief auf eine mittlere Linie hinaus, die die Polarisierung durch Religionsverhandlungen zur wechselseitigen Verständigung überwinden sollte58. Lund zog sich damit nach eigenem Bekunden den Verdacht zu, lutherisch zu sein59. Dagegen vertrat der Reichsvizekanzler Held entschieden die Po___________ 55 Bericht Heinrich Lerseners über seine Konferenz mit dem Erzbischof von Lund am 5. und 6. März 1540, Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, Beilage III, Documente Nr. 19, S. 475-489, hier die Einschätzung Lunds, S. 482-483. 56 Denkschrift Herzog Heinrichs von Braunschweig für den Kaiser, 10. März 1540, ARC III, Nr. 55, S. 89-90 und die eher ausweichende kaiserliche Antwort, Gent, 11. Mai 1540, ebd. Nr. 60A, S. 95-96. Vgl. auch Farnese an Sforza, Gent 5. April 1540, NB I,5, Nr. 79, S. 145-148, hier S. 146. 57 Erzbischof Johann von Lund an Landgraf Philipp von Hessen, 20. Februar 1540, Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, Beilage III, Documente Nr. 17, S. 470-471, hier S. 470. 58 Vgl. wie Anm. 48. 59 Erzbischof Johann von Lund an Landgraf Philipp von Hessen, Gent, 8. Mai 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 355, Nr. 138, fol. 102r-106v, hier fol. 104r zur bevorstehenden Reise König Ferdinands nach Hagenau: „Man sagt, das Dr. Mathis Helt mit ir Mt. soll, ich bin der sachen nit nutzlich, went ich bin lutherisch etc.“. Lund begrüßte die
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sition der katholischen Aktionspartei60, die schon im Spätjahr 1539 dem römischen König zu einer Politik der Stärke zur Durchsetzung des altkirchlichen Rechtsverständnisses in religionspolitisch motivierten Konflikten geraten hatte, um die Expansion des Protestantismus zu unterbinden61. In der Kontroverse um diese gegensätzlichen Grundkonzeptionen, die schließlich eskalierte und scharfe Formen annahm62, fielen auch die Antworten auf die zentrale Frage nach der kirchlichen Autorität und Entscheidungskompetenz unterschiedlich aus. Damit stand die Rolle der Kurie und ihrer am Kaiserhof und bei König Ferdinand akkreditierten Nuntien zur Diskussion, die deshalb die divergente, zeitweise auch undurchsichtige Meinungsbildung der kaiserlichen Regierung um so mißtrauischer und kritischer verfolgten. In der gegebenen Konstellation am Kaiserhof war ihnen der Reichsvizekanzler Held durchweg ein verläßlicher Partner, während der römische König sich mit der Zeit dem kurialen Einfluß entzog und damit den nötigen Spielraum gewann, um sich in Hagenau auf die Vorbereitung und Planung eines konzilsunabhängigen Reunionsversuches einzulassen. Von einer solch konkreten konzeptionellen Festlegung war man noch weit entfernt, als die habsburgischen Geschwister, noch während die Mission der Grafen Manderscheid und Neuenahr in Gang war, in Gent in kleinem Kreis über das künftige religionspolitische Procedere beraten ließen. Dieser Kommission, die am 3. April im Hause Granvelles zusammentrat, gehörten Johann de Rosa, Generalvikar des Bischofs von Arras, des Sohnes Granvelles, und Eustachius Chapuis, der ansonsten als Gesandter in England diente, für den Kaiser, Dr. Georg Gienger und der Wiener Bischof Johann Fabri für König Ferdinand und zwei Vertreter der Königin Maria an63, nicht aber die reichspolitischen Sachverständigen Held und Lund, deren religionspolitische Kontroverse die ___________ Vermittlungsbemühungen der Grafen Manderscheid und Neuenahr ausdrücklich, vgl. ebd. fol. 106r. 60 Dr. Mathias Held an Herzog Heinrich von Braunschweig, Wien, 12. November 1539, ARC III, Nr. 46, S. 73-74 und ders. an dens., Landshut, 13. Januar 1540, ebd. Nr. 51, S. 83-84. 61 Vgl. das dem römischen König im Namen der Nürnberger Verbündeten eingereichte Memorandum, Wien, 16. November 1539, ARC III, Nr. 42, S. 62-67 und den Abschied des Landshuter Bundestages, 20. Januar 1540, ebd. S. 88, Anm. 135. 62 Bericht Heinrich Lerseners über seine Konferenz mit dem Erzbischof von Lund am 5. und 6. März 1540 in Köln, Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, Beilage III, Documente Nr. 19, S. 475-489, hier S. 480 und S. 484 und Siebert von Löwenberg an Landgraf Philipp von Hessen, Gent, 9. Mai 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 355, Nr. 138, fol. 100r-101v (Kop.), hier fol.100v: „[...] Der von Lund ist dem keiser und andern hochlichen eingebildet, als solt er uber seinen gemessnen bevelch zu Franckfurth in jungst geubter handlung gangen sein, und dieß spiel soll ime Dr. Hilt zurichten, derohalben sie gegeneinander in heftiger clagen. Der von Lunden vertrost sich, ksl. Mt. werde ime gegen Dr. Hilten diß tags ein verhor anstellen, dorin befunden, wer von inen baiden recht ader unrecht gehandelt, soll werden [...]“. 63 Morone an Sforza, Gent, 8. April 1540, NB I,5, Nr. 81, S. 149-159, hier S. 151.
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Beratungen wohl nicht belasten sollte. Ihre Aufgabe bestand offenbar unter anderem darin, eine richtungweisende religionspolitische Initiative des Kaisers zu konzipieren, die für die Verselbständigung der ständischen Reichs- und Religionspolitik keinen Raum ließ und von beiden Religionsparteien bislang vermißt wurde64. Ob ihr darüber hinaus konkrete Richtlinien vorgegeben wurden, muß offen bleiben. Granvelle, der damals wohl einflußreichste kaiserliche Minister, hatte im Laufe des Frühjahrs wiederholt seine friedlichen Absichten beteuert65. König Ferdinand hatte Ende Februar, wie erwähnt, gegen das Trierer Projekt und auf Bitten Morones auch gegen die Vereinbarung von Vergleichsartikeln, die Kurfürst Joachim von Brandenburg dem Mainzer Kurfürsten zugeschickt und dieser an seine Suffragane zur Prüfung weitergeleitet hatte, interveniert66. Er zeigte auch Verständnis für die notorische Furcht Morones, die katholischen Stände könnten sich ohne Rücksicht auf den päpstlichen Primat mit den Protestierenden auf eine Konkordie verständigen. Er ermunterte den Nuntius sogar, Karl V. und Granvelle eindringlich aufzufordern, bei etwaigen Reunionsverhandlungen der Autorität des Hl. Stuhles Geltung zu verschaffen67. Er bat am 11. März Herzog Wilhelm von Bayern um sein Gutachten zur Religionspolitik im Reich68. Denn er teilte damals durchaus die Meinung Morones und der Nürnberger Verbündeten, daß man die kaiserliche Regierung auf die Verteidigung der katholischen Sache festlegen und davon abbringen müsse, weiterhin beiden Religionsparteien Rechnung tragen zu wollen69. Dieser Auffassung war ___________ 64
Farnese an Sforza, Gent, 23. März 1540, NB I,5, Nr. 74, S. 135-137, hier S. 136. Vgl. Johann von Naves an Graf Wilhelm von Neuenahr, 28. Februar 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 348, Nr. 136, fol. 127r-128v, hier fol. 127r; Georg von Boyneburg an Landgraf Philipp von Hessen, Gent, 9. März 1540, ebd. fol. 152r-155r und Georg von der Planitz an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, Antwerpen, 20. März 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 290, Nr. 120 Vol. 1, fol. 175r-197r, hier fol. 195v-196r. 66 Vgl. oben Anm. 15 und 18, außerdem Morone an S. Fiore, Gent, 6. März 1540, Dittrich, Nuntiaturberichte (wie Anm. 15), Nr. 47, S. 88-92, hier S. 88-89; auch NB I,5, Nr. 61, S. 110-112, hier S. 110-111. Vgl. auch Farneses Urteil über einen Wolfgang Capito zugeschriebenen Konkordienentwurf, Farnese an Papst Paul III., Gent, 13. März 1540, NB I,5, Nr. 65, S. 115-119, hier S. 117. Zur Bereitschaft der Schmalkaldener, sich auf eine ständische Vermittlungsinitiative einzulassen, vgl. den Abschied des Schmalkaldischen Bundestages in Arnstadt, Arnstadt, 12. Dezember 1539, Ganzer/zur Mühlen, Akten (wie Anm. 7), Bd. I,2, Nr. 392, S. 1094-1102, hier S. 1096. 67 Morone an S. Fiore, Gent, 11. März 1540, Dittrich, Nuntiaturberichte (wie Anm. 15), Nr. 48, S. 92-95, hier S. 93. In der gleichen Befürchtung drängte Morone auch immer wieder Paul III., durch seinen Beitritt zum Nürnberger Bund die altgläubigen Stände an sich zu binden, um religionspolitische Eigenmächtigkeiten zu verhindern, vgl. z. B. ebd. S. 94. 68 König Ferdinand an Herzog Wilhelm IV. von Bayern, Gent, 11. März 1540, ARC III, Nr. 56, S. 91-92. 69 Morone an S. Fiore, Gent,, 21. März 1540, Dittrich, Nuntiaturberichte (wie Anm. 15), Nr. 51, S. 98-102, hier S. 99-101. Vgl. auch Farnese an Papst Paul III., Gent, 13. März 1540, NB I,5, Nr. 65, S. 115-119, hier S. 115-117. 65
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Ferdinand wohl auch noch, als die erwähnte Kommission am 3. April ihre Beratungen aufnahm. Jedenfalls ging Morone von dieser Annahme aus, als der König ihm am 4. April unter Hinweis auf den bevorstehenden Beginn einer religionspolitischen Initiative des Kaisers unter dem Siegel der Vertraulichkeit andeutete, daß die Vertreter des Papstes um ihr Gutachten gebeten würden, auf das sie sich vorbereiten sollten, und daß man auf den Beitritt des Papstes zum Nürnberger Bund drängen werde70. Offenbar war schon in der Konferenz vom 3. April das Projekt eines konzilsunabhängigen Reunionsversuches zur Sprache gekommen und diese Option mit der Gefahr begründet worden, daß die deutschen Reichsstände, wenn der Kaiser untätig blieb, in eigener Regie eine Lösung des Religionsproblems herbeiführen würden. Ferdinand ließ sich allerdings durch dieses Votum nicht ohne weiteres überzeugen und gab zu diesem Zeitpunkt noch der Alternative eines päpstlich geleiteten Konzils den Vorzug. Jedenfalls handelte der Wiener Bischof Johann Fabri wohl kaum ohne sein Wissen und nicht nur aus eigenem Antrieb, als er am 4. April den Legaten Cervini um Audienz bat, ausdrücklich auch die Anwesenheit des beim römischen König akkredierten Nuntius Morone wünschte und empfahl, der Papst möge zur Förderung des Konzils „far per persone di autorità ogni istantia appresso l’Imperatore, acciochè el consentisse con il Re di Romani“, und das Generalkonzil notfalls ohne den ausdrücklichen Konsens Frankreichs und nur mit Zustimmung der Habsburger einberufen, sich vorab mit der Teilnahme ihrer Länder begnügen und den Anschluß anderer Mächte der Zukunft überlassen. Andernfalls drohe die Gefahr eines Nationalkonzils in Deutschland, weil nicht nur die Lutheraner, sondern auch geistliche Stände sich der päpstlichen Oberhoheit entziehen wollten71. Diese Argumentation bewirkte immerhin, daß Morone in geradezu panischer Furcht vor jeder Versammlungsform, die zu einem Nationalkonzil führen und die päpstliche Autorität im Reich ein für allemal vernichten konnte, dem Papst – trotz aller Vorbehalte und möglichen Einwände – dringend zum Konzil, zur umgehenden Selbstreform der Kurie und zum Beitritt zur katholischen Liga riet, die ihm nach ihrer Erweiterung geeignet schien, den päpstlichen Primat zu verteidigen und gegebenenfalls Konzilsbeschlüsse zu exekutieren72. Farneses Schlußfolgerung dagegen, Kaiser und König legten es ___________ 70
151. 71
Morone an Sforza, Gent, 8. April 1540, NB I,5, Nr. 81, S. 149-158, hier S. 150-
Morone an Sforza, Gent, 8. April 1540, NB I,5, Nr. 81, S. 149-158, hier S. 152-153 und Farnese an Papst Paul III., Gent, 6. April 1540, Dittrich, Nuntiaturberichte (wie Anm. 15), Nr. 55, S. 105-108, das Zitat hier S. 106. 72 Morone an Sforza, Gent, 8. April 1540, NB I,5, Nr. 81, S. 149-159. Für den Fall, daß die Veranstaltung des Generalkonzils nicht möglich war, weil der Friede zwischen dem Kaiser und Frankreich nicht zustande kam, prognostizierte Morone, ebd. S. 155156: „non seguendo la pace, l’imperator’ et re di Romani sono astretti o chiudere gli ochi in le cose di Germania, o farli provisione. se vogliono chiudere gli ochi, gli disviati si faranno tanto insolenti, et li Catholici tanto timidi et abietti che a poco a poco quelli si
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darauf an, mit dem Konzilsversprechen beide Religionsparteien hinzuhalten, erwies sich als irrig73. Überhaupt gelang es der kaiserlichen Regierung, die päpstlichen Diplomaten über ihre religionspolitischen Pläne und Absichten im Ungewissen zu lassen. Auch Ferdinand fühlte sich schließlich im Zweifelsfall den Zielen und Intentionen der kaiserlichen Politik stärker verpflichtet als den Anliegen und Interessen der Kurie. Denn er akzeptierte und unterstützte in der Folgezeit die taktischen Manöver, die Morones frühe Vermutung bestätigten, daß die päpstlichen Gesandten auf die Meinungsbildung der kaiserlichen Regierung keinen Einfluß haben würden74. Zwar ließ man ihnen, ohne sie an den laufenden Beratungen irgendwie zu beteiligen, auch weiterhin Informationen zukommen, dosierte diese aber so, daß die Taktik Granvelles nicht durchkreuzt wurde und die Adressaten eher abgelenkt als aufgeklärt wurden. Farnese etwa glaubte am 10. April aus der Äußerung des Kaisers gegenüber Poggio, man werde erst in zwei Monaten mit Religionsverhandlungen beginnen, schließen zu können, daß man zunächst zahlreiche Gutachten, darunter auch seine Stellungnahme einholen wolle. Daß Granvelle – möglicherweise unter dem Eindruck des protestantischen Plädoyers für ein papstfreies Nationalkonzil – den Wiener Bischof prüfen ließ, ob Konzilien tatsächlich stets durch den Papst autorisiert gewesen seien, und behauptete, dies diene nur der Vorbereitung auf eine etwaige Diskussion über diese Frage, gab dem Legaten nicht zu denken75. Als Ferdinand Morone am 11. April über den Plan unterrichtete, in Speyer unter seiner Leitung einen Konvent der katholischen Reichsstände zu veranstalten, um über die anstehenden reichspolitischen Probleme zu beraten, ließ er den Nuntius in dem Glauben, daß vor allem beabsichtigt sei, die altkirchliche Seite zu einigen, und beruhigte ihn mit der zweimaligen Beteuerung, daß nichts ohne Zustimmung der päpstlichen Diplomaten geschehen werde76. Bedenklich frei___________ dilataranno in ogni parte et questi o saranno oppressi o si concordaranno con gli adversarii, et questa concordia sarà per via di dieta imperiale et sarà con total esclusione della sede apostolica et con destruttione della religione in Germania, di che ne habbiamo infiniti preludii, anzi siamo a più del mezzo, come si è visto nell’ ultima dieta di Franckfordia, et concordandosi questa potente et gran provincia nelli mali dogma, congionta con Inghilterra, non solo si perde la speranza che mai più si riduca all’obedientia della sede apostolica et alla vera religione, ma si ha da temere che non tiri seco la Polonia, l’Hungaria, la Francia et forsi non costrenga questi doi principi, cioè l’imperatore et il re di Romani, per salvar le cose sue, a consentire nelli loro dogma, dil che seguirebbe ancora mutatione della Spagna et di gran parte dell’Italia“. 73 Farnese an Papst Paul III., Gent, 6. April 1540, Dittrich, Nuntiaturberichte (wie Anm. 15), Nr. 55, S. 105-108, hier S. 107. 74 Morone an S. Fiore, Gent, 21. März 1540, Dittrich, Nuntiaturberichte (wie Anm. 15), Nr. 51, S. 98-102, hier S. 101. 75 Farnese an Papst Paul III., Gent, 10. April 1540, NB I,5, Nr. 82, S. 159-165, hier S. 164. 76 Morone an Papst Paul III., Gent, 11. April 1540, Dittrich, Nuntiaturberichte (wie Anm. 15), Nr. 57, S. 108-110, hier S. 109.
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lich schien, daß es die kaiserliche Regierung unterließ, die päpstlichen Vertreter, wie von Ferdinand angekündigt, über ihre Absichten offiziell und genau zu informieren. Dies weckte den – später sich bestätigenden – Verdacht, Kaiser und König setzten auf eine Überrumpelungstaktik, um ihre Pläne durchzusetzen77. Allerdings war offenbar noch am Vormittag des 15. April die endgültige Entscheidung der kaiserlichen Regierung nicht gefallen. Immerhin mußte Ferdinand an diesem Vormittag auf gezieltes Drängen Morones, dem er zunächst auszuweichen suchte, das Gerücht über die Planung einer zweiten Verhandlungsrunde, an der auch die Protestierenden teilnehmen sollten, bestätigen. Erst am folgenden Tag teilte der König im Einzelnen mit, daß auf dem für den 23. Mai in Speyer geplanten Konvent der katholischen Stände über die Stärkung der katholischen Liga, über mögliche religionspolitische Konzessionen und über das gemeinsame Procedere bei den folgenden Reunionsverhandlungen mit den evangelischen Ständen auf dem zweiten Konvent beraten werden sollte. Falls eine Übereinkunft mit den Protestierenden oder zumindest eine Annäherung der Standpunkte erreicht werde, sollte zur weiteren Beratung und Beschlußfassung ein Reichstag einberufen werden. Die Entsendung eines besonderen Legaten zu den bevorstehenden Verhandlungen, hielt Ferdinand nicht für nötig78. Eben am 16. April wurden offenbar bereits die Einladungsschreiben vorbereitet. Als sich Poggio noch am selben Tag über die Vorgehensweise der kaiserlichen Regierung beschwerte, die die Nuntien ohne vorherige Konsultati___________ 77 Morone an Papst Paul III., Gent, 14. April 1540, Dittrich, Nuntiaturberichte (wie Anm. 15), Nr. 58, S. 110-112, hier S. 110-111: Entgegen der Ankündigung Ferdinands ist Granvelle bis heute nicht erschienen, um den Legaten über den in Speyer geplanten Konvent zu informieren, „[…] la qual cosa benchè potrebbe nascere, che ancora non fussero ben risoluti di far detto convento, nondimeno a questi Rmi. et anche a me dà qualche suspittione, che in uno medesimo tempo vogliano intimarlo et eseguirlo, per dubio forse, che non se gli habbia a porre qualche impedimento“. Hat nach seinem Gespräch mit Ferdinand erfahren, „[…] che se ragiona, che tutti gli Principi di Germania così catholici come lutherani saranno insieme“ auf dem geplanten Konvent. Außer den Machenschaften der am Kaiserhof anwesenden protestantischen Gesandten fürchteten die Nuntien auch, ebd. S. 111: „Oltra di questo si vede il bisogno per il pericolo del Turco, quale non solo è imminente, ma è quasi redotto in effetto, et però siamo pieni di suspitioni et dubitiamo, que sotto pretesto di convento solo di Catholici non si facci una dieta generale, la quale V. Sant. sa esser molto tempo fa promessa dall’Imperatore non facendosi il concilio et esser da tutta la Germania grandemente desiderata, nella quale dieta per non essere ancora conclusa questa benedetta lega catholica dal canto di V. Sant. dubito, sarà tenuto poco cunto dell’autorità di quella Santa Sede Apostolica, et per conservatione di quella non voranno guastar la lor quiete, alla quale tutti paiono inclinatissimi.“ 78 Morone an S. Fiore, Gent, 15. April 1540, Dittrich, Nuntiaturberichte (wie Anm. 15), Nr. 59, S. 112-116 und ders. an dens., Gent, 16. April 1540, Hugo Laemmer (Hg.), Monumenta Vaticana historiam ecclesiasticam saeculi XVI illustrantia, Freiburg i.Br. 1861, Nr. CLXIX, S. 261-262. Zur Planung des Reichstages bereits in Gent vgl. auch Karl V. an Kurfürst Joachim von Brandenburg, Gent, 30. April 1540, ARC III, Nr. 59, S. 94-95, hier S. 95.
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on mit ihren bereits feststehenden Beschlüssen konfrontierte, beteuerte Granvelle erneut, man wolle durchaus eng mit dem Papst und seinen Vertretern kooperieren79, und versuchte damit das Dilemma der päpstlichen Diplomaten zu überspielen, in deren Sicht jede Form von offiziellen Religionsverhandlungen mit den Protestierenden außerhalb eines vom Papst einberufenen Generalkonzils die Reputation und Autorität des Hl. Stuhles im Reich zu ruinieren drohte80. Daß die kaiserliche Regierung diese Gefahr bei der Planung ihrer Reunionspolitik scheinbar leichtfertig in Kauf nahm, empörte die Nuntien aufs Äußerste81. Die Aussicht, in einem späteren Stadium die Entscheidung der theologischen Streitfragen maßgeblich beeinflussen zu können, konnte die Eigenmächtigkeit der aktuellen kaiserlichen Politik nicht kompensieren, die in den ersten Aprilwochen vor der Aufgabe stand, einen Kommunikationsrahmen zu konstruieren, in dem mit einiger Aussicht auf Erfolg die Konkordie thematisiert werden konnte. Das oben skizzierte divergente Meinungsbild seines Beraterstabes machte dem Kaiser die Entscheidung nicht eben leicht. In der Tat legte er sich offenbar erst nach längerem Zögern – etwa am 16./17. April – definitiv fest82. Er fühlte sich darin nach eigenem Bekunden durch den Hinweis Ferdinands auf den Vorschlag Pauls III. vom Spätsommer 1539, die Religionsfrage in Anwesenheit Karls V. auf einem Reichstag zu behandeln, bestätigt83. Daraus glaubte man stillschweigend ein päpstliches Einverständnis auch mit einer anderen ___________ 79 Poggio an Papst Paul III., o. O., 17. April 1540, NB I,5, Nr. 89, S. 172-175, hier S. 172-173. 80 Vgl. z. B. Farnese an Papst Paul III., 17. April 1540, NB I,5, Nr. 90, S. 175-182, hier S. 179-180; ders. an dens., Gent, 20. April 1540, ebd. Nr. 92, S. 183-186, hier S. 184 und S. 185 und Poggio an Papst Paul III., 17. April 1540, ebd. Nr. 89, S. 171-175, hier S. 172. 81 Farnese an Papst Paul III., Gent, 21. April 1540, NB I,5, Nr. 93, S. 186-189, hier S. 187. 82 Poggio an Papst Paul III., 17. April 1540, ebd. Nr. 89, S. 171-175, hier S. 172: Demnach erklärte Granvelle gegenüber Poggio am 16. April, „se questi Revmi [der Legat und die Nuntien] non havian havuto particularmente conto di quanto in questi giorni havian pratichato questi dui principi sopra la instantia che fanno questi signori de Germania che si convochino li principi là per pigliare qualche appunctamento in questa causa, è stato perchè S. Mtà Ces. non si è resoluto in cosa, che gli para convenghi (considerati li periculi in una causa che tanto importa); che è vero movano che si dian lettere de convocatione et che si potrano congregar 15 o 20 di prima li Catholici et procurare di cerchare il megio che più convenghi [...]“. Am 17. April wußte Farnese zu berichten, daß die Einladungsschreiben für den Speyerer Konvent bereits verfaßt und vielleicht schon verschickt seien, vgl. Farnese an Papst Paul III., 17. April 1540, NB I,5, Nr. 90, S. 175-182, hier S. 182. Vgl. auch Poggio an Papst Paul III., Gent, 24. April 1540, ebd. Nr. 96, S. 191-198, hier S. 197 die Erklärung Granvelles. 83 Poggio an Papst Paul III., Gent, 24. April 1540, NB I,5, Nr. 96, S. 191-198, hier S. 193-194. Vgl. auch Morone an S. Fiore, Gent, 22. April 1540, Dittrich, Nuntiaturberichte (wie Anm. 15), Nr. 62, S. 119-122, hier S. 120-121 und Farnese an Papst Paul III., Gent, 20. April 1540, NB I,5, Nr. 92, S. 183-186, hier S. 185 die Argumentation Granvelles am 20. April.
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Form reichsständischer Versammlung unter kaiserlicher bzw. königlicher Leitung ableiten zu können. Dem widersprachen allerdings unter Hinweis auf die veränderten Umstände des Frühjahrs 1540 der Legat und die Nuntien heftig und entschieden84, weil sie die Gefahr sahen, daß dem Kaiser bzw. dem König, denen sie im Übrigen eine vorrangig politische Motivation unterstellten85, die Kontrolle über die Verhandlungen entglitt und sich dann aus den Konventen schrittweise ein Nationalkonzil entwickelte, auf dem sich die katholischen Reichsstände um des inneren Friedens willen auf bedenkliche Zugeständnisse einlassen, sich unter Ausschluß des Papstes mit den Protestierenden auf eine nationalkirchliche Konkordie verständigen und sich damit unter Vernachlässigung des wahren Glaubens ebenfalls von Rom lossagen konnten86. Diesem Autoritäts- und Machtverlust der Kurie, den die Entscheidung für offizielle Religionsverhandlungen mit den Protestierenden fast zwangsläufig zu präjudizieren schien87, mußte mit aller Energie vorgebeugt werden, indem z. B. der Papst die katholischen Stände, auch wenn sie keineswegs alle als konfessionell zuverlässig gelten konnten, durch seinen von Morone und Farnese immer wieder geforderten Beitritt zum Nürnberger Bund an sich band und indem auf dem Konvent der Altgläubigen, die man entsprechend beeinflussen mußte, die Weichen so gestellt wurden, daß die kaiserliche Reunionspolitik scheitern mußte88. Als Granvelle, der bis dahin die Päpstlichen weitgehend im Ungewissen gelassen ___________ 84 Farnese an Papst Paul III., Gent, 20. April 1540, NB I,5, Nr. 92, S. 183-186 und ders. an dens., Gent, 26. April 1540, ebd. Nr. 99, S. 200-202, hier S. 202. 85 Farnese an Papst Paul III., Gent, 21. April 1540, NB I,5, Nr. 93, S. 186-189, hier S. 187-188 und ders. an dens., Gent, 26. April 1540, ebd. Nr. 99, S. 200-202, hier S. 201: „[...] a me (salvo il vero) con questi andamenti fanno credere per certo di volere unire et accordare la Germania in qualunche modo, pensando con essa unita di poter resistere al Turco per terra, non accordando prima seco, come cercano, di poter resistere a Francia et di poter tenere V. Stà in officio, se non per amore, per timore, et forse impatronirsi così de Italia, et però non vogliano essere impediti nè interotti da V. Stà o soi ministri che forse persuadessero a li principi catholici cosa, perchè l’accordo con Lutherani non seguisse, et la venuta del Turco in Hungaria è il mantello di questi altri ministerii“. 86 Farnese an Papst Paul III., Gent, 21. April 1540, NB I,5, Nr. 93, S. 186-189, hier S. 187; ders. an dens., o. O., 17. April 1540, ebd. Nr. 90, S. 175-182, hier S. 176-177 und S. 179; Morone an Papst Paul III., Gent, 14. April 1540, Dittrich, Nuntiaturberichte (wie Anm. 15), Nr. 58, S. 110-112 und ders. an S. Fiore, Gent, 15. April 1540, ebd. Nr. 59, S. 112-116. 87 Farnese an Papst Paul III., Gent, 21. April 1540, NB I,5, Nr. 93, S. 186-189, hier S. 187. 88 Farnese an Papst Paul III., Gent, 21. April 1540, NB I,5, Nr. 93, S. 186-189, hier S. 188; ders. an dens., o. O., 17. April 1540, ebd. Nr. 90, S. 175-182, hier S. 177-181; Morone an Sforza, Gent, 8. April 1540, NB I,5, Nr. 81, S. 149-159, hier S. 157-158; ders. an Papst Paul III., Gent, 14. April 1540, Dittrich, Nuntiaturberichte (wie Anm. 15), Nr. 58, S. 110-112, hier S. 112; ders. an S. Fiore, Gent, 15. April 1540, ebd. Nr. 59, S. 112-116, hier S. 115-116; ders. an dens., Gent, 22. April 1540, ebd. Nr. 62, S. 119122, hier S. 121-122; ders. an dens., Gent, 25. April 1540, ebd. Nr. 63, S. 122-126, hier S. 126.
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und sie damit taktisch überspielt hatte, so daß dem Papst kaum Spielraum blieb, sich angemessen vertreten zu lassen89, am 20. April 1540 – die Ausschreiben zum Speyerer Konvent waren zu diesem Zeitpunkt bereits ausgefertigt – unter Hinweis auf die hohe Dringlichkeit einer religionspolitischen Lösung für das Reich und auf die akute Türkengefahr den Legaten endlich offiziell über die kaiserlichen Pläne informierte, bot Farnese als Alternative die umgehende Einberufung und Eröffnung des suspendierten Generalkonzils an90. Sein von den Nuntien vorbehaltlos mitgetragenes, völlig negatives Urteil über die Konzeption der kaiserlichen Reunionspolitik machte auf die kaiserliche Regierung und Ferdinand nicht den gewünschten Eindruck, wurde vielmehr geradezu als Affront aufgefaßt91. Der König, der ansonsten kurialen Anliegen und Bedenken viel Verständnis entgegenbrachte, ließ sich sogar gegen seine Gewohnheit gegenüber Morone, den er auch in der Folgezeit seine Verärgerung über die massive Kritik der päpstlichen Vertreter deutlich spüren ließ92, zu einer auffallend scharfen Erklärung hinreißen93. Man suchte zwar wiederholt, mit der beschwichtigenden Beteuerung, der päpstlichen Autorität gebührend Geltung verschaffen zu wollen, und mit kleinen Zugeständnissen die Wogen zu glätten94, ___________ 89
Darüber beschwerten sich Farnese und die Nuntien wiederholt vehement. Vgl. Farnese an Papst Paul III., Gent, 21. April 1540, NB I,5, Nr. 93, S. 186-189, hier S. 187. Vgl. auch ders. an dens., o. O., 17. April 1540, ebd. Nr. 90, S. 175-182, hier S. 180; ders. an dens., Gent, 26. April 1540, ebd. Nr. 99, S. 200-202, hier S. 200 und Poggio an dens., Gent, 26. April 1540, ebd. Nr. 100, S. 202-204, hier S. 204. 90 Vgl. die Denkschrift Farneses, Stephan Ehses (Hg.), Concilii Tridentini actorum pars prima: Monumenta concilium praecedentia, trium priorum sessionum acta. Freiburg i. Br. 1904 (Concilium Tridentinum diariorum, actorum, epistularum nova collectio Bd. IV: Actorum pars prima), Nr. 143, S. 182-187; deren deutsche Übersetzung, Ganzer/zur Mühlen, Akten (wie Anm. 7), Bd. I,2, Nr. 412, S. 1235-1239 und die Inhaltsangabe NB I,5, S. 185, Anm. 1, S. 185-186. Vgl. dazu auch Farneses Entschuldigung für seinen eigenmächtigen Schritt in der Konzilsfrage, Farnese an Papst Paul III., Gent, 21. April 1540, NB I,5, Nr. 93, S. 186-189, hier S. 187. 91 Poggio an Papst Paul III., Gent, 24. April 1540, NB I,5, Nr. 96, S. 191-198, hier S. 194-195 die Stellungnahme des Kaisers zur Eingabe des Legaten; Morone an S. Fiore, Gent, 25. April 1540, Dittrich, Nuntiaturberichte (wie Anm. 15), Nr. 63, S. 122-126, hier S. 123-124 und S. 126 und Farnese an Papst Paul III., Gent, 26. April 1540, NB I,5, Nr. 99, S. 200-202, hier S. 200-201. 92 Morone an S. Fiore, Gent, 4. Mai 1540, Dittrich, Nuntiaturberichte (wie Anm. 15), Nr. 64, S. 126-128, hier S. 128. 93 Morone an S. Fiore, Gent, 25. April 1540, Dittrich, Nuntiaturberichte (wie Anm. 15), Nr. 63, S. 122-126, hier S. 123-124 und S. 126. Vgl. auch Farnese an Papst Paul III., Gent 26./27. April 1540, NB I,5, Nr. 101, S. 204-208, hier S. 205. 94 Farnese an Papst Paul III., Gent, 21. April 1540, NB I,5, Nr. 93, S. 186-189, hier S. 187-188; ders. an dens., 22. April 1540, NB I,5, Nr. 95, S. 190-191, hier S. 191; Morone an S. Fiore, Gent, 25. April 1540, Dittrich, Nuntiaturberichte (wie Anm. 15), Nr. 63, S. 122-126, hier S. 125; Poggio an Papst Paul III., Gent, 26. April 1540, NB I,5, Nr. 100, S. 202-204, hier S. 204; ders. an dens., Gent, 6. Mai 1540, NB I,5, Nr. 113, S. 229-230.
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hielt aber ansonsten konsequent an dem einmal beschlossenen Verfahren fest, weil diese Option der eigenen komplexen Interessenlage am ehesten gerecht zu werden schien. Um den für ihre ungestörte Planung und Umsetzung nötigen Spielraum zu gewinnen, mußte der kuriale Einfluß durch eine restriktive Informationspolitik gegenüber den Nuntien und dann durch eine hinhaltende Taktik ausgeschaltet werden. In der Einsicht, daß auf einen baldigen Frieden mit Frankreich, der die habsburgische Politik dauerhaft entlasten konnte, vorab nicht zu rechnen war, hatte man eine Strategie entworfen, die, wenn sie zum Erfolg führte, die politischen Verhältnisse im Reich auf der Basis der Konkordie konsolidieren und damit die Voraussetzung für die Türkenhilfe der Stände, auf die Ferdinand dringend angewiesen war, schaffen konnte, die zudem Gelegenheit bot, den französischen König seinem Versprechen gemäß in die Verhandlungen mit den Protestanten einzubinden95, und die man glaubte dem Papst zumuten zu dürfen, wenn man – zumindest verbal – keinen Zweifel an der eigenen Loyalität gegenüber der römischen Kirche und ihrem Oberhaupt aufkommen ließ96. Der Kaiser mißtraute im Übrigen der päpstlichen Konzilspolitik gründlich und fürchtete am Ende zusammen mit seinem Bruder im Stich gelassen zu werden. Da Gewaltanwendung in seiner Sicht nicht in Frage kam, blieb nur die Option für eine einigermaßen Erfolg versprechende konzilsunabhängige Alternative. Entscheidend dafür sei, erklärte der Kaiser gegenüber Poggio am 23. April, die Einsicht in die dringende Notwendigkeit, der Expansion der neuen Lehre und der sich abzeichnenden konfliktträchtigen Entwicklung im Reich vorzubeugen, nicht nur die im laufenden Jahr angeblich nicht akute Türkengefahr97. Die kaiserliche Regierung kannte zudem den Erwartungsdruck, der sich in beiden Religionsparteien gegenüber ihrer Politik aufgebaut hatte98, auch den daraus resultieren___________ 95
Mit Schreiben vom 25. oder 26. April forderte Karl V. Franz I. auf, einen Vertreter zu den bevorstehenden Tagungen zu entsenden, Farnese an Papst Paul III., Gent, 26./27. April 1540, NB I,5, Nr. 101, S. 204-208, hier S. 207. Vgl. auch die Kredenz König Franz‘ für Lazare Baʀf an die Reichsstände auf dem Hagenauer Konvent, Saint Germain en Laye, 17. Mai 1540, Ganzer/zur Mühlen, Akten (wie Anm. 7), Bd. I,1, Nr. 143, S. 320-321. Baʀf traf am 1. Juni 1540 in Hagenau ein, vgl. ebd., Bd. I,2, Nr. 199, S. 531. 96 Granvelle entschuldigte das eigenmächtige Vorgehen im Übrigen auch mit der Annahme, der Legat kenne den Willen des Papstes und habe dementsprechend uneingeschränkte Vollmacht, vgl. Farnese an Papst Paul III., Gent, 20. April 1540, NB I,5, Nr. 92, S. 184-186, hier S. 186. 97 Poggio an Papst Paul III., Gent, 24. April 1540, NB I,5, Nr. 96, S. 191-198, hier S. 193-195. Ferdinand dagegen hielt trotz der gegenteiligen Einwände Morones an der Aktualität der Türkengefahr fest, Morone an S. Fiore, Gent, 4. Mai 1540, Dittrich, Nuntiaturberichte (wie Anm. 15), Nr. 64, S. 126-128, hier S. 127. 98 Farnese an Sforza, Gent, 23. März 1540, NB I,5, Nr. 74, S. 135-137, hier S. 136; Poggio an Papst Paul III., Gent, 26. April 1540, ebd. Nr. 100, S. 202-204, hier S. 203 und ders. an dens., 17. April 1540, ebd. Nr. 89, S. 171-175, hier S. 172 und das Zitat aus diesem Brief oben in Anm. 82.
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den Kommunikationsbedarf und wußte, daß man die reichspolitische Initiative nicht an die zwischenständischen Bestrebungen verlieren durfte, die darauf hinausliefen, im Interesse am Reichsfrieden die religionspolitische Problematik notfalls ohne den Kaiser zu lösen99. Einer solchen Entwicklung durch die Einberufung eines Reichstages vorzubeugen, schien nicht opportun, nicht nur weil man 1532 in Regensburg mit der Eigenmächtigkeit der Reichsstände schlechte Erfahrungen gemacht hatte100, sondern auch weil damit der Nürnberger Friedstand ein Ende gefunden hätte101. Zugleich war zu befürchten, daß die katholische Aktionspartei gegen die Alternative, daß nämlich der Kaiser wie 1539 in Frankfurt die alleinige Verantwortung für ein Abkommen mit den Protestierenden übernahm, energisch opponierte, weil sie dann ihre Forderungen nicht geltend machen konnte102. Da der Kaiser zudem in der Frage, was religionspoli___________ 99 Vgl. die entsprechende Erklärung Ferdinands vom 22. April, Morone an S. Fiore, Gent, 22. April 1540, Dittrich, Nuntiaturberichte (wie Anm. 15), Nr. 62, S. 119-122, hier S. 120, außerdem Farnese an Papst Paul III., Gent, 22. April 1540, NB I,5, Nr. 95, S. 190-191 und Poggio an Papst Paul III., Gent, 24. April 1540, NB I,5, Nr. 96, S. 191198, hier S. 194. 100 Vgl. die Antwort Karls V. auf die Mission des päpstlichen Nuntius Giovanni Riccio da Montepulciano, September 1539, NB I,4, Beilagen Nr. 50, S. 537-540, hier S. 538-539: „Et quanto al celebrare la detta dieta generale, medesimamente si considera che sempre doppo quella che si celebrò in Ratisbona, è stato iudicato cosa pericolosa il convocare altra dieta generale, attesa principalmente la conclusione che all’hora li stati dello imperio senza Sua Maestà piglierono fra essi, cioè che si ricercasse papa Clemente che convocasse il concilio generale, et non lo facendo Sua Maestà lo convocasse per sua autorità dentro a un termine prefisso, et in falta di ciò essi fariano un concilio nationale per concertare declarare et ordinare quel che staria bene per la Germania. et dall’hora in qua le cose sono successe di male in peggio in quei paesi et li desviati hanno tirato gran parte nela loro opinione, et per questo si è tenuto sempre come per certo che, venendosi a nova celebratione di dieta senza accordar prima la differentia della fede et religion nostra o metterla in termine de pacificatione, si faria conclusione irremediabilmente pregiudiciale alla fede et all’autoritá della santa sede apostolica“. 101 Vgl. die Replik König Ferdinands auf die Antwort der Stände auf die Proposition, Hagenau, 18. Juni 1540, Ganzer/zur Mühlen, Akten (wie Anm. 7), Bd. I,1, Nr. 12, S. 4852, hier S. 49-50. 102 Vgl. z. B. die Denkschrift Herzog Heinrichs von Braunschweig, Mai 1540, ARC III, Nr.60B, S. 96-97, hier S. 97: Der Herzog erinnert Kaiser und König daran, „zu was beduncken die vorige tagleistungen, so mit den luterischen stende zu Franckfuert und Wormbs one vorwissen der gehorsamen chur, fursten und stenden der christlichen buntnus und anderer furgenomen, denselben gereicht sein. Solten nhun abermals also handelungen mit den luterischen one vorwissen der andren, sonderlich der christlichen buntnus fursten und stenden gepflogen werden, hetten ire mten. dannoch zu bedencken, das es nit klein misbeduncken bey denselbigen stenden und andren gehorsamen geperen mocht“. Auf die Notwendigkeit, die altgläubigen Stände zu konsultieren und in die kaiserliche Religionspolitik einzubeziehen, wies auch Lund wiederholt hin, vgl. sein Schreiben an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, Wien, 8. Dezember 1539, HStA Weimar, Reg. H pag. 290, Nr. 120, Vol. 2, fol. 166r-168v, hier fol. 166v und den Bericht Heinrich Lerseners über seine Konferenz mit Lund in Köln am 5. und 6. März
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tisch zulässig und angebracht war, unschlüssig war, empfahl es sich um so mehr, in einem ersten Schritt das Meinungsbild der altgläubigen Stände zu sondieren bzw. mit ihnen Einvernehmen über einen gemeinsamen politischen Kurs gegenüber den Protestierenden herzustellen, um sich abzusichern103. Es lag deshalb nahe, die geplanten Religionsverhandlungen in einem zweistufigen Verfahren zu organisieren. Dies bot zudem den Vorteil, daß sich so der im Frankfurter Anstand vereinbarte Beratungsmodus umgehen ließ, den die Kurie so vehement abgelehnt hatte und dem sich Held nach wie vor entschieden widersetzte104. Die Konzeption, auf die man sich schließlich in Gent einigte, berücksichtigte den Partizipationsanspruch und die Interessen der entschieden altkirchlichen Stände, bot dem Einfluß der gemäßigten bzw. konfessionsneutralen Stände genügend Spielraum und trug zugleich der Notwendigkeit einer konstruktiven Reichsreligionspolitik Rechnung, indem sie für den ersten Konvent Bemühungen um die Erweiterung des Nürnberger Bundes, die der altkirchlichen Position in den folgenden Verhandlungen erhöhtes Gewicht geben sollte, die Verständigung auf vertretbare religiöse Konzessionen und die Klärung der Vorgehensweise im Rahmen des für den zweiten Konvent geplanten Reunionsversuches vorsah. Die altgläubige Seite sollte geschlossen, selbstbewußt und mit klaren programmatischen Vorstellungen in die Auseinandersetzungen eintreten. Wenn mit einer so begonnenen Politik der Verständigung ein bahnbrechender Erfolg oder auch nur ein ermutigender Teilerfolg erzielt werden konnte, bot es sich an, ___________ 1540, Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, Beilage III, Documente Nr. 19, S. 475489, hier S. 483-484. 103 Poggio an Papst Paul III., 17. April 1540, NB I,5, Nr. 89, S. 171-175, hier S. 172 die Erklärung Granvelles: Die Nuntien wurden bisher noch nicht über die Beratungen des Kaisers und des Königs informiert, „perchè S. Mtà Ces. non si è resoluto in cosa, che gli para convenghi (considerati li periculi in una causa che tanto importa); che è vero movano che si dian lettere de convocatione et che si potrano congregar 15 o 20 dì prima li Catholici et procurare di cerchare il megio che più convenghi [...]“. Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen vermutete als Zweck des Speyerer Konventes: „So ist auch wol vermutlichen, das man in solcher handelung erlernen will, welche chur-, fursten und stende mher zu friden und ainigkeit, auch vergleichung der religion geneigt sey [sic!], darzu welche der meynung sein, die sachen, Gottes wort belangende, mit dem schwert und gewaldt zu dempfen, und zu welcher meynunge das mherer teil geneigt sein wirdet, das die handelungen werden furgenomen und gericht werden“, eigenhändiger Nachtrag Kurfürst Johann Friedrichs zu einem kursächsischen Gutachten über den Speyerer Tag, Anfang Mai 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 304, Nr. 125, Bd. 2, fol. 70r-81v, hier fol. 72v und 73r. Das Gutachten ist unter dem Datum des 6. Juni 1540 in unzulänglicher Editionstechnik gedruckt bei Ganzer/zur Mühlen, Akten (wie Anm. 7), Akten Bd. I,1, Nr. 153, S. 370-376. Zur Datierung vgl. unten Anm. 117. 104 Zu Held vgl. sein Schreiben an Herzog Heinrich von Braunschweig, Landshut, 13. Januar 1540, ARC III, Nr. 51, S. 83-84 und Siebert von Löwenberg an Landgraf Philipp von Hessen, Gent, 9. Mai 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 355, Nr. 138, fol. 100r-101v (Kop.), hier fol.100v und das daraus entnommene Zitat in Anm. 62.
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in einem letzten Schritt auf einem Reichstag eine tragfähige Einigung zu suchen105. An einer offiziellen Vertretung des Papstes durch einen Legaten war man zunächst nicht sonderlich interessiert. Es genügte – gedacht war wohl an Morone – einer der ohnehin akkreditierten Nuntien106. Um so mehr Wert legte man seit längerer Zeit auf den Beitritt des Papstes zur katholischen Liga107, der die altgläubigen Kräfte im Reich stabilisieren sollte108. Die kaiserliche Regierung entwickelte also aus der reichspolitischen Kommunikation des Frühjahrs 1540 und unter dem Eindruck der außenpolitischen ___________ 105 Zur Konzeption der kaiserlichen Konventspolitik vgl. Morone an S. Fiore, Gent, 16. April 1540, Laemmer, Monumenta Vaticana (wie Anm. 78), Nr. CLXIX, S. 261262, hier S. 261. Granvelle verteidigte den kaiserlichen Konventsplan entschieden. Vgl. Farnese an Papst Paul III., Gent, 20. April 1540, NB I,5, Nr. 92, S. 183-186, hier S. 184185: „Alhora mons. di Granvela rispondendo con un’ gran circuito de parole, s’ingegnò di mostrare la necessità di queste diete, et concluse che questi principi non ne dano altro modo da potere dar sesto alle cose de la fede et insieme resistere al Turco, domandando in ultimo se havessemo miglior modo che la dicessemo, reducendoci però in memoria quello che V. Stà fece scrivere al imperatore questo agosto passato circa la dieta imperiale“. 106 Zu diesem letzten Punkt vgl. Poggio an Papst Paul III., Gent, 24. April 1540, NB I,5, Nr. 96, S. 191-198, hier S. 196. Karl V. ließ sich zwar von Poggio davon überzeugen, daß wegen der Bedeutung der Verhandlungsgegenstände die Entsendung eines Legaten notwendig sei, erinnerte aber zugleich malitiös an die schlechten Erfahrungen mit den Legationen Campeggios und Aleanders. Vgl. außerdem Morone an S. Fiore, Gent, 16. April 1540, Laemmer, Monumenta Vaticana (wie Anm. 78), Nr. CLXIX, S. 261-262 und ders. an dens., Gent, 25. April 1540, Dittrich, Nuntiaturberichte (wie Anm. 15), Nr. 63, S. 122-126, hier S. 125. Es scheint bezeichnend, daß Ferdinand Morone am 16. April erklärte, über die Vertretung des Papstes habe er mit seinem Bruder noch nicht gesprochen. Im Falle, daß der Papst sich für eine Legation entschied, bevorzugte man kaiserlicherseits Kardinal Gasparo Contarini, Poggio an Papst Paul III., Gent, 24. April 1540, NB I,5, Nr. 96, S. 191-198, hier S. 197-198. 107 Vgl. z. B. Farnese an Papst Paul III., Gent, 8./9. Mai 1540, NB I,5, Nr. 116, S. 233-236, hier S. 233-235. 108 Die in Gent vereinbarte Konzeption wies zwar einige Parallelen zu früheren Vorstellungen des Kaisers über die Fortsetzung seiner Religionspolitik im Reich auf, modifizierte diese aber auch in signifikanter Weise. Vgl. die Antwort Karls auf die Mission des päpstlichen Nuntius Giovanni Riccio da Montepulciano, September 1539, NB I, 4, Beilagen Nr. 50, S. 537-540, hier S. 489: Zur Modifikation des Frankfurter Rezesses schlägt der Kaiser einen neuen Konvent im Reich vor zu dem Zweck, „et insieme et nel medesimo tempo communicare amicabilmente et fra persone prudenti savie et pacifiche la concordia delle differentie della fede et religion nostra, intervenendovi li deputati di Sua Santità, di Sua Maestà, del detto re de Romani et delli altri stati catholici d’Alemagna et delli desviati. et che ancho il re Christmo vi havesse una bona persona in suo nome, secondo ha scritto et offerto ultimamente a Sua Maestà Cesarea. et con questo mezzo si terranno li desviati di far peggio, et si conosceranno tanto più le loro volontà et potrassi procurare di guadagnare li capi et altri principali della loro fattione, come Sua Santità dice, et si terranno in bona speranza li Catholici, et il tempo et la dispositione et il successo delli altri negocii publici consiglieranno quel che si dovrà fare, et spetialmente in quel che tocca alla convocatione et celebratione della dieta imperiale generale“. Es folgt das Plädoyer für den Beitritt des Papstes zum Nürnberger Bund.
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Entwicklung eine Doppelstrategie, der die Doppelstruktur des geplanten Konventes korrespondierte und die sich nicht zuletzt aus der Ambivalenz ihres Problemverständnisses erklärt, das einerseits die Verbindlichkeit der tradierten Rechtsordnung anerkannte und andererseits das Projekt der Reunion nicht aussichtslos erscheinen ließ. Seine Durchführung sollte allerdings – anders als bei der Mission der Grafen von Neuenahr und Manderscheid – nicht mehr allein der kaiserlichen Regie und Verantwortung vorbehalten sein, sondern in Kooperation mit führenden altgläubigen Ständen in Angriff genommen werden. Diese Konzeption war auf eine doppelte Zielsetzung ausgerichtet: Angestrebt war zum einen die Konsolidierung der altgläubigen Partei durch die Festlegung auf ein gemeinsames Verhandlungskonzept gegenüber den Protestierenden und durch die Erweiterung des Nürnberger Bundes zur Verteidigung der katholischen Sache. Zum anderen sollten auf dieser Grundlage Reunionsverhandlungen mit den Protestierenden eingeleitet und möglichst zu einem erfolgreichen Abschluß geführt, zumindest aber erste Fortschritte zur Überwindung der Polarisierung erzielt werden. Bereits in Gent wurde offenbar erwogen, dabei an die auf dem Augsburger Reichstag von 1530 schließlich abgebrochenen Ausgleichsbemühungen anzuknüpfen109. Die aus diesem Programm resultierende Doppelstruktur des am 18. April ausgeschriebenen Konventes stieß vielfach auf Kritik und Mißtrauen, nicht zuletzt weil sie die Kohärenz der Ständegesamtheit als politische Kraft zu paralysieren schien. Da im Ausschreiben für die „gehorsamen“, d. h. die altgläubigen Stände die spätere Zuziehung der Protestierenden nicht erwähnt wurde, argwöhnte Pfalzgraf Friedrich, daß eine Trennung unter den Reichsständen beabsichtigt sei, um auf einem Partikularkonvent reichspolitische Probleme entscheiden zu lassen, die dem Reichstag vorbehalten waren. Er fürchtete, daß die protestantischen Stände, weil als „ungehorsame“ ausgeschlossen, verstärkt zur Selbstverteidigung gedrängt und dadurch die Polarisierung im Reich verschärft werde, und vermutete, obwohl auch davon im Ausschreiben keine Rede war, zu Recht, daß auf dem Konvent massiv für den Nürnberger Bund geworben werden solle110. Auch der Kurfürst von Köln mißbilligte die getrennte Einla___________ 109
Darauf deutet jedenfalls das Interesse Ferdinands an der Anwesenheit des badischen Kanzlers Dr. Hieronymus Vehus in Hagenau hin, der in Augsburg 1530 als Vermittler tätig gewesen war und 1532 dem König auf dessen Bitte eine Auswahl aus den damaligen Verhandlungsakten zugestellt hatte. Vgl. dazu König Ferdinand an Markgraf Ernst von Baden, Gent, 5. Mai 1540, Ganzer/zur Mühlen, Akten (wie Anm. 7), Bd. I,2, Nr. 207, S. 537-538 und Eugène Honée, Über das Vorhaben und Scheitern eines Religionsgesprächs. Ein Verfahrensstreit auf dem Konvent von Hagenau (1540), in: Archiv für Reformationsgeschichte 76 (1985), S. 195-216, hier S. 208-209. 110 Vgl. Pfalzgraf Friedrich an Kurfürst Ludwig von der Pfalz, o. O., o. D., StA Amberg, Reichssachen 75, Nr. 3, unfol.: Würde gern zu Friede und Einigkeit mithelfen, „so will uns doch bedungken, wo berurtes, sonderlich der ksl. Mt. ausschreyben recht wolt genomen, das ein anders und merers mitgesucht und gemaynt wirdet, indem daß zwi-
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dung111. Andere altgläubige Fürsten irritierte die ungewöhnliche Organisationsform112, die nicht alle Reichsstände berücksichtigte, sondern nur die wichtigeren Vertreter der Religionsparteien. Auf protestantischer Seite wurden gar nur Kursachsen und Hessen angeschrieben mit der Aufforderung, ihrerseits ihre Konfessionsverwandten zu informieren113. Die verfassungsrechtliche Qualität des angekündigten Konvents war unklar, weil ihm die institutionelle Verankerung in der Reichsordnung fehlte. Manche bezeichneten ihn irrtümlich als Reichstag114. Der sächsische Kurfürst fragte sich, ob es sich um die Reichsver___________ schen und under den stenden als mit dem wort ‚di gehorsamen‘ etc. ein sonderung, taylung und spaltung gemacht und aber ye und allwegen, wie euerer L. bewusst, in dieser groswichtigen des reichs sach di particularconventicul on ein gemeyne reichsversamlung aller stende nit fur gut angesehen“, wie denn auch die Reichsabschiede von Augsburg und Regensburg und der Nürnberger Anstand für Verhandlungen über die Religionsfrage den Reichstag vorsehen. Wenn „mit diesem zusamenkhomen unsers vermutens di protestirenden (wie man sy nennet) als die ungehorsamen usgeschlossen werden sollen, das solhs inen nit zu geringem nachgedengken und ursach geben wurde, irer ding mit dem ernst und fleis acht zu haben, dardurch besorglich etwas unrue und ferner beschwerdliche kriegsemporungen mochten erwachsen [...]“. 111 Georg von der Planitz an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, Antwerpen, 20. Mai 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 355, Nr. 138, fol. 153r-157v, hier fol. 156r. Vgl. auch Siebert von Löwenberg an Landgraf Philipp von Hessen, Gent, 9. Mai 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 355, Nr. 138, fol. 100r-101v (Kop.), hier fol.100v: „[...] Und als eueren fstl. Gn. numehr zweivelsan bewust, welchergestalt die beikunft gein Speir jegen schirstkunftigen Sontag Trinitatis beraumbt und ausgeschrieben, dorab ist nit allein vill selzam reddens, sondern beschwern sichs auch etlich chur- und fursten der ursachen furnemblich, das dieselbige beikunft den hochsten sachen deutscher nation mehr ein beschwerliche verbitterunge dan tregliche linderunge geberen werde. Es wollen auch etlich meinen, es soll des röm. konigs sach mehr sein dan des kaisers. [...]“. Vgl. auch Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen an Landgraf Philipp von Hessen, Torgau, 4. Mai 1540, ebd. fol. 11r-16v, hier 13r-13v: „[...] Nun deucht uns berurt keiserlich ausschreiben vhast selzam, auch dohin gericht sein, das man allein die gehorsamen churfurst und fursten, das ist, die dem babstumb noch anhengigk, aber nit euere L., uns und die andern stende, so dem heiligen gottesworth vorwandt und nit gehorsame churfurst, fursten und stende sein, wie es von dem widerteil geachtet, erfordert, dadurch dan euere L., wir und die andern stende von dem gehorsam, auch als glieder des reichs unsers ermessens genzlich ausgeschlossen und apgesondert wollen werden, welchs dan nit wenigk beschwerrlich [...]“. 112 Vgl. Morone an Farnese, Hagenau, 26. Mai 1540, Dittrich, Nuntiaturberichte (wie Anm. 15), Nr. 67, S. 130-133, hier S. 131: „[...] Alli Principi catholici quest dieta è stata cosa tanto nuova et inopinata, che restano stupidi et non sapendo, a quel fine si faccia, sono di mala voluntà [...]“. 113 Kaiser Karl V. an Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen und Landgraf Philipp von Hessen, Gent, 18. April 1540, Ganzer/zur Mühlen, Akten (wie Anm. 7), Bd. I,1, Nr. 5, S. 25-28. 114 Vgl. z. B. Siebert von Löwenberg an Landgraf Philipp von Hessen, Antwerpen, 18. Mai 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 355, Nr. 138, fol. 131r-132v, hier fol. 131v; den Dorsalvermerk zu einem kursächsischen Gutachten zum Hagenauer Tag, Ganzer/zur Mühlen, Akten (wie Anm. 7), Bd. I,1, Nr. 153, S. 370-376, hier S. 370; Gutachten der Nürnberger Theologen zum Hagenauer Konvent, ebd. Bd. I,2, Nr. 397, S. 1135-
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sammlung handeln sollte, mit der der Nürnberger Friedstand, wenn kein Generalkonzil zustande kam, enden sollte115. Landgraf Philipp unterstellte dagegen, daß der Kaiser eine „particularhandlung“ inszenieren wolle, um eine allgemeine Beratung der Reichsstände zu verhindern116. Zudem ließen der offenbar vom Reichsvizekanzler Held inspirierte Tenor des an die Protestierenden gerichteten Ausschreibens und ihre diskriminierende Behandlung als Ungehorsame Zweifel aufkommen, ob an ein Religionsgespräch oder nicht eher an ein Religionsdiktat gedacht war, dem sich die Neugläubigen beugen sollten117. So blieb fraglich, welches religionspolitische Lösungspotential ein solcher Konvent entwickeln konnte. Das mit ihm verbundene politische Risiko wurde allerdings, gerade ___________ 1137, hier S. 1135 und Georg von der Planitz an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, Antwerpen, 20. Mai 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 355, Nr. 138, fol. 153r-157v. Planitz spricht hier wiederholt vom „vermeinten reichstag“. 115 Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen an Landgraf Philipp von Hessen, Torgau, 4. Mai 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 355, Nr. 138, fol. 11r-16v, hier fol. 13v und 14v. 116 Landgraf Philipp von Hessen an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, o. O., 10. Mai 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 355, Nr. 138, fol. 35r-36v, hier fol. 36v: Hält die Ausschreibung des Speyerer Tages dafür, „das es ein particularhandlung sein werd und das es der kaiser zu kainer gemainen zusamenkunft der reichsstende uß sonderlichem bedencken komen lassen wolle, wie beschwerlich aber dasselb dem reich sein mag, das können euere L. wol betrachten. [...]“. 117 Vgl. das Gutachten der Stadt Ulm über das kaiserliche Ausschreiben zum Speyerer Tag, 19. Mai 1540, Ganzer/zur Mühlen, Akten (wie Anm. 7), Bd. I,2, Nr. 364, S. 1008-1013, hier S. 1009-1010 und das kursächsische Gutachten über den ausgeschriebenen Konvent zu Speyer, [nach dem 10./vor dem 19. Mai 1540], Ganzer/zur Mühlen, Akten (wie Anm. 7), Bd. I,1, Nr. 153, S. 370-376, hier S. 371-372. Die Edition datiert dieses kursächsische Gutachten irrtümlich auf den 6. Juni 1540, weil die eigenhändige Datumsangabe Kurfürst Johann Friedrichs, die sich offenkundig auf den vorgesehenen Verhandlungsbeginn in Speyer bezieht, falsch interpretiert wird. Das Gutachten ist geschrieben vor der Ausfertigung der Antwort Sachsens und Hessens auf das Ausschreiben Karls V. Den Entwurf für diese dann auf den 9. Mai datierte Antwort schickte der Landgraf vor dem 10. Mai, wohl bereits am 9. Mai dem sächsischen Kurfürsten zu, vgl. Landgraf Philipp von Hessen an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, o. O., 10. Mai 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 355, Nr. 138, fol. 35r-36v, hier fol. 36r. Auf das kaiserliche Ausschreiben, den Begleitbrief des Landgrafen (wahrscheinlich vom 9. Mai) und „die Nottel, so irer Mat. darauff zu antwort solt zugeben sein“, bezieht sich das erwähnte Gutachten. Es ist also vor Ausfertigung der Antwort an den Kaiser, die kurz nach dem 10. Mai erfolgt sein dürfte, formuliert. Zum Zeitpunkt seiner Anfertigung lag dem Kurfürsten die von Georg von der Planitz übersandte Kopie des kaiserlichen Ausschreibens an die altgläubigen Stände bereits seit Tagen vor, vgl. Kurfürst Johann Friedrich an Landgraf Philipp von Hessen, Torgau, 4. Mai 1540, HStA Weimar, Reg. H pag. 355 Nr. 138, fol. 11r-16v, hier fol. 12v-13r. Dementsprechend ist Ganzer/zur Mühlen, Akten (wie Anm. 7), Bd. I,1, Nr. 153, S. 371, Anm. 7 zu korrigieren. Die Datierung des Gutachtens auf den 6. Juni 1540 erscheint im Übrigen auch deshalb abwegig, weil es darauf abzielt, die Teilnahme an dem ausgeschriebenen Konvent abzulehnen, Anfang Juni aber die Entscheidung des Kurfürsten, den Tag doch zu beschicken, bereits gefallen war, vgl. z. B. Ganzer/zur Mühlen, Akten (wie Anm. 7), Bd. I,1, Nr. 147, Nr. 148, Nr. 149 und Nr. 150.
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weil er eher informell angelegt war, bis zu einem gewissen Grade durch die Chance einer zielbewußt-flexiblen politischen Steuerung kompensiert. Zwar konnte zu seinem Beginn keineswegs als ausgemacht gelten, daß er zur Entscheidung der Glaubensfrage wesentlich würde beitragen bzw. zumindest eine Art richtungweisende Meinungsführerschaft würde übernehmen können. Dazu waren nicht nur die Differenzen im Meinungsbild der beteiligten Akteure zu ausgeprägt, sondern auch seine Organisationsform zu anfällig für Störmanöver und grundsätzliche Einwände. Aber es war eben auch nicht völlig ausgeschlossen, daß sich weiterführende Handlungsmöglichkeiten eröffnen ließen. Deshalb konnten sich die geladenen Stände trotz aller Vorbehalte und Verunsicherung der kaiserlichen Initiative kaum kompromißlos verweigern, ohne die Glaubwürdigkeit ihrer bisherigen Kritik und die Ernsthaftigkeit ihres religionspolitischen Kommunikationsbedarfes in Frage zu stellen118. So kam der Konvent nach den üblichen Verzögerungen schließlich im Juni 1540 in Hagenau zustande. Sein Ergebnis verdankte sich nicht zuletzt der Anpassungsfähigkeit König Ferdinands und der Vermittlungs- und Kooperationsbereitschaft der religionspolitisch neutralen Stände. Erst mit dem Konsens zum Hagenauer Abschied gewann die kaiserliche Reunionspolitik jene konkret-programmatische Ausrichtung, die letztlich zum Regensburger Kolloquium von 1541 führte.
___________ 118 In ihrer Antwort auf das kaiserliche Ausschreiben brachten Kursachsen und Hessen ihre Vorbehalte gegen die Organisationsform des Konvents nicht unmittelbar zur Sprache, sondern gaben lediglich deutlich zu verstehen, daß die Protestierenden eine Nationalversammlung bzw. das Frankfurter Modell von 1539 vorgezogen hätten, weil mit einem hohen Zeitaufwand bei Reunionsverhandlungen und für ihre Vorbereitung zu rechnen sei. Sie ließen auch keinen Zweifel an ihrer Erwartung, daß der Kaiser die Gegenseite über ihre Irrlehren aufkläre, erklärten sich aber schließlich bereit, den Speyerer Tag zu beschicken und auch ihre Konfessionsverwandten dazu aufzufordern. Allerdings rechneten sie nur mit vorbereitenden Verhandlungen, auf die die eigentlichen Reunionsgespräche später folgen könnten. Vgl. Antwort Kurfürst Johann Friedrichs von Sachsen und Landgraf Philipps von Hessen auf das kaiserliche Ausschreiben zum Speyerer Tag, o. O., 9. Mai 1540, Ganzer/zur Mühlen, Akten (wie Anm. 7), Bd. I,1, Nr. 18, S. 65-70. Vgl. auch Landgraf Philipp von Hessen an die Stadt Ulm, Kassel, 13. Mai 1540, ebd. Bd. I,2, Nr. 365, S. 1013-1017, hier S. 1014-1016 und Dr. Gereon Sailer an Landgraf Philipp von Hessen, Augsburg, 28. Mai 1540, Lenz, Briefwechsel (wie Anm. 1), Bd. I, Beilage III, Documente Nr. 15, S. 465-469, hier S. 466-467.
Kronsteuer und Weihnachtspfennig Wiederherstellung kaiserlicher Rechte oder imperiale Herrschaftsverdichtung im Reich unter Karl VI. (1711–1740)
Von Gerhard Rechter, Nürnberg Karl VI., geboren am 1. Oktober 1685 als zweiter Sohn des Kaisers Leopold I. und der Eleonora, geb. von Pfalz-Neuburg, war bekanntlich von seinem Vater als Regent für Spanien vorgesehen, nicht als Nachfolger auf dem Kaiserthron, der für den älteren Bruder Joseph „reserviert“ war.1 Freilich konnten die anderen europäischen Mächte, allen voran Frankreich, eine derartige Machtkonzentration in die Hände des Hauses Habsburg ohnehin nicht akzeptieren, was zum „Spanischen Erbfolgekrieg“ mit allen seinen Folgen führte.2 Die Niederlage Karls in Spanien sowie der frühe Tod des Bruders Joseph I. 1711 machten jedoch alle weiteren Pläne zunichte. Bereits am 12. Oktober 1711 wählten die Kurfürsten in Frankfurt Karl als Karl VI. zum Kaiser, aber die Wiederherstellung des weltumspannenden Reichs seines Ahnen, Kaiser Karls V., blieb Fiktion. Im Frieden von Rastatt und Baden am 7. März bzw. 8 September 1714 konnte Karl wenigstens die Niederlande, Mailand, Sardinien und Neapel sowie etliche toskanische Häfen für sich retten. Der Frieden mit Frankreich bedeutete aber keineswegs Frieden für das Haus Habsburg, dessen nächster Feind die Hohe Pforte war. Prinz Eugen, der nicht nur in der kaiserlichen Propaganda strahlende Feldherr und Diplomat, schob die Grenze vor, als er die Türken bei Peterwardein vernichtend schlug, und im Frieden von Passarowitz vom 20. Juli 1718 gelangten Belgrad und Temeschwar endgültig in den Besitz Wiens. Freilich war Karl VI. kein Militär, ihm lagen Diplomatie und die Künste mehr, vor allem diejenigen, die für die Repräsenta-
___________ 1
ADB 15, S. 206-219. Vgl. dazu Volker Press, Joseph I. (1705–1711) – Kaiserpolitik zwischen Erblanden, Reich und Dynastie, in: Ralph Melville u. a. (Hg.), Deutschland und Europa in der Neuzeit. Festschrift für Karl Otmar Freiherr von Aretin, Stuttgart 1988, S. 277-297. 2
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Gerhard Rechter
tion brauchbar waren.3 Geld verschlang jedoch beides, der Krieg und die Kunst. Was wundert es, daß der Finanzbedarf mehr und mehr die Möglichkeiten der durch den Spanischen Erbfolgekrieg ohnehin geschwächten kaiserlichen Kassen überstieg. Hinzu kamen beträchlichte Ausgaben für die diplomatischen Bemühungen zur Durchsetzung der schon vom Vater Leopold I. 1703 geschaffenen und vom Sohn am 19. April 1713 erneuerten „Pragmatischen Sanktion“, dieses „Grundgesetzes des Hauses Österreich“.4 Die Suche nach neuen Geldquellen kann mit Fug und Recht als ein Kontinuum der Herrschaftszeit Kaiser Karls VI. – und wohl nicht nur seiner – bezeichnet werden. Unter dem 28. Dezembris 1721 schrieben die Räte „des Heil. Römischen Reichs ohnmittelbar, freyer Ritterschaft Lands zu Francken, Orths Gebürgs“ an ihre Kollegen des Kantons Altmühl, dessen Kanzlei sich im heute mittelfränkischen Rügland befand5: „Aus abschriftlich anliegenden, durch den Herrn von Reichersberg insinuirten allergnädigsten Rescript [vom 18. Oktober 1721] ist nehrers zu ersehen, welchergestalt die Röm. Kays. May. etc. etc. ein Verzeichnus aller in iedem Löbl. Ritter-Canton befindlichen Juden, mann- und weiblichen Geschlechts, so das 13de Jahr des Alters erreichet, nebst Benahmsung der Orten, wo selbige wohnen, baldmöglichst einzuschicken, allergnädigst anbefohlen, umb das hergebrachte Kayserl. Vorrecht der Cron-Steuer und Opfer-Pfennig zu eyigiren und in Stand zu erhalten“. Der Wiener Hof wollte demnach den Rechtssatz von den Juden als des „Königs Kammerknechte“ wieder aktivieren und der Judenheit im Reich mit einem Beitrag zu den Kosten der Krönung sowie einer Rekognitionsabgabe zu Weihnachten de facto eine Sondersteuer auferlegen. Da die Rechte der Reichsfürsten wie auch der Reichsstädte – von denen die fränkischen ihre Judenheit freilich schon Ende des 16. Jahrhunderts ausgewiesen hatten6 – aber einen Zugriff nicht ___________ 3
Franz Matsche, Die Kunst im Dienst der Staatsidee Kaiser Karls VI. Ikonographie, Ikonologie und Programmatik des ‚Kaiserstils‘ (Beiträge zur Kunstgeschichte 16), Heidelberg 1977. 4 Es legte die Unteilbarkeit der österreichischen Länder sowie die Thronfolge der Kaisertöchter fest; vgl. Wilhelm Brauneder, Die Pragmatische Sanktion als Grundgesetz der Monarchia Austriaca von 1713 bis 1918, in: ders., Studien I: Entwicklung des Öffentlichen Rechts, Frankfurt am Main 1994, S. 85-102. 5 Staatsarchiv Nürnberg (künftig: StAN), Reichsritterschaft, Akten, Nr. 676. Eine Monographie zum Kanton Altmühl gehört zu den Desideraten der fränkischen Landesforschung; vgl. Erwin Riedenauer, Die fränkische Reichsritterschaft, in: ders., Fränkische Landesgeschichte und historische Landeskunde. Grundsätzliches – Methodisches – Exemplarisches (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 134), München 2001, S. 135-140; ders., Kontinunität und Fluktuation im Mitgliederstand der fränkischen Reichsritterschaft. Eine Grundlegung zum Problem der Adelsstruktur in Franken, in: ebda, S. 141-196. 6 Rudolf Endres, VII. Die Juden in Wirtschaft und Handel, in: Andreas Kraus (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, begründet von Max Spindler, 3. Bd., 1. Teilbd.:
Kronsteuer und Weihnachtspfennig
497
zuließen, blieben praktisch nur die hinter den Reichsrittern sitzenden Israeliten übrig. Damit war aber ein Verfassungskonflikt angestoßen worden: Zum einen um die Stellung der Juden im Reich und zum anderen um diejenige der Reichsritter. Grundsätzlich war zu fragen, ob die Israeliten als „cives Imperii Romanum“ zu betrachten seien: ein Rechtsstand, den es eigentlich nicht gab, lebten die Menschen zwar im Heiligen Römischen Reich, waren aber Bürger respektive Untertanen ihres jeweiligen Territoriums und dessen Herrschers.7 Denn die „jura territorialia“ waren seit der „confoederatio cum principibus ecclesiasticis“ 1220 und dem „statutum in favorem principum“ 1231 mit steigender Tendenz in die Hände der geistlichen und weltlichen Reichsfürsten gelangt. Zum zweiten betrachtete die Reichsritterschaft die „jura territorialia“ als Teil ihrer Herrschaftsrechte, auch wenn diese „jura“ bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts – und auch nicht zu dessen Ende – noch keine eindeutige Festlegung erfahren hatten.8 Die Schutzmacht des in den Kantonen organisierten, nicht landsässigen und daher als frei betrachteten Ritteradels, der Kaiser, sprach mit dem Vorhaben „seinem“ Adel – der dem Reich finanziell und personell auch in schwierigen Zeiten treu gedient hatte9 – also einen Teil der diesem eigenen Herrschaftsrechte ab. ___________ Geschichte Frankens bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, München 1997, S. 956959; vgl. Günter Dippold, Jüdisches Leben im Franken des Alten Reiches, in: Franconia Judaica 1, Ansbach 2007, S. 13-33. 7 Zur Stellung der Juden gegenüber dem Reich vgl. Stephan Wendehorst, Das gescheiterte Projekt der jüdischen Kaiserhuldigung in Worms. Symbolische imperiale Herrschaftspraxis und jüdische Teilhabe im Römisch-Deutschen Reich, in: Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 39), Berlin 2007, S. 247-271. 8 Dazu immer noch aktuell Hanns Hubert Hofmann, Adelige Herrschaft und souveräner Staat. Studien über Staat und Gesellschaft in Franken und Bayern im 18. und 19. Jahrhundert (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte II), München 1962, v. a. S. 47-159. Volker Press, „Korporative“ oder individuelle Landesherrschaft der Reichsritter?, in: Erwin Riedenauer (Hg.), Landeshoheit. Beiträge zur Entstehung, Ausformung und Typologie eines Verfassungselements des Römisch-Deutschen Reiches (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte XVI), München 1994, S. 93-112; Wolfgang von Stetten, Die Rechtsstellung der unmittelbaren freien Reichsritterschaft, ihre Mediatisierung und ihre Stellung in den neuen Landen dargestellt am fränkischen Kanton Odenwald (Forschungen aus Württembergisch Franken 8), Schwäbisch Hall 1973. 9 Diesem Thema hat sich Helmut Neuhaus des öfteren gewidmet, vgl. etwa ders., Franken in Diensten von Kaiser und Reich (1648-1806), in: Festschrift Alfred Wendehorst zum 65. Geburtstag (Jahrbuch für fränkische Landesforschung 53), Neustadt an der Aisch 1992, S. 131-158; Vgl. auch Volker Press, Kaiser und Reichsritterschaft, in: Rudolf Endres (Hg.), Adel in der Frühneuzeit. Ein regionaler Vergleich (Bayreuther historische Kolloquien 5), Köln 1991, S. 163-194.
498
Gerhard Rechter
Natürlich griff Wien in seiner Argumentation auf Beispiele zurück, so auf die Heranziehung der italienischen Juden unter Kaiser Sigismund, und hielt fest, daß kein Jude im Reich, hinter welcher Herrschaft er auch immer sitze, sich den kaiserlichen Abgabeforderungen entziehen könne. Dagegen betrachtete es die – von der schwäbischen Ritterschaft behauptete, von dem de facto erreichten Besteuerungsrecht der Kantone ausgehenden – „privative Liberatio collectandi Judeos“ als substanzlos.10 Die Ritterschaft, wobei für den Ritterort Franken turnusmäßig der Kanton Gebürg das Direktorium ausübte, räumte zwar ein, daß dem Kaiser das „jus protectionis universale“ zukomme, sah das Recht der Judenaufnahme aber dem „juri territoriali“ unstrittig anhängig. Das Schutzgeld stünde dem Territorialherrn zu – und was den finanziellen Beitrag der Juden zu den Krönungskosten anginge, so hätten sich die Juden zu Frankfurt am Main mit einem „Special-Privilegio“ davon losgesagt. Die Stadt Frankfurt habe dem Grafen von Pappenheim, als des Reiches Erbmarschall, klargemacht, daß die Juden nicht mehr des Kaisers Kammerknechte seien, sondern ihren Schutz- und Gerichtsherrn, den Landesherrn unterstünden.11 Dies stand im klaren Gegensatz zum kaiserlichen Reskript vom 18. Oktober, das besagte, „daß die in des Heil. Reichs-Landen wohn- und seßhaffte jüdische Familien, als von Alters her sogenannte Kays. Cammer-Knechte einem jedesmahlingen Röm. Kayer, alß deren Obristen Schutz-Herren [...] nicht nur bey oder stracks nach dero Kay. Crönung die Cron-Steuer, sondern auch alle Jahr zur Weyhnachts-Zeit den Opfer-Pfennig zu erlegen schuldig seynd“. Aber nicht nur die Ritterschaft war angeschrieben worden, wie das erboste Anschreiben Friedrich Karl von Schönborns aus Wien an den Dompropst zu Bamberg vom 31. August 1722 zeigt, der offensichtlich dem mit der Beitreibung beauftragten Reichspfennigmeister von Reigersberg verboten hatte, Kronsteuer und Opferpfennig von dessen Fürther Judenheit einzuheben.12 Unter den Ritterorten und -kantonen lief die Korrespondenz wegen der Kronsteuer. Die Oberrheinische Ritterschaft hatte bereits im Januar 1722 einen „Spezialkonvent“ der drei Kantone gegen diese und weitere „Deliberationen“ einberufen. Dessen Ergebnis – das nur eine Ablehnung der kaiserlichen Pläne sein konnte – sollte offensichtlich Richtschnur für die fränkische Reichsritterschaft werden. Der Syndicus Georg Niclas Zange in Wien sollte für die fränkischen Kantone ein Gutachten ausarbeiten. Wenig hilfreich war dabei freilich die am 30. März 1722 zugestellte „sichere Nachricht“, daß BrandenburgAnsbach im Gegensatz zu anderen Fürsten und Ständen die Einhebung von Kronsteuer und Opferpfennig zugestanden habe. Freilich war die Kronsteuer ___________ 10
StAN, Reichsritterschaft, Akten, Nr. 676. Ebda. 12 Ebda; zur Haltung von Brandenburg-Ansbach s. unten. 11
Kronsteuer und Weihnachtspfennig
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nicht der einzige vom Ritteradel eingeforderte Beitrag, wie die unter dem 18. Mai 1722 erbetene Beisteuer zur Erweiterung des Reichshofrats- und Kanzleigebäudes zeigt, wofür die Schwaben 1500 fl leisteten.13 Aus der Kronsteuer, so besagten Nachrichten aus Wien, wollte der Kaiser wenigstens 40.000 fl einnehmen, um davon das „augmentum salarii“ des Reichshofrats bestreiten zu können. Der Vorteil der Herrschaften von den Juden wurde scheinbar als beträchtlich angesehen, hatte die Stadt Frankfurt doch 10.000 fl für die Befreiung ihrer Juden geboten und auch der von der schwäbischen Ritterschaft angebotene Beitrag von mehreren tausend Gulden zur Notdurft des Reichshofrats deutet darauf hin. Aber eigentlich ging es, wie der – unbekannte – Schreiber es richtig sah, um anderes: Man begreift hier wohl, „daß der Vortheil, so E. höchlöbl. Ritterschaft von den Juden ziehet, gar schlecht und es allenfalls allein auf die Conservation der ritterschaftlichen Jurium und wenigstens einer Gleichstellung mit denen übrigen Ständen, infolglich das Commodum honoris ankomme.“14 Der Kaiserhof ging davon aus, daß den Reichsrittern die Verteidigung von Ehren und Rechten eine beträchtliche Summe wert sein mußte. Der Kanton Altmühl spielte noch auf Zeit, erklärte sich aber – ohne Anerkennung der Rechtmäßigkeit des kaiserlichen Anspruchs – bereit, ein Zirkular umlaufen zu lassen, welches Anzahl und Wohnort der Israeliten in seinen zugehörigen Herrschaften festhalten sollte. Ab Juli 1722 trafen dann die ersten Antworten zunächst noch recht formlos ein, wie diejenige des Ernst Ludwig von Seckendorff-Gutend (19. Juli), in dessen Herrschaft Trautskirchen15 keine Juden lebten und der für seinen Bruder Friedrich Heinrich von SeckendorffGutend und dessen Gut Obernzenn zugleich antwortete.16 Nur in Ermetzhofen und Hüttenheim lebten mit dem Gut Obernzenn-Aberdar gemeinsame Juden – „und zweifele nicht, H. Cammerjunker wird nach dem Formular diese nebst den seinigen zu spezifizieren wißen“.17 Johann Albrecht Andreas Adam Rieter von Kornburg wies am 18. Juli darauf hin, daß das Formular entbehrlich sei, da ___________ 13
StAN, Reichsritterschaft, Akten, Nr. 676; Schreiben des Direktoriums der fünf schwäbischen Kantone vom 23. Juli 1722. 14 Ebda. 15 Gerhard Rechter, Die Seckendorff. Quellen und Studien zur Genealogie und Besitzgeschichte. II. Die Linien Nold, Egersdorf, Hoheneck und Pfaff (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte 36/2), Neustadt an der Aisch 1990. 16 Zu Obernzenn ders., Die Seckendorff. Quellen und Studien zur Genealogie und Besitzgeschichte. IV. Die Linien Abenberg, Obersteinbach und Gutend (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte 36/4), Würzburg 2008; zu Friedrich Heinrich s. Bruno Kuntke, Friedrich Heinrich von Seckendorff (1673–1763) (Historische Studien 491), Husum 2007. 17 StAN, Reichsritterschaft, Akten, Nr. 676.
500
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in seiner Herrschaft keine Juden lebten, gleiches galt für Johann Friedrich von Eyb zu Vestenberg (22. Juli).18 Der stark engagierte Kanton Gebürg, der die über die Befugnisse eines einzelnen Kantons hinausgehende gemeinsame Verantwortung der vom Kaiser angeschriebenen Ritterkreise betonte, hatte die Sache schon am 22. Juni auf den Punkt gebracht, nämlich „daß mit angeführte werden könnte, wie wegen der, bey denen mehrist angesesenen Juden notorischen Armuth und großen Dürftigkeit, die Bestreitung dieses Kays. Reservats mit und nebst der TerritorialGebühr nicht wohl bestehen, sondern unfehlbar der meisten Emigration nach sich ziehen würde müssen, weßwegen man sich bey dergleichen künftigen Erfolg, alles befremdlichen Aufsehen und besorglichen Verdachts halber bestens zu verwahren hätte.“19 Die Befürchtung war, daß die Juden wegen der nur bei reichsritterschaftlichen Herrschaften anfallenden finanziellen Belastung – die ja zusätzlich zu den Schutzgeldern und anderen Doceurs anfiel – hinter andere ziehen würden. So wies der Sechs-Orte-Konvent der fränkischen Reichsritter am 14. März 1724 zu Recht20 darauf hin, daß die verbliebenden „Juden bey ihrer notorischen Armuth und vielen Kindern nicht mehr in dem Stand wären, die contributionen ordinariam ihrer Obrigkeit zu entrichten.“ Über die finanziellen Einbußen hinaus sei aber noch der Verlust eines für die adelige Herrschaft höchst wichtigen Regals, nämlich des Judenschutzes, zu befürchten. Dennoch machte sich der Kanton Altmühl an die Fertigung der geforderten Statistik, die am 21. April 1723 vorlag („Specificatio der unter dem Löbl. Ritter-Orth Altmühl befindlichen Juden, Männ- und Weiblichen Geschlechts, so das 13te Jahr ihres Alters erreichet haben“) und in zehn Herrschaften 233 Personen zählte.21 Die summarischen Angaben wurden weiter aufgeschlüsselt: Rittergut 1
1. Altenmuhr
Männer Weiber Söhne
Töchter+
21
3
21
3
2
14
17
8
6
3. Weisendorf 3
10
1
0
0
2. Dennenlohe 4. Steinhard4
14
14
5
1
5. Unternzenn5
4
4
0
0
6. Wiedersbach6
1
1
2
2
___________ 18 Eberhard v. Eyb, Das reichsritterliche Geschlecht der Freiherrn von Eyb (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte IX/29), Neustadt an der Aisch 1984, S. 391-402. 19 StAN, Reichsritterschaft, Akten, Nr. 676. 20 Ebda, Nr. 677. 21 Ebda, Nr. 676.
Kronsteuer und Weihnachtspfennig 7. Obernzenn7
22
22
1
3
8. Neuhaus8
6
6
7
2
4
5
0
1
10. Brunn
1
1
0
0
Summa
97
92
26
18
9. Wilhermsdorf 10
9
501
(1) Altenmuhr (Lentersheim): 48 Personen; aufgenommen 1722 (?) durch Joh. Friedr. Schmidt, Verwalter zu Alten- und Neuenmuhr. – Literatur: Otto Rohn, Die Herren von Lentersheim. Vom Erwerb des Schlosses Altenmuhr im Jahr 1430 bis zum Erlöschen des Stammes im Jahr 1799, in: Alt-Gunzenhausen 38 (1979), S. 108-145. Im einzelnen: Name
Vermögen
Ehefrau
1. Samuel Löw
armer Jud
Raiz
2. Haym Löw
desgl.
Ela
3. Joseph Simson
(1000 fl)
Blümla
4. Jakob Simson
(500 fl)
Chaja
5. Daniel Simson
(300 fl)
Hennla
6. Jakob Abraham
(400 fl)
Edel
7. Benhadat
(350 fl)
Röeß
8. Joseph Benhadat
(400 fl.)
Lea
9. Israel
(300 fl)
Fradel
Sohn
Tochter Rachel, 15 Jahre
Hindel, 14 Jahre
David, 15 Jahre
10. Jakob Salomon
Breindel
Itzig, 18 Jahre
11. Seckel Salomon
Münckelein
Salmon, 13 Jahre
12. Isaak
Esther
13. Samuel, Betteljud
Dorla
14. Jakob, desgl.
Fradel
15. Marx, desgl.
Soer
Jüdel, 14 Jahre
502
Gerhard Rechter
16. Joseph Levi, desgl.
Berla
17. Jakob Neuburger, desgl.
Scharna
18. Jonas, desgl.
Vegelein
„Stadeln“ 19. Mosch
(500 fl)
Sara
20. Jakob Moses
(300 fl)
Delts
21. Mosch Benhadat
(350 fl)
Frommel
„Hiebey ist anzumercken vor nöthig erachtet worden, daß die armen Juden wenig zu Haus, sondern von einer Zeit zur andern ihr Brod in der Fremde suchen, insgesamt aber, wann sie nur vor das Dorf heraus gehen, großen Zollen geben müßen.“ (2) Dennenlohe (Eichler von Auritz): 45 Personen; Aufnahme am 25. Juli 1722 durch den Verwalter Lorenz Friedr. Schwinger. Im einzelnen: Name
Ehefrau
Sohn
Tochter
Abraham Schmuel
ja
1
1
Schmeye
ja
1
1
Salomon
ja
Joseph Locher
Ja
Schmeye
ja
2
1
Jendleins Witwe Jeßlein
ja
Salomon d. lange
ja
Moses Locher
ja
Hendels Witwe Hirsch Elias
ja
Mendel Locher
ja
Brendel Witwe
1
2
1
Kronsteuer und Weihnachtspfennig Löw
ja
Seligmann
ja
1
503
1
Salomon Jeckof Golta Witwe
ja 1
(3) Weisendorf (v. Lauter): 17 Personen (oben nur 11); Aufnahme am 19. Juli 1722 durch den Verwalter Konrad Dietz. Im einzelnen: Aaron Jud und Ehefrau – Läser Jud und Ehefrau – Meyer Jud und Ehefrau – Frommelein Jud und Ehefrau – David Jud, Ehefrau und 1 Sohn – Löw Jud, gen. der dicke, und Ehefrau – Schmay Jud – Schimmel Jud – Seligmann Jud – Süßlein Jud. – Literatur: Keine Monographie nachweisbar. (4) Steinhard (Rauber): 34 Personen; Aufnahme am 4. Aug. 1722 durch den Gutsherrn Veit Christoph v. Rauber. Im einzelnen: „1. In einem Haus, welches die Herrschaft aus eigenen Mitteln erbauen hat lassen, wohnen folgende Juden: Schlams Mänle und Frau, ein Sohn – Schamsche Jud und Ehefrau – Nathan Jud und Ehefrau – Schwiegersohn Hänle des Nathen und Ehefrau – Moschele Jud und Ehefrau – Solmelle Jud und Ehefrau. 2. Hürschle Jud und Ehefrau, hat ein halbes Haus – Meyer Jud und Ehefrau, haben das andere halbe Haus. 3. Der dikke Schmuel und seine Ehefrau nebst zwei Söhnen, haben ein Häuslein. 4. Der Schlam Jud und seine Ehefrau, einen Sohn, eine Tochter, haben ein Häuslein. Auch der Sohn Schmuel mit seiner Ehefrau lebt darin. Desgleichen der Schwiegersohn Mosche und seine Ehefrau. 5. Der From Jud hat mit seiner Ehefrau ein halbes Haus, die andere Hälfte hat der lang Männdl mit seiner Ehefrau.“ – Literatur: Keine Monographie nachweisbar. (5) Unternzenn und Egenhausen (Seckendorff): 8 Personen; aufgenommen am 1. August 1722 durch den Amtsvogt Joh. Christoph Weth. Im einzelnen: Unternzenn 2 Männer und 2 Frauen. Egenhausen 2 Männer und 2 Frauen. – Literatur: Gerhard Rechter, Die Seckendorff. Quellen und Studien zur Genealogie und Besitzgeschichte. III. Die Linien Hörauf und Aberdar (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte 36/3), Neustadt an der Aisch 1997. (6) Wiedersbach (Eyb): 6 Personen; Aufnahme am 1. Aug. 1722 durch den Verwalter Joh. Georg Ilin. Im einzelnen: Löw (50jährig), Ehefrau Edel (32jährig), Sohn Hönle (21jährig) dient im Ansbachischen, der Sohn Freisel Salomon (13jährig) ist daheim, die Tochter Lea ist 18jährig. – Literatur s. v. Eyb (wie oben Anm. 18), S. 46.
504
Gerhard Rechter
(7) Obernzenn (Seckendorff): 48 Personen; aufgenommen am 18. Jan. 1723 durch die Amtsvögte Joh. Paul Müller und Imanuel Jakob Seger. – Literatur s. oben Anm. 16. Im einzelnen: Name
Ehefrau
Sohn
Tochter
Obernzenn David
ja
Hönlein
ja
Schmuhl
ja
Marum
ja
Elisas
ja
Löw
ja
Juda
ja
1
Ermetzhofen Joseph
ja
Moses
ja
Moses der lange
ja
Moses Österreicher
ja
Itzig
ja
1 1 1
Hüttenheim Itzig Amsel
ja
Seligmann sen.
ja
Jößlein
ja
Seligmann jun.
ja
Lämlein
ja
Moses
Ja
Jakob sen.
ja
Eisig
ja
Pfeuffer
ja
Jakob jun.
Ja
(8) Neuhaus (Crailsheim): 21 Personen; Aufnahme am 16. Januar 1723 durch den Verwalter Joh. Ludwig Schubert. Im einzelnen: Neuhaus: 1 Untertan, 6 Weiber, 7 Söhne, von denen 4 in der Fremde dienen, 2 Töchter, die beide in der Fremde dienen. Adelsdorf: 4 Untertanen und 1 Beständner. – Literatur: Rechter, Schutz (wie Anm. 33).
Kronsteuer und Weihnachtspfennig
505
(9) Wilhermsdorf (Hohenlohe): 10 Personen; Aufnahme am 21. Jan. 1723 durch den Amtmann Wolfgang Julius Köhler. Im einzelnen: 4 Männer, 5 Weiber, 1 Tochter; „es befinden sich zwar noch etliche als Hausgenossen allhier, welche aber nur vagabundi und von hier wieder weggehen.“ – Literatur: Armin Dürr, Vom Ministerialensitz zur Marktgemeinde. Wilhermsdorf von 1096 bis 1996, Wilhermsdorf 1996. (10) Brunn (Pückler-Limpurg): Keine Spezifizierung. – Literatur: Matthäus Wehr, Brunn und sein Reichsrittergut. Ein Dorf zwischen Aurach und Aisch, Brunn 1980. Ob der Kanton Altmühl seinen Beitrag zur Krönungssteuer konkret ablieferte ist unsicher, denn 1730 mußten die Franken an ihre „Remunerations-Rest“ erinnert werden.22 Dabei war es mit kaiserlichem Ausschreiben vom 21. April 1728 zu einem weiteren Reskript des Kaisers an den fränkischen Ritterkreis gekommen, welches die Ablieferung der Gelder – 1 fl 30 kr rh von vermögenden und 1 fl rh von armen Juden – innerhalb von sechs Wochen forderte.23 Ende 1730 machten sich die Ritterboten erneut auf den Weg, wie die Laufzettel ausweisen24: Ritterbote Burkard Wegenbauer: 30. Okt. 1730 Wilhermsdorf, hier befinden sich einige Schutzjuden. 31. Okt. 1730 Gottesgab: Keine Juden. 31. Okt. 1730 Diespeck: Keine Juden. 31. Okt. 1730 Brunn: Einige Schutzjuden. 31. Okt. 1730 Birnbaum: Keine Juden. 1. Nov. 1730 Weisendorf: Verschiedene Schutzjuden. 1. Nov. 1730 Buch a. d. Aisch: Keine Juden. 1. Nov. 1730 Neuenbürg: Keine Juden. 1. Nov. 1730: Neuhaus: Keine Schutzjuden. 2. Nov. 1730: Adlitz: Keine Schutzjuden. 2. Nov. 1730: Muggenhof: Keine Schutzjuden. 2. Nov. 1730: Stein: Keine Schutzjuden. 2. Nov. 1730: Nürnberg (wegen Heroldsberg): Keine Schutzjuden. 2. Okt. 1730: Dürrenmungenau: Keine Schutzjuden. 2. Nov. 1730: Kornburg und Kalbensteinberg: Keine Schutzjuden. 3. Nov. 1730: Burgfarrnbach und Tanzenhaid: Keine Schutzjuden. 3. Nov. 1730: Neudorf: Keine Schutzjuden.
___________ 22
Die Schwaben hatten bezahlt. StAN, Reichsritterschaft, Akten, Nr. 1294. Ebda, Nr. 677. 24 Ebda. 23
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Gerhard Rechter
Ritterbote Hans Dieterich: 30. Okt. 1730 Unternzenn: Etliche Schutzjuden zu Egenhausen. 30. Okt. 1730 Obernzenn: Etliche Schutzjuden (Amtsvogt Seeger). 31. Okt. 1730 Vestenberg: Keine Schutzjuden (Sekretär Kraus). 31. Okt. 1730 Neuendettelsau: Keine Schutzjuden (Amtmann: Kolb). 31. Okt. 1730 Absberg: Keine Schutzjuden (Amtmann: E. B. Greiff). 1. Nov. 1730 Syburg: „Von langen Zeiten her“ kein Schutzjud (Amtmann: Vollmann). 2. Nov. 1730 Falbenthal: Keine Schutzjuden (Herrschaft Leubelfing). 2. Nov. 1730 Trendel: Keine Schutzjuden. 2. Nov. 1730 Steinhard: Hat Schutzjuden. 2. Nov. 1730 Dennenlohe: Hat Schutzjuden (Amtmann: J. L. Schweiger). 3. Nov. 1730 Wald und Laufenbürg: Keine Schutzjuden (Amtmann: Joh. Leonh. Stecher). 3. Nov. 1730 Altenmuhr: Hat Schutzjuden (Amtmann: Joh. Friedr. Schmidt). 4. Nov. 1730 Sommersdorf: Keine Schutzjuden (Amtmann: Georg Adam Arzberger). 4. Nov. 1730 Thürnhofen und Kayerberg: Keine Schutzjuden (Amtmann: Joh. Wolf Ammon). 5. Nov. 1730 „Martlis“:25 Keine Schutzjuden (Amtmann: Joh. Heinr. Beck). 5. Nov. 1730 Wiedersbach: 2 Schutzjuden (Amtmann: Joh. Georg Ilin). 6. Nov. 1730 Bei Heßberg befindet sich kein Schutzjud (Ansbach) (Amtmann: Abraham Reuschel).
Trotz dieser Vorbereitungen für die Einhebung der Abgaben gingen die Widersprüche weiter. So wiesen die ritterschaftlichen Juristen auf die Unmöglichkeit der armen Landjuden hin, diese Lasten zu tragen. Und noch einmal betonten sie den Angriff auf die immediate Stellung der Reichsritterschaft, da die Juden der anderen Reichsstände nicht besteuert wurden. Zugleich setzte man auf bewährte Praktiken der Einflußnahme am Wiener Hof, wie ein Schreiben des Hofrats v. Happrecht an den Ortskonsulenten Pfannenstiel vom 15. März 1731 zeigt: „In der Juden Cronsteuersach hat sich endlich der Fränkel von Fürth samt einen würzburgischen Juden bey mir eingefunden, und meynen beede, daß sie die ganze Sache mit wenigen 100 Ducaten ad Silentium bringen und also gar leicht echappirn werden.“26 Doch war die Angelegenheit zu wichtig, als daß sie der Hofrat alleine abtun hätte können27: „Wegen der Cronsteuer ruhet dato wieder alles, solang der Fränckel hier ist und meynet er, daß er den bellenden Hund ___________ 25 Nicht bei Johann Kaspar Bundschuh, Der Ritterort Altmühl, in: Geographisches Statistisch-Topographisches Lexikon von Franken, 4. Bd., Ulm 1801, Sp. 135-150. 26 Ebda, Nr. 626. Ob es sich bei dem würzburgischen Juden um Abraham Jud von Mainsontheim handelte, muß offen bleiben. 27 Schreiben vom 19. Mai 1731; ebda.
Kronsteuer und Weihnachtspfennig
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mit etwa 300 Ducaten stillen wolle, daß weiter nichts movirt werde. Hat auch zu dem Ende vom Rheinstrom 100 Ducaten zur Concurrenz praetendirt. Ich aber trage Bedencken, ohne schriftl. allerhöchst kays. Resolution das allergeringste zu geben.“ Die Ritterschaft erhoffte sich also Hilfe vom brandenburg-ansbachischen Hoffaktor Fränkel Jud aus Fürth, dem sie wohl schon des öfteren die Transferierung ihrer Charitativ-Steuern nach Wien anvertraut hatte und bei dem sie deswegen sicherlich nicht grundlos beste Beziehungen zu den Hofkreisen vermutete.28 Daneben schickte sie aber ihrem Wiener Syndicus Johann Kornacher drei Wechsel: 1500 fl für den Reichshofratsvizepräsidenten Graf Metsch, 100 Speziesdukaten für den Geheimen Rat von Karg, wegen „dero in der bewusten Charitativ-Angelegenheit bezeugten gnädigen Vorschubs und Assistenz“, und 75 für den Syndicus selbst wegen seiner Auslagen.29 Diese hatten wohl die am 14. Januar 1732 in Nürnberg aufgesetzte Petition der Ritterschaft – vertreten durch ihre Deputierten Hofrat Johann Kaspar Pfannenstiel, Konsulenten des Kantons Gebürg, und Johann Christoph Kornacher, Syndicus des Kantons Odenwald – und der Vertreter der hinter der fränkischen Ritterschaft sitzenden Judenheit – Feivel von Reichenberg, Isaak Moses von Mainstockheim, Jakob Levi von Zeckerndorf, Samuel Seeligmann von Maineck, Seckel Elias von Markt Burgbreitbach, Löw Hayum von Merzbach – um Erlaß von Kronsteuer und Opferpfennig wohlwollend beurteilt und möglicherweise zu deren Abschaffung beigetragen.30 Weshalb die Kronsteuer und der Opferpfennig wirklich storniert worden sind läßt sich aus den im Staatsarchiv Nürnberg vorliegenden Quellen nicht ersehen; möglicherweise wird die laufende Erschließung der Überlieferung des Reichshofrats auch hierzu Neues bringen. Vielleicht wollte Wien in der sich verändernden politischen Lage, welche einen Zugriff Preußens auf das Herzland des Reiches möglich scheinen ließ, einfach keinen tiefgreifenden Konflikt mit dem kaisertreuen Ritteradel riskieren.31 ___________ 28 So fordert dann am 30. Okt. 1733 der Truhenmeister Albrecht Schenk von Geyern den Ritterhauptmann Hannibal Friedrich v. Crailsheim auf, die zweite Rate der an Martini fälligen Charitativsteuer in Höhe von 2104 fl 54 kr 2 an den Juden Fränkel zu Fürth zu bezahlen, der sie mit Abraham Jud zu Sontheim per Wechsel nach Wien weiterleiten sollte (ebda, Nr. 666). 29 Ebda, Nr. 627. 30 Ebda und ebda, Nr. 626. Die in zehn Punkte gefaßte Argumentation wies auf die Unmöglichkeit für die armen Landjuden hin, zu den schutzherrlichen auch noch die erwarteten Abgaben an den Kaiser zu zahlen. 31 Volker Press, Franken und das Reich in der Frühen Neuzeit, in: Festschrift Alfred Wendehorst zum 65. Geburtstag (Jahrbuch für fränkische Landesforschung 52), Neustadt an der Aisch 1992, S. 329-347, hier S. 342 f.
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Heute scheint die Erinnerung an diesen Versuch der Revindikation kaiserlicher Rechte weitgehend verblaßt.32 Die (versuchte) Rückkehr des Kaisers in eigentlich längst verlorene Rechtspositionen, wie hier in diejenige der direkten Besteuerung der reichsritterschaftlichen Juden, kann als „imperiale Herrschaftsverdichtung“ im Reich auf Kosten eben dieser Reichsritterschaft gesehen werden. Freilich ging diese hier von oben, vom Wiener Hof aus, und nicht, wie beim 1742 gescheiterten Projekt der jüdischen Kaiserhuldigung in Worms, von unten, von den Juden.33 Der Aktenniederschlag im Archiv des Kantons Altmühl – derjenige der anderen Ritterkantone harrt in dieser Hinsicht noch einer Auswertung – gibt aber nicht nur Nachricht von diesem Vorhaben oder von einem Verfassungskonflikt zwischen zwei Corpora des Alten Reiches, sondern liefert darüber hinaus eine Übersicht über die damaligen Lebensorte fränkischer, in reichsritterschaftlichen Herrschaften sitzender Juden. Zudem findet sich in den Schreiben der Kanzlei des Ritterkantons Gebürg ein deutlicher Beweis dafür, daß die Ansiedlung von Israeliten in reichsritterschaftlichen Orten nicht allein – vielleicht sogar zum geringeren Teil – ein fiskalisches Moment34, sondern mehr noch eines adeliger Herrschaftsausübung gewesen ist.
___________ 32 Verf. wurde durch einen Hinweis von Herrn Dr. Stephan Wendehorst, Wien, auf das Thema aufmerksam, wofür diesem herzlicher Dank abgestattet wird. 33 Wendehorst (wie Anm. 7), S. 267-270. 34 Gerhard Rechter, „... hat sich um Schutz beworben“. Beobachtungen zu den jüdischen Gemeinden in den Herrschaften der Freiherrn von Crailsheim im nachmals bayerischen Franken, in: Festschrift für Gerhard Taddey (Württembergisch Franken 86), Schwäbisch Hall 2002, S. 249-296; hier S. 253 f.
Der diplomatische Verkehr zwischen Bayern und Frankreich im mittleren 18. Jahrhundert*
Von Alois Schmid, München In einer seiner wichtigsten Schriften über „Das Reich in der Frühen Neuzeit“ weist Helmut Neuhaus mehrfach auf die Bedeutung des sich ausbildenden Gesandtschaftswesens hin.1 Dieses ist für das Reich und seine Territorien von gleicher Bedeutung. Dennoch ist über das bayerische Gesandtschaftswesen durch punktuelle Untersuchungen erst wenig bekannt. Hier liegt eines der wichtigsten Desiderate der bayerischen Landesgeschichtsforschung vor, das dringend der Bearbeitung bedarf. Dazu sei im Folgenden ein kleiner Ausschnitt vorgestellt.
I. Die Anfänge des bayerischen Gesandtschaftswesens Die Anfänge des ständigen Gesandtschaftswesens im Herzogtum bzw. Kurfürstentum Bayern reichen in das Zeitalter der Gegenreformation zurück. Das entschiedene Bekenntnis der wittelsbachischen Herzöge zur römischen Kirche fand seinen Niederschlag unter anderem in der Einrichtung längerfristig besetzter diplomatischer Vertretungen. Nachdem bis dahin Gesandte nur bei Bedarf für begrenzte Zeit mit einem konkreten Auftrag an einen anderen Hof geschickt worden waren, begann man seit dem 16. Jahrhundert mit der Errichtung länger___________ * Es werden folgende Siglen verwendet: AMAEP Archives du Ministère des affaires étrangères Paris; ANP Archives Nationales Paris; BayHStA Bayerisches Hauptstaatsarchiv München; BNP Bibliothèque Nationale Paris; BStB Bayerische Staatsbibliothek München; GHAM Geheimes Hausarchiv München; HHStAW Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien; KrAM Kriegsarchiv München. 1 Helmut Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 42), München 1997, S. 9, S. 16, S. 39, S. 42, S. 90.
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fristiger Gesandtschaften. Den Anfang machte die römische Kurie, die in den siebziger Jahren Nuntien für den oberdeutschen Raum benannte, die ihren Hauptsitz in München nahmen und von hier aus die Interessen der katholischen Kirche im oberdeutschen Raum zu vertreten hatten.2 Ab 1607 unterhielt auch der Münchner Herzogshof in Rom eine dauerhafte Vertretung, die durchgehend mit Angehörigen des römischen Stadtadels aus den Familien der Crivelli und Scarlatti besetzt war.3 Dieser Posten ist die älteste Vertretung, die der Herzog von Bayern an einem auswärtigen Hof ohne Unterbrechung unterhielt. Die Einrichtung derartiger Hilfsmittel des zwischenstaatlichen Verkehrs beförderten dann die Westfälischen Friedensschlüsse von 1648, die den Territorialherren das Recht zur eigenverantwortlichen Gestaltung der Außenpolitik zusicherten.4 Davon machten die bayerischen Kurfürsten in der Folge regen Gebrauch. Sie bauten nun auch eine Gesandtschaft am Immerwährenden Reichstag zu Regensburg auf, die als wichtigste Außenvertretung seit 1663 ständig besetzt war.5 In enger Verbindung mit ihr sind dann die wechselseitigen Vertretungen mit dem Wiener Kaiserhof zu sehen, die seit den Tagen Max Emanuels mehr oder weniger kontinuierlich besetzt wurden.6 In die gleiche Zeit geht die Vertretung am französischen Königshof zurück, die das korrespondierende Gegenstück zur Gesandtschaft in Wien darstellt. Die genannten Vertretungen stehen am Anfang der Ausbildung des bayerischen Gesandtschaftsnetzes7, das unter dem Zwang der zunehmenden Staats___________ 2
Karl Schellhass, Die süddeutsche Nuntiatur des Grafen Bartholomäus von Portia 1573-1576, Tübingen 1896-1909; ders., Akten über die Reformthätigkeit Felician Ninguarda’s in Baiern und Österreich 1572-1577, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 1 (1898), S. 39-108, S. 204-260; 2 (1899), S. 41-115, S. 223-284; 3 (1900), S. 21-68, S. 161-194; 4 (1901), S. 95-137, S. 208-235; 5 (1902), S. 35-59, S. 177-206; Andreas Bigelmair, Zur Geschichte der Gegenreformation in Süddeutschland, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 13 (1941/42), S. 101-110; Josef Oswald, Der päpstliche Nuntius Ninguarda und die tridentinische Reform des Bistums Passau (1578-1583), in: Ostbairische Grenzmarken 17 (1975), S. 19-49. Allgemein: Friedrich Leist, Zur Geschichte der auswärtigen Vertretung Bayerns im 16. Jahrhundert, Bamberg 1889. 3 Bettina Scherbaum, Bayern und der Papst. Politik und Kirche im Spiegel der Nuntiaturberichte (1550-1600) (Forschungen zur Landes- und Regionalgeschichte 9), St. Ottilien 2002; dies., Die bayerische Vertretung in Rom in der frühen Neuzeit (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 116), Tübingen 2008. 4 Instrumentum Pacis Osnabrugensis VIII § 2. 5 Walter Fürnrohr, Kurbaierns Gesandte auf dem Immerwährenden Reichstag. Zur baierischen Außenpolitik 1663 bis 1806, Göttingen 1971. 6 Erwin Matsch, Geschichte des Auswärtigen Dienstes von Österreich(-Ungarn) 1720-1920, Wien/Graz/Köln 1980, S. 109 f.; ders., Der Auswärtige Dienst von Österreich(-Ungarn) 1720-1920, Wien/Köln/Graz 1986, S. 137 f. 7 Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648) II, hg. von Friedrich Hausmann, Zürich 1950, S. 8-13; III, hg. von Otto Friedrich Winter, Graz/Köln 1965, S. 17-28.
Der diplomatische Verkehr zwischen Bayern und Frankreich
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verschuldung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kaum erweitert wurde. Erst mit dem Aufstieg Kurfürst Karl Albrechts zum Kaiser Karl VII. kam es zum großangelegten Ausbau.8 Der wittelsbachische Kaiser sah sich vor die Notwendigkeit gestellt, seine Kaiserfähigkeit auch durch eigene Vertretungen an den entscheidenden Höfen auf der Bühne der europäischen Politik möglichst eindrucksvoll unter Beweis zu stellen.9 Umgekehrt erwartete er, daß sein nun kaiserlicher Hof von möglichst vielen auswärtigen Staaten mit höchstrangigen Gesandtschaften beschickt wurde. Die Aufwertung des kurbayerischen Hofes fand in dieser Ausweitung des diplomatischen Dienstes ihren sachgerechten Niederschlag. Karl Albrecht unterhielt ständige Gesandte am Immerwährenden Reichstag zu Regensburg sowie an den Höfen zu Paris, Madrid, London, Den Haag, St. Petersburg, Rom, Berlin und Dresden. Umgekehrt waren an seinem Hof als wichtigste ausländische Vertreter Gesandte von Frankreich, Schweden, Preußen und Rom akkreditiert.
II. Die kurbayerische Gesandtschaft in Frankreich Karl VII. war ein Kaiser von Frankreichs Gnaden.10 Er war mit französischer Hilfe auf den Kaiserthron gelangt und bedurfte zu dessen Behauptung auch weiterhin der Unterstützung durch Frankreich. Deswegen ist die Zusammenarbeit mit Frankreich das Herz seiner Außenpolitik geworden. An diesem Zustand sollte sich auch unter seinem Sohn und Nachfolger Max III. Joseph zunächst nichts Entscheidendes ändern.11 Bis zum Ausgang des Siebenjährigen Krieges haben sich die Linien der bayerischen Außenpolitik im Grunde nur wenig verschoben. Sie orientierte sich zuallererst am französischen Königshof und versuchte mit dessen Hilfe die Position des Kurfürstentums zu wahren oder, falls möglich, sogar auszubauen.12 Die Umsetzung der angestrebten Zusammenarbeit mit Frankreich oblag in erster Linie den gegenseitigen Gesandten. Kurbayern unterhielt am französi___________ 8 Fritz Wagner, Kaiser Karl VII. und die großen Mächte 1740-1745, Stuttgart 1938, S. 614 f. 9 Hans Rall, Kurbayern in der letzten Epoche der alten Reichsverfassung 1745-1801 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 45), München 1952, S. 167-171, S. 187 f. 10 Journal et Mémoires du Marquis d’Argenson IV, hg. von E. J. B. Rathery, Paris 1863, S. 2: „l’Électeur de Bavière devenu Empereur de nôtre façon“. 11 Alois Schmid, Max III. Joseph und die europäischen Mächte. Die Außenpolitik des Kurfürstentums Bayern von 1745 – 1765, München 1987 (dort auch weitere Einzelnachweise). 12 Schmid, Außenpolitik (wie Anm. 11), S. 513.
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Alois Schmid
schen Königshof zu Versailles seit den Tagen Max Emanuels eine Vertretung13, die sehr langfristig von 1718 bis 1749 mit dem Comte d’Albert Fürst Grimberghen besetzt war.14 Grimberghen war der erste langfristige Vertreter Kurbayerns am französischen Königshof. Er war vor allem für die Verwirklichung der politischen Kooperation zuständig, vornehmlich aber mit dem wichtigen Geschäft der Subsidienzahlungen befaßt. Der Münchner Hof war auch in dieser Epoche auf französische Zuwendungen angewiesen, die über Fürst Grimberghen, der den anspruchsvollen Titel eines Ambassadeur Impérial extraordinaire führte, abgewickelt wurden. Er hatte das volle Vertrauen des Münchner Hofes und konnte ungewöhnlich selbständig über die zu transferierenden Summen verfügen. In Einzelfällen erhielt er Unterstützung durch den Grafen Ignaz Felix von Toerring, der in der Umgebung des Kaisers die französische Fahne hochhielt und immer wieder zur Klärung von Einzelfragen nach Versailles geschickt wurde.15 Auf diesen Wegen versuchte der Münchner Hof seinen Interessen am Bourbonenhof Gehör zu verschaffen. Hauptaufgabe der Gesandtschaft war die Sicherung der benötigten Unterstützung aus Frankreich für Karl VII.16 Nach dem Tode des wittelsbachischen Kaisers orientierte sich der Münchner Hof um. Obwohl er sich mit dem Verlust der Reichskrone lange nicht abfinden wollte, sah er sich infolge finanzieller Zwänge zu einer Einschränkung des teueren Gesandtenapparates gezwungen.17 In diesem Zusammenhang kamen auch die hohen Aufwendungen für Grimberghen auf den Prüfstand. Sofort stießen die hohen Unkosten, die er für seine Dienste in der Abwicklung der Subsidiengeschäfte in Rechnung gestellt hatte, auf Widerstand. Es wurde von Veruntreuung und Unterschlagung gesprochen. Prozesse wurden angestrengt und geführt; sie kamen erst spät zur Entscheidung und erbrachten auch dann nicht das erwartete Ergebnis. Dennoch wurde Fürst Grimberghen am 20. März 1749 seines Postens enthoben.18 Auch wenn die Fortführung der Gesandtschaft in Versailles außer Zweifel stand, erhielt er zunächst keinen Nachfolger. Man wollte sich ___________ 13
Hausmann (wie Anm. 7), S. 10 f. Peter Claus Hartmann, Comte d’Albert-Fürst Grimberghen. Ein kurbayerischer Offizier, Geheimrat und Diplomat aus hohem französischem Adel, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 41 (1978), S. 529-545. 15 Zu Ignaz Felix Graf von Toerring-Jettenbach (1682-1763): Augustin Auracher, Der gute Freund des Kaisers, das ist Ehren- und Trauerrede weyland Ihro Excellenz des hochgebornen Herrn Ignatz Felix Joseph des Heil. Roemischen Reichs Grafen von Toerring und Tengling, Salzburg 1763; Jolanda Englbrecht, Drei Rosen für Bayern. Die Grafen zu Toerring von den Anfängen bis heute, Pfaffenhofen 1985, S. 250-308. 16 Peter Claus Hartmann, Karl Albrecht – Karl VII.: Glücklicher Kurfürst – Unglücklicher Kaiser, Regensburg 1985, S. 112-162. 17 BayHStA, Kasten schwarz 13 038; GHAM, Korr. 784; Kayserlicher Hof-Calender 1745, München 1745: Abschnitt: Ihro Röm. Kays. Majestät Gesandte. 18 ANP, T 15329-60. Vgl. Schmid, Außenpolitik (wie Anm. 11), S. 268-271. 14
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auch die Kosten vorübergehend sparen. Diese Lösung wurde zum einen von der nunmehrigen Sparpolitik nahegelegt, sie entsprach aber auch den im Jahre 1746 umgestellten Vertragsverhältnissen. Im Jahrzehnt zwischen 1746 und 1756 stand Kurbayern im Sold der Seemächte und des Kaiserhofes.19 Dadurch büßte die Vertretung am französischen Königshof ihre bisherige Bedeutung notwendigerweise ein. Ab 1749 sollte der kurpfälzische Gesandte in Versailles Johann Wilhelm von Grevenbroch die Interessen Kurbayerns mitvertreten.20 Außerdem setzte man Hoffnungen in den einflußreichen Vermittler der Verbindungen zwischen Frankreich und Kurköln: den Abbé Guebriand.21 Zur praktischen Pflege der Kontakte wurde ihnen mit dem Oberstleutnant Peglioni ein Helfer zugeordnet, der trotz vieler Bitten nie die erhoffte Aufwertung zum Gesandten erhielt.22 Diese Lösung erschien für die Jahre der außenpolitischen Windstille nach dem Aachener Frieden 1748 ausreichend, man wollte die durch eine Hausunion intensivierte Zusammenarbeit der wittelsbachischen Linien auch in dieser Hinsicht nutzen. Ausschlaggebend für dieses eingeschränkte Engagement waren neben diesen politischen vor allem finanzielle Überlegungen. Eine neue Situation wurde im Zusammenhang mit dem „Renversement des alliances“ von 1756 geschaffen.23 In der Folge des Umsturzes der Bündnisse kehrte Kurbayern auf die französische Seite zurück. Es kam zur Erneuerung der früheren Bündnisverhältnisse, die abermals Geld aus Frankreich in Aussicht stellte. Darauf hatte die französische Partei in München seit Jahren im Hintergrund hingearbeitet.24 Zum neuen Vertreter Kurbayerns in Frankreich wurde ___________ 19 Alois Schmid, Staatsverträge des Kurfürstentums Bayern 1745-1764 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 95), München 1991, S. 37-50 Nr. 5, 6, 7; S. 68-73 Nr. 11. 20 Zu Johann Wilhelm Frhr. von Grevenbroch (1694-1758), kurpfälzischer Resident und Minister zu Versailles: Hermann Weber, Die Politik des Kurfürsten Karl Theodor von der Pfalz während des Österreichischen Erbfolgekrieges 1742-1748 (Bonner Historische Forschungen 6), Bonn 1956, S. 32 u. ö.; Hausmann (wie Anm. 7), S. 11. 21 Zu Abbé Louis Vincent de Guebriand (1705-1768), französischer Gesandter in Kurköln: Willi Tenter, Die Diplomatie Kurkölns im 18. Jahrhundert, Diss. masch. Bonn 1949, S. 175; Recueil des instructions données aux ambassaudeurs et ministres de France depuis les traités de Westphalie jusqu´à la revolution Française XXVIII/2: Cologne, hg. von Georges Livet, Paris 1963, S. 209-251. Eine Anweisung: Recueil des instructions VII: Bavière, Palatinat, Deux Ponts, hg. von André Lebon, Paris 1889, S. 313319. 22 Zu Peter Anton Joseph von Peglioni: ANP, T 15358; KrAM, OP 80 884. Vgl. Hartmann, Grimberghen (wie Anm. 14), S. 542 f.; Schmid, Außenpolitik (wie Anm. 11), S. 262 f. u. ö. – Die Korrespondenz mit dem Münchner Hof: BayHStA, Kasten schwarz 13 451. 23 Max Braubach, Versailles und Wien von Ludwig XIV. bis Kaunitz. Die Vorgeschichte der diplomatischen Revolution im 18. Jahrhundert (Bonner Historische Forschungen 2), Bonn 1952. 24 Schmid, Außenpolitik (wie Anm. 11), S. 316-321.
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Maximilian Emanuel Franz van Eyck bestimmt.25 Er kam aus den Lütticher Diensten des wittelsbachischen Fürstbischofs Johann Theodor und war somit bestens mit den französischen Verhältnissen vertraut.26 Seit 1754 wurde er für den wichtigen Posten empfohlen und erhielt ein Kreditiv als außerordentlicher Gesandter am 25. Februar 1755.27 Zum ordentlichen Gesandten sollte er erst nach dem erneuten Vertrag Kurbayerns mit Frankreich von Compiègne (21. Juli 1756) ernannt werden. Er hat diesen Posten dann während des gesamten Siebenjährigen Krieges bis zu seinem Tod 1777 bekleidet.28 Van Eyck wurde in dieser langen Amtszeit eine der markantesten Gestalten der Beziehungen zwischen Bayern und Frankreich im 18. Jahrhundert. Das fand seinen Ausdruck auch im 1759 erworbenen, im Marais gelegenen herrschaftlichen Hôtel de Beauvais, das ihm zugleich als repräsentativer Dienstsitz und private Wohnung diente.29 Somit läßt sich als Grundlinie der Entwicklung festhalten: Die Besetzung der bayerischen Gesandtschaft am französischen Königshof spiegelt die Grundlinien des Verhältnisses zwischen den beiden Staaten sachgerecht wider. Sie ist sinnvoll in die außen-, aber auch innenpolitische Entwicklung eingebaut. Für Kurbayern war die Vertretung am französischen Königshof ein erstrangiger Posten. Daneben wurden aber zur Erledigung von kurzfristigen Aufträgen immer wieder auch Sondergesandte nach Versailles entsandt, so 1748 der rheinische Graf Karl Emil von Wied.
III. Die französische Gesandtschaft in München Ähnliches gilt umgekehrt für die diplomatische Vertretung Frankreichs in Kurbayern.30 Natürlich war auch der bourbonische Königshof am Wittelsba___________ 25 Zu Maximilian Emanuel François van Eyck (1711-1777): Hausmann (wie Anm. 7), S. 11; Winter (wie Anm. 7), S. 21; Schmid, Außenpolitik (wie Anm. 11), S. 316 f. 26 Manfred Weitlauff, Kardinal Johann Theodor von Bayern (1703-1763), Fürstbischof von Regensburg, Freising und Lüttich. Ein Bischofsleben im Schatten der kurbayerischen Reichskirchenpolitik, in: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 4 (1977), S. 498 f., S. 502 f., S. 525-527, S. 568-570 u. ö. 27 AMAEP, Corr. pol. Bav. 134 Max III. Joseph an König Ludwig XV. 25.2.1755; BayHStA, Kasten schwarz 6518; HR I 298/124. 28 Almanach Royal Année 1756, Paris 1756, S. 116; 1757, S. 117; 1758, S. 118; 1759, S. 122; 1760, S. 122; 1761, S. 124; 1762, S. 131; 1763, S. 132 usw. 29 Jacques Hillairet, Dictionnaire historique des rues de Paris I, Paris 1963, S. 545547. 30 Inventaire sommaire des Archives du Département des affaires étrangères, Correspondence politique II, Paris 1908, S. 91-95: „Bavière“; Theodor Maunz, Französische Gesandte in Bayern: Eine Erinnerung, in: Bayerische Verwaltungsblätter 8 (1962),
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cherhof seit langem durch einen hochrangigen Diplomaten vertreten.31 Der wichtige Posten wurde zur Zeit Karl Albrechts zunächst 1741 dem Marquis Louis-Antoine de Beauveau anvertraut. Während der Wahlverhandlungen zu Frankfurt stellte die Weichen als Wahlbotschafter Charles Louis Auguste Fouquet, Duc de Belle-Isle.32 Dieser wurde bald wegen der ihm übertragenen militärischen Aufgaben abgezogen und erhielt 1743 einen Nachfolger in DanielFrançois Comte de Lautrec, dem noch im gleichen Jahr 1743 Théodore de Chavigny zur Unterstützung beigegeben wurde. Im Folgejahr 1744 wurde Chavigny der Hauptvertreter Frankreichs am Kaiserhof Karls VII. Chavigny33 war einer der französischen Spitzendiplomaten dieser Jahre, der aber nur für begrenzte Zeit nach Frankfurt und München als Brennpunkten der europäischen Politik entsandt wurde. Er erhielt den sensiblen Auftrag, den wittelsbachischen Kaiser auf die nun ins Auge gefaßte Einschränkung des französischen Engagements vorzubereiten. In Frankreich war Kardinal Fleury als Leiter der Außenpolitik durch den Marquis d’Argenson ersetzt worden.34 Dieser schlug einen neuen Weg in der Deutschlandpolitik ein, indem er eine Reduktion des Engagements ins Auge faßte. Vor allem sollte die teuere Außenpolitik mit Geld eingeschränkt werden. Davon mußte in erster Linie das bisher vorrangig geförderte Haus Bayern betroffen werden, weil es sich trotz hoher Aufwendungen als zu stumpfes Schwert erwiesen hatte.35 Diese Neuorientierung hatte Chavigny vorzubereiten und durchzuführen. Doch durfte bei alledem der Schaden für Frankreich nicht allzu groß werden. Daß der Tod des wittelsbachischen Kaisers diese Umorientierung sehr rasch wesentlich erleichtern würde, war zunächst nicht abzusehen. Doch kam dieser Todesfall dem neuen Gesandten sehr zustatten. Er hat die Position Frankreichs in München im Zusammenhang mit der Umorientierung mit größtem Einsatz, aber auch nachhaltiger Wirkung vertreten. Seine ___________ S. 313-314. – Die entscheidenden Dokumente sind zusammengestellt in: Lebon (wie Anm. 21), S. 187-378. 31 Jörg Ulbert, Frankreichs Deutschlandpolitik im zweiten und dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. Zur Reichsperzeption französischer Diplomaten während der Regentschaft Philipps von Orléans 1715-1723 (Historische Forschungen 79), Berlin 2004, S. 267-303. 32 Zu Charles Louis Auguste Fouquet, Duc de Belle-Isle (1684-1761): Rainer Koch/Patricia Stahl (Hg.), Wahl und Krönung in Frankfurt am Main: Kaiser Karl VII. 1742-1745 II, Frankfurt am Main 1986, S. 87 Nr. V 20. 33 Théodore Chavignard de Chavigny (1687-1771): Michaud, Biographie universelle VIII, Paris o. J., S. 63-65; Dictionnaire de Biographie Française VIII, Paris 1959, Sp. 1093-1095. Vgl. Jean Dureng, Mission de Théodore Chavignard de Chavigny en Allemagne, Paris 1911. Seine Instructionen: Lebon (wie Anm. 21), S. 223-246. 34 Edgar Zévort, Le Marquis d’Argenson et le Ministère des affaires étrangères du 18. Novembre 1744 au 10. Janvier 1747, Paris 1880; Michel Antoine, Le gouvernement et l’administration sous Louis XV. Dictionnaire biographique, Paris 1978, S. 248 f. 35 BNP, Manuscr. Franç. N.A. 487 König Ludwig XV. an Kaiser Karl VII. 9.1.1745. Vgl. Lebon (wie Anm. 21), S. 270-272.
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von größter Emsigkeit und Einfallsreichtum geprägte Tätigkeit zog sich über das gesamte Umbruchsjahr 1745 hin.36 An dessen Ende wurde er aber mit Wirkung vom 5. Dezember schon wieder abberufen und an eine wichtigere Wirkungsstätte, nach Lissabon, entsandt.37 Der kurbayerische Hof drängte auf die rasche Wiederbesetzung mit einem gleichrangigen Diplomaten. Es bedurfte vieler Schreiben aus München nach Versailles, bis der französische Königshof zu einem entsprechenden Schritt bewegt werden konnte. Freilich wollte sich Frankreich nun mit einem minderrangigen Repräsentanten bescheiden. Auch diese Personalentscheidung sollte die politische Umorientierung zum Ausdruck bringen. Als Nachfolger wurde nach einer gewissen Bedenkzeit der gewiß rechtschaffene, aber ungleich farblosere Sieur Renaud benannt.38 Er hatte das Königreich bis dahin in Kurtrier vertreten. Renaud kam letztlich aus dem Polizei- und Militärdienst und benahm sich entsprechend; er war kein Meister seines Faches wie Chavigny, sondern eher ein Handwerker der Diplomatie, der seine Anordnungen nüchtern ausführte und sich selber weit weniger in die Politik einmischte als sein aalglatter und mit allen Wassern gewaschener Vorgänger. Das zeigen auch seine Berichte, die sich weithin auf die Schilderung der Ereignisse beschränkten.39 Er kann keinesfalls als gleichrangiger Repräsentant Frankreichs betrachtet werden; aber genau das wollte seine vorgesetzte Dienststelle mit seiner Berufung zum Ausdruck bringen. Er erhielt lediglich den Titel eines „Chargé des affaires du Roy auprès de l´Électeur de Bavière“.40 Deswegen bestand auch keine Veranlassung, ihn wieder an eine wichtigere Stelle abzuberufen. Er blieb bis zum April 1748 in München, um nach seinem Rappell41 in der Versenkung zu verschwinden. Ersetzt wurde Renaud durch den Comte François de Baschi.42 Der Zeitpunkt im Frühjahr 1748 erscheint bezeichnend. Erst als sich das Ende des Österreichischen Erbfolgekrieges abzeichnete und der Friedenskongreß von Aachen anlief, erschien eine wirkungsvollere Vertretung Frankreichs in München wieder angebracht. Doch erhielt auch Baschi nicht mehr den Titel eines „Ambassadeur“, sondern nur noch den eines „Ministre plénipotentiaire“. Baschi gehörte zum ___________ 36
Seine Berichte: AMAEP, Corr. pol. Bav. 117-121. Almanach Royal Année 1746, Paris 1746, S. 111. 38 Zum Sieur de Renaud, dessen Vorname und biographische Daten nicht ermittelt werden konnten: Zévort (wie Anm. 34), S. 86-91; Recueil des instructions (wie Anm. 21) XXVIII/3: Trèves, hg. von George Livet, Paris 1966, S. 145-154. Seine Berichte aus Trier: AMAEP, Corr. pol. Trèves 10-14. 39 Seine Berichte: AMAEP, Corr. pol. Bav. 122-128. 40 Seine von Chavigny ausgehändigte Instruktion: Lebon (wie Anm. 21), S. 269-283. 41 AMAEP, Corr. pol. Bav. 128 Puyzieulx an Renaud 18.4.1748. 42 Zu François de Sainte-Helène, Comte de Baschi (1701-1777): Antoine (wie Anm. 34), S. 20. 37
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familiären Umfeld der Madame Pompadour und erhielt in München seinen ersten Diplomatenposten, nachdem er bisher im Militär Dienst getan hatte. Sein Hauptauftrag war, den kurbayerischen Hof wieder mehr auf französischen Kurs zu führen.43 Doch mußte er sehr rasch erkennen, daß er dieses Ziel kaum erreichen würde; deshalb drängte er angesichts andauernder Erfolglosigkeit schon bald auf seinen Rappell. Im Grunde war er sich zu schade für dieses bäuerliche München.44 Tatsächlich wurde seinem Wunsch schon im Frühjahr 1750 nach der Neuordnung der politischen Verhältnisse in Europa entsprochen.45 Auch Baschi erhielt nun keinen direkten Nachfolger mehr. Mit dem Hinweis auf die ungenügende Vertretung Bayerns am französischen Königshof wurde die Benennung eines Nachfolgers abgelehnt. Versailles sah keine Notwendigkeit für eine derartige Verfügung. Der Bourbonenhof hoffte, den kurbayerischen Hof über den verwandten kurpfälzischen Hof mindestens genauso wirkungsvoll führen zu können. Diese Lösung verursachte keine Kosten. An der Stelle Kurbayerns sollte künftig die Kurpfalz der Statthalter Frankreichs im Reich werden.46 Das blieb die Marschroute der französischen Deutschlandpolitik für die folgenden Jahre. Erst als das „Renversement des alliances“ die Entwicklung in neue Bahnen lenkte, wurde wieder eine Neubesetzung der Münchner Gesandtenstelle vorgenommen. Die Erneuerung der bayerischen Gesandtschaft in Versailles47 fand ihre Entsprechung in der Wiederbesetzung der französischen Gesandtschaft in München ebenfalls im Jahre 1755. Beide Vorgänge stehen in korrespondierender Verbindung. Nun kam mit Hubert Chevalier de Folard48 erneut ein höherwertiger Diplomat nach München. Folard stellt wieder eine andere Kategorie von Diplomat dar als Renaud oder auch Baschi. Er hatte bisher die Posten des französischen Gesandten am Fränkischen Reichskreis und am Immerwährenden Reichstag zu Regensburg bekleidet; er war also einer der besten Deutschlandkenner dieser Zeit. Zudem verfügte er über Beziehungen zu höchsten Politikerkreisen in Frankreich. Folard erhielt ein Kreditiv als „Envoyé extraordinaire“. Seine Hauptaufgabe sollte sein, Kurbayern in Kriegszeiten wieder fest im fran-
___________ 43
Seine Instruktion: AMAEP, Mém. et doc. Bav. 4. Druck: Lebon (wie Anm. 21), S. 285-312. 44 Seine Berichte: AMAEP, Corr. pol. Bav. 129-132. 45 Der Rappell: AMAEP, Corr. pol. Bav. 132 Ludwig XV. an Max III. Joseph und an Maria Amalia 13.4.1750. 46 Meinhard Olbrich, Die Politik des Kurfürsten Karl Theodor von der Pfalz zwischen den Kriegen (1748-1756) (Bonner Historische Forschungen 27), Bonn 1966. 47 S. Anm. 23-25. 48 Zu Hubert Chevalier de Folard (1709-1799): Dictionnaire de Biographie Française XIV, Paris 1979, Sp. 227 f.
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zösischen Lager zu verankern.49 Dieser Aufgabe ist er mit Einsatz und Einfallsreichtum nachgekommen.50 So hat er viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen und das Verhältnis zwischen den beiden Staaten tief geprägt. Folard verblieb dann fast die gesamte Regierungszeit Max III. Josephs über bis 1776 in München. Der Blick auf die Stelle des französischen Gesandten in München ergibt ein ähnliches Bild wie der umgekehrte Vorgang; als wichtiger Posten wurde sie ziemlich kontinuierlich besetzt. In Phasen der politischen Zuspitzung erhielten die ordentlichen Gesandten sogar noch Unterstützung durch kurzzeitig abgeordnete Sonderbotschafter, so 1743/44 durch Louis Auguste Blondel oder 1757 durch Charles Louis Marquis du Mesnil. Vor allem war für den Münchner Hof auch der Chevalier de Bavière 51, der uneheliche Sohn des Kurfürsten Max Emanuel, tätig, der freilich immer mehr im Hintergrund verblieb und sich kaum in München aufhielt. Auch die Besetzung des französischen Gesandtenpostens ist eingebettet in die große französische Politik: in die Grundlinien der Außenpolitik und Deutschlandpolitik.52 Sie war aber zugleich eingebettet in die Innenpolitik, indem auch sie von der Finanzpolitik abhängig war. Wenn ein Sparkurs angesagt war, sah man hier eine willkommene Möglichkeit, den Rotstift anzusetzen. Wenn sich die Lage zuspitzte, entschloß man sich zur Entsendung höherrangiger Persönlichkeiten. Dennoch wurde nur im Ausnahmefall des wittelsbachischen Kaisertums ein Diplomat der höchsten Rangstufe, ein „Ambassadeur“, nach München entsandt. Im Allgemeinen wurde der Münchner Posten lediglich als Stelle der zweiten Rangstufe eines Botschafters eingeordnet.53 Diese pragmatische Verfahrensweise verursachte natürlich viele Zeremonialstreitigkeiten, weil die bayerische Seite den Rang des entsandten Diplomaten als Gradmesser des eigenen Stellenwertes im Konzert der europäischen Höfe betrachtete.
___________ 49 Die Instruktion mit mehreren Nachträgen: AMAEP, Mém. et doc. Bav. 3; Lebon (wie Anm. 21), S. 319-345. 50 Seine Berichte: AMAEP, Corr. pol. Bav. 134 ff. Vgl. Gian Lodovico Bianconi, Briefe an den Marchese Hercolani über die Merkwürdigkeiten Bayerns und anderer deutscher Länder 1762, hg. von Horst Rüdiger (Sammlung Genien), Mainz/Berlin 1964, S. 74. 51 Peter Claus Hartmann, Der Chevalier de Bavière, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 31 (1968), S. 286-297, hier S. 296. Seine Instruktion: AMAEP, Mem. et doc. Bav. 4, fol. 227r-292r; Druck: Lebon (wie Anm. 21), S. 247-268. 52 Eckhard Buddruss, Die französische Deutschlandpolitik 1756-1789 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz 157), Mainz 1995. 53 Erich H. Markel, Die Entwicklung der diplomatischen Rangstufen, Erlangen 1951, S. 21-30.
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IV. Informelle Kanäle Die Besetzung der beidseitigen Gesandtenposten war also abhängig von der großen Politik und dementsprechend einem Wechsel unterworfen. Dieser war auch deswegen möglich, weil die Gesandtenebene nicht die einzigen Wege eröffnete, über die der außenpolitische Verkehr abgewickelt wurde. Neben diesen offiziellen Kanälen bestanden auch informelle Wege des politischen Austausches, die nicht minder wirksam und wichtig waren. Sie sind erst bei eingehender Auswertung des Aktenmaterials ersichtlich. Hier werden mehrere weitere Persönlichkeiten faßbar, die Verbindungen nach Frankreich herstellten und über längere Zeit hin unterhielten. Diese Kontakte waren nicht institutioneller Natur, sondern basierten auf Einzelpersonen. Bei deren Bestimmung ist davon auszugehen, daß das Personal am Münchner Hof im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden in drei politische Gruppierungen zerfiel. Es gab hier eine österreichische Partei, die aus der Zugehörigkeit zum Reich eine naturgemäße Hinwendung zum habsburgischen Kaiserhaus ableitete und deswegen die Politik am Reich und dem Kaiserhaus ausrichtete.54 Ihr trat gegenüber eine französische Partei, die im Gegensatz dazu eine Kooperation mit dem herkömmlichen Gegner Österreichs, Frankreich, bevorzugte.55 Diese Gruppierung gewann an Bedeutung mit dem Vordringen der Aufklärung, die eine Hinwendung nicht nur zur Kultur Frankreichs nahelegte.56 Derartige Kooperation entsprang auch patriotischen Motiven. Eine dritte Gruppierung suchte immer den größten Vorteil Bayerns und wandte sich jeweils der Partei zu, die diesen Nutzen am ehesten erwarten ließ. Da das eher auf der Seite Frankreichs als Österreichs der Fall war, arbeitete diese Patriotengruppe verschiedentlich mit im einzelnen wechselnder Intensität mit Frankreich zusammen. Diese Grundgegebenheiten führten die beiden letztgenannten Gruppierungen zusammen, so daß am kurbayerischen Hof immer eine starke französische Partei agierte. Das gilt gerade für die Regierungszeit Kaiser Karls VII. und des Kurfürsten Max III. Joseph.57
___________ 54 Volker Press, Bayern, Österreich und das Reich in der frühen Neuzeit, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg 120 (1980), S. 493519, bes. S. 513-516. 55 Volker Press, Frankreich und Bayern von der Reformation bis zum Wiener Kongreß, in: Deutschland und Frankreich in der frühen Neuzeit. Festschrift für Hermann Weber zum 65. Geburtstag, hg. von Heinz Duchhardt/Eberhard Schmitt (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution 12), München 1987, S. 21-70, bes. S. 57-61. 56 Eberhard Weis, Bayern und Frankreich in der Zeit des Konsulats und des ersten Empire (1799-1815), in: ders., Deutschland und Frankreich um 1800: Aufklärung – Revolution – Reform, hg. von Walter Demel/Bernd Roeck, München 1990, S. 152-185. 57 Schmid, Außenpolitik (wie Anm. 11), S. 513; s. auch Anm. 10-12.
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Hier ist zu nennen vor allem der jesuitische Hofbeichtvater P. Daniel Stadler.58 Er wurde von Kaiser Karl VII. 1742 als Prinzenerzieher und Beichtvater an seinen Hof geholt und erlangte über diese Funktionen großen Einfluß auf Kurfürst Max III. Joseph und dessen unmittelbare Umgebung.59 Der Jesuit stand auch modernen Zeitströmungen durchaus aufgeschlossen gegenüber und war ein entschiedener Anhänger der französischen Aufklärung. In diesem Sinne gehörte er am Münchner Hof immer zur französischen Partei. Er schaltete sich beständig auch in die Politik ein und arbeitete hier mit den französischen Gesandten zusammen. Diese versorgte er mit vielfältigen Insiderinformationen, die in den engsten Umkreis des Hofes hineinführten.60 Der französische Königshof wußte um den besonderen Wert dieses Kontaktmannes, der jenseits der offiziellen diplomatischen Kanäle unmittelbaren Zugang zur Kurfürstenfamilie verschaffte. 61 Dementsprechend warnte die österreichische Seite vor ihm .62 Über ihn konnte vor allem die konfessionelle Karte ins Spiel gebracht werden, die in der kontinentalen Auseinandersetzung mit England und den Generalstaaten einen hohen Stellenwert hatte. Deswegen wurde P. Stadler vielfach in den diplomatischen Schriftverkehr einbezogen. Sämtliche französische Gesandte wurden in ihren Instruktionen angewiesen, vor allem zum Beichtvater Verbindung zu suchen.63 Dieser wurde immer wieder mit Präsenten bedacht, um ihn auf der eigenen Seite zu halten.64 Diese Verhältnisse blieben der österreichischen Seite nicht unbekannt und veranlaßten sie über viele Jahre zu Gegenmaßnahmen auch auf der Ordensschiene, die am 4. Dezember 1762 schließlich zur Abberufung des Hofbeichtvaters führten.65 Als zweite Persönlichkeit verdient in diesem Zusammenhang der Hofrat Johann Adam von Schroff Beachtung.66 Dieser Hofrat tauchte zu Beginn der fünfziger Jahre, aus pfälzischen Diensten am Reichskammergericht zu Wetzlar kommend, urplötzlich am Münchner Hof auf.67 Aus den französischen Akten68 ___________ 58 Zu P. Daniel Stadler SJ (1705-1764): Edmund von Oefele, in: Allgemeine Deutsche Biographie XXXV, Leipzig 1893, S. 381. 59 F[riedrich] A[nton] W[ilhelm] Schreiber, Max Joseph III., der Gute, Kurfürst von Bayern, München 1863, S. 2 f. 60 Einzelbelege bei Schmid, Außenpolitik (wie Anm. 11), s. Reg. 61 BNP, Manuscr. Franç. Suppl. fol. 7135, fol. 1 f.: Bernis an Choiseul 22.6.1758. 62 HHStAW, Staatskanzlei Bayern 10 Widmann an Maria Theresia 30.1.1752; 12 Widmann an Kaunitz 29.10.1754; 13 Berichte Widmanns 18.11.1755; 12.12.1755. 63 Lebon (wie Anm. 21), S. 281 f. 64 AMAEP, Corr. pol. Bav. 128 Renaud an Puyzieulx 5.1.1748; Mém. et doc. Bav. 2 (6.10.1748); 134 (12.10.1755). 65 Bernhard Duhr, P. Daniel Stadler, ein Hofbeichtvater des 18. Jahrhunderts, in: Studi e testi 39 (1924), S. 235-257. 66 Zu Johann Adam von Schroff († 1760): Tenter (wie Anm. 21), S. 190. 67 Schmid, Außenpolitik (wie Anm. 11), S. 311-316.
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ergibt sich, daß er förmlich eingeschleust wurde. Letztlich liefen die Fäden dieser Aktion in Versailles zusammen. Der französische Königshof wollte sich die Kosten für eine eigene diplomatische Vertretung in München sparen, dennoch dort aber nachhaltigen Einfluß behalten. Deswegen trug er wesentlich dazu bei, daß dieser Anhänger Frankreichs eine Anstellung am Münchner Hof als Hofrat fand. Er sollte ein vom Münchner Hof selber entlohnter Parteigänger Frankreichs werden, der auch Verbindungen zum Entscheidungszentrum der kurbayerischen Politik verschaffte. In diesem Sinne erhielt er laufend Anweisungen aus Versailles.69 Die Rechnung ist aufgegangen. Seit 1752 war Schroff mit großem Einsatz am Münchner Hof tätig. Sein Ziel wurde sehr rasch, den altersschwachen Geheimen Ratskanzler Franz Xaver Freiherr von Praidtlohn von der Schaltstelle der bayerischen Politik zu verdrängen. In der Instruktion für Folard von 1755 heißt es dementsprechend: „Le baron de Schroff ayant donné les témoignages les plus forts de son zèle sincère pour le bien du service du Roi, le sieur Folard lui marquera les plus grands égards et la plus grande confinance. Il l’assurera de la protection du Roi, et il emploiera tous ses soins pour le soutien de son crédit auprès de l´Électeur“.70 In die Hof- und Staatskalender wurde er aber nicht aufgenommen, er verblieb also außerhalb der regulären Beamtenschaft. Tatsächlich hat er in der Zeit des englisch-österreichischen Bündnisses zwischen 1746 und 1756 für Frankreich Position ergriffen und dem Wort Frankreichs auch weiterhin Geltung verschafft. Er hat die französische Partei am Leben erhalten, bis sich der Wind wieder zugunsten Frankreichs drehte. Viele seiner Schreiben fanden den Weg in die Zentrale der französischen Außenpolitik.71 Baron Schroff war ein inoffizieller Vertreter Frankreichs, dessen Rolle die Münchner Hofgesellschaft nie durchschaut hat. Er war ein Vertreter der französischen Geheimdiplomatie im engsten Umkreis des Kurfürsten und hat dort große Wirksamkeit entfaltet.72 Ähnlich ist die Karriere des Bürokraten Johann Georg Branca verlaufen.73 Er hatte viele Jahre als Legationssekretär in verschiedenen Gesandtschaften durchlaufen, ehe er im Mai 1753 ebenso urplötzlich am Münchner Hof als persönlicher Sekretär des Kurfürsten auftauchte.74 Auch er wurde nie in die Hofkalen___________ 68
AMAEP, Corr. pol. Bav. 133 mit zahlreichen einschlägigen Schreiben. Livet (wie Anm. 21), S. 231 f.: Lettre pour M. Schroff (Versailles, 27.1.1751): „Le Roy est d’autant plus persuadé, Monsieur, des bonnes dispositions et des soins que vous voudrez bien apporter pour le succès de cette négotiation. […] Vous avez déjà fait vos preuves de zèle pour le bien de la cause commune“. 70 Lebon (wie Anm. 21), S. 322. 71 AMEP, Corr. pol. Bav. 133. 72 Schmid, Außenpolitik (wie Anm. 11), s. Reg. 73 Zu Johann Georg Branca: Schmid, Außenpolitik (wie Anm. 11), S. 314 f. Zu ihm liegt keine weiterführende Literatur vor. 74 Das Ernennungsdekret: BayHStA, Staatsverwaltung 404 (5.5.1753). 69
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der aufgenommen, verblieb also ebenfalls außerhalb der Beamtenschaft und war dem Kurfürsten unmittelbar zugeordnet. Er war ebenso wie Schroff betont französisch gesinnt und arbeitete mit Einsatz für Frankreich75 in einer Zeit, als man in München eher österreichisch und englisch dachte. Auch er schrieb viele Berichte nach Versailles, die oftmals auf dem Schreibtisch des Außenministers landeten und diesen mit Insiderinformationen aus München versorgten.76 Wegen dieser drei Parteigänger war der französische Königshof auch in einer Zeit, als er keinen offiziellen Gesandten in München unterhielt, vorzüglich über die Vorgänge in Kurbayern im Bilde. Diese inoffiziellen Kanäle erforderten auch den Einsatz außergewöhnlicher Mittel. Hier spielten „douceurs“, „pensions“ und „présents“ eine wichtige Rolle. In den Gesandtschaftspapieren wird mehrfach die Bewilligung solcher besonderer Zuwendungen bezeugt. Sie bestanden in Geldzahlungen in zum Teil beträchtlicher Höhe oder auch kleineren Gaben wie Wein, Kaffee, Schmuck oder Schokolade. Empfänger waren Mitglieder des Hofes oder auch Spitzenkräfte der Verwaltung. Angeführt wurde die Liste von Baron Schroff und Branca. Selbst der Geheime Ratskanzler Franz Xaver Wiguläus von Kreittmayr taucht als Vertreter französischer Interessen auf der Liste solcher Gratifikationen auf.77 Ziel dieser Zuwendungen war die Beeinflussung der politischen Entscheidungen in französischem Sinne.
V. Die Rolle der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Im Jahre 1759 wurde in München als vierte Einrichtung dieser Art in Deutschland eine Akademie der Wissenschaften gegründet.78 Ihre Hauptaufgabe wurde – ganz im Sinne des Aufgeklärten Absolutismus – die Beförderung des Nutzens und des Glanzes des Kurfürstentums unter Einsatz der Mittel der Wissenschaften.79 Diesen Vorgaben hat sich die gelehrte Gesellschaft schon in ihrer Frühzeit mit großem Erfolg gewidmet.80 In dieser Zielsetzung hat sie von ___________ 75
AMAEP, Corr. pol. Bav. 133, 134. Vgl. Lebon (wie Anm. 21), S. 331. AMAEP, Corr. pol. Bav. 134 Rouillé an Folard 5.8.1755, 12.10.1755. 77 Lebon (wie Anm. 21), S. 345. Vgl. Alois Schmid, Der Einfluß Kreittmayrs auf die bayerische Reichs- und Außenpolitik, in: Richard Bauer/Hans Schlosser (Hg.), Wiguläus Xaver Aloys Freiherr von Kreittmayr (1705-1790). Ein Leben für Recht, Staat und Politik. Festschrift zum 200. Todestag, München 1991, S. 295-325, hier S. 308. 78 Ludwig Hammermayer, Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 2 Bände, München 1983. 79 Das Gründungsdiplom mit der Aufgabenstellung: Hammermayer, Geschichte I, S. 352-354. 80 Andreas Kraus, Die historische Forschung an der Churbayerischen Akademie der Wissenschaften 1759-1806 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 59), München 1959; ders., Die naturwissenschaftliche Forschung an der Bayerischen Akademie 76
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Anfang an auch einzelne Ausländer in die Reihe ihrer Mitglieder aufgenommen und diese sogar mit Leitungsfunktionen betraut. Sie sollten der gelehrten Gesellschaft Anschluß an die europäische Wissenschaftsentwicklung verschaffen. Das gilt vor allem für die französischen Mitglieder, die die Verbindung zum Mutterland der europäischen Aufklärung gewährleisten sollten. Auf diesem Wege wurde auch die Akademie der Wissenschaften zu einem Instrument der Außenpolitik, das in bemerkenswerter Weise neben den dafür zuständigen Einrichtungen und weiterhin damit befaßten Persönlichkeiten in die Ausgestaltung der Beziehungen zum Königreich Frankreich einbezogen war. Selbst der Akademiesekretär Johann Georg von Lori nahm sich der Angelegenheit an und fertigte eigenhändig wertvolle Abschriften von Dokumenten der Zusammenarbeit der beiden Staaten im Vorfeld der Westfälischen Friedensschlüsse an.81 Der Anstoß zu dieser Zusammenarbeit ging zunächst von der französischen Seite aus. Die in Versailles bewußt gesuchte Kooperation sollte ihr die Möglichkeit verschaffen, einem Sonderauftrag nachzukommen, den ihr ihre Vorgesetzten nach der Erneuerung der Kontakte im Zusammenhang mit dem „Renversement des alliances“ mit auf den Weg gaben. Er nahm seinen Ausgang von dem sich seit der Jahrhundertmitte immer deutlicher abzeichnenden Problem der bayerischen Erbfolge. Der 1747 geschlossenen Ehe des Kurfürsten Max III. Joseph mit der Wettinerprinzessin Maria Anna Sophie waren noch immer keine Kinder beschieden. Alle eingesetzten medizinischen Mittel – vor allem die wiederholten Badekuren82 – und auch die vielfältigen religiösen Bemühungen83 hatten sich als ergebnislos erwiesen. An den europäischen Höfen setzte sich die Erkenntnis durch, daß nun auch das bayerische Haus Wittelsbach vor dem Ende stand. Dafür mußte Vorsorge getroffen werden. Weil der bayerische Erbfall politische Verschiebungen von Gewicht auslösen konnte, beschäftigten sich ab der Jahrhundertmitte alle europäischen Höfe mit dem Problem.84 Auch in Versailles setzten diese Bemühungen mit dem Eintritt in die fünfziger Jahre ein. Zunächst wurde die Angelegenheit über Jahre hinweg auf der Gesandtenebene verfolgt. Aus München wurde laufend über den Stand der Ent___________ der Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse NF 82), München 1978. 81 BayHStA, Sammlung Lori 5, 6, 7. 82 GHAM, Korr. 792; BStB, cgm 2999, 5456. Vgl. Arthur Bauckner, Maria Anna, Gemahlin des Kurfürsten Max III. Joseph von Bayern, und ihre Badereise nach Ems im Jahre 1763, in: Altbayerische Monatsschrift 10 (1911), S. 72-93. 83 BayHStA, KL Baumburg 58. Vgl. Edgar Krausen, Das Herrscherbild im christlichen Kultraum, in: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 33 (1981), S. 165 f.; Walter Brugger/Anton Landersdorfer/Christian Soika (Hg.), Baumburg an der Alz, das ehemalige Augustiner-Chorherrenstift in Geschichte, Kunst, Musik und Wirtschaft, Regensburg 2007, S. 212 f. 84 Schmid, Außenpolitik (wie Anm. 11), S. 481-484.
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wicklung Bericht erstattet. Als das Problem im Verlauf der fünfziger Jahre immer mehr an Brisanz gewann, intensivierte der französische Königshof seine diesbezüglichen Aktivitäten. Nach der Gründung der Akademie dehnte er seine Bemühungen über die Gesandtenebene hinaus auch auf die Wissenschaft aus und bezog die neugegründete gelehrte Gesellschaft in diese Bemühungen ein. Versailles beauftragte seine Gesandten in München, den Diskurs auch an dieser wichtigen Stelle genau zu verfolgen und ausführlich darüber Bericht zu erstatten. Die diplomatischen Vertreter des Bourbonenhofes betrachteten die persönliche Mitarbeit in der Akademie als geeigneten Ansatzpunkt, um Zugang zum Diskurs des Problems in Politik, Verwaltung und Wissenschaft zu gewinnen. Ein weiterer Hintergedanke war, sich vielleicht sogar Zugang zu einschlägigen Quellen in den kurbayerischen Archiven und Bibliotheken zu verschaffen. Auf diesem Wege wurde auch die Akademie der Wissenschaften ein hilfreicher Anknüpfungspunkt für die französische Vertretung in Kurbayern. Dadurch wurde auch die Akademie ein wichtiges Bindeglied zu Frankreich. Der entscheidende Ansatzpunkt dazu war der sich abzeichnende bayerische Erbfall. In den Anweisungen, die den französischen Diplomaten an den wittelsbachischen Höfen in diesen Jahren mit auf den Weg gegeben wurden, wurde ihnen aufgetragen, der Angelegenheit des bayerischen Erbfalles ihr besonderes Augenmerk zuzuwenden.85 Folard schenkte dieser Anordnung die notwendige Beachtung. Da er selber kein Wissenschaftler, sondern Politiker war, verschaffte er sich die Unterstützung eines Fachmannes. Diesen lieferte ihm sein Onkel, der angesehene Literat und Militärhistoriker Jean Charles Folard.86 Er betreute seit Jahren einen erfolgversprechenden jungen Mann: Gabriel du Buat. Der Nachkomme eines alten, niedergegangenen, völlig verarmten bretonischen Adelsgeschlechtes war als hoffnungsvoller Knabe in seine Obhut gekommen. 87 Diesen Zögling gab der ältere Folard seinem Neffen als Legationssekretär mit auf den Weg nach München. Seit 1755 hielt sich du Buat in der kurbayerischen Hauptstadt auf, wo er sich sofort neben dem politischen Alltagsgeschäft auch wissenschaftlichen Fragen zuwandte. Zu diesem Zweck nahm er rasch Kontakt zum Hofbibliothekar Andreas Felix von Oefele auf, der ihm Zugang zu den ___________ 85 Lebon (wie Anm. 21), S. 369 f.: „L’objet le plus essentiel que le sieur chevalier […] ne perdra jamais de vue, c´est l´affaire de la succession de Bavière“; S. 493: „[…] et à les exciter à renouveler leurs anciens pactes de famille pour assurer invariablement dans leur maison l’indivisibilité de leur succession“. 86 Zu Jean Charles Folard (1669-1752): Nouvelle Biographie Générale XVIII, Paris 1857, S. 51 ff. 87 Zu Louis Gabriel Comte du Buat-Nançay (1732-1787): Nouvelle Biographie Générale II, Paris 1852, S. 679; Max Spindler (Hg.), Electoralis academiae scientiarum primordia. Briefe aus der Gründungszeit der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 1959, S. 509.
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wissenschaftlichen Hofsammlungen verschaffen sollte.88 Auf diesem Wege kam er sehr früh in Verbindung auch zu den Wegbereitern der Akademie, zu denen Oefele gehörte.89 Tatsächlich erreichte er, daß ihn der Motor des Unternehmens, Johann Georg von Lori, nach anfänglichen Vorbehalten als Gründungsmitglied aufnahm; der Meinungsumschwung Loris erfolgte gerade in den Monaten, als der Gesandte Folard auch in politischen Fragen breites Gehör fand.90 Du Buat wurde trotz seines geringen Alters von erst 29 Jahren das erste ausländische Mitglied der Historischen Klasse.91 Der Vorgang ist also in komplexe politische Zusammenhänge mit außenpolitischer Reichweite eingebaut. Du Buat wurde sogar die Ehre zuteil, die Rede bei der Eröffnung der Akademie halten zu dürfen. Sie war der Frage der Herkunft der Herzöge von Bayern gewidmet.92 Schon nach wenigen Jahren gelang dem Franzosen ein weiterer Aufstieg; weil kein Einheimischer mit geforderter Qualifikation zur Verfügung stand, wurde er Direktor der Historischen Klasse. Du Buat bekleidete dieses Leitungsamt von 1761 bis 1763.93 Schon nach zwei Jahren gab er das Amt ab; er wurde als französischer Gesandter an den Immerwährenden Reichstag nach Regensburg versetzt.94 Doch sorgte du Buat für einen Nachfolger aus seinem unmittelbaren Umfeld. Das Leitungsamt wurde Christian Pfeffel von Kriegelstein übertragen, der 1762 auf sein Betreiben in die gelehrte Gesellschaft aufgenommen worden war.95 Mit dem gebürtigen Elsässer wurde ein weiterer Franzose mit der Leitung der Hi___________ 88
Zwei Briefe: BStB, Oefeleana 63 b (Buat) aus den Jahren 1757 und 1760. Hammermayer, Geschichte I (wie Anm. 78), S. 46 f. 90 Am 21. Dezember 1758 hatte sich Folard mit dem Rückzug des Auxiliarkorps einverstanden erklärt. Vgl. Spindler (wie Anm. 87), S. 24 Nr. 11; Theodor Bitterauf, Die kurbayerische Politik im siebenjährigen Kriege, München 1901, S. 97 ff. 91 Hammermayer, Geschichte I (wie Anm. 78), S. 268-272. 92 Gabriel du Buat, Abhandlung von dem Grafen Luitpald, einem Zeitverwandten Karls des Großen, von welchem der Ursprung des berühmten Grafen und Markgrafen Luitpalds, eines königlichen Anverwandten und Stammvaters des baierischen Hauses, hergeleitet werden will. Druck: Historische Abhandlungen der Akademie I, München 1763, S. 61-78. 93 Kraus, Historische Forschung (wie Anm. 80), S. 19-26. 94 Ludwig Hammermayer, Die erste Zäsur in der Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften: Der Rücktritt des Akademiegründers und -sekretärs Johann Georg Lori (1761), in: Pankraz Fried/Walter Ziegler (Hg.), Festschrift für Andreas Kraus zum 60. Geburtstag (Münchener Historische Studien, Abt. Bayerische Geschichte 10), Kallmünz 1982, S. 319-336. 95 Zu Christian Friedrich Pfeffel von Kriegelstein (1726-1807): ANP, Section moderne Serie F (7) Nr. 6138 (6); Kraus, Historische Forschung (wie Anm. 80), S. 26-33; Ulrich Thürauf (Bearb.), Geist und Gestalt: Biographische Beiträge zur Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, III: Bilder, München 1959, Abb. 29; Ulrich Thürauf/Monika Störmer (Bearb.), Ergänzungsband: Gesamtverzeichnis der Mitglieder, München 1984, S. 5, S. 114. 89
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storischen Klasse der Akademie beauftragt. Pfeffel war noch mehr als du Buat Jurist, der in ausgeprägtem Utilitarismus die Geschichte als Hilfsmittel der Politik einsetzte. Auch er arbeitete eng mit Folard und du Buat zusammen, obwohl er zunächst nicht zum Personal der französischen Gesandtschaft gehörte. Dennoch bewegte er sich im unmittelbaren Umfeld. Pfeffel wurde stattdessen im gleichen Jahr 1763 Vertreter des Herzogs von Pfalz-Zweibrücken am Münchner Hof. Auch er bekleidete also ein politisches Amt, das in enger Verbindung zu Frankreich stand. Später sollte er sogar mit einer amtlichen Mission Frankreichs an den Pfalz-Zweibrückener Hof betraut werden.96 Angesichts der Erbfrage mußte seine Tätigkeit in München von hoher politischer Bedeutung sein.97 Deswegen betrieb auch er historische Forschungen. Diese wurden vielfach mit Frankreich abgesprochen, mit dem er in direkter Verbindung stand. Doch wollte er diese nicht allzu sehr deutlich werden lassen. In vertraulichen Schreiben betonte er sein Bemühen um eine verdeckte Tätigkeit.98 Das unausgesprochene Ziel können nur Informationen im zentralen Problem des bayerischen Erbfalles gewesen sein. Im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens geriet also die Akademie unter deutlichen französischen Einfluß. Die zwei in Leitungsfunktionen tätigen Franzosen standen in unmittelbarer Verbindung zum französischen Gesandten in München. Die beiden französischen Mitglieder arbeiteten mit der Gesandtschaft eng zusammen. Völlig zu Recht vermutete der kaiserliche Gesandte Widmann ein „abgekartetes Spiel“.99 Das Trio bildete ein Netzwerk, das sich vorrangig um die weitere Klärung der Erbproblematik bemühte. Unter Ausnützung der besseren Möglichkeiten der Akademie wollten sie die Erörterung des entscheidenden Problems in den bestimmenden Kreisen in unmittelbarer Umgebung verfolgen. Darüber erstatteten sie laufend Bericht. Sie wollten die Diskussion aber auch unmittelbar beeinflussen. Du Buat schaltete sich in den Forschungsdiskurs ein, indem er mit dem Werk „Origines Boicae domus“ die genealogischen Verbindungen des bayerischen Herrscherhauses zu den fränkischen Karolingern weiter zu konkretisieren suchte.100 Auch Pfeffel beschäftigte sich mit Themen der vielfältigen Verbindungen zwischen Bayern und Frankreich.101 Diese Gruppe einflußreicher Diplomaten am Münchner Hof führte die Akademie als oberste Wissenschaftsinstitution im Kurfürstentum in ein französi___________ 96
Lebon (wie Anm. 21), S. 573-577. Ludwig Bergstraesser, Christian Friedrich Pfeffels politische Tätigkeit in französischem Dienste 1758-1784 (Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 16), Heidelberg 1906, S. 31-41. 98 Hammermayer, Geschichte I (wie Anm. 78), S. 289-323. 99 HHStAW, Staatskanzlei Bayern Korr. 10 Widmann an Maria Theresia 28.3.1752. 100 Gabriel du Buat, Origines Boicae domus, 2 Bände, Nürnberg 1764. 101 Kraus, Historische Forschung (wie Anm. 80), S. 19-26. 97
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sches Fahrwasser. Ihr entscheidender Beitrag zur Gestaltung der Außenpolitik waren vielfältige Informationen zur Erbproblematik in Bayern. Im gesandtschaftlichen Aktenmaterial finden sich zahllose Berichte, Stellungnahmen und Gutachten dieser Diplomatengruppe zum bevorstehenden Erbfall in Kurbayern. Sie verschafften sich – immer in enger Absprache mit dem zuständigen Ministerium in Versailles102 – tatsächlich Einblick in die Rechtslage auch auf der Grundlage von Archivalien. Die lange Reihe der einschlägigen Dokumente setzt im Jahre 1760 ein.103 Besonders Pfeffel entwickelte diesbezügliche Aktivitäten;104 seine zahlreichen Ausarbeitungen gelangten tatsächlich in die Zentrale der französischen Außenpolitik und wurden dort bearbeitet.105 Übereinstimmend sprachen sie sich für die pfälzische Erbfolge in Kurbayern aus, die dann auch Leitlinie der französischen Politik in dieser Frage werden sollte.106 Diese Entscheidung basierte wesentlich auf Zuarbeiten, die aus dem engsten Umfeld der Churbayerischen Akademie der Wissenschaften erbracht wurden. Ob auch der im Entscheidungsjahr 1777 zugewählte François Barbé de Marbois dieser Gruppe zuzurechnen ist, läßt sich ohne eingehende Sichtung des Pariser Aktenmaterials107 nicht entscheiden. Aber auch er war Chargé d’affaires in der französischen Gesandtschaft; neben dem Persönlichkeitsprofil gibt vor allem das Jahr seiner Zuwahl zu entsprechenden Vermutungen Anlaß.108 Bezeichnenderweise nahm er am akademischen Leben kaum Anteil und verließ die Akademie bereits 1781 wieder.109 Dennoch ist gewiß: Die gelehrte Gesellschaft hatte nicht nur Bedeutung für den wissenschaftlichen Forschungsbetrieb und das kulturelle Leben, sondern auch für die Außenpolitik Kurbayerns.
___________ 102
AMAEP, Corr. pol. Bav. 144 Bericht Folards 7.2.1761. AMAEP, Mém. et doc. Bav. 4, fol. 207r-209r Nr. 23, 24. 104 AMEAP, Corr. pol. Bav. 145 (Berichte 17.7.1762; 31.7.1762). 105 AMAEP, Mém. et doc. Bav. 8-11; Corr. pol. Bav. 158, 159. 106 BNP, Manuscr. Franç. 12 141. Vgl. Paul Oursel, La diplomatie de la France sous Louis XVI.: Succession de Bavière et paix de Teschen, Paris 1921; Eckhard Buddruss, Le „testament politique“ d’un ministre Français à la diète de Ratisbonne: Le grand mémoire du Chevalier du Buat sur le Saint-Empire et les intérêts de la France, Thèse Paris 1990; ders., Kurbayern zur Zeit der ersten Teilung Polens. Analysen des französischen Gesandten in München zum Hof Max III. Josephs und zur bayerischen Politik, in: Francia 19/2 (1992), S. 211-227. 107 Vgl. Georg Preuß, Einiges über die Bedeutung der Pariser Archive für die Geschichte Bayerns, in: Forschungen zur Geschichte Bayerns 11 (1903), S. 96-102. 108 Zu François Barbé de Marbois (1745-1837): Dictionnaire de Biographie Française V, Paris 1949, S. 246-251; Thürauf/Störmer (wie Anm. 95), S. 90. 109 Hammermayer, Geschichte II (wie Anm. 78), S. 86, S. 98, S. 384 u. ö. 103
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VI. Zusammenfassung Die Beziehungen zwischen Bayern und Frankreich wurden im mittleren 18. Jahrhundert im wesentlichen auf zwei Ebenen gestaltet. Es bestand eine reguläre Gesandtenebene, auf der die beidseitigen Gesandtschaften die üblichen Diplomatengeschäfte abwickelten.110 Freilich wurden die Gesandtenposten auf beiden Seiten nicht durchgehend besetzt.111 Deren Besetzung spiegelt das wechselhafte Auf und Ab der Beziehungen wider. Daran richtete sich auch das Gewicht der eingesetzten Personen aus, das unterschiedlich zu beurteilen ist. Wegen der besonderen Bedeutung Frankreichs als entscheidender Stütze der kurbayerischen Politik war der Nachdruck, mit dem München diese Kontakte pflegte, größer als umgekehrt. In Frankreich büßte Bayern als Bündnispartner seit 1744 zusehends an Gewicht ein. In Frankreich hatte man eine ungünstige Meinung vom kurbayerischen Hof und setzte voraus, daß sich an diesem Zustand auch kaum etwas ändern würde.112 Diesen Bedeutungsverlust im Rahmen der französischen Rückzugsdiplomatie spiegelt das nachlassende Interesse an diesem diplomatischen Außenposten sachgerecht wider. Ganz anders als für die bayerische Gesandtschaft in London, die in der Zeit von 1741 bis 1783 einem einzigen Diplomaten, Franz Xaver Freiherr von Haslang, anvertraut war113, ist für die diplomatischen Verbindungen Kurbayerns zu Frankreich ein ungleich größerer Wechsel kennzeichnend. Daraus ist das wesentlich größere Gewicht dieser Posten zu ersehen. Nach der Vertretung am Immerwährenden Reichstag waren die Botschaften zu Paris und Wien die wichtigsten Außenvertretungen des Kurfürstentums, die mit hochwertigen Persönlichkeiten besetzt wurden. Weil Frankreich infolge innerer Schwierigkeiten zu größerer Sparsamkeit gezwungen wurde114, erlegte es sich nach Karl VII. unverkennbare Zurückhaltung auf und wandte zunehmende Aufmerksamkeit auch informellen Kanälen zu diesem seitdem zweitrangigen Hof zu. Es plazierte in München mehrere an sich nichtdiplomatische Personen, die auch unter den gewandelten Umständen für Frankreich tätig werden konnten. Sie waren in ___________ 110 Johann Pörnbacher, Zwischen politischem Kalkül und persönlicher Freundschaft. Die ständigen diplomatischen Beziehungen zwischen Bayern und Frankreich (16701934), in: France – Bayern: Bayern und Frankreich. Wege und Begegnungen. 1000 Jahre bayerisch-französische Beziehungen (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns 47), München 2006, S. 137-141. 111 Anders Maunz (wie Anm. 30), S. 313: „Seitdem gab es eine ununterbrochene Kette gegenseitiger Gesandter in ständiger Mission“. 112 Ähnlich England: Ernst Schütz, Die Gesandtschaft Großbritanniens am Immerwährenden Reichstag zu Regensburg und am kur(pfalz-)bayerischen Hof zu München 1683-1806 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 154), München 2007, S. 261-264. 113 Hausmann (wie Anm. 7), S. 11. 114 J. F. Bosher, French Finances 1770-1795, Cambridge 1970.
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Wissenschaft, Kirche und Verwaltung tätig und übten von hier aus Einfluß auf die Gestaltung der politischen Beziehungen aus. Seitdem wurden die Gesandtenposten zu München und Regensburg oftmals in Personalunion besetzt. Die französische Diplomatie der sechziger und siebziger Jahre zwang zu derartigen Ersatzlösungen. Daraus erwuchsen vielfältige Schwierigkeiten bezüglich des Zeremoniells.115 Vor allem Kurfürst Max III. Joseph stand diesen ungewöhnlichen Lösungen keineswegs ablehnend gegenüber, weil auch er oftmals die üblichen Wege umging und absichtlich an den bestehenden Einrichtungen vorbeiregierte, um die sich formierende Bürokratie im Rahmen seiner absolutistischen Bestrebungen nicht übermächtig werden zu lassen. Insofern ist gerade diese informelle Ebene ein sehr bezeichnender Sektor des diplomatischen Verkehrs zwischen diesen beiden Ländern. Frankreich blieb ein wichtiger Zielpunkt der kurbayerischen Außenpolitik bis zum Ende des Siebenjährigen Krieges. Als mit dem Hubertusburger Frieden 1763 die bisherigen Bündnisse endeten, bemühte sich Kurbayern angestrengt um eine Fortsetzung. Hauptgrund dafür war das Bemühen um die auch weiterhin benötigten auswärtigen Finanzzuwendungen. Doch waren alle diesbezüglichen Anträge vergeblich. Sowohl die offiziellen als auch die inoffiziellen Kanäle versiegten nun weithin. In der anbrechenden Friedenszeit waren aus Versailles keine Gelder mehr zu erhalten. Frankreich ging der Revolution entgegen und schränkte seine auswärtigen Aktivitäten ein. Dadurch kamen auch die politischen Verbindungen nach Bayern immer mehr zum Stillstand. Sie sollten erst am Ende des 18. Jahrhunderts unter ganz anderen Umständen wiederbelebt werden.
___________ 115
AMAEP, Mém. et doc. Bavière 1, 2, 3.
Vernetzte Staatlichkeit Der Reichs-Staat und die Kurfürsten-Könige Von Georg Schmidt, Jena Das Heilige Römische Reich deutscher Nation war als ein politisches Gemeinwesen Teil und Zentrum der frühneuzeitlichen Staatenordnung Europas. Es hatte sich im 16. und 17. Jahrhundert erfolgreich gegen Türken und Franzosen, Spanier und Schweden gewehrt und wurde im In- und Ausland mit Deutschland identifiziert. Um als politischer Akteur tätig werden zu können, war der Reichs-Staat auf das einvernehmliche Zusammenwirken des Kaisers mit den Reichsständen angewiesen. Sie regierten ihre eigenen Herrschaftsgebiete nicht nur weithin autonom, sondern auch – so zumindest die Einschätzung der mächtigeren Fürsten – aus eigenem Recht, wobei die Stände untereinander wiederum durch ein kompliziertes Verhältnis von korporativer Einheit, Patronage und Klientel verbunden waren.1 Für die meisten Kurfürsten und Fürsten war das Reich eine Aristokratie oder eine deutsche Fürstenrepublik mit monarchischer Spitze, für den Kaiser ein monarchisch regierter Staat. Der Göttinger Reichspublizist Johann Stephan Pütter systematisierte 1754 die politische Einheit des Gemeinwesens „Reich“ als „zusammengesetzten Staat“: Er bestehe „aus mehrern besonderen, jedoch einer gemeinsamen höhern Gewalt noch untergeordneten Staaten“.2 Selbst nach dem Reichsdeputationshauptschluß definierte 1803 ein Anonymus ganz in diesem Sinne: „Teutschland hat die Idee der Staatsverfassung durch Trennung der höchsten Gewalt – einzelne Staatsvereine, Reichsstände, Landesregierung – und Unterordnung derselben unter eine gemeine Gewalt – Reichsregierung, Reichsgewalt – bisher zu realisieren gesucht; oder mit andern Worten: Trennung in der Einheit, oder der ___________ 1 Helmut Neuhaus, Das Reich in der frühen Neuzeit, 2. Aufl. München 2003; Ders., Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellungen, Bd. 5: Zeitalter des Absolutismus 1648-1789, Stuttgart 1997; Axel Gotthard, Das Alte Reich 1495-1806, 3. Aufl. Darmstadt 2006; Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495-1806, München 1999. 2 Johann Stephan Pütter, Beyträge zum Teutschen Staats- und Fürsten-Rechte, Tl. 1, Göttingen 1777, S. 30 f.
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Charakter eines einfach zusammengesetzten Staates bezeichnet das Wesen unserer Constitution.“3 Während der Verfassung und der zusammengesetztkomplementären Mehrebenenstaatlichkeit des Reiches im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert immer neue Kränze geflochten wurden, funktionierte der Reichs-Staat in der Praxis weniger gut. Er scheiterte an mangelnder Loyalität und am Desinteresse der größeren Reichsstände, lange bevor er 1806 unter den Schlägen Napoleons endgültig zusammenbrach. Diese Entwicklung begann nicht mit dem Westfälischen Frieden und auch nicht erst mit dem Siebenjährigen Krieg, sondern um 1700, als nacheinander drei Kurfürsten europäische Königskronen gewannen und der König von Böhmen in den Kurfürstenrat des Reichstags aufgenommen wurde. Die politischen Ambitionen dieser Kurfürsten-Könige trieben das Reich von einer Krise in die andere. Wegen der vielfältigen Verstrickungen der weltlichen deutschen Kurfürsten in das entstehende europäische Mächtesystem wurde der komplementäre Reichs-Staat in seiner die äußere Sicherheit garantierenden Funktion immer weniger benötigt und verlor dadurch auf dieser Ebene sukzessive seine Position als eigenständiger politischer Akteur. Überflüssig war der Reichs-Staat aber keineswegs, denn er wurde weiterhin benötigt, um die innere Sicherheit, die „deutsche Freiheit“ und die politische Einheit in der Vielfalt oder in der staatlichen Trennung aufrechtzuhalten. Diese These greift das gewohnte Muster auf, mit dem das späte Heilige Römische Reich deutscher Nation als „zersplittert“, „zerfallend“ und deswegen nicht in der Lage, sich zum souveränen und mächtigen Nationalstaat fortzuentwickeln, marginalisiert wird. Gezeigt werden soll jedoch, daß die angebliche „Ohnmacht“, die für die Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts das alles entscheidende Manko war, das europäische Mächtesystem auf den bloßen Machtgesichtspunkt reduzierte und damit unterschätzte. Dies wird deutlich, wenn man das Alte Reich und die europäische „Sicherheitspolitik“ des 18. Jahrhunderts mit den heutigen Verhältnissen in Beziehung setzt. Den geschlossenen Nationalstaat, den Georg Jellinek idealtypisch als ein Staatsvolk, ein Staatsgebiet und eine Staatsregierung beschrieben hat4, gibt es so gut wie nicht mehr. Wenigstens in Europa haben sich die Nationalstaaten „geöffnet“ und pluralisiert: Dem alten Jellinekschen Ideal entspricht keine erfahrbare Wirklichkeit mehr. Zwar gibt es noch immer definierte Staatsgebiete, doch schon die Diskussionen um die doppelte Staatsbürgerschaft zeigen, wie schwer das Staatsvolk heute eindeutig zu bestimmen ist. Ähnliches gilt für die ___________ 3
Staatsrechtlich-politische Erläuterung des § 34 des neuen Entschädigungsplans nach vorausgegangener historischen Entwicklung des Grundcharacters unserer Constitution und deßen Bestimmung durch das Entschädigungsgeschäft, Regensburg o. J., S. 5 f. 4 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., ND Darmstadt 1960, bes. S. 394434.
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Souveränitätsrechte. Diese Öffnung läßt nicht mehr das Alte Reich, sondern den starren Maßstab des geschlossenen Nationalstaates anachronistisch wirken.5 Die von den systematischen Sozialwissenschaften angebotenen Modelle einer korporativen, fragmentierten, zerfasernden oder Mehrebenenstaatlichkeit scheinen jedenfalls das Phänomen der Einheit in der Vielheit und die Tatsache, daß das angeblich so ohnmächtige Alte Reich gerade im 18. Jahrhundert deutlich weniger Angriffen von außen ausgesetzt war als zuvor, weit besser erfassen zu können.
I. In Deutschland organisierte sich das Dreieck der Gewaltenteilung – Exekutive, Legislative und Judikative – auf der Ebene des Reiches mit dem Kaiserhof in Wien, dem Immerwährenden Reichstag in Regensburg und dem Reichskammergericht in Wetzlar dezentral. Auch wenn Wien keine Hauptstadt im engeren Sinne war, bildete der Kaiserhof doch zusammen mit dem Reichstag auch noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts das wohl wichtigste Zentrum des Reichs-Staates. Integrierend wirkte darüber hinaus der Mainzer Kurfürst, der als Reichserzkanzler für das Funktionieren der Reichsorgane verantwortlich zeichnete und dem neben der Wiener Reichs(hof)kanzlei auch in Regensburg und Wetzlar ein kleiner Stab an Personal unterstand. Insgesamt privilegierte die dezentrale Verteilung der „reichs-staatlichen“ Institutionen den Süden und die Mitte Deutschlands eindeutig gegenüber dem Norden. Weil jedoch alle Reichsstände am Aushandeln des reichspolitischen Konsenses auf dem Reichstag teilnehmen konnten, müssen auch deren Residenzen sowie die Freien und Reichsstädte als reichspolitische Zentren angesehen werden. Kleine Zipfel der reichs-staatlichen Souveränität befanden sich demnach beispielsweise auch in Greiz, Laubach oder Bopfingen, wenngleich diejenigen in Berlin, München oder Dresden ungleich größer waren. Aufgrund der Personalunionen deutscher Fürsten wurde auch in London, Stockholm, Warschau und Kopenhagen über die Belange des Reichs-Staates nachgedacht und mitentschieden. Dieser konkretisierte sich somit nun als ein über Deutschland hinausweisendes netzartiges Gefüge von Staatlichkeit, in dem das Mehrebenenregieren ebenso selbstverständlich war wie plurale und verschachtelte Politik-, Rechts- oder Konfessionsverhältnisse. Der komplementäre Reichs-Staat korrespondiert insofern mit dem Staat des 21. Jahrhunderts, der nicht mehr autori___________ 5 Vgl. Dieter Langewiesche, Das Alte Reich nach seinem Ende. Die Reichsidee in der deutschen Politik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Versuch einer nationalgeschichtlichen Neubewertung in welthistorischer Perspektive, in: Anton Schindling/Gerhard Taddey (Hg.), 1806 – Souveränität für Baden und Württemberg. Beginn der Modernisierung?, Stuttgart 2007, S. 27-51.
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tativ entscheidet, sondern zur Definition, Verfolgung und Durchsetzung seiner Ziele permanent auf verschiedenen staatlichen und überstaatlichen Ebenen mit unterschiedlich legitimierten Partnern verhandeln muß. Kategorien wie „offene“, „zerfasernde“ oder „multiple“ Staatlichkeit beschreiben ein nach „oben“ und „unten“ offenes Gemeinwesen, das dennoch „Staat“ bleibt. Er ist allerdings vielfältig gegliedert, in unterschiedliche, groß- und kleinräumige Bezugssysteme verwoben und hat die Kapazität eingebüßt, seine Vorstellungen ohne Rückkopplung mit den Betroffenen oder inter- und supranationalen Akteuren durchzusetzen. Jean Bodins Idee der an einem Punkt konzentrierten, unteilbaren höchsten Staatsgewalt, die im 18. Jahrhundert das Denken über den Staat und das europäische Mächtesystem prägte, widerspricht der heutigen Realität sub- und suprastaatlicher Entscheidungsfindungen. Die neueren Souveränitätstheorien unterscheiden daher zwischen positiver und negativer, pragmatischer, zusammengelegter oder individueller, aber auch zwischen Macht- und Spät-Souveränität.6 Sie gehen nicht mehr von Abschottung und Autonomie, sondern von der Teilhabe an internationalen Organisationen und übergreifenden Regelungen als zentralen Merkmalen der Souveränität aus.7 Anne Marie Slaughter spricht sogar von einer disaggregierten Souveränität: „If sovereignty is relational rather than insular, in the sense that it describes a capacity to engage rather than a right to resist, then its devolution onto ministers, legislators, and judges is not so difficult to imagine.“8 An die Stelle des einheitlich gedachten Akteurs „Staat“ treten im internationalen Rahmen Repräsentanten, die, zu Netzwerken verwoben, übergreifend Politik mit verbindlichem Anspruch gestalten. Souverän ist, wer an funktionierenden Kooperationssystemen beteiligt ist und dort die eigenen Vorstellungen einbringen kann. Zu Souveränitätsträgern werden diejenigen, die in einem oder für ein Gemeinwesen letztinstanzlich entscheiden bzw. sich im Rahmen eines überstaatlich organisierten Ganzen einmischen können. Im Reichs-Staat war die „Souveränität“ ebenfalls nie an einem Punkt konzentriert. Sie wirkte als Monopol staatlicher Gewalt flächendeckend, wenn alle partizipationsberechtigten Akteure zugestimmt hatten oder hätten zustimmen können. Reichsstaatliche Politik bestand im Zwang zum Aushandeln und zur Verständigung über divergierende Interessen. Auf dem Reichstag entschieden Kaiser und Stände über Steuern, Krieg und Frieden. Sie handelten Rahmenordnungen sowie Gesetze aus und regelten die übergreifenden Justiz-, Exekutions-, Polizei- und Wirtschaftsfragen. Funktionsfähig war der komplementäre Reichs___________ 6 Vgl. Manuel Fröhlich, Lesarten der Souveränität, in: Neue politische Literatur 50 (2005), S. 19-42, bes. S. 32 und S. 37. 7 Vgl. Abram Chayes/Antonia H. Chayes, The New Sovereignty: Compliance with International Regulatory Agreements, Cambridge (Mass.) 1995. 8 Anne Marie Slaughter, A New World Order, Princeton 2004, S. 268.
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Staat nur, wenn alle Beteiligten zusammenarbeiteten. Als im 18. Jahrhundert Souveränität, militärische Stärke und die Idee der Staatenbalance für die europäische Politik ähnlich wichtig wurden wie dynastisches Prestige und Legitimität, mußten sich die Kurfürsten-Könige und die mächtigeren deutschen Reichsstände diesen Prinzipien unterwerfen, um als Mitspieler nicht ins Hintertreffen zu geraten. Waren „Kaiser und Reich“ im 17. Jahrhundert noch auf allen großen Friedenskongressen vertreten, wurde der Reichs-Staat im 18. Jahrhundert als politischer Akteur auf europäischer Ebene nicht mehr benötigt. Die „deutschen“ Interessen wurden dezentral vertreten. Das auf der Basis von Souveränität und Gleichrangigkeit neu formierte europäische Staatensystem bzw. das, was heute mißverständlich als „Westfälische Souveränität“ bezeichnet wird9, ließ das Reich im europäischen Kräftefeld funktionslos werden: Den mächtigeren Ständen wurde die übergreifende Staatlichkeit lästig, weil sie ihre Sicherheit selbst organisierten. Die Mindermächtigen blieben zwar gerade deswegen auf den Reichs-Staat angewiesen, konnten ihn jedoch nur mit Unterstützung des Kaisers oder der Kurfürsten für ihre Belange mobilisieren. Das Reich „als handelndes politisches Gebilde eigener Art“ trat mehr und mehr in den Hintergrund.10 Im Utrechter Frieden war 1713 „das europäische Gleichgewicht“ erstmals offiziell proklamiert worden. Großbritannien setzte nicht nur diese Formel, sondern mit ihr auch seine Führungsrolle in der europäischen Politik durch.11 Als regulative Idee hat dieses Konzept bis in die napoleonische Zeit alle universalmonarchischen Ansätze blockiert, wie sie zumindest in Ansätzen Kaiser Karl VI. verfolgt hatte. Gleichzeitig begründete das neue Balancedenken jedoch eine ganze Reihe von Expansionskriegen bis hin zu den polnischen Teilungen. Weil die Staatensouveränität die internationalen Beziehungen mehr und mehr monopolisierte, akzentuierte sie eine neue Ungleichheit unter den Reichsständen, die weit über das hinausging, was die hergebrachten dynastischen Rechte und die Lehensabhängigkeit an Patronage und Klientelbeziehungen fundiert hatten. Das die Freiheit und Sicherheit aller Reichsstände garantierende Verfassungsgleichgewicht zwischen ihnen und dem Kaiser verwandelte sich in Machtbalancen, die vorerst nur deswegen den gleichen Zweck erfüllten, weil jeder Mächtige befürchten mußte, daß etwaige Veränderungen zu seinen Lasten ___________ 9
Vgl. Gene M. Lyons/Michael Mastanduno (Hg.), Beyond Westphalia?, Baltimore 1995; Heinz Duchhardt, „Westphalian System“. Zur Problematik einer Denkfigur, in: Historische Zeitschrift 269 (1999), S. 305-315. 10 Helmut Neuhaus, Der Reichstag als Zentrum eines „handelnden“ Reiches, in: Heinz Schilling u.a. (Hg.), Heiliges Römisches Reich deutscher Nation, 962 bis 1806. Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806. Essays, , Dresden 2006, S. 43-52, Zitat S. 51. 11 Heinz Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700-1785, Paderborn 1997, S. 260.
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gehen könnten. Diese Entwicklung vom Verfassungs- zum Machtgleichgewicht im Reichs-Staat begann mit den Königstiteln der Kurfürsten von Sachsen, Brandenburg und Hannover sowie entsprechenden, wenn auch gescheiterten Ambitionen Bayerns, und sie wurde durch die Verfestigung der europäischen Mächtebalance irreversibel. Nach den Verwerfungen des Dreißigjährigen Krieges hatte die fast fünfzigjährige Regierungszeit Leopolds I. Kaisertum und Reich auf der schon im 16. Jahrhundert entwickelten Verfassungsbasis stabilisiert.12 Die 1697 mit Hilfe des Kaisers erreichte polnische Königskrone für Friedrich II. August von Sachsen sowie die Übernahme des englischen Thrones durch den Welfen Georg Ludwig von Braunschweig-Celle 1714 tangierten direkt die unter Friedrich Wilhelm, dem Großen Kurfürsten, erreichte Hegemonialstellung BrandenburgPreußens in Norddeutschland. Um in Polen gekrönt zu werden, war der lutherische Kurfürst August II. von Sachsen zum katholischen Glauben konvertiert. Aus Berliner Sicht stand der Wettiner damit endgültig im kaiserlichen Lager, und als Konkurrent um die Führung des protestantisch-norddeutschen Reiches umschloß und bedrohte Kursachsen Brandenburg-Preußen nun an vielen gemeinsamen Grenzen. Hinzu kam, daß Leopold I. den Herzog von Braunschweig-Celle 1692 zum Kurfürsten von Hannover gemacht hatte, weil er nicht nur die Dynastie des künftigen Königs von England enger an sich binden, sondern auch zwischen der Hauptmacht und den westlichen Besitzungen Brandenburg-Preußens ein starkes Kurfürstentum etablieren wollte.13 Während die beiden Kurfürsten Wien dankbar sein mußten, erfuhr Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg die Rangerhöhung seiner norddeutschen Rivalen als eine von den Habsburgern bewußt geförderte Relativierung seiner Macht. Ganz nebenbei konnte Kaiser Joseph I. bei dieser Umgestaltung auch für sich und das Haus Habsburg eine nicht zu unterschätzende Aufwertung durchsetzen. Mit der sogenannten Readmission wurde 1708 die bisher nur bei der römischen Königswahl in Erscheinung getretene böhmische Kur den anderen Kurfürsten gleichgestellt.14 Die Habsburger gewannen dadurch zu ihrem Direktorium im Fürstenrat einen festen Sitz im Kurfürstenrat des Reichstages. Seit 1714 trugen deutsche Kurfürsten die Königskronen von Böhmen, PolenLitauen, Preußen und England. Darüber hinaus besaßen die Könige von ___________ 12 Georg Schmidt, Angst vor dem Kaiser? Die Habsburger, die Erblande und die deutsche Libertät im 17. Jahrhundert, in: Heinz Duchhardt/Matthias Schnettger (Hg.), Reichsständische Libertät und habsburgisches Kaisertum, Mainz 1999, S. 329-348. 13 Volker Press, Kriege und Krisen. Deutschland 1600-1715, München 1991, S. 434437. 14 Alexander Begert, Böhmen, die böhmische Kur und das Reich vom Hochmittelalter bis zum Ende des Alten Reiches. Studien zur Kurwürde und zur staatsrechtlichen Stellung Böhmens, Husum 2003.
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Schweden und Dänemark für ihre Reichsterritorien Sitz und Stimme im Reichsfürstenrat.15 Für sie alle bildete der Reichs-Staat nicht den einzigen und auch nicht unbedingt den primären Bezugsrahmen ihrer Politik. Diese Dynasten verfügten zudem über ein militärisches Potential, das keiner reichischen Kontrolle unterstand. In Deutschland gab es deswegen ähnliche Sorgen wie in England, wo man fürchtete, der Welfenkönig könne seine hannoverschen Truppen ohne Zustimmung des Parlamentes ins Land bringen, um auf diese Weise die absolute Monarchie einzuführen.16 Gravierender erschien jedoch die Gefahr, daß der Reichs-Staat auf Grund dieser Personalunionen in fast jeden europäischen Krieg hineingezogen wurde. Die Kriege zu Beginn des 18. Jahrhunderts belegten solche Befürchtungen recht eindrucksvoll: Im Spanischen Erbfolgekrieg standen die Kurfürsten von Bayern und Köln auf der Seite des französischen Gegners von Kaiser und Reich. Im Norden Deutschlands kämpfte erst der Kurfürst von Sachsen als König von Polen gegen den schwedischen König, dann folgten die Kurfürsten von Brandenburg und Hannover als Könige in Preußen und von England seinem Beispiel, um in den Friedensschlüssen schließlich große Teile der ehemals schwedischen deutschen Gebiete für sich zu gewinnen. Im Nordosten drängten Brandenburg-Preußen und Kurhannover die schwedische Großmacht zurück – ohne erkennbare Unterstützung von Kaiser und Reich. Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg hatte – auch dies ist bezeichnend – Kaiser Leopold I. seine Hilfe gegen Frankreich erst zugesagt, als er im Gegenzug die Erlaubnis erhielt, sich 1701 in Königsberg zum „König in Preußen“ krönen zu dürfen.17 Die meisten anderen Reichsstände unterstützten die kaiserliche und alliierte Kriegführung ebenfalls eher zögerlich, weil auch sie merkten, daß die drei Habsburger, die während des Spanischen Erbfolgekrieges regierten, nicht dem Reichs-Staat, sondern der werdenden Habsburgermonarchie die absolute Priorität einräumten. Dem 1711 als Nachfolger seines Bruders Joseph I. gewählten Karl VI. schwebte darüber hinaus die neuerliche Verbindung der Reichs- mit der spanischen Königskrone vor. Er forcierte erfolgreich die Arrondierung des habsburgischen Herrschaftskonglomerats auf dem Balkan und in Italien, wo die ___________ 15 Vgl. Martin Wrede, Das Reich und seine Feinde. Politische Feindbilder in der reichspatriotischen Publizistik zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg, Mainz 2004, S. 489 f. 16 Nicholas B. Harding, Hanover and British republicanism, in: Brendan Simms/Torsten Riotte (Hg.), The Hanoverian Dimension in British History, Cambridge 2007, S. 301-323, hier S. 303 und passim. 17 Christine Roll, Die preußische Königserhebung im politischen Kalkül der Wiener Hofburg, in: Johannes Kunisch (Hg.), Dreihundert Jahre preußische Königskrönung. Eine Tagungsdokumentation, Berlin 2002, S. 189-227; Heide Barmeyer (Hg.), Die preußische Rangerhöhung und Königskrönung 1701 in deutscher und europäischer Sicht, Frankfurt am Main 2002.
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spanische Konkursmasse neu verteilt wurde.18 Hatte der Türkenkrieg zum Entsatz Wiens 1683 noch ganz Deutschland mobilisiert, und war der epochale Sieg des Prinzen Eugen von Savoyen bei Zenta 1697 wenigstens reichsweit freudig begrüßt worden, kämpfte im 18. Jahrhundert die werdende Habsburgermonarchie allein um die Macht auf dem Balkan und in Italien. Der Wiener Hof nutzte dabei – mit oder ohne „reichspatriotische Rhetorik“19 – die kaiserlichen Lehensrechte zum eigenen Vorteil. Die Reichshofkanzlei war auch zu diesem Zweck schon unter Joseph I. zugunsten der österreichischen Staatskanzlei um wichtige Rechte beschnitten worden. In der Staatskanzlei liefen seitdem alle Fäden der Wiener Politik zusammen. Der ebenfalls katholische Münchner Hof entwickelte sich zwischenzeitlich unter dem notorisch unruhigen, eine Königskrone suchenden Kurfürsten Max II. Emanuel und unter seinem Sohn Karl Albrecht zum Kristallisationskern antihabsburgischer Ambitionen.20 Max Emanuel und sein Bruder, der Kölner Kurfürst, waren zwar während des Spanischen Erbfolgekrieges wegen ihres Bündnisses mit König Ludwig XIV. von Frankreich geächtet, aber in Utrecht 1713 restituiert worden. Ihre Achterklärung zeigte jedoch, daß auch ein armierter Stand „deutsche“ Loyalitäten auf Dauer nicht konsequent mißachten durfte. Dabei konnten sich die bayerischen Wittelsbacher vor wie nach dem Spanischen Erbfolgekrieg auf ihre feste Verankerung im Reichskirchensystem verlassen. Kurköln war seit dem späten 16. Jahrhundert zu einer Art bayerischer Sekundogenitur geworden. Was den Wittelsbachern gegenüber den rivalisierenden Kurfürstendynastien der Hohenzollern, Welfen und Wettiner fehlte, war die Prestige mehrende Königskrone, die den direkten Zugang zum europäischen Staatensystem öffnete. Auf dieser Ebene blieben sie auf die enge Zusammenarbeit mit dem französischen König als ihrem wichtigsten Fürsprecher angewiesen.21 Dadurch konnte Frankreich seine durch König Ludwig XIV. und dessen Expansionskriege ziemlich ruinierte Position in Deutschland neuerlich ein wenig stabilisieren.
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Hans Schmidt, Karl VI., in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hg.), Die Kaiser der Neuzeit 1519-1918, München 1990, S. 200-214. 19 Gotthard (wie Anm. 1), S. 126. 20 Peter Claus Hartmann, Karl Albrecht – Karl VII. Glücklicher Kurfürst, unglücklicher Kaiser, Regensburg 1985. 21 Volker Press, Das Wittelsbachische Kaisertum Karls VII. Voraussetzungen von Entstehung und Scheitern, in: Ders., Das Alte Reich. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1997, S. 223-259.
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II. Nachdem Frankreich, England, die niederländische Republik, Savoyen, Portugal und Brandenburg-Preußen am 11. April 1713 den für das Reich so enttäuschenden Utrechter Frieden unterzeichnet hatten, stimmte selbst der sonst so friedwillige Reichstag einer Fortführung des Krieges gegen Frankreich zu. Das Reichsgutachten vom 31. Mai 1713 nannte die französischen Vorschläge „der ganzen teutschen Nation gar zu schimpflich“, weil aus ihnen unvermeidlich „Sklavereien“ folgten.22 Das militärische Patt dauerte jedoch fort, so daß auch „Kaiser und Reich“ Anfang 1714 den Frieden mit Frankreich suchten. Der vom Prinzen Eugen ausgehandelte Rastatter Vertrag vom 6. März sah allerdings die Vorteile einseitig verteilt: Karl VI. erhielt mit Ausnahme Siziliens, das an den zum König erhobenen Herzog von Savoyen fiel, den ehemals spanischen Besitz in Italien einschließlich des Königreiches Neapel, während die Reichsstände sich damit abfinden sollten, daß das Elsaß französisch blieb und die Rheingrenze nicht durch eine Reichsbarriere abgesichert wurde. Der Rastatter Friede galt zwar nur für Österreich, doch der restliche Reichs-Staat mußte sich zu der Einsicht bequemen, daß er ohne den Kaiser und ohne die Kurfürsten-Könige keinen Krieg führen konnte. Zu neuerlichen Beratungen im eidgenössischen Baden brachte der Reichstag im Herbst 1714 nicht einmal eine eigene Delegation zustande. Er bevollmächtigte den Kaiser bzw. den Prinzen Eugen. Geändert wurde in Baden aber nichts mehr.23 Aus der abstrakten Sicht des Reichs-Staates war das Ergebnis dieser doppelten Nachverhandlungen niederschmetternd, die Habsburger konnten hingegen hochzufrieden sein: Sie waren zur italienischen Vormacht aufgestiegen und hatten mit den spanischen Niederlanden eine Außenposition gewonnen, die es ihnen zumindest theoretisch ermöglichte, den deutschen Nordwesten zu kontrollieren. Die österreichischen Kaiser entwickelten jedoch wenig Interesse für diese dem eigenen Machtbereich weit entlegene, schwer zu verteidigende Exklave und betrachteten sie in erster Linie als potentielles Tauschgebiet. Wichtigster Interessent war Kurfürst Max Emanuel von Bayern, dem bei seiner Restitution der Tausch einiger seiner Länder ausdrücklich gestattet worden war. Der Badener Frieden hatte die strukturellen Mängel des Reichs-Staates schonungslos aufgedeckt: An der Spitze stand ein mächtiger Kaiser, der den erbländischen Interessen nun eindeutig und offen den Vorrang einräumte. Ihm konnten die mindermächtigen Reichsstände nur noch dann vertrauen, wenn ___________ 22
Zitiert nach Hans von Zwiedineck-Südenhorst, Deutsche Geschichte im Zeitraum der Gründung des preußischen Königtums, Bd. 2, Stuttgart 1894, S. 543. 23 Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648-1763 (Gebhardt. Handbuch der Deutschen Geschichte, 11), Stuttgart 2006, S. 309 ff.
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dessen Ziele mit ihren übereinstimmten. Da auch die preußische Staatsräson nicht am Oberrhein verteidigt wurde, zeigte König Friedrich I. dort kein besonderes militärisches Engagement. Sein Sohn, der seit 1713 regierende Friedrich Wilhelm I.24 baute eine riesige Armee und eine effiziente Verwaltung auf und stärkte so seine politische Position in Deutschland. Mit dem Soldatenkönig begann eine Politik, die der eigenen Staatsräson absolute Priorität einräumte. Zwar setzte er sich für die Einheit des Reichs-Staates und der deutschen Nation ein, strebte jedoch innerhalb dieses Rahmens nach einem Machtgleichgewicht mit dem Kaiser. Seine vom europäischen Staatensystem erzwungene und aus preußischer Sicht durchaus verständliche Strategie des begrenzten Konflikts strapazierte und unterminierte die auf Konsens angelegte Staatlichkeit des Reiches, zumal er die auf dem Reichstag aufbrechenden Religionskonflikte schürte und funktionalisierte. König Friedrich II. trieb seit 1740 die Konfrontation mit den Habsburgern auf die Spitze, ohne das Auseinanderbrechen des ReichsStaates provozieren zu können. Zu Beginn des Jahrhunderts ging es noch nicht um Sezession, sondern um die Definition und Vergrößerung der jeweiligen Hegemonialbereiche. Österreich sowie Brandenburg-Preußen und Kurhannover hatten ihre Kriege im Norden und Süden mehr oder weniger siegreich gestaltet, Kursachsen hatte seinen Bestand wenigstens behaupten können, und die Wittelsbacher Kurfürsten waren restituiert worden. Dagegen konnten die in der Nördlinger Allianz von 1702 zusammengeschlossenen kleineren Reichsstände Südwestdeutschlands ihre Kriegsziele nicht realisieren, obwohl sie die Hauptlast der Kriege gegen den übermächtigen Ludwig XIV. von Frankreich getragen hatten. An den gewaltigen Sicherheitsdefiziten der Mindermächtigen änderte sich daher auch nach den Friedensschlüssen nichts. Dagegen überwanden Österreich und BrandenburgPreußen nicht nur die strukturelle Nichtangriffsfähigkeit des Reichs-Staates, sondern expandierten mit militärischen Mitteln, wenn auch zunächst außerhalb des Reichsgebietes. Mit dem im Juli 1718 geschlossenen Frieden von Passarowitz dehnte sich die Habsburgermonarchie auf das Banat, die kleine Walachei sowie die nördlichen Gebiete Serbiens und Bosniens aus. 1720 gewann der Kaiser Sizilien gegen die Abtretung Sardiniens an Savoyen und die Anerkennung durch König Philipp V. von Spanien. Damit schienen auch die aus dem spanischen Erbfolgekrieg rührenden Probleme gelöst. Karl VI. stand als Oberhaupt der Habsburgermonarchie auf dem Höhepunkt seiner Macht. Innerhalb des Reichs-Staates war davon allerdings wenig zu spüren. Der Reichstag wurde vom sogenannten Erzamtstreit zwischen Kurpfalz, Kurbayern und Kurhannover um die neu ge___________ 24 Gerhard Oestreich, Friedrich Wilhelm I. Preußischer Absolutismus, Merkantilismus, Militarismus, Göttingen 1977.
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schaffenen Würden des Erzschatzmeisters und des Erzbannerträgers und anschließend von erbittert geführten Religionskonflikten lahmgelegt.25 Im Nordischen Krieg war Karl VI. über den Beobachterstatus nicht hinausgekommen, obwohl er sich 1719 mit England-Hannover und Sachsen-Polen verbündet hatte.26 Die Friedensschlüsse Schwedens mit Kurhannover und Preußen in Stockholm, mit Dänemark in Frederiksborg und mit Rußland in Nystad (1719-21) beendeten den Krieg und die schwedische Großmachtstellung. Die Russen gewannen fast das gesamte Baltikum, nachdem die Welfen sich die Herzogtümer Bremen und Verden, die Hohenzollern Stettin und Pommern bis zur Peene einverleibt hatten. Der langwierige Streit um die kaiserliche Belehnung änderte nichts an den neuen Besitzverhältnissen, illustrierte aber, daß Karl VI. den Reichs-Staat noch immer als ein Ganzes betrachtete, den Hebel aber nur dort ansetzen konnte, wo man wenigstens formal auf ihn angewiesen war. Die Machtverschiebungen im Ostseeraum führten hier zu einer Art regionaler Staatenbalance mit erheblichen Rückwirkungen auf Deutschland. Sie machten Brandenburg-Preußen und Rußland zu Staaten, die auch im europäischen Rahmen fortan ein gewichtiges Wort mitredeten, und Kurhannover zu einem weiteren gewichtigen Zentrum der Reichspolitik. Die sich abzeichnende europäische Pentarchie war jedenfalls in der Reichspolitik präsent und blockierte sie nachhaltig – direkt durch Wien, London und Berlin sowie indirekt, da Frankreich als Verbündeter Bayerns und Rußland als Patron der deutschen Verwandten des Zarenhauses agierten. Dem Kaiserhof ist vorgeworfen worden, aus egoistischen Motiven die ganze Macht des Reichs-Staates in den Spanischen Erbfolgekrieg investiert und Norddeutschland dem russischen Vordringen ohne reichische Hilfe ausgesetzt zu haben. Zu diesem Zeitpunkt war jedoch die Konfrontation mit Frankreich den meisten Reichsständen weit wichtiger als die Auseinandersetzung mit dem fernen Rußland, die vor allem das englische Parlament bewegte. Tatsächlich profitierte in erster Linie Brandenburg-Preußen und nicht das territorial stärker arrondierte Kurhannover von der neuen Konstellation im Norden. Hatte Brandenburg-Preußen 1648 die Angst vor einem Übergewicht Schwedens zu großflächigen Gebietsgewinnen verholfen, so machte nun ausgerechnet die englische Sorge vor einem starken Rußland Preußen zum Kriegsgewinner.27 Daß Berlin den russischen Bären in Schach halten sollte, verklei___________ 25 Andreas Biederbick, Die deutschen Reichstage zu Regensburg im Jahrzehnt nach dem Spanischen Erbfolgekrieg, Düsseldorf 1937, S. 9-19. 26 Klaus Zernack, Das Zeitalter der Nordischen Kriege von 1558 bis 1809 als frühneuzeitliche Geschichtsepoche, in: Zeitschrift für Historische Forschung 1 (1974), S. 5579, bes. S. 69 ff. 27 Volker Press, Kurhannover im System des Alten Reiches 1692-1803, in: Adolf M. Birke/Kurt Kluxen (Hg.), England und Hannover, München 1986, S. 53-79, hier S. 5863.
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nerte den reichspolitischen Handlungsspielraum Hannovers und relativierte das englische Bündnis mit den Habsburgern. Preußen konnte deswegen 1721 seine norddeutsche Hegemonie zu Lasten der welfischen Stammlande und Kursachsens stabilisieren. Die langfristige Konsequenz des Nordischen Krieges hieß daher deutscher Dualismus statt reichische Pentarchie. Ob Karl VI. sich bewußt aus dem Nordischen Krieg herausgehalten hatte – wie Johannes Burkhardt vermutet28 –, oder ob er herausgehalten worden war, ist lediglich ein Indikator für den verbliebenen kaiserlichen Einfluß im Norden des Reichs-Staates. Der von Wien 1714 initiierte Braunschweiger Kongreß, den mit Preußen, Kurhannover und Schweden die wichtigsten Mächte boykottierten, war machtpolitisch nahezu bedeutungslos.29 Er diente Wien jedoch als Informationsbörse, um Preußen und Hannover, die auf dem Reichstag eng zusammenarbeiteten, politisch gegeneinander auszuspielen. Karl VI. erteilte deswegen Kurhannover 1717 den Auftrag, die Exekution gegen den despotisch regierenden, vom Zaren gestützten Herzog Karl Leopold in Mecklenburg durchzuführen.30 Nachdem die russischen Truppen Mecklenburg geräumt hatten, vertrieb 1719 – auf dem Höhepunkt der Religionskonflikte am Reichstag – die welfische Armee gegen den Willen Preußens den mecklenburgischen Herzog aus seinen Stammlanden. Die folgenden Verstimmungen zwischen Preußen und Kurhannover hätte ein am deutschen Norden wirklich interessierter Kaiser besser ausgenutzt. Doch Karl VI. wollte den Reichs-Staat in seiner traditionellen Form gar nicht mehr retten, denn er fühlte sich an einen „Reichsverband gekettet, der nicht mehr reformierbar war, ohne daß er sich aufgab“.31 Diese Konstellation setzte freilich auch der Instrumentalisierung der Kaiserkrone für den „Habsburgerstaat“ Grenzen. Wien war jedoch aufgrund der langen Tradition des eigenen Kaisertums und einer entsprechenden Klientelbildung allen Kurfürstenhöfen, ob mit oder ohne Königstitel, an Macht, Prestige und Wirkungsmöglichkeiten noch immer deutlich überlegen. Obwohl gerade die katholischen Höfe in Dresden und München enorme Summen aufwandten, um auch in dieser Hinsicht konkurrenzfähig zu werden, gelang ihnen dies nur bedingt. Gemeinsam ist den repräsentativen Bestrebungen des Kaisers und der Kurfürsten-Könige, daß sie das Machtungleich___________ 28
Burkhardt (wie Anm. 22), S. 324. Karl Otmar von Aretin, Das Alte Reich 1648-1806, Bd. 2: Kaisertradition und österreichische Großmachtpolitik (1684-1745), Stuttgart 1997, S. 257. 30 Walther Mediger, Mecklenburg, Rußland und England-Hannover 1706-1721. Ein Beitrag zur Geschichte des Nordischen Krieges, Hildesheim 1967, bes. S. 411 ff.; Sigrid Jahns, „Mecklenburgisches Wesen“ oder absolutistisches Regiment? Mecklenburgische Ständekonflikte und neue kaiserliche Reichspolitik (1658-1755), in: Paul-Joachim Heinig u. a. (Hg.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit, Berlin 2000, S. 323-351. 31 Press (wie Anm. 13), S. 475. 29
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gewicht innerhalb des Reichs-Staates mit Soldaten, neuen barocken Residenzen und Gärten sowie vielen glanzvollen höfischen Festen augenfällig inszenierten. Der Soldatenkönig verfolgte hingegen die repräsentativen Ansätze seines Vaters nicht weiter, sondern setzte primär auf den Ausbau seiner Armee. Er bot dem reichsständisch-protestantischen Adel Karrierechancen im Offiziersdienst. An der Reihenfolge änderte sich nichts: Unter macht- und prestigepolitischen Gesichtspunkten folgten den Habsburgern mit spürbarem Abstand Brandenburg-Preußen, dann Kursachsen und Kurhannover sowie Kurbayern. Die Münchner Wittelsbacher verschuldeten sich im Kampf um eine Königskrone am meisten, festigten aber mit ihrem aufwendigen und repräsentativen Herrschaftsstil ihre Ambitionen auf das Kaisertum in der Nachfolge Karls VI., dem ein männlicher Nachkomme fehlte. Die reichische „Pentarchie“ der einschließlich des Kaisers vier Kurfürsten, die Kronen souveräner europäischer Mächte trugen, sowie der bayerischen Wittelsbacher, deren Hausunion in enger Anlehnung an Frankreich drei, phasenweise sogar vier Kurfürstenstimmen dirigierte, vernetzte den Reichs-Staat in einer bisher nicht bekannten Dichte mit den europäischen Mächten. Darüber hinaus regierten „deutsche“ Fürsten in Schweden und Dänemark. Sie waren damit gleich doppelt mit dem Reichs-Staat verbunden – dynastisch und als Inhaber von Reichsterritorien. Die Regensburger Reichsversammlung wurde dadurch zur Bühne der neuen Ungleichheit und einer Europäisierung deutscher Angelegenheiten. Die kleineren Fürsten, Grafen, Prälaten sowie Freien und Reichsstädte verloren fast jeden Einfluß, denn die Delegierten der Kurfürsten vertraten mit den Voten ihrer Herren auch diejenigen der von diesen mediatisierten Stände. Der kurbrandenburgische Gesandte dominierte deswegen auch den Fürstenrat des Reichstages. Dieser Kumulationseffekt wurde dadurch weiter gesteigert, daß die hoch professionalisierten Reichstagsgesandten neben den Stimmen ihrer Hauptauftraggeber diejenigen weiterer Stände quer durch die drei Kurien führten. Sie kannten damit nicht nur die Vorstellungen dieser Stände, sondern besaßen aufgrund ihres Wissens auch die Möglichkeit, über gezielte Informationen die Instruktionen ihrer Auftraggeber entscheidend zu beeinflussen. Die wegen der Angst, sich selbst zu isolieren, ohnehin nur formale Gleichheit aller Stimmen in den Reichstagskurien wurde dadurch vollends zur Farce. Ein überschaubarer kleiner Kreis untereinander und mit verschiedenen Regierungen bestens vernetzter Reichstagsgesandter war der eigentliche Träger des ständischen Teils der reichs-staatlichen Souveränität bzw. dessen, was die Kurfürsten-Könige davon übrigließen. Die Deputierten der Mindermächtigen konnten sich den Vorgaben der Mächtigen nur anschließen oder mußten versuchen, einen der Hegemone für ihre Vorstellungen zu interessieren. Dieser Konzentrationsprozeß machte den Reichstag kalkulierbar. Beispielsweise standen sich dort in den 1720er Jahren vier bis fünf Mächtegruppierungen, wenn auch in wechselnden Formationen, gegenüber: Die Habsburger und
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ihre süddeutsch-katholische Klientel vorwiegend kleiner und geistlicher Reichsstände einschließlich der traditionell kaisernahen Freien und Reichsstädte; Brandenburg-Preußen und Kurhannover-England, die teils gemeinsam, teils gegeneinander agierten und versuchten, die norddeutsch-protestantischen Stände an sich zu binden; Kursachsen-Polen, das um die gleichen Stimmen rang und im Regelfall die gemäßigten lutherischen Stände hinter sich wußte; sowie das eng an Frankreich angelehnte Kurbayern, das auf Kosten der Habsburger seine katholische reichsständische Klientel ausbaute. Die Gesandten der Könige von Schweden und Dänemark spielten hingegen in Regensburg – wie diejenigen aller anderen Stände – eine nachrangige Rolle. Insgesamt verbanden die Personalunionen der Reichsstände nach 1720 den Reichs-Staat mit allen umliegenden Kronen außer der französischen: PolenLitauen, Preußen, Schweden, Dänemark, England, Ungarn und Böhmen. Blieben als unmittelbare Anrainer noch die „neutralen“ Eidgenossen und die Republik der Niederlande sowie das mit Bayern verbündete Frankreich. Ob die dynastische Verflechtung mit fast allen Nachbarn die Sicherheit des ReichsStaates erhöhte oder ihn in Kriege verwickelte, die nicht vorrangig deutsche Interessen berührten, bleibt letztlich eine akademische Frage, denn die Probe aufs Exempel ist nicht möglich. Nach dem Ende des Nordischen Krieges gab es bis zur Französischen Revolution so gut wie keine größere äußere Bedrohung für den Reichs-Staat als Ganzes: Der polnische Thronfolgekrieg tangierte reichische Belange – das Reichsgutachten sprach 1734 davon, daß „Glorie, Ruhm und Freyheit der teutschen Nation“ verteidigt werden müßten32 –, am Türkenkrieg Kaiser Karls VI. Ende der 1730er Jahre war der Reichs-Staat als solcher nicht beteiligt. Ihm fehlte der von einer äußeren Bedrohung ausgehende Druck, der zuvor der wichtigste Katalysator des inneren Zusammenhaltes gewesen war. Die These, daß die Personalunionen und die europäischen Vernetzungen der deutschen Dynasten die Gefahr eines Angriffes für den Reichs-Staat erheblich minderten, dadurch jedoch diesen als (außen)politischen Akteur zum Verschwinden brachten, besitzt zumindest eine hohe Plausibilität. Was allerdings stieg, war das Risiko innerer Kriege, denn die Machtkonzentration führte hier nicht zu mehr, sondern zu weniger Sicherheit. Während die Religionskonflikte auf dem Reichstag letztlich immer wieder eingehegt werden konnten, brachte das bewußt systemwidrige Agieren König Friedrichs II. den Reichs-Staat an den Rand des Zusammenbruchs. Die große Mehrheit der Reichsstände raffte sich 1756/57 dann aber doch auf, ihn zur Räson zu bringen, was schließlich mit Hilfe der europäischen Mächte auch gelang. Der ReichsStaat zeigte hier zumindest, daß er nicht kampflos vor der militärischen Macht kapitulieren wollte. Die traditionelle Rechts- und Sicherheitsgemeinschaft des ___________ 32
Zit. nach Wrede (wie Anm. 15), S. 490.
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Reichs-Staates wurde nun aber noch mehr in ein System gegenseitiger Abschreckung transformiert, das vor allem denjenigen Gewinn versprach, die wie Friedrich II. bewußt die hergebrachten Spielregeln und Rechtsgarantien instrumentalisierten. Im Zeichen des deutschen Dualismus nahmen die beiden mächtigsten Mitglieder den Reichs-Staat als ein Null-Summenspiel wahr: Was der eine gewann, büßte der andere ein. Die tragenden und verbindenden Ideen des europäischen Systems beruhten auf Gleichgewicht, Souveränität, der gegenseitigen Anerkennung staatlicher Macht und der Nichteinmischung. Sie wurden zwar häufig verletzt und dienten oft nur als Vorwand der eigenen Expansion, doch sie standen quer zu den traditionellen Grundprinzipien des komplementären Reichs-Staates, der seine Mitglieder auf der Basis von Rechtsgarantien, Einmischung und Aushandeln sowie gemeinsam durchzusetzenden Interessen und Zielen zusammenband. Beide Systeme waren dennoch auch im 18. Jahrhundert miteinander kompatibel, obwohl der Reichs-Staat nach außen nicht mehr als souveräner politischer Akteur in Erscheinung trat. Nun war es die gegenseitige personale und staatliche Durchdringung, die, wenn auch zu Lasten der reichischen Eigeninteressen, für die notwendige Einbindung sorgte. Für das Reich agierten nun die KurfürstenKönige inklusive des Kaisers auf europäischer Ebene. Dies sicherte das Reich besser als je zuvor gegenüber Angriffen. Betrachtet man die Souveränität nicht als Selbstzweck, sondern als ein Mittel zu mehr Sicherheit, so hat der Transfer von „Kaiser und Reich“ zu den Kurfürsten-Königen einschließlich des Kaisers Deutschland wenig Nachteile gebracht. Die inneren Kriege gingen allerdings weiter. Weder die Welfen noch die Wettiner haben versucht, ihre Personalunionen in Realunionen umzuwandeln oder gar ihre Reichsterritorien aus dem ReichsStaat herauszulösen. Dennoch veränderte sich im 18. Jahrhundert der Charakter des Reichs-Staates grundlegend. Zwar war der dynastische Eigennutz dem reichischen Gemeinnutz schon länger vorgegangen, doch das Vernunftprinzip und der Gedanke des europäischen Gleichgewichtes, das souveräne Staaten voraussetzte, stärkten den neuen Götzen „Staatsräson“ und zwangen die mächtigsten Reichsstände, ihre eigene Staatsmacht zu forcieren. Kaiser Karl VI. war vor allem mit der Regelung seines Erbes beschäftigt; Friedrich Wilhelm I. interessierten seine Soldaten und seine Hegemonie über das protestantische (Nord-) Deutschland; König Georg II. regierte die englische Weltmacht notfalls auch zu Lasten seiner welfischen Stammlande; König August III. war politisch schwach und Polen keine europäische Großmacht; Kurfürst Karl Albrecht strebte nach der Kaiserkrone, weil sich kein Königtum fand und er so die eigene Macht weiter ausbauen zu können glaubte. Diese Konstellation entzog der komplementären Staatlichkeit die Geschäftsgrundlage: Die reichische Pentarchie verschob zu Beginn des 18. Jahrhunderts das Freiheit und Sicherheit gewährende Verfassungsgleichgewicht des Reiches in das machtpolitisch definierte europäische
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7zu7-Kräftefeld, das damit zunächst überfordert war, wie der polnische Thronfolgekrieg und die Kriege zeigten, die um die Zukunft der Großmacht Preußen und der Habsburgermonarchie geführt wurden.
III. Die Doppelrolle der Kurfürsten-Könige als Mitglieder des Reichs-Staates und als Souveräne im europäischen Mächtesystem unterwarf sie den Gesetzen der Machtakkumulation. Diese wirkten auf Dauer und aus unterschiedlichen Gründen nachteilig für Bayern, Kursachsen-Polen und Kurhannover. Dagegen stärkte die große Armee und die geopolitische Lage Brandenburg-Preußen und ermöglichte es König Friedrich II., sich seinen Platz als Gegen-Kaiser und Regent einer europäischen Großmacht zu erkämpfen. Es ist eine Frage des Blickwinkels, ob das europäische Gleichgewicht für Deutschland vor- oder nachteilig gewesen ist. Es hat fraglos die Kräfte und Entwicklungsperspektiven gestärkt, die auf eine Überwindung des komplementären Reichs-Staates drängten. Im Unterschied zum nach innen und außen gefestigten souveränen Machtstaat entsprach das Reich nicht mehr der Logik des neuen europäischen Staatensystems, das im 18. Jahrhundert seinen Durchbruch erfuhr. Blickt man allerdings aus der Sicht des heutigen Europa auf das Alte Reich, ist eine andere Bilanz möglich, vielleicht sogar zwingend. Die Sicherheitsgemeinschaft des deutschen Reichs-Staates weist wie andere Föderativstaaten einige systemische und strukturelle Ähnlichkeiten mit dem heutigen Europa der Nationalstaaten auf, die zu verfolgen sich lohnen könnte. Dazu zählt unter anderem, daß die gegenüber äußerem Eingreifen offenen reichsständischen Staaten sich nur den Gesetzen unterwerfen mußten, denen sie selbst auf dem Reichstag zugestimmt hatten. Um den Reichs-Staat zu bewahren, durfte weder die Reichsverfassung noch das sie tragende Prinzip der Freiheit bzw. der Kontrolle von Herrschaft durch Herrschaft zerstört werden. Verhindert werden mußte, daß das Reich als Ganzes durch eine fremde Macht oder durch den eigenen Kaiser monarchisch beherrscht wurde. Während diese Aufgabe im großen und ganzen gelöst wurde, trieb der Souveränitätsvirus gepaart mit dem deutschen Dualismus den Reichs-Staat auseinander. Der Druck der französischen Revolutionsarmeen sorgte nur noch kurzfristig für Solidarität. Was Friedrich II. im Siebenjährigen Krieg noch mißlungen war, erreichte Preußen mit dem Baseler Frieden 1795: die Spaltung des Reiches in eine nördliche Friedens- und eine südliche Kriegszone.
Die Reichsbelehnung in der Neuzeit Das Fürstbistum Bamberg
Von Dieter J. Weiß, Bayreuth Zu den Elementen, die das Funktionieren des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in der Neuzeit rechtlich absicherten und gewährleisteten1, gehörte der Lehnsnexus.2 Erst nach dem Empfang der Reichsbelehnung war ein Reichsfürst im ordentlichen Besitz der Reichsregalien und konnte damit die vollständige Regierungsgewalt in seinem Territorium ausüben. Auch die Westfälischen Friedensschlüsse mit ihrer Garantie der Landeshoheit für die Reichsstände bedeuteten hier keinen grundsätzlichen Wandel. Das Lehnsrecht blieb bestimmend für die Verfassungsstruktur des Reiches.3 Eine rechtshistorische und juristische Auseinandersetzung mit der Thematik stammt von Johann Jakob Moser.4 Die Pflicht zur Erneuerung des Lehens bestand sowohl beim Tode des Lehnsherren (Herrenfall) wie beim Tode des Lehnsmannes (Mannfall).5 Die geistlichen Reichsfürsten mußten vor Empfang der Reichsregalien eine Sonderbedingung erfüllen.6 Die päpstliche Konfirmation bildete die Vorausset___________ 1 Vgl. Helmut Neuhaus, Reichsständische Repräsentationsformen im 16. Jahrhundert. Reichstag – Reichskreistag – Reichsdeputationstag (Schriften zur Verfassungsgeschichte 33), Berlin 1982; ders., Das Reich in der frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte 42), 2. Auflage München 2003. 2 Rüdiger Freiherr von Schönberg, Das Recht der Reichslehen im 18. Jahrhundert. Zugleich ein Beitrag zu den Grundlagen der bundesstaatlichen Ordnung (Studien und Quellen zur Geschichte des deutschen Verfassungsrechts A 10), Heidelberg/Karlsruhe 1977. 3 Ders., S. 221. 4 Johann Jacob Moser, Von der Teutschen Lehens-Verfassung (Neues teutsches Staatsrecht 9), Frankfurt/Leipzig 1774 (Neudruck Osnabrück 1967). Zu Bamberg kann er keine Angaben machen (S. 53). 5 Schönberg (wie Anm. 2), S. 126-129. 6 Robert Boerger, Die Belehnungen der deutschen geistlichen Fürsten nach dem Wormser Concordat (Leipziger Studien aus dem Gebiet der Geschichte VIII/1), Leipzig 1901; Hans Erich Feine, Die Besetzung der Reichsbistümer vom Westfälischen Frieden bis zur Säkularisation 1648-1803 (Kirchenrechtliche Abhandlungen 97/98), Stuttgart 1921, S. 347-352; Jean-François Noël, Zur Geschichte der Reichsbelehnungen im 18.
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zung für den Empfang der kaiserlichen Belehnung, die den erwählten und konfirmierten Bischof zum Reichsfürsten machte. Da oft Jahre von der Wahl bis zur Belehnung verstrichen, gewährten die Kaiser in der Zwischenzeit den Bischöfen auf Antrag befristete Lehnsindulte, welche die Ausübung der Blutgerichtsbarkeit ermöglichten.7 Bamberg gehörte wie die Kurfürstentümer und die alten Fürstentümer mit Sitz und Stimme auf den Reichstagen zu den Thronlehen8, „deren Belehnung der Kayser in Person von seinem Thron ertheilet“.9 Im 16. Jahrhundert war noch der persönliche Empfang der Belehnung bei den Reichstagen üblich. Geistliche Reichsfürsten wurden mit vereinfachtem Zeremoniell nicht unter freiem Himmel, sondern in einem Gemach („kaiserliche Kammer“) belehnt. Dabei waren der Eid auf das Evangelienbuch und der Schwertkuß durch den Lehnsempfänger üblich.10 Der Bischof war der Träger der Regalien im Hochstift wie Wildbann, Münze, Judenschutz, Zölle, Bergwerke und Geleit: „regalia, lehen und weltlicheit mit allen und jeglichen manschafften, herrschafften, lehenschafften gaistlichen und weltlichen, artzten11, pergkwercken, wildpennen, glaiten, warden, eren, rechten, wirden, zur den hohen und nidern gerichten gerichtszwengen und allen andern gerichten und gerechtigkeiten darzu gehoren“.12 Als Reichsfürst war er Inhaber der Blutgerichtsbarkeit und oberster Richter im Hochstift. Er sorgte für die Einziehung der Reichssteuern und verfügte über die Wehrhoheit. Erst die Summe dieser Rechte bildete die Landeshoheit, welcher Begriff seit Johann Jakob Moser Verwendung fand.13 Im fol___________ Jahrhundert, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 21 (1968), S. 106-122 (hier Tabelle der Bamberger Reichsbelehnungen des 18. Jahrhunderts). 7 Erich Frhr. von Guttenberg, Das Bistum Bamberg, Erster Teil (Germania Sacra II, 1, 1), Berlin 1937, S. 49; Günter Christ, Praesentia regis. Kaiserliche Diplomatie und Reichskirchenpolitik vornehmlich am Beispiel der Entwicklung des Zeremoniells für die kaiserlichen Wahlgesandten in Würzburg und Bamberg (Beiträge zur Geschichte der Reichskirche in der Neuzeit 4), Wiesbaden 1975, S. 283 f.; Schönberg (wie Anm. 2), S. 131. 8 Schönberg (wie Anm. 2), S. 85. 9 Moser, Lehens-Verfassung (wie Anm. 4), S. 11. – Vgl. Noël (wie Anm. 6), S. 112 f. 10 Zur Form der Belehnung auf den Reichstagen vgl. Rosemarie Aulinger, Das Bild des Reichstages im 16. Jahrhundert. Beiträge zu einer typologischen Analyse schriftlicher und bildlicher Quellen (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 18), Göttingen 1980, S. 287-296. 11 Erze. 12 1524 April 7, Belehnungsurkunde Karls V. für Bischof Weigand: Staatsarchiv Bamberg (künftig: StAB), A 20, L. 3, Nr. 106. – Vgl. Dieter J. Weiß, Das exemte Bistum Bamberg 3/1. Die Bischofsreihe von 1522 bis 1693 (Germania Sacra NF 38), Berlin/New York 2000, S. 34, S. 60. 13 Hanns Hubert Hofmann, Adelige Herrschaft und souveräner Staat (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 2), München 1962, S. 47-54, S. 62-81.
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genden sollen die Belehnungen der Bamberger Bischöfe der Neuzeit untersucht werden.14 In Vertretung seines Bruders Kaiser Karls V. erteilte Erzherzog Ferdinand von Österreich beim Nürnberger Reichstag 1524 dem Bamberger Bischof Weigand von Redwitz zwei Jahre nach dessen Wahl die Reichsbelehnung. Karl V. hatte zuvor Erzherzog Ferdinand oder Pfalzgraf Friedrich II. ermächtigt, die Bischöfe von Bamberg und Brixen mit den Regalien zu belehnen.15 Am 2. April sandte Bischof Weigand seinen Bruder Daniel von Redwitz und den Landschreiber Hans Scharpf zur Vorbereitung nach Nürnberg.16 Im Nürnberger Rathaus belehnte sie am 6. April Erzherzog Ferdinand nach der Leistung des Treueides.17 Auf die Mitteilung vom Regierungsantritt Bischof Georgs IV. Fuchs von Rügheim, der bereits am 30. Juli 1554 zum Koadjutor Bischof Weigands gewählt worden war, erteilte ihm Karl V. in Brüssel das Indult, daß sein Landrichter vor Erlangung der Belehnung den Bann über die Acht und die anderen Richter den Blutbann ausüben dürften.18 Zuvor hatte das Bamberger Domkapitel beschlossen, die Bitte um den Regalienempfang zu verschieben.19 Außerdem beauftragte der Kaiser seinen Bruder König Ferdinand I., den Elekten auf dem Reichstag zu Regensburg mit den Regalien und Temporalien zu belehnen.20 Dieser erteilte Georg Fuchs am 2. Januar 1557 in seiner zeitweiligen Residenz im Regensburger Dominikanerkloster persönlich die Reichsbelehnung.21 Kniend leistete ihm der Bamberger Elekt den Huldigungseid, während beide das vom Erbmarschall Wolff von Pappenheim gehaltene Schwert berührten. An dem Akt nahmen unter anderem der Augsburger Bischof Otto Kardinal Truchseß von Waldburg, der Würzburger Bischof Melchior Zobel von Giebelstadt und Herzog Albrecht V. von Bayern teil. Auf dem Rückweg von seiner Krö___________ 14
Weiß (wie Anm. 12), S. 33-35. 1524 Februar 4: Deutsche Reichstagsakten. Jüngere Reihe, hg. durch die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 4: Unter Kaiser Karl V., bearb. v. Adolf Wrede, Gotha 1905, S. 296 Anm. 2. 16 StAB, B 21, 16, fol. 26’. 17 1524 April 16: StAB, B 21, 16 fol. 27-30; Belehnungsakten: StAB, B 22b, 1; Deutsche Reichstagsakten J. R. 4 (wie Anm. 15), Nr. 23, S. 99, Nr. 25, S. 162. – Lehnsbrief 1524 April 7: StAB, A 20, L. 3, Nr. 106. 18 1556 Juni 5: StAB, A 20, L. 3, Nr. 109. 19 1556 Mai 6: StAB, B 86, 7, fol. 149’. 20 1556 Juni 5: StAB, B 22b, 1. 21 StAB, B 21, 19, fol. 23-26; Belehnungsakten: StAB, B 22b, 1; 1557 Januar 6: Nuntiaturberichte aus Deutschland. Nebst ergänzenden Aktenstücken. Abteilung 1: 15331559, hg. vom Deutschen Historischen Institut in Rom, Bd. 17: 1554-1559, bearb. v. Helmut Goetz, Tübingen 1970, Nr. 147, S. 309; Belehnungsurkunde 1557 Januar 8: StAB, A 20, L. 3, Nr. 113. 15
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nung in Frankfurt beorderte Kaiser Ferdinand I. die Bischöfe von Bamberg und Würzburg nach Mergentheim, wo er Georg IV. am 26. März 1558 erneut die Belehnung erteilte.22 Wiederum leistete der Bischof ihm kniend den Treueid. Veit von Würtzburg bat Kaiser Ferdinand I. 1561 in seiner Wahlanzeige um die Bestätigung der Regalien und um das Indult zur Ausübung der weltlichen Gerichtsbarkeit.23 Darauf gestattete ihm der Kaiser, die Regalien und den Blutbann auszuüben.24 Der Elekt Veit betraute seinen Hofmeister Wolf Dietrich von Wiesenthau und Dr. Andreas Kebitz mit seiner Vertretung bei der Reichsbelehnung, die gleichzeitig die Bamberger Wünsche wegen der Kärntner Besitzungen vorbringen sollten.25 Am 20. Mai 1562 erteilte ihnen Ferdinand I. in Prag nach der Huldigung die Reichsbelehnung.26 Bischof Veit von Würtzburg bat nach dem Tode Ferdinands I. den neu gewählten Kaiser Maximilian II. um Aufschub der Belehnung bis zum nächsten Reichstag.27 Der Kaiser erklärte sich dazu bereit und erlaubte ihm gleichzeitig die vorläufige Ausübung der Regalien.28 Zum Jahresanfang 1566 entschuldigte Veit sein Fernbleiben von dem nach Augsburg ausgeschriebenen Reichstag und bat, ihm den persönlichen Lehns- empfang zu erlassen.29 Gleichzeitig ernannte er eine Delegation unter Domdechant Marquard vom Berg.30 Maximilian II. zeigte sich bereit, das Fernbleiben Bischof Veits vom Reichstag zu entschuldigen, doch bestand er darauf, ihm die Regalien persönlich zu verleihen.31 In seiner Antwort an die Gesandten führte Veit aus, daß seine Anwesenheit im Hochstift nötig sei. Deshalb sollten sie versuchen, stellvertretend die Reichsbelehnung zu erhalten.32 In einem weiteren Schreiben gab Bischof Veit den geplanten Empfang der Priesterweihe als Entschuldigung an.33 Schließlich bestätigte Maximilian II. am 21. Mai die
___________ 22
StAB, B 21, 19 fol. 89’-94’; Akten: StAB, B 22b, 1; Urkunde: StAB, A 20, L. 3, Nr. 114. 23 1561 April 25, Abschrift: StAB, B 84, 9/1, fol. 19-22. 24 1561 Mai 5: StAB, A 20, L. 4, Nr. 117; B 22b, 1. 25 Instruktion 1562 Mai 9: StAB, B 22b, 1. 26 1562 Mai 20: StAB, A 20, L. 4, Nr. 118; zum Belehnungsvorgang: StAB, B 21, 20, fol. 40’-47; Akten: StAB, B 22b, 1. 27 1565 Juni 4: StAB, B 22b, 1. 28 1565 Juni 21: StAB, B 21, 20, fol. 127’-128; B 22b, 1. 29 1566 Januar 8: StAB, B 22b, 1. 30 1566 Januar 8: StAB, Hochstift Bamberg, Geheime Kanzlei (künftig HStB, Geh. Kanzlei), Nr. 544 (alt B 34, 6), Fasz. 28. 31 1566 Januar 22: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 48 (alt B 33/I, 42), fol. 6; HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 544, Fasz. 30. 32 1566 Februar 2: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 544, Fasz. 31. 33 1566 April 10: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 544, Fasz. 36.
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Belehnung Bischof Veits, der sich dabei durch Marquard vom Berg, Christoph von Giech und Achaz Hüls vertreten ließ.34 Die folgenden Bamberger Bischöfe Johann Georg I., Ernst, Neithard und Johann Philipp I. konnten sich bei der Reichsbelehnung, die jeweils ohne Verzögerung nach der päpstlichen Konfirmation erfolgte, durch Gesandte in Prag am Hofe Kaiser Rudolfs II. vertreten lassen. Nach mehreren Indulten35 wegen Verzögerung der päpstlichen Konfirmation ernannte Johann Georg I. Zobel von Giebelstadt den Domkapitular Wolf Albrecht von Würtzburg und Dr. Jobst Lorber als Gesandte zum Empfang der Stiftsregalien.36 Rudolf II. verlieh sie ihnen am 3. September 1578.37 Nach Empfang eines Lehnsindultes unmittelbar nach seiner Wahl38 bevollmächtigte der Elekt Ernst von Mengersdorf den Domherren Johann von Redwitz, Albert Eitel von Wirsberg und Dr. Otto Reinholdt zum Lehensempfang.39 Der Kaiser belehnte sie am 2. März 1584 mit den Regalien.40 Neithard von Thüngen erhielt fünf befristete Indulte zur vorläufigen Ausübung der Regalien.41 Nach Empfang der päpstlichen Konfirmation sandte er den Domherren Wolfgang Heinrich von Redwitz und Dr. Karl Vasoldt nach Prag.42 Am 26. November 1593 erteilte ihnen Rudolf II. die Belehnung.43 Die Gesandten konnten allerdings keine Erneuerung der Belehnung des Königs von Böhmen mit dem Bamberger Oberschenkenamt erreichen, worum sie sich bemüht hatten. Trotz beständiger Bamberger Versuche, dem Kaiser als König von Böhmen die Belehnung mit dem Bamberger Oberschenkenamt zu erteilen, scheiterten diese Bemühungen.44 Die einzige nachweisbare Belehnung eines ___________ 34
1566 Mai 21: StAB, A 20, L. 4, Nr. 120. 1577 September 10: StAB, A 20, L. 4, Nr. 122; 1578 Februar 28: StAB, A 20, L. 4, Nr. 123. 36 1578 Juni 6: StAB, B 86, 13, fol. 166’; Instruktion August 20, hier zusätzlich Hans Paul von Schaumberg genannt: StAB, B 22b, 1; B 84, 10, fol. 46-53; Vollmacht: Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (künftig: HHStAW), Reichshofrat (künftig: RHR) Reichslehensakten der deutschen Expedition (künftig: RLAdtExp) 8 Bamberg. 37 1578 September 3: StAB, B 22b, 1; Konzept des Lehnseides: HHStAW, RHR RLAdtExp 8 Bamberg; Urkunde 1578 September 6: StAB, A 20, L. 4, Nr. 125. 38 1583 September 26: StAB, B 22b, 1. 39 1584 Februar 27: HHStA Wien, RHR RLAdtExp 8 Bamberg; Instruktion und Nebeninstruktion, Empfehlungsschreiben: StAB, B 22b, 1. 40 1583 März 2: StAB, A 20, L. 4, Nr. 129; Konzept des Lehnseides: HHStAW, RHR RLAdtExp 8 Bamberg. 41 1592 Januar 15, Juli 1, November 17, 1593 Juni 18, Oktober 1: StAB, B 22b, 1; Abschriften: StAB, B 21, 25, fol. 42-45’. 42 Vollmacht und Instruktion 1593 Oktober 26, 27: StAB, B 22b, 1. 43 1593 November 26: StAB, A 20, L. 4, Nr. 131; Konzept des Lehnseides: HHStAW, RHR RLAdtExp 8 Bamberg; Bericht Vasoldts: StAB, B 22b, 1. 44 Friedrich Grünbeck, Die weltlichen Kurfürsten als Träger der obersten Erbämter des Hochstifts Bamberg, Diss. phil. Erlangen 1924 (zugleich Berichte des Historischen Vereins Bamberg 78, 1922-24), S. 138-150. 35
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böhmischen Königs hatte 1479 stattgefunden, als Matthias Corvinus, sicher um seine Legitimität zu erhöhen, von Bischof Philipp von Henneberg nicht das Bamberger Oberschenkenamt, sondern das Erzschenkenamt des Reiches mit allem Zubehör, darunter die Stadt Prag, empfangen hatte.45 Nach Erhalt von zwei Indulten46 beauftragte der Elekt Johann Philipp von Gebsattel im November 1599 den Domdechanten Johann Christoph Neustetter gen. Stürmer, dessen Bruder Karl Neustetter und den Domprediger Martin Thum mit dem Empfang der Reichsregalien.47 Auch sie sollten in Prag daran erinnern, daß der König von Böhmen als Kurfürst des Reiches von Bamberg Lehen und das Oberschenkenamt zu empfangen habe, wie es bei den übrigen drei weltlichen Kurfürsten bereits geschehen sei.48 Am 5. Januar 1600 belehnte Rudolf II. in Pilsen die Vertreter Johann Philipps mit den Reichsregalien.49 Zu Schwierigkeiten während der Regierungszeit Rudolfs II. kam es lediglich 1580 bei der Belehnung des Elekten Martin von Eyb. Am Tage nach seiner Wahl bat er den Kaiser um ein Indult für den Regalienempfang und wiederholte diese Bitte nach zwei Monaten.50 Da das Domkapitel den kaiserlichen Wunsch nach rechtzeitiger Anzeige der Neuwahl ignoriert hatte51, war der kaiserliche Hof verstimmt. Darauf sandte das Kapitel eine eigene Wahlanzeige an den Kaiser.52 Am 12. Dezember gewährt Rudolf II. das gewünschte Indult auf sechs Monate.53 Wohl zum Jahresende 1581 plante Martin von Eyb eine Gesandtschaft zur Reichsbelehnung nach Prag zu entsenden, doch zerschlug sich der Plan.54 Darauf mußte er erneut um die Verlängerung des Lehnsindultes um wei___________ 45 1479 Juni 28, Revers: StAB, A 30, L. 914, Nr. 70; Akten StAB, B 25, 113. – Grünbeck (wie Anm. 44), S. 142-144. 46 1599 März 20: StAB, A 20, L. 4, Nr. 132; September 7: StAB, B 22b, 1; B 21, 26, fol. 15. 47 1599 November 9: StAB, B 86, 23, fol. 228; Beglaubigungsschreiben Dezember 4, hier Domprediger ersetzt durch Kanzler Dr. Karl Vasoldt: HHStAW, RHR RLAdtExp 8 Bamberg; Instruktion, ergänztes Exemplar Bischof Neithards und Original: StAB, B 22b, 1. 48 Instruktion: StAB, A 20, L. 4, Nr. 134; B 86, 23, fol. 249-253. 49 1600 Januar 5: StAB, A 20, L. 4, Nr. 136; Konzept des Lehnseides: HHStAW, RHR RLAdtExp 8 Bamberg; Bericht der Gesandten Januar 7: StAB, B 22b, 1; B 21, 26, fol. 15’-19’. 50 1580 Oktober 12, Dezember 1: StAB, B 84, 11. 51 1580 Oktober 22, Bericht des Bamberger Beauftragten Hans Puppert: StAB, B 22b, 1. 52 1580 Oktober 28: StAB, B 86, 14, fol. 138 f. 53 1580 Dezember 12: StAB, B 22b, 1; Verlängerung 1581 Juni 22: StAB, B 22b, 1; StAB, B 21, 23, fol. 6-7. 54 Instruktion für Wolfgang Albrecht von Würtzburg, Alexander Pflug, Friedrich von Eyb und Dr. Otto Reinholdt 1581, ohne Tagesdatum: StAB, B 22b, 1.
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tere sechs Monate bitten55, was für vier Monate gewährt wurde.56 Im Gegensatz zu den beiden anderen fränkischen Bischöfen nahm Martin von Eyb im Frühjahr 1582 nicht persönlich am Augsburger Reichstag teil. Er ließ sich durch eine stattliche Gesandtschaft unter dem Domherren Wolfgang Albrecht von Würtzburg vertreten.57 Möglicherweise wollte er sich drohenden Auseinandersetzungen mit dem Vertreter des Papstes entziehen. Der Kardinallegat Ludovico Madruzzo sollte in Augsburg gemäß seiner Instruktion gegen den protestantischen Viztum der Bamberger Besitzungen in Kärnten, Johann Friedrich Hoffmann, intervenieren.58 Martin von Eyb ersuchte Rudolf II. um die Erteilung der Reichsbelehnung an seine Vertreter Wolfgang Albrecht von Würtzburg, Hans Paul von Schaumberg und Dr. Achaz Hüls.59 Diese konnten ihren Bischof informieren, daß ihm der Kaiser zu ihrem Erstaunen das persönliche Erscheinen erlasse.60 Allerdings bestünde der päpstliche Legat auf der Anwesenheit Martins und versuche, die Reichsbelehnung zu hintertreiben. Madruzzo hatte die Bamberger Gesandten zu Tisch geladen, die über seine detaillierte Kenntnis der Bamberger Verhältnisse erstaunt waren.61 Sie fürchteten die Einflußnahme Roms. Martin von Eyb äußerte sich besorgt, daß der Legat ihm einen Koadjutor an die Seite stellen wolle.62 Wegen der Angelegenheit Hoffmann beklagte sich Madruzzo bitter vor den auf dem Augsburger Reichstag versammelten geistlichen Fürsten „crescente ipsius Bambergensis episcopi aut capituli contumacia“.63 Kaiser Rudolf II. erteilte aber schließlich am 31. August den Gesandten Bischof Martins die Reichsbelehnung.64 Sie erklärten, daß dieser Akt gegen hartnäckigen Widerstand erfolgt sei.65 Der Fall verdeutlicht, daß der Kaiserhof die Reichsbelehnung bewußt einsetzte, um seine Ziele zumindest zu markieren, wenn er auch insgesamt eine härtere Konfrontation vermied. ___________ 55
1581 Dezember 6: StAB, B 22b, 1. 1581 Dezember 24: StAB, B 22b, 1. 57 StAB, A 245, 7/6, S. 337; Neue und vollständige Sammlung der ReichsAbschiede, hg. v. Johann Jakob Schmauss/Heinrich Christian Senckenberg, 4 Bde., Frankfurt 1747 (Neudruck Osnabrück 1967), Bd. 3, S. 412. 58 1582 März 15: Nuntiaturberichte aus Deutschland. Nebst ergänzenden Aktenstükken, Abteilung 3: 1572-1585, Der Reichstag zu Regensburg 1576. Der Pacificationstag zu Köln 1579. Der Reichstag zu Augsburg 1582, bearb. v. Joseph Hansen, Berlin 1894 (künftig: NB III/2), Nr. 198, S. 391. – Vgl. Weiß (wie Anm. 12), S. 221-223. 59 1582 Juni 18: StAB, B 22b, 1. 60 1582 Juli 28: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 53 (alt B 33/I, 47), fol. 470-471. 61 StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 53, fol. 472-477. 62 1582 August 11: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 53, fol. 500-502. 63 1582 August 15: NB III/2 (wie Anm. 58), Anhang Ie, S. 599-603, hier S. 602. 64 1582 August 31: StAB, A 20, L. 4, Nr. 128; HHStAW, RHR RLAdtExp 8 Bamberg. 65 StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 53, fol. 490. 56
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Kaiser Matthias erteilte Bischof Johann Gottfried von Aschhausen nach der Rückkehr von dessen römischer Gesandtschaftsreise am 17. Mai 1613 persönlich in Wien die Reichsbelehnung.66 Johann Gottfried hatte den ehrenvollen, aber auch kostenintensiven Auftrag übernommen, die offizielle Wahlanzeige von Kaiser Matthias an Papst Paul V. zu überbringen.67 Nach dem Tode Julius Echters von Mespelbrunn wurde Johann Gottfried 1617 zusätzlich zum Bischof von Würzburg postuliert. Kaiser Ferdinand II. belehnte ihn auf der Rückreise von seiner Wahl und Krönung in Frankfurt am 22. September 1619 in der Residenz auf dem Marienberg über Würzburg mit den Regalien der Hochstifte Bamberg und Würzburg.68 Nochmals fand damit eine persönliche Belehnung statt. Zum Nachfolger Aschhausens in Bamberg wurde Johann Georg Fuchs von Dornheim gewählt. Am 27. Februar 1624 bat er Ferdinand II. um die Reichsbelehnung, vom gleichen Tag datieren die Instruktion und die Vollmacht für seine Gesandten, den Domherren Franz von Hatzfeld und Dr. Johann Braun.69 Gleichzeitig erhielten sie politische Aufträge. Bei einem Jagdaufenthalt in Schloß Ebersdorf bei Wien erteilte ihnen Ferdinand II. im Jagdkostüm am 9. September in einem Jagdhaus die Belehnung.70 Bei ihrem anschließenden Aufenthalt in Wien versuchten sie, mit Unterstützung des Bamberger Agenten Hartmann Drach die übrigen Punkte ihrer Instruktion zu erfüllen.71 Sie erhielten noch den Auftrag, die Belehnung des Kaisers als König von Böhmen mit dem Bamberger Oberschenkenamt zu betreiben.72 Ein letztes Mal empfing mit Franz von Hatzfeld 1635 ein Bamberger Bischof persönlich die Reichsbelehnung. Als Fürstbischof von Würzburg wurde er am 4. August 1633 in Wolfsberg in Kärnten, wo sich die Mehrheit des Domkapitels im kriegsbedingten Exil aufhielt, zum Bischof von Bamberg postuliert. Ferdinand II. gewährte ihm mehrere Indulte bis zum Empfang der Reichsbelehnung.73 Im April 1635 reiste Bischof Franz nach Wien. Der Kaiser belehnte ihn am 19. Mai mit den Regalien für die Hochstifte Bamberg74 und Würzburg. Da___________ 66
1613 Mai 17: StAB, A 20, L. 4, Nr. 140; Konzept des Lehnseides: HHStA Wien, RHR RLAdtExp 8 Bamberg. 67 Christian Häutle (Hg.), Des Bamberger Fürstbischofs Johann Gottfried von Aschhausen Gesandtschafts-Reise nach Italien und Rom 1612 und 1613 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 155), Tübingen 1881. 68 1619 September 22: StAB, A 20, L. 4, Nr. 142. 69 1624 Februar 27: StAB, B 22b, 3a, hier auch Empfehlungsschreiben. 70 1624 September 9: StAB, A 20, L. 5, Nr. 145, Lehnseid: StAB, B 84, 16, Bericht September 11: StAB, B 22b, 3a. 71 1624 Oktober 9: StAB, B 22b, 3a. 72 1624 Oktober 25: StAB, B 22b, 3a. 73 1634 April 2, Juli 12: StAB, B 22b, 5. 74 1635 Mai 19: StAB, A 20, L. 6, Nr. 146; dazu: StAB, B 22b, 5; Lehnseid: HHStAW, RHR RLAdtExp 8 Bamberg.
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bei bat Franz von Hatzfeld Ferdinand II. vergeblich um den Empfang des Bamberger Erbschenkenamtes.75 Nach seinem Tode ersuchte Bischof Franz dessen Nachfolger Ferdinand III. um ein Lehnsindult für sechs Monate76, was bewilligt wurde.77 Franz ernannte den Kärntner Viztum Rudolf von Stadion und Johann Philipp von Vorburg zu seinen Gesandten bei der Reichsbelehnung, die gleichzeitig die Interessen des Fränkischen Kreises vertreten sollten.78 Am 12. August 1638 erneuerte Ferdinand III. in Prag die Belehnung für Bischof Franz mit den Regalien des Hochstifts Bamberg. 79 Wegen der langen Verzögerung bis zum Erhalt der päpstlichen Konfirmation konnten die Vertreter des Elekten Melchior Otto Voit von Salzburg erst sieben Jahre nach dessen Wahl vom 25. August 1642 die Reichsbelehnung in Prag von Ferdinand III. empfangen. Zuvor mußte Melchior Otto jahrelang um Aufschub bitten.80 Kaiser Ferdinand III. erteilte ihm die notwendigen Indulte und setzte ihn vorläufig in die weltliche Administration des Hochstifts ein.81 Bereits 1647 plante Melchior Otto, den Kärntner Viztum mit seiner Vertretung bei der Reichsbelehnung zu betrauen.82 Doch auch nach dem Erhalt der Konfirmationsbulle und dem Abschluß des Westfälischen Friedens verzögerte Bamberg den Lehnsempfang. Endlich beauftragte Melchior Otto den Kärntner Viztum Philipp Valentin Voit von Rieneck und Dr. Heinrich Herzfelder damit.83 Gleichzeitig wies er sie an, über die wegen des Stiftsbesitzes in Kärnten noch offenen Fragen zu verhandeln. Ferdinand III. erteilte ihnen am 8. November 1649 in Wien die Belehnung.84 Auch die folgenden Belehnungsakte für die Bischöfe Philipp Valentin, Peter Philipp und Marquard Sebastian erfolgten erst neun, fünf und vier Jahre nach ihrer Wahl. Ferdinand III. gewährte Philipp Valentin Voit von Rieneck 1653 ein Lehnsindult für zunächst sechs Monate.85 Weil Bamberg die in Rom fälligen Konfirmationsgelder nicht aufbringen konnte, bat der Elekt mehrfach um ___________ 75
1635 Juni 4: StAB, B 22b, 5a. 1637 Dezember 6: StAB, B 22b, 5a. 77 1638 Februar 22: StAB, B 22b, 5a. 78 1638 Juni Instruktion und Vollmacht, Entwürfe: StAB, B 22b, 5a. 79 1638 August 12: StAB, A 20, L. 6, Nr. 147. 80 1642 August 28, 1643 Februar 16, August 25, 1644 Februar 22, 1645 Juni 19, 1646 April 20, 1648 August 31: StAB, B 22b, 5a; 1649 April 5, 19: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 96 (alt B 33/II, 22), Fasz. 47, 53. 81 1642 September 9: StAB, B 22b, 5a. 82 1647 November 19: StAB, B 22b, 5a; Memoriale für Franz Konrad von Stadion November 20: StAB, B 22b, 5. 83 1649 Juni Instruktion und Vollmacht, Entwürfe: StAB, B 22b, 5a. 84 1649 November 8: StAB, A 20, L. 5, Nr. 148. 85 1653 März 12: StAB, B 22b, 4; B 86, 38, fol. 58’ f. 76
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Verlängerung.86 Er beauftragte im Sommer 1659 den Kärntner Viztum Peter Philipp von Dernbach und Dr. Johann Bernhard Hauser mit seiner Vertretung87, doch mußte er dann nochmals um Aufschub bitten.88 Philipp Valentin bemühte sich vergeblich, Leopold I. als König von Böhmen zum Empfang des Bamberger Erbschenkenamtes zu bewegen.89 Am 28. Februar 1660 erteilte der Kaiser den Vertretern Philipp Valentins die Belehnung.90 Erst nachdem die eigens vom Domkapitel angeforderte Wahlanzeige in Wien eingetroffen war91, übertrug Leopold I. am 8. Juli 1672 Peter Philipp von Dernbach die weltliche Administration des Hochstifts Bamberg und forderte ihn zum baldigen Lehnsempfang auf.92 Da die päpstliche Konfirmation noch ausstand, erhielt er eine Verlängerung des Lehnsindultes.93 Auch in den folgenden Jahren mußte er um Verlängerungen bitten. Sie wurden jeweils für zwei oder drei Monate bewilligt.94 Nach Empfang der Konfirmation plante Peter Philipp, den Kärntner Viztum Franz Otto Kottwitz von Aulenbach und den Bamberger Agenten in Wien Dr. Johann Bernhard Hauser mit dem Lehnsempfang zu betrauen.95 Die Angelegenheit verzögerte sich aber durch seine Postulation zum Würzburger Bischof, weil er nun zuvor die päpstliche Bestätigung für Würzburg abwarten wollte.96 Er mußte neuerlich um eine Verlängerung bitten.97 Schließlich reiste Viztum Franz Otto Kottwitz im Frühjahr 1677 an den Kaiserhof. Am 5. April belehnte Leopold I. ihn mit den Regalien des Hochstifts Bamberg.98 Außerdem empfing der Viztum die Belehnung mit dem Hochstift Würzburg.99 Auch der Elekt Marquard Sebastian Schenk von Stauffenberg bat den Kaiser nach seiner Wahl um einen Aufschub für die Regalienbelehnung.100 Daraufhin ___________ 86
1654 April 17, 1656 August 1, 1657 März 17: StAB, B 22b, 4. 1659 Juni 3: StAB, B 22b, 4. 88 1659 Juli 4, August 15: StAB, B 22b, 4. 89 1659 November 12 Instruktion und Vollmacht: StAB, B 22b, 4; hier weiterer Briefwechsel. 90 1660 Februar 28: StAB, A 20, L. 5, Nr. 151. 91 1672 Juni 26: StAB, B 84, 21. 92 1672 Juli 8: StAB, B 22b, 5c. – Vgl. Christ (wie Anm. 7), S. 185. 93 1673 April 21: StAB, B 22b, 5c. 94 1673 August 29, 1674 Januar 11, April 25, August 6, September 24, 1675 Januar 14: StAB, B 22b, 5c. 95 1675 März 12, 17, Vollmacht und Instruktion, Entwürfe: StAB, B 22b, 5c. 96 1675 Juli 23: StAB, B 22b, 5c. 97 1676 Mai 22: StAB, B 22b, 5c. 98 1677 April 5: StAB, A 20, L. 5, Nr. 155. 99 1677 Juli 29 Bericht: StAB, B 22b, 5c. 100 1683 Juni 30: StAB, 21, 28, p. 141; B 84, 22I. 87
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gewährte ihm Leopold I. zunächst ein Indult auf zwei Monate101, aus den folgenden Jahren liegen Verlängerungen um meist drei Monate vor.102 Nachdem die päpstliche Konfirmation endlich im August 1686 erfolgt war, bat Marquard Sebastian um die Reichsbelehnung und ernannte den Kärntner Viztum Franz Otto Kottwitz und Hofrat Heinrich Jäger zu seinen Bevollmächtigten.103 Leopold I. erteilte ihnen am 4. März 1687 nach der Leistung des Treu- und Gehorsamseides die Belehnung.104 Zurückgekehrt nach Kärnten fertigen sie in Wolfsberg einen detaillierten Bericht über den Vorgang an.105 Nach dem raschen Erhalt der päpstlichen Konfirmation bat der im November 1693 gewählte Lothar Franz von Schönborn den Kaiser bereits im März 1694 um einen Termin für die Reichsbelehnung.106 Er entschuldigte sich bald, sie nicht persönlich empfangen zu können.107 Gleichzeitig ließ er die Beglaubigung für seine Gesandten, den Kärntner Viztum Georg Wilhelm Kasimir Schutzbar gen. Milchling und Hofrat Dr. Philipp Bernhard Fichtel, ausstellen.108 Ihre Instruktion enthielt wieder den Auftrag, Leopold I. als König von Böhmen zum Empfang der Belehnung mit dem Bamberger Erbschenkenamt zu bewegen, was seit Kaiser Matthias‘ Zeiten versäumt worden sei.109 Hofrat Fichtel verfaßte ein ausführliches Protokoll über den Wiener Aufenthalt und die zu beachtenden zeremoniellen Fragen wie die korrekte Kleidung, die Anredeformeln und die Handhaltung bei der Belehnung.110 Am 12. Juli erhielten die Gesandten ihre erste Audienz in der Favorita, bei der Leopold I. in einem schwarzsamtenen Kleid neben einem Sessel stand und die Kniefälle der Gesandten mit leichtem Heben seines Hutes beantwortete. In diesem in der Wiener Vorstadt Wieden gelegenen Schloß hielt sich der Hof in der Regel während der Sommermonate auf.111 Die Raumfolge entsprach der in der Hofburg, so daß sich das Zeremo___________ 101
1683 August 25: StAB, A 20, L. 5, Nr. 161. 1684 Mai 20, November 20, 1685 März 3, Juli 14, Oktober 18, 1686 März 27, Dezember 4: StAB, A 20, L. 5, Nr. 163-169. 103 1686 Dezember 9: StAB, B 21, 28, p. 142a-143a. 104 1687 März 4: StAB, A 20, L. 5, Nr. 170. 105 1687 August 24: StAB, B 21, 28, p. 151-155. – StAB, B 84, 22I. 106 1694 März 21: StAB, B 21, 30I, p. 27 f.; HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 633 (alt: B 22b, 7). 107 1694 Mai 18: StAB, B 21, 30I, p. 28 f. 108 1694 Mai 18: StAB, B 21, 30I, p. 29-32; weiterer Schriftverkehr: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 633. 109 1694 Mai 18: StAB, B 21, 30I, p. 32-37, historische Darstellung, p. 45-47. 110 1694 Juli 3-August 16: StAB, B 22b, 6a; Abschrift: StAB, B 21, 30I, p. 47-104, p. 123-136. – Vgl. zum Zeremoniell Schönberg (wie Anm. 2), S. 131-137. 111 Johann Schwarz, Die Kaiserliche Sommerresidenz Favorita auf der Wieden in Wien 1615-1746, Wien/Prag 1898, zur Nutzung unter Karl VI. S. 57-66. – Erich Schlöss, Die Favorita auf der Wieden um 1700, in: Wiener Geschichtsblätter 46/3 (1991), S. 162-170. – Christian Benedik, Zeremonielle Abläufe in habsburgischen Resi102
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niell in gleicher Weise entfalten konnte. Am 9. August begaben sich Schutzbar und Fichtel zunächst in das Paulanerkloster auf der Wieden, von wo sie nach Beendigung der Geheimen Ratssitzung in die Favorita zum Belehnungsakt gerufen wurden. Nur der Wagen Schutzbars durfte nach längeren Verhandlungen in den Hof fahren. Nach dem Durchschreiten der beiden Vorzimmer (Anticamera) gelangten die Gesandten in die Geheime Ratsstube, wo der kaiserliche Thron unter einem Baldachin auf einem drei Stufen hohen Podest aufgebaut war. Die Bamberger leisteten die vorgeschriebenen drei Kniefälle – die sogenannte spanische Reverenz – und trugen ihre Ansprache im Namen von Lothar Franz vor. Sie baten um die Belehnung, welche „höchste kays. gnad. S. hochf. Gnd. Zeit lebens mit ohnverendlicher devotion und treugehorsamsten Ihren Diensten abverdienen und in allen begebenheiten sich dergestalten erfinden lassen werden, wie es einem getreuen kayl. vasallen und des h. röm. reichs mitglied gebühren thut“.112 Nach der Antwort durch Reichsvizekanzler Gottlieb von Windisch-Graetz winkte der Kaiser die Gesandten näherzutreten, die auf der zweiten Stufe kniend mit zwei Fingern auf dem Evangelium auf dem Schoß des Kaisers den Lehnseid leisteten. Danach nahm der Kaiser das Schwert aus den Händen des Hofmarschalls Heinrich Franz Fürst von Mansfeld-Fondi und reichte den Gesandten den Knauf zum Kuß, womit die Belehnung vollzogen war.113 Vor dem Thron kniend sprachen sie ihre Danksagung und verließen den Raum wieder mit drei Kniefällen. Am 16. August erhielt Schutzbar so überraschend noch eine Audienz bei König Joseph, daß er sich nicht mehr korrekt ankleiden konnte, die Audienz verlief aber ähnlich wie beim kaiserlichen Vater.114 Nach dem Regierungsantritt Kaiser Josephs I. bat Lothar Franz, mittlerweile noch Kurfürst von Mainz und Reichserzkanzler, zunächst um einen unbefristeten Aufschub zum Empfang der Reichsbelehnung für Bamberg.115 Nachdem er auf dessen Bitte den Kärntner Viztum Johann Wolf von Wallenfels von seiner Vertretung befreit hatte116, beauftragte er damit Domkapitular Reinhard Anton von Eyb und Geheimrat Dr. Johann Wilhelm Brenzer117, die sich auch um die Kärntner Angelegenheiten kümmern sollten.118 Joseph I. belehnte sie zunächst mit dem im Kärntner Vertrag von 20. Dezember 1674 zugesagten „privilegium ___________ denzen um 1700. Die Wiener Hofburg und die Favorita auf der Wieden, in: Wiener Geschichtsblätter 46/3 (1991), S. 171-178. 112 StAB, B 21, 30I, p. 160 f. 113 1694 August 9: StAB, A 20, L. 6, Nr. 172. 114 StAB, B 21, 30I, p. 129. 115 1706 April 10: StAB, B 56, 2, Nr. 18. 116 1707 Februar 26 Dankschreiben: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 633. 117 1707 Juni 10 Instruktion, Juli 30 Vollmacht: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 633. 118 Nebeninstruktion: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 633; weiterer Schriftverkehr ebd.
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iuris gladii“.119 Der Kaiser erneuerte dann am 17. November 1707 in der Hofburg die Belehnung von Lothar Franz mit den Bamberger Regalien.120 Bei der durch den Tod Josephs I. erforderlich gewordenen neuerlichen Reichsbelehnung wurde Lothar Franz wieder durch Hofratspräsident von Eyb und Dr. Brenzer vertreten.121 Kaiser Karl VI. nahm diesen Akt am 3. Januar 1715 vor.122 Die folgenden Fürstbischöfe des 18. Jahrhunderts ließen die Reichsbelehnung ohne größere Verzögerungen durch Vertreter in Wien einholen. Meist wurde die Bamberger Delegation durch den Kärntner Viztum, der dem Domkapitel angehörte, geleitet. Neben den Kosten für die Gesandtschaft fielen Gebühren für die Ausfertigung der notwendigen Dokumente und Geschenke für die beteiligten Beamten an. Seit dem 13. Dezember 1708 fungierte Reichsvizekanzler Friedrich Karl von Schönborn als Koadjutor seines Onkels Lothar Franz für Bamberg. Nach seinem Regierungsantritt in Bamberg (Tod von Lothar Franz am 30. Januar 1729) und Würzburg (Postulation am 18. Mai 1729) behielt er das Reichsamt bei. Er entschuldigte seine Abwesenheit aus Wien mit dringenden Regierungsgeschäften, nach deren Erledigung er als Reichsvizekanzler an das Hoflager zurückkehren wolle. Zunächst bat er Karl VI. um die Mutung der Reichslehen.123 Als seine Vertreter benannte er den Viztum Philipp Ernst Groß von Trockau und den Reichstagsgesandten Hofrat Georg Karl Karg von Bebenburg.124 Auch sie sollten auf den Empfang der böhmischen Lehen durch den Kaiser hinwirken.125 Friedrich Karl sagte ihnen die Hilfestellung des Reichsvizekanzelariates zu. Außerdem war der würzburgische Lehnspropst in Wien anwesend.126 Der Reichshofrat beschloß die gleichzeitige Belehnung Friedrich Karls mit beiden Hochstiften.127 Im Protokoll der Bamberger Gesand___________ 119 1707 September 24 Abschrift: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 633. Vgl. Weiß (wie Anm. 12), S. 545 f. 120 1707 Dezember 20: StAB, A 20, L. 6, Nr. 175; Berichte der Gesandten und Diarium August 24. Dezember 20: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 633 (teilweise falsch gebunden); Recreditiv der Kaiserin Amalie Dezember 21: ebd. 121 Beglaubigung und weiterer Schriftverkehr: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 633. 122 1715 Januar 3: StAB, A 20, L. 6, Nr. 178. 123 1729 September 18: StAB, B 21, 31, fol. 23 f. 124 1729 September 18: StAB, B 21, 31, fol. 25 f. 125 1729 September 18 Instruktion: StAB, B 21, 31, fol. 26’-29’; HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 634 (alt: B 22, 8). – Johann Looshorn, Graf Friedrich Karl von Schönborn als Fürstbischof von Bamberg 1729-1746 (Die Geschichte des Bisthums Bamberg VII/1), Bamberg 1907, S. 17-19. – Friedrich Karl an Karl VI. als König von Böhmen, Entwurf: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 634. 126 1729 Oktober 16: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 346 (alt B 33IV, 3), Nr. 16. 127 1729 Oktober 24: StAB, B 21, 31, fol. 51.
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ten ist der Belehnungsakt vom 25. Oktober 1729 detailliert geschildert.128 Von der Reichskanzlei fuhr Groß von Trockau im sechsspännigen Wagen des Reichsvizekanzlers zunächst in das Paulanerkloster auf der Wieden, wo er eine hl. Messe hörte. Von dort wurde er an das kaiserliche Hoflager in der Favorita berufen.129 Kniend hielt er an den Stufen des Thrones seine Ansprache und Danksagung. Der Kaiser erteilte ihm die Belehnung mit den Regalien und Temporalien der Hochstifte Bamberg und Würzburg.130 Eine Bamberger Reichsbelehnung fand erst wieder 1747 statt. Nach dem Tode Karls VI. wurde ein Wittelsbacher zum Kaiser gewählt. Obwohl Friedrich Karl von Schönborn um ein korrektes Verhältnis zu Karl VII. Albrecht bemüht war, sind keine Anstrengungen um den Empfang der Reichsbelehnung oder die Erteilung eines Lehnsindults nachweisbar. Das Domkapitel wandte sich nach dem Tode Friedrich Karls an Kaiser Franz I. mit der Bitte, die Interimsregierung durch Verlängerung der Frist zur Belehnung zu legitimieren, bis der nächste Fürstbischof diese selbst werde empfangen können.131 Ein Jahr nach seiner Bischofswahl sandte der Elekt Johann Philipp II. von Franckenstein seinen Bruder, den Würzburger Ratspräsidenten Johann Philipp Ludwig Ignaz von Franckenstein, zum Empfang der Belehnung nach Wien.132 Die für den Belehnungsakt benötigten Dokumente waren die Todesanzeige des früheren Bischofs und das Wahlinstrument des Kapitels, ergänzt um Beglaubigungsschreiben an das Kaiserpaar und Empfehlungsbriefe an die führenden Wiener Staatsmänner. Am 29. September erhielt Franckenstein seine erste Audienz bei Franz I. in Schönbrunn, am 1. Oktober bei Kaiserin Maria Theresia in der Hofburg.133 Detailliert berichtete er seinem Bruder über die Einzelheiten der Belehnung am 9. November in der Hofburg, zu der er selbst im sechsspännigen Galawagen in Begleitung von dreizehn weiteren Kutschen gefahren war.134 Kaiser Franz I. erteilte ihm die Belehnung.135 In der Eidesformel ersetzte der Gesandte „Meinen ___________ 128 StAB, B 21, 31, fol. 41-57’; StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 634. – HHStAW, RHR RLAdtExp 8 Bamberg. 129 Vgl. Andreas Peþar, Die Ökonomie der Ehre. Höfischer Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711-1740) (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Darmstadt 2003, S. 158-161. 130 1729 Oktober 25: StAB, A 20, L. 6, Nr. 179. 131 1746 September 11 Konzept: StAB, 84, 24. 132 1747 September 6 Instruktion: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 635 (alt: B 22b, 10); Creditiv für Maria Theresia: HHStAW, Rep. II/12, Bd. 38. 133 StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 635. 134 1747 November 9: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 635. 135 1747 November 9: StAB, A 20, L. 6, Nr. 184. – Johann Looshorn, Die Geschichte des Bisthums Bamberg VII/2, Bamberg 1910, S. 17 f. (irrtümlich 1749); Noël (wie Anm. 6), S. 114.
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gnädigen Herren“ und „fürstliche Gnaden“ durch „Meinen gnädigsten Herren“ und „Hochfürstliche Gnaden“. Der nächste Belehnungsakt wurde in Bamberg sorgfältig vorbereitet, insbesondere suchte man nach Unterlagen, um die Krone Böhmen zum Empfang des Bamberger Erbschenkenamts zu bewegen. Allerdings ergaben Nachforschungen, daß schon 1747 keine einschlägigen Dokumente auffindbar gewesen waren.136 Der Elekt Franz Konrad von Stadion informierte sich bei dem Wiener Agenten Franz Ignaz Ferner von Fernau über das weitere Vorgehen.137 Dieser empfahl, zunächst um ein Lehnsindult nachzusuchen138, das auch gewährt wurde.139 Im Oktober 1754 sandte Franz Konrad seinen Bruder, den Mainzer Dompräsenzkammerpräsidenten Lothar Georg von Stadion, nach Wien. Zunächst entfiel damit die Notwendigkeit zur Verlängerung des Indults.140 Franz Konrad ersuchte den Kaiser um Erteilung der Reichsbelehnung und entschuldigte sein persönliches Fernbleiben.141 Die Instruktion für die Gesandtschaft enthält alle in Wien nötigen diplomatischen und zeremoniellen Schritte, vom Besuch des Reichsvizekanzlers bis zu den Einzelheiten der Audienzen wie dem Belehnungsakt selbst.142 Auch die Danksagung dafür, daß persönliches Erscheinen erlassen worden war, die Versicherung von Treue und Gehorsam und die Texte von Eidesformel und Lehnspflicht waren vorformuliert. Zum Jahresanfang 1755 verlängerte der Kaiser das Lehnsindult nochmals um zwei Monate.143 Lothar Georg von Stadion unterrichtete seinen Bruder in zahlreichen Briefen wie in dem ausführlichen Diarium144 über seinen Wiener Aufenthalt. Dabei interessierte er sich besonders für Einzelheiten des Zeremoniells. Am 1. März 1755 erhielt er seine erste Audienz bei Kaiser Franz I., der in französischer Kleidung mit dem Hut unter dem Arm unter einem Baldachin stand, im Anschluß bei Kaiserin Maria Theresia, die ihn ebenfalls in französischer Kleidung unter einem Baldachin empfing. Schließlich wurde die Belehnung auf den 12. März gelegt. Stadion, gekleidet in einen schwarz-geblümten französischen Damasttalar mit schwarzen Spitzen und zugehörigem langen Mantel, empfing um 1/2 11 Uhr die geladenen Gäste in seinem Quartier. Dies waren die beim ___________ 136
1754 April 28: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 637 (alt: B 22b, 11). 1754 Juni 29: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 637. 138 1754 Juli 6: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 637. 139 1754 August 6: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 637. 140 1754 Oktober 1: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 637. 141 1754 Dezember 18: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 637; Creditiv für Kaiser Franz I.: HHStAW, Rep. II/12, Bd. 38. 142 1754 Dezember 24: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 637. 143 1755 Januar 7: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 637. 144 1755 Januar 7-April 14: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 637; StAB, B 21, 33, p. 131-231. 137
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Reichshofrat mit Bamberger Angelegenheiten betrauten Beamten, der Hochstiftsagent, der kurmainzische Agent und ein Sekretär in Vertretung des Grafen von Auersperg als bambergischem Lehnsträger. Begleitet von Läufern und über 60 Bedienten in Galalivree begab sich die Gesellschaft zunächst zur Wohnung des kurpfälzischen Gesandten am Kohlmarkt, die als Zwischenquartier diente. Von hier wurden sie um 1/2 1 Uhr in die Hofburg gerufen. Nur der sechsspännige Galawagen des Reichsvizekanzlers, in dem Stadion allein saß, durfte in den Schweizerhof fahren, wo die Garde paradierte. Dieses Privileg war streng reglementiert und stand bei Botschaftern und Gesandten jeweils nur dem ersten Wagen zu.145 Unter Vortritt seiner Begleitung begab sich Stadion über die neuerbaute Botschafterstiege in die Trabanten- und Ritterstube146, wo er vom Oberhoffourier empfangen wurde. Durch ein Spalier von Hartschieren und Trabanten wurde er in die Antichambre (Erste Antikammer147) im Leopoldinischen Trakt geleitet, während mittlerweile Franz I. unter einem Baldachin auf dem vier Staffeln hohen Thron in der Geheimen Ratsstube Platz genommen hatte.148 In diesem Saal, der auch als kaiserliches Tafelzimmer diente, waren Zuschauer zugelassen.149 Als die Türen geöffnet wurden, wurde der Gesandte vom Hofmarschall Graf von Hohenzollern empfangen. Stadion fiel am Eingang, in der Mitte des Saales und vor den Stufen des Thrones auf die Knie, der Kaiser entblößte jeweils sein Haupt. Im Knien auf der obersten Stufe des kaiserlichen Thrones leistete Stadion dann den Treueid, während er den Finger auf das vom Kaiser gehaltene Evangelium legte: „[...] von der regalien und lehen wegen, die ihme jetzo verliehen werden, um hinführo von dieser stund an Euer Kayerl. Mayst. und allen derselben nachkommen am reiche, röm. Kayseren und Königen, und dem heyl. reich getreu, hold, gehorsam und gewärttig, auch nimmermehr wissentlich in dem rath seyn solle, noch will, da ichtwas wider Euer Kayerl. Mayt. Person, ehr, würde, oder stand fürgenommen wurdet, noch darein bewilligen oder gehalten in einige weiß, sondern Euer Kay. Mayst. und des heyl. röm. reichs ehre, nuzen, und frommen betrachten und beförderen, allen ___________ 145
Hubert Ch. Ehalt, Ausdrucksformen absolutistischer Herrschaft. Der Wiener Hof im 17. und 18. Jahrhundert (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 14), München 1980, S. 190 Anm. 81. 146 Henriette Graf, Das kaiserliche Zeremoniell und das Repräsentationsappartement im Leopoldinischen Trakt der Wiener Hofburg um 1740, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 3/4 (1997), Sonderheft Wiener Hofburg, Wien 1998, S. 571-587, hier S. 580 f. 147 Dies., S. 581 f. 148 Zur Raumfolge im Leopoldinischen Trakt der Hofburg: Christian Benedik, Die Repräsentationsräume der Wiener Hofburg in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Das 18. Jahrhundert und Österreich 6 (1990/91) (Jahrbuch der österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts), Wien 1992, S. 7-21. 149 Graf (wie Anm. 146), S. 582. – Planskizze der kaiserlichen Staatsappartements in der Hofburg: Peþar (wie Anm. 129), S. 164; Ehalt (wie Anm. 145), S. 97.
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ihren vermögen nach“. Nachdem Stadion den Knopf des Reichsschwertes geküßt hatte, erteilte ihm Franz I. die Belehnung.150 Sein Rückzug vollzog sich wieder mit drei Kniefällen. Er hielt sich dann noch über einen Monat in Wien auf und reiste nach den üblichen Abschiedsaudienzen beim Kaiser und bei der Kaiserin ab.151 Der Tod Franz Konrad von Stadions am 6. März 1757 erforderte wieder eine Reichsbelehnung. Sein Nachfolger, der Würzburger Fürstbischof Adam Friedrich von Seinsheim, bat den Kaiser noch in seinem Wahljahr um die Bamberger Belehnung.152 Als seinen Vertreter beauftragte er den Kärntner Viztum Domkapitular Johann Philipp Anton Horneck von Weinheim und entschuldigte sein persönliches Fernbleiben mit der allgemeinen politischen Lage.153 Die Gesandtschaft wurde wie üblich durch eine große Zahl von Empfehlungsschreiben an einflußreiche Persönlichkeiten begleitet.154 Vom Tag seiner Ankunft am 12. Januar 1758 an erstattete Horneck sorgfältig Bericht über seine Schritte in Wien.155 Er wurde dabei von dem Agenten Ferner von Fernau unterstützt. Franz I. nahm die Reichsbelehnung am 16. März 1758 vor.156 In der Eidesformel ersetzte Horneck wie schon seine Vorgänger die Titulatur „fürstliche gnaden, gnädigen Herrn, stift Bamberg“ für Adam Friedrich jeweils durch „hochfürstliche gnaden, gnädigsten Herrn, Hochstift“, was zuvor ausgehandelt worden war.157 Dabei versicherte der Gesandte, daß der Fürstbischof eine „werckthätige Antagelegung deütsch Patriotischer Gesinnung [...] fortzusetzen jederzeit beeifert seyn“ werde.158 Das Zeremoniell entsprach dem Belehnungsakt von 1755, nur benötigten der Gesandte und seine Begleitung diesmal sogar 16 Wagen, in denen auch Bamberger Studenten, die sich gerade in Wien aufhielten, Platz fanden. Die Gesandten hielten sich noch länger in Wien auf159, um den endlich
___________ 150
1755 März 12: StAB, A 20, L. 6, Nr. 185. 1755 April 5, 12: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 637; Abschrift: StAB, B 21, 33, p. 109-112. 152 1757 Dezember 24: StAB, B 21, 34I, p. 98 f. 153 1757 Dezember 29: StAB, B 21, 34I, p. 119-124; Vollmacht: ebd., p. 129 f.; Instruktion: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 638 (alt: B 22b, 12); Bericht Hornecks mit Abschrift aller Dokumente: ebd. 154 Beglaubigungsschreiben: HHStAW, Rep. II/12, Bd. 38; Entwürfe und Abschriften: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 638; StAB, B 21, 34I, p. 133 f., p. 142 f. 155 StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 638; StAB, B 21, 34I, fol. 157-215. 156 StAB, A 20, L. 7, Nr. 187; HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 638. 157 1758 März 16: HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 638. 158 Zitiert nach Noël (wie Anm. 6), S. 113, Anm. 30 (irrtümlich datiert 1747). 159 1759 April 28 Recreditiv Franz’ I., Mai 5 Maria Theresias: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 638. 151
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am 5. Mai 1759 erfolgten Verkauf der Bamberger Besitzungen in Kärnten zu regeln.160 Der Tod Kaiser Franz I. im August 1765 erforderte eine Wiederholung. Nach einem knappen Jahr bat Fürstbischof Adam Friedrich Kaiser Joseph II., die Mutung durch einen Gesandten zu gestatten.161 Sein Wiener Agent Ferner von Fernau teilte ihm daraufhin mit, daß die Belehnung wegen Hoftrauer nicht vor dem 15. Oktober erfolgen könne.162 Zum Gesandten für beide Hochstifte bestimmte Adam Friedrich dann allerdings erst im folgenden Jahr den würzburgischen Regierungspräsidenten Franz Ludwig von Erthal.163 In der detaillierten Instruktion wird ihm die Kontaktaufnahme mit Reichsvizekanzler Rudolph Joseph Fürst von Colloredo empfohlen, alle Einzelheiten des Belehnungsaktes sind bereits geplant.164 Erthal wurde zunächst am 20. August 1767 in der Wiener Hofburg von Joseph II., am 24. August in Schönbrunn von Kaiserin Maria Theresia empfangen.165 Nach der ersten Audienz beim Kaiser konnte er noch dem Fest des drei Jahre zuvor gestifteten St.-Stephans-Ordens beiwohnen.166 Am 1. September informierte Obersthofmeister Reichsgraf von Ulfeldt167 Erthal, daß der Kaiser die Belehnung bereits am folgenden Tag vornehmen wolle.168 Um die notwendigen Vorbereitungen abzuschließen, erreichte Erthal aber noch eine kurze Verschiebung. Der Belehnungsakt erfolgte am 4. September, bei dem der Gesandte den zeremoniellen dreifachen Kniefall vor ___________ 160 1759 Mai 5 Abschrift: StAB, B 21, 34II, fol. 3-7´. – Martin Wutte, Die Lage der bambergischen Herrschaften in Kärnten vor ihrem Verkaufe im Jahre 1759, in: Carintia I 97 (1907), S. 168-199; Karl Müller, Der Übergang der bambergischen Besitzungen in Kärnten an Österreich, in: Bamberger Blätter 3 (1926), S. 47 f.; Michel Hofmann, Der Abschied des Hochstifts Bamberg aus Kärnten. Zur Erinnerung an den Wiener Vertrag von 1759, in: Fränkische Blätter 11 (1959), S. 45, S. 54, S. 64. 161 1766 Juli 13: StAB, B 21, 34II, fol. 83 f. 162 1767 Juli 23: StAB, B 21, 34II, fol. 84; weiterer Schriftverkehr: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 639 (alt: B 22b, 3b). 163 1767 August 4, Vollmacht: StAB, B 21, 34II, fol. 89’ f. 164 1767 August 3, Instruktion: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 640 (alt: B 22b, 13); StAB, B 21, 34II, fol. 86’-89. 165 StAB, B 21, 34II, fol. 94’-98’; Briefe Erthals an Adam Friedrich: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 639, Diarium: HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 640. 166 Attila Pandula, Der königlich-ungarische St. Stephans-Orden, in: Österreichs Orden vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. v. Johann Stolzer/Christian Steeb, Graz 1996, S. 114-134. 167 Anton Corfiz Graf von Ulfeldt war seit 1753 Obersthofmeister der Kaiserin, doch soll er nach Angabe der Literatur bereits 1760 verstorben sein: Schlitter, Graf Anton Corfiz Ulfeldt (1699-1760), in: ADB 39, Leipzig 1895, S. 184 f.; Biographisches Wörterbuch zur deutschen Geschichte, begründet von Hellmuth Rössler und Günther Franz, Bd. 3, 2. Auflage München 1975, Sp. 2952 f. – Er ist aber neben unserer Quelle auch sonst 1766 noch als Obersthofmeister bezeugt: Haupt (wie Anm. 170), S. 79. 168 1767 September 2, Bericht Erthals: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 639.
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dem Kaiser vollzog.169 Als Besonderheit vermerkte Erthal, daß der Kaiser Uniform statt des traditionellen langen Mantelkleids trug. Offiziell schaffte Joseph II. dieses, die Hoftracht und den zeremoniellen Kniefall erst 1786 ab.170 Erthal hielt sich noch über ein halbes Jahr in Wien auf, um Finanztransaktionen aus dem Verkauf der Kärntner Besitzungen abzuwickeln.171 Der Nachfolger Seinsheims in beiden Hochstiften, Franz Ludwig von Erthal, übersandte im März 1780 sein Ansuchen um ein Lehnsindult an den Kaiser.172 Die Verzögerung erklärte er mit der Belastung durch die Regierung zweier Fürstentümer. Reichshofratsagent von Fichtl erhielt es auf sechs Monate.173 Nach Ablauf eines halben Jahres schickte Franz Ludwig die für die Reichsbelehnung nötigen Dokumente an Fichtl, der sich nochmals um eine Verlängerung bemühen sollte.174 Erthal konnte dafür keine stichhaltigen Gründe angeben und wollte auch keine erfundenen vortäuschen. Im Januar 1781 teilte Fichtl mit, der Reichshofrat dränge auf die Reichsbelehnung binnen zweier Monate, weil eine Reise des Kaisers bevorstehe.175 Erst im Herbst 1781 stellte Franz Ludwig die Vollmachten für die Reichsbelehnung aus. Er ernannte Franz Erwein Karl Kaspar Graf von der Leyen und Hohengeroldseck, Domkapitular von Trier, Bamberg und Würzburg, zu seinem Gesandten und gab ihm die üblichen Empfehlungsschreiben mit.176 Vielleicht hatte alles solange gedauert, weil Erthal die Lehnsgesandtschaft gleichzeitig mit einer Fülle weiterer diplomatischer Aufgaben betraute: sie sollte für Bamberg den Streitwert von Appellationen an Reichsgerichte von 400 Reichstalern erhöhen lassen; sie sollte die vor dem Reichshofrat anhängigen Prozesse des Hochstifts fördern; sie sollte eine Kostenerstattung für Durchzüge der k. k. Armee durch Bamberg und den Fränkischen Kreis erreichen. Sein persönliches ___________ 169 1767 September 4: StAB, A 20, L. 7, Nr. 190; Berichte Erthals: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 639; StAB, B 21, 34II, fol. 100-114’. 170 Schönberg (wie Anm. 2), S. 131-137. – Herbert Haupt, Die Aufhebung des spanischen Mantelkleides durch Kaiser Joseph II. – Ein Wendepunkt im höfischen Zeremoniell, in: Österreich zur Zeit Kaiser Josephs II. Mitregent Kaiserin Maria Theresias, Kaiser und Landesfürst (Niederösterreichische Landesausstellung Stift Melk 1980, Kataloge des Niederösterreichischen Landesmuseums NF 95), Wien 1980, S. 79-81. 171 StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 639. – 1767 November 23 Recreditiv Josephs II., 1768 April 28 Maria Theresias: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 639. 172 1780 März 22: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 641 (alt: B 22b, 14); B 21, 35I, p. 95-97; gesamter Schriftwechsel: HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 641. 173 1780 April 17: StAB, B 21, 35I, p. 99. 174 1780 September 16: StAB, B 21, 35I, p. 100-118. 175 1781 Januar 20: StAB, B 21, 35I, p. 129 f. 176 1781 September 27: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 641; StAB, B 21, 35I, p. 147 f., p. 153 f.; Instruktion, Berichte des Gesandten und Stellungnahmen Erthals: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 641.
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Nichterscheinen entschuldigte Franz Ludwig formelhaft mit dringenden Regierungsgeschäften. Fichtl erhielt am 1. Oktober eine weitere Verlängerung des Indults um zwei Monate.177 Erthal dankte von der Leyen für seine Berichte aus Wien, besonders über dessen erste Audienz beim Kaiser, der anders als befürchtet keinen Unwillen wegen der Verzögerungen zeigte.178 Die Bamberger Reichsbelehnung erfolgte schließlich am 15. Dezember 1781.179 Auch wenn der Lehnsherr wie der Lehnsmann diesmal Exponenten der Aufklärung waren, wurden alle Vorschriften des Zeremoniells beachtet. Joseph II. vollzog den feierlichen Akt im Audienzsaal der Hofburg, beim Empfang und beim Abschied leistete der Gesandte die vorgeschriebenen drei Kniefälle. Während des Interregnums nach dem Tode Josephs II. trat Franz Ludwig von Erthal nachdrücklich für den Erhalt der bestehenden Reichsverfassung ein. Als Folge einer republikanischen oder aristokratischen Umgestaltung des Reiches befürchtete er eine Säkularisation.180 Er ersuchte Kaiser Leopold II. um Annahme seiner Lehnsmutung und Aufschub der Belehnung.181 Auch beim neuerlichen Interregnum nach dem Tode Leopolds II. hielt Franz Ludwig an seinen Grundsätzen fest.182 Erst im April 1794 aber bat er Kaiser Franz II. um die Lehnsmutung, die Fichtl beim Reichshofrat einreichte.183 Zu einer Reichsbelehnung kam es nicht mehr. Bald nach seiner Wahl im April 1795 erklärte der letzte Fürstbischof Christoph Franz von Buseck, er wolle die Belehnung nicht lange hinausschieben.184 Im Herbst sandte er das Mutungsschreiben nach Wien.185 Bei dessen Überreichung beim Reichshofrat kam es aber zu Schwierigkeiten, weil die päpstliche Konfirmationsbulle nicht im Original beigefügt war.186 Agent Fichtl schlug ___________ 177
1781 Oktober 6: StAB, B 21, 35I, p. 158 f. 1781 November 9: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 641. 179 1781 Dezember 15: StAB, A 20, 191; Bericht des Gesandten: StAB, B 21, 35I, p. 163-170; 1782 Februar 24 Recreditiv Josephs II.: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 641; StAB, B 21, 35I, p. 178 f.; Lehnseid: HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 641. 180 1790 April 9, 11: StAB, HStB, neuverzeichnete Akten 4652 (alt B 33VII, 46II). – Hans Joachim Berbig, Das kaiserliche Hochstift Bamberg und das Heilige Römische Reich vom Westfälischen Frieden bis zur Säkularisation, 2 Bde. (Beiträge zur Geschichte der Reichskirche in der Neuzeit 5, 6), Wiesbaden 1976, hier Bd. 2, S. 325. 181 1791 Februar 10: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 642I (alt: B 22b, 3c), dazu StAB, HStB, Lehenhof, B 58/X, Nr. 16182 (alt: B 22b, 5). 182 1792 April 26, Mai 4: StAB, HStB, neuverzeichnete Akten 4652. 183 1794 April 30: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 642I, dazu StAB, HStB, Lehenhof, B 58/X, Nr. 16182. 184 1795 Mai 20: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 642I, dazu StAB, HStB, Lehenhof, B 58/X, Nr. 16182. 185 1795 Oktober 30: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 642I. 186 1795 Oktober 30: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 642I. 178
Die Reichsbelehnung in der Neuzeit
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dann vor, den Olmützer Domherren Graf von Serény mit der Vertretung bei der Belehnung zu betrauen187, doch konnte sich Christoph Franz nicht dazu entschließen. Im folgenden Jahr erklärte Buseck, daß der feierliche Belehnungsakt durch den Kaiser in Kürze bevorstehe, doch unter Franz II. ist keine Reichsbelehnung mehr für Bamberg nachweisbar.188 Trotzdem blieben Diplomaten und Juristen von der Unabdingbarkeit einer Reichsbelehnung überzeugt. Letztmals wird sie im Zusammenhang mit der Wahl des Würzburger Fürstbischofs Georg Karl von Fechenbach zum Koadjutor Busecks am 26. Mai 1800 in der Bamberger Überlieferung erwähnt.189 Der kaiserliche Wahlkommissar Joseph Heinrich Graf von Schlick verband mit seiner Gratulation bei dem Einsetzungsakt im Dom die Versicherung, daß der Neoelekt bei Erledigung des Bamberger Bischofsstuhles bis zur Erteilung der Reichsbelehnung vom Kaiser die einstweilige Verwaltung übertragen bekommen werde.190 Die zeremoniellen Einzelheiten des Belehnungsvorgangs waren Wandlungen unterworfen. Die letzte persönliche Belehnung eines Bamberger Fürstbischofs fand 1635 durch Kaiser Ferdinand II. statt. Die Verfeinerung des Zeremoniells mit großem Einzug des Gesandten, festgelegter Kleiderordnung und förmlicher Choreographie beim eigentlichen Belehnungsakt wird besonders unter den Kaisern Leopold I., Karl VI. und Franz I. greifbar. Auch wenn Joseph II. auf manche Äußerlichkeiten verzichtete, so blieb der Kern des Lehnswesens doch unangetastet. Es bedeutete die Verpflichtung des Belehnten zu Treue und Gehorsam gegenüber Kaiser und Reich, wie es in der Eidesformel festgelegt war: „gelobe ich [...] NN [...] von der Regalien und Lehen wegen, die ihm jetzo verliehen werden, um hinfüro von dieser Stund an Euer Kaiserlichen Majestät und allen derselben Nachkommen am Reiche Römischen Kaisern und Königen, und dem heiligen Reich getreu, hold, gehorsam und gewärtig, auch nimmermehr wissentlich in dem Rath seyn solle, noch will, da ichtwas wider Euer Kaiserliche Majestät Person, Ehr, Würde, oder Stand fürgenommen würde, noch darein willigen, oder gehalten in einige Weise, sondern Euer Kaiserlichen Majestät und des heiligen Römischen Reiche Ehre, Nutzen, und Frommen betrachten und beförderen, allem ihren vermögen nach.“191
Wenn unter den Kaisern Leopold II. und Franz II. keine Reichsbelehnung für Bamberg mehr erfolgte, so lag dies weniger an einer Aufgabe des Lehnswe___________ 187
1795 Oktober 24: StAB, HStB, Lehenhof, B 58/X, Nr. 16182. Hofkammerprotokoll 1796 März 17: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 642I. – Berbig, Bd. 1 (wie Anm. 180), S. 96 Anm. 549. 189 Christ (wie Anm. 7), S. 203-205. 190 Bericht Schlicks 1800 Mai 26 mit Zeremonialprotokoll: HHStAW, Reichskanzlei, Berichte aus dem Reich 182, Nr. 27. 191 Formel des Lehnseids 1755: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 637, verbessert nach 1781: StAB, HStB, Geh. Kanzlei, Nr. 641. 188
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sens als an den kurzen Regierungszeiten und kriegerischen Ereignissen. Die Bamberger Regierung und auch die Wiener Gesandten waren sich bewußt, daß die Reichsbelehnung zur Ausübung der Regierungsgewalt nötig war. Das Lehnswesen gehörte zu den unabdingbaren Bestandteilen der Reichsverfassung.
Anhang
Schriftenverzeichnis Helmut Neuhaus I. Bücher 1.
Reichstag und Supplikationsausschuß. Ein Beitrag zur Reichsverfassungsgeschichte der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 24), Berlin 1977.
2.
Die Konstitutionen des Corps Teutonia zu Marburg. Untersuchungen zur Verfassungsentwicklung eines Kösener Corps in seiner 150jährigen Geschichte, Marburg (Lahn) 1979.
3.
Religiöse Bewegungen und soziale Umbrüche an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit (Kurs: Geschichte/Politik. Unterrichtsmaterialien für die Sekundärstufe II, hg. von Reiner Pommerin), Düsseldorf 1980.
4.
Reichsständische Repräsentationsformen im 16. Jahrhundert. Reichstag – Reichskreistag – Reichsdeputationstag (Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 33), Berlin 1982.
5.
Vom „obristen Vheldthaubtman“ des Reiches zur Stehenden Reichsgeneralität. Untersuchungen zu Reichskriegsverfassung und Sozialgeschichte des Alten Reiches, 3 Bde. (Habilitationsschrift [Masch.]), Köln 1985.
6.
Das Reich in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 42), München 1997, 2. Aufl. 2003.
7.
Zeitalter des Absolutismus. 1648-1789 (Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, Bd. 5), Stuttgart 1997.
8.
Das Heilige Römische Reich. Schauplätze einer tausendjährigen Geschichte (8431806), Köln/Weimar/Wien 2005; 2. Auflage 2006 [zusammen mit Klaus Herbers].
9.
150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Eine Chronik, München 2008.
II. Aufsätze 10. Supplikationen als landesgeschichtliche Quellen. Das Beispiel der Landgrafschaft Hessen im 16. Jahrhundert, Erster Teil, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 28 (1978), S. 110-190, Zweiter Teil, in: ebd. 29 (1979), S. 63-97. 11. Ferdinands I. Reichstagsplan 1534/35. Politische Meinungsumfrage im Kampf um die Reichsverfassung. Erster Teil, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 32 (1979), S. 24-47, Zweiter Teil, in: ebd. 33 (1980), S. 22-57. 12. Der Augsburger Reichstag des Jahres 1530. Ein Forschungsbericht, in: Zeitschrift für Historische Forschung 9 (1982), S. 167-211.
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Helmut Neuhaus
13. Zwänge und Entwicklungsmöglichkeiten reichsständischer Beratungsformen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Historische Forschung 10 (1983), S. 279-298. 14. Das Reich und die Wiedertäufer von Münster, in: Westfälische Zeitschrift 133 (1983), S. 9-36. 15. Die rheinischen Kurfürsten, der Kurrheinische Kreis und das Reich im 16. Jahrhundert, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 48 (1984), S. 138-160. 16. Prinz Eugen als Reichsgeneral, in: Prinz Eugen von Savoyen und seine Zeit. Eine Ploetz-Biographie, hg. von Johannes Kunisch, Freiburg im Breisgau/Würzburg 1986, S. 163-177. 17. Das Problem der militärischen Exekutive in der Spätphase des Alten Reiches, in: Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit, in Zusammenarbeit mit Barbara Stollberg-Rilinger hg. von Johannes Kunisch (Historische Forschungen, Bd. 28), Berlin 1986, S. 297-346. 18. Wandlungen der Reichstagsorganisation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte. hg. von Johannes Kunisch (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 3), Berlin 1987, S. 113-140. 19. Das Reich im Kampf gegen Friedrich den Großen. Reichsarmee und Reichskriegsführung im Siebenjährigen Krieg, in: Europa im Zeitalter Friedrichs des Großen. Wirtschaft, Gesellschaft, Kriege, hg. von Bernhard R. Kroener (Beiträge zur Militärgeschichte, Bd. 26), München 1989, S. 213-243. 20. The Federal Principle and the Holy Roman Empire, in: Germain and American Constitutional Thougt. Contexts, Interaction, and Historical Realities, ed. by Hermann Wellenreuther (Germany and the United States of America. The Krefeld Historical Symposia, Vol. 1), New York/Oxford/München 1990, S. 27-49; deutsch: Providence/Oxford 1991, S. 31-53. 21. Das Ende der Monarchien in Deutschland 1918, in: Historisches Jahrbuch 111 (1991), S. 102-136. 22. Franken in Diensten von Kaiser und Reich (1648-1806), in: Festschrift Alfred Wendehorst zum 65. Geburtstag gewidmet von Kollegen, Freunden, Schülern, hg. von Jürgen Schneider und Gerhard Rechter, Bd. 2 (Jahrbuch für fränkische Landesforschung, Bd. 53), Neustadt a. d. Aisch, 1992, S. 131-158. 23. Hie Österreich – hier Fritzisch. Die Wende der 1740er Jahre in der Geschichte des Alten Reiches, in: Aufbruch aus dem Ancien régime. Beiträge zur Geschichte des 18. Jahrhunderts, hg. von Helmut Neuhaus, Köln/Weimar/Wien 1993, S. 57-77. 24. Die Gründung der Universität Erlangen in ihrer Zeit, in: Christoph Friederich (Hg.), Die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg 1743-1993. Geschichte einer deutschen Hochschule. Ausstellung im Stadtmuseum Erlangen 24.10.199327.2.1994 (Veröffentlichungen des Stadtmuseums Erlangen, Nr. 43), Nürnberg 1993, S. 23-34. 25. Andreas Elias Roßmann und die Universität Erlangen (mit Edition seiner Denkschrift von 1743), in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 54 (1994), S. 271-298. 26. Zwischen Praxis und Wissenschaft. Kurt G. A. Jeserich und die deutsche Verwaltungsgeschichte, in: Verfassung und Verwaltung. Festschrift für Kurt G. A. Jeserich zum 90. Geburtstag, hg. von Helmut Neuhaus, Köln/Weimar/Wien 1994, S. 3-29.
Schriftenverzeichnis
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27. Der Niederrheinisch-Westfälische Reichskreis – eine Region des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in der Frühen Neuzeit?, in: Regionen in der Frühen Neuzeit, hg. von Peter Claus Hartmann (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 17), Berlin 1994, S. 79-96; geringfügig überarbeitet in: Westfälische Forschungen 52 (2002), S. 95-110. 28. Zwischen Krieg und Frieden. Joachim Sandrarts Nürnberger Friedensmahl-Gemälde von 1649/50, in: Bilder erzählen Geschichte, hg. von Helmut Altrichter (Rombach Historiae, Bd. 6), Freiburg im Breisgau 1995, S. 167-199. 29. Von Karl V. zu Ferdinand I. Herrschaftsübergang im Heiligen Römischen Reich 1555-1558, in: Recht und Reich im Zeitalter der Reformation. Festschrift für Horst Rabe, unter Mitarbeit von Bettina Braun und Heide Stratenwerth hg. von Christine Roll, Frankfurt (Main) 1996, S. 417-440. 30. Das Ende des Alten Reiches, in: Das Ende von Großreichen, hg. von Helmut Altrichter und Helmut Neuhaus (Erlanger Studien zur Geschichte, Bd. 1), Erlangen/Jena 1996, S. 185-209. 31. Der Historiker und der Zufall, in: Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, hg. von Frank-Lothar Kroll, Paderborn 1996, S. 6180; auch in: Über den Zufall, hg. von Henning Kößler (Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften, Bd. 75), Erlangen 1996, S. 83-111. 32. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation am Ende des Dreißigjährigen Krieges (1648-1654), in: Nachkriegszeiten – Die Stunde Null als Realität und Mythos in der deutschen Geschichte. Acta Hohenschwangau 1995, hg. von Stefan Krimm/ Wieland Zirbs, München 1996, S. 10-33. 33. Fremd in der Nähe – nah in der Fremde. Leben mit Fremden in der Frühen Neuzeit, in: Leben mit Fremden. Atzelsberger Gespräche 1996, hg. von Helmut Neuhaus (Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften, Bd. 77), Erlangen 1997, S. 725. 34. Die Römische Königswahl vivente imperatore in der Neuzeit. Zum Problem der Kontinuität in einer frühneuzeitlichen Wahlmonarchie, in: Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte, hg. von Johannes Kunisch (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 19), Berlin 1997, S. 1-53. 35. Auf dem Wege von „Unsern gesamten Staaten“ zu „Unserm Reiche“. Zur staatlichen Integration des Königreiches Bayern zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Staatliche Vereinigung: Fördernde und hemmende Elemente in der deutschen Geschichte. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 13.03.15.03.1995, hg. von Wilhelm Brauneder (Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre, öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte, Beiheft 12), Berlin 1998, S. 107-126. 36. Die Rolle der Mainzer Kurfürsten und Erzkanzler auf Reichsdeputations- und Reichskreistagen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Kurmainz, das Reichserzkanzleramt und das Reich am Ende des Mittelalters und im 16. und 17. Jahrhundert, hg. von Peter Claus Hartmann (Geschichtliche Landeskunde, Bd. 47), Stuttgart 1998, S. 121-135. 37. Der Westfälische Frieden und Franken, in: Der Westfälische Frieden 1648 und der deutsche Protestantismus, hg. von Bernd Hey (Religion in der Geschichte. Kirche, Kultur und Gesellschaft, Bd. 3), Bielefeld 1998, S. 147-171.
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Helmut Neuhaus
38. Von Reichstag(en) zu Reichstag. Reichsständische Beratungsformen von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, in: Reichsständische Libertät und habsburgisches Kaisertum, hg. von Heinz Duchhardt/Matthias Schnettger (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte, Beiheft 48), Mainz 1999, S. 135-149. 39. Die Begründung der Leipziger Messe und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation in den Jahren 1497/1507, in: Leipzigs Messen 1497-1997. Gestaltwandel – Umbrüche – Neubeginn. Teilbd. 1: 1497-1914, hg. von Hartmut Zwahr/Thomas Topfstedt/Günter Bentele (Geschichte und Politik in Sachsen, Bd. 9/1), Köln/Weimar/Wien 1999, S. 51-60. 40. Zum Ort der „Atzelsberger Gespräche“. Aus der Geschichte Schloß Atzelsbergs und seiner Eigentümer in der Neuzeit, in: Mäzenatentum – Stiftungswesen – Sponsoring. Atzelsberger Gespräche 1998, hg. von Helmut Neuhaus (Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften, Bd. 87), Erlangen 1999, S. 13-53. 41. Schloß Atzelsberg und seine Besitzer. Von Johann Conradt von Seutters „Schlößle“ zu Erlangens „guter Stube“, in: Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung 47 (1999), S. 9-38. 42. Der Einbruch der Neuzeit in die mittelalterliche Stadt, in: Stadt-Ansichten, hg. von Jürgen Lehmann und Eckart Liebau (Bibliotheca Academia. Sammlung interdisziplinärer Studien, Bd. 1), Würzburg 2000, S. 125-143. 43. „Supplizieren und Wassertrinken sind jedem gestattet“. Über den Zugang des Einzelnen zum frühneuzeitlichen Ständestaat, in: Staat – Souveränität – Verfassung, Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, hg. von Dietrich Murswiek/Ulrich Storost/Heinrich A. Wolff (Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 814), Berlin 2000, S. 475-492. 44. Mit Gadendam fing alles an. Erlanger Geschichtswissenschaft von 1743 bis 1872, in: Geschichtswissenschaft in Erlangen, hg. von Helmut Neuhaus (Erlanger Studien zur Geschichte, Bd. 6), Erlangen/Jena 2000, S. 9-44. 45. Nürnberg – eine Reichsstadt im Herzen Europas in Früher Neuzeit, in: Nürnbergs große Zeit. Reichsstädtische Renaissance, europäischer Humanismus, hg. von Oscar Schneider, Cadolzburg 2000, S. 192-213, S. 269-279. 46. Zwischen Realität und Romantik: Nürnberg im Europa der Frühen Neuzeit, in: Nürnberg. Eine europäische Stadt in Mittelalter und Neuzeit, hg. von Helmut Neuhaus (Nürnberger Forschungen, Bd. 29), Nürnberg 2000, S. 43-68. 47. Reichskreise und Reichskriege in der Frühen Neuzeit, in: Reichskreis und Territorium: Die Herrschaft über der Herrschaft? Supraterritoriale Tendenzen in Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Vergleich süddeutscher Reichskreise, hg. von Wolfgang Wüst (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens, Bd. 7), Stuttgart 2000, S. 71-88. 48. Die brandenburgischen Kurfürsten im Jahrhundert der Reformation (1499-1598), in: Preußens Herrscher. Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II., hg. von FrankLothar Kroll, München 2000, 2. Auflage 2001, S. 52-73, S. 319-321 (TaschenbuchAusgabe: becksche reihe [BsR]. München 2006, S. 52-73, S. 319-321). 49. Bilder vom Nürnberger Exekutionstag (1649/50) aus zwei Jahrhunderten, in: Festschrift Rudolf Endres. Zum 65. Geburtstag gewidmet von Kollegen, Freunden und
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Schülern, hg. von Charlotte Bühl und Peter Fleischmann (Jahrbuch für fränkische Landesforschung, Bd. 60), Neustadt a. d. Aisch 2000, S. 294-317. 50. Karl Hegel (1813-1901) – Ein (fast) vergessener Historiker des 19. Jahrhunderts, in: Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur deutschen Universitätsgeschichte. Festschrift für Eike Wolgast zum 65. Geburtstag, hg. von Armin Kohnle/Frank Engehausen, Stuttgart 2001, S. 309-328. 51. Der Streit um den richtigen Platz. Ein Beitrag zu reichsständischen Verfahrensformen in der Frühen Neuzeit, in: Vormoderne politische Verfahren, hg. von Barbara Stollberg-Rilinger (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 25), Berlin 2001, S. 281-302. 52. Rey de Romanos a la sombra de su hermano? Relaciones entre Carlos V y Fernando I, in: Carlos V/Karl V. 1500-2000 [hg. von Alfred Kohler], Madrid 2001, S. 91-1004. 53. Die Wiedervereinigung Badens im Jahre 1771, in: Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas. Festschrift für Johannes Kunisch zur Vollendung seines 65. Lebensjahres, dargebracht von Schülern, Freunden und Kollegen, hg. von Helmut Neuhaus/Barbara Stollberg-Rilinger (Historische Forschungen, Bd. 73), Berlin 2002, S. 359-378. 54. Konfessionalisierung und Territorialstaat, in: Handbuch der Geschichte der evangelischen Kirche in Bayern, Bd. 1: Von den Anfängen des Christentums bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, hg. von Gerhard Müller/Horst Weigelt/Wolfgang Zorn, St. Ottilien 2002, S. 343-361. 55. Friedrich Wilhelm I. Brandenburg-Preußens „größter innerer König“, in: Macht- oder Kulturstaat? Preußen ohne Legende, hg. von Bernd Heidenreich/Frank-Lothar Kroll, Berlin 2002, S. 21-30. 56. Nürnberg in der Welt. Der Blick von außen auf die Reichsstadt an der Pegnitz in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 2002, Nürnberg 2002, S. 20-28. 57. Römischer König im Schatten des kaiserlichen Bruders? Zum Verhältnis zwischen Karl V. und Ferdinand I., in: Karl V. 1500-1558. Neue Perspektiven seiner Herrschaft in Europa und Übersee, hg. von Alfred Kohler/Barbara Haider/Christine Ottner unter Mitarbeit von Martina Fuchs (Zentraleuropa-Studien, Bd. 6), Wien 2002, S. 345-358. 58. Die Hugenotten in Franken. Mentalitäts- und Technologietransfer in der Frühen Neuzeit, in: Europäische Begegnungen: Im Westen Neues! Deutschland und Frankreich seit dem Hochmittelalter. Acta Hohenschwangau 2001, hg. von Stefan Krimm/Ursula Triller, München 2002, S. 31-50. 59. Maximilian I., Bayerns Großer Kurfürst, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 65 (2002), S. 5-23. 60. Die Fürstin als Witwe in der europäischen Geschichte der Frühen Neuzeit, in: Das Erlanger Schloß als Witwensitz 1712-1817. Eine Ausstellung der Universitätsbibliothek, 15. November – 8. Dezember 2002, Katalog hg. von Christina HofmannRandall (Schriften der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, Bd. 41), Erlangen 2002, S. 9-39.
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61. Wenn Fürsten Reisen ... Die Frankreich- und Italien-Reise der Markgräfin Wilhelmine von Brandenburg-Bayreuth in den Jahren 1754/55, in: Archiv für Kulturgeschichte 84 (2002), S. 347-378. 62. Karl Hegel und Erlangen, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 62 (2002), S. 259-277. 63. Franken und das Reich. Fränkischer Adel im Reichsdienst während der Frühen Neuzeit, in: Franken. Vorstellung und Wirklichkeit in der Geschichte, hg. von Werner K. Blessing/Dieter J. Weiß (Franconia. Beihefte zum Jahrbuch für fränkische Landesforschung, Bd. 1), Neustadt a. d. Aisch 2003, S. 193-209. 64. Hundert Jahre „Archiv für Kulturgeschichte“, in: Archiv für Kulturgeschichte 85 (2003), S. 1-28. 65. Der Passauer Vertrag und die Entwicklung des Reichsreligionsrechts: Vom Nürnberger Anstand zum Augsburger Religionsfrieden, in: Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung. Festschrift für Christoph Link zum siebzigsten Geburtstag, hg. von Heinrich de Wall/Michael Germann, Tübingen 2003, S. 751-765; auch in: Der Passauer Vertrag von 1552. Politische Entstehung, reichsrechtliche Bedeutung und konfessionsgeschichtliche Bewertung, hg. von Winfried Becker (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns, Bd. 80), Neustadt a. d. Aisch 2003, S. 139-150. 66. 31. Oktober 1517: Der Bastillesturm der Protestanten, in: Tage deutscher Geschichte. Von der Reformation bis zur Wiedervereinigung, hg. von Eckart Conze/Thomas Nicklas, München 2004, S. 57-72. 67. Das Reich als Mythos in der neueren Geschichte, in: Mythen in der Geschichte, hg. von Helmut Altrichter/Klaus Herbers/Helmut Neuhaus (Rombach Wissenschaften, Reihe Historiae, Bd. 16), Freiburg im Breisgau 2004, S. 293-320. 68. Die Brentanos. Eine deutsche Familie in der Frühen Neuzeit, in: Heinrich von Brentano. Ein Wegbereiter der europäischen Integration, hg. von Roland Koch, München 2004, S. 3-13. 69. Friedrich August I. 1694-1733, in: Die Herrscher Sachsens. Markgrafen, Kurfürsten, Könige 1089-1918, hg. von Frank-Lothar Kroll, München 2004, S. 173-191, S. 337340 (Taschenbuch-Ausgabe: becksche reihe [BsR], München 2007, S. 173-191, S. 338-340). 70. Kronerwerb und Staatskonsolidierung. Der Aufstieg Brandenburg-Preußens im 18. Jahrhundert als Forschungsproblem, in: Italien und Preußen. Dialog der Historiographien, hg. von Christiane Liermann/Gustavo Corni/Frank-Lothar Kroll (Reihe der Villa Vigoni. Deutsch-italienische Studien, Bd. 18), Tübingen 2005, S. 27-37. 71. Supplikationen auf Reichstagen des 16. Jahrhunderts. Zahl, Inhalt und Funktion, in: Der Reichstag 1486-1613: Kommunikation – Wahrnehmung – Öffentlichkeiten, hg. von Maximilian Lanzinner/Arno Strohmeyer (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 73), Göttingen 2006, S. 149-161. 72. Der Reichstag als Zentrum eines „handelnden“ Reiches, in: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und neue Staaten 1495-1806. 29. Ausstellung des Europarates im Deutschen Historischen Museum, Berlin, 28. August bis 10. Dezember 2006, Bd. 2: Essays, hg. von Heinz Schilling/Werner Heun/Jutta Götzmann, Dresden 2006, S. 43-52.
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73. Das Werden Brandenburg-Preußens, in: Zusammengesetzte Staatlichkeit in der Europäischen Verfassungsgeschichte. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 19.3. – 21.3.2001, hg. von Hans-Jürgen Becker (Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre, Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches öffentliches Recht, Beiheft 16), Berlin 2006, S. 237-256. 74. Gräfenberg im preußisch-bayerischen Krieg von 1866. Zur historischen Einordnung einer kleinen Episode, in: Festschrift Werner K. Blessing. Zum 65. Geburtstag gewidmet von Kollegen, Freunden und Schülern, hg. von Christoph Hübner/Pascal Metzger/Irene Ramorobi/Clemens Wachter (Jahrbuch für fränkische Landesforschung, Bd. 66), Stegaurach 2006, S. 319-330. 75. Im Schatten des Vaters. Der Historiker Karl Hegel (1813-1901) und die Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 286 (2008), S. 63-89. 76. Territorial- und Herrschergeschichte als Reichsgeschichte im 16. und 17. Jahrhundert, in: „... für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“. 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Lothar Gall, München 2008, S. 121-150. 77. Das Heilige Römische Reich in Mittelalter und Früher Neuzeit, in: Friedrich Edelmayer u.a. (Hg.), Plus ultra. Die Welt der Neuzeit. Festschrift für Alfred Kohler zum 65. Geburtstag, Münster 2008, S. 21-36.
III. Artikel und Beiträge 78a. Soziale Bewegungen in der frühen Neuzeit, in: Helmut Castritius/Friedrich Lotter/Hermann Meyer/Helmut Neuhaus: Herrschaft – Gesellschaft – Wirtschaft. Geschichtsbetrachtung unter didaktischem Aspekt. Darstellungsband und 2 Quellenbände, Donauwörth 1973, Darstellungsbd., S. 191-213, Quellenbd. II, S. 9-26. 78b. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Hintergründe der Französischen Revolution, in: ebd., S. 214-237 bzw. S. 27-44. 78c. Die soziale Problematik der preußischen Bauernbefreiung, in: ebd., S. 238-259 bzw. S. 45-65. 79. Der Germanist Dr. phil. Joseph Goebbels. Bemerkungen zur Sprache des Joseph Goebbels in seiner Dissertation aus dem Jahre 1922, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 93 (1974), S. 398-416. 80a. Reformation, Gegenreformation, Dreißigjähriger Krieg. Ereignisse und Entwicklungen 1493-1648, in: Ploetz, Deutsche Geschichte, Epochen und Daten, hg. von Werner Conze/Volker Hentschel, Freiburg/Würzburg 1979, 61996, S. 112-132. 80b. Absolutismus und Aufklärung. Ereignisse und Entwicklungen 1649-1972, in: ebd., S. 141-156. [Beide Teile auch unter dem Titel „Heiliges Römisches Reich, Österreich und Brandenburg-Preußen (1493-1790/92)“, in: Der Große Ploetz, Auszug aus der Geschichte, 29., völlig neu bearbeitete Auflage, Freiburg/Würzburg 1980, S. 633-665; ferner in: Ploetz. Große illustrierte Weltgeschichte in 8 Bänden, Bd. 4: Das Werden des modernen Europa, Freiburg/Würzburg 1984, S. 69-113. – Beide Teile leicht gekürzt in: Deutschland-Ploetz. Deutsche Geschichte zum Nachschlagen von Werner Conze un-
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Helmut Neuhaus ter Mitwirkung von Andreas Hillgruber, Peter Hüttenberger, Peter Moraw, Helmut Neuhaus und Jürgen Petersohn, Freiburg im Breisgau/Würzburg 1986, S. 88-118 und S. 119-143; dann unter dem Titel „Deutschland 1493 bis 1790/92: Heiliges Römisches Reich, Österreich und Brandenburg-Preußen“, in: Der Große Ploetz. Die Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte. Daten, Fakten, Zusammenhänge, begründet von Dr. Carl Ploetz, 32. neubearbeitete Auflage, Freiburg im Breisgau 1998, S. 803836].
81. Chronologie erb- und thronfolgerechtlicher Bestimmungen europäischer Fürstenhäuser und Staaten, in: Der dynastische Fürstenstaat. Zur Bedeutung von Sukzessionsordnungen für die Entstehung des frühmodernen Staates, in Zusammenarbeit mit Helmut Neuhaus hg. von Johannes Kunisch (Historische Forschungen, Bd. 21), Berlin 1982, S. 385-390. 82a. Artikel „Lamboy, Wilhelm Graf v.“, in: Neue Deutsche Biographie 13 (1982), S. 440 f. 82b. Artikel „Latour, Graf Baillet de“, in: ebd., S. 683 f. 82c. Artikel „Lodron, Grafen v.“, in: ebd. 15 (1987), S. 11-13. 82d. Artikel „Mercy (Mercy-Argenteau), Freiherren und Grafen“, in: ebd. 17 (1994), S. 124-128. 82e. Artikel „Montecuccoli“, in: ebd. 18 (1997), S. 44-47. 83. Martin Luther in Geschichte und Gegenwart. Neuerscheinungen anläßlich des 500. Geburtstages des Reformators, in: Archiv für Kulturgeschichte 66 (1984), S. 425479. 84a. Artikel „Reichsdeputation“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, Berlin 1986, Sp. 549-553. 84b. Artikel „Reichskrieg“, in: ebd., Sp. 687-693. 84c. Artikel „Supplikationsausschuß“, in: ebd., Bd. 5, Berlin 1991, Sp. 92-94. 85. Mehr als 100 Artikel zur frühneuzeitlichen Geschichte des Heiligen Römischen Reiches in: Brockhaus Enzyklopädie, 19. Auflage, ab Bd. 5, Mannheim 1986. 86. Ein Monstrum als Garant des Friedens. Zur Aktualität des Heiligen Römischen Reiches, in: Die Welt, Nr. 116 (19. Mai 1990), S. 23. 87. Theoretische und historische Grundlagen des föderalen Bundesstaates in Deutschland, in: Zeitschrift zur politischen Bildung und Information, Heft 4 (1990), S. 1-10. 87a. Veit Ludwig von Seckendorff (1626-1692), in: Persönlichkeiten der Verwaltung. Biographien zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1648-1945, unter Mitarbeit von Frank-Lothar Kroll und Manfred Nebelin hg. von Kurt G. A. Jeserich/Helmut Neuhaus, Stuttgart 1991, S. 3-7. 87b. Eberhard Christoph von Danckelman (1643-1722), in: ebd., S. 8-12. 87c. Friedrich Wilhelm I. von Hohenzollern (1688-1740), in: ebd., S. 18-22. 87d. Friedrich Wilhelm Graf Haugwitz (1702-1765), in: ebd., S. 27-31. 87e. (zusammen mit Franz-Lothar Kroll und Manfred Nebelin) Biographische Skizzen, in: ebd., S. 479-546.
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88. „Wahre Wissenschaft ist Krieg gegen sich selbst“, in: Die Welt, Nr. 87 (11. April 1992), S. 23. 89. Wie alt ist Europa? Die Idee im historischen Kontext, in: Zeitschrift zur politischen Bildung 30 [Heft 1] (1993), S. 4-10. 90. Ein literarischer Historiker. Dem Menschen verpflichtet: Golo Mann ist 85jährig gestorben, in: Die Welt, Nr. 82 (9. April 1994), S. 3. 91. Frühneuzeitliche Ständeversammlung und modernes Parlament. Vortrag anläßlich der Eröffnung der Ausstellung des Bayerischen Landtags zum Thema „Die historische Entwicklung des Bayerischen Parlaments“ am 10. November 1993 im Willstätter-Gymnasium Nürnberg, in: Willstätter-Gymnasium Nürnberg, Europäisches Gymnasium, Jahresbericht 93/94, S. 40-44. 92. Karl III. von Spanien und seine Zeit (1759-1788). Bemerkungen zu einer Quellenedition, in: Historisches Jahrbuch 114 (1994), S. 125-134. 92a. Ohnmächtiger Riese – Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation (1495-1618), in: Um Glaube und Herrschaft (600-1650), hg. von der Brockhaus-Redaktion (Brockhaus. Die Bibliothek: Die Weltgeschichte, Bd. 3, Leipzig/Mannheim 1998, S. 538-547. 92b. Um Religion und Macht – Der Dreißigjährige Krieg, in: ebd., S. 548-557. 92c. Katholische Vormacht – Hegemonie Spaniens im 16. und 17. Jahrhundert, in: ebd., S. 518-523. 93a. Frieden, in: Von teutscher Not zu höfischer Pracht. 1648-1701, hg. von G. Ulrich Großmann unter Mitarbeit von Franziska Bachner und Doris Gerstl (Ausstellungskatalog des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg), Nürnberg 1998, S. 13 f. 93b. Das Reich: Verfassung und Politik, in: ebd., S. 69 f. 94. Nach dreißig Jahren Krieg. Freude und Zweifel: Wie der Westfälische Friede 1648 nach Nürnberg kam, in: Nürnberger Zeitung / Nordbayerische Zeitung, Nr. 247 (24. Oktober 1998), NZ am Wochenende, S. 1. 95. Nürnberger Friedensmahl 1532-1996, in: Christen, Juden und Muslime. Dokumente zum Zusammenleben der Religionen in Nürnberg. Mit [...] einer ausführlichen Dokumentation zum „Nürnberger Friedensmahl 1996“, hg. von der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Nürnberg, Nürnberg 1999, S. 31-33. 96. Nürnberg und das Heilige Römische Reich, in: Stadtlexikon Nürnberg, hg. von Michael Diefenbacher/Rudolf Endres, Nürnberg 1999, S. 756 f. 97. Westfälischer Frieden und Dreißigjähriger Krieg. Neuerscheinungen aus Anlaß eines Jubiläums, in: Archiv für Kulturgeschichte 82 (2000), S. 455-475. 98. Der Fränkische Reichskreis. Seine Bedeutung für Franken 1500 bis heute, in: Franken. Vom Reichskreis zur Europa-Region. 500 Jahre Arbeitsgemeinschaft e. V. (FAG), Schwabach 2001, S. 10-19. 98a. Professor in Rostock, in: Karl Hegel – Historiker im 19. Jahrhundert, unter Mitarbeit von Katja Dotzler, Christoph Hübner u. a. hg. von Helmut Neuhaus (Erlanger Studien zur Geschichte, Bd. 7), Erlangen/Jena 2001, S. 107-109. 98b. Professor in Erlangen, in: ebd., S. 153-156. 98c. Tod und Nachleben, in: ebd., S. 231-233.
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98d. 76 Exponatenbeschreibungen in: ebd., S. 5-247, passim. 99. Die Hugenottenstadt, in: Christoph Friederich/Bertold Frhr. von Haller/Andreas Jakob (Hg.), Erlanger Stadtlexikon, Nürnberg 2002, S. 62-65. 99a. Artikel „Gadendam, Johann Wilhelm“, in: ebd., S. 297. 99b. Artikel „Hegel, Karl von“, in: ebd., S. 348 f. 99c. Artikel „Historisches Seminar“, in: ebd., S. 369 f. 100. In memoriam Fritz Wagner (5.12.1908-2.3.2003), in: Archiv für Kulturgeschichte 85 (2003), S. 387-391. 101. Reich, Reichsverfassung, in: Helmut Reinalter (Hg.), Lexikon zum Aufgeklärten Absolutismus in Europa. Herrscher – Denker – Sachbegriffe (UTB, Bd. 8316), Köln/ Wien/Weimar 2005, S. 520-525. 102. „Defension“ – Das frühneuzeitliche Heilige Römische Reich als Verteidigungsgemeinschaft, in: Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hg.), Lesebuch Altes Reich (bibliothek Altes Reich, Bd. 1), München 2006, S. 119-126, S. 257 f. 103. Wegweisendes Œuvre und komplexe Persönlichkeit. Der 75. Band der Schriftenreihe der Historischen Kommission widmet sich dem Werk des Göttinger Mediävisten Percy Ernst Schramm, in: Akademie Aktuell. Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Heft 4 (2006), S. 49-51. 104. Lothar Gall zum 70. Geburtstag. Von München aus das Ganze der deutschen Geschichte im Blick, in: Akademie Aktuell. Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Heft 1 (2007), S. 52 f. 105. 50 Jahre Schriftenreihe der Historischen Kommission, in: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München, Jahresbericht 2006, München 2007, S. 33-45. 106. 1843-1914, in: Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen/ Nürnberg 2007, S. 44-63. 107. „Der gelehrten Welt Ergebnisse vorzulegen ...“, in: Akademie Aktuell. Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Heft 2 (2008), S. 11-14.
IV. Herausgebertätigkeit (Sammelbände) 108. Der dynastische Fürstenstaat. Zur Bedeutung von Sukzessionsordnungen für die Entstehung des frühmodernen Staates, in Zusammenarbeit mit Helmut Neuhaus hg. von Johannes Kunisch (Historische Forschungen, Bd. 21), Berlin 1982. 109. Persönlichkeiten der Verwaltung. Biographien zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1648-1945, unter Mitarbeit von Frank-Lothar Kroll und Manfred Nebelin hg. von Kurt G. A. Jeserich/Helmut Neuhaus, Stuttgart 1991. 110. Aufbruch aus dem Ancien régime. Beiträge zur Geschichte des 18. Jahrhunderts, hg. von Helmut Neuhaus, Köln/Weimar/Wien 1993. 111. Verfassung und Verwaltung. Festschrift für Kurt G. A. Jeserich zum 90. Geburtstag, hg. von Helmut Neuhaus, Köln/Weimar/Wien 1994.
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112. Das Ende von Großreichen, hg. von Helmut Altrichter und Helmut Neuhaus (Erlanger Studien zur Geschichte, Bd. 1), Erlangen/Jena 1996. 113. Leben mit Fremden. Atzelsberger Gespräche 1996, hg. von Helmut Neuhaus (Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften, Bd. 77), Erlangen 1997. 114. Mäzenatentum – Stiftungswesen – Sponsoring. Atzelsberger Gespräche 1998, hg. von Helmut Neuhaus (Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften, Bd. 87), Erlangen 1999. 115. Geschichtswissenschaft in Erlangen, hg. von Helmut Neuhaus (Erlanger Studien zur Geschichte, Bd. 6), Erlangen/Jena 2000. 116. Sicherheit in der Gesellschaft heute: Wirklichkeit und Aufgabe. Atzelsberger Gespräche 1999. Drei Vorträge. Hg. von Helmut Neuhaus (Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften, Bd. 92), Erlangen 2000. 117. Nürnberg. Eine europäische Stadt in Mittelalter und Neuzeit, hg. von Helmut Neuhaus (Nürnberger Forschungen, Bd. 29), Nürnberg 2000. 118. Sicherheit in der Welt heute. Geschichtliche Entwicklung und Perspektiven. Atzelsberger Gespräche 2000. Drei Vorträge, hg. von Helmut Neuhaus (Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften, Bd. 94), Erlangen 2001. 119. Karl Hegel – Historiker im 19. Jahrhundert, unter Mitarbeit von Katja Dotzler/ Christoph Hübner/Thomas Joswiak/Marion Kreis/Bruno Kuntke/Jörg Sandreuther/ Christian Schöffel hg. von Helmut Neuhaus (Erlanger Studien zur Geschichte, Bd. 7), Erlangen/Jena 2001. 120. Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas. Festschrift für Johannes Kunisch zur Vollendung seines 65. Lebensjahres, dargebracht von Schülern, Freunden und Kollegen, hg. von Helmut Neuhaus/Barbara Stollberg-Rilinger (Historische Forschungen, Bd. 73), Berlin 2002. 121. Migration und Integration. Atzelsberger Gespräche 2001. Drei Vorträge, hg. von Helmut Neuhaus (Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften, Bd. 98), Erlangen 2002. 122. Ethische Grenzen einer globalisierten Wirtschaft. Atzelsberger Gespräche 2002, hg. von Helmut Neuhaus (Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften, Bd. 103), Erlangen 2003. 123. Mythen in der Geschichte, hg. von Helmut Altrichter/Klaus Herbers/Helmut Neuhaus (Rombach Wissenschaften, Reihe Historiae, Bd. 16), Freiburg im Breisgau 2004. 124. Der Mensch in der globalisierten Welt. Atzelsberger Gespräche 2003, hg. von Helmut Neuhaus (Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften, Bd. 107), Erlangen 2004. 125. Fundamentalismus. Erscheinungsformen in Vergangenheit und Gegenwart. Atzelsberger Gespräche 2004, hg. von Helmut Neuhaus (Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften, Bd. 108), Erlangen 2005. 126. Stiftungen gestern und heute. Entlastung für öffentliche Kassen? Atzelsberger Gespräche 2005, hg. von Helmut Neuhaus (Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften, Bd. 110), Erlangen 2006.
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127. „Was du ererbst von deinen Vätern hast ...“ – Erbe, Erben, Vererben. Fünf Vorträge [Erlanger Universitätstage Amberg/Ansbach 2005], hg. von Helmut Neuhaus (Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften, Bd. 112), Erlangen 2006. 128. Die Rolle des Unternehmers in Staat und Gesellschaft. Atzelsberger Gespräche 2006, hg. von Helmut Neuhaus (Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften, Bd. 113), Erlangen 2007. 129. Angst. Atzelsberger Gespräche 2007, hg. von Helmut Neuhaus (Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften, Bd. 115), Erlangen 2008. 130. Die Dr. Alfred-Vinzl-Stiftung an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, hg. von Helmut Neuhaus, Erlangen 2008. 131. Lauter Anfänge. Fünf Vorträge [Erlanger Universitätstage Amberg/Ansbach], hg. von Helmut Neuhaus (Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften, Bd. 117), Erlangen 2008.
V. Herausgebertätigkeit (Reihenwerke und Zeitschriften) 132. Militärgeschichtliche Mitteilungen, hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt durch Günther Roth/Wilhelm Deist in Verbindung mit Heinz Hürten/Eberhard Kolb/Wilfried Loth/Helmut Neuhaus/Winfried Schulze, Bde. 46 ff. (1989 ff.) fortgeführt als Militärgeschichtliche Zeitschrift, Bde. 59-63 (2000-2004). 133. Historische Studien (vormals Historische Studien von Dr. E. Ebering, Berlin 1896 ff.), Bde. 442 ff., Husum 1995 ff. (Schriftleitung). 134. Archiv für Kulturgeschichte, in: Verbindung mit Karl Acham/Günther Binding/ Wolfgang Brückner/Kurt Düwell/Wolfgang Harms/Gustav Adolf Lehmann/Helmut Neuhaus hg. von Egon Boshof, Bde. 78 ff. (1996 ff.), Bde. 84 ff. (2002 ff.), hg. von Helmut Neuhaus. 135. Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, in: Verbindung mit Karl Acham/ Günther Binding/Egon Boshof/Wolfgang Brückner/Kurt Düwell/Wolfgang Harms/Gustav Adolf Lehmann, hg. von Helmut Neuhaus, Bde. 52 ff. (2002 ff.). 136. Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bde. 77 ff. (2007 ff.).
VI. Rezensionen Seit 1978 mehr als 100 Buchbesprechungen für: Zeitschrift für Historische Forschung (ZHF), Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs (MÖSTA), Francia, Historisches Jahrbuch (HJB), Historische Zeitschrift (HZ), Archiv für Kulturgeschichte (AKIG), Nassauische Annalen , Militärgeschichtliche Mitteilungen (MGM), Das Historisch-Politische BUCH (HPB), Rheinische Vierteljahresblätter, Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (VSWG), Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte (ZNR), Annotierte Bibliographie für die politische Bildung, Tageszeitung „Die Welt“, Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte.