Rudolf Haym und die Anfänge des klassischen Liberalismus [Reprint 2019 ed.] 9783486768534, 9783486768527

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German Pages 208 [212] Year 1933

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Table of contents :
VORBEMERKUNG
INHALTSÜBERSICHT
ERSTES KAPITEL. BILDUNGSGRUNDLAGEN UND ERSTLINGSSCHRIFTEN
ZWEITES KAPITEL. DIE BEGRÜNDUNG DES „SITTLICH-PRAKTISCHEN IDEALISMUS"
DRITTES KAPITEL. VOM RELIGIÖSEN ZUM POLITISCHEN LIBERALISMUS
VIERTES KAPITEL. DIE REVOLUTION UND DAS FRANKFURTER PARLAMENT
FÜNFTES KAPITEL. PREUSSISCHE UNIONSPOLITIK UND „KONSTITUTIONELLE ZEITUNG“
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Rudolf Haym und die Anfänge des klassischen Liberalismus [Reprint 2019 ed.]
 9783486768534, 9783486768527

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RUDOLF HAYM UND DIE ANFÄNGE DES KLASSISCHEN LIBERALISMUS VON

HANS ROSENBERG

MÜNCHEN UND BERLIN 1933 VERLAG VON R. OLDENBOURG

B E I H E F T 31 DER H I S T O R I S C H E N

ZEITSCHRIFT

Alle Rechte, einschließlich des Ü b e r s e t z u n g s r e c h t e s , v o r b e h a l t e n DRÜCK VON R . O L D E N B O U R G , MÜNCHEN UND BERLIN

FRIEDRICH

MEINECKE

in dankbarer Verehrung

1*

VORBEMERKUNG.

Innere und äußere, mit der inzwischen in Deutschland erfolgten politischen Umwälzung im Zusammenhang stehende Gründe zwingen mich trotz weitgediehener Vorarbeiten, meinen seit einer Reihe von Jahren verfolgten Plan einer Gesamtmonographie über „Rudolf Haym und den klassischen Liberalismus" fallen zu lassen. Mit Rücksicht auf den mir zur Verfügung stehenden Druckraum muß ich mich auf die Vorlage der nachfolgenden Studie beschränken, die in erweiterter Fassung der Philosophischen Fakultät der Universität Köln als Habilitationsschrift vorgelegen hat. K ö l n , im Juli 1933. HANS ROSENBERG.

INHALTSÜBERSICHT.

Seite

Erstes Kapitel. Bildungsgrundlagen und Erstlingsschriften . . Zweites

Kapitel.

Die Begründung des

1 0 — 39

„sittlich-praktischen

Idealismus"

4 0 — 83

Drittes Kapitel. Vom religiösen zum politischen Liberalismus

84—115

Viertes Kapitel. Die Revolution und das Frankfurter Parlament

116—179

Fünftes Kapitel. Preußische Unionspolitik und „Konstitutionelle Zeitung"

180—208

In Rudolf Haym gewinnt diejenige Form deutscher Lebensgestaltung repräsentative Bedeutung, die aus der Synthese von Goethe-, Hegel- und Bismarckzeit entsprungen und in der Gestalt des „klassischen Liberalismus" historisch wirksam geworden ist. Es ist der in unserer klassischen Denk- und Literaturepoche verwurzelte, das idealistische Erbe in Wissenschaft und Politik hineintragende, in einer Weltanschauung des „Ideal-Realismus" sich manifestierende Liberalismus der deutschen Bildungsaristokratie, der das deutsche Geistesleben des 19. Jahrhunderts in hervorragendem Maße bestimmt, auf das politische Denken und die politische Willensbildung der Nation einen mächtigen Einfluß geübt hat und dessen Aufstieg hier im Spiegel des Individuellen, jedoch in engstem Zusammenhang mit den geistigen, politischen und sozialen Wandlungen der ersten Jahrhunderthälfte zur Anschauung gebracht werden soll. Wie das „Avancieren der Massen", der Wandel in der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Struktur und die durch den Weltkrieg ausgelösten neuen Bewegungen das 19. Jahrhundert zum Ausklingen gebracht haben, so ist auch der klassische Liberalismus, der eine der herrschenden Tendenzen dieses Jahrhunderts dargestellt hat, zu einer Größe herabgesunken, die nur noch historische Bedeutung besitzt. Nach seinem Wesen und Gehalt, nach seinem Wollen und Streben, nach seinem Ziele und Glauben, nach seinem tatsächlichen Vollbringen, seiner gegenständlichen Leistung, seinem historischen Werte und seiner historischen Wirkung zu fragen, erscheint heute um so mehr als eine wissenschaftliche Pflicht, als die gewaltigen Erschütterungen des Weltkrieges auch die Geschichtswissenschaft zu einer Überprüfimg ihrer Erkenntnisse und überkommenen Wertungen und zu einer Abgrenzung des Abstandes zwingen, der das Heute von dem Gestern trennt und mit dem Gestern verbindet. Denn „das verknüpft die Geister untereinander, daß sie sich verstehen. Die geschichtliche Entwicklung beruht darauf, daß auch in den Jahrhunderten das Verständnis des Früheren fortlebt"1). L . v. Ranke an Konstantin Rößler, 7. 12. 1885, handschr. (Nachlaß Rößler).

ERSTES KAPITEL.

BILDUNGSGRUNDLAGEN UND ERSTLINGSSCHRIFTEN.

Über der Jugend Rudolf Hayms liegt das letzte Mondlicht des Jahrhunderts der Aufklärung. Dem rationalistisch-praktischen Prinzip der deutschen Aufklärung, die seit Christian Wolff zu einer bürgerlichen Mittelstandsbewegung geworden war, ist Haym zeitlebens verpflichtet geblieben. Der Primat des Geistes gegenüber der Natur, der Idealismus der Gesinnung, das stolze Freiheitsbewußtsein, das moralische Pathos und protestantische Ethos, der Primat der praktischen Vernunft, der Hang zur Lehrhaftigkeit, wie sie der deutschen Aufklärung eigen waren, haben sein Weltbild, sein praktisches Wirken und seine gediegen bürgerliche und ein wenig altfränkisch-philiströse Lebensführung entscheidend beeinflußt. Geboren am 5. Oktober 1821 in Grünberg in Niederschlesien als Sohn eines Schullehrers, der bis in die Wurzeln seines Wesens von den Glaubenssätzen und Lebensidealen der deutschen Spätaufklärung durchdrungen war, fällt seine Jugend in eine von heftigen geistigen Kämpfen und Spannungen erfüllte Zeit. Auch in die Einsamkeit der kleinen Landstädtchen drang damals der „Duft der Geisterwelt" und die Kunde von den großen Weltbegebenheiten. Auch das Kleinbürgertum regte in diesen angeblich so „halcyonischen Tagen" seine Flügel, suchte ein lebendiges Verhältnis zu Nation, Staat und Gesellschaft, wenn auch vorerst noch in unreifer und naiver Form zu gewinnen, und bereitete in stiller Wirksamkeit manchen seiner Söhne vor für den großen Kampf um Freiheit und Einheit, um Geisteskultur und nationalstaatliches Leben. Es war die auf die praktischen Lebensbedürfnisse des bürgerlichen Mittelstandes zugeschnittene Denk-, Glaubens- und Weltanschauungsform des theologischen Vulgärrationalismus, die die Atmosphäre von Hayms Elternhaus bestimmt und auf die Formung seiner Persönlichkeit starke Wirkungen geübt hat. Durch Weiterführung der durch Salomo Semler begonnenen kritischen

— 11 — Zerstörungsarbeit, durch Aufnahme trivialisierter kantischer Ideen, durch Umdeutung der Postulate der praktischen Vernunft in göttliche Gebote, durch Auflösung der Religion in Moral, durch Berufung auf die allgemeingültige „Vernunft", die in Wahrheit die räsonnierende Individualvernunft war, war es dem theologischen Rationalismus gelungen, den unkritischen, traditionellen Offenbarungsglauben immer mehr zu unterhöhlen und das geistige Erbe der deutschen Aufklärung in eudämonistischem Sinne fortzubilden. Geistesgeschichtlich durch die klassische Literatur, die Romantik, die idealistische Philosophie und die Historische Rechtsschule bereits überwunden, von den geistigen Heroen der Nation als endgültig erledigt angesehen, haben die vulgärrationalistischen Ausläufer der Aufklärung, Popularphilosophie, Naturrecht und theologischer Rationalismus, im Restaurationsund Revolutionszeitalter doch noch eine imponierende Wirkung auf das geistige und praktische Leben der Mittelschichten auszuüben vermocht1). Hayms frühe Jugend hat ganz im Banne des spätaufklärerischen Ideensystems gestanden. Sind auch in den Jahren von 1834—39, in denen er das Köllnische Gymnasium in Berlin besuchte, mancherlei neue Impulse und Anregungen auf ihn eingedrungen, ist er auch in dieser Zeit mit den neuhumanistischen Bildimgsströmungen und den Elementen unserer klassischen Literatur in nähere Berührung gekommen, finden sich auch in seinen von jugendlichem Pathos und verschwommenen Freiheitsidealen erfüllten Primaneraufsätzen2) eine Reihe keimender neuer Ideen, die, der Übergangsbewegung des deutschen Geistes vom 18. zum 19. Jahrhundert entstammend, den Weg der Weiterentwicklung andeuten, — die religiösen und sittlichen Uberzeugungen, die das Elternhaus ihm in das Herz gesenkt hatte, sind in diesen Jahren so gut wie unangetastet geblieben. Es verstand sich daher für ihn im Grunde von selbst, daß er sich nach bestandenem Abiturientenexamen für das Studium der Theologie entschied und im Frühjahr 1839 auf die Universität Halle ging, die in weiten Kreisen damals noch immer als die unerschütterte Hochburg des theologischen Rationalismus galt. Halle war im 18. Jahrhundert die Schulstadt der preußischen Monarchie gewesen. Von hier aus hatten die Aufklärung und der Pietismus eine außerordentliche Wirksamkeit entfaltet, 1 ) Vgl. hierzu meinen Aufsatz: Theologischer Rationalismus und vormärzlicher Vulgärliberalismus, Histor. Zeitschrift, Bd. 141, S. 497ff. *) Das Original dieser Aufsätze befindet sich in Hayms Nachlaß.



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Tausende von preußischen Beamten gebildet und auf den Geist der breiten Masse der städtischen und ländlichen Bevölkerung bestimmenden Einfluß geübt. Eine zwar kurze, aber unvergleichliche Blütezeit, die durch die Namen F. A. Wolf, Reil, Steffens und Schleiermacher bezeichnet wird, hat dann die Universität erlebt in den Jahren 1799—1806 bis zum Eintritt der Franzosenherrschaft. Für kurze Zeit war die nüchtern prosaische Stadt zum Treffpunkt der Romantikej geworden1). Die 1 8 1 3 neu begründete, 1817 mit Wittenberg vereinigte Universität Halle ist bis zur Mitte des Jahrhunderts vorzugsweise eine Theologenuniversität gewesen, an der bis zum Ende der 1830 er Jahre, nachdem ein Jahrzehnt erbitterter Kämpfe vorangegangen war, der Vulgärrationalismus den Ton angab. Was die Universität im Vergleich mit ihrer glanzvollen Vorzeit an wissenschaftlicher Bedeutung eingebüßt hatte, hatte sie an aktueller Wirkungskraft gewonnen. Im dritten und vierten Dezennium des 19. Jahrhunderts ging durch das hallische Universitätsleben ein stürmisches Wogen. An keiner anderen deutschen Universität markierte sich der Gegensatz der einander bekämpfenden Richtungen so scharf wie hier. Alle Schattierungen des damaligen theologisch-religiösen Lebens, Rationalisten, Pietisten, Orthodoxe, laue Vermittlungstheologen, Vertreter einer philosophischen Bildungsreligion und spekulative Theisten; alle Schattierungen der Hegeischen Schule, konservative, liberale und radikale Hegelianer; Vertreter einer empirisch-kritischen und einer mehr konstruktiven Philologie waren hier zu finden. Dazu kamen, besonders unter den Juristen, Anhänger der Romantik und der Historischen Schule. Und schließlich noch die immer mehr sich zuspitzenden politischen Differenzen! Unter der Führung des Philosophen Hinrichs und der Philologen Meier und Pott hatte sich seit dem Ende der 1830 er Jahre eine Gruppe politisch freisinniger Dozenten zusammengeschlossen, der eine konservativ gerichtete Gruppe unter Führung von Heinrich Leo, August Tholuck, Johann Eduard Erdmann und Ludwig Pernice voll Kampfeslust gegenübergetreten war. Es war ein von persönlichen Intrigen, Mißhelligkeiten und kleinen Menschlichkeiten, von wissenschaftlichen, religiös-kirchlichen und politischen Gegensätzen zerrissenes und aufgepeitschtes akademisches Leben, das der dramatischen Spannung nicht entbehrt, einen tiefen Einblick *). Vgl. hierzu das glanzvolle Kapitel „Halle" in Diltheys Leben Schleiermachers, 1922, S. 7 1 1 ff, und Ferd. Jos. Schneider, Halle und die deutsche Romantik, 1930.

— 13 — in den zwiespältigen Geist der Zeit gewährt und von historischpolitischer Bedeutung auch insofern ist, als ja die Universitätskämpfe jener Tage einen Ersatz für das fehlende öffentlichparlamentarische Leben und organisierte Parteiwesen gebildet haben1). Zu der Zeit, als der junge Haym in diese kleine Welt eintrat, im Frühjahr 1839, waren die Gegensätze an der Universität Halle zu ganz besonderer Schärfe gediehen. Der verwegene, grobschlächtige, plumpe Arnold Rüge hatte durch die 1838 gegründeten „Hallischen Jahrbücher" und durch die Art seines rauflustigen Auftretens die Gegensätze mächtig angeschürt und in das glimmende Feuer die Brandfackel des Junghegelianismus geworfen. Immer klarer und entschiedener begannen sich die Geister und Parteiungen voneinander zu scheiden. Für laue Kompromisse schien die Zeit vorbei zu sein. Der theologische Rationalismus, der durch Tholuck, die Orthodoxie und die romantische Wissenschaft immer mehr zurückgedrängt worden war, erhielt nun den Todesstoß. Wissenschaftlich mußte er als endgültig überwunden gelten, was seinem praktischen Einfluß auf die breiteren Massen zunächst aber noch wenig Abbruch tat. Erlebte er doch noch zu Anfang und Mitte der 1840 er Jahre in der sogenannten Lichtfreundebewegung eine Art von Nachblüte und innerer Erneuerung! Das zentrale Bildungserlebnis Hayms während seiner Studentenzeit ist der Zusammenstoß mit dem Junghegelianismus gewesen. Trotz all des heißen Ringens um seine Selbstbefreiung ist Haym niemals wieder ganz von Hegel losgekommen. Es war der Hegel der „Hallischen Jahrbücher", nicht der echte Hegel, der ihn zunächst gefangennahm. Im Geiste der Vulgäraufklärung des 18. Jahrhunderts erzogen, hat der junge Haym, dem Junghegelianismus sich zuwendend, den Anschluß an die Aufklärung des 19. Jahrhunderts vollzogen. In seinem geistigen Werdegange spiegelt sich ein wichtiges Stück der Wirkungsgeschichte der Aufklärung wider. Die Grundlagen seiner Entwicklung aufdecken, heißt daher, zunächst die Tendenzen des Junghegelianismus enthüllen. Vgl. hierzu, auch für das Folgende, meine Aufsätze über die geistigen und politischen Strömungen an der Universität Halle in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 1929, S. 560 ff., und über Arnold Rüge und die „Hallischen Jahrbücher", Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 20 (1930), S. 281 ff.

— 14 — Hegels Prinzip der dialektischen Entwicklung hatte sich an seiner eigenen Philosophie bewahrheitet. Weil diese Philosophie die Philosophie der Restauration und der Revolution zugleich war, hatte sie die alte und die junge Generation in ihren Bann zu ziehen vermocht. Als der bereits zu Lebzeiten des Meisters heftig entbrannte Streit um die logisch-metaphysischen Grundlagen des Systems auf das religiös-kirchliche Gebiet hinübersprang und die möglichen Konsequenzen dieser Philosophie enthüllte, als in den 1830er Jahren der Kampf um die Religion in den Mittelpunkt der geistigen Interessen rückte, da offenbarte sich die ganze Zweischneidigkeit des Hegelianismus. Für den Junghegelianismus, die Philosophie der Revolution, hatte die historische Stunde geschlagen. Er trat mit dem Anspruch auf, zum Testamentsvollstrecker des gewaltigen Mannes berufen zu sein. Mächtig hatte die Julirevolution auf die junge vorwärtsdrängende Generation gewirkt: „Die Lust der Freiheit durchzitterte Europa." 1 ) Der Geist war oppositionell geworden. „Nichts gilt mehr, weil es ist, sondern nur soweit es sich als geltend ausweisen kann"2). Eine neue Welle des Aufklärungsgeistes kam damals über Deutschland. In den Zeiten, wo eine Geschichtsepoche durch eine neue abgelöst wird, pflegen die Kämpfe gegen das Überwundene am erbittertsten, ungerechtesten und hitzigsten, die Treulosigkeit gegenüber dem Vorangegangenen am größten zu sein. Das hatte in besonderem Maße der auf den Schultern der Aufklärung stehende deutsche Idealismus, die Romantik und die politischtheologische Restauration gegenüber der Aufklärung bewiesen. Die Aufklärung wurde, indem man sie mit ihren geistig schalen, vulgärrationalistischen Ausläufern und mit den die bestehenden Ordnungen unterhöhlenden Ideen der Französischen Revolution identifizierte, in Verruf erklärt oder aber als platte Philisterei und Vernünftelei, als „Aufklärerei" und „Aufkläricht" lächerlich gemacht3). Die weltgeschichtliche Leistimg der Aufklärung wurde durch diese Verunglimpfungen verdunkelt, ihre praktische Fortwirkung und ihr Einfluß auf die breite Masse des Mittelstandes und des Kleinbürgertums zwar behindert, aber nicht unterbrochen. In bewußter und entschiedener Frontstellung gegen das x

) Eduard Meyen in Hallische Jahrbb. 1839, S. 621. ) D. Fr. Strauß, Streitschriften zur Verteidigung des Lebens Jesu, 2. Heft 1837, S. 185. 8 ) Die mit dem Worte Kehricht korrespondierende Hohnform „Aufkläricht" ist bekannlich eine Wortprägung H.Leos; vgl. R. M. Meyer, Vierhundert Schlagworte, 1900, S. 28. 2

— 15 — „Stabilitätssystem" des erneuerten, bürokratisch organisierten Absolutismus, dessen rational-mechanisches Gepräge an der historisch gewordenen Privilegienordnung, an der politischen und sozialen Vormachtstellung des Feudaladels und des von ihm abgezweigten Hof-, Militär- und Beamtenadels seine Schranke fand, — erwuchs allmählich im Biedermeierzeitalter, dessen von Ranke gepriesener „halcyonischer" Charakter in den Bereich der historischen Legende gehört1), ein durch ausländische Einflüsse befruchteter, seiner „angeborenen" Rechte gegenüber Staat und Gesellschaft bewußt gewordener, von der bürgerlichen Intelligenz getragener fortschrittsgläubiger Liberalismus, ein handfester, dem gegenwärtigen Moment sich hingebender realistisch gestimmter neuer Rationalismus, der nun die herrschenden Mächte im ¡Geistes- und Staatsleben in seinem Sinne umzubilden und, da das nicht gelang, zu verdrängen suchte. Indem er sich an die deutlich sichtbaren und wirksamen politisch-religiösen Ausläufer der romantischen Bewegung und an die Historische Schule hielt, aus deren mystischer Volksgeistlehre die ruheselige These Von dem mangelnden Beruf der Zeit zur Gesetzgebung erwachsen war, war er ungerecht genug, in der Romantik und ihrer Ableger nur noch die Verkörperung eines gegenwartsfernen Irrationalismus und Mystizismus, ein Symbol geistig-politischer Unfreiheit, der politischen und religiösen Restauration und Reaktion zu sehen. So konnte es kommen, daß der klare gesunde Menschenverstand wieder eine Macht wurde, daß er das Leben zu beherrschen suchte, kurz, daß der Geist der Aufklärung von neuem in der öffentlichen Meinung Geltung und Ansehen erhielt und eine bedeutsame Renaissance erlebte, die seit der Julirevolution deutlich sichtbar wird2). Das Interesse am öffentlichen Leben, der Tatendrang jener Zeit konzentrierte sich und mußte sich bei der Lage der Dinge konzentrieren auf die überaus bewegten geistigen Kämpfe, die in der Publizistik, an den Universitäten und in den gelehrten Kontroversen mit Leidenschaft und erbitterter Hingabe zum Austrag gebracht wurden. Den sozialen Untergrund der theoretischen Debatten über die Grundfragen des geistigen Seins *) Das betont mit Nachdruck auch Ernst Simon, Ranke und Hegel, 1928, S. 29. a) Wie ich zu meiner Freude nachträglich feststellte, berühren sich meine Beobachtungen hier stark mit Ewald A. Boucke, Aufklärung, Klassik und Romantik. Eine kritische Würdigung von H. Hettners Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Im Anhang zur Neuausgabe Hettners, Bd. III, 1, 1925.



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bildete das reale Interesse der untergehenden Stände und der in der Formierung begriffenen Klassen. Aus den philosophischen, religiös-kirchlichen und literarischen Parteiungen des Vormärz sind — und darauf beruht ihre mehr als wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung — die modernen politischen Parteien in Deutschland allmählich erwachsen. Am einseitigsten und folgerichtigsten gelangt jene Bewegung, die die Aufklärung in den Dienst der geistigen und politischen Emanzipation der aufstrebenden Klassen stellte, zum Ausdruck bei den Jungdeutschen, den politischen Lyrikern und den Junghegelianern. Die Jungdeutschen1), denen Heine und Börne die Bahn gebrochen hatten, haben mit ihrer „prosaischen" Zeit- und Tendenzpoesie, mit ihrer Hinwendung zum bewegten Moment, zur gegenwärtigen Zeit und Wirklichkeit, mit ihrem Kampf gegen Romantik, idealistische Philosophie und metaphysische Spekulation zugleich um ihre Selbstbefreiung gerungen. Ihre Einstellung der Welt gegenüber war durchaus aktiv. „Leben ist kein Genuß, Leben ist eine Aufgabe", so bekannte der bedeutendste dieses Kreises, Karl Gutzkow2). Es ist die Leidenschaft des fanatisierten Verstandes, die diese Männer vorwärts treibt. So erklärt sich ihr Doktrinarismus und zugleich ihr zügelloser Subjektivismus. Ganz auf sich selbst gestellt, ihr Individuum als souverän empfindend, auf die Kraft ihrer autonomen, keiner überlieferten Autorität unterworfenen Vernunft vertrauend, für das Eigenrecht ihrer Zeit eintretend, glauben sie die Welt nach ihrem Bilde formen zu können. Innerlich unausgeglichene, problematische, fast zerrissene und haltlose Menschen, knüpfen sie an die Tendenzen des Sturms und Drangs und der Frühromantik an. Zugleich aber Mit der Erforschung des Jungen Deutschland hat es trotz zahlreicher Einzelarbeiten, die jedoch über das Niveau mäßiger Durchschnittsdissertationen meist nicht hinausgehen, bis vor kurzem noch recht im argen gelegen. Die bekannten umfangreichen Darstellungen von J. Proells und H. H. Houben sind im Grunde nicht mehr als zusammenfassende Stoffsammlungen. Wertvolle Einzelbeobachtungen bei Fritz Strich, Deutsche Klassik und Romantik, 1922, S. 249ff.; H. v. Srbik, Metternich. Der Staatsmann und der Mensch, 1925, II, 57; W. Brecht, Heine, Platen, Immermann in Germanistische Forschungen. Festschrift des Wiener Akadem. Germanistenvereins, 1925, J.Petersen, Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik, 1926, S. 155 f f . ; H. Kindermann, Romantik und Realismus, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1926, S. 655 ff. 2)

Gutzkow, Zur Philosophie der Geschichte, 1836, S. 143 f.

— 17 — führen sie die Arbeit der Aufklärung weiter, weniger die der deutschen als vielmehr die der radikaleren anglo-französischen Aufklärung. Man denke nur an Cäsars „Geständnisse über Religion und Christentum" in Gutzkows „Wally, die Zweiflerin". Die Jungdeutschen stellen einen Bund dar von kritischem, postulierendem, aufklärerischem Weltbewußtsein und romantischer Willkür, die des stimmungsgesättigten, phantasieerfüllten, gefühlvollen Elementes entkleidet ist. Indem diese Willkürindividualisten dazu übergehen, ihr gestaltloses Sein in formulierte Anschauungen umzusetzen, werden sie, ähnlich wie die radikalen Junghegelianer, zu doktrinären Dogmatikern, die in ihren Grundsätzen absolute Wahrheiten erblicken. Selbst da, wo sie zu Verkündern irrationaler Werte werden, wo sie sich für das Recht der emotionalen Kräfte im Menschen einsetzen, wo sie dem Recht der Sinne das Wort reden, werden sie letzten Endes doch durch rationale Erwägungen, durch Verstandesabstraktionen bestimmt. Die Kunst ist für sie nur ein Mittel. Sie dient ihnen dazu, Grundsätze zur Anschauung zu bringen. Deshalb ist die Lektüre ihrer poesiearmen, ästhetisch schwachen, formlosen und unmusikalischen Schriften so unerquicklich. Man spürt allzu deutlich den Mangel echter künstlerischer Phantasie. Dazu kommt, wenigstens im Anfange der Bewegung, die zerfahrene rastlose Unruhe. Die Jungdeutschen fühlten sich als die Entdecker der Wirklichkeit, die in ihrer ganzen uferlosen Weite, vor allem auch in ihren Tiefen und Abgründen, ins klare Bewußtsein zu erheben ihnen als zeitgemäße Aufgabe erschien. Mächtig angeregt durch die politischen und sozialen Ideen der Julirevolution, kämpften sie für die Schlagworte: Freiheit, Fortschritt, Humanität, für eine neue Sittlichkeit und eine neue Geschlechtsmoral, gegen konventionelle Lügen, gegen die Fesseln der Tradition, gegen die Feigheit des Kompromisse schließenden Denkens, gegen den Widerspruch von Gesinnung und Tat, gegen alles, was reaktionären Tendenzen ähnlich zu sein und einer Erneuerung von Staat, Gesellschaft und Kirche sich entgegenzustemmen schien. Ohne wahre Politiker zu sein, fehlte es ihren literatenhaften Betrachtungen doch nicht an politischer Leidenschaft, wenn ihnen auch der Glaube an den Staat als „Idee" den Blick für die bewegenden Kräfte des realen Staatsbetriebes verbaut hatte. Die entwicklungsgeschichtliche Bedeutving und der Einfluß dieser Literatur ist erheblich und darf nicht unterschätzt werden. Zwar war sie nur eine Bewegung des Übergangs. Aber sie war doch keineswegs, wie von jeher und seit Treitschke besonders immer wieder behauptet wird, bloß negativ, kritisch, zersetzend. Beiheft d. H. Z. 31.

2

— 18 — "Wie die meisten der als negativ verschrieenen Bewegungen war sie zugleich positiv. Sie hat keine großen schöpferischen Werke geschaffen, sie ist zu keinem festgefügten, positiven Aufbau gelangt, aber sie hat dem empirischen und realistischen Denken, einem neuen gegenwartsfrohen, tatenlustigen, politisch interessierten und unmetaphysischen Zeitalter die Bahn mit brechen helfen. Sie hat das Tote tot sein lassen und sich dem Lebendigen und „Zeitgemäßen" — eines der beliebtesten Schlagworte jener Tage — zugewandt. Sie war nicht ästhetisch und quietistisch, sie war aktiv und unbedingt gestimmt. Sie war ein Bannerträger des Liberalismus und des Aufklärungsgedankens. Und auch um die Popularisierung des nationalen Gedankens hat sich diese Literatur erhebliche Verdienste erworben. Neben den jungdeutschen Feuilletonisten und politischen Literaten, vielfach auf ihren Schultern sich erhebend, standen die Junghegelianer. Auch sie vertrauten auf ihre persönliche Kraft und wollten die Gestaltung der Welt aus dem Bewußtsein der Gegenwart. Auch sie hatten sich von den Früchten der Goethezeit genährt, sich von den idealistischen und romantischen Strömungen mittreiben lassen, auch sie haben mit einem guten Teil erhabenen Dünkels auf die Einseitigkeiten und Beschränktheiten der alten Aufklärung herabgeblickt. Das kann aber an der Tatsache nichts ändern, daß alle diese Männer, psychologisch gesprochen, Rationalisten waren und blieben. Die Überspannung des intellektualistischen Denkens bildet die Grundlage ihres Daseins. So verschiedenartig ihr Entwicklungsgang und ihre Individualitäten auch sind — von allen feineren Unterschieden muß diese nivellierende Durchschnittsbetrachtung notwendig absehen — , darin waren sich doch alle einig, daß jene Vermittlung von Rationalismus und Irrationalismus oder, was für die Auffassung jener Tage dasselbe war, von Aufklärung und Romantik, wie sie in dem Hegeischen System, der großen krönenden Zusammenfassung der idealistischen Epoche versucht wurde, den politischen und religiösen Bedürfnissen der Gegenwart nicht entspreche. Da den liberalen Zeitforderungen eine romantisch-feudale Reaktion entgegentrat, mußten die Junghegelianer es als ihre Aufgabe ansehen, aus dem Hegeischen System die romantischen Elemente auszuscheiden. Und der radikale Flügel schritt dazu fort, den Objektivismus des Systems zu zerstören, an die Stelle von Substanz und Subjekt das bloße Subjekt zu setzen, das Individuum für absolut zu erklären und mit den der Philosophie entlehnten Waffen auf die alte Aufklärung zurückzugreifen.

— 19 — Denn darauf spitzte sich die ganze Bewegung zu, die geistige Entwicklung der letzten Jahrhunderte auf den Gegensatz zwischen Aufklärung und Romantik zu reduzieren. Und je radikaler die Junghegelianer wurden, desto mehr gingen sie von der deutschen zur anglofranzösischen Aufklärung über, desto deutlicher haben sie zwischen „positiver" und „negativer" Bedeutung der Aufklärung unterschieden. „Das 18. Jahrhundert", so hieß es einmal 1842, „hat gegenwärtig für uns ein doppeltes Interesse: erstens als unsere nächste Vergangenheit, zweitens als unsere — wenigstens projektierte Zukunft" 1 ). Im letzten Grunde waren es Stimmungen einer romantischen Politik, die zu einer Neueinschätzung des 18. Jahrhunderts geführt haben. Man schloß sich an die geschichtliche Vergangenheit und insbesondere an die historische Aufklärung nur so weit an, als sie den Bestrebungen der Gegenwart zu entsprechen und brauchbare Waffen für den Kampf des Tages zu liefern schien. In der Geschichte der j imghegelianischen Bewegung nimmt Arnold Rüge eine hervorragende Stellung ein. Die große und historisch fruchtbarste Zeit seines wechselvollen Lebens waren die Jahre von 1838—41, die Jahre, in denen er in Gemeinschaft mit Echtermeyer die „Hallischen Jahrbücher" herausgab. In dieser Zeit war er der anerkannte Führer der philosophisch-politischen Publizistik in Deutschland. Die Gründung der „Hallischen Jahrbücher" war, ähnlich wie später die der „Preußischen Jahrbücher", eine kulturpolitische Tat. Auf dem, was die „Hallischen Jahrbücher" kritisch geleistet haben, ruht ihre bleibende geistige Bedeutung. Sie sind nicht nur eine hervorragende Quelle zur Geschichte ihrer Zeit, sondern selber ein Stück Geschichte. Sie verkörperten das Prinzip der Bewegung, und sie haben die theoretischen Mittel mit schaffen helfen, die schließlich die Mächte der starren Autorität unterhöhlt haben. Das Programm der Jahrbücher: „zum erstenmal vollständig das Bewußtsein der Gegenwart zur freien Macht zu erheben", erhielt sehr bald eine ausgesprochen agitatorische und politischradikale Bedeutung. Indem Rüge die „Hinwendung des Gedankens zur Tat" proklamierte, schritt er — und mit ihm die Jahrbücher — vom Begreifen des Gewesenen zum Prophezeien des Kommenden und Zuschaffenden fort. „Die Philosophie wird Deutsche Jahrbücher, 1842, S. 5. Der Satz ist entnommen einer anonym erschienenen Rezension von Schlossers Geschichte des 18. Jahrhunderts. Der Verfasser ist der durch seinen Panegyrikus auf Friedrich den Großen bekannt gewordene Junghegelianer Köppen. 2*



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zur Gesinnung, die Gesinnung zum Charakter und der Charakter zur Tat werden"1), so rief er mit ehrlichem Pathos 1840 aus. Bereits mit dem Jahre 1839 beginnt der Geist des Kompromisses und der friedlichen Verständigung immer mehr aus den Jahrbüchern zu weichen. Philosophie und Dogma, Freiheit und Autorität gelten fortan als absolute Gegensätze. Es beginnt der Sturmlauf gegen den bloß theoretischen Idealismus, gegen den sich selbst untreu gewordenen preußischen Staat, gegen den „Polizeistaat", der seiner historisch-politischen Mission, „Staat der Intelligenz" zu sein, abtrünnig geworden ist, gegen die Romantik als das böse, verderbenbringende, Knechtssinn und quietistische Beschaulichkeit erzeugende Prinzip. Jede Stufe der Entwicklung gilt fortan als notwendig aufgehoben durch die folgende, die im Einzelindividuum zum Ausdruck gelangende autonome „Vernunft" als das Maß aller Dinge und als das allein Wirkliche. Vor dem Prinzip der fessellos gewordenen historischen und logischen Dialektik, vor dem „Terrorismus der Vernunft", hat sich alles Vergangene und Bestehende, auch der Urheber dieses Prinzips, zu rechtfertigen. Denn die „richtig" verstandene Hegeische Philosophie kennt keinen Abschluß. Ihr Wesen ist Bewegung, Agitation, Handeln, Fordern, Gestalten. Sie macht Partei und drängt zur Praxis, fordert die „freie Wissenschaft" und den „freien Staat". Dem junghegelianischen Prinzip der dialektischen Entwicklung entsprechend, ist der inhaltliche Sinn des Freiheitsbegriffes einem ewigen Wechsel unterworfen. So wird es verständlich, daß die theoretische Rechtfertigung des preußischen Staates bereits 1839 umschlägt in eine entschieden oppositionell gestimmte Haltung, die sich zunächst noch mit einem Reformprogramm begnügte, das sich im wesentlichen mit dem konstitutionellen Schlagwortapparat des zeitgenössischen Vulgärliberalismus deckte, um dann innerhalb ganz kurzer Zeit nicht nur der Taktik, sondern auch dem Wesen nach durch einen radikal und revolutionär gestimmten Demokratismus abgelöst zu werden, wobei aber der Glaube an ein ideales Preußen der Zukunft unverloren blieb. Für die aufstrebende, vorwärtsstürmende, fortschrittsgläubige, tatenhungrige junge Generation war der Junghegelianismus eine Bewegung von fast unentrinnbarer, zwingender Gewalt. Für sie bedeutete er eine Scheide der Zeiten. Von denen, die Ende der 1830er und Anfang der 1840er Jahre in Halle studiert haben, sind viele dem Einflüsse dieser 1

) Hallische Jahrbb., 1840, S. 2254.



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Denkweise unterlegen. An bekannten Namen wären Hermann Baumgarten, Theodor Sickel, Konstantin Rößler und Kuno Fischer zu nennen1). Dem jungen Haym ist diese Denkweise wie von selbst angeflogen. Sein Geist, kritisch-dialektisch und beweglich-stoffhungrig zugleich, fand hier alles, was er brauchte. Die scharf geschliffene, stilistisch glänzende Polemik der führenden junghegelianischen Publizisten, die packende Prägnanz und zuweilen epigrammatische Schärfe ihrer Formulierungen, ihr aktiv gestimmter, jugendfrischer und mutiger, von Demagogie und Kampfeslust erfüllter Geist, die Gelenkigkeit ihrer Denkkategorien, die Abstraktheit ihrer allgemein gehaltenen formalen Schlagworte, unter denen maii sich so viel und zugleich so wenig denken konnte, haben auf ihn einen hinreißenden Eindruck gemacht. So ist er denn kurz nach seinem Eintritt in das hallische Leben zu einem Parteigänger der Straußischen Theologie, Arnold Ruges und der „Hallischen Jahrbücher" geworden. „Wir rissen uns", so hat er später selbst erzählt, „um jede neu erschienene Nummer und leisteten den tapferen Führern, so oft sie mit klingendem Spiel gegen einen neuen Feind und in ein neues Gebiet vorrückten, willig Folge, überzeugt, daß an ihre Fahnen der Sieg geknüpft sei"2). Von der Propaganda für D. F. Strauß waren die „Hallischen Jahrbücher" ausgegangen. In einer Abhandlung, in der innige Gemütstiefe mit einem eisig berührenden Rationalismus wunderbar verschmolzen war, in der prachtvollen Abhandlung über „Dr, Strauß und die Württemberger" hatte ihn F. Th. Vischer als einen der großen „Befreier des Geistes vom Buchstabendienste"8) gefeiert. In diesem Sinne hatte auch Rüge immer wieder Strauß als den Mann des Jahrhunderts gepriesen. Für den jungen Haym bedeutete der Übergang vom theologischen Rationalismus alten Schlages zum spekulativen Rationalismus des Junghegelianismus keinen tiefen Bruch, wenn er ihn auch als solchen empfand. Handelte es sich doch in der Wandlung von der natürlichen Wundererklärung zum mythischen Standpunkt mehr um einen Grad- als um einen Wesens- und Artunterschied. Es ist charakteristisch, daß Strauß' „Streit1

) Vgl. Erich Mareks, H. Baumgarten, Histor. und politische Aufsätze, 1894, S. X f f . ; W . Erben, Th. Sickel, Denkwürdigkeiten aus der Werdezeit eines deutschen Geschichtsforschers, 1926, S. 8 f., 163; Max Lenz, Vom Werden der Nationen, 1922, S. 497 f; Hugo Falkenheim, Kuno Fischers Frühzeit, Preuß. Jahrbücher, Bd. 133. 2 ) Aus meinem Leben, S. 103. s ) Hallische Jahrbücher, 1838, S. 449.



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Schriften zur Verteidigung meiner Schrift über das Leben Jesu", die die Spaltung der Hegeischen Schule zum erstenmal proklamiert haben, wohl gegen den Supranaturalismus, gegen Eschenmayer und Menzel, Hengstenberg, Julius Müller und die „Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik" gerichtet sind, aber nicht gegen den Rationalismus. Der neue spekulative Rationalismus, wie ihn Strauß vertrat, hatte sich genährt von den Errungenschaften des deutschen Idealismus und der Romantik, ohne die kritischen Tendenzen der alten Aufklärung, die Leugnung der übernatürlichen Offenbarung, und, im Anschluß an Hegel, die intellektualistische Auffassung des religiösen Glaubens aufzugeben. So wird es verständlich, daß die „Hallischen Jahrbücher" den Rationalismus vulgaris als notwendige Entwicklungsstufe des gegenwärtigen theologischen Geistes anerkannten. Rüge, der ihn anfänglich verspottet hatte, sich aber dann bald der Verwandtschaft bewußt geworden war, hatte ihn den gesunden Menschenverstand genannt, „dessen Heiligtümer erst recht geheiligt werden, wenn das Licht aus der Höhe sie verklärt" 1 ). Auch die „Hallische Allgemeine Literaturzeitung" begann den Zug der Zeit zu begreifen. Bislang ein Parteiorgan des theologischen Rationalismus, ging sie jetzt dazu über, sich aus dem Geiste der Hegeischen Philosophie zu erneuern. Erst in dem Augenblick wurde der Übergang zu Strauß für Haym zu einer Quelle schweren inneren Kampfes und Leidens, als sich vor ihm in ihrer ganzen Schwere die entscheidungsvolle Frage erhob: Kann man Straußianer und zugleich Geistlicher sein ? So sehr er auch im ganzen mit dem „Leben Jesu", von dem Rüge2) gesagt hatte, daß es „kein Buch", sondern eine „Revolution" sei, übereinstimmte und von der Unwiderleglichkeit der durch historische Kritik gewonnenen Ergebnisse überzeugt war, so einleuchtend ihm auch das Schlußkapitel erschien, das eine dogmatische Wiederherstellung des kritisch Zerstörten versuchte, so entging seinem Scharfsinn doch nicht die Sophistik, die Strauß hatte aufwenden müssen, um den Nachweis zu führen, daß ein Straußianer sehr wohl ein kirchliches Amt ausüben könne. Peinigende Zweifel überkamen ihn, ob er noch das Recht und die Fähigkeit zum Berufstheologen habe. Durch die „Glaubenslehre", deren erster Band 1840 erschien, kam er ein Stück weiter. Mit der „Glaubenslehre" schrieb sich Strauß aus der Theologie heraus. Unter dem Eindruck Feuerbachs stehend, fand er jetzt l

) Hallische Jahrbb. 1839, S. 80. ) Ruges Briefwechsel, hrsg. von Nerrlich, 1886, I, 225.

s

— 23 — den Mut, die Konsequenzen aus seinem „Leben Jesu" zu ziehen. E r vermochte fortan nicht mehr, die Identität des Inhalts von Religion und Philosophie aufrechtzuerhalten. Von der Kritik der Ursprungsgeschichte des Christentums war er fortgeschritten zur Kritik der christlichen Dogmatik. Er löste sie auf in spekulative Ideen. Und Haym? „Ganz berauscht und zugleich beängstigt"1), so war der erste Eindruck. Und einige Wochen später schrieb er an den Gespielen seiner Jugend: „Meine Predigtgedanken habe ich aufgegeben. Wer weiß, ob ich je dazu komme! Ein gewaltiger Aufruhr ist in unser geistiges Leben gedrungen. An dem alten Glauben rüttelt mit Macht der kritische Held des Jahrhunderts. Strauß hat ein vernichtendes Wort in unsere Herzen gerufen, und eine starke Feste des Wissens baut sich über den Trümmern des Glaubens"2). Und nach weiteren drei Monaten folgte das Bekenntnis: „Aus freier Anerkennung, infolge redlichen Forschens bin ich an Strauß gewiesen und vorläufig — nicht iurans in verba magistri — wohl aber der Seine im Geiste und Wesen, und hie und da treibt es mich noch hinaus über die Kühnheit seiner Resultate, und meine Konsequenzen drohen über Kirche und Christentum hinauszuragen"3). Erst durch Feuerbach wurde der Bruch mit der Theologie für Haym zur unabweisbaren Notwendigkeit. Feuerbachs „Wesen des Christentums" war 1841 erschienen. Mit diesem Buch wurde Strauß überholt. Denn hier handelte es sich nicht mehr um historische Evangelienkritik, hier wurde die Religion überhaupt als ein Werk der dichtenden Einbildungskraft, als phantastisches Scheinwesen, als Selbstanbetung des Menschen, als Anthropologie enthüllt. Feuerbachs Kritik war aber nicht bloß negativ wie diejenigen, die ihn offenbar nie gelesen haben, am lautesten zu behaupten pflegen. Sie entsprang den edelsten Motiven, sie bezweckte, was bekanntlich den beißenden Spott von Karl Marx herausgefordert hat, die Beförderung der menschlichen Freiheit, Selbsttätigkeit, Liebe und Glückseligkeit. An die Stelle des zerstörten christlichen Glaubens trat als Religionsersatz ein neues Kulturideal, der Gedanke der Bildung, der Glaube an eine veredelte Menschheit und an ein vergöttlichtes Diesseits. Feuerbach wollte, wie er es später einmal drastisch-handgreiflich in der dritten seiner Heidelberger Vorlesungen über „Das Wesen der An die Eltern, 12. 12. 1840, hdschr. ) An Karl Gaertner, 25. 1. 1841, hdschr. *) An Karl Gaertner, Ende April 1841, Ausgewählter Briefwechsel R. Hayms, hsg. von H. Rosenberg, 1930, S. 20. 2

— 24 — Religion" ausgedrückt hat, „die Menschen aus Theologen zu Anthropologen, aus Kandidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits, aus religiösen und politischen Kammerdienern der himmlischen und irdischen Monarchie und Aristokratie zu freien, selbstbewußten Bürgern der Erde" machen. — Das hat „eine neue Unruhe in mein Herz geworfen. Ich fühle die schneidende Luft der Höhe. Beklemmimg wohnt mir im Herzen", so hat Haym den ersten Eindruck, den das Auftreten Feuerbachs in ihm hervorrief, den Eltern geschildert. E r stand am Ende seiner Kraft. Diesem neuen Ansturm war er nicht mehr gewachsen. „In allen meinen bisherigen Ketzereien hatte ich noch immer Boden unter den Füßen gefühlt; die Steme meines kindlichen Glaubens hatten sich in Welten verwandelt, aber sie waren doch darum nicht untergegangen; jetzt dagegen drohten sie zu erlöschen oder vom Himmel zu fallen; ich dünkte mich ohne Gott und die trostreiche Aussicht auf eine Fortdauer nach dem Tode im leeren Raum zu schweben"1). Im Herbst des Jahres 1841 hatte sich das Berufsproblem, der Bruch mit der Theologie, endgültig entschieden. In der Absicht, die Gymnasiallehrerlaufbahn einzuschlagen, ging Haym unter die Philologen. Bis dahin hatte er sich vom Strom der traditionellen Vorlesungshörerei treiben lassen, nur daß er den Rahmen ein wenig weiter gespannt hatte, als gemeinhin üblich war. So hatte er neben theologischen auch philosophische, philologische und bei Heinrich Leo auch historische Vorlesungen gehört, ohne allerdings viel dabei zu gewinnen. Mit einer gewissen Verachtung hatte er, im Banne der junghegelianischen Schlagworte stehend, vom Standpunkt seiner zerfahrenen und oberflächlichen Spekulation aus auf die zünftige Kathedergelehrsamkeit herabgeblickt. Was ihn vor allem interessiert hatte, waren die Kämpfe der verschiedenen wissenschaftlichen Richtungen und Parteiungen gewesen. Jetzt begann das anders zu werden; jetzt kam Plan und System in sein Studium, jetzt gewann es an konkretem Gehalt. Vorbereitet für die Wendung zur Philologie war Haym durch Strauß und durch die gute Schule, die er bei Gesenius und dem jüngeren Niemeyer durchgemacht hatte. Vor allem Gesenius, der, auf den Schultern der großen niederländischen Philologen stehend, die semitische Philologie aus den Banden der Theologie befreit und die exakte Methode, die die klassische Philologie ausgebildet hatte, verbunden mit den Anregungen, die er der HistoriAus meinem Leben, S. 116.

— 25 — sehen Schule verdankte, auf die semitischen Sprachen angewandt hatte, hat auf Haym einen nachhaltigen Einfluß geübt. Indem Haym jetzt die klassische Philologie in den Mittelpunkt seiner Studien rückte, trat er auch in ein näheres Schülerverhältnis zu Gottfried Bernhardy, einem der letzten persönlichen Schüler von Fr. A. Wolf. Aber auch August Friedrich Pott, der geniale Professor für vergleichende Sprachwissenschaften, der neben Franz Bopp, Jakob Grimm und Wilhelm v. Humboldt als Begründer der modernen Sprachwissenschaft zu nennen ist und sich namentlich durch die Übertragung der lautvergleichenden Methode auf die Indogermanistik hohen Ruhm erworben hat, übte auf den jungen Haym erhebliche Anziehungskraft aus. Durch ihn zuerst, so wird man vermuten dürfen, ist Haym auf das Studium W. v. Humboldts geführt worden. Überhaupt wird man die philologische und historisch-kritische Schulung, die er durch Strauß, Gesenius, Bernhardy und Pott erhielt, hoch veranschlagen müssen. Was ihm in diesen Männern entgegentrat, war keine kleinlich beschränkte Buchstabenphilologie. E s war eine Sachphilologie, die in ihren tiefen historischen Einsichten und in ihrem philosophischen Weitblick vornehmlich im Zeichen der romantisch-historischen Wissenschaft und des deutschen Idealismus stand. Die Richtung, die Hayms Denken im Verlaufe seiner Studienjahre genommen, der Stand, den sein Wissen und Können erreicht hat, sie werden deutlich in den Erstlingsschriften, die er bereits als Student in rascher Folge 1 8 4 1 — 4 3 veröffentlicht hat. E s sind Bekenntnisschriften im echtesten und wahrsten Sinne. In naturgetreuer Unmittelbarkeit halten diese Erstlingsarbeiten, die sich äußerlich in die Formeln der Hegeischen Philosophie kleiden und in denen sich ein Übermaß von persönlich-subjektivem, ausgesprochen phrasenhaftem, nicht zur Sache gehörendem Räsonnement breit macht, momentane Einfälle und tiefergreifende geistige Eindrücke, persönliche Stimmungen und Meinungen, das Kämpfen, Suchen und Ringen selbst mit allen seinen Widersprüchen und Spannungen fest. So ist noch alles im Flusse, und nur andeutend kann man den bildungsgeschichtlichen Ertrag von Hayms Studienjahren, wenigstens in einzelnen hervorspringenden Punkten, an Hand der Erstlingsschriften klarzustellen versuchen. Nicht allgemeines Gerede, nur eine behutsam verfahrende kritische Untersuchung vermag da zum Ziele zu führen. Ein im ganzen kümmerliches, an Gehalt und Beweiskraft höchst verschiedenartiges Material bildet für diese Untersuchung die Grundlage: die 1842 anonym erschienene Broschüre „Gesenius. Eine Erinnerung für seine Freunde", die in der Hallischen „All-



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gemeinen Literaturzeitung" erschienenen Besprechungen1) aus den Jahren 1841—43 und die Doktordissertation „De rerum divinarum apud Aeschylum conditione". Unter diesen Denkmälern von Hayms Bildungsentwicklung sind am aufschlußreichsten die Aufsätze über Guhrauers „Heptaplomeres des Jean Bodin" und über Lechlers „Geschichte des englischen Deismus". Diese beiden Bücher, die zu jener Bewegung gehörten, die als „Renaissance der Aufklärung" bezeichnet wurde, hatten für Haym eine innerliche Bedeutung. Stand doch — um von dem englischen Deismus ganz zu schweigen — der religiöse Universalismus des Jean Bodin in einem Bundesverhältnis zu jener rationalistischen Dogmenkritik der Sozinianer und Arminianer, denen Strauß in seinem „Leben Jesu" mit Recht eine so hohe Bedeutung eingeräumt hatte. Die nachfolgende Untersuchung kann sich darauf beschränken, die grundsätzliche Stellungnahme des jungen Haym zum Geschichts- und Religionsproblem klarzulegen. Sie kann sich dabei lediglich auf gelegentlich hingeworfene, begrifflicher Klarheit und Schärfe ermangelnde Reflexionen und Gedankensplitter stützen. Diese gilt es zu ordnen, ihren inneren Zusammenhang aufzuweisen und, soweit wie möglich, ihren ideengeschichtlichen Ursprung festzuhalten. Da erscheint es nun von vornherein als eine überaus bemerkenswerte Tatsache, daß Hayms geschichtliches Denken, an religionsgeschichtlichen Problemen sich orientierend, seinen Ausgang genommen hat von der theologisch-historischen Kritik der Aufklärung und ihrer Fortbildung in der junghegelianischen Religions- und Geschichtsphilosophie, die in den geschichtlichen Symbolen ewige Wahrheiten verkörpert sah. Zwischen der kritischen Arbeit der Aufklärung, der Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus und dem historischen Bewußtsein des 19. Jahrhunderts besteht ein tiefinnerlicher Zusammenhang. In den Abwandlungen, die Hayms geschichtliches Denken durchgemacht hat, gewinnt dieser Zusammenhang repräsentative Bedeutung. x ) Über E . Bertheau, Die sieben Gruppen mosaischer Gesetze, Allgemeine Literaturzeitung, Ergänzungsblätter 1841, Nr. 82—85, Sp. 649—674; G. E. Guhrauer, Das Heptaplomeres des Jean Bodin, Allgem. Literaturzeitung, 1842, Bd. I, Sp. 305—328, 332—336; F. Hitzig, Die Erfindung des Alphabets, ebda. 1842, Sp. 5 1 3 — 5 1 8 , 521 — 536, 540—544; G. V . Lechler, Geschichte des englischen Deismus, ebda. 1842, Bd. III, Sp. 41 — 44, 49—72, 79—80; F. Hitzig, Die zwölf kleinen Propheten, ebda. Mai 1843, Sp. 289— 290, 297—312, 318—320; Fr. v. Sallet, Laienevangelium, ebda. Oktober 1843, Sp. 201 — 207, 213—216.

— 27 — Drei Forderungen sind es, die der junge Hayna, ohne sich selbst darüber theoretisch völlig klar zu werden, an die Geschichtschreibung stellt: Die Geschichtschreibung soll philosophisch, sie soll pragmatisch-exemplarisch und sie soll philologisch-kritisch sein. In diesen Forderungen spiegeln sich, wie sich zeigen wird, alle geistigen Strömungen wider, mit denen er bisher in nähere Berührung gekommen ist: Hegel und die Junghegelianer, die Aufklärung, der Neuhumanismus und die Romantik. Der Geschichtschreiber soll „philosophisch" sein! Das ist die höchste Forderung, die an ihn zu stellen ist und die einem Jünger der „Hallischen Jahrbücher" als durchaus entscheidend erscheinen mußte. Der Geschichtschreiber soll nur das „Vernünftige", das Wesentliche, das alles Konkrete in sich fassende Allgemeine zur Darstellung bringen. Die Geschichte soll „begriffen" und „verstanden", sie soll geistig durchdrungen werden. Alle Einzelheiten sind nur wertvoll als Erscheinungen des „Gedankens". Die wahre Geschichte ist „die begriffene, die sich selbst begreifende Geschichte" 1). Sie ist keine Material- oder Kuriositätensammlung, sondern eine vom dialektischen Entwicklungsgedanken beherrschte Geschichte der „Idee", der „absoluten Vernunft". Im Geschichtlichen offenbart sich das Ewige. Zur Erkenntnis der Idee gelangt man daher erst dann, wenn man ihre konkrete Spiegelung in den einzelnen historischen Erscheinungen beobachtet. Nicht in der Isoliertheit und auch nicht bloß in ihrer chronologischen Abfolge und in ihrem Wirken aufeinander, sondern in ihrem intimen inneren Zusammenhang, in ihrer Einheit sind diese Erscheinungen zu begreifen. Das Sichauswirken der Idee in den verschiedenen Sphären des Kulturlebens ist zu verfolgen, denn Religion, Wissenschaft, Kunst und Politik sind nur die verschiedenen Ausstrahlungen eines und desselben Geistes. Erscheint Haym in diesen programmatischen Sätzen als typischer Hegelianer, so erweist er sich in seiner historiographischen Praxis, soweit von einer solchen in diesen Jahren schon gesprochen werden kann, als ein echter Aufklärer, sobald es sich um das zentrale Problem des historischen Verstehens handelt. Seine Geschichtstheorie, deren wichtigste Grundgedanken wir aus verstreuten Äußerungen zu rekonstruieren versucht haben, bricht in dem Augenblick zusammen, wo er sie praktisch anwenden will. Zwar entnimmt er die starren, dogmatischen Wertmaßstäbe, die er an die historischen Erscheinungen anlegt, nicht nur der Literatur-Zeitung, September 1842, Sp. 49.



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junghegelschen Schule, sondern auch der Hegeischen Philosophie selbst, aber die Art, wie er mißt, ist fast durchweg die Art des 18. Jahrhunderts und der neuen, eine Brücke zum modernen Positivismus bildenden Aufklärung Rugescher Prägung. Neben den Hegeischen Entwicklungsbegriff stellt er den aufklärerischen Fortschrittsbegriff. Von echtem historischen Verstehen, wie es die Romantik, aber auch Hegels relativierende, dialektisch entwickelnde Betrachtungsweise gelehrt hatten, ist er noch weit entfernt. Im Grunde versteht er nur sich selbst und die Welt, in der er lebt. Es muß genügen, dies an seiner Beurteilung des englischen Deismus nachzuweisen. Die Unterlage bot ihm Lechlers Buch, das bis zum heutigen Tage einen gewissen Wert behalten hat. Lechler war aus dem Tübinger Stift hervorgegangen, wo er mit der Gedankenwelt Hegels bekannt geworden war. Seine Geschichtsanschauung hatte durch diese Einwirkung eine wesentliche Vertiefung erfahren, ohne daß sie seine ausgesprochen philologisch-kritische Forschungsweise, die sich mit aktuellem Wirkungsdrang verband, ungebührlich überwuchert hätte. E r war, um mit Gervinus 1 ) zu sprechen, „nicht ein historischer Philosoph, auch nicht einmal ein philosophierender Historiker, sondern bloß ein denkender Historiker". Nach Lechlers Auffassung war Gegenstand der Geschichte nur das, was bis zur Gegenwart fortgewirkt hat. Der Deismus, so meinte er, sei mit der religiösen Krisis der Gegenwart eng verwandt, er habe eine exemplarische, eine unmittelbar aktuelle Bedeutung. Der besondere Vorzug seines Buches besteht nun darin, daß er den Versuch machte, die philosophisch-theologischen Systeme als den begrifflichen Ausdruck der zu ihrer Zeit geltenden Anschauungen und des Grund und Bodens, aus dem sie erwachsen sind, aufzufassen, daß er ihren Zusammenhang mit der allgemeinen Zeitgeschichte nachzuweisen sich bemühte, daß er die „Idee des Deismus" an den führenden Individuen und ihren Gedankenbildungen entwickelte und ihre soziologischen Voraussetzungen zu ermitteln suchte. Das ist ihm nicht immer gelungen, sein Verfahren und seine Gliederung des Stoffes bleiben oft äußerlich, seine kulturhistorische Methode in wesentlichen Stücken bloßes Programm. E s besteht ein Mißverhältnis zwischen Wollen und Vollbringen. Haym hat sich mit den methodischen Grundgedanken dieses Buches wohl einverstanden erklärt, aber er hat Lechler zum Vorwurf gemacht, daß er das „reflektierende Denken" des Deismus nicht an dem „begreifenden Denken" *) Grundzüge der Historik, 1837, S. 33.

— 29 — der absoluten Philosophie gemessen habe. Nicht in seiner Eigenart und in seinem selbständigen Wert, so fordert Haym, ist der Deismus zu erfassen, nicht an seinem eigenen Wollen und Ideal und an den Möglichkeiten, die die Zeit offen ließ, ist er zu messen und auszulegen. Er muß vielmehr als primitive Entwicklungsstufe verstanden werden, von der sich die eigene Höhe um so vorteilhafter abhebt. Er muß auf ein Normalschema bezogen werden und sich das Scheltwort gefallen lassen, daß er es nicht so herrlich weit gebracht hat wie die Religionsphilosophie der junghegelschen Schule. Wird die philosophische Behandlungsweise der Geschichte in diesem Sinne verstanden, so erklärt sich leicht die zweite Forderung, die Haym an die Geschichtschreibung gestellt hat und die wir in die Formel gekleidet haben: die Geschichtschreibung soll pragmatisch-exemplarisch sein. Sie muß von den Kämpfen der Gegenwart ihren Ausgang nehmen und aus der Vergangenheit die Gegenwart begreiflich zu machen suchen. Sie soll nicht reine Kontemplation sein, vielmehr bestimmte Tendenzen verfolgen und Nutzbetrachtimg sein. Sie darf nicht in antiquarischen Konservatismus ausarten, der alles Vergangene, bloß weil es vergangen ist, als historisch gelten läßt und mit verstehender Liebe zu erfassen und zu rechtfertigen sich bemüht. Alle großen Historiker seit Thucydides und Tacitus, das ist Hayms Meinung, gingen darauf aus, „aus der Vergangenheit die Gegenwart zu begreifen und für die Zukunft von daher Hoffnung, Trost und Lehre zu schöpfen"1). Man muß — und damit sprach er, an letzte Dinge rührend, eine ewige Wahrheit aus — den lebendigen Pulsschlag des gegenwärtigen Lebens fühlen, um vergangenes Leben verstehen und deuten zu können. Man muß — und damit hat er einen Grundsatz formuliert, der zu den vornehmsten seiner späteren Geschichtschreibung gehört hat — das Große in der Vergangenheit aufsuchen und es der Gegenwart vor Augen stellen, damit sie zur aktiven Tat begeistert werde. Wissenschaft und Leben müssen sich miteinander verbinden, das ist der Gedanke, der uns hier zum erstenmal begegnet. Diese praktisch-ethisch willensmäßige Haltung der Geschichte gegenüber steht gewißlich unter dem Einflüsse der aufklärerischen Geschichtsauffassung, aber im letzten Grunde entsprang sie doch Hayms Naturell und seiner geistigen Wesenheit, für die das spannungsreiche Nebeneinander von reinem Forschungsdrang und Trieb zu aktiver Gegenwarts- und Zukunftsgestaltung charakteristisch ist, ein Literaturzeitung,

September

1842, S p . 43t.

— 30 — Nebeneinander, das in einem Korrelatverhältnis zu den Bedürfnissen seiner Zeit stand. Dieser von Haym programmatisch verkündete didaktische Pragmatismus hat nichts zu tun mit jenem ärmlichen Subjektivismus, wie er einer großen Gruppe der Aufklärungshistoriker eigen gewesen war, die die Geschichte in eine aus kleinlichen Leidenschaften und Trieben in Gang gesetzte berechenbare Kausalitätenreihe auflösten, um erbauliche Betrachtungen und moralisierende Lehren daran anzuknüpfen. Aber es bleibt doch ein Pragmatismus, der durchaus als Erbe der Aufklärung zu verstehen ist. Daß philosophische und pragmatische Geschichtsbetrachtung sich sehr wohl, wenn auch nur äußerlich, miteinander verbinden konnten, hatte Voltaire, der wohl größte Historiker der Aufklärung, durch die Tat bewiesen. Philosophie der Geschichte hieß für ihn, die Geschichte vom Standpunkt der Philosophie, d. h. der pragmatisch verfahrenden Aufklärung und ihrer Postulate, aus schreiben und aburteilen. Und für Haym war in diesen Jahren die „wahre", die „philosophische" Geschichtschreibung doch nur die, die vom Standpunkt der durch die Brille des Junghegelianismus gesehenen Hegeischen Philosophie aus die Geschichte behandelte und über ihr zu Gericht saß. So wie bereits die Aufklärung Religion, Kunst und Wissenschaft im Zusammenhang mit dem Leben der Nationen betrachtet hatte — ein Gedanke, den Hegel schon als Jüngling von der Aufklärung übernommen hat —, so bestand auch hinsichtlich der Maßstäbe zur Beurteilung historischer Erscheinungen und dem letzten Ziel der Geschichtschreibung, der Propaganda für bestimmte Tendenzen und Prinzipien, zwischen dem Denken der Aufklärung und dem Denken des jungen Haym nur ein gradueller, aber kein Wesensunterschied. Hier wie dort haben Stoffauswahl und Standpunkt durchaus subjektiven Charakter. Erst mit seiner dritten Forderimg, daß der Geschichtschreiber philologisch-kritisch verfahren, daß er Ehrfurcht vor den historischen Tatsachen haben müsse, geht Haym unter Aufnahme und Anerkennung aufklärerischer Tendenzen doch zugleich grundlegend über sie hinaus. Jetzt beginnen die Anregungen sich auszuwirken, die er der neuhumanistischen und romantischen Philologie verdankt. Diese Philologie hat zu ihren tiefen Einsichten nur gelangen können auf Grund der kritischen Glanzleistungen, die die Theologen und Philologen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts vollbracht hatten. Ohne sie wären Gesenius, Bernhardy, Pott, Hayms Lehrer, gar nicht zu denken. Jetzt wird deutlich sichtbar, was Haym ihnen und Strauß zu danken hat, dem als Erbe seiner

— 31 — romantischen Jugend wesentliche Elemente der romantischen Geschichtsauffassung überkommen waren. Strauß' Mythusbegriff beruht auf dem Glauben an die in der Tiefe des Kollektivgeistes unbewußt wirkenden Kräfte. Auch die Einwirkung Lessings, der dem modernen geschichtlichen Denken den Weg mit hat bereiten helfen, ist bis in den Wortlaut hinein bei Haym deutlich spürbar. Dem historischen Bewußtsein seiner Zeit entsprechend, beruhen seine Thesen auf der stillschweigenden, optimistischen Voraussetzung, daß es eine objektiv richtige Methode gibt, die die Fähigkeit besitzt, die historische Wirklichkeit abbildhaft wahrhaftig zu erkennen und zur Darstellung zu bringen. Er wird nicht müde, „Achtung vor der objektiven Wahrheit"1), „Achtung vor dem historisch Gegebenen"2) zu predigen und vor himmelstürmenden Hypothesen und verwegenen Kombinationen zu warnen. Alles objektiv Gegebene, wie gering es immer sei, hat, in einen historischen Zusammenhang gestellt, als solches seinen Wert und darf nicht übersehen werden. Der Historiker darf sich die Unbefangenheit seines Urteils nicht durch vorgefaßte Meinungen trüben lassen, für die er eine Bestätigung in der Geschichte sucht. Die wahre Virtuosität im Erkennen und Auffinden der Wahrheit erfordert zwar die souveräne Beherrschung des gelehrten kritischen Handwerkszeugs, aber sie erschöpft sich nicht darin. Sie verlangt vielmehr „kritischen Takt" 3 ). Die wahre Quellenkritik begnügt sich nicht damit, die nackten Tatsachen richtigzustellen und ihren äußerlichen Kausalzusammenhang nachzuweisen. Sie geht darauf aus, die Tatsachen als' Äußerungen menschlichen Daseins, menschlichen Seelenlebens und ideeller Kräfte zu verstehen. Es bedarf einer feingliedrigen, psychologischen Kritik, um dem Wirken der schöpferischen, emotionalen und unbewußten Kräfte in der Geschichte nachzuspüren und die innere Notwendigkeit der Geschehnisse zu erklären. Es ist das eine Notwendigkeit, die über bloße Verstandesgesetzmäßigkeit hinausgeht. Aus der Objektivität der Darstellung muß die höhere, schicksalhafte Notwendigkeit, das Walten des Weltgeistes, erhellen. Die wahre Geschichtschreibung erhebt sich so — nach Schellings Wort — zur „historischen Kunst"4). Das sind Grundsätze, die einer neuen Epoche geschichtlichen Denkens angehören, einer Epoche, die mit Herder — von dem Haym in diesen x

) Literaturzeitung, August 1842, Sp. 515. ) Intelligenzblatt der Literaturzeitung, April 1843, Sp. 150. ®) Literaturzeitung, August 1842, Sp. 516. *) Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, hrsg. von O. Braun, 1907, S. 118. a

— 32 — Jahren bereits einige Schriften kannte — ihren Anfang genommen hat. Moderne, der Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus und der Romantik entstammende, gar nicht mehr aufklärerische Grundsätze, die in einem schweren Widerspruch stehen zu Hayms konstruktivem Dogmatismus. Er hat diesen Widerspruch zunächst gar nicht als solchen empfunden. So kann man denn in seiner philologisch-historiographischen Praxis seltsame Beobachtungen machen. Sein Lehrer Gesenius beispielsweise muß es sich gefallen lassen, als ein Mann charakterisiert zu werden, dem die Fähigkeit abgehe, die Tatsachen geistig zu durchdringen. In ihm verkörpere sich die „Gedankenlosigkeit des Empirikers"1), der, da er nur am einzelnen hafte, bei dem „harmlosen sich Erfreuen und Verbleiben bei den Dingen, wie sie liegen"2), nicht zur Erkenntnis des Allgemeinen, zu der wahrhaft gedankenmäßigen, begrifflich-philosophischen Darstellung gelange. Die höheren Regionen der Idee seien ihm verschlossen geblieben. Als Gelehrter war er nur ein halber, kein ganzer Mann, denn „das Maß eines Mannes ist seine Stellung zu Idee"3). In diesen Sätzen enthüllt sich Haym einmal -wieder als Parteigänger Arnold Ruges. Die Annahme aber, daß diese vorwitzigen spekulativen Wertmaßstäbe die philologisch-kritische Methode zum bloßen Postulat herabgedrückt hätten und daß Haym nicht imstande gewesen sei, die niedere, formale und die höhere, psychologische Kritik in fruchtbringender Weise in Anwendung zu bringen, würde durchaus in die Irre gehen. Für Hayms quellenkritischen Scharfsinn liegen mancherlei Zeugnisse vor. Ein Beispiel muß hier genügen. Einem so gründlichen Forscher wie Guhrauer gegenüber hat er den Nachweis geführt, daß die Idee, die Bodins „Heptaplomeres", dieses, hohe Lied der Toleranz und des religiösen Universalismus, verkörpere, von dem religiösen Standpunkt des Verfassers unterschieden werden müsse, daß Bodin nicht mit Toralba, der Hauptfigur des Gesprächs, identifiziert werden dürfe. Der wahre Sachverhalt sei vielmehr der, daß Bodin mit einem Urteil über die Wahrheit der Religionen zurückgehalten habe. Der junge Haym hat hier einen Nachweis geführt, den Diltheys berühmte, von Bezold erneut bestätigte Forschungen nach Jahrzehnten näher begründet haben4). J

) Haym, Gesenius, S. 18. ) Ebda., S. 10. ») Ebda., S. 8. 4 ) Vgl. Dilthey, Gesammelte Schriften II, 145 ff., F. v. Bezold, Aus Mittelalter und Renaissance, 1918, S. 317. 2

— 33 — Daß Haynas theoretisches Geschichtsdenken bereits in diesen Jahren über die Geschichtsauffassung der Aufklärung wesentlich hinausgeht, zeigt sich nun auch noch in einem speziellen Punkte, in seiner Auffassung von der Stellung der großen Individuen in der Geschichte. Von früh auf, schon in seiner Primanerzeit, war sein geschichtliches Interesse vor allem auf die Erfassung der großen geschichtlichen Persönlichkeiten gerichtet. In ihnen erblickte er die eigentlich bewegenden Kräfte des geschichtlichen Lebens. Er sah in ihnen nicht, wie die Aufklärung, berechenbare, vom Eigeninteresse getriebene Einzelkräfte, sondern in sich geschlossene Totalitäten, Träger von Ideen, deren Verständnis nur auf biographischem Wege erschlossen werden könne. Denn wie original auch immer der Kern ihres Wesens und wie spontan auch ihr Hervortreten sein mag, mit der geschichtlichen Welt stehen sie im innersten Zusammenhang. In einem ungedruckt gebliebenen kleinen Fragment aus dem Jahre 1841 hat er den Weg angedeutet, den eine solche Biographie zu gehen habe: „Es gilt von dem äußeren Umkreis des Lebens nach seinem Innern zu schauen. In der Erforschung seiner Bewegung einen Sinn und eine Bedeutung zu erspähen." Diesen inneren psychischen Sinn, „die zusammenhaltende und beherrschende Energie des Lebens, die Seele des ganzen Organismus"1) gilt es in ihrer individuellen Eigenart zu erfassen, andererseits aber in Beziehimg zu setzen zum Geist der Zeit. Daher gewinnt die genetische Erklärung und die Erforschung der inneren Motive des Handelns vermittels der historisch-psychologischen Methode erst dadurch ihre rechte Bedeutung, daß sie die Darstellung des dem Handeln immanenten Ideengehaltes ermöglicht. Um es mit einem Wort zu sagen: Die großen geschichtlichen Persönlichkeiten sind ihm — ganz hegelisch — nur die Mittel, deren der Weltgeist sich bedient, um zu seiner Realisierung zu gelangen: „Das nämlich ist seine (des Genius) wahrhafte Größe, daß er die objektive Gestalt seiner Zeit durch seine Subjektivität repräsentiert, und deshalb mit jener in höherem Einverständnis ist. Was er tut, ist dann die wahrhafte Meinung der Zeit, und er ist allemal der Messias, der Erfüller aller Hoffnungen und Ahnungen des Bisherigen" 2 ). Von diesen Gesichtspunkten aus hat Haym sich 1842 in einem Exkurse seiner Deismuskritik um das Verständnis der Persönlichkeit und der geistigen Welt des Grafen Shaftesbury bemüht. Die nähere Bekanntschaft mit dem sensualistischen Aufklärer s

Literaturzeitung, September 1842, Sp. 61. ) Haym, Gesenius, S. 41.

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— 34 — Shaftesbury war für ihn von erheblicher Bedeutung. War es doch Shaftesbury, der durch sein ästhetisch-pantheistisches Weltbild auf den deutschen Klassizismus und Idealismus bis zu Hegel hin und auf die religiöse Gedankenbildung Lessings und des Wolfenbütteler Fragmentisten auf das stärkste gewirkt hat. Haym spürte der zentralen Idee des Shaftesburyschen Systems nach, und er erkannte sie richtig in jenem ästhetischen Optimismus, dessen bestimmende Grundkraft die Harmonie ist. Harmonie, Ausgleich der Gegensätze, erfüllt die Welt, die Moral und den Menschen. Durch Harmonie wird der Mensch zur Persönlichkeit, zur Vertiefung in sich selbst emporgeläutert, zur Einheit mit sich und der Natur. Das Schöne ist identisch mit dem Wahren und Guten. Shaftesbury hat sich von dem Geiste der Antike genährt, dadurch ist er dem Christentum entfremdet worden. Seine Religion war Heidentum, Kunstreligion, Religion des Schönen. Das ästhetisch-normative Ideal der neuhumanistischen Griechenauffassung hat ihm die Einsicht in die Wahrheit des Christentums versperrt. Der Geist, der ihn bestimmte, „der Geist von Rom und Hellas" ist ein „edler, herrlicher Geist". „Er ist wohl imstande, noch heutzutage, nachdem wir längst einen heiligeren Geist überkommen haben, eine tüchtige Menschenseele ganz zu erfüllen und solch ein verklärtes Heidentum, ganz durchzogen von der Idee des Schönen und Guten, um wieviel göttlicher erscheint es in solchen Figuren, wie Goethe, Winkelmann, Shaftesbury, als eine matte und sieche Orthodoxie!"1) Shaftesbury — und nunmehr drängen sich die dogmatischen Wertmaßstäbe wieder in die Betrachtung hinein — ist aber nur bis an die „Schwelle des Tempels"2) gekommen, in dem das wahrhaft philosophische, im Geiste von Strauß verstandene Christentum seinen Altar aufgestellt hat. Erst das philosophische Bewußtsein der Gegenwart, das alles Vergangene in sich begreift und das Resultat der ganzen bisherigen Entwicklung ist, ist die „Spitze aller Lebensmomente", das erreichte Absolute. „Das Zeitalter des Homer ist gleicherweise wie das spezifischer Christlichkeit in das gegenwärtige hineingeborgen"3). Hayms Auffassung vom Wesen der christlichen Religion ist in diesen Jahren im wesentlichen durch Strauß bestimmt. Das aber bedeutet, daß seine Religionsauffassimg über einen bloß schulmäßigen Hegelianismus hinausgeht, daß sie mit der Romantik im Zusammenhang steht. Durch Strauß ist Haym mit Schleierl)

Literaturzeitung, September 1842, Sp. 67. Ebda., Sp. 69. *) Literaturzeitung, Oktober 1843, Sp. 201 f.

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— 35 — macher bekannt geworden. Die „Reden", die „Monologen", die „Dogmatik" hat er noch als Student gelesen, mit den Augen von Strauß gelesen. Da erscheint denn Schleiermacher als der Kant der Theologie, als der Zertrümmerer der theologischen Scholastik, der Überwinder von Rationalismus und Supranatüralismus, der auf halbem Wege stehen geblieben ist, da es ihm, um mit Strauß selbst zu reden, „an der wahren Vermittlung des Dogmas mit dem Begriff, der Geschichte mit dem Ideellen"1) fehlte. Den Grundgedanken der „Reden" aber übernimmt Haym. Das Wesen der Religion ist Abhängigkeit, Gefühl, Immanenz des Göttlichen im Menschlichen"2). Aber da ist es nun bezeichnend, daß die emotionale Seite dieses Gedankens, die Feuerbach in reiner und unverfälschter Weise verkündet hatte, von Haym im Anschluß an Strauß ins Intellektualistische und Spekulative umgebogen wird. Gewiß, die Religion bleibt abhängig von Gefühl und Gemüt, aber von der Wissenschaft wird sie nicht losgelöst. Ihre eigentliche Wurzel bleibt doch der Drang des Menschen nach Selbsterkenntnis. Die absolute Religion, die Religion des Philosophen ist Pantheismus, sie ist getragen von dem Glauben an die Vernunft, an die Durchgeistigung der Welt, von dem Glauben an die Liebe als der wahren Einheit von Mensch und Gott. Das Selbstbewußtsein des Menschen weiß sich eins mit Gott. In der Idee dieser Versöhnung liegt es, daß sie sich nicht in einem Individuum, einmal und an einem Orte verwirkliche in der Gestalt Christi, in der Gattung vielmehr wird sie wirklich. Das Objekt des Glaubens ist der Glaube an die Gottmenschheit. Es sind im wesentlichen die Konsequenzen, die Strauß aus den Ergebnissen seiner historisch-kritischen Bibelinterpretation gezogen hat, zu denen Haym sich bekennt. In Strauß' Lehre glaubte er die von allen Schlacken gereinigte Idee in ihrer ganzen Würde und Herrlichkeit zu schauen. Und mit dem Herzen, mit wahrer Innigkeit war er diesem so verstandenen Christentum zugetan. Der theologische Rationalismus, der Glaube seiner frühen Jugend, erschien ihm demgegenüber jetzt nur als ein schaler Ausdruck des gesunden Menschenverstandes, als „der Schatten einer Idee"3), der man sich nur deshalb ergeben konnte, „um wenigstens mit dem Dogma der Kirche verschont zu bleiben"4). Einige Jahre später, als er den Glauben an die spekulativen Ideen, in die Strauß das Christentum aufgelöst hatte, verlor und, vor allem im Anschluß an Lessing, 2)

Charakteristiken und Kritiken, 1839, S. 208. Haym, Gesenius, S. 22.

8) Gesenius, S. 30. «) Ebda., S. 31.

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— 36 — das Wesen des Christentums in der praktischen Bewährung der Liebe erblicken lernte, da hat er den Weg zu einer positiveren Würdigung des theologischen Vulgärrationalismus zurückgefunden. Uber Hayms Doktordissertation „De rerum divinarum apud Aeschylum conditione" ein Urteil zu gewinnen, ist um so schwieriger, als sie ein Fragment geblieben ist. Hayms theologische, philosophische und philologische Studien zugleich hatten ihn zu diesem Thema geführt. Der tiefe ethisch-religiöse Gehalt der Weltansicht des Äschylos, der in dem Einklang von göttlicher und menschlicher Ordnung den Ursprung der Sittlichkeit erblickte und ein vernunftloses Walten der Schicksalsmächte von sich wies, der die subjektive Freiheit an die Notwendigkeit des unverbrüchlich in Mythos und gegenwärtiger Wirklichkeit geltenden Sittengesetzes band, schien Haym zusammenzuklingen mit Hegels idealistischer Lehre vom absoluten Geist. Diese Lehre, die das ästhetische, religiöse und philosophische Leben nur als verschiedene Ausgestaltungen des Absoluten auffaßte, das in den Formen der Anschauung, der Vorstellung und des Begriffs zur Entwicklung und zum Abschluß gelange, gedachte Haym an Äschylos' Tragödien aufweisen zu können. Es war nun endlich die Zeit gekommen, wo er von den Junghegelianern zu Hegel selbst zurückging und ihn gründlich zu studieren begann. Indem er nun aber Hegels „Ästhetik" kennenlernte und sich an deren Grundsätze anschloß, geriet er in eine Sackgasse, aus der er zunächst nicht wieder herausfand. Das Prinzip des griechischen Lebens, so lautet ja Hegels bekannte geschichtsphilosophische Konstruktion, ist die glückliche Mitte, die ungetrübte Harmonie zwischen selbstbewußter, subjektiver Freiheit und sittlicher Substanz. Der höchste Ausdruck für das Absolute ist in Griechenland die Kunst. In ihr erfüllt sich in naiver Form die Identität von Idee und Erscheinung, in ihr gelangt das klassische Ideal zu seiner Vollendung, von ihr ist die griechische Religion abhängig. Die griechische Religion ist „schöne" Religion, sie ist die Religion der Kunst selber1). Das ist das Schema, das Haym seiner Äschylosstudie zugrunde legte und das er als wahr und richtig erweisen zu können glaubte. Eine philosophische Trilogie sollte seine Schrift werden. Aber er ist über die unterste Stufe dieser Trilogie nicht hinausgekommen. Dieser erste Teil seiner Arbeit bemüht sich um den Nachweis, daß „die Götter dem Dichter gehorchen" 2 ), daß die theologischen !) Vgl. Hegels Ästhetik, Werke X , Teil II, 15 ff. 2)

De rerum etc. p. 22.

— 37 — Vorstellungen des Äschylos poetischen Ursprungs sind. An der Charakteristik der Götter bei Äschylos, die für dessen religiöse Ansichten nur die Formen und Symbole bilden, wird diese Auffassung demonstriert. Diese Ansichten selbst in ihrer religiösen Innerlichkeit sollte der zweite Teil und ihren Zusammenhang mit der philosophischen Form der äschyleischen Weltansicht der dritte untersuchen. Daß Haym mit dem Nachweis dieses dialektischen Aufwärtssteigens nicht zustande gekommen ist, legt die Vermutung nahe, daß er mit dem Widerspruch, der in Hegel selbst lag, nicht fertig geworden ist. In Hegels System erscheint die Kunst gegenüber der Religion als eine niedere Form des Bewußtseins, in der „Ästhetik" dagegen und namentlich in der Analyse des historischen Griechentums als durchaus übergeordnet. Hier wird die Religion von der Kunst aufgesogen. Man wird annehmen dürfen, daß Haym bei der konkreten Ausführung seiner Aufgabe die Unmöglichkeit einer strikten Durchführung des abstrakten Systemgrundsatzes erkannt hat, ohne daß er sich zu dem Versuch einer prinzipiellen Lösung des zutage liegenden Widerspruches bemüßigt gefühlt hätte 1 ). So wird es verständlich, daß ein exakt philologischer Beurteiler wie Bemhardy „weder etwas Positives noch einen spekulativen Fortschritt" 2 ) in der Arbeit sah. Mehr Verständnis für den spekulativen Hintergrund hatte der geistreiche Äschylosübersetzer J . G. Droysen3). Vielgestaltig und ungleichartig waren die Bildungsmotive, die auf den jungen Haym bestimmend eingewirkt haben; zwiespältig und widerspruchsvoll war der Reflex in seiner Seele. Eine sensible und empfängliche Natur, hatte er den Geist seiner Zeit zwar nicht in seiner Ganzheit — denn das ließ die Begrenztheit seiner Anlage nicht zu —, aber doch in seiner Mannigfaltigkeit auf sich wirken lassen. Er fand Eingang in seine Seele, er ergriff Herz und Verstand, aber für seine Lebens- und Weltanschauung hat er ihm als dauernden Besitz nur entnommen, was seiner Eigenart und den Bedürfnissen seiner Natur entsprach. Selbst als unreifer junger Parteigänger hatte sich Haym eine gewisse Originalität bewahrt, die in entscheidenen Momenten 1 ) Im Gegensatz zu seiner Dissertation hat Haym übrigens in der Literaturzeitung, September 1842, S. 64 ff., ganz im Anschluß an die „Enzyklopädie" das Verhältnis von Kunst und Religion bestimmt. 2 ) Aus den Akten des philos. Dekanats Halle; vgl. auch Bernhardys Urteil in seinem Grundriß der griechischen Literatur, 2.Teil, 2. Abtlg., 1880, S. 202. s ) Vgl. Gustav Droysen, J . G. Droysen, I, 74, 2 1 5 ; vgl. auch Droysens Briefwechsel, hrsg. von R. Hübner, 1929, I, 254ff.

— 38 — deutlich sichtbar wird. So war es mehr oder weniger bei allen tieferen Köpfen seiner Generation. Unendlich viel ist im Laufe seines langen Lebens durch Haym hindurchgeflossen. Als feste Elemente seiner Bildung hat sich davon nur wenig festgesetzt. Das meiste verlor sich in die Sphäre des Unbewußten, aber in der Form der Gesinnung, der allgemeinen Denkweise blieb es ihm verloren. In seiner Studentenzeit ist Haym vor allem ein Jünger der neuen Aufklärung Rugescher Prägung gewesen. Das aber bedeutet, daß bereits in diesen Jahren die Mächte gestaltbildend auf ihn zu wirken begannen, die ihn auf die Höhe seines Lebens geführt haben: der deutsche Klassizismus und der deutsche Idealismus. Haym war der Sohn einer der konkreten Wirklichkeit sich zuneigenden, aktiv und politisch gestimmten Zeit. Wie er den Geist dieser Zeit auf den idealen Geist der vorangegangenen humanitären Bildungsepoche zu gründen gestrebt hat, das bildet das eigentliche Problem der Jahre von 1843—48 oder, wie man auch sagen kann, das Problem seines Lebens. Bildung der Menschheit durch Bildung der Individuen, durch Ausweitung zur Persönlichkeit, das vor allem ist der eminent wichtige Gedanke, den er den Heroen des Zeitalters der Humanität zu danken hat. Während David Friedrich Strauß für Haym nicht mehr als eine zwar einschneidende, aber dabei kurze • Entwicklungsphase gewesen ist, die keine nachhaltigen Spuren besonderer Art in ihm hinterlassen hat, ist Arnold Rüge, obwohl dieser nur wenig Originales zu bieten hatte, als Mittler und Anreger für ihn außerordentlich wichtig geworden. Rüge, der Fortbildner Hegels nicht nur, sondern auch der Aufklärung und des theologischen Rationalismus, hat jenem entschieden protestantisch-rationalistischen und freisinnigen Geiste, der Haym von früher Jugend an vertraut war, erst die entscheidende und zukunftsvolle Richtung gegeben, indem er ihn mit dem Reichtum der geschichtlichen Vergangenheit in Zusammenhang brachte, mit Luther, Leibniz, Goethe, Schiller, Kant, Fichte und Hegel. Der hochgespannte Idealismus, das Pathos der Gesinnung, der Rigorismus des sittlichen Standpunktes, der Drang nach Aktivität, die lebendige, jugendliche Frische, der kecke, draufgängerische Mut, wie sie Rüge eigentümlich waren, haben in Haym verwandte Saiten zum Klingen gebracht. Schlummernde Kräfte begannen sich nunmehr zu entfalten. Und auch das hatte er vornehmlich Rüge zu danken, daß der unklare Schwarmgeist, die goldenen Illusionen und politischen Träume der Burschenschaft, denen er i n seinen Studentenjähren ergeben gewesen war, „das Gefühl

— 39 — für Recht, Freiheit, Tugend, Ehre, Vaterland und Gemeinschaft", „der Geist der Kraft und des Mutes, der Bruderliebe, der Treue und Wahrheit, der Geist des Biedermannes, der deutsche Geist" 1 ), daß dieser Geist nun an konkretem Gehalt und schließlich doch auch an Realismus gewann. All das wäre früher oder später auch ohne Rüge so geworden, denn alle diese Züge lagen nicht nur in der Richtung von Hayms Natur, sondern auch in der Richtung des Geistes der Zeit. Ruges politischen Radikalismus hat Haym ja ohnehin nicht mitgemacht, und seine eigentlichen politischen Erzieher vor 1848 sind neben den Ereignissen und Tatsachen selbst vor allem Gervinus, Dahlmann und Duncker gewesen. Aber auch so bleibt die Einwirkung Ruges bedeutsam genug. Haym ist sich dessen auch bewußt geblieben. Nicht ohne warme Sympathie und Dankbarkeit hat er auch in späteren Jahrzehnten an diesen Kämpen zurückgedacht, wie er die kritisch begeisterte, jugendlich-stürmische Generation zu packen und den sublimierten Spiritualismus mit mehr als göttlicher Grobheit zu mischen verstand. *) Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und. der deutschen Einheitsbewegung, II, 288.

ZWEITES K A P I T E L .

DIE BEGRÜNDUNG DES „SITTLICH-PRAKTISCHEN IDEALISMUS".

In verhältnismäßig langsamem, aber dabei keineswegs bedächtigem, selbstsicherem, organisch wachsendem, vielmehr von unruhigen und unerwarteten Stößen erfülltem Reifeprozeß hat Haym seinen Genius gefunden und ist er sich über seine Berufung klar geworden. Die entscheidende Wandlung von dem unklaren Schwärmer und spekulierenden Phantasten zu dem festgefügten, sich seiner Lebensaufgabe voll bewußten Charakter von geprägter Eigenart hat sich in der Zeit vom Ende 1843 bis 1848 vollzogen. Über äußere Not und innere Kümmernis ist er damals mutig hinweggeschritten, am Abgrunde eines oberflächlichen, haltlosen, unproduktiven Literatentums nahe vorbeigeglitten. Nach dem Abschluß des akademischen Studiums war Haym im Frühjahr 1844 Probekandidat am Köllnischen Gymnasium und Lehrer an der Nobackschen Handelsschule in Berlin geworden. Nur widerwillig und mit zweifelhaftem Erfolge hat er anderthalb Jahre im Schuljoch ausgehalten, und nur notgedrungen ist er seinen beruflichen Pflichten nachgekommen. Ein neuer Sinn und Gehalt des Lebens war ihm inzwischen vor die Augen getreten. War er bereits als Student durch das für ihn entscheidende Bildungserlebnis des Junghegelianismus zum Bruch mit der Theologie und damit zu einer Änderung seines Lebensplanes vorwärtsgetrieben worden, so erhielt seine Entwicklung jetzt einen zunächst noch mächtigeren Auftrieb durch die leidenschaftliche Hingabe an die idealistische Philosophie. Innerlichst ergriffen, ja geradezu berauscht von dem Gehalt des spekulativen Idealismus und der gegenständlichen Leistung der Romantik, trat er der Entgeisterung und Entzauberung der Welt, der unmusischen Lebenshaltung des „Philistertums", der nüchtern-prosaischen Wirklichkeit mit schroffer Ablehnimg gegenüber. Nur ein inneres Leben schien ihm noch wahres Leben, nur ein Leben auf den Höhen der philosophischen Idee wahre Wirklichkeit zu sein. Und mit jenem überschwänglichen Enthusiasmus und jener rigorosen Unbedingtheit, wie sie der jungen geistigen

— 41 — Generation damals eigen waren, hat er sich diesem Leben in „Ideen" hemmungslos hingegeben und seine ganze Kraft auf ein eindringliches Studium der antiken Philosophie und der großen Systeme und Systemkonzeptionen des deutschen Idealismus konzentriert. „Wie oft habe ich", so schrieb er im September 1844 an einen Universitätsfreund, „die Freude des Entdeckers noch bei den letzten Schriften des Alten vom Königsberge gehabt — und jetzt, Du glaubst es kaum, jetzt hat mich Fichte mit ehernen Armen umschlungen. Welch' ein Mensch, dieser Fichte! Mein guter Geist helfe mir weiter; wie soll es werden mit Schelling und Hegel, da ich schon bei Johann Gottlieb Fichte vor Jubel bersten möchte. Hilf, Himmel! welch' eine Wollust, seit ich die Taufe des Gedankens empfangen!" Mit seinem in dieser Periode seines Lebens beweglich aufnahmefähigen, anschmiegsamen, zum steten Umlernen und Anpassen bereiten Geiste stand Haym vor der Gefahr, seine philosophischen Studien zur „occasio" romantischer Produktivität, zum Anlaß eines ästhetischen Rausches werden und in ein haltloses Schwelgen in „Ideen" zerfließen zu lassen. Von Eindruck zu Eindruck, von Erlebnis zu Erlebnis hin und her geschleudert, fand er, wenigstens vorübergehend, erst wieder festen Boden, als er mit seinen Studien bei Hegel angelangt war. Für eine kurze Zeitspanne ist Haym zu einem blinden Nachbeter der Hegeischen Philosophie geworden. Die Abwandlungen der philosophischen Gedankenwelt von Kant bis Hegel, ja die Gesamtentwicklung der Philosophie erschienen ihm in dieser Zeit nur als die Vorstufen zu der allversöhnenden großen Synthese der Hegeischen absoluten Philosophie, die man nur denkend zu durchdringen, deren Ergebnisse man nur zu wissen brauche, um der Lösung der Lebens- und Welträtsel sicher zu sein. Sein Lebensgefühl hat durch diese einseitig rationalistische Interpretation der Hegeischen Philosophie zunächst einen mächtigen Auftrieb erfahren. So überspannt und sachlich ungerechtfertigt, weil auf einer irrigen Voraussetzimg beruhend, dieser Auftrieb auch war, so gewaltsam und maßlos war die Reaktion, die ihm folgte. Daß diese Ernüchterung schon um die Wende des Jahres 1844/45 eintrat, hatte Haym der Einwirkung eines Kollegen, des Oberlehrers Wilhelm Busse am Köllnischen Gymnasium, zu danken. Die Berührung mit diesem Manne bedeutete einen Wendepunkt in Hayms innerem Leben. Auf Grund zahlreicher Gespräche, die er mit Busse führte, reifte in ihm in der Stille der Gedanke, daß die Konstruktionen der spekulativen Vernunft nur

— 42 — relative Beweiskraft besitzen und daß die Sprache eine schöpferische Macht darstelle, der ein gleichberechtigter Platz neben Philosophie und Religion gebühre. Im ersten Überschwang der nun hervorbrechenden, gegen das abstrakt-spekulative Denken, wie gegen den Primat der theoretischen Vernunft sich richtenden Oppositionsstimmung hat Haym naiverweise geglaubt, sich mit einem gewaltsamen Sprung von Hegel befreien, ihn einfach „überwinden" zu können. Von dem Wunsche beherrscht, in antihegelschem Geiste die Philosophie neuen Zielen entgegenzuführen, ist er kurz entschlossen im September 1845 aus dem Schuldienst ausgetreten und nach Halle übergesiedelt, um dort seine Habilitation zum Privatdozenten der Philosophie zu betreiben. So sehr glaubte er seiner Sache sicher zu sein, daß er bereits am 4. August 1845 dem Habilitationsgesuch, das er dem Kuratorium der Universität Halle einreichte, den Satz einfügen konnte, daß es ihm als die Aufgabe seines Lebens erscheine, „an der wahren Weiterführung und Überwindung einer Philosophie arbeiten zu helfen, welche in ihrer Abgeschlossenheit dem Fortschritte der Zeit und ihren Bedürfnissen sich entfremdet, in den schiefen und übereilten Konsequenzen jedoch, zu denen sie den Anlaß gegeben, dem Staate und seinen Institutionen, ja, jedem gesunden und Maß haltenden Leben feindlich zu werden dlroht"1). Noch deutlicher wurde Haym dem Minister Eichhorn gegenüber. Längst vergangen und längst überwunden, so schreibt er diesem am 30. September 1845 2 ), sind die Torheiten und Ansichten der Studentenzeit. Was davon geblieben, ist einzig und allein „der Ernst und Eifer meiner Gesinnung. Anders dagegen ist die Ansicht geworden, anders die wissenschaftliche Uberzeugung, anders auch meine Weise, das Leben und die Verhältnisse des Staats zu betrachten. Ein abstraktes Eingreifen in die Maßregeln einer erleuchteten Regierung halte ich jetzt in reiferen Jahren für Torheit und Anmaßung; ja, was mehr ist, die Praxis überhaupt ist längst nicht mehr das Element, in dem ich mich wohl fühle, geschweige denn ein aufgeregtes und oft sinnloses Treiben, wie es die Gegenwart nur allzu sehr Hebt. Ich suche zwar auch die Praxis; aber auf theoretischem Wege. Ich möchte dem Leben sein Recht nicht rauben, aber mich selbst in das, zum Teil so unverständige Drängen der Zeit zu stürzen, ist mir widerwärtig. Ich suche und begehre nichts als die Ruhe einer *) Aus den Akten des philosophischen Dekanats der Universität Halle. 2 ) Briefwechsel Hayms, 1930, S. 27 ff.

— 43 — philosophischen Existenz und die Möglichkeit, eine lernbegierige Jugend zur Liebe für die Herrlichkeit des Gedankens, zum Eifer für das sittlich Große und Gute zu entzünden. Ich möchte nichts versprechen, was ich nicht halten könnte; aber ich glaube E w . Exzellenz die sichere Bürgschaft geben zu können, mich niemals wieder jenem frivolen Treiben einer Praxis hinzugeben, welche vor der Wissenschaft nicht standhält, noch jener sinnlosen und unaufrichtigen Opposition gegen staatliche Institutionen und Maßregeln". Aber, so fügt er hinzu, entscheidender als dies Versprechen sei die Tatsache, daß er mit der Hegeischen und Straußischen Philosophie überhaupt gebrochen habe. Von „den starren Wesenheiten", den „öden Formeln des Begriffs" dränge es ihn hinweg zum konkreten Leben, vor allem aber zu der Beschäftigung mit Sprache und Kunst. Deshalb gedenke er über Ästhetik und Sprachphilosophie zu lesen, während Religionsphilosophie und Politik ihm „vor der Hand" fern liege. Für eine so „positive und besonnene Richtung, wofür ich die meinige halte", eine Richtung, die überdies an das Christentum eng anzuschließen sich bemühe, sei gerade das wissenschaftlich so bewegte Halle der geeignete Boden, um die Hegeische Philosophie „zu bekämpfen und, womöglich, zu vernichten". Dieser für den jungen Haym überaus charakteristische ad hoc geschriebene Brief enthält weder ein Verleugnen der Überzeugung noch eine Unwahrheit. Wohl aber enthält er nur den einen Teil der Wahrheit. Denn Haym war sich noch so wenig über sich selbst im klaren, daß er seinen momentanen Standpunkt, der mehr als Stimmungsausdruck denn als prinzipiell gesicherte Überzeugung zu werten ist, als einen bereits geklärten betrachtete und sich für reifer hielt, als er in Wirklichkeit war. Und was insbesondere seine Stellung zum Hegeischen System in dieser Zeit angeht, so entspricht der wahre Sachverhalt ganz dem Geständnis, daß D. Fr. Strauß 1846 seinem Freunde F. Th. Vischer ablegte: „Ich habe es noch, aber nur wie einen wackeligen Zahn im Munde, auf den ich nicht mehr so wie Du das Herz hätte zu beißen. Wie gesagt jedoch, der Standpunkt im allgemeinen und eine Masse von Anschauungen im einzelnen bleibt mir dabei immer" 1 ). Hayms Habilitation ist nach längerem Hin und Her an den Schikanen und zweideutigen Winkelzügen des Ministeriums Eichhorn gescheitert2). Das Vorgehen gegen Haym war nur ein Glied in jener Kette von Maßregelungen und Übergriffen, die 2

Ausgewählte Briefe von D. Fr. Strauß, hrsg. von E. Zeller, S. 177. ) Vgl. im einzelnen Haym, Aus meinem Leben, S. I53ff.

— 44 — Eichhorn den Hegelianern gegenüber zur Anwendung gebracht hatte. Mit der Amtsentsetzung der Privatdozenten Bruno Bauer und Nauwerck hatten sie ihren Anfang genommen. Auch die Universität Halle hatte die starke Hand des Ministers zu fühlen bekommen. So hatte der Philosoph Hinrichs wegen seiner in liberalem Geiste gehaltenen „Politischen Vorlesungen" einen scharfen Verweis einstecken müssen, dem freisinnigen Theologen Karl Schwarz war 1845 die venia legendi entzogen, Robert Prutz die Abhaltung literarhistorischer Vorlesungen, den Studenten die Einrichtung von Lesesälen untersagt worden. Nun traf das Geschick auch den-jungen Haym, weil er als Student für die Berufung von D. F. Strauß an die Universität Halle petitioniert hatte und trotz seiner Beteuerungen auch jetzt noch der „Hegelei" verdächtig erschien. Eichhorn, der Freund Schleiermachers, Rankes und Savignys, der Mitschöpfer des preußischen Zollvereins, war nach dem Tode Altensteins 1840 preußischer Unterrichtsminister geworden. Ein Berufsbeamter von gediegener Bildung und hervorragenden fachlichen Qualitäten, war er jahrzehntelang redlich um Vermittlung und Ausgleich der im Grunde unversöhnbaren Gegensätze bemüht gewesen. Bis zur Julirevolution konnte man in diesem Streben immerhin eine sinnvolle Aufgabe erblicken. Denn seitdem der restaurative Staat die durch die französische Revolution und die napoleonische Ära entfesselte, das überkommene staatliche und gesellschaftliche Gleichgewicht unterhöhlende Bewegung zum Stehen gebracht und durch seine Ver-. waltungsmaschinerie für Ruhe und Ordnung gesorgt hatte, war die revolutionäre Bedeutung der Aufklärung und der klassischidealistischen Gedankenwelt für die politisch-soziale Emanzipationsbewegung des deutschen Bürgertums nur noch bei einzelnen, führenden Köpfen zutage getreten. Das aufsteigende Bürgertum, erst vereinzelt vom Geist des modernen Kapitalismus gepackt und in der Umbildung zur Bourgeoisie begriffen, hatte sich an der stillen Erfüllung seiner durch die religiös-kirchliche Berufsethik geheiligten Pflichten und an dem Ausbau seiner inneren Bildung, an einer im wesentlichen geruhsamen, von mäßigem Erwerbsstreben erfüllten, auf beschauliche Behaglichkeit, Solidität und Gediegenheit der gesamten Lebensführung abgestimmten, auf Bereicherung des Innenlebens bedachten Privatexistenz genug sein lassen, in strenger Zucht, ehrenfester Sitte, Genügsamkeit und Zufriedenheit dahingelebt und, unbekümmert um die gewaltigen Mächte des Staates und der Gesellschaft, dem öffentlichen Leben mit resignierender Gleichgültigkeit und Ahnungslosigkeit

— 45 — gegenübergestanden. Dem durch das humanistische Gymnasium und die akademische Bildung hindurchgegangenen Bürgertum, dem „Titelpatriziat", galt durchweg als Ideal menschlicher Lebensdarstellung die klassisch-humanistische Bildungsidee. Führte das Streben nach einer Durchdringung des Lebens mit diesem Ideal vielfach auch nicht zu seiner adäquaten Verwirklichung, sondern nur zur oberflächlich-dilettantischen Firnisbildung des ruheseligen, schöpferischer Leidenschaft baren „Bildungsphilisters", so erhielt doch die Forderung nach einem idealen und autonomen Lebensgehalt immerhin eine grundsätzliche und normative Bedeutung. Und auf die breite Schicht des aus den verschiedenartigsten sozialen Gruppen sich zusammensetzenden, durch den Klassengegensatz noch nicht zermürbten, in selbständiger Lebensstellung sich befindenden städtischen.und ländlichen Mittelstandes, der zahlenmäßig den stärksten Stand im damaligen agrarisch-kleinstädtischen Deutschland darstellte, hat das Beispiel der „Honorationen" im Laufe der Zeit sich jedenfalls dahin ausgewirkt, daß in diesen Kreisen, deren weltanschauliche Haltung und geistige Geschmacksrichtung durch die Vulgäraufklärung und den Pietismus bestimmt wurde, das Bildungsinteresse vertieft und zugleich das redliche Bemühen erzeugt wurde, diesem Interesse einen populärwissenschaftlichen Anstrich zu verleihen1). Die politische Idylle der Biedermeierzeit ging ihrem Ende entgegen und räumte einem neuen Lebensgefühle das Feld, als das gebildete und besitzende Bürgertum mit seiner kulturellen und wirtschaftlichen zugleich seiner politischen und sozialen Bedeutung und Mission und damit der Fülle des Lebens und der Lebensmöglichkeiten sich bewußt wurde. Indem es das Mißverhältnis zwischen sozialer Struktur und politischer Machtverteilung erkannte, sich über den engen Zusammenhang seiner individualistischen Freiheitsethik mit der konstitutionellen Idee x) Vgl. W. H . Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft, 1907 1 0 ; Treitschke, Deutsche Geschichte, passim; G. Hermann, Das Biedermeier im Spiegel d e r Z e i t , Berlin (1912); J. Löwenstein, Hegels Staatsidee, 1927, S. 64 ff.; V. Valentin, Geschichte der deutschen Revolution von 1848—49, Bd. I, 1930, S. 289 ff., W . Bietak, Das Lebensgefühl des Biedermeier in der österreichischen Dichtung, 1931; sowie die aufschlußreichen, leider in Vergessenheit geratenen Aufsätze des württembergischen Pfarrers J. F. Faber, Konfessionen eines Großdeutschen und Vom dritten Stande, Deutsche Vierteljahrsschrift, 1863 und 1865. Über die berufliche und soziale Gliederung der Bevölkerung in den deutschen Zollvereinsstaaten im Jahre 1846 sind die statistischen Übersichten zu vergleichen bei G. Neuhaus im Grundriß der Sozialökonomik, 9. Abtlg., 1. Teil, 1926, S. 363 ff.

— 46 — Klarheit verschaffte und demgemäß seine Forderung auf die Begründimg des gewaltenteilenden Rechtsstaates präzisierte, trat es in Preußen in einen scharfen Gegensatz zu dem die politische und soziale Vormachtstellung einnehmenden, auf Privilegienwesen gegründeten agrarfeudalistischen Junkertum und zu der Bevormundungspolitik des bürokratisch regierten mechanistischen Beamten- und Polizeistaates. Die Julirevolution hatte nicht nur auf die deutsche Bildimgsaristokratie, die Hochschullehrerschaft, das Akademiker-, Literaten- und Journalistentum politisierend gewirkt, sie hatte nicht nur dem heraufziehenden Industrie- und Finanzkapitalismus und damit dem aus dem Mittelstande herausgewachsenen großbürgerlichen „Geldpatriziat" klargemacht, daß die wirtschaftlichen Expansionsziele und das Verlangen nach wirtschaftlicher Ellenbogenfreiheit sich mit politischem Machtstreben verbinden müssen1), sie hatte in den Jungdeutschen und den Saint-Simonisten auch die aus der Enge des hausbackenen Philistertums herausdrängende junge geistige Generation auf den Plan gerufen. Aber erst durch das Auftreten der Junghegelianer hat der Geist der Unruhe in die Breite zu wirken begonnen und namentlich die aufwärtsstrebende Jugend des gebildeten und besitzenden Mittelstandes ergriffen. Indem die mit der Thronbesteigimg Friedrich Wilhelms IV. eingeleitete Ära offen mit dem Prinzip der innerpolitischen Neutralität des Staates brach, hat sie die Bestrebungen der Junghegelianer mächtig gefördert und diese dem Radikalismus in die Arme getrieben. Eichhorn, der vom Boden seiner gouvernementalen Gesinnung aus frühzeitig die große Gefahr erkannte, die dem autokratischen Beamtenregiment drohte, wandte sich bereits 1841 mit offener Feindschaft gegen die „Hallischen Jahrbücher", weil sie „von dem Standpunkte einer hohlen philosophischen Reflexion aus Religion und Kirche wie die Verwaltungsgrundsätze und die Politik des preußischen Staats einer unbescheidenen und anmaßenden Kritik mit großer Keckheit unterwerfen und dadurch bei dem teilweise nur zu sehr zu philosophisch-politischen Abstraktionen sich hinneigenden deutschen Publikum das so wünschenswerte Vertrauen auf die Einsicht und Weisheit, wodurch tatsächliche Zustände und bestehende Verhältnisse allein gefördert werden können, untergraben" würden2). Den Junghegelianern gegenüber kannte Eichhorn keine KonAufschlußreiche Belege enthalten J . Hansens Rhein. Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830—50, Bd. I, 1919. a ) Aus den auf die Jahrbb. bezüglichen Zensurakten im Geh. Staatsarchiv Berlin.

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Zessionen. In ihnen, die bei noch so scharfer Kritik des konkreten preußischen Gegenwartsstaates sich doch den Glauben an das ideale Preußen der Zukunft, an den „ S t a a t der Intelligenz" und der „freien protestantischen Wissenschaft" bewahrt hatten, sah er — und das brachte ihn Friedrich Wilhelm I V . und seinem Kampfe gegen die „Drachensaat des Hegeischen Pantheismus" nahe — die eigentlichen Träger des revolutionären Zeitgeistes, wie er in Kirche und Staat sich zu regen begann. Sie galt es, bis aufs äußerste zu bekämpfen. In diesem Sinne hat er den Wittenberger Theologen einmal erklärt: „Die Regierung ist keineswegs indifferent, sondern vielmehr parteiisch, ganz parteiisch" 1 ). Von dieser Gesinnung aus ist er auch gegen den jungen Haym vorgegangen und hat ihm die Aussicht auf eine akademische Wirksamkeit versperrt. E r hat damit aber nur das Gegenteil von dem erreicht, was er beabsichtigt hatte. In seinen Hoffnungen betrogen, vom Minister abgewiesen, von dem reaktionär gesinnten Kurator Pemice als wühlerischer Mensch verdächtigt, von der Fakultät fallengelassen, ohne gesicherte bürgerliche Existenz, ohne Aussicht auf ein ersprießliches Vorwärtskommen, wurde er in das Lager der Opposition hinübergetrieben. Daß er diesen Schritt vollzog und sich von der Zeitströmung ergreifen und treiben ließ, daß bis dahin latent gebliebene Kräfte jetzt zur Auswirkung gelangten, dazu bedurfte es neben einer innerlichen Abwendung von Hegel nur eines äußeren auslösenden Anlasses, wie ihn das Mißlingen der Habilitation darstellte. Und nun drängt alles in einem höchst aufregenden Prozeß darauf hinaus, Denken und Handeln in Einklang miteinander zu bringen. Das Ringen um theoretische Klärung der zentralen Weltanschauungsprobleme verbindet sich mit der praktischpublizistischen Tätigkeit im Dienste der kirchlich-religiösen und politischen Zeitforderungen. Die Auseinandersetzung mit der Philosophie wird zum entscheidenden Problem der Jahre von 1 8 4 5 bis 1848. Das aber bedeutet die Aviseinandersetzung mit Tradition und Gegenwart und die Ausbildung eines eigenen Standpunktes. Seit dem Zusammenbruch der „Hallischen" und „Deutschen Jahrbücher" war der Auflösungsprozeß der Hegeischen Schule in unaufhaltsamem Fortschreiten begriffen. U m die Mitte der 1840 er Jahre war der Kampf gegen das Hegeische System bereits auf einem Höhepunkt angelangt 2 ). Hatten die Junghegelianer in *) Max Lenz, Geschichte der Universität Berlin, II, 2, S. 39; dort auch eine Gesamtwürdigung Eichhorns und seiner Politik. 2 ) Vgl. hierzu meinen Aufsatz Zur Geschichte der Hegelauffassung in der Neuauflage von Hayms „Hegel und seine Zeit", 1927, S. 514 ff.

— 48 — dem bereits zu Hegels Lebzeiten von seinen Gegnern entfachten, von Trendelenburg in seinen „Logischen Untersuchungen" (1840) zu einem vorläufigen Abschluß gebrachten Streit um die logischmetaphysischen Grundlagen des Systems noch die Partei des Meisters ergriffen, so hatten sie dafür um so schärfere Kritik an den religiös-kirchlichen und politisch-sozialen Konsequenzen des Systems geübt. Um-ihren Radikalismus als legitimen Sprößling der Hegeischen Philosophie erweisen zu können, waren sie dazu übergegangen, den „wahren" Hegel gegen den sich selbst nicht richtig verstehenden Hegel auszuspielen und so lange an ihm herumzudeuteln, bis von dem System nicht mehr als die ausgehöhlte Form übrigblieb. Währenddessen war der seltsam gemischte Kreis der Anti- und Halbhegelianer mit immer steigendem Erfolg emsig bemüht gewesen, auch noch die logische Form des Systems zu sprengen. Jedenfalls ist es im Verlauf der 1830er und 1840 er Jahre den Hegel tötern mit vereinten Kräften gelungen, das Hegeische System als Ganzes in Stücke zu hauen. Damit war zwar das von der dialektischen Methode beherrschte System, keineswegs aber sein Ideengehalt überwunden. Die Zerschlagung des Systems war vielmehr nur die notwendige Voraussetzung für sein geschichtliches Sichausleben. Erst jetzt vermochte der Strom des Hegeischen Geistes in die Einzelwissenschaften einzudringen, von ihnen kritisch gesichtet, verarbeitet und fruchtbar gemacht zu werden. Mit dem Glauben an Hegels System war unter seinen einstmaligen Anhängern der Glaube an die Absolutheit und Priorität spekulativ-systematischer Philosophie überhaupt erschüttert. Aber so sehr stand man doch noch im Banne dieser besonderen Art philosophischen Denkens, daß man sich Philosophie nur in der Form des Systems denken konnte. Erst hieraus erklärt sich jene Fülle fragwürdiger und bizarrer Reformversuche, Systementwürfe und Systemansätze, die in den 1840 er Jahren wie Pilze aus der Erde geschossen sind. E s war eine Zeit, wo selbst die angehenden Privatdozenten der Philosophie in dem Glauben befangen waren, man könne eine Habilitation nur auf Grund eines eigenen Systems wagen. Und unter der jungen geistigen Generation, die durch Hegel und den Junghegelianismus hindurchgegangen war, waren es naturgemäß gerade die tieferen Köpfe, die sich nicht wie die Rüge und Genossen an dem Leerlauf der Dialektik, der müßigen Denkakrobatik und historisch unwirksamen Gedankenspielerei entwurzelter Literaten und Ästheten genug sein ließen, sondern nach neuen Systemformen und Systeminhalten strebten. Es drängte sie, für ihr verändertes Lebensgefühl, das der abstrakten

— 49 — Begriffsspekulation gründlich satt geworden war, für ihren Tatendrang, für den neuentdeckten Wert der „Wirklichkeit" die zugehörige philosophische Formel zu finden. Ein leidenschaftliches Verlangen nach „Realität" und „Aktivität", nach Konkretisierung philosophischer Abstraktionen geht durch die geistigen Bestrebungen jener Tage. Es ist das gemeinsame Band, das die Geister bei noch so großer persönlicher Verschiedenheit miteinander verbindet. Indem sie sich von der idealistischen Verflüchtigung im Gedanken ab- und der gegebenen, positiven Welt zuwenden und auf diese zu wirken versuchen, bringen sie unter Fortbildung jungdeutscher und junghegelianischer Bestrebungen das rationalistisch-praktische Prinzip der deutschen Aufklärung zu neuen Ehren. Zentrale Leitmotive der Aufklärung, ihr moralisches Pathos, ihr pädagogischer Wirkungsdrang, der Primat der praktischen Vernunft, gelangen jetzt zur Auferstehimg. Die bahnbrechenden Köpfe der neuen Bewegimg waren sich 'darüber klar, daß die „Hinwendung des Gedankens zur Tat" durch eine umfassende, festbegründete Theorie vorbereitet werden müsse. In diesem Sinne hat auch Feuerbach 1843 dem ungestümen Rüge geschrieben: „Deutschland kann nur durch Gift kuriert werden — nicht durch Feuer und Schwert. Wir sind noch nicht auf dem Übergange von der Theorie zur Praxis, denn es fehlt uns noch die Theorie, wenigstens in ausgebildeter und allseitig durchgeführter Gestalt. Die Doktrin ist noch immer die Hauptsache"1). In diesem Sinne hat 1844 auch Karl Marx in seinem berühmten Aufsatz „Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie" die Kritik der Religion, die Voraussetzung aller Kritik, für beendet erklärt und es als die Aufgabe der Geschichte bezeichnet, „die Wahrheit des Diesseits zu etablieren": „Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik def Theologie in die Kritik der Politik"2). Nur den produktiven Köpfen innerhalb der zum Realismus hindrängenden Bewegung ist die Konkretisierung ihrer Weltanschauung und ihres Lebensinhaltes aus eigener Kraft gelungen, nur bei ihnen war der innere Bruch mit Hegel und die Emanzipation von dem abstrakten Formalismus des Junghegelianismus mit schöpferischer Gestaltungskraft und der Begründung neuer Denkinhalte gepaart. Die Revolution von 1848 hat diesen inneren *) Ausgewählte Briefe von und an L. Feuerbach, hrsg. von Bolin,

II, 123. a

) Deutsch-französische Jahrbücher, 1844, S. 72. Beiheit d. H. Z. 31

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— 50 — Umbildungsprozeß, der identisch war mit dem Zersetzungs- und Umschmelzungsprozeß der idealistisch-romantischen Tradition, mächtig gefördert und vielfach zum Abschluß gebracht. Sie hat der philosophischen Systemsucht ein Ende bereitet, die Ohnmacht des an eine Welt konstruierter Möglichkeit glaubenden Denkens zur Evidenz gebracht, den altgewordenen „Jung"-Hegelianismus mit einem Schlage hinweggefegt und neuen Geistesformen und Lebensidealen Platz geschaffen. In diesem Zusammenhange gesehen gewinnt Hayms Bildungsgeschichte repräsentative Bedeutung und ein mehr als biographisches Interesse. Seine Schriften aus den Jahren von 1845—1848 sind eine Manifestation der neuen, gegen die Überspannung des Systemgedankens und die Entwertung des Irrationalen Front machenden philosophischen Bewegung und damit zugleich der den Durchbruch neuer historischer Tendenzen ankündigenden großen geistigen Krisis jener Jahre, die durch das Auftreten Ludwig Feuerbachs entscheidend mitbestimmt worden ist. Daß Feuerbach in so starkem Maße auf seine Zeitgenossen und insbesondere auf den Werdegang höchst verschiedenartiger, hochbegabter Köpfe gewirkt hat — es sei nur an seinen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung von Karl Marx, Friedrich Engels, Moses Heß, Max Stirner, Jakob Moleschott, Ludwig Büchner, Georg Herwegh, Richard Wagner, Gottfried Keller, Hermann Hettner, Kuno Fischer, Friedrich Theodor Vischer, Jakob Burkhardt erinnert —, erklärt sich vor allem daraus, daß er innerhalb der philosophischen Bewegung der 1840 er Jahre der einzige wahrhaft originale, schöpferische Kopf war. Die Hegelsche Philosophie, die ihm als das fertige System des alten Hegel gegenübertrat, ist für ihn nur ein Durchgangsstadium gewesen, und er hat sich nicht damit begnügt, sie einfach auf den Kopf zu stellen, sondern ist aus eigener Kraft zur Begründung des deutschen Positivismus fortgeschritten. Diese seine große Tat, die auf eine Ehrenrettung des Sensualismus, Anthropologismus und Naturalismus hinauslief und das Fundament für eine neue Erkenntnistheorie und Ontologie legte, hat sich in derselben Zeit, in der Comtes „Cours de philosophie positive" zum Abschluß kam (1842) und Mills „System der Logik" erschien (1843), durchaus unabhängig von ihnen vollzogen1). An einer die geistig-philosophische Bedeutung Feuerbachs und die von ihm ausgegangene außerordentliche Wirkung ausschöpfenden zusammenfassenden Darstellung hat es bis vor kurzem völlig gefehlt und fehlt es im Grunde auch heute noch. Die verschiedenen, in ihrer Art sehr verdienstlichen und fruchtbaren Feuörbachstudien von Fr. Jodl, L . Feuerbach,

— 51 — Wie Feuerbachs Philosophie aus der Antithese gegen Hegel geboren ist, so ist der junge Haym auf dem Wege einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit Hegel und Feuerbach zur Begründung eines eigenen Standpunktes gelangt. Schon in seiner Studentenzeit hatte seine gegenwartsfrohe und zukunftsgläubige Diesseitsstimmung sich gegen den kontemplativen, allzu theoretischen, „quietistischen" Geist der Hegeischen Philosophie aufgelehnt. E r war aber nicht dabei stehen geblieben, vielmehr durch seinen Erlebnishunger, der — ihm selbst unbewußt — vom universalistischen Bildungsideal der Romantik getragen war, zu neuen Wandlungen und Wertungen vorwärtsgetrieben worden. Immer mehr hatte er sich seit der Arbeit an seiner Doktordissertation von Hegeischen Kategorien umstricken lassen, um dann völlig in den Bann der Konstruktionen der idealistischen Philosophie zu geraten. In ihrem Zeichen standen die theoretischspekulativen Studien, die ihn 1843 und 1844 beschäftigt und innerlich ganz erfüllt hatten. Von epochemachender Bedeutung mußte es daher für seine Entwicklung sein, als ihm um die Wende des Jahres 1844/45 die logischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen des Hegeischen Systems zweifelhaft zu werden begannen. Denn damit trat nicht nur die kritische Auseinandersetzimg mit Hegel in ihr entscheidendes Stadium ein, es vollzog sich damit zugleich die innere Überwindung des Junghegelianismus, der, wie das typische Beispiel Arnold Ruges und der Gebrüder Bauer bewies, noch immer in dem Glauben befangen war, auf rein logischem Wege, durch die dialektische Selbstbewegung des Gedankens Wissen und Wirklichkeit, Sein aus Denken erzeugen zu können. Vom Ende des Jahres 1844 ab sehen wir Haym unablässig um eine philosophische Lösung des Seins- und Erkenntnisproblems bemüht. Unter dem Antriebe der Zeit und der Einwirkimg 1921*; Geschichte der Ethik, Bd. II, 1 9 2 3 3 ; Vom Lebenswege, Bd. I, 1 9 1 6 — reichen hierzu ebensowenig aus wie W . Bolins stoffreiches Buch, L . Feuerbach, sein Wirken und seine Zeitgenossen, 1891. Der neuere kritische Darstellungsversuch von J . Ebbinghaus, Deutsche Vierteljahrsschrift 1930, S. 283 ff., scheint m. E. der Bedeutung Feuerbachs auch nicht im entferntesten gerecht zu werden. Sehr wertvolle, für das Verständnis Feuerbachs grundlegende Einzelhinweise finden sich in H. Ehrenbergs Fichtebuch, 1923, passim, und bei H. Glockner, F . Th. Vischer und das 19. Jahrhundert, 1931, passim. Einen wesentlichen Fortschritt in unserer Erkenntnis stellt die umfängliche und gediegene, wenn auch partienweise ausgesprochen exzerptenhafte, von einem streng genetisch-historischen Standpunkt aus entworfene Darstellung von S. Rawidowicz dar: Ludwig Feuerbachs Philosophie. Ursprung und Schicksal, 1931.

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— 52 — Feuerbachs, dessen geistige Umwälzung zu dieser Zeit bereits i m wesentlichen abgeschlossen war, schreitet er zu dem Versuch einer umfassenden philosophischen Rechenschaftsablegung vor. Der Niederschlag dieses Versuches findet sich in den zahlreichen Schriften und Aufsätzen, die er von 1 8 4 5 ab in rascher Folge veröffentlicht hat 1 ). Mit ihrem Wortreichtum und ihrem Mangel an gedanklicher Klarheit und Bestimmtheit, ihrer Widerspruchsfülle, ihren vielfach nur halbausgereiften Einfällen und vagen Konstruktionen, stellen die meisten dieser Schriften nicht gerade eine reizvolle Lektüre dar. Dafür vermitteln sie aber eine lebendige x

) Es handelt sich in diesem Zusammenhang um folgende Schriften Hayms: 1. Um eine Reihe meist anonym erschienener Rezensionen in der Hallischen Allgemeinen Literaturzeitung, Jahrg. 1845, I, S. 337— 341; Jahrg. 1846, I, Sp. 241—244, 249—256, 259—264, 985—989, 993—1008, II, 385—408, 411—416, 665—671, 678—680; Jahrg. 1847, I, 385—400, 403—408, II, 233—238. 2. Um die anonym erschienene Schrift Lessing, Bernardin de SaintPierre und ein Dritter. Eine Trilogie von Bekenntnissen, Berlin 1846. 3. Selbstgespräche, Ein Versuch des philosophischen Bewußtseins, sich mit den populären Bewegungen der Gegenwart zu vermitteln, Berlin 1846 (anonym). 4. Die Autorität, welche fällt und die, welche bleibt. Ein populärphilosophischer Aufsatz, Halle 1846. 5. Zur Orientierung. In: Wislicenus' Kirchliche Reform. Monatsschrift für freie Protestanten aller Stände, März 1846, S. 21— 26, (anonym). 6. Artikel „Phantasie" in Ersch und Grubers Allgemeiner Enzyklopädie, III. Sektion, Bd. 21, S. 463—476. 7. J . G. Fichtes politische Fragmente. In Gustav Ebertys Reform, Monatsschrift für Recht und Gesetzgebung, 1846, Bd. 3, S. 330 — 3438. Feuerbach und die Philosophie. Ein Beitrag zur Kritik Beider. Halle 1847. 9. Ein modernes Glaubensbekenntnis. In Noacks Jahrbb. für spekulative Philosophie und die philosophische Bearbeitung der empirischen Wissenschaften, 1847, Bd. II, S. 761—781. 10. Die Krisis unserer religiösen Bewegung, Halle 1847. 1 1 . Artikel „Philosophie" in Ersch und Grubers Allgem. Enzyklopädie, I I I . Sektion, Bd. 24, 1848; S. 1 — 231. 12. Über die Bedeutung des Stils. In Prutz' Literarhistorischem Taschenbuch, 1848, S. 227—257. 13. An ungedruckt gebliebenen und noch erhaltenen Aufsätzen und Aufsatzfragmenten die folgenden: Der deutsche Unterricht auf Lehranstalten von vorwiegend praktischer Tendenz, 1845; Lessings Stellung zur Bibel, ca. Anfang 1846; Über das Epigramm, ca. 1846.

— 53 — Anschauung von dem geistigen Werdegang des Verfassers und von der Schwierigkeit seines Beginnens, inmitten der von erbitterten Gegensätzen zerrissenen Übergangsbewegung des deutschen Geistes sich den Weg zur inneren Selbständigkeit zu bahnen. Unter seinen Zeitgenossen hat Haym als einer der ersten die fundamentale entwicklungsgeschichtliche Bedeutung der Feuerbachschen Philosophie erkannt. Nur auf Grund der für unübertrefflich erklärten Feuerbachschen Hegelkritik aus, deren zündende Wirkimg auf die Mitwelt auf dem längst historisch gewordenen Mißverständnis des „Panlogismus" 1 ) beruhte, schien Haym eine Uberwindung der Hegeischen Philosophie möglich zu sein. Entscheidend aber ist, daß ex bereits 1845 gegenüber den Konsequenzen, die Feuerbach aus seiner Kritik gezogen hatte, seine Unabhängigkeit behauptete und sich, zunächst noch unsicher tastend, einen Weg zu bahnen suchte, der darauf hinauslief, aus dem Bankerott der spekulativ-systematischen Philosophie die Philosophie als selbständige Wissenschaft zu retten und mit ihr zugleich den Primat der Geistesphilosophie sicherzustellen. E s ist das zentrale Thema der deutschen idealistischen Philosophie, von dem alles weitere bei H a y m seinen Ausgang nimmt: der Identitätsgedanke, die Überbriickung des Gegensatzes von Idealismus und Realismus. Mit Feuerbach geht H a y m darin *) Die Abstempelung des Hegeischen Systems als „Panlogismus" geht bekanntlich auf Joh. Ed. Erdmann zurück. Von Haym ist im Anschluß an Feuerbach „Panlogismus" als maßlose Übersteigerung des Rationalismus und Intellektualismus verstanden worden. Diese Deutung hat dann durch sein Hegelbuch von 1857 für ein halbes Jahrhundert kanonische Geltung erhalten. Erst Dilthey hat durch die Entdeckung des jungen Hegel die Bahn für ein neues und tieferes Hegelverständnis eröffnet. Durch die neueren Hegeldarstellungen von Franz Rosenzweig, Richard Kroner, Nicolai Hartmann und Hermann Glockner darf die historische Legende von dem den irrationalen Problembezirken unzugänglichen Hegel als endgültig erledigt gelten. Jedoch muß im Zeichen der heutigen „Hegelrenaissance" vor Übertreibungen nach der entgegengesetzten Seite nachdrücklich gewarnt werden. Vgl. z. B. die These Kroners: „Hegel ist ohne Zweifel der größte Irrationalist, den die Geschichte der Philosophie kennt"; Kroner, Von Kant bis Hegel, II, 271. — Der gegen Hegel erhobene Vorwurf, daß bei ihm die Welt des Irrationalen verkümmere, ist in den 1830er und 1840er Jahren übrigens vorzugsweise von denen erhoben worden, die von dem jungen Hegel nichts wußten und die selber die ausgesprochensten Intellektualisten waren. Zur gegenwärtigen Lage vgl. Glockners Bericht über den Stand und die Auffassung der Hegeischen Philosophie in Deutschland, Verhandlungen des Ersten Hegelkongresses vom 22. bis 25. April 1930 im Haag.

— 54 — völlig einig, daß die Hegeische Lösung des Seins- und Erkenntnisproblems unhaltbar sei, daß es gegenüber dem in „Panlogismus" entartenden Vemunftidealismus, der den Begriff zum Wesen der Dinge mache und in dem Irrtum befangen sei, daß das menschliche Denken aus sich selbst Erkenntnis erzeugen könne, vielmehr darauf ankomme, den „ganzen vollständigen Menschen" und damit die Natur im universellsten Sinne des Wortes zu ihrem Rechte kommen zu lassen. Es sind die konkreten Existenzen der Welt, es ist der Mensch als denkendes, wollendes und fühlendes Wesen, der lebendige Mensch in der ganzen Konkretion seiner Innerlichkeit und in der Totalität seiner historischen Erscheinving und Entwicklung, den er vor der Verflüchtigung in Abstraktionen und Begriffe bewahren, es ist die Priorität des Realen vor dem Idealen, die er mit seinem Dringen auf das Konkrete, Empirische, Sensuale, Positive philosophisch begründen will. Wie Feuerbach, so wendet daher auch er sich mit Schärfe gegen die vom deutschen Idealismus betonte erkenntnistheoretische Priorität des Wissens vor dem Sein, wie überhaupt gegen jede Art der Spekulation, die ihren Gegenstand aus sich selbst schöpft statt aus der empirischen Wirklichkeit, wendet er sich gegen die Einseitigkeit der bisherigen spekulativen Philosophen, die einfach ihr Erkenntnisvermögen in die Welt hineingedichtet und darum die „Ideen" zu den waltenden Mächten derselben, zur Grundlage alles Wirklichen, die „Vernunft" zum absolut schöpferischen Weltprinzip gemacht hätten. Und wenn Hegel selbst auch nicht geglaubt habe, daß das Denken in seiner Losgerissenheit von dem konkreten Inhalte der Wirklichkeit einen Bestand und eine Macht habe, so beging er nach Hayms Anschauung doch deshalb „jenen großen Raub an der Wirklichkeit, daß er sie ganz und durchaus in den Dienst des Gedankens nahm und diesen dadurch zu der überall eingreifenden, durchdringenden, allgewandten, beweglichen Kraft über alles Existierende machte"1). Soweit mit Feuerbach einiggehend, ist damit zugleich der Punkt bezeichnet, wo die Wege sich zu trennen beginnen. Denn während Feuerbach die Lehre der spekulativen Philosophie von der „absoluten Identität" für phantastischen Unsinn und den Idealismus nur in der Sphäre der praktischen Philosophie, im Bereich des handelnden Menschen für berechtigt erklärte, während er die Philosophie, deren Aufgabe es nur sein könne, „die Dinge und Wesen so zu denken, so zu erkennen, wie sie sind"2), auf die 2)

Allgemeine Literaturzeitung, Juni 1846, Sp. 1000. Feuerbach, Sämtliche Werke, hrsg. von Bolin und Jodl, II, 232.

— 55 — „Logik des Du", auf die dualistische Scheidung von Ich und sinnlich gegebenem Du gründete und die Natur als dem von der Existenz ununterschiedenen Wesen, dem Sein als Sein, dem Menschen als dem von der Existenz sich unterscheidenden Wesen, dem Sein als Denken, gegenüberstellte, währenddem hat der junge Haym sich ein positives Verhältnis zu der identitätsphilosophischen Tradition bewahrt. In der Kritik an dem abstraktspekulativen, dem „erräsonnierten" Charakter des „absoluten Idealismus" mit Feuerbach übereinstimmend, hat er andererseits im Gegensatz zu ihm an dem Glauben an eine mit konkretem Inhalt zu erfüllende „reale Identität" von Subjekt und Objekt, Geist und Natur, Denken und Sein festgehalten. Von dem Nachweis dieser „realen Identitäten" schien ihm geradezu der Fortbestand der Philosophie überhaupt abhängig zu sein. Die unerläßliche Voraussetzung für eine Neubegründung der Philosophie aber bestand nach seiner Anschauung darin, von der in Hegel gipfelnden, in ihrer Art unübertrefflichen spekulativen Metaphysik zu den in Vergessenheit geratenen Grundgedanken der Transzendentalphilosophie zurückzudenken und, über Kant und den jungen Fichte hinausgehend, die „Kritik des Erkennens" zur „Kritik der Abstraktion" werden zu lassen. Weil Kant bereits die Kritik als Prolegomenon zu einer künftigen Metaphysik aufgefaßt habe und erst recht seine Nachfolger die kritizistische Tendenz mit der metaphysischen vermengt hätten, so komme es jetzt darauf an, diese Tendenz in ihrer unverfälschten Reinheit wiederherzustellen und sie vor der Gefahr zu retten, aufs neue in eine metaphysische Konstruktion des Universums zu verfallen. Die kritische Philosophie, so wie Haym sie versteht, geht von der „unvertilgbaren Realität" gerade desjenigen aus, was die transzendentale Deduktion des Idealismus als bloß phänomenisch auf den angeblich viel realeren absoluten Urgrund der Vernunft zurückzuführen bestrebt war. Ihr Wesen besteht nicht im Erzeugen oder Hervorbringen des Gegenstandes, sondern im Erfassen und Erklären des vor aller Erkenntnis und unabhängig von ihr Vorhandenen. Sie geht davon aus, daß sie „eine Existenz nicht schaffen, sondern durchaus nur eine vorhandene Existenz erklären könne"1). Sie stellt sich zur Aufgabe, nicht die Verwandlung der wirklichen Welt in eine metaphysische, sondern die der metaphysischen in eine wirkliche, sie sucht nicht das Wirkliche aus dem Abstrakten, sondern umgekehrt dieses aus jenem zu erklären. Nicht das Leben, sondern das Transzendieren über dasFeuerbach und die Philosophie, 1847, S. 31 ; vgl. ebda. S. 73.

— 56 — selbe erscheint ihr als „etwas Sekundäres und nur Erscheinendes" 1 ). Sie erstrebt nicht eine systematisch geschlossene, die Wirklichkeit doch nur unvollkommen darstellende universelle Theorie der Dinge, sondern will lediglich eine „Erklärerin aller Theorie", eine möglichst metaphysikfreie und methodensichere Philosophie der Tatsachen sein. Von diesem Gesichtspunkt aus gelangt Haym zu seiner Bewertung der Feuerbachschen Philosophie, erblickt er Feuerbachs große Tat darin, die transzendentalphilosophische Tradition wieder lebendig gemacht und den „schimärischen", „erräsonnierten" Charakter des Hegeischen Vernunftidealismus erwiesen zu haben. Aber da er sich damit begnügt habe, den Inhalt und nicht auch die im dialektischen Prozeß sich entfaltende Form des Hegeischen Absoluten ins Konkrete zu projizieren, da er das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und die der spekulativen Identität zugrunde liegende reale Wahrheit der Identität des Subjektiven und Objektiven verkannt habe, so sind die konstituierenden Realprinzipien seiner Philosophie, „der Mensch" und „die Natur", für Haym auch wieder nur bloße Abstraktionen. Die ursprüngliche, in der Natur des Menschen hegende, „schlechterdings anzuerkennende" Identität von Geist und Natur, Subjekt und Objekt erscheint Haym als der archimedische Punkt der Philosophie überhaupt. „Die konkrete Natur ist eben die Bewahrerin des Geistes und die reale Wechseldurchdringung beider zu zeigen, ist viel mehr an der Zeit als irgendwelche abstrakte Vermittlungen von Denken und Sein"2). Die Natur ist real „nur in ihrem Sichaufheben zum Geiste", der Geist „nur in seinem Sichaufheben zur Natur"8). Während die spekulative Philosophie die „realen Identitäten" in platonische Ideen und damit in phantastische Spiegelbilder sich verflüchtigen ließ, ist nach Hayms Anschauimg auch Feuerbach die Konkretisierung nicht gelungen, weil seine ganze Philosophie nur eine Denk- und Anschauungsweise ohne strenge Methode ist, die zu einer Erfassung des aller Empirie stets unzugänglichen Realen nicht gelange und damit den Bestand der Philosophie als selbständiger Wissenschaft gefährde. Es ist seine dem Idealen und Geistigen zustrebende Natur, die Haym mit instinktiver Sicherheit vor den positivistischen, naturalistischen und sensualistischen Konsequenzen der Feuerbachschen Philosophie zurückschrecken und an den identitätsphilosophischen Bestrebungen des Idealismus festhalten läßt. Allgemeine Literaturzeitung, September 1846, Sp. 393. Allgemeine Literaturzeitung, Februar 1846, Sp. 243. ") Feuerbach und die Philosophie, S. 30. 2)

— 57 — Ist es das dem Wandel der historischen Gesamtsituation sich anpassende praktische Lebensbedürfnis, das ihn vor die Aufgabe stellt, die Priorität des handelnden Lebens philosophisch zu begründen und die fundamentale Wendung vom Bewußtsein zum Sein zu vollziehen, so ist es andererseits der Sinn für wissenschaftliche Gründlichkeit und universale Weite, der ihn von den erkenntnistheoretisch-ontologischen Grundproblemen der theoretischen Philosophie seinen Ausgang nehmen läßt. Und ist es ihm auch darum zu tun, Natur und Wirklichkeit aus ihrer spekulativen Umhüllung zu lösen und unter dem Antrieb der Zeit das Verhältnis von Bewußtsein und Geist zu Leben und Wirklichkeit neu zu begründen, so ist es für ihn doch ebensosehr ein selbstverständliches Ziel, die Wirklichkeit als geistbeherrscht nachzuweisen und die geschichtliche Welt als Gestaltenreich des Geistes zu begreifen. In diesem zwiefachen Sinne muß seine Forderung verstanden werden, daß die Aufgabe der Philosophie die Reduktion der „schimärischen" Identitäten auf die „realen" sei. Wie sehr er jedoch noch von den metaphysischen Problemstellungen der spekulativen Denktradition abhängig und wie wenig er in Wirklichkeit geneigt war, sich mit einem gewaltsamen Sprung von dieser Tradition zu befreien, geht schon daraus hervor, daß ihm das reale Vorhandensein dieser Identitäten von vornherein völlig außer aller Diskussion stand. Der Glaube, daß der Nachweis und die Analyse dieser Identitäten ein metaphysikfreies, transzendentalphilosophisches Beginnen sei, die Illusion, daß er nicht nur die Metaphysik des Standpunkts, sondern mit ihr zugleich die von ihm überhaupt nicht erkannte Metaphysik des Problems überwunden habe, war ein zwar fundamentaler, aber in anbetracht der philosophischen Problemlage der Zeit verzeihlicher Irrtum. Die Forderung nach einer Erneuerimg des Transzendentalismus, die H a y m von 1 8 4 5 ab immer wieder von neuem als wissenschaftliches Zukunftsziel proklamiert hat, die zur „wichtigsten philosophischen Tatsache des Jahrhunderts" 1 ) aber erst vom Ende der 1850er Jahre ab durch die von den verschiedensten Seiten her und unter der führenden Mitwirkung Hayms in Gang gebrachte Kantbewegung geworden ist, ist bei ihm zunächst noch in wesentlichen Punkten unerfülltes Programm geblieben. E s ist nicht mehr als ein Dogma, wenn er die Sprache in ihrem Ringen mit dem sittlichen Wesen des Menschen, die S p r a c h e und das s i t t l i c h e L e b e n als die beiden Fundamentalprinzipien der Philosophie bezeichnet, weil sie eine Einheit von E. Troeltsch, Gesammelte Schriften, IV, 630.

— 58 — Natur und Geist darstellen, die nicht durch Abstraktion gewonnen werde, sondern als ein Faktisches, Ursprüngliches nicht hinter, sondern vor dem Dualismus von Natur und Geist liege. Von der Sprache aus eine Revision des philosophischen Denkens in die Wege zu leiten und von hier aus den Kampf gegen die Abstraktionen und den Absolutheitsanspruch der spekulativen Systeme zu führen, war ein Gedanke, der innerhalb der philosophischen Bewegung der nachhegelschen Periode mehrfach zur Erörterung gelangt ist. Schon der junge Trendelenburg hatte ihn aufgegriffen und gegen die absolute Philosophie die These verfochten, daß die Philosophie in ihrem steten Werden, was die logische und metaphysische Ableitung der Begriffe betrifft, ihre Wurzel in der Sprache hat1). Auf die Bedeutung der Sprache für den Umbildungsprozeß der Philosophie ist Haym aber nicht durch Treridelenburg, sondern erst durch seinen Freund Wilhelm Busse aufmerksam geworden, in dessen sprachphilosophische Spekulationen sein 1848/49 erschienenes zweibändiges Werk über Fichte einen lehrreichen Einblick gewährt2). Unter dem Antrieb Busses ist Haym, die sprachphilosophischen Studien der Studentenzeit wieder aufnehmend, zu einem eindringlichen Studium der sprachphilosophischen Arbeiten von Herder und W. v. Humboldt vorgeschritten. Wie schon Hamann und Herder gegen den „kritischen Idealismus" Kants, gegen die „Kategorien" und das „Ding an sich" das Recht und die Bedeutung der Sprache verfochten hatten, so ist Haym, über sie hinauswachsend, dazu gelangt, der Sprache konstituierende Bedeutung für die Philosophie überhaupt zuzuschreiben. Ist Hayms Ringen nach einem eigenen „System" auch in den Präliminarien stecken geblieben, so ist die Sprache doch immer ein zentraler Bestandteil seiner Welt- und Geschichtsanschauung geblieben und seinem wissenschaftlichen Lebenswerk namentlich in der Humboldt- und Herderbiographie zugute gekommen. Muß es auch dem Fachmann überlassen bleiben, die wissenschaftliche Bedeutung der sprachphilosophischen Gedankengänge Hayms im einzelnen näher zu bestimmen3), so darf doch auch an dieser Stelle wenigstens auf die ausgezeichnete, tiefgrabende, an Anregungen und Problemstellungen ungewöhnlich reiche Abhandlung „Über die Bedeutung des Stils" verwiesen werden, die als ein erster, neue Vgl. Ernst Bratuscheck, Adolf Trendelenburg, 1873, S. 57. ) Vgl. Hans Ehrenberg, Disputation. Drei Bücher vom Deutschen Idealismus. Bd. I, 1923, S. 109 f. 3 ) Vgl. den Hinweis bei Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. I, 1921, S. X I I . 2

— 59 — Wege weisender, zu unrecht in Vergessenheit geratener Versuch, den philosophischen Sinngehalt des Stils exakt zu bestimmen, ihn als die „Seele der Rede", als das in den höheren Regionen der Sprache, d. h. in ihrer der Ideenerzeugung zugewandten Bewegung, erscheinende Bild des sittlichen Wesens, als Ausdruck des Individuellen und als Erscheinung des Charakters zu analysieren, bis zum heutigen Tage ihren eigentümlichen Wert behalten hat. Mit einer geradezu mystischen Begeisterung steht Haym dem Phänomen der Sprache gegenüber. Er kann sich nicht genug daran tun, die Macht der Sprache zu preisen, die in jeder Faser Bewegung, Wachstum, Leben, mit unparteiischer Objektivität Schritt um Schritt den Gang unserer Bildung begleitet, die, über die ganze Breite unsres Wesens sich erstreckend, die ganze Länge unsrer Geschichte berührend, den Umfang wie die Genesis der menschlichen Natur umfaßt. Wie bei W. v. Humboldt so erscheint auch bei Haym die Sprache als eine unerschöpfliche Fundgrube, in welcher der Geist immer noch Unbekanntes entdecken und die Empfindung noch nicht auf diese Weise Gefühltes wahrnehmen kann. Den großen Intentionen W. v. Humboldts folgend, bestimmt Haym das Wesen der Sprache als lebendige, nicht etwa künstlich gemachte, sondern reale Wechseldurchdringung von Geist und Natur, Denken und Sein, Subjekt und Objekt: „Darin gerade besteht das Geheimnis und die Bedeutung der Sprache, daß an ihr der Versuch einer Trennung jener beiden Mächte scheitert und nur ihre Einheit als ihreWahrheit erscheint'' . „Die Sprache ist Einheit des Begriffs und des in der Natur durch den Begriff Meßbaren, und zwar eine ursprünglich vorhandne, keine gemachte, keine durch Abstraktion gewonnene, keine erkünstelte, kein Gedankengebilde, wie die Identität Schellings, die absolute Idee der Hegeischen Philosophie, nicht ein auf dem Boden der Philosophie erst Wachsendes, sondern ein vor der Philosophie Vorhandenes, ja die reale Substruktion, die Basis, die daseiende, nur aus der Verschüttung durch so viel Ideengebäüde und deren Ruinen wieder aufzugrabende Voraussetzung der Philosophie"2). S.

*) Über die Bedeutung des Stils, Literarhistor. Taschenbuch,

1848,

235. *) Feuerbach und die Philosophie, S. 76 f. Zum näheren Verständnis zitiere ich hier die grundlegende Formulierung W. v . Humboldts, an die Hayms Überlegungen sich eng anschließen: „ D i e Tätigkeit der Sinne muß sich mit der inneren Handlung des Geistes synthetisch verbinden, und aus dieser Verbindung reißt sich die Vorstellung los, und kehrt, als solches aufs neue wahrgenommen, in jene zurück. Hierzu aber ist die Sprache unent-



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Weil denkbar ijur das ist, was sagbar ist, weil der Gedanke Produkt des Wortes ist, weil das Denken das Sein nur vermittels der Sprache erfaßt, weil die Sprache die durch das Denken erschöpfte, in das Denken hineingenommene Wirklichkeit darstellt und die ursprüngliche Einheit der menschlichen Natur zum Ausdruck bringt, besitzt sie fundamentalphilosophische Bedeutung und wird zum tragenden Pfeiler einer Weltansicht, die auf der Einsicht in die Priorität des Realen vor dem Idealen beruht. Durch die Sprache als das Bindeglied von Geist und Natur wird unmittelbar offenbar, was die Philosophie zu erkennen strebt, — nämlich was die Welt im Innersten zusammenhält. Indem die Gebilde der Philosophie auf dem Boden der mit der Intellektualität identischen Sprache erwachsen, sind sie zunächst aus ihr zu erklären und auf sie zu reduzieren. Die „Kritik des Erkennens" wird damit zur „Kritik der Abstraktion", die „Kritik der Vernunft" zur „Kritik der Sprache"1). Auf die Hegeische Philosophie angewandt, bedeutet dies, die Sprache, diese ursprüngliche und reale Wurzel, aus welcher Natur und Geist als gesonderte erst hervorgehen, als die Wahrheit des Hegeischen „Geistes" und seiner Dialektik zu begreifen. Denn „die Dialektik ist die über ihr eigentliches Wesen und ihre Wirklichkeit bewußtlose Sprache, die Sprache ist der in der Substanz lebendige, aus dieser zur freien Erscheinung hervorbrechende Geist, die Sprache realiter derjenige Prozeß, welchen Hegel als das Leben des Absoluten, als einen metaphysischen beschreibt und durch alle Stadien hindurch verfolgt"2). Die gesamte Hegeische Philosophie ist somit nichts anderes als der mißkaniite Ausdruck des Wesens der Sprache. Wenn auch die Sprache als reale Einheit von Natur und Geist verstanden werden muß, so ist das Problem des Verhältnisses von Denken und Sein damit doch für Haym noch nicht vollständig gelöst. Denn das Wirkliche ist im Denken nach Feuerbehrlich. Denn indem in ihr das geistige Streben sich Bahn durch die Lippen bricht, kehrt das Erzeugnis desselben zum eigenen Ohre zurück. Die Vorstellung wird also in wirkliche Objektivität hinüberversetzt, ohne darum der Subjektivität entzogen zu werden. Dies vermag nur die Sprache; und ohne diese, wo Sprache mitwirkt, auch stillschweigend immer vorgehende Versetzung in zum Subjekt zurückkehrende Objektivität ist die Bildung des Begriffs, mithin alles wahre Denken, unmöglich." Die sprachphilosophischen Werke W. v . Humboldts, hrsg. von Steinthal, 1884, S. 281. Vgl. Feuerbach und die Philosophie, passim, und Literaturzeitung, März 1847, Sp. 407 f. 2)

Feuerbach und die Philosophie, S. 34.



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bachs tiefem Wort — „nicht in ganzen Zahlen, sondern nur in Brüchen darstellbar"1). Hinter der Sprache bleibt ein im Denken nicht aufgehender, unmeßbarer, unaussprechbarer, jedoch apriorisch gewisser Rest zurück, das Sittliche nach seiner subjektiven Bestimmtheit, das Gewissen. Steht das Bewußtsein unserer Freiheit auch apriori fest, so ist das Gewissen in seiner Isoliertheit doch nur eine Abstraktion. Das Bewußtsein unserer Freiheit bleibt unzertrennlich verbunden mit dem Bewußtsein unserer Abhängigkeit; ohne Notwendigkeit kann es keine Freiheit geben. Handelt es sich nach Hayms Anschauung bei dem theoretischen Ich der spekulativen Philosophie nur um eine „erräsonnierte" Abstraktion, so ist dagegen das handelnde, tätige, sittlich-praktische Ich für ihn eine unbezweifelbare, tinmittelbar gegebene Realität. In ihm, das nicht Tatsache, sondern Tathandlung, nicht ein theoretisch Gewonnenes, sondern ein mit Freiheit praktisch Ergriffenes, ein Akt und kein Wesen ist, manifestiert sich die ursprüngliche Einheit der menschlichen Natur, die Identität von Subjekt und Objekt im Elemente der Freiheit. Der Dualismus von Freiheit und Notwendigkeit löst sich auf, ähnlich wie der theoretische Dualismus des Idealen und Realen in der Sprache in ursprüngliche Identität aufgegangen war. Wie aber die Sprache erst in der lebendigen menschlichen Rede reales Dasein gewinnt, so erhält das sittlich-praktische freie Ich einen konkreten Inhalt erst in dem „sittlichen Leben", den sittlichen Handlungen des „konkreten, lebendigen, leiblichen Menschen". „Im Sittlichen ist Freiheit und Notwendigkeit in völliger Einheit, im Handeln als Handeln schlägt das durch Freiheit bewegte Notwendige und wechselweise die durch das Notwendige aufgeregte Freiheit in uns, zusammen mit der Wirklichkeit außer uns, dringt in sie ein, überwältigt und zwingt sie"2). „So erschöpft und erhält sich zugleich das ganze Wesen des Menschen: im Gedanken, welcher als Wort, im Gewissen, welches als sittliche Tat erscheint. Das Wort bekundet alles, was begrifflich im Menschen ist, die sittliche Tat alles, was nicht durch den Begriff gemessen werden kann"3). Nicht durch die „erräsonnierten" Konstruktionen der spekulativen Philosophie, vielmehr durch die Einsicht in das Wesen der Sprache und des sittlichen Lebens wird der reale Nachweis dafür erbracht, daß die Wirklichkeit vernunftbeherrscht J)

Feuerbachs Gesammelte Werke, hrsg. von Bolin und Jodl, II, 287. Die Autorität, welche fällt und die, welche bleibt, 1846, S. 30. a) Ebda., S. 31; vgl. auch Feuerbach und die Philosophie, 1847, S. 76 ff. 2)



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ist und sich als Gestaltenreich des Geistes entfaltet. Das Wesen der von H a y m proklamierten, als „ I d e a l - R e a l i s m u s " zu bezeichnenden Philosophie wird bestimmt nicht durch den von außen an die Welt herantretenden, von dem naiv-unreflektierten Glauben an die Gleichförmigkeit der menschlichen Natur seinen Ausgang nehmenden rationalistischen Vernunftbegriff der Aufklärung, sondern durch die in Leben und Geschichte sich verwirklichende, angeblich kritisch geläuterte, aus ihrer spekulativen Umhüllung gelöste, populärer und elementarer verstandene immanente schöpferische Vernunft der idealistischen Philosophie, durch die intellektualistisch-emotionale Vernunft im Sinne von freier Selbstbestimmung. Mit diesen zwar lückenhaften, unscharfen und unzureichend begründeten Deduktionen hat H a y m bis Ende 1846 seine theoretische Philosophie wenigstens zu einem vorläufigen Abschluß gebracht. W a r es bereits nicht lediglich wissenschaftlicher E r kenntnisdrang, sondern mindestens ebensosehr ein A k t des Wollens und Wünschens gewesen, der ihn zur Opposition gegen die Hegeische Philosophie getrieben hatte, so war der Gang und die Richtung seines Philosophierens vollends durch sein praktisches Lebensbedürfnis, durch seine entschiedene Welt-, Lebens- und Gegenwartsbejahung und den Glauben bestimmt worden, daß „eine Zeit des Wirkens und Kämpfens" 1 ) begonnen habe Und „das Zeitalter der T a t " 2 ) angebrochen sei. Von den ersten A n j Sätzen zu einem philosophischen Eigenleben an bekannte sich H a y m zum Primat der praktischen Philosophie. Wie Fichte, so ist auch ihm das Freiheitsproblem zum Angelpunkt seiner im Tatmenschentum sein Zentrum suchenden Weltanschauung geworden, die das Weltall nicht begreift als ein Seiendes, Notwendiges, sondern als ein Werdendes, Tätiges, Freies. Von der Anschauung aus, daß der Realismus des Lebens und die konkrete Wirklichkeit über dem Idealismus des Denkens und der E r kenntnis stehe, hatte das Seins- und Erkenntnisproblem seine Beleuchtung erfahren. Bewußt hatte er an Kant, Fichte und Feuerbach angeknüpft, bewußt und planmäßig war er über sie hinausgegangen. Seine Erkenntnis war durch sein Wollen bestimmt worden. Indem er der Philosophie die Aufgabe zuschrieb, zum Elementauren zuriickzulenken, sich den konkreten Existenzen zuzuwenden, sich mit realem Gehalt zu erfüllen, kurz, Philosophie der Tatsachen zu sein und die Realität spekulationsfrei *) Selbstgespräche, 1846, S. 16. a ) Ebda., S. 65.

— 63 — zu erfassen, wuchs er über die abstrakte Formalität und historische Gebundenheit des Fichteschen Freiheitsprinzips, zugleich aber auch über Fichtes übersteigerten „Idealismus" hinaus, der die Objektwelt entwertete, indem er sie durch die hervorbringende Tätigkeit des Ich entstehen ließ. An der Spitze von Hayms „praktischer" Philosophie steht der den ethischen Idealismus proklamierende Kernsatz: „Sittliches Handeln ist der letzte Zweck unseres Daseins". Die Grundbedingung des Handelns ist die Freiheit. Da Freiheit und Vernunft aber nicht zwei, sondern eins sind, so ist das Wesen der Freiheit „Bewußtsein, Besinnung, Vernünftigkeit" 1 ). Menschliches Handeln heißt daher, mit Freiheit nach der Vernunft, aus Einsicht und nach Gründen handeln. Keineswegs jedoch erschöpft sich darin das Handeln. Erst indem es für andere und auf andere wirkt und auf sich wirken läßt, erst durch die ausgleichende Macht der „Liebe" als dem höchsten Ausdruck des für den Begriff Inkommensurablen in uns und außer uns und als dem vollendeten Ausdruck für die freie menschliche Tätigkeit, welche leidet, nur weil sie leiden will, wird es zum wahrhaft vernünftigen, von der Selbstsucht gereinigten, gemeinnützigen „sittlichen Handeln", erst damit erfüllt sich die moralische Bestimmung des Menschen. Und weil es so ist, gibt es keine spekulative Philosophie, die wahrhaft absolut wäre. Es ist der historische Sinn, das weltanschauliche Verständnis für Historie, das hier sein Recht geltend macht. In der Historie erblickt Haym das Korrektiv der Philosophie. Sprache und Sittlichkeit stellen den Ansatz dar zur Vermittlung von Geschichte und Philosophie, von Kritizismus und Dogmatismus. Wie die Sprache die Natur des Menschen, ihr Sein wie ihr Gewordensein breit auseinanderlegt, so wirft der ewige Wechselverkehr der theoretischen und der praktischen Natur des Menschen auch das Sittliche in den Fluß der Geschichte. „Nicht als totes Gesetz oder unbeugsamer Grundsatz bewahrt sich das Sittliche, sondern es läutert sich zur lebendigen Gesinnung, welche jede Sitte erst bildet und jedes Gesetz erst schreibt. Die Geschichte demnach drängt sich mit vorher nicht gekannter Bedeutung in unser theoretisches Streben" 2 ). Das Dasein der Liebe ist Wirkung; „sie ist nur, indem sie sich manifestiert" 3 ). Absolut und universell ist allein die in die „Praxis der Liebe" sich umsetzende, vom Trieb, Gefühl, Bedürfnis des sittlichen Handelns x

) Die Autorität, welche fällt und die, welche bleibt, 1846, S. 10. ) Die Krisis unserer religiösen Bewegung, 1847, S. 20. *) Feuerbach und die Philosophie, 1847, S. 83.

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— 64 — erfüllte moralische Energie des Menschen, das im Leben und in der Geschichte, in den menschlichen Gemeinschaftsformen, vornehmlich in Familie und Staat sich entfaltende, immer wieder von neuem sich verjüngende „Reich des sittlichen Daseins"1). Auch das Denken erscheint Haym als ein Handeln, nur als ein geistigeres, ein feineres Handeln: „Nicht bloß, daß das Denken selbst ein Handeln ist. Es endet und mündet auch in das wirkliche Handeln. Jede Theorie ist Theorie für eine Praxis ... Die Theorie kann nicht in der Trägheit und Abgeschlossenheit für immer verharren. Sie will sich in der Wirklichkeit geltend machen"2) Die wissenschaftliche Ethik ist von unmittelbarster praktischer Bedeutung, denn: „Nicht spekulieren will die Gegenwart, sondern handeln. Das Streben nach Erfolg und Wirkung, die Hingabe an die Bewegung des Lebens ist zu einem Höchsten angewachsen; praktische Interessen liegen selbst bei theoretischen Bemühungen entweder zugrunde oder im Hinterhalte"3). Indem die Philosophie hieraus die Konsequenz zieht und das theoretische Denken in den Dienst des durch das Denken doch niemals völlig erfaßbaren handelnden Lebens stellt, verzichtet sie auf einen geschlossenen spekulativen Systembau und wird zur Philosophie der Tat. Mit diesem auf das Praktisch-Utilitarische und, wie sich noch zeigen wird, auf das Poli'tisch-Reformatorische hinzielenden Programm nähert sich Haym der aus dem Junghegelianismus geborenen, von aufklärerischem Geist getragenen abbauenden Kritik der spekulativ-systematischen Philosophie, als deren oberstes Ziel Karl Biedermann bereits 1842 „die Auflösimg aller Systematik des Wissens in eine dem Leben und seiner Bewegung sich aufs engste anschließende, vollkommen praktische Betrachtung der Dinge"4) proklamiert hatte. Uber widerspruchsvolle Ansätze, abstrakte Formeln und programmatische Ankündigungen ist Haym mit seiner Philosophie des „Ideal-Realismus" bis zum Herbst 1846 nicht hinausgekommen. Zu einer Konkretisierung ist er erst gelangt, als er vom denkenden Erfassen der Wirklichkeit zu ihrem persönlichen Erleben überging. Von den Schwingungen der Zeit ergriffen, *) Lessing, St. Pierre und ein Dritter, 1846, S. 42 f.; Noacks Jahrbb. I. spekulative Philosophie, 1847, II, 769; Feuerbach und die Philosophie, 1847, S. 97. 2 ) Wislicenus' Reform, März 1846, S. 22. 3 ) Allgem. Literaturzeitung, September 1846, Sp. 388. 4 ) Biedermann, Die deutsche Philosophie von Kant bis auf unsere Zeit, ihre wissenschaftliche Entwicklung und ihre Stellung zu den politischen und sozialen Verhältnissen der Gegenwart, 1842, II, 457.

— 65 — stellte er sich vom Frühjahr 1846 ab als aktiver Mitstreiter in die Reihen der Lichtfreundebewegung und des aufstrebenden politischen Liberalismus. Von hier aus ist die Fortbildung seiner Philosophie bestimmt worden. Die geradezu vorbehaltlose Begeisterung für den deutschen Ideaüsmus seit 1843 hatte vom Ende 1844 ab einer fanatischen Kampfstimmung und schroffen Abkehr weichen müssen, um dann, von Mitte 1845 ab, schrittweise fortschreitend, einer kompromißbereiten Synthese das Feld zu räumen, die die lebendigen historischen Kräfte der Gegenwart mit dem geistigen Erbe der Vergangenheit harmonisch zu vereinigen trachtete. Bis dahin war Hayms Überzeugung gewesen, daß mit dem Bankerott der spekulativ-systematischen Philosophie die philosophische Produktionskraft sich erschöpft habe und ein neuer Systembau, wenn nicht überhaupt, so doch zumindesten auf absehbare Zeit unmöglich sei. Resignierend sah er sich zur Begründung seiner Weltanschauung auf die Kritik des bisher Erreichten, auf die Geschichte der Philosophie zurückverwiesen. Gewann Haym auch aus dem Studium der Geschichte die Erkenntnis von der historischen Bedingtheit und Vergänglichkeit aller philosophischen Systematik, so drang er doch zugleich zu der Einsicht vor, daß die Geschichte der Philosophie keineswegs etwas bloß Vergangenes, sondern ebensosehr etwas Gegenwärtiges, höchst Lebendiges sei, das in dem der äußeren Geschichtsbedingungen entkleideten überzeitlichen, zwar wandelbaren, aber nicht vergänglichen Problemgehalt zum Ausdruck gelange. Zeigt die Geschichte der Philosophie das beständige Schwanken zwischen System und Kritik des Systems, zwischen „Dogmatismus" und „Kritizismus", legt sie Zeugnis ab von der beschränkten Lebensdauer jedes dogmatisch gebundenen, mit dem Anspruch auf Absolutheit auftretenden Systems, so erweist sie doch zugleich das Ungenügende, über sich selbst Hinausstrebende jedes einseitig skeptischen oder kritischen Standpunktes: „Denn wie jedes System seine Kritik, so hat jede Kritik ihr System im Rücken" 1 ). Mit dieser Anschauung verband sich nun noch in einer für Hayms ethischen Idealismus und aufklärerischen Lebensimpuls sehr bezeichnenden Weise die aus der konkreten Gegenwartslage geschöpfte Überzeugung, daß die Philosophie, soweit sie sich mit realem Gehalt erfülle und dem Wandel der historischen Gesamtsituation Rechnung trage, nicht nur als Begleiterin, Erklärerin und Deuterin der lebendigen Wirklichkeit aufzutreten habe, Artikel „Philosophie", S. 18. Beiheft d. H. Z. 31

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sondern auch dazu berufen sei, Richtlinien für die Gestaltung der Wirklichkeit aufzustellen. Von hier aus schöpfte Haym neuen Mut zu philosophischer Konstruktion und den Glauben, daß ein Systemnur durch ein System und das Hegeische System insbesondere nur von demjenigen „widerlegt" werden könne, „welcher schöpferisch einen neuen Standpunkt sich zu erringen weiß" 1 ). Wenn auch immer wieder durch skeptische Reflexionen gehemmt, so reifte in ihm in der Stille doch die Uberzeugung, daß die gegen den Idealismus und die Romantik sich kehrende Oppositionsbewegung mehr als eine bloße Reaktionsbewegung sei, daß sie vielmehr den Wandel der geistigen und politischen Strömungen, ein gleichzeitig in Philosophie, Religion, Kunst und Politik sich durchsetzendes neues Lebensgefühl, den Anbruch eines neuen historischen Zeitalters bezeichne, für das der philosophisch systematische Ausdruck, die zugehörige metaphysische Formel gefunden werden müsse, die den Geist in seinen verschiedenen Gestaltungsformen, aber diese Formen zugleich in ihrer Einheit begreift. Erst nach den niederschmetternden Erfahrungen des Jahres 1848 ist Haym von dieser spekulativen Wendung zu seiner mehr positivistischen Haltung von 1846 zurückgelenkt. Die hier kurz skizzierte Wandlung der Grundanschauungen Hayms ist in prinzipiell reinster und geklärtester Form zum Ausdruck gelangt in einem „auf Bestellung" geschriebenen Buche, das eigens dazu geschaffen schien, seinen Bestrebungen auf philosophiegeschichtliche Begründung und systematischen Ausbau der bisher gewonnenen Leitsätze zur Erfüllung zu verhelfen. Es handelt sich um den für das riesige Sammelwerk der Ersch- und Gruberschen Enzyklopädie geschriebenen, 1846 begonnenen Artikel „Philosophie", der, so gut wie völlig verschollen, von R. M. Meyer „die Prachtleiche der Erschund Gruberschen Katakomben"2) genannt worden ist. Mit einem wahren Feuereifer hat sich Haym in die Vorarbeiten zu diesem Buche hineingestürzt. Aber schon nach einigen Monaten begannen die Kräfte zu erlahmen, da sich seine Interessen von den theoretischen immer mehr zu den aktuellen Tagesfragen hinüberwandten und ihm nicht allein die abstrakte Spekulation, sondern sogar die Müsse gelehrter Arbeit unerträglich zu werden begann. So hat die Ausarbeitung mannigfache Unterbrechungen erfahren und ist, widerwillig und mißmutig, im März 1848 zu einem notReden und Redner des 1. Ver. Landtags 1847, S. 235. *) Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, B d . 109, S. 381.

— 67 — dürftigen und abrupten Abschluß gebracht worden. Erst in den 1850 er Jahren ist Haym dazu gelangt, das im Vormärz konzipierte, in den Ansätzen steckengebliebene „System" nun zwar nicht mehr als „System", sondern als geschlossene Weltanschauung von geprägter Eigenart wissenschaftlich im einzelnen zu begründen1). Eingerahmt von einem skizzenhaften Uberblick über den Bedeutungswandel des Wortes Philosophie und von allgemeinen Betrachtungen über Begriff, Wesen, Sinn und Aufgabe der Philosophie überhaupt, sowie über die Abgrenzung von Philosophie, Religion und Kunst, wobei Religion und Kunst nicht mehr wie bei Hegel als niedere, sondern als gleichwertige Bewußtseinsformen gegenüber der Philosophie erscheinen, versucht Hayms Artikel „Philosophie" in der Hauptsache eine kritische Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Philosophie von ihren Anfängen bis zur unmittelbaren Gegenwart zu geben. Diese Darstellung ist ein höchst ungleichartiges und ungleichwertiges und in der Komposition geradezu ungeheuerliches Gebilde. Die Mängel des Buches sind nicht allein in seiner Entstehungsweise begründet, auch nicht nur in den lückenhaften Kenntnissen des Verfassers, sondern ebensosehr in den widerspruchsvollen prinzipiellen Grundlagen, in dem nur halb gelösten Zwiespalt von historisch-kritischer und spekulativ-systematischer Betrachtungsweise, wie er bei der Philosophiegeschichtschreibung jener Zeit allgemein, wenn auch nicht in so schroffer Form wie bei Haym, zu finden ist. Mit seiner „Geschichte der Philosophie", wie man den Enzyklopädieartikel ohne weiteres bezeichnen darf, steht Haym durchaus in der Reihe der mit Hegel beginnenden Philosophiehistoriker und damit zugleich in jener übergangsbewegung des deutschen Geistes, die durch die fortschreitende Auflösimg und Umbildung der spekulativen Systeme und das siegreiche Vorwärtsdringen der empirischen Wissenschaften charakterisiert wird. Erst durch Hegel ist die Philosophiegeschichtschreibung zu einer Wissenschaft im modernen Sinn geworden. Gebührt den unendlich gelehrten und fleißigen Polyhistoren des 17. Jahrhunderts das Verdienst, durch ihre riesigen Material- und Notizensammlungen die philosophiegeschichtlichen Studien auf eine breite und sichere Tatsachengrundlage gestellt zu haben, so darf der Aufklärer Jakob Brucker, der als Erster seine ganze Lebensarbeit in den Dienst der philosophiegeschichtlichen Forschung *) Es ist dies vornehmlich in den ungedruckt gebliebenen Vorlesungsmanuskripten geschehen.

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gestellt hat, den Ruhm für sich in Anspruch nehmen, durch sein 1742—44 erschienenes Hauptwerk die Universalgeschichte der Philosophie geschaffen zu haben. Uber eine von moralisierenden und pragmatisierenden Betrachtungen umrahmte Kompilation ist allerdings auch er noch nicht hinausgedrungen. Die Philosophiegeschichte erscheint bei ihm noch lediglich als eine belehrende, für die aufklärerischen Zeitbestrebungen nutzbar zu machende Beispielsammlung, und als Gegenstand der Philosophiegeschichte bezeichnet er noch das, was der Philosoph „de omnibus rebus et de quibusdam aliis" gelehrt hat. Bei Bruckers Nachfolgern werden in der kritischeren Behandlung der Quellen der Einfluß der modernen Philologie und bei den Kantianern Tennemann und Füllebom die Anfänge einer entwickelnden Philosophiegeschichte deutlich sichtbar1). Eine wahrhaft historisch begreifende und verstehende, das Tatsachenmaterial in seinem Kausalzusammenhang und seiner inneren Einheit erfassende Behandlungsweise der Philosophiegeschichte aber konnte sich erst zu der Zeit herausbilden, wo der die historischen Erscheinungen auf ein absolutes Normalschema beziehende Fortschrittsbegriff der Aufklärung überging in den Entwicklungsbegriff des idealistisch-romantischen Denkens. Diesen Entwicklungsbegriff zum erstenmal auf die Universalgeschichte der Philosophie übertragen zu haben, ist eines der großen unsterblichen Verdienste Hegels. Hegel hat gründlichst mit der Vorstellung aufgeräumt, als ob die Geschichte der Philosophie nur einen unordentlichen Haufen von „Meinungen" enthalte: „Die Taten der Geschichte der Philosophie sind keine Abenteuer, — so wenig die Weltgeschichte nur romantisch ist —, nicht nur eine Sammlung von zufälligen Begebenheiten, Fahrten irrender Ritter, die sich für sich herumschlagen, absichtslos abmühen, und deren Wirksamkeit spurlos verschwunden ist. Ebensowenig hat sich hier einer etwas ausgeklügelt, dort ein anderer nach Willkür, sondern in der Bewegung des denkenden Geistes ist wesentlich Zusammenhang. Es geht vernünftig zu. Mit diesem Glauben an den Weltgeist müssen wir an die Geschichte und insbesondere an die Geschichte der Philosophie gehen"2). Daß der Gang der Geschichte der Philosophie ein sachlich notwendiger, daß er das Zusichselbstkommen der denkenden Vernunft ist, daß die Aufeinanderfolge der verschiedenen Philosopheme sich in der Weise der dialektisch 1 ) Vgl- Joh. Freyer, Gesch. der Geschichte der Philosophie im 18. Jahrhundert, 1912. 2) Hegels Werke, X I I I , 32.

— 69 — fortschreitenden Entwicklung vollzieht, das ist der geniale und folgenreiche Gedanke, den Hegel auf die philosophische Historiographie angewandt hat. Die Geschichte der Philosophie erscheint bei ihm als die Offenbarung und Entfaltung des Weltgeistes. Mit diesem Gedanken hat Hegel einen andern verbunden, den seine historischer denkenden Nachfolger dann mehr und mehr und schließlich ganz aufgegeben haben, nämlich den Gedanken, „daß die Aufeinanderfolge der Systeme der Philosophie in der Geschichte dieselbe ist, als die Aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee"1), daß es dementsprechend die Aufgabe des Philosophiehistorikers ist, die durch das System erkannte Entwicklung des Geistes in dem zeitlichen Verlauf nachzuweisen. Zufolge dieses Gedankens von dem Parallelismus der geschichtlichen und der dialektischen Entwicklung der Kategorien hat Hegel die Geschichte der Philosophie zu einem Teile seines Systems machen und erklären können, daß die Entwicklung der Philosophie mit seinem System ihren Abschluß finde. Von hier aus gesehen erscheint jede Philosophie als notwendig und als Ausdruck des Geistes ihrer Zeit. Keine ist untergegangen. Keine ist zerstört worden. Nur ihr Anspruch auf Absolutheit ist durch die nächstfolgende Philosophie, die sie als aufgehobenes Moment in sich trägt, widerlegt worden, und nun sind sie alle „aufgehoben" und konserviert in der abschließenden, allumfassenden, wahrhaft absoluten eigenen Philosophie. Weil sie die letzte Philosophie ist, ist sie die reichste und tiefste. — Diese ganze Lehre ist von einer logischen Konsequenz ohnegleichen. Für Hegel beruhte die ganze Geschichte der Philosophie auf der sachlichen Notwendigkeit des gedanklichen Fortschritts. Den weitaus stärkeren Anteil, den die schöpferische Persönlichkeit, die individuelle Eigenart der einzelnen Denker und den das allgemeine Zeitbewußtsein, die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die kollektivistischen Mächte an der Entstehung und Ausbildung der verschiedenen Philosopheme haben, hat Hegel, obwohl er zum Teil auch auf diese Faktoren hingewiesen hat, in seiner Darstellung der Geschichte der Philosophie nicht in gebührender Weise berücksichtigt. Diesen Mangel haben erst nach und nach seine Schüler und Nachfolger zu beseitigen begonnen. So umstritten der Einfluß Hegels auf die Entwicklung der Geisteswissenschaften heute auch noch ist, völlig außer Frage steht, daß alle großen philosophiehistorischen Leistungen des i) Hegels Werke, XXII. 43.

— 70 — 19. Jahrhunderts von seinem Geiste beseelt sind. J . E. Erdmaxin, Eduard Zeller, Haym, Kuno Fischer sind von ihm ausgegangen ; und von den Späteren haben Windelband und Dilthey zweifellos starke Antriebe durch ihn erfahren. Die wissenschaftlich bedeutenderen Köpfe innerhalb der Hegeischen Schule haben von den 1830er und 1840er Jahren ab ihre Lebensarbeit immer mehr in den Dienst der Philosophiegeschichtschreibung gestellt. Ihnen gebührt das Verdienst, in ausgesprochenem Gegensatz zu ihrem Lehrer die philosophiegeschichtliche Forschung auf die philologisch-kritische Methode gegründet zu haben, die bei anderen philosophischen Grundanschauungen bereits auch von Schülern Schleiermachers, Schellings und Herbarts angewandt wurde. Diese wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge muß man sich vergegenwärtigen, um Wert und Bedeutung von Hayms Artikel „Philosophie" richtig abschätzen zu können. Was ist Philosophie ? Was ist Aufgabe und Gegenstand, was ist das Wesen der Philosophie ? das ist die große Frage, von der Haym in seinem Artikel „Philosophie" ausgeht. Ihre Beantwortung bildet den Inhalt seines Buches, das vollkommen beherrscht wird von dem Zwiespalt zwischen spekulativem Geist und kritischexakter Darstellung. Wenn auch die Formen und Grade dieses Zwiespalts von jeher sehr verschieden sind, so ist er doch bis zu einem gewissen Maße allen Darstellungen der geschichtlichen Entwicklung der Philosophie notwendig eigen. Bereits Schleiermacher hat dies Dilemma, soweit es das Auswahlprinzip und damit den Begriff der Philosophie betrifft, näher bezeichnet: „Einigung über das Geschäft ist schwierig. Denn wer die Geschichte der Philosophie vorträgt, muß die Philosophie besitzen, um die einzelnen Fakta, welche ihr angehören, aussondern zu können, und wer die Philosophie besitzen will, muß sie historisch verstehen"1). Der antinomische Charakter des Problems tritt in besonders komplizierter Form bei Haym zutage. Denn mit dem Zusammenbruch des Glaubens an die Absolutheit des Hegeischen Systems war für Haym zugleich die Hegeische Lösung des Problems der Philosophiehistorie hinfällig geworden, die dem Gegensatz von historisch-empirischen Relativismus und philosophisch-spekulativen Dogmatismus dadurch die Spitze abgebrochen hatte, daß sie die ganze bisherige Entwicklung der Philosophie in dem eigenen System gipfeln ließ. Von der Einsicht aus, daß das Schleiermacher, Geschichte der Philosophie, Sämtl. Werke, 3. Abtlg» Bd. I V , 1. Teil, S. 15.

— 71 — Hegeische System selbst in den Strudel der Dialektik hineingerissen und der Auflösung anheimgefallen war, sah sich Haym, im Gegensatz zu Erdmann, Zeller und Fischer, die sich den Glauben an die absolute Philosophie bewahrt hatten, zu dem Versuche vorwärtsgetrieben, das „Wesen" der Philosophie auf dem Wege eines historisch induktiven, von vorgefaßten Meinungen und Systemgesichtspunkten freien Verfahrens zu bestimmen. Von den verschiedenartigen, relativ durchaus berechtigten und wahren Wesensbestimmungen der einzelnen Philosophen zu dem geschichtlichen Tatbestande der Philosophie selbst sich wendend, der Geschichte des philosophischen Geistes nachgehend, seine Wandlungen als Produkt und Spiegel der jeweiligen Zeitverhältnisse begreifend, gelangte er zu der fundamentalen, neue Wege weisenden, von Dilthey später in seinem großartigen Aufsatz über „Das Wesen der Philosophie" prinzipiell begründeten und näher ausgeführten Einsicht, daß das „Wesen" der Philosophie überhaupt nicht absolut zu bestimmen, sondern lediglich in der Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungsformen, in ihrer historischen Differenzierung zu erblicken sei1). Wuchs Haym auch in diesem Punkt über den in Systemdogmen befangenen Standpunkt der führenden zeitgenössischen Philosophiehistoriker hinaus2), brach er damit in wagemutigem Entdeckerdrang dem historischen Bewußtsein nun auch im Bereich der Philosophiehistorie wenigstens grundsätzlich, wenn auch noch nicht tatsächlich die Bahn, so blieb seine historiographische Praxis doch weit davon entfernt, in einen skeptischen Relativismus oder gar in ein Bekenntnis zur historischen Weltanschauung einzumünden. Vielmehr ruft die auf ihn drückende Last der Tradition des spekulativ-systematischen Denkens einen tiefen Zwiespalt in seiner „Geschichte der Philosophie" hervor. Im Banne der Anschauung, daß ein System nur durch ein System widerlegt werden könne, schwankt er beständig hin und her zwischen dem Bemühen nach objektivierender und relativierender, von Dogmengesichtspunkten und doktrinären Wertungen freier Würdigung l ) Geistesgeschichtlich aufschlußreich, aber hier nicht näher auszufahren, ist ein Vergleich mit der Windelbandschen Problemlösung. Vgl. Windelbands Präludien, 1911 4 , I, 1 ff., und Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer, 1907, S. 529 ff. *) Vgl. hierzu vor allem J. E. Erdmann, Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neueren Philosophie, I, 1, 1834, S. 67 f f . ; E d . Zeller, Die Philosophie der Griechen, Bd. I, 1844, S. 9 t . ; Kuno Fischer, Einleitung in die Geschichte der Philosophie, 4. Aufl., o. J., S. 6 f „ i 3 f .

— 72 — der individuellen, einzigartigen, im Wandel der Geschichte auftretenden Philosopheme und der teleologischen Beurteilung, Verurteilung, ja Vergewaltigung des geschichtlichen Tatbestandes der Philosophie im Dienste einer rein subjektiven Anschauung vom Wesen und Inhalt der Philosophie. Die Geschichte der Philosophie erscheint daher einmal als eine spekulationsfreie, selbständige historisch-kritische Wissenschaft, die durch Aufdeckung der historischen Bedingtheiten die zeitweilige Berechtigung der Systeme erweist, zugleich aber ihren Absolutheitsanspruch zerstört, andererseits als eine im Dienst spekulativen Denkens stehende Hilfswissenschaft, die nur die Materialien zum Aufbau eines eigenen Systemgebäudes zu liefern hat. Als „Wesen" der Philosophie erscheint daher einmal der von den Begriffsbestimmungen der einzelnen Philosophen unabhängige geschichtliche Tatbestand der Philosophie, die gemeinsame Leistung, die durch die Arbeit sämtlicher Philosophien im Wandel der Geschichte zustande gekommen ist, andererseits gelangt dieses „Wesen" zum Ausdruck in der Annahme eines „Absoluten", nämlich in dem in Sprache und Sittlichkeit sich verwirklichenden Identitätsgedanken. Indem Haym von diesem Dogma aus die einzelnen Systeme kritisiert und die ganze geistige Geschichte der Menschheit auffaßt als ein Auf und Ab von Synthese und Auflösung der Synthese des Sittlichen und Sprachlich-Intellektuellen, gewinnt seine Darstellung der Geschichte der Philosophie den Charakter einer willkürlichen subjektiven Konstruktion, die von den Wertmaßstäben aufklärerischer und spekulativer Geschichtschreibung nur graduell, aber nicht wesensmäßig verschieden ist. Das schließt nicht aus, daß Haym hie und da doch zu einer gerechten historischen Würdigimg gelangt ist und daß er im einzelnen, namentlich in der Stoffauswahl und Periodisierung, aber auch in der Anlage und Durchführung seiner „Geschichte der Philosophie" sich an das von Hegel aufgestellte Vorbild anschließt. Wenn er auch das Hegeische absolute Schema aufzulösen, das System als solches zu sprengen, die Lehre vom Parallelismus der historischen und logischen Kategorien über Bord zu werfen, die Fakta der Geschichte nicht nur als Momente in der notwendigen Entwicklung des Geistes, als Selbstentfaltung der Idee, sondern zugleich in ihrer geschichtlichen Eigentümlichkeit zu begreifen beginnt, so ist es ihm doch nur partienweise gelungen, die theoretische Einsicht durch die historiographische Tat zu verwirklichen. Dieses Mißverhältnis zwischen Wollen und Vollbringen ist ebensosehr auf Hayms mangelnde Kraft und noch

— 73 — unentwickelte Fähigkeit wie auf die Tatsache zurückzuführen, daß er in dieser Periode seines Lebens eben noch ein Halbhegelianer war und daß für ihn zwar nicht mehr Hegels System, wohl aber Hegels Weltanschauung noch immer eine lebendige Kraft darstellte. Schreibt doch Haym in einer Hegel analogen Weise der Philosophie einen Sinn und Wert zu, der ihr eine überragende Stellung im Gesamtsystem der Kultur sichert! Völlig im Einklang mit Hegels Grundgedanken faßt Haym die Philosophiegeschichte auf als die der Weltgeschichte als Tatengeschichte parallel laufende Gedankengeschichte der „Menschheit" und des „Weltgeistes". Den Wandlungen der verschiedenen philosophischen Zeitgeister als den verschiedenen Metamorphosen des allgemeinen philosophischen Geistes nachzugehen, hat für ihn die'Bedeutung, auf den „Gipfeln der Menschengeschichte" 1 ) zu wandeln. Die Geschichte der Philosophie, „die an dem reinen Zuge der Gedankenentwicklung festhält 2 ), erscheint seinem fortschrittsgläubigen Optimismus und seinem von Hegelschem Geiste erleuchteten Aufklärertum als ein Aufstieg von primitiven zu höheren Formen des Denkens, nicht als bloßer Zuwachs, sondern als Entwicklung, die sich in der Weise vollzieht, daß aus jeder Lösung des Menschheitsproblems in fortschreitender Ordnung immer neue und tiefere Problemlösungen entspringen. Die Geschichte der Philosophie wird damit zur Geschichte der beständig zunehmenden intellektuellen Vervollkommnung der Menschheit, zur Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes im großen. Denn eine jede epochemachende Philosophie ist Haym nicht nur Produkt und Spiegel der schöpferischen Denkerpersönlichkeit wie der kulturellen und politischen Zeitverhältnisse, sondern zugleich Produkt der vorangegangenen, durch ihre innere Dialektik weitergetriebenen Philosophie. Wie nun in jeder Epoche der Weltgeschichte immer nur ein bestimmtes, ein „weltgeschichtliches Volk" berufen ist, die weltgeschichtliche Aufgabe zu lösen, so tritt auch, wie Haym mit Hegel annimmt, in der Geschichte der Philosophie als Träger der jeweiligen Entwicklungsstufe des allgemeinen Geistes immer nur ein bestimmtes Volk auf. Waren in der Antike die Griechen, so sind in der neueren Zeit seit Leibniz die Deutschen dazu berufen, die Träger des philosophischen Geistes zu sein. Und wie dem „weltgeschichtlichen Volk" das Recht auf Weltbeherrschung im idealen Sinne zukommt, so darf das „philosophische Volk" den Anspruch auf

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Artikel „Philosophie", S. 19. Ebda., S. 150.

— 74 — geistige Weltherrschaft erheben. Von weltbürgerlich-universalen Gedankengängen aus, in denen jedoch Anklänge an den frühromantischen Kultumationalismus und an den burschenschaftlichen Teutonismus nicht fehlen, stößt Haym, die Bindung der universalen Menschlichkeit an die Idee der Nation erkennend, zur programmatischen Verkündigung eines übersteigerten Kulturnationalismus vor, der, von zahlreichen Epigonen des Zeitalters der idealistisch-romantischen Philosophie und Dichtung verkündet und im Laufe des 19. Jahrhunderts vergröbert, den verhängnisvollen Glauben an das „Volk der Dichter und Denker" im Gefolge gehabt hat. „Wir haben ein Recht", so ruft Haym aus, „uns unserer Philosophie zu rühmen, wir dürfen von ihr aus, wie von einem Erbe hellenischen Geistes, die Nachbarvölker als Barbaren betrachten, die nur lallend und versuchend die Sprache reden, welche bestimmt ist, ihnen Gesetze vorzuschreiben. Nur eine kurze Rücksicht brauchen wir ihren philosophischen Bestrebungen zu widmen, seitdem Deutschland zur Trägerin der Geschicke der Metaphysik geworden" ist1). So ist es nicht weiter verwunderlich, daß Haym volle zwei Drittel seiner „Geschichte der Philosophie" der Periode von Leibniz bis zur unmittelbaren Gegenwart gewidmet hat. Es ist dies übrigens der einzige wissenschaftlich ernst zu nehmende Teil seines Buches. Alles andere, so wichtig es als Dokument seiner Bildungsentwicklung auch erscheinen mag, ist eine oberflächliche, hastig zusammengeschriebene Kompilation, die sich auf lückenhafte Quellenstudien, ja vielfach ausschließlich auf verarbeitende Darstellungen von zum Teil recht fragwürdigem Werte stützt. Im ersten Drittel des Buches erheben sich lediglich die der Zeit von Sokrates bis Aristoteles gewidmeten Abschnitte auf etwas gesicherteren Fundamenten. Im Mittelpunkt des Buches steht die ausführliche Analyse und Kritik der Hegeischen Philosophie. Diese Analyse, die sich ausdrücklich die „Widerlegung" des Hegeischen Systems zum Ziel setzt, ist nichts anderes als Hayms Hegelbuch von 1857 im Embryonalzustande. Es mag daher an dieser Stelle genügen, die entscheidenden Argumente kurz zusammenzufassen, die in dem späteren Buche in vertiefter und wissenschaftlich begründeterer Form wiederkehren. Daß die Hegeische Philosophie ein mit Reflexion und Absichtüchkeit Gemachtes, daß sie von der Omnipotenz des Begriffs, von einem übersteigerten Intellektualismus und Rationalismus erfüllt sei, der das Ethische in sich aufi) Artikel „Philosophie", S. 188.

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sauge, das Konkrete verflüchtige, das Empirische vergewaltige und das Individuelle nicht zu seinem Recht kommen lasse, daß sie von enzyklopädischer Uferlosigkeit, daß sie eine mißlungene, weil historisch längst überholte Vermittlung zwischen Substanz und Subjekt, Aufklärimg und Romantik, Reflexion und Mystik, modernem und antikem Denken in der Form des Begriffs, daß sie in ihrem Prinzip durchaus „romantisch" geblieben, in ihrer Ausführung „scholastisch" und „sophistisch" sei, daß bei ihr der Kritizismus gegenüber dem Dogmatismus zu kurz komme, daß ihre Methode unhaltbar sei, daß sie auf der unbewiesenen, mystischen Voraussetzung der von der ästhetischen Anschauung durchsetzten absoluten Erkenntnis beruhe, daß sie damit, da System und Methode eine unzerreißbare Einheit bilden, der Auflösung anheimfalle, daß sie als der getreue Spiegel einer „armseligen und kümmerlichen Zeit" die Philosophie der Restauration, daß sie, konservativ, fatalistisch und quietistisch in ihren Tendenzen, reaktionär in ihren Konsequenzen, die theoretische Rechtfertigimg und ideelle Verklärimg des Polizeistaates sei, — das sind die schweren, in pathetischem Ton vorgebrachten, von politischer Kampfstimmung erfüllten, am wirklichen Wesen der Hegeischen Philosophie vielfach vorbeisehenden parteiischen Anklagen, die Haym gegen Hegel erhebt. In keinem Abschnitte seiner „Geschichte der Philosophie" hat sich Haym mehr von seiner inneren Erregung, der Lebhaftigkeit seines Temperaments und seiner zum sittlichen Pathos neigenden Natur hinreißen lassen, in keinem Teile seiner geschichtskritischen Übersicht Analyse und Kritik des Systems mehr durcheinandergemengt als in der Darstellung der Hegeischen Philosophie. Diese von polemischer Rücksichtslosigkeit und dogmatischer Strenge getragene Kritik war aus dem Drang nach Selbstbesinnung und Rechenschaftsablegung, aus dem leidenschaftlichen Ringen nach Selbstbefreiung, aus dem Gange und Geiste der Zeit geboren. Indem Haym die gesammelte Kraft seiner Polemik gegen das Hegeische System und seinen Anspruch auf endgültige Lösung der Welträtsel richtete, indem er sich das ausdrückliche Ziel stellte, das System als System in Stücke zu schlagen und das im Gehäuse des Systems eingesargte Leben zur Auferstehung zu bringen, schuf er sich erst das Fundament zur Begründung eines eigenen Standpunktes. Nicht der Gedanke an eine Anarchie der Werte, sondern ein neuer, mutiger Zukunftsglaube war ihm aus der Wanderung durch die Geschichte der Philosophie erwachsen, ein Glaube, der es ihm als eine verlockende und zeitgemäße Aufgabe erscheinen

— 76 — ließ, die Trümmerhaufen der philosophiegeschichtlichen Vergangenheit zum Aufbau • eines aus dem lebendigen Bewußtsein der Gegenwart gespeisten Systems zu verwenden. Die große philosophische Aufgabe der Zeit schien ihm — nach seinem eigenen Ausdruck — darin zu liegen, den „absoluten Idealismus" Hegels zum „ s i t t l i c h - p r a k t i s c h e n I d e a l i s m u s " zu läutern, aus dem „selbstgenügsamen, mit der historischen Wirklichkeit als begriffener sich behaglich auseinandersetzenden System den belebenden Funken reformatorischer Kritik und sittlichen E n thusiasmus zu erwecken" 1 ), den „guten Geist der dialektischen Methode, sofern dieselbe zweckmäßige Entwickelung, Fortschritt durch den Stachel des subjektiven Moments ist" 8 ), in die Gegenwart hinüberzuretten, den sittlichen Idealismus Kants und Fichtes in konkretisierter Form zur Auferstehung zu bringen, die sittliche Freiheit und Autonomie des Willens zum schöpferischen Grund des Seins zu machen und damit zugleich das handelnde Leben philosophisch zu verklären. Bereits 1846 hatte Haym eine kritische Beleuchtung der Hegeischen Philosophie in die programmatische Wendung ausklingen lassen: „Wie das Schicksal in der Vorsehung, so findet die Vorsehung in der d i e s s e i t i g e n P r a x i s der L i e b e seine Erfüllung. Diese ist fortan der erfüllte Untergang und zugleich die Rettung des Schicksals. Sie ist die konkrete Freiheit und diese die Gegenwart der zukünftigen Geschichte. Von dem Throne stürzt der absolute Geist, dem die Geschichte nur als die begriffene die Erinnerung seiner Vergangenheit, die Stütze seiner Macht und die Zeugin seines Stolzes war. Zur Schädelstätte wird das Wissen des Wissens, über welcher die Liebe das Feld bestellt und die Freiheit sich als die Macht der schicksallosen Welt behauptet" 3 ). Es ist das „praktische Ich" der Fichteschen Wissenschaftslehre, zu dem Haym zurückgelenkt und über das er mit seiner anthropologischen Wendung zugleich hinausgegangen ist. Denn an die Stelle des „praktischen Ich" , ist bei ihm der „wirkliche Mensch" getreten. Es ist der ganze, der leibhaftige, der lebendige, der mit der Natur zusammengehörige und in das Sozialleben hineingestellte konkrete Mensch, den er zur Basis der gesamten Gedankenwelt machen will, aber vorerst doch nur zum Teil gemacht hat. Einerseits bemüht, Philosophie und Empirie miteinander zu versöhnen und die Priorität des Realen gegenüber *) Artikel „Philosophie", S. 193. a ) Ebda., S. 194. Selbstgespräche, 1846, S. 88.

— 77 — der Begriffsspekulation zu beweisen, andererseits im Anschluß an den Idealismus von der Annahme eines Apriori ausgehend, der „sittlichen Freiheit" nämlich, die zum archimedischen Punkt aller Philosophie, zum letzten schöpferischen Motiv allen Geisteslebens, zur letztentscheidenden Instanz aller Kritik erklärt wird, ist er der idealistisch-identitätsphilosophischen Tradition auch darin treu geblieben, daß er die gesamte Wirklichkeit mit Einschluß der sozialen Gebilde als geistbeherrscht annimmt und sich weit mehr darum bemüht, die Sinnenwelt zu vergeistigen als die Geisteswelt zu versinnlichen. Der geheime, hie und da auch offen ausgesprochene Urgedanke seiner Philosophie des „Ideal-Realismus" ist der Primat des Geistes, der Glaube an den Geist und die vom Geist durchdrungene Wirklichkeit. Ihren Schwerpunkt findet diese Philosophie in dem individualistischen Ethos, in dem begeisterten Glauben an die sittliche Autonomie der freien Individualität, an die revolutionäre Macht der ohne das Gegenüber der Notwendigkeit undenkbaren Freiheit, kurz, in dem gesetzmäßigen Freiheitsbewußtsein des Idealismus. Durch „die Lust am Sittlichen, an der Freiheit des Handelns, an der unverkümmerten Selbständigkeit des Seins und Wirkens" 1 ), wird Wesen, Sinn und Ziel von Hayms Philosophieren bestimmt. Die Identität von Freiheit und Notwendigkeit, Geist und Natur, Subjekt und Objekt, Denken und Sein, in der die Identitätsphilosophie des spekulativen Idealismus das Wesen der Dinge erblickt hatte, ist auch für Haym „das beherrschende Gesetz der Wirklichkeit"2). Jedoch erscheint es ihm als die zentrale Aufgabe der nachhegelschen Philosophie, diese Identität im R e a l e n aufzusuchen. Das Reale ist ihm die N a t u r , die sich im Menschen zur Sprache, zum Kunstwerk und-zum Gott umsetzt. „ D i e s e realen I d e n t i t ä t e n bilden eine zum S y stem sich abschließende S t u f e n f o l g e , deren Ausgangspunkt die Tathandlung des Ich (das Ich im Stande der Freiheit), deren Schlußpunkt die Religion ist.. . . Zwischen der Tathandlung des Ich und deren vollständiger Realisierung in der Religion liegen eine Reihe anderer Identitäten, in deren Wesen es jedoch liegt, die in der Religion vollständig erreichte Einheit von Geist und Natur nur partiell, und so daß auf beiden Seiten ein Uberschuß b l e i b t , darzustellen. Es sind die S p r a c h e , die im Staat und in der Geschichte sich verwirklichende k o n k r e t e S i t t l i c h k e i t und die Kunst. In der Religion sind diese drei 1

) Literaturzeitung, September 1846, Sp. 390. ) Artikel „Philosophie", S. 222.

a

— 78 — als aufgehobene Momente enthalten" 1 ). Das Zusammenfassen der Gegensätze, ihre reale Vereinigung, wie sie W. v. Humboldt in seiner Theorie der Sprache, Schiller in seiner Ästhetik, Schleiermacher in seiner „klassischen" Interpretation der Religion angestrebt, aber noch nicht erreicht habe, — sie erscheinen Haym als Vorarbeiten für ein System, dessen Aufgabe die Erklärung der konkreten Identitäten und die Realisierung der Fichteschen Intention ist, eines Systems, das über bloße Andeutungen, abstrakte und vielfach mystisch-unklare Formeln fast nirgends hinausgekommen ist, in dem bezeichnenderweise trotz der theoretischen Forderung des Eingehens der Philosophie auf das Empirische für die Naturwissenschaften und für die Welt der Wirtschaft und Technik kein Platz ist, eines Systems, das nur in einem philosophischen Kuriositätenkabinett Platz finden würde, wenn nicht die aus den unzureichend begründeten Fundamentalprinzipien hervorgehenden Postulate der praktischen Vernunft zu einer positiveren Einschätzung führen müßten. In Wahrheit handelt es sich bei der Systemkonzeption Hayms doch um erheblich mehr als um die willkürlichen Konstruktionen eines in metaphysische Fernen sich verlierenden Grüblers, der an dem Spiel der Gedanken und dem Jonglieren mit Begriffen sein Genüge findet. Vielmehr ist dieser Systementwurf von einer mächtigen Zeitströmung, von persönlichem Verantwortungsbewußtsein und politischem Sinn getragen und läuft gerade auf die Tendenz hinaus, aus olympischen Höhen auf die reale Erde hinabzusteigen und den deutschen Geist vom metaphysischen Spekulieren auf die empirische, politisch-historische Tatsachenwelt zu lenken. Mit jenem Rückgang auf die Kantische „Autonomie des Willens" und auf die Fichtesche „Tathandlung des Ich", mit der Entfesselung des „Pathos der sittlichen Freiheit", die das Handeln im Dienst gemeinnütziger Zwecke zum Reformideal des Gesamtdaseins erklärt und die Theorie als Begleiterin der Praxis auftreten läßt, wollte Haym in polemischer Verneinung des Bestehenden die Grundlagen für eine materiale Wertethik und Sozialethik schaffen, die nichts anderes als der philosophische Unterbau sein sollte für den großen historischen Kampf des nationalpolitischen Liberalismus gegen die feudalständische Reaktion, wie überhaupt gegen die Mächte der Legitimität, des starren Konservatismus und der autokratischen Krön- und Beamtengewalt. Es ist ein zum erstenmal vom Jungen Deutschland und von den Junghegelianern proklamiertes neues Lebensgefühl, eine 1)

Artikel „Philosophie", S. 229.

— 79 — neue Weltanschauung und Kulturphilosophie, die, das ästhetischromantische Weltbild der spekulativen Philosophie ins Aktive und Praktische umbiegend, als Überwinderin und Bewahrerin des deutschen Idealismus auftritt, das „Leben" in seiner „Totalität", den „ganzen, vollen Menschen" zur Geltung zu bringen versucht, die, getragen von dem unerschütterlichen Glauben an die produktive Kraft des autonomen Willens, an die sich durchsetzende Macht nicht sowohl logischer als sittlicher Kategorien, den Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit zum Sinn der Geschichte erklärt, das Ethos der neuen Zeit vor allem in dem nationalen und politischen Pathos, in dem Kampf um Verjüngung der bestehenden staatlichen und sozialen Formen erblickt und das menschliche Einzelleben erst in der Wirkimg auf das geschichtlich-politische Dasein und Aufgegebensein, die konkrete Sittlichkeit erst im Wirken für den Staat und die bürgerliche Gesellschaft ihre Vollendung finden läßt. Aber erst dann darf das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, das in dem systematischen Zusammenhang von Hayms Denken als ein ethisches Freiheitsproblem erscheint und auf das metaphysische Grunddogma der geist- und vernunfterfüllten Substanz zurückgeführt wird, als wirklich gelöst gelten, wenn der unter seinem eigenen Gesetz stehende innerlich freie Mensch zum freien Bürger, wenn die geistig-sittliche Autonomie der Einzelpersönlichkeit zum Prinzip des Staates geworden ist. Mit dem Proklamieren der politischen Freiheit und staatsbürgerlichen Gleichheit des zur Persönlichkeit gewordenen Einzelindividuums ist es jedoch nicht getan. Denn realisieren kann sich diese Freiheit, die „zur Notdurft des Lebens" 1 ) gehört, nur in der Gemeinschaft, nur dann, wenn die überindividuellen Individualitäten, die großen romantischen Kollektiva, die staatlichen, völkischen, sozialen, rechtlichen und kirchlichen Institutionen, die Lebensformen der sozialen Gebilde, mit dem Geiste der Freiheit durchdrungen und diesem Geiste entsprechend umgebildet werden. Es ist das Zwischenglied zwischen der Einzelpersönlichkeit und der Menschheit, die Nation, die in den entscheidenden Bereich des ethischen Lebens und der wissenschaftlichen Betrachtung gerückt wird. Fehlt es bis 1848 auch fast völlig an Auslassungen darüber, wie sich Haym die Erneuerung des gesamten Soziallebens gedacht hat, ist er auch zu einer positiven, substanzerfüllten Bestimmung der zu schaffenden neuen Inhalte noch nicht vorgeschritten, so lassen seine Andeutungen und vagen Allgemeinheiten doch keinen Zweifel zu l

) Artikel „Philosophie", S. 189.



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über das Ziel, das er erstrebte. Der von der sittlichen Einzelpersönlichkeit seinen Ausgang nehmende „sittlich-praktische Idealismus" erreicht seine Bestimmung erst in der Aufrichtung der an die Herrschaft des Gesetzes gebundenen, über den autoritären Absolutismus und die Diktatur der Bürokratie sich erhebenden konstitutionellen, rechtsstaatlichen Erbmonarchie und in der Entfaltung der natürlich-geschichtlichen individuellen Volksgemeinschaft zum individuellen, Volk und Regierung zur Einheit miteinander verbindenden, unter der Herrschaft der Ethik und des Rechtes stehenden Nationalstaat. Der durch die Epoche der großen bürgerlichen Revolutionen entfesselte Drang der Nation, ein neues Lebensideal zu gestalten, das Streben nach politischer Freiheit, daß der große Zug der Zeit war und in der Form der konstitutionellen und der nationalen Idee zu den beherrschenden Kräften des Jahrhunderts geworden ist, erfährt durch Hayms Systemkonzeption seine metaphysische Verklärung, indem er es zum Sinn der modernen geschichtlichen Entwicklung erklärt. Indem er von seinem philosophisch-ethischen Fundament aus eine ideelle Grundlegung der freiheitlichen und nationalen Werte versuchte und für die Gestaltung des öffentlichen Lebens ein absolutes Vernunftideal aufstellte, das er zugleich als ein historisch notwendiges und erreichbares bezeichnete, hat er eine Form politisch-spekulativen Denkens und Fühlens zum Ausdruck gebracht, die die deutsche Gelehrtenpolitik und die politische Vorstellungswelt der deutschen Bildungsaristokratie "bis 1848, ja vielfach noch darüber hinaus beherrscht hat 1 ). Im Bewußtsein seiner gewaltigen praktischen Bedeutung hatte sich Haym in den Ideenkampf hineingestürzt. Wie bei Fichte, so waren bei ihm im Verlaufe dieses Kampfes Wissen und Erkennen zu Formen des sittlichen Handelns herabgesunken. Der ethische Drang der Zeit und die vordringende empirische wissenschaftliche Forschung, das sind die Kräfte, denen er die Mission zuschreibt, den sittlich praktischen Kern des deutschen Idealismus von seinen spekulativen Hüllen zu befreien und die Philosophie zur reformatorischen Gesinnung und dann zur Tat werden zu lassen, denn „die Schicksale des deutschen Volkes werden in seiner Philosophie vorher erwogen und vorgebildet" 2 ). Daß der deutsche Geist in den großen idealistischen Systemen den Gipfel spekulativer Höhe erreicht hat, war nur die „ E n t *) Vgl. Meinecke, Drei Generationen Histor. Zeitschrift, Bd. 125, S. 254. 2 ) Artikel „Philosophie", S. 1 5 1 .

deutscher

Gelehrtenpolitik.



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Schädigung für die Mangelhaftigkeit unserer staatlichen und sozialen Formen". „Nach dem Absoluten und Idealen mögen wir wohl darum so hoch gegriffen haben, weil wir an dem Wirklichen über das Mögliche uns zu besinnen, das Denkbare durch das Ausführbare zu unterbrechen nur allzu sehr und von alters her versäumten. Unsere Philosophie ist jedoch darum nicht weniger eine Macht und eine Bürgschaft wie ein Werkzeug nationaler Größe. Hat sich unsere Schwäche einst in sie geflüchtet, so hat zugleich unser besseres Selbst in ihre Formen sich eingesponnen.. , Unsern Gedankenschöpfungen ist der Geist der Sittlichkeit und der Charaktertüchtigkeit, der Geist der Treue und der Freiheit mit unverlöschlichen Zügen aufgeprägt. Die sittliche Freiheit ist das treibende Moment in der Entwickelung unserer Philosophie" 1 ), sie ist damit zugleich „das antizipierte Streben nach bürgerlicher Freiheit" 2 ) gewesen. Hat auch durch die einseitige Pflege der literarisch-ästhetisch-philosophischen Kultur die „deutsche Bewegung" die Entfaltung der Nation zum praktischen Handeln hintangehalten, so ist ihr doch, nun die Schranke durchbrochen ist, der Beruf geblieben, „über Maß und Richtung des Handelns zu wachen und das Leben zu regeln, indem sie es mit den höchsten Forderungen und Bedürfnissen des Geistes in Zusammenhang bringt" 3 ). Mit der Läuterung des „absoluten Idealismus" zum „sittlich-praktischen Idealismus", der die ethische Substanz des nationalen Lebens gegen den Formalismus des Begriffs und die idealistische Übersteigerung einsetzt, „die historisch-produktive Kraft des Volksgeistes"4) gegen den Quietismus desselben aufbietet und an Stelle des Schwelgens in ästhetischen Ideen eine „inhaltvolle Praxis" setzt, ist für die deutsche Nation der Weg zum geschichtlichen Handeln, zur Entfaltung populärer Kräfte, zum Kampf um Begründung des konstitutionellen Rechtsstaats und liberalen Nationalstaates frei geworden. In dieser erst in späteren Jahren näher ausgeführten Sinndeutung des Geschichtsverlaufes, die als eine erste Frucht der prinzipiell bereits gesicherten Überzeugung von der überragenden Bedeutung der Geschichtsphilosophie für die Weiterentwicklung der Philosophie zu werten ist, gipfelt der fragmentarische, vielfach auf bloße Aphorismen sich beschränkende Systementwurf Hayms, der, wie bereits bemerkt, erst in den 1850 er x

) ) ') 4 ) 2

Artikel „Philosophie", S. 188. Literaturzeitung, September 1846, Sp. 389. Reden und Redner des Vereinigten Landtags, S. 314. Artikel „Philosophie", S. 184.

Beiheft d. H.Z. 31

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Jahren zu einer geschlossenen, harmonisch in sich abgerundeten Weltanschauung ausgebaut worden ist. Haftet der Systemkonzeption von 1846—48 auch etwas ausgesprochen Dilettantisches, Unscharfes, nicht zu Ende Gedachtes an, so nimmt sie im Rahmen der noch wenig erschlossenen und in ihrer geistesgeschichtlichen Bedeutung bisher unterschätzten Geschichte des deutschen Spätidealismus doch eine besondere Stellung ein. Denn dieses im Ethischen und innerhalb des Ethischen im Freiheitsproblem seinen Schwerpunkt findende „System" stellt nach den in den einleitenden Partien von Dahlmanns System der Politik niedergelegten bescheidenen Ansätzen 1 ), sowie nach den sporadischen Äußerungen Droysens2) den ersten großzügigen, wenn auch nur unzureichend durchgeführten Versuch dar, das Weltbild des „klassischen Liberalismus" und in ihm die Versöhnung von Geist und Staat aus dem universalen Zusammenhang der philosophischen Problemstellungen zu verstehen und systematisch zu entwickeln. Wie aber diese Weltanschauung selbst ein vorwiegend eklektisches Gebilde ist, das unter Wahrung der historischen Kontinuität, jedoch unter Verschiebung der durch die Tradition überkommenen Wertakzente den Gedankengehalt und die Lebensideale der Aufklärung, des humanistischen Klassizismus, der idealistisch-romantischen Philosophie und des Historismus aus der theoretisch-literarisch-ästhetisch-kontemplativen in die praktischpolitisch-soziale Sphäre zu lenken versucht und den dogmatischen Geist des 18. Jahrhunderts mit dem kritischen des 19. zu einer Synthese verbunden hat, die den konkreten Bedürfnissen der Gegenwart, der Entfaltung der nationalen Idee, dem politischsozialen Aufstieg des deutschen Bürgertums zu dienen bestimmt war, so kann auch Hayms „System" seinen eklektisch epigonenhaften Ursprung nicht verleugnen. Von allen Seiten waren ihm die Gedanken und Anregungen zugeströmt. Hegel, die Junghegelianer und Feuerbach, Lessing, Kant, Fichte, W. v. Humboldt, Schiller und Schleiermacher waren vornehmlich die Quellen gewesen, aus denen er geschöpft hatte. Von erkenntnistheoretisch-metaphysischen Fragestellungen ausgehend, war er, als der Trieb des Wirkens und der wissenschaftliche Entdeckerdrang sich in ihm zu regen begannen und es ihm als sittliche Pflicht erscheinen ließ, seine Gedankenarbeit in den Vgl. hierzu die Einleitung von Otto Westphal zu Dahlmanns „Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt", Klassiker der Politik, Bd. 12, 1924. 2 ) Vgl. F. Gilbert, J . G. Droysen und die preußisch-deutsche Frage, 1931, passim.

— 83 — Dienst der Zeitströmungen zu stellen, zu einer auf das PraktischUtilitarische und Sittlich-Voluntaristische sich richtenden Wertwelt gelangt, deren Sinn darin bestand, Erkanntes in Handlung umzusetzen und die Einheit von Geist und Natur, von Vernunft und Wirklichkeit nun auch wirksam zu machen. Er hatte damit zugleich den lebensphilosophischen Gehalt und pädagogischen Wirkungsdrang der vom Idealismus erst zur Vollendung gebrachten Aufklärung zu neuen Ehren gebracht, der es mit ihrem unerschütterlichen Glauben auf das Denken als den Zusammenhalt der sittlichen Welt nicht auf leeres Spekulieren, sondern auf praktisches Wirken und verantwortungsbewußtes Handeln angekommen war. Das Problem der inneren Verschmelzung von aufklärerischem und idealistischem Denken, das durch die seit der Julirevolution sich immer mächtiger entfaltende, als Verdeckungsideologie des zum Machthunger erwachten Bürgertums historisch wirksam gewordene „Renaissance der Aufklärung" sein spezifisch „fortschrittliches" Gepräge erhalten und die Weiterbildung vornehmlich des protestantisch-norddeutschen Geistes entscheidend mitbestimmt hatte, hat durch Hayms „System" eine Lösung erhalten, die, wie belanglos ihr fachphilosophischer Ertrag auch immer sein mag, geistesgeschichtlich gesehen doch zweifellos zu dem Bedeutsamsten und Aufschlußreichsten gehört, was der Spätidealismus der nachhegelschen Periode bis zur Jahrhundertmitte hervorgebracht hat.

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DRITTES KAPITEL.

VOM RELIGIÖSEN ZUM POLITISCHEN LIBERALISMUS.

Aus der Lebenskrisis von 1845—1848 mit ihrem fast chaotischen Durcheinander verschiedenster Bildungsschichten hat Haym kraft seiner in mutigem Ringen sich Bahn brechenden Natur die Prägung seines Charakters und die Zielrichtung seines Lebens empfangen. Untrennbar war bei ihm schon damals mit der Spekulation über das Problem des Daseins die publizistische und praktisch-agitatorische Betätigung im Dienste des aufstrebenden nationalpolitischen Liberalismus verknüpft. Die Wandlung, - die er durchgemacht hatte, vom Spekulativen und Abstrakten zum Empirischen und Konkreten, vom Schweifen zur Beschränkung, war nicht zuletzt in seiner Selbsterziehung, in einem Akte der Freiheit begründet. Darin war und blieb Haym doch immer ein Sohn der solidarisch und praktisch gestimmten Aufklärung, darin blieb er doch immer ihrem Ideal einer rationellen Lebensführung verpflichtet, daß er sein Leben mit Freiheit nach der Vernunft zu gestalten und die zerfließende Vielgestaltigkeit seiner Entwicklungsmöglichkeiten in eine feste Bahn zu lenken trachtete, die zwar weniger den eigenen intimsten, nach Philosophen- und Dichterruhm emporstrebenden Wünschen, aber um so mehr den Bedürfnissen seiner Zeit entsprach1). Schon der Von den verunglückten poetischen Versuchen Hayms aus den 1840er Jahren, die sämtlich ungedruckt geblieben sind, hat sich u. a. die 1845 gedichtete Komödie „Die Parteien" erhalten, die in der Form sowohl wie mit ihren giftigen Ausfällen gegen Schelling nicht mehr als eine unfreie Nachahmung der an Aristophanes und Platen sich anlehnenden „Politischen Wochenstube" von Robert Prutz war. Über seinen Mangel an produktiver Phantasie und dichterischer Gestaltungskraft ist sich H a y m übrigens völlig i m klaren gewesen. Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist das seiner Schwester Klara gemachte klarsichtige Geständnis vom 6. 3. 1847: „ I c h wäre glücklich, wenn ich ein Dichter wäre 1 Aber die Natur hat mich nur aus halben und Viertelstücken zusammengesetzt. Dankbar hege ich auch dies und halte für das Größte, mich sittlich, mich zum Charakter zu bilden.

— 85 — junge Haym war ein Pflichtmensch, ohne ein Pedant zu sein. Hatte Hegel gelehrt, daß es die Bestimmung und höchste Pflicht der Individuen sei, „ein allgemeines Leben zu führen" und „Mitglieder des Staats zu sein", so hat Haym als ein Erbe Hegelscher Staatsgesinnung die Lehre durch die Tat zu realisieren und in einer dem Wandel der historischen Verhältnisse Rechnung tragenden Weise umzubilden versucht. Von der in einsamer Denkarbeit gewonnenen theoretischen Einsicht her, daß die Aufgabe der Zeit darin bestehe, den vor allem durch Renaissance, Reformation, Aufklärung, Idealismus begonnenen, die Durchbrechung autoritärer Schranken und die Begründung der Freiheit und Autonomie des Denkens und der Persönlichkeit bewirkenden Rationalisierungs-, Individualisierungs- und Säkularisierungsprozeß des modernen Geistes aus der rein theoretischen in die Sphäre des politischen und sozialen, überhaupt des praktischen Lebens hinüberzuleiten und zu einem Reformideal des Gesamtdaseins, zum „Liberalismus" auszuweiten, hat sein Leben die entscheidende Richtung empfangen. „Die Bestimmung des Menschen", so hat er bereits 1844 bekannt, „ist immer etwas Großes, oder vielmehr groß und gut wird alles Tun dadurch, daß man sich ihm ganz und durchaus und mit der Seele ohne allen Abzug widmet" 1 ). Indem er nach und nach seine ganze Person in den Dienst der politischen Bestrebungen seiner Zeit stellte und sich zu einem Verkünder und Führer des nationalpolitischen Liberalismus in Deutschland emporbildete, wurde er wirklich seines Schicksals Schmied. Daß er dies konnte, war in dem Zusammenstimmen von ideellem Antrieb, persönlichem Interesse und historischer Situation, in dem Zusammenstoß einer persönlichen mit einer überpersönlichen Krisis begründet. An ein Vorwärtskommen für Haym innerhalb des preußischen Staates war, wenn er nicht seine Gesinnung verleugnen wollte, nach dem Scheitern der Habilitation im Jahre 1845 nur noch im Lager der Opposition zu denken. Von dem Siege der Opposition und einer Systemänderung oder doch zumindesten von dem Eindringen eines neuen Geistes in die Verwaltungspraxis hing seine berufliche Zukunft ab. Gehörte es doch zu den obersten Prinzipien der kurzsichtigen Eichhornschen Hochschulpolitik, junge aufstrebende Talente, die sich nicht im Einklang mit dem gouvernementalen Gesinnungsschema befanden, ein für allemal von den Universitäten fernzuhalten. Zu dem aus seinem bisDies wird bleiben und auch dem Mann nachfolgen, wenn auch das Glühen nach Ruhm erlöschen sollte". l ) An seine Schwester Klara, 18. 10. 1844, hdschr.



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herigen Entwicklungsgang entsprungenen inneren Drang Hayms nach „Aktivität" und „Realität" gesellte sich das Ressentiment des gescheiterten Privatdozenten, der darauf angewiesen war, sich durch Literatenarbeit kümmerlich durchs Leben zu schlagen. Ein Betätigungsfeld bot sich ihm im Rahmen der gleichzeitig mit dem Deutschkatholizismus auftretenden, scheinbar so viel versprechenden, 1845 ihren Höhepunkt erreichenden Lichtfreundebewegung, die für kurze Zeit zur Sammlung all derjenigen Kräfte gedient hat, die sich irgendwie in Oppositionsstellung zu dem Reaktionssystem Friedrich Wilhelms IV. und seinen utopischen Marotten vom „christlichen Staat" befanden und von einem System des Zwangs und der starren Autorität nichts wissen wollten. Die Lichtfreundebewegung hatte 1841 von einigen in Sachsen abgehaltenen Pastoralkonferenzen ihren Ausgang genommen. Mit ihr trat der theologische Rationalismus in seine letzte Phase ein; er setzte sich in praktisches Leben um. Ursprünglich an rein religiösen und sittlich-humanen Ideen sich orientierend und lediglich darauf bedacht, die Errungenschaften der Aufklärung, die Gewissensfreiheit, den Toleranzgedanken und das Recht der Kritik, gegen die hereinbrechende Reaktion und die drohende Herrschaft der Orthodoxie zu verteidigen, war diese Bewegung dann bald unter ständig wachsender Beteiligung des Laienelementes mit der Forderung nach kirchlicher Repräsentativverfassung in ein politisches Fahrwasser geraten. Da sich trotz Zensur und polizeilicher Maßnahmen der unterdrückten politischen Opposition hier ein Ventil zu öffnen schien, sind der kirchlichen Freiheitsbewegung von den verschiedensten Seiten her die Hilfstruppen zugeströmt. Namentlich die Junghegelianer benutzten die Gelegenheit, erneut ihre agitatorische Kraft zu entfalten, die sich das Ziel setzte, eine Synthese zwischen Religion, Philosophie und Politik herzustellen und mit der Verteidigung der religiösen Freiheit der Freiheit überhaupt eine Gasse zu bahnen. Das historisch Bedeutsame an dieser im ganzen harmlosen, biedermeierhaften Bewegung, die von revolutionärem Tatendrang weit entfernt blieb, war aber doch, daß sie einen erheblichen Teil des gebildeten und besitzenden Bürgertums, aber auch des Kleinbürgertums ergriffen, mit dem Verlangen nach Umbildung der bestehenden kirchlichen und staatlichen Formen erfüllt hat und der Bildung einer großen liberalen Partei den Boden mit hat bereiten helfen1). Zusammenfassend über die Lichtfreundebewegung H. Rosenberg, Histor. Zeitschrift, Bd. 141, S. 529ff.

— 87 — Haym stand der Lichtfreundebewegung zunächst mit ausgesprochener Ablehnung gegenüber. Mit dem ganzen Hochmut des an die spekulative Vernunft glaubenden Hegelianers, der die Denkweise des Vulgärrationalismus als „aufgehoben" in sich trug, hat er anfänglich über das „Aufkläricht" der Lichtsuchenden gespottet. Als aber dann die Bewegimg immer weitere Kreise zog und den Charakter einer oppositionell und aggressiv gestimmten Mittelstandsbewegung annahm und als sich seine persönlichen Hoffnungen auf eine Wirksamkeit als Hochschullehrer zunächst zerschlugen, da erfuhr seine Stellungnahme eine bedeutsame Verschiebung. In der kritischen Auseinandersetzung mit Hegel begriffen, trat er in eine Front mit jener Gruppe geistig beweglicher, vorwärtsdrängender Köpfe, die, von Hegel ausgegangen, an ihm und der spekulativen Philosophie überhaupt aber irre, der begrifflichen Abstraktionen und des zergrübelten Spintisierens gründlich satt geworden waren und in dem bis dahin viel geschmähten gesunden Menschenverstände, in dem unverbildeten sittlich-religiösen Volksempfinden Kräfte zu entdecken glaubten, die zur inneren Erneuerung und zur Bewältigung der Aufgaben des konkreten Gegenwartslebens führen könnten. Bei der Offenheit, mit der Haym in jener Zeit, nicht ohne schauspielerhafte Pose, seine persönlichen Stimmungen und Erlebnisse der Öffentlichkeit vorzutragen pflegte, tritt dieser Wandel aufs deutlichste in zwei 1845 entstandenen Arbeiten in Erscheinung, in der Schrift „Lessing, Bernardin de Saint-Pierre und ein Dritter" und in den „Selbstgesprächen; ein Versuch des philosophischen Bewußtseins, sich mit den populären Bewegungen der Gegenwart zu vermitteln". Vollends gewonnen für die Lichtfreundebewegung wurde Haym erst durch seinen im Spätsommer 1845 vollzogenen Eintritt in die „Philosophische Gesellschaft" in Halle. E s war dies ein theoretischer Debattierklub vornehmlich zur Besprechung aktueller geistiger Tagesfragen, der aber, da das theoretische Interesse immer mehr erlahmte, sich bereits 1846 auflöste. Unter den meist aus Hegelianern und Halbhegelianern bestehenden Mitgliedern ragten der durch seine in liberalem Geist gehaltenen „Politischen Vorlesungen" in weiteren Kreisen bekannt gewordene Philosoph Friedrich Wilhelm Hinrichs1), der Theologe 4 Karl Schwarz, der Historiker Max Duncker und der Prediger Wisli*) Über Hinrichs' Politische Vorlesungen vgl. meine Ausführungen iader Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 1929, S. 574ff.



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cenus hervor, der neben Uhlich der populärste Führer der Lichtfreundebewegung war. Die bedeutendste Persönlichkeit dieses Kreises wax unzweifelhaft Duncker. Seit 1839 Dozent an der Universität Halle, hatte er es durch das entschiedene Geltendmachen seiner sittlich schroffen Wesensart, durch das mutige Betonen seiner liberalen Gesinnung, durch sein öffentliches Eintreten für das Repräsentativsystem sowie durch den universalhistorischen und philosophischen, von Hegelschem Geist erfüllten Zug seiner Vorlesungen verstanden, sich in kurzer Zeit in Halle durchzusetzen und sich einen zahlreichen Anhängerkreis zu verschaffen. Mit Recht erblickte der hallische Liberalismus in ihm seinen Führer. Haym, bereits als Student mit ihm bekannt geworden, schloß sich 1845 aufs engste an ihn an. Zeitlebens durch feste, alle Stürme und Krisen überdauernde Freundschaftsbande, durch ein wechselseitiges Geben und Nehmen miteinander verbunden bleibend, ist Duncker als der Ältere und Reifere einer der politischen Erzieher Hayms gewesen. Namentlich auf dem Wege von der Lichtfreundebewegung zur Politik ist Haym von Duncker nachhaltig gefördert worden. Aber Haym war nicht der Mann, der diese Wendung durch einen abrupten Sprung vollzog oder sich einfach von den Wogen der Zeit ergreifen und treiben ließ. Ein nach innen gerichteter, an seiner Weltanschauung arbeitender Mensch, der nur nach gesicherten sittlichen Grundsätzen und aus der wissenschaftlich begründeten Einsicht in die geistige Situation und die bewegenden Kräfte der Gegenwart zu handeln gewillt war, um die Versöhnung der philosophischen Spekulation mit den auf das Praktische sich richtenden Zeitströmungen redlich bemüht, nimmt er zunächst nur als grübelnder Theoretiker, als „Lichtsucher" an der Lichtfreundebewegung Anteil. Bemüht, sich theoretisch zurechtzufinden, gewinnt Haym Klarheit über seine Stellung und Aufgabe in der Gegenwart erst durch die ihn tief aufwühlende Auseinandersetzung mit Lessing. Kein Geistesheld des 18. Jahrhunderts war in Deutschland damals so populär wie Lessing. Wohin man blickt, Lessing und kein Ende! Seitdem der kritische Geist der Aufklärung und des Rationalismus durch die Julirevomtion zu neuer Kraft erwacht war und den Anstoß zu einer neuen „zweiten Aufklärung" gegeben hatte, was auch innerhalb der liberalen Geschichtschreibung in der entschiedenen Wendung zum „historischen Rationalismus"1) *) Vgl. hierzu die programmatischen Ausführungen Max Dunckers in Die Krisis der Reformation, 1845.

— 89 — zum Ausdruck kam, war Lessing zu einem Heros des liberalen deutschen Bürgertums geworden. Immer wieder ist Lessing seitdem als der unermüdliche, kampfeslustige Streiter für Wahrheit, Menschenrecht und Menschenwürde, als Schutzheiliger der Geistesfreiheit, als der kühnste und echteste Protestant seit Luther gefeiert worden. Das liberale Bürgertum bedurfte in dem revolutionären Kampf um seine Emanzipation der Sanktion seiner Willensziele durch große geistige Helden und Führer, auf die es sich berufen und als deren Testamentsvollstrecker es sich ausgeben konnte. Aus diesem Geiste und der Einsicht in die historische Situation heraus ist Gervinus' „Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen" (1835—42) erwachsen. Von der Überzeugung durchdrungen, daß die Zeit des Dichtens und Trachtens vorüber und das Zeitalter des Handelns angebrochen sei, kam es Gervinus darauf an, „der Nation ihren gegenwärtigen Wert begreiflich zu machen, ihr das verkümmerte Vertrauen auf sich selbst zu erfrischen, ihr neben dem Stolz auf ihre ältesten Zeiten Freudigkeit an dem jetzigen Augenblick und den gewissesten Mut auif die Zukunft einzuflößen"1). Indem er sich das ausdrückliche Ziel setzte, die Talente „auf die wirkliche Welt und den Staat (zu) locken, wo in eine neue Materie neuer Geist zu gießen ist" 2 ), stellte er die Nation vor die unentrinnbare Aufgabe, das Befreiungswerk, das die Reformation für die Gemütsbildung, die klassische Literaturepoche für die Geisteskultur vollbracht hat, durch die „nationale Reformation" zum Abschluß zu bringen. Es ist weder ein „Zufall", noch lediglich in einer persönlichen Vorliebe gegründet, daß Gervinus die glänzendste seiner Charakteristiken Lessing gewidmet und ihn alsRevolutionsgenie gefeiert hat. Noch rückhaltloser und eindeutiger als bei Gervinus gelangt die Kampfstimmung jener Zeiten, die Umbildung des historischen Lessing zu einer parteibefangenen Lessinglegende, zum Ausdruck in dem oberflächlichen, wissenschaftlich fragwürdigen, aber schriftstellerisch überaus gewandten Buche von Karl Schwarz über „Lessing als Theologe" (1854). Schwarz hat Lessing gepriesen als den „Heros der Aufklärung" 3 ), als „die höchste Blüte, den idealsten Ausdruck der Aufklärung' 4 '), als das „leuchtende Vorbild des Rationalismus für alle Zeiten" 5 ), als den großen ') *) *) «) 5 )

Gesch. der poetischen Nationalliteratur, Bd. I, 1840, S. 7. Gesch. der poetischen Nationalliteratur, Bd. IV, S. VII. Lessing als Theologe, S. 66. Ebda., S. 231. Ebda., S. 232

— 90 — Erzieher und Reformator seines Volkes, der „auf Vereinfachung der Religion, auf die Unterscheidung ihres wesentlichen und ewigen Kernes von ihren historischen und dogmatischen Äußerlichkeiten"1) drang und das Wesen der Religion im praktischen Christentum erblicken gelehrt habe2). Mit der Begeisterung für Lessing ging Hand in Hand die Begeisterung für die Persönlichkeit und den Staat Friedrichs des Großen. Indem man die absolutistische Staatspraxis des L'état c'ést moi immer mehr übersehen lernte, die erhabene theoretische Maxime von dem Könige als dem ersten Diener seines Staates mit ihrer praktischen Geltung verwechselte, gelangte man zu der Anschauung, daß Friedrich der Große seiner politischen Gesinnung nach schon beinahe ein moderner konstitutioneller Monarch, ja geradezu ein Vorläufer des Liberalismus gewesen sei. Der Glaube an Lessing und Friedrich den Großen, dem ein hochgespannter Kult der geistigen Heroen des Zeitalters der klassischen Humanität zur Seite ging, war der tragende Untergrund für die Ideologie von den „preußischen Traditionen", die zu den wirksamsten Faktoren der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts gehört und dem Liberalismus wie dem Konservatismus einen wesentlichen Teil seiner moralischen Stoßkraft gegeben hat. An der Begründung und Ausgestaltung dieser Ideologie haben namentlich die Hegelianer einen hervorragenden Anteil genommen. Schon Gustav Pfizer und die „Hallischen Jahrbücher" haben jene später von den Erbkaiserlichen und den „Gothaern", von den „politischen" Historikern, vom Nationalverein und der Deutschen Fortschrittspartei aufgegriffene und weiter fortgebildete Unterscheidung gemacht zwischen dem „idealen" und dem gegenwärtigen „empirischen" Preußen, zwischen Preußen als dem in den Traditionen Friedrichs des Großen und der Reformzeit wurzelnden, zu einer deutschnationalen Mission berufenen Staate der „Intelligenz" und der „freien protestantischen Wissenschaft" und Preußen als dem Beamten-, Polizei- und Militärstaat, zwischen dem „echten", konstitutionellen und dem „unechten", sich selbst untreu gewordenen feudalständisch-reaktionären Preußen. Bei häufig noch so scharfer Kritik des konkreten preußischen Gegenwartsstaates hat die weit Ebda., S. 232. ) Die verschiedenen Phasen der Lessingauffassung im Zusammenhang mit den politischen Wandlungen des 19. Jahrhunderts hat Franz Mehring dargestellt in seiner oft aufgelegten „Lessinglegende". 2

— 91 — überwiegende Mehrheit des national gesinnten, auf die preußische Führung vertrauenden deutschen Liberalismus an dem Glauben, daß aus dem „empirischen" Preußen das „ideale" Preußen schon noch werden würde, Jahrzehnte hindurch, auch in den Sturmjahren der nationalen Einigung und des Verfassungskonflikts, festgehalten. Erst in dem Augenblick verlor die Ideologie von den „preußischen Traditionen" ihre belebende, anfeuernde Kraft und vollzog sich der ideelle und moralische Bankerott der politischen Gesinnung des liberalen deutschen Bürgertums, als der Sieg Bismarcks als eigener Sieg, die Bismarcksche Lösung der Reichsgründung als die Realisierung des „idealen" Preußens gedeutet und das bis dahin hochgehaltene Ideal vom nationalen Volksstaat den materiellen Interessen aufgeopfert wurde. Während die Lehre von den „preußischen Traditionen" im Rahmen des Kampfes um die nationale Einheit, um die politische Machtstellung und um den sozialen Sieg der bürgerlichen Klasse für den gesamtdeutschen Liberalismus eine hervorragende, wenn auch in den außerpreußischen Staaten mannigfach modifizierte Bedeutung gewonnen hat, ist die konservative Deutung dieser Theorie, soweit ihr ein positiver Sinn zugrunde lag, nur für den preußischen Konservatismus wichtig geworden. Diese konservative Ideologie, die zur Verteidigimg der feudal-ständischen Gesellschaftsordnung und der durch Privilegien gesicherten Monopolstellung des „Junkertums" diente und um dieses Zieles willen sich auch für den monarchischen Herrschaftsgedanken einsetzte, indem sie, wie die Theoretiker des legitimistischen monarchischen Prinzips in der Restaurationszeit, das „göttliche Recht" dem „Vemunftrecht" entgegenstellten oder sich auch, wie Konstantin Frantz und Viktor Aimé Huber, lediglich damit begnügten, „die Machtfülle des altpreußischen Königtums" als „historisches Recht" und dem Wesen des das Wohl aller verfolgenden preußischen Staates allein entsprechend zu proklamieren, ging von der realistischen Erkenntnis aus, daß der preußische Staat nicht durch geistige Kräfte, sondern durch Soldaten und Kanonen zu seiner Machtstellung emporgestiegen sei. Sowohl die Verfechter des „göttlichen" wie des „historischen" Rechtes waren darin einig, daß die Umbildung der altpreußischen Militärmonarchie in den bürokratischen Beamten- und Intelligenzstaat, erst recht aber eine Umbildung zum bürgerlichen Rechtsstaat den preußischen Traditionen widerspreche und die preußische Machtstellung gefährde. Aber während die Theoretiker und Praktiker des „göttlichen" Rechtes in der Vorherrschaft des Feudaladels, in einer ständischen Verfassung auf patrimonialer

— 92 — Grundlage das Wesen der „preußischen Traditionen" erblickten und infolgedessen dem „Aufklärer" Friedrich dem Großen nicht ohne Grauen gegenüberstanden, gegen den naturrechtlichen Absolutismus der preußischen Könige polemisierten und die Reformzeit als eine den Geist der Revolution großziehende verdammenswerte Verirrung bezeichneten, gingen die Verfechter des „historischen" Rechtes weniger von dem nackten Klasseninteresse, als vielmehr von außenpolitischem Machtwillen aus. Sie erblickten das Wesen der preußischen „Mission" gerade in der über alle Stände und Klassen sich erhebenden absolutistischen Machtfülle des altpreußischen Königtums, in der Einheit von Herrscher und Land, in der friederizianischen Staatspraxis des L'état c'est moi, die nur durch ihre absolute, vom Herrscher persönlich geübte Gewalt das allgemeine Staatswohl zu verfolgen vermöge. Infolgedessen gewannen sie auch ein positives Verhältnis zur Reformzeit. Denn die Tendenz, den Militärstaat mit dem Volksstaat zu versöhnen, liegt nach dieser Auffassung durchaus im Geiste der „preußischen Tradition", ja eine völlige Synthese ist im Interesse der Machtsteigerung des preußischen Staates dringend geboten. Aber nur dann entspricht diese Synthese dem „echten", organisch gewachsenen Preußentum, wenn sie sich von konstitutionellen und parlamentarischen Herrschaftsgelüsten frei hält, sich mit der Ausgestaltung der Selbstverwaltung der historisch gewordenen Korporationen und der Einengung des bürokratischen Beamtenregimentes begnügt und die Schaffung eines Staatsvolkes anstrebt, das zu dienen gewillt ist und sich der altpreußischen Devise des Suum cuique zu fügen weiß. Die hier zunächst nur schematisch entwickelte Ideologie von den „preußischen Traditionen"1) ist für Hayms geistige Entwicklung, politische Gesinnung und wissenschaftliches Lebens*) A u c h im Lager der spezifischen Preußenfeinde und des außerpreußischen legitimistischen Konservatismus hat diese Ideologie eine hervorragende Rolle gespielt, aber hier naturgemäß eine Deutung erfahren, die das L i c h t mit der Finsternis vertauschte. A m unzweideutigsten gelangt diese Umkippung zum Ausdruck in den zahlreichen, heftig umkämpften Schriften von Onno Klopp. Klopp charakterisierte den preußischen Staat als den „Erbfeind des wahren deutschen Wesens", der, wie seine Geschichte beweise, „ungeachtet aller Worte, die etwas anderes behaupten, dem Wesen und der Wahrheit nach niemals etwas anderes sein könne, als ein nach innen absoluter, nach außen an steter Eroberungsgier krankender Militärstaat"; Klopp, Die preußische Politik des Friederizianismus nach Friedrich II., 1867, S. V I I und X I I I . Durch Werner Hegemann sind neuerdings bekanntlich diese Thesen wieder aufgenommen und mit demokratischen Ideologien vermengt worden.

— 93 — werk von zentralster Bedeutung geworden. Von ihr hat sein politisches Wirken den konkreten Inhalt empfangen. Von den Junghegelianern, von Lessing und der religiösen Freiheitsbewegung der Lichtfreunde ausgehend, ist er von ihr ergriffen und einer ihrer vornehmsten Verkünder und Fortbildner geworden. Mit seiner Lessingbegeisterung hat jedoch der junge Haym nicht einfach eine Zeitmode mitgemacht. Vielmehr war sein Zurückgreifen auf Lessing in innerer Wesensgemeinschaft und in seinem Bildungsgang begründet. In durchaus persönlicher und selbständiger Weise hat er sich mit ihm auseinandergesetzt. Die Liebe zu Lessing hat Haym durchs Leben begleitet; mit Schmerz hat er auf der Höhe seines Lebens von dem Plane einer umfassenden Lessingbiographie Abstand nehmen müssen1). Wieder und wieder hat er sich an Lessing geschult. Schon als Student war er mit ihm bekannt geworden, hatte Lessing auf ihn zu wirken begonnen. Aber erst die Abkehr vom „absoluten Idealismus" hat der Einwirkung Lessings Tür und Tor geöffnet. Lessing und der alte Hegel verkörpern ewige Gegensätze, den Gegensatz von nie zu Ende kommender, in unablässigem Werden begriffener Erkenntnis und von fertiger, abgerundeter, in dem Gehäuse des Systems abgeschlossener Erkenntnis. Indem sich Haym von Hegel zu Lessing hinüberwendet, gelangt er zu sich selbst. Denn wenn er auch weit mehr ein kritisch als ein systematisch denkender Kopf war, so war er doch ein dogmatischer Kopf. Von sensibler Empfänglichkeit für alle sich ihm darbietenden Anregungen, in seiner Jugendzeit oft haltlos hin- und herschwankend und herumtastend, erfüllt ihn doch wie Lessing zugleich das Streben nach vernünftigen Gesetzen, rationalen Normen und allgemeingültigen Sätzen, die seinem Leben Halt geben. Und wie Lessing, ist auch er von dem Glauben getragen, daß der Mensch zum Handeln geboren sei und in seinem Handeln sittlichen Idealen folgen müsse. Die Zeiten der kritiklosen Hingabe sind jedoch vorüber. Von Lessing lernen, heißt für ihn nicht, bei ihm stehen bleiben, sondern über ihn hinauswachsen: „Nicht so, daß wir uns ihm auf Gnade und Ungnade ergeben. Nicht aufnehmend, leidend, schweigend. Sondern prüfend wie er, selbsthandelnd, selbstredend. Nicht glaubend, sondern denkend, nicht blind, sondern sehend. Auch nicht so, daß wir etwas bei ihm fänden und das Gefundene nach Hause trügen, sondern suchend, im Sehen schon lernend. Nicht darstellend, sondern beobachtend, nicht referierend, sondern kritisierend"2). x) Vgl. Briefwechsel Hayms, S. 366. *) Aus dem ungedruckten Fragment über Lessings Stellung zur Bibel.

— 94 — Am offensichtlichsten hat Haym von Lessings Form und Stil gelernt. In ihrer äußeren Form erscheinen seine Flugschriften und Aufsätze zur religiösen Bewegung geradezu als unfreie Nachahmungen. Nicht nur, daß Haym sie in die Form der Parabel, des Gleichnisses, des dialogischen Gesprächs kleidet oder daß er den knappen Paragraphenaufbau der „Erziehung des Menschengeschlechts" nachzubilden sich bemüht. Die Einwirkung Lessings reicht bis ins stilistische Detail hinab. Die Art der Wortwahl, der Wortverbindung und des Satzbaus, das Herausarbeiten der Antithesen, das Betonen der Spitzen und Schärfen, der Stacheln und Widerhaken des Gedankens, die Steigerung und Häufung bestimmter Worte und dann wieder die epigrammatische Kürze, die kampflustige und oft derbe Schroffheit des Ausdrucks, das bewegte Tempo, die plädoyerhafte Eindringlichkeit des Polemisierens und des Überzeugenwollens, — das alles sind sprachliche und stilistische Eigentümlichkeiten, die Haym zum Vorbild dienen. Und doch handelt es sich selbst hier nicht um eine einfache Nachahmung, sondern zugleich um den Ausdruck eigensten Wesens und Temperamentes. Bei allen Wandlungen, die Hayms Stil in der Folgezeit durchgemacht hat, sind eine Reihe der hier skizzierten Merkmale für ihn charakteristisch geblieben. Daß die wahre Religion nicht an Buchstaben und Bibel gebunden sei, ebensowenig aber in dem bloßen seligen Gefühl, sondern in der praktischen Bewährung dieses Gefühles, in der Liebe bestehe, daß die christliche Religion nicht identisch sei mit der Religion Christi, daß der Mensch zum Handeln, nicht zum Vernünfteln geboren sei und nur durch Bildung der Individuen die Bildung der Menschheit sich vollziehen könne, das sind die grundlegenden Einsichten, die sich Haym aus der kritischen Auseinandersetzung mit Lessing als bleibender Gewinn ergeben und seinen Bestrebungen auf Neubegründung der „Volksreligion" das Ziel vorschreiben. Haym hat dabei jedoch nicht halt gemacht, sondern ist in kritischer Auseinandersetzung mit Lessings spekulativen Ideen zu religionsphilosophischen Überlegungen vorgeschritten, die nur aus dem Zusammenhang seines „Systems" verstanden werden können. Aus den beiden konstituierenden Fundamentalprinzipien seines „Systems", aus „Sprache" und „Sittlichkeit", hat Haym die Wesensbestimmung der Religion abzuleiten und philosophisch zu begründen versucht. Daß die Religion in der irrationalen Sphäre des Gemütes, Gefühls und der Phantasie verwurzelt ist und daß das religiöse Erlebnis darin besteht, in einsamem Verkehr mit dem Unsichtbaren das individuelle Wesen zum Unendlichen

— 95 — zu steigern, bedurfte für ihn nach Schleiermacher und Feuerbach keines Beweises mehr. Um so mehr aber fühlte er sich nachzuweisen verpflichtet, wie in der Religion Irrationales mit Rationalem miteinander verschmilzt und wie in ihr die philosophische Grundkonzeption sich bestätigt. Das Wesen der Religion erscheint Haym im Gegensatz zu Feuerbach nicht als das Produkt von „Natur und Mensch", sondern als das Resultat des sprachlich-rationalen und des ethisch-irrationalen Waltens, als lebendige, in Dogma und Kultus zum Ausdruck kommende Wechseldurchdringung von Sprache und Sittlichkeit und damit als „lebendige Zusammenfassung unsres geteilten Wesens"1). Denn die Mutter der religiösen Vorstellungen ist ihm die unter dem doppelten Einflüsse des Verstandes und des Gewissens stehende „Phantasie". Den unauslöschlichen Trieb der religiösen Vorstellungen im Menschen deutet er als die Kehrseite des Gewissens, dessen Inhalt die Welt des Unergründlichen, Irrationalen, Unermeßlichen ist. Die innere Anschauung, der Glaube, verharrt jedoch nicht in sich selbst, sondern setzt sich um in ein Ideelles, entfaltet sich zu einem Theoretischen: „Der sittliche Inhalt einer Religion sucht sich Raum in einem Dogma. Denn das Sittliche ist ein Individuelles, an Individuen allein Haftendes; aber die Religion will auch ein Dasein als Allgemeines, als Unabhängiges, als für sich und ohne das Individuum Bestehendes haben"2), als ein Ideelles, „dem eine Objektivität, der sinnig schaffenden Kraft des menschlichen Geistes gegenüber, mit unbedingter Notwendigkeit zukommt"3). In diesem Gedankenzusammenhang findet das Dogma seine innere Rechtfertigimg. Es ist nicht erfunden oder willkürlich festgesetzt worden; auf dem Wege des Glaubens ist es entstanden. Das Dogma ist nichts anderes als die theoretische Verhüllung der „Praxis der Liebe", „für die Erkenntnis dasselbe, was für die Tat die Liebe ist"4). Als die Religion der Liebe ist das Christentum die absolute Religion. Weil die Menschheit nicht die Kraft hatte, Christi Lehre selbsttätig zu leben, hat sie sich dieselbe theoretisch in der Form der Vorstellung, der Lehre, des Dogmas eigen zu machen gesucht. Jetzt aber ist die Zeit nahe, wo man das Dogma fallen lassen darf, nicht indem man es mit dem Verstände kritisiert wie der theologische Rationalismus, nicht indem man die Religion in Philosophie und spekulative Ideen auflöst wie Hegel und D. Fr. Strauß. x)

Die Krisis unserer religiösen Bewegung, 1847, S. 93. *) Feuerbach und die Philosophie, S. 64. ») Ebda., S. 65. 4) Lessing, St. Pierre und ein Dritter, 1846, S. 43.

— 96 — Die der religiösen Freiheitsbewegung gestellte Aufgabe ist eine andere. Weil die Tat höher steht als die Lehre, die religiösen Werke höher als der religiöse Glaube, der Glaube an die sittliche Freiheit des Menschen höher als der Glaube an ein Dogma, weil die theoretischen Formeln des Dogmas inkommensurabel sind gegenüber dem von Christi gelebten Leben, weil das Dogma „den Tod des wahren und höchsten Sittlichen, eine Verkümmerung, zum mindesten eine Gefährdung des Sittlichen"1) darstellt, weil die Menschheit reif geworden ist, an der Befreiung der Vernunft zu arbeiten und den Geist von den Fesseln der Autorität und des Aberglaubens zu lösen, muß die Theorie zur Praxis, die Lehre zum Leben, „das vielverzweigte Dogma zu der einfachen und doch so mannigfaltigen Praxis der tätigsten, fröhlichsten und allgemeinsten Liebe zurückgewendet werden"2). Indem sich der rational-begriffliche Gehalt der Religion in den Bereich der philosophischen Metaphysik und der wissenschaftlichen Theologie flüchtet, bleibt als das' reine Wesen und die unverfälschte Aufgabe der „Volksreligion" übrig die Religion als Enthusiasmus und als praktische Moralität, das Christentum der Gesinnung und der Tat, „die Verwandlung alles theoretischen Wesens in praktisches Wirken", „die Umkehrung eines tatenlosen Glaubens in tätiges, rüstiges Leben", „die Auflösung eines harten, ausschließenden Bekenntnisses in das zarte, alldurchdringende Element der Liebe"3). In dem Leben Jesu ist das praktische, das „eigentliche" Christentum, die Idee der Liebe, der reinen lauteren Sittüchkeit, schon einmal Wirklichkeit geworden. Denn was war Jesus? „Ein Mensch, in keine Theorie verwickelt. Eine durchaus praktische Persönlichkeit"4). Religion in Leben umsetzen stellt daher den Menschen vor die Aufgabe, „die Gegenwart des Herrn in realer Weise in sein eigenes Wesen zu verpflanzen und als sittliches Leben zur unmittelbaren Gewißheit und Wahrheit zu machen"6). Die Religion bedarf eines Genius, „um die verschiedenen Individualitäten, in welche das religiöse Gefühl sich frei entläßt, unter eine Form zu binden, auf ein Ziel hinzurichten"6). Auf dem Umwege über eine allerdings nur vage angedeutete philosophische Strukturanalyse der Religion ist Haym mit seiner Christologie zu dem das Laien1)

Die Krisis unserer religiösen Bewegung, 1847, S. 88.

s)

Lessing, St. Pierre und ein Dritter, 1846, S. 43. •) Wislicenus' Reform, März 1846, S. 24. 4)

Ebda., März 1846, S. 24. Feuerbach und die Philosophie, 1847, S. 89. ®) Die Krisis unserer religiösen Bewegung, 1847, S. 62. s)

— 97 — Christentum begründenden Fundamentalgedanken Lessings zurückgelenkt: „Die Religion Christi ist diejenige Religion, die er als Mensch selbst erkannte und übte, die jeder Mensch mit ihm gemein haben kann, die jeder Mensch um so viel mehr mit ihm gemein zu haben wünschen muß, je erhabener und liebenswürdiger der Charakter ist, den er sich von Christo als bloßem Menschen macht" 1 ). Im Geiste dieser Anschauungen hat Haym, den positiven Kern des neuen in beiden Konfessionen erwachten Lebens in der Geltendmachung sittlicher Gesinnung erblickend, in einer Reihe von Aufsätzen 2 ), die er im Hallischen „Courier" und in Wislicenus' „Kirchlicher Reform" erscheinen ließ, in die aktuellen theologischen Kontroversen eingegriffen und den geistigen Gehalt wie den Gang der Lichtfreundebewegung mit zu bestimmen gesucht. Indem er dem in Bekenntnisformeln und Lehrsatzungen erstarrenden dogmatischen Christentum mit seinem Symbolzwang, Autoritäts- und Formelwesen und seinen veralteten kirchlichen Institutionen das Recht der wissenschaftlichen Kritik und der freien persönlichen Gewissensentscheidimg, das in praktisches Leben sich umsetzende ethische Christentum gegenüberstellte, dessen Wesenskern er in der rückhaltlosen und unverzagten Hingabe des inneren Menschen an seine moralische Bestimmung erblickte, war es ihm darum zu tun, die von den vulgärrationalistischen religiös-sittlichen Anschauungen der Aufklärung getragenen populären Bestrebungen mit den aus der klassischromantisch-idealistischen Epoche erwachsenen wissenschaftlichen Einsichten, die Volksreligion mit der Bildungsreligion, die Vernunftreligion der Aufklärung mit der Gefühlsreligion der Romantik und der Humanitätsreligion des Klassizismus zu versöhnen und aus einem religiösen zugleich ein wissenschaftliches und politisches Glaubensbekenntnis zu machen. Denn der Gang der Ereignisse hatte ihn gelehrt, daß die Bewegung unrettbar im Sektenwesen steckenbleiben und damit im Sande verlaufen werde, wenn es nicht gelänge, „Bildung" und „Vemünftigkeit", „Reife *) Lessings Theologische Streitschriften (Ausgabe von J. Peteisen), XV, 352. *) Der Courier. Hallische Zeitung für Stadt und Land; 24. April, 20., 22. und 23. Mai (anonym unter dem Zeichen Halle 22. April und 18. Mai); Zur Orientierung in Wislicenus' Kirchlicher Reform, März 1846, S. 2 1 — 2 6 ; Eine Parabel, ebda. April 1846, S. 1 — 8 ; Betrachtung über das Athanasium, ebda., Mai 1846, S. 1 — 8 ; Warum die Gegner über uns unwillig sind, ebda., Juni 1846, S. 1 — 6 ; Eine Parabel und noch etwas mehr, ebda., Juli 1846, S. 19—26 (sämtlich anonym).

Beiheft d. H. Z. 31

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— 98 — des Verstandes" und „Reife der sittlichen Seele" in die breite Masse des bürgerlichen Mittelstandes zu tragen und „den Geist der Prüfung und den gediegenen Sinn für Freiheit zum unverlierbaren Eigentum des nationalen Bewußtseins"1) zu machen. Seitdem die preußische Staatsregierung am 10. August 1845 alle lichtfreundlichen Versammlungen, „sobald sie durch die Zahl oder Standesverschiedenheit ihrer Teilnehmer oder auch durch den Ort ihrer Vereinigung den Charakter von Volksversammlungen annehmen", verboten und die führenden Geistlichen mit Amtsentsetzung bestraft, hatte, seitdem Wislicenus, Uhlich, Baltzer und Rupp aus der Kirche ausgetreten waren und in Sachsen, Schlesien und Ostpreußen „freie Gemeinden" ins Leben gerufen hatten, war die Lichtfreundebewegung in eine Krisis eingetreten, die über ihr Schicksal entschied. Denn nur ein kleiner Teil der bisherigen Anhängerschaft ist der Parole des Kirchenaustritts gefolgt und hat sich den freien Gemeinden angeschlossen. Die große Masse beschränkte sich auf erregte und entrüstete Protestkundgebungen gegen das Vorgehen der staatlichen und kirchlichen Behörden. Während das rein religiöse Interesse immer mehr erlahmte, wollte der durch die religiöse Bewegung nun einmal entfachte und von den Führern künstlich geschürte Geist der Unruhe und Opposition gegen das herrschende Bevormundungssystem nicht mehr weichen. Das hie und da aus seiner bequemen Ruhe aufgescheuchte Bürgertum hatte sich im Verlauf weniger Jahre mit mehr oder weniger verschwommenen Wünschen nach einer freisinnigen Fortbildung der staatlichen und kirchlichen Institutionen erfüllt. Erst diese Stimmungen gaben dem akademischen Bildungsprotestantismus, wie ihn Haym und Duncker vertraten, die Möglichkeit, in breitere Kreise zu wirken. Vor dem Kirchenaustritt, wie überhaupt vor übereilten radikalen Konsequenzen zurückschreckend, dafür aber um so mehr darauf bedacht, die Freiheit aus einem Privileg einzelner Individuen und Korporationen zum Gemeingut des Bürgertums zu machen, formale Rechtsgarantien und Anteil des Laienelementes am Kirchenregiment in der Form einer kirchlichen Repräsentativverfassung fordernd, war für sie die religiöse Seite der Lichtfreundebewegung immer mehr in den Hintergrund getreten. Nicht etwa aus Mißachtung gegen die Religion, die in dem Zusammenhang ihrer Weltanschauung nach wie vor eine zentrale Stellung einnahm, sondern weil sie scharfsichtig genug waren, um sich über den dürftigen religiösen Kern der Bewegung keinen Illusionen hinzugeben. Aus einer wahrscheinlich 1846 entstandenen handschr. Aufzeichnung.

— 99 — Im Verlaufe seiner philosophischen Studien, unter der persönlichen Einwirkung Dunckers und unter dem Eindrucke der Schriften von Gervinus, der durch seine „Mission der Deutschkatholiken" 1845 entscheidend in den Streit um die religiöse Freiheitsbewegung eingegriffen hatte, war Haym bis zum Sommer 1846 dahin gelangt, die Lichtfreundebewegung als eine zwar bescheidene, aber doch entwicklungsfähige und zukunftsvolle Vorstufe zu einer großen nationalen, sittlich-politischen Freiheitsbewegung aufzufassen, die den ganzen Menschen ergreifen, jedoch mit der individuellen wissenschaftlichen und der individuellen ethischen' Befreiung ihren Anfang nehmen müsse. U m die Agitation in diesem Geiste zu betreiben, bot die Stadt Halle, seit der Gründung der Universität von jeher eine Stätte erregter geistiger Kämpfe und religiös freisinniger Bestrebungen, ein besonders günstiges Feld 1 ). Bei alledem vertrat nun aber Haym für seine Person keineswegs die Anschauung, daß die Religion einfach als Mittel zu politischen Zwecken zu betrachten und dementsprechend zu benutzen sei. Vielmehr erschien die von zahlreichen Parteigängern und Mitläufern der Lichtfreundebewegung verfochtene, auch von Gervinus nachdrücklich vertretene Auffassung, „daß gerade die Einbuße, welche wir an religiösem Lebensgehalte erlitten haben, die Stärkimg unserer politischen Existenz ermöglichen und stützen soll" 2 ), seinem auf das Gesamtsystem der Kultur gerichteten Blick als eine höchst bedenkliche Verkennung des Wertes beider Mächte, als eine Verunreinigung großer Zwecke durch schwache Mittel. War er sich auch darüber klar geworden, daß das Zeitalter der Reformation mit seiner Lehre von der Erbsünde und von der Rechtfertigung, seiner Bindung des Ethischen an das Dogmatische, der dualistischen Scheidung zwischen dem Menschen und seinem Gotte, der Jenseitigkeit seiner Heilslehre „nur eine sehr beschränkte und einseitige Form der Religion" zur Darstellung gebracht und daß die Lichtfreundebewegung, wie überhaupt das gegenwärtige Zeitalter nicht die schöpferische Kraft und innere Berufimg zu einer tiefgreifenden religiösen E r neuerung, zu einer neuen Reformation habe, „welche neben dem Recht des Bösen das Recht der freien Zwecksetzung in einem großen Sinne bewahrt"®), so stand in ihm doch unerschütterlich x

) Vgl. den zusammenfassenden, noch heute brauchbaren Aufsatz Hayms, Die protestantischen Freunde in Halle, Schweglers Jahrbücher der Gegenwart, 1846, S. 799 ff. s ) Die'Krisis unserer religiösen Bewegung, 1847, S. 14. *) Ebda., S. 97. 7*



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fest der Glaube an die Zukunft der Religion überhaupt und an die Notwendigkeit, „daß ein anders gestalteter Glaube die Sittigung des Menschengeschlechts auf einem höheren Punkte wieder aufnehmen und sie von Stufe zu Stufe reiner gestalten und vollenden müsse"1). Um „die höchste Spitze allseitiger Ausbildung zu erreichen, um eine religiöse Reformation, durchgreifend wie die lutherische, und wäre es nach Jahrhunderten, noch einmal möglich zu machen: in dieser Aussicht betritt der Deutsche den Weg politischer Bildung.... Möge er nie vergessen, daß aus dem Schöße einer religiösen Aufregung ihm die Einsicht aufgegangen ist, daß die Gegenwart zum politischen Leben ihn rufe!" 2 ) Am Bildungsideal der Totalität des Menschentums sich orientierend, Religion und Politik als verschiedene, im Fluß der Geschichte sich entfaltende und ewig sich wandelnde Ausdrucksformen des sittlichen Lebens auffassend, von der Überzeugung durchdrungen, daß der Inhalt des Geschichtsprozesses in dem Fortschreiten zur Freiheit bestehe, daß „religiöse und politische Freiheit das Höchste und Wünschenswerteste ist" 3 ) und daß das sittliche Leben der Verdorrung und Verkümmerung anheimfalle, wenn es sich nicht in der bewegten Atmosphäre des religiösen und politischen Lebens betätigen kann, hat Haym seine wissenschaftliche Erkenntnis dadurch zu aktualisieren, der konkreten Situation und dem örtlichen Milieu anzupassen versucht, daß er Ende 1846 mit dem Plan auftrat, durch öffentliche Vorlesungen vornehmlich literarhistorischen Inhalts auf die hallische Bürgerschaft zu wirken. War er sich auch bewußt, daß für die religiöse Erneuerung die Zeit noch nicht gekommen und diese Erneuerung nur auf dem Wege über die Politik möglich sei, so erschien es ihm gerade deshalb als eine verheißungsvolle und erfolgversprechende Aufgabe, „die sittliche Seite unseres Wesens in die gehörige Breite und Tiefe" zu führen, „um auf ihr dann mit der Gunst des Schicksals unsre Menschheit reiner und vollständiger, sicherer und dauernder zu begründen"4). Politische Tätigkeit erschien ihm dabei um so mehr als die rechte Bildnerin des sittlichen Sinnes, als er von der Anschauung ausging, daß gerade der positive Kern des neuen in beiden Konfessionen erwachten Lebens derselbe ist, welcher die positive Kraft auch des Staates ausmacht: „die Geltendmachung nämlich der sittlichen Gesinnung und die rückhaltlose und unverzagte Hingabe des innern !) a ) 3 ) *)

Ebda., S. 43. Ebda., S. 107. Briefwechsel Haynas, 1930, S. 30. Die Krisis unserer religiösen Bewegung, S. 101.



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Menschen an seine moralische Bestimmung"1). „Das Leben in und mit dem Ganzen in der natürlichen Beschränktheit des Staates gibt diesem (sittlichen) Sinne Würde und Tiefe, es hebt und unterstützt ihn mit dem Nachdruck des Handelns und rundet ihn zum Charakter ab" 2 ). In seinen Vorlesungen sollte die Wissenschaft zu einer Schule sittlich-humaner und patriotisch-liberaler Gesinnung werden, die Heroen des Zeitalters der klassischen Humanität sollten heraufbeschworen werden, um durch ihr Andenken „das charaktervolle Streben der Gegenwart mit dem schönen und tiefen Gehalte der Vergangenheit zu erfüllen"3}. Hayms Plan ist an dem Einspruch des Universitätskurators Pemice gescheitert, der den Minister Eichhorn darauf aufmerksam machte, daß Hayms Vorlesungen „der Mittelpunkt derjenigen hallischen Gesellschaft werden dürfte, welche sich wiederkehrend unter den verschiedensten Vorwänden versammelt, um an objektlosen Sprechereien über religiöse und politische Freiheit sich zu erbauen und zu kräftigen"4). In der Tat pflegte seit 1844 der hallische Mittelstand, ergriffen von den Schwingungen der Zeit, in einem vor der Stadt gelegenen großen Gartenlokale, der „Weintraube", häufig zu gemütlichen, meist von Hunderten besuchten Festessen zusammenzukommen, um sich bei Bier und Braten von den Professoren und Honorationen über aktuelle Zeitfragen belehren zu lassen. In diesen Versammlungen, die in Form von geschlossenen geselligen Veranstaltungen vor sich gingen, so daß die Behörden keine rechte Handhabe zum Eingreifen hatten, war vom Januar 1846 ab auch Haym mehrfach mit großem Erfolg als Redner aufgetreten. War in den Traubeversammlungen ursprünglich lediglich über die durch die Lichtfreundebewegung aufgeworfenen religiös-ethischen Probleme debattiert worden, so zeigt das Auftreten Hayms, wie die Interessen sich allmählich zu verbreitern begannen. Unter begeisterter Anteilnahme seiner Zuhörerschaft hat hier Haym in pathetischer Weise Lessing mit seiner unbestechlichen Wahrheitsliebe als Vorläufer der gegenwärtigen religiös-sittlichen Freiheitsbewegung, Kant als den Befreier der menschlichen Vernunft, als den nur der Stimme seines Gewissens folgenden begeisterten Verkünder der im Freiheitsbewußtsein wurzelnden Sittlichkeit, W. v. Humboldt als den nachahmungswürdigen „Staatsmann von Perikleischer Hoheit" gefeiert, der die Vollendung seines individuellen Daseins in der *) *) ') *)

Aus einem hdschr. Aufsatzfragment. Die Krisis unserer religiösen Bewegung, S. 103. Briefwechsel Hayms, S. 31. Briefwechsel Hayms, S. 31, Anmerkung.



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Hingabe an gemeinnützige Zwecke, in dem Wirken für und im Staat gefunden habe, hat er Leibniz' Gestalt heraufbeschworen und ihn als Vorkämpfer für die Einheit und Größe Deutschlands, als universalen Denker gepriesen, dessen hoher Sinn in dem Einzelnen stets das Ganze, in dem Kleinen das Große, in dem Nichtigen das Unvergängliche gesehen habe1). Während Haym sich bis zum Sommer 1846 damit begnügte, seine liberal-nationalen Reformideale in ihren geistesgeschichtlichen Voraussetzungen klarzulegen und sie als die konsequente Fortsetzung der durch die Reformation, Aufklärung und das idealistische Zeitalter vollbrachten geistigen Revolution zu erweisen, war Max Duncker bereits dazu übergegangen, in öffentlichen Vorträgen die historisch-politischen Grundlagen der liberalen Bestrebungen zu entwickeln2). Die akademischen Erörterungen gingen in die direkte politische Agitation über, als am 8. Juli 1846 der „Offene B r i e f Christians VIII. von Dänemark erschien, der für Schleswig und Lauenburg die Erbfolge des Weiberstammes nach dem dänischen Königsgesetz für voll verbindlich erklärte, die Einheitlichkeit und Unverletzlichkeit des dänischen Gesamtstaates zum obersten politischen Ziel proklamierte und damit das ungeteilte Zusammenbestehen der Herzogtümer Schleswig-Holstein in Frage stellte. Eine Welle echter nationaler Begeisterung ging damals durch weite Kreise Deutschlands. Von ihr nahm der die Herzogtümerfrage in die deutsche Nationalstaatsbewegung einbeziehende „Schleswig-Holsteinismus" seinen Ausgang mit dem zuerst von Lornsen 1830 aufgestellten Programm: Schleswig-Holstein sind fest miteinander verbundene Staaten; sie sind mit Dänemark lediglich durch Personalunion verbunden; in den Herzogtümern herrscht der Mannesstamm3). Diese Forderungen, die sich rechtlich vornehmlich auf die vielberufenen, die Unteilbarkeit, jedoch nicht ohne weiteres auch die ewige Untrennbarkeit und staatliche Einheit der Herzogtümer aussprechenden Worte von 1460 beriefen, „dat se bliuen ewich tosamede ungedelt", haben der schleswig-holsteinischen Unabhängigkeitsbewegung das Fundament geschaffen. Auf ihm hat der deutsche Liberalismus weitergebaut, für den dann in den folgenden Jahrzehnten die schleswigholsteinische Frage zum außenpolitischen Steckenpferd, zum eisernen Inventar seiner konkreten nationalpolitischen Fordex

) Die handschr. Entwürfe zu diesen Reden haben mir vorgelegen. ) Vgl. Haym, Leben Dunckers, 1891, S. 7 4 ! 8 ) Vgl. Karl Alnor, Uwe Jens Lornsen, o. J . S. 21. 2

— 103 — rangen geworden ist, an der er sich immer wieder von neuem berauschte und seine nationale Begeisterung und doktrinäre Rhetorik entzündete. Unter den zahlreichen Kundgebungen des Sommers 1846 ragte die der Stadt Halle hervor. Es war die von Duncker verfaßte Adresse „Offener Brief an unsere Landsleute in SchleswigHolstein und Lauenburg", die mit Hunderten von Unterschriften bedeckt am 21. August nach Kiel abging1). An der Agitation für die nationale Lösung der schleswig-holsteinischen Frage hat Haym, ihres Wertes für die Wachhaltung und Erregung politischen Sinnes sich wohl bewußt, regen Anteil genommen. Die mangelnde Kenntnis des zugrundeliegenden verwickelten konkreten juristisch-politischen Sachverhalts hat er durch vages Raisonnement und durch Entfaltung eines überschwänglichen Enthusiasmus auszugleichen gewußt. „Was hat es für einen Wert", so rief er bei einem Traubenfeste am 16. September aus, „um das verkümmerte Recht der Vernunft und um deren Freilassimg sich zu grämen und zu streiten, wenn nicht auf dem Boden des wirklichen Lebens, in der Teilnahme an dem Staate, dem wir angehören, an dem Vaterlande, dem die Natur als einer Mutter uns in die Arme gelegt hat, wenn wir nicht aus Schutzrednern der Vernunft zu vernünftig Begehrenden, vernünftig Lebenden und vernünftig Wirkenden werden ? . . . Ich fühle es lebhaft: wir sind Enthusiasten ohne Mark und ohne Nachdruck, oder wir müssen wünschen, daß neben dem geistigen auch ein weltliches Leben erwache, in welches wir den Sturm jener Begeisterung ausstürmen können." Hatte durch die Propaganda für Schleswig-Holstein die kirchliche Reformbewegung einen politischen Inhalt erhalten, so wurde aus historisch unwirksamer Rhetorik bitterer Ernst, als Anfang 1847 die preußische Verfassungsfrage durch das Patent vom 3. Februar in Gang kam. Das politische Leben und der parteimäßige Zusammenschluß des deutschen Liberalismus haben durch das Februarpatent und die zugehörigen Verordnungen über die Bildimg des Vereinigten Landtages, die periodische Einberufung und die Befugnisse des Vereinigten ständischen Ausschusses, sowie über die Bildung einer ständischen Deputation für das Staatsschuldenwesen einen mächtigen Auftrieb erfahren. War diese Bewegung bisher im wesentlichen von den Akademikern, Literaten und Journalisten, vom kapitalistischen Großbürgertum und einem Teile des ost*) Vgl. Haym, Leben Dunckers, S. 76.

— 104 — deutschen Adels getragen gewesen, so verbreiterte sich jetzt ihre soziale Basis, indem ein Teil des Mittelstandes aus seiner lauen Indifferenz heraus- und in die politische Arena mit eintrat. Dieser Übergang, dem in Preußen die Lichtfreundebewegung und der Deutschkatholizismus vorgearbeitet hatten, vollzog sich natürlich nicht mit einem Schlage, sondern vornehmlich erst nach dem Zusammentritt des Vereinigten Landtags in langsam ansteigendem Tempo. Zum lebendigen Ausdruck gelangte er in dem Aufschwung der Tagespresse, in der Zunahme und Auflagenhöhe der Flugschriften- und Broschürenliteratur und vor allem in dem gesteigerten Versammlungs-, Vereins- und Petitionswesen. Bedeuteten die durch die Februarerlasse ins Leben gerufenen „ständischen Einrichtungen" auch keine Erfüllung der Verfassungsversprechungen von 1815, 1820 und 1823, schufen sie vielmehr nur einen unausgeglichenen, nicht nur verfassungsrechtlich, sondern auch machtpolitisch unklaren Schwebezustand, der die Lösung des zentralen Problems der politischen Machtverteilung der Zukunft überließ, so bedeuteten die Erlasse doch einen Markstein in der preußisch-deutschen Verfassungsgeschichte. Denn an die Stelle von bloßen Versprechungen trat etwas Wirkliches. Dieses Wirkliche war nun freilich von widerspruchsvoller Halbheit und Mehrdeutigkeit. Proklamierte doch das Patent vom 3. Februar das zwiefache, im Grunde einander ausschließende Ziel, „die Rechte, die Würde und die Macht der uns von unsern Vorfahren, ruhmreichen Angedenkens, vererbten Krone unversehrt unsern Nachfolgern in der Regierung zu bewahren, zugleich aber auch den getreuen Ständen unserer Monarchie diejenige Wirksamkeit zu verleihen, welche, im Einklänge mit jenen Rechten und den eigentümlichen Verhältnissen der Monarchie, dem Vaterland eine gedeihliche Zukunft zu sichern geeignet ist". Indem die Ausübung des Rechtes der eigenmächtigen Ausschreibung von direkten Steuern und der Kontrahierung von Schulden im Namen des Staates fortan wenigstens für die Friedenszeit an die Mitwirkung der Stände gebunden wurde, erfuhr die königliche Prärogative, wenn auch nur auf dem Wege einer freiwilligen königlichen Übertragung, tatsächlich eine nicht unwesentliche Einschränkung. Wenn auch den Ständen im übrigen nicht das Recht der Zustimmung, sondern nur das der Beratimg und Begutachtung eingeräumt wurde, so war der bürokratische Absolutismus und das absolute monarchische Prinzip mit diesen Zugeständnissen doch grundsätzlich in Frage gestellt. Diese Wendung nun auch verfassungsrechtlich und machtpolitisch

— 105 — zu sichern und auszubeuten und in einen politischen und sozialen Sieg des Bürgertums zu verwandeln, war die große Zukunftsaufgabe, vor die sich der Liberalismus gestellt sah, und die er, der von der gärenden sozialen Unterschicht drohenden Gefahr noch nicht recht bewußt, auf seine Kraft und seinen Zusammenhalt vertrauend und mit seinem nationalpolitischen Einheitstraum verknüpfend, durch Rechtsinterpretationen und Rechtsdeduktionen, durch Rechtsverwahrungen und Drohen mit Steuerverweigerung und passivem Widerstand in den Grenzen der Gesetze lösen zu können geglaubt hat. Im Gewände eines Rechtsstreites entbrannte der politische Kampf, dem, der geistigen Struktur des Zeitalters entsprechend, ein schulmäßiger, lehrhaft-doktrinärer Zug eigentümlich war, zumal er vorwiegend von Männern geführt wurde, die von der unumstößlichen Richtigkeit ihrer Glaubenssätze überzeugt waren und ihre politischen Forderungen weniger aus realen Tatsachen als aus aprioristischen Konstruktionen ableiteten. An dem Streit um die „Kompetenz" und den „Rechtsboden", an der Frage: Annehmen oder Ablehnen ? Mitarbeit oder Inkompetenzerklärung? begannen sich die gemäßigten und die radikalen, die kompromißbereiten und die intransigenten Elemente nach Taktik, Gesinnung, Interessen und Zielen voneinander zu scheiden. Von dem gemäßigten deutschen Liberalismus, der konstitutionellen Rechtsstaatspartei, die zwar noch keine organisierte Kampfgemeinschaft, ja noch nicht einmal eine die partikularen Gegensätze überbrückende Gesinnungs- und Interessengemeinschaft darstellte, sich aber bereits als solche zu fühlen begann, ist der in eine Atmosphäre drückender Schwüle hineintreffende Erlaß der Februarpatente durchaus zwiespältig aufgenommen worden. In dem politisch fortgeschritteneren Südwestdeutschland wurde die unentschiedene Halbheit der Erlasse stark empfunden und infolgedessen vorwiegend mit kühler Zurückhaltung, mit unzweideutiger Verstimmung, ja, vielfach mit heftigem Widerspruch aufgenommen. Am Rheine, wo das Großbürgertum, insbesondere der Fabrikantenstand und der Großhandel, zwar freudig zustimmte, verhielt sich der mittlere Bürgerstand indifferent oder aber aus partikularistischen Motiven entschieden ablehnend, da er durch die Berufung von Zentralständen die vom bürgerlichen Geist getragenen rheinischen Institutionen und die katholischen Belange gefährdet glaubte1). Vielfach wärmer, wenn aber auch *) Vgl. Lina Kulenkampff, Der i . Vereinigte preuß. Landtag 1847 und die öffentliche Meinung Südwestdeutschlands, 1912/13; K. Hemmerle,Die



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hier durchaus zwiespältig und fast allenthalben mit der Forderung nach Erweiterung der dem Landtag zugedachten Berechtigungen verbunden war die Aufnahme naturgemäß in den liberalen Kreisen der altpreußischen Provinzen. Denn hier, in dem Preußen Friedrich Wilhelms IV., konnte, nach Jahren politischer Lethargie und kulturpolitischer Reaktion, der erste Anstoß zu praktischpolitischem Wirken um so eher mit Dank und zukunftsfroher Hoffnung begrüßt werden, als er völlig unerwartet kam, das Bürgertum über eine reale Machtposition noch nicht verfügte und die freiheitliche Städteordnung und die demokratische Institution der allgemeinen Wehrpflicht im Rahmen des auf der Vormacht der Bürokratie und der sozialen Vorherrschaft des patrimonialen Großgrundbesitzes aufgebauten halb zentralistischabsolutistischen, halb feudal-ständischen Staatsgefüges bisher nur die Stellung eines Fremdkörpers hatte. Erfüllt von royalistischloyaler Staatsbürgergesinnung, voll optimistischen Vertrauens auf die werbende Kraft der liberalen Ideen und die Stoßkraft der wirtschaftlichen Interessen erblickten die in Intelligenz und Besitz führenden Schichten in Preußen, deren Beispiel auf den wirtschaftlichen Mittelstand richtunggebend wirkte und denen vereinzelte, von nationalen Hoffnungen beschwingte Stimmen aus den übrigen Teilen Deutschlands zur Seite traten, in der Berufung des Vereinigten Landtags den Beweis, daß König und Regierung in Preußen die Kraft und Unaufhaltsamkeit der bürgerlichen Bewegung erkannt habe und aus freiem Entschluß in eine Phase der Staatsentwicklung einlenke, die zwar noch nicht den Ubergang zum Verfassungsstaat bedeute, aber doch durch die Gewalt der Dinge eine baldige Verwirklichung der Forderung nach konstitutioneller Repräsentatiwerfassung und ein Einlenken in deutschnationale Bahnen im Gefolge haben werde. In diesem Geiste hat auch die liberale Bürgerschaft in Halle, die sich jetzt als „Konstitutioneller Klub" politisch fester zu organisieren und auf die politische Willensbildung der Provinz Sachsen starken Einfluß zu üben begann1), zu den Erlassen vom Rheinländer und die preuß. Verfassungsfrage auf dem i. Vereinigt. Landtag, 1 9 1 2 ; J . Hansen, Mevissen, 1906,1, 445 ff. Zu der Rückwirkung der Februarpatente in den einzelnen preußischen Provinzen vgl. die Übersicht bei Ranke, Friedrich Wilhelm IV., Allgem. Deutsche Biographie, Bd. 7, S. 764 ff. Über die wichtigste Flugschriftenliteratur des Frühjahrs 1847 vgl. die Übersicht bei K. Biedermann, Die Aufgabe des 1. Ver. Landtags in Preußen, Leipzig 1847, S. 304 ff. Bezeichnenderweise sind 1848 von den Mitgliedern des Konstitutionellen Klubs in Halle allein vier in die Frankfurter Nationalversammlung

— 107 — 3- Februar Stelllang genommen und in einer von Max Duncker angeregten, an den König gerichteten Adresse mit dem Dank zugleich der Zuversicht Ausdruck gegeben, daß die königlichen Verordnungen „den festen Grundstein einer neuen Epoche in unserer staatlichen und nationalen Entwicklung zu bilden bestimmt seien"1). Zu den Unterzeichnern der Adresse gehörte auch der junge Haym. Während bis dahin seine Entwicklung vorwiegend durch Bücher und damit durch ideelle Antriebe bestimmt worden war, brach jetzt die Zeit an, wo die äußeren Verhältnisse bei der Ausprägung seiner Gestalt den Vorrang erhielten. Wie sehr ihn die Aufrollung der preußischen Verfassungsfrage im Innersten ergriffen hatte, zeigt die ausführliche Besprechung, die er Gervinus' aufsehenerregender, Ende März erschienener Schrift über „Die preußische Verfassung und das Patent vom 3. Februar 1847" gewidmet hat2). Jene Mischung von genialer Weitsicht und spießbürgerlicher Enge, die bei allem Wandel seiner Anschauungen im einzelnen für Gervinus' politischen Charakter zeitlebens bestimmend geblieben ist, gibt auch seiner Verfassungsschrift das Gepräge, deren Hauptinhalt eine bitterscharfe Kritik der inneren und äußeren preußischen Politik seit 1815 bildet. Mit scharfsichtigem historisch-politischem Instinkt tritt er hier mit der ihm eigenen Schroffheit, knorrigen Unbedingtheit und galligen Bitterkeit einem illusionären Überschätzen des Februarpatentes gegenüber, charakterisiert er es als einen Rückschritt unter dem Scheine des Fortschritts, als das Werk einer „geschlossenen Phalanx von konservativen Kräften" 3 ), das dem Zeitgeist und den Gesetzen der Geschichte zuwider durch mechanische Zusammenfügung der bisher getrennt beratenden Provinziallandtage den territorialen Ständestaat und die bestehenden Machtverhältnisse zu verewigen, den Aufstieg des bürgerlichen Mittelstandes zu politischer Macht zu hindern und den Freiheitsdrang und außenpolitischen Machtwillen der Jiation durch einen gleißnerischen Akt königlicher Gnade zu lähmen trachte. ' gewählt worden: Haym, Duncker, Karl Schwarz und der Herausgeber des „Courier", Dr. Gustav Schwetschke. ') Vgl. Haym, Leben Dunckers, S. 78; Polit. Briefwechsel Dunckers, hrsg. von J . Schultze, 1923, S. 1 f. s ) In der Hallischen Allgemein. Literaturzeitung, Mai 1847, Sp. 841 — 8 4 2 ; 849—856, 861 — 864. 8 ) Gervinus, Die preuß. Verfassung etc., 1847, S. 74.



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An der Beantwortung der Frage jedoch, was denn nun den Februarpatenten gegenüber praktisch zu tun sei, erwies sich, daß Gervinus über die politische Abstraktion im Grunde nicht hinauskam. Gewohnt, in Jahrzehnten und Jahrhunderten zu denken und die Probleme der Politik unter den höchsten Zukunftsperspektiven und als Ausstrahlungen undurchbrechbarer historischer Gesetze kontemplativ zu betrachten, zeigte er sich durch die verfehlte Einschätzung der momentanen politischen Kräfteverhältnisse, durch das zu hoch gespannte Vertrauen in die Stoßkraft, den Zusammenhalt und die moralische Energie der liberalen Bewegung, sowie durch seine persönliche Unfähigkeit zum taktischen Lavieren und Diplomatisieren den konkreten Erfordernissen der Tagespolitik nicht gewachsen. Von der wissenschaftlich begründeten, durch eine ausgeprägt kollektivistische Geschichtsauffassung untermauerten Uberzeugung ausgehend, daß die „konservativen" Mächte historisch bereits erledigt und als bloße „Scheinkräfte" zum Absterben verurteilt seien, stand Gervinus, erfüllt von dem Glauben an den Aufstieg und schließlichen Sieg des liberalen Bürgertums, den herrschenden Gewalten in Staat, Kirche, Heer und Verwaltung mit imbedingter, gesinnungstreuer, unversöhnlicher Opposition gegenüber, sah er in ihnen statt zu gewinnende Bundesgenossen um jeden Preis zu bekämpfende Todfeinde, die Preußen-Deutschlands Aufstieg zu innerer Freiheit und äußerer Macht hindernd im Wege ständen. Es ist das vornehmlich durch ihn und Droysen damals entwickelte liberale Dogma von den „preußischen Traditionen", jene doktrinäre Lösung des Problems von Staatenbildung und Verfassungsentwicklung, die Gervinus' Stellungnahme zu den Februarerlassen bestimmt hat. Es ist der unerschütterliche Glaube, daß die Zukunft Deutschlands geknüpft sei an die Umwandlung des preußischen „Zufallstaates" in einen an das Volk appellierenden, durch geistige und moralische Kräfte sich erneuernden konstitutionell-monarchischen „Musterstaat", der Glaube, daß ohne innere liberale Reformpolitik, ohne ein im Geist der Reformzeit reorganisiertes Preußen keine preußische Machtpolitik möglich, daß Preußen, zur Führung in Deutschland berufen, deutsche Politik treiben müsse und nur eine deutsche Politik den Aufstieg zu europäischer Machtstellung gewährleiste. Gervinus hat mit diesen Anschauungen als ein Erzieher der Nation auf das Denken der Zeit einen mächtigen Einfluß ausgeübt und, da er nur eine Armee von Offizieren ohne Soldaten hinter sich hatte, an seinem Teile ungewollt dazu beigetragen, daß der vormärzliche deutsche Liberalismus, statt sich auf das

— 109 — Regieren vorzubereiten und sich um illusionslose Erkenntnis der nüchternen Wirklichkeit zu bemühen, über den ihn beschäftigenden, ans Herz gewachsenen Ideen die realen Mächte des Lebens vernachlässigte und damit seine politische Tragödie vorbereitete. Mit der von Gervinus geübten Kritik der preußischen Politik von 1 8 1 5 — 4 7 , sowie mit den von ihm proklamierten politischen Zukunftszielen grundsätzlich übereinstimmend, ist Haym in der Frage der gegenüber den Verfassungspatenten einzuschlagenden Taktik doch entschieden von ihm abgerückt. Während Gervinus sich trotz aller Winkelzüge, Vorbehalte und Bedenken schließlich doch für ein, wenn auch höchst verklausuliertes „Annehmen" entschied, war für den beweglicheren und optimistischer gestimmten jungen Haym der Streit um den Rechtsboden ein weniger schwerer Gewissenskampf. Für ihn bedeutete die Berufung des Vereinigten Landtages eine verheißungsvolle Tatsache, die zunächst einmal freudig akzeptiert und als eine erste Möglichkeit zu praktisch-politischem Wirken mit beiden Händen ergriffen werden müsse. Er sah die durch den Wandel der politischen Situation gestellte Aufgabe darin, von der gegebenen Basis aus, wenn auch unter Wahrung des aus den früheren Gesetzen abgeleiteten förmlichen Rechtsanspruches, durch eine geschickte Opportunitätspolitik, wie sie nach dem Zusammentritt des Landtags die Praktiker der Opposition, die rheinischen Liberalen, dann tatsächlich in die Wege geleitet haben, in langsamer Entwicklung Stück für Stück die politische Macht zu erobern, Schritt für Schritt in kompromißbereitem Geiste Rechte zu erobern, Beschränkungen abzuwerfen und Institutionen mitschaffen zu helfen, die den Forderungen des konstitutionellen Liberalismus entsprechen und damit den feudal-patrimonialen Aufbau des altpreußischen Ständestaates aus den Angeln heben. Es wirft nun allerdings ein bedenkliches Licht auf Hayms politischen Instinkt, daß er dieses klar erkannte reale Ziel auf einem höchst irrealen Wege zu erreichen für möglich hielt. Die populären Kräfte überschätzend und idealisierend, hielt er es für durchaus möglich, daß es der einberufenen Versammlung durch das Gewicht ihrer eigenen Schwere und durch den moralischen Eindruck, den sie hervorrufe, durch Rechtsverwahrungen gegen einzelne Bestimmungen des Patents und vor allem durch Geltendmachung sittlicher Gesinnung und sittlicher Ideen gelingen werde, den ihr gegenüberstehenden Mächten, vor allem dem Königtum, die politische Macht stückweise abzukaufen. In völliger Verkennung des robusten Macht- und irdischen Geschäftscharak-

— 110 — ters der Politik und der zähen Widerstandskraft des Bestehenden erblickte Haym, befangen in den Konstruktionen seines philosophischen „Systems", in der sittlichen Gesinnung das Richtmaß, „in welche die politische Frage sich fügen und wonach sie sich beurteilen läßt" 1 ). Sein illusionäres Vertrauen auf die sich durchsetzende Gewalt sittlicher Kategorien schreckt selbst vor der Möglichkeit nicht zurück, daß die gegenwärtigen Machthaber in Preußen unter dem moralischen Eindruck des Volkswillens aus sittlichen Motiven und intellektuellen Einsichten auf ihre Vormachtstellung verzichten und sich dem Siegeszuge der rechtsstaatlichen Ideen freiwillig beugen würden. Diese Ethisierung der Politik und idealisierende Verklärung der Wirklichkeit, die das Leben des Staates, den politischen Interessen- und Machtkampf als Widerstreit sittlicher Ideen begreift und, über die Kontemplation hinausschreitend, auch das nüchterne reale Dasein und die konkrete politische Konstellation mit den Glaubenssätzen idealistischer Philosophie meistern und gestalten zu können glaubt, hat für Hayms politisches Denken, Fühlen und Handeln — bei allem Wandel seiner Anschauungen im einzelnen — zeitlebens Geltung behalten. Immer wieder von neuem werden wir auf zahlreiche Variationen und Nüancierungen dieser Haltung stoßen, deren sittliche Größe mit geistiger Verengung und politischer Wirkungslosigkeit erkauft werden mußte. Aus dieser für den klassischen Liberalismus überhaupt repräsentativen, bei Haym in besonderer Schärfe hervortretenden Denkweise ist das aufsehenerregende Buch erwachsen, daß Hayms Namen mit den Anfängen des preußischen Verfassungslebens untrennbar verknüpft und ihm sofort nach seinem Erscheinen den Ruf eines der hervorragendsten politischen Publizisten seiner Zeit eintrug: die „Reden und Redner des ersten Vereinigten Preußischen Landtags". Weniger durch seinen der Originalität entbehrenden, exakter Interpretation nicht immer zugänglichen politischen Gedankengehalt, als vielmehr durch seine künstlerische Konzeptions- und Gestaltungskraft, durch die Lebendigkeit der Anschauung, die Eleganz des Stils, die schlagende Prägnanz der Formulierungen, die scharfsinnige Antithetik, den begeisterungsvollen Schwung der Überzeugung, die Leidenschaft des Überzeugenwollens, durch den vorbehaltlosen Einsatz des ganzen, vollen, lebendigen Menschen für seinen Glauben, erscheint dieses menschlich ergreifende, den aufsteigenden Liberalismus in dem sieghaften Literaturzeitung, Mai 1847, S. 849.

— 111 — Vertrauen auf seine Ideale zeigende Buch nicht nur als ein kleines Meisterwerk der politischen Literatur, sondern zugleich als ein Spiegel des Geistes der Zeit1). Die ganze Leuchtkraft hoffnungsvoller Jugend liegt über diesem Werke ausgebreitet. Die Stimmung, aus der es geboren ist, hat das Vorwort in unauslöschlichen Farben festgehalten: „Wie nach dem erstarrenden Winter der Frühling die Erde stärkt und zu neuen Geburten belebt, so durchdrang eine Frühlingskraft uns und die gesamte deutsche Nation, als Preußens Stände zu ihrem ersten Reichstage versammelt wurden. Die Erinnerung an so viele Nichtigkeit schwand vor der Hoffnung, die uns mächtig ergriff: auch wir würden jetzt das Recht entwickeln, auch wir würden ein mächtiges und geachtetes Volk werden, auch wir würden leben im Genüsse geordneter Freiheit. Das begeisterte Wort unserer Vertreter drang mit erschütternder Wirkung bis hinan an den Kern unseres Lebens, und wir Jüngeren, denen die kriegerische Erhebung der Nation zu Anfang des Jahrhunderts zu sehen nicht vergönnt war, empfanden zum ersten Male die Bedeutimg einer sittlichen, das ganze Volk ergreifenden Bewegung. In das ausgesogene Gebiet intellektueller Bestrebungen sahen wir diese Bewegung wie einen frischen Strom geleitet, an dessen Ufer die Gräser sich wieder grünend aufrichten; wir tranken daraus mit durstigen Zügen wie aus einem Lebensbrunnen". Einer Anregung des Verlagsbuchhändlers Alexander Duncker verdanken die „Reden und Redner" ihre Entstehimg2). Die x) Mit R e c h t betont auch G. Masur, Deutsche Literaturzeitung, 1932, Sp. 125, das Einzigartige an diesem B u c h e : „ E s ist eine völlig eigene G a t tung, die H a y m hier aufgestellt h a t , ein Muster der politisch-parlamentarischen Reportage, das man vergessen hat fortzubilden oder auch nur nachzuahmen". ! ) Auf eine zweite Anregung, die der schwäbische Philosoph Albert Schwegler a m 3. März an H a y m ergehen ließ, er solle für die „Jahrbücher der Gegenwart" einen „räsonnierenden" Artikel über die preußische Verfassungsfrage schreiben, ist er nicht näher eingegangen. Als zeitgeschichtlich interessanter Stimmungsausdruck verdient der Brief Schweglers der Vergessenheit entrissen zu werden. „ I c h habe die neue Verfassung," s o heißt es hier, „ m i t Freuden begrüßt. Sie gibt wenig, aber das andere m u ß nachkommen: man hat sich schon einmal aufs Experimentieren eingelassen. Wird Preußen auf diesem Wege fortmachen, so wird seine Hegemonie i n Deutschland bald Wirklichkeit werden. Ich war innerlich immer Preuße und werde den T a g — wenn ich ihn noch erlebe — mit Freuden begrüßen, w o ein preußischer Oberpräsident in S t u t t g a r t residieren wird. Es handelt sich vor allem darum, d a ß alles UQ.ter einen H u t kommt."



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nach der literarischen Konjunktur sich richtenden Wünsche des Verlegers trafen mit Hayms eigenen Intentionen und philosophischen Anschauungen dahin zusammen, daß den Mittelpunkt der Darstellung nicht die Gesamttätigkeit des Landtags, sondern die mit einem Schlage populär gewordenen führenden Persönlichkeiten des Landtags bilden sollten. So enthalten denn auch die „Reden und Redner" keine zusammenhängende Geschichte des Landtags, seiner Verhandlungen und seiner Kämpfe, wie sie Karl Biedermann in seiner „Geschichte des ersten preußischen Reichstags" zu geben wenigstens versucht hat, sondern nur eine Reihe von lose aneinander gefügten individuellen Bildern, psychologischen Charakteristiken und Miniaturbiographien, die mit Liebe gezeichnet, vielfach auch mit künstlerischer Meisterschaft gestaltet sind, die entscheidenden historisch-politischen Sachzusammenhänge, sowie die polare Zusammenordnung von Idee und Interesse jedoch nur höchst fragmentarisch und imvollkommen zur Anschauung bringen. So prägnant und scharf Haym die zwischen den führenden Männern des Landtags bestehenden charakterologischen und psychologischen Unterschiede herausgearbeitet hat, die sachlich-politischen Differenzen, insbesondere der starke Gegensatz zwischen dem noch vorwiegend von ständischen Verfassungsidealen erfüllten altpreußischen Liberalismus und dem rheinischen und schlesischen, auf das Repräsentativsystem hinarbeitenden Konstitutionalismus, treten in seiner Darstellung nicht mit der wünschenswerten Deutlichkeit zutage. Dem liegt jedoch wohl weniger ein Unvermögen Hayms zugrunde, als vielmehr die bewußte Absicht, die Opposition als geschlossene Einheit und als überzeugte Verfechterin des „konstitutionellen Systems" erscheinen zu lassen. Das von Haym entworfene Bild des Vereinigten Landtags erscheint um so einseitiger, als er sich bei der Auswahl seiner Helden in weitgehendstem Maße von seinen persönlichen Sympathien und politischen Überzeugungen hat leiten lassen. Fehlt es auch fast gänzlich an direkten Äußerungen über den konkreten Inhalt seines politischen Glaubens, und hat er es auch vermieden, den Inhalt des Begriffs der konstitutionellen Verfassung, für den eine einheitliche Auffassimg damals ja noch nicht bestand, näher zu bestimmen, so machen doch hie und da verstreute Einzelbemerkungen sowohl wie die Gesamtauffassung es wahrscheinlich, daß er im Grundsätzlichen und Taktischen mit jenem Teile der Opposition übereinstimmte, der durch den rheinischen, vorwiegend weltanschaulich begründeten, das ökonomisch-soziale Klasseninteresse nicht in seiner vollen Schärfe enthüllenden Liberalismus der Mevissen, Beckerath,

— 113 — Camphausen repräsentiert wurde1), womit zugleich gesagt ist, daß Haym, wie mit ihm nahezu die Gesamtheit seiner Zeitgenossen, sich des Gegensatzes von monarchisch-konstitutioneller und parlamentarisch-konstitutioneller Verfassung noch nicht recht bewußt war. Die Vorliebe für die doktrinären Verfechter des „Rechtsstandpunktes", für ihre „männliche Kraft", ihre „tiefe Begeisterung", ihren „sittlichen Charakter" und ihr „sittliches Pathos" gibt seinem Buche das Gepräge. Auf sie, in denen er die „Macht der Dinge" manifestiert glaubt, schaut er hin, „wie wir in der Nacht die großen Sternbilder des Himmels in stiller Ruhe anschauen"2). Bei aller Fähigkeit des Sicheinfühlens und Sicheinschmiegens und bei allem Bemühen nach unvoreingenommener .Gestalterfassung bleibt Haym an die Schranken seiner Weltanschauung und der rationalistischen Seite seiner Natur gebunden. Von dem Wunsche erfüllt, den Bestrebungen des Bürgertums nach einer Umbildung der Verfassungsverhältnisse im Geiste des Konstitutionalismus leuchtende Vorbilder zu schaffen, geht er in seinem Heroenkult bedenklich weit. Indem er im Interesse seines nationalpädagogischen Zieles die Bedeutung seiner „Helden" pathetisch übersteigert, sie einseitig als ideale Repräsentanten geistigsittlicher Mächte auffaßt, ihr Wesen jeweilig auf einen Nenner zu bringen und in einer schlagwortartigen Formel von unzweideutiger Klarheit zum Ausdruck zu bringen bemüht ist, wird er x)

Hierzu das zum Teil allerdings schiefe Urteil Biedermanns,

Gesch.

des i . p r e u ß . Reichstags, 1847, S. 489: „ D i e rheinische Opposition war v i e l leicht die, welche die fertigste und a m meisten selbstbewußte A n s c h a u u n g v o n dem mitbrachte, was zu erstreben und wie es zu erstreben sei. Ihr Ziel war i m Politischen die konstitutionelle Monarchie —

ohne

romantische

Schnörkel — , das allgemeine freie StaatsbOrgertum ohne trennende Standesunterschiede, die Auflösung des Provinziellen in der nationalen

Einheit,

eine ausgedehnte Teilnahme aller Klassen des Volkes a m Gemeinwesen durch wahrhaft Stände;

lebenskräftige,

mit

allen

notwendigen

Rechten

ausgestattete

i m Religiösen die gänzliche Trennung der Kirche v o m S t a a t u n d

eine, dadurch allein mögliche, tatsächliche Gewissensfreiheit und allgemeine Toleranz".

Vgl. hierzu die zusammenfassende Gesamtwürdigung der rhein.

Landtagsliberalen bei R . Koser, Zur Charakteristik des Ver. Landtags v o n 1847.

Festschrift zu

G . Schmollers

70. Geburtstag,

1908,

S. 326,

sowie

Koser, Die A n f ä n g e der politischen Parteibildung in Preußen bis 1849. preußischen

und

S. 376 ff. Zur

deutschen

Kritik

Geschichte.

Kosers vgl.

F.

Aufsätze

Härtung,

und

Vorträge,

Verantwortl.

Zur 1921,

Regierung,

K a b i n e t t e und Nebenregierungen i m konstitutionellen Preußen 1 8 4 8 — 1 9 1 8 . Forschungen z. brandenburg. u. preuß. Geschichte, B d . 44, S. 2. a)

R e d e n und Redner, S. I I I .

Beiheft d. H. Z. 31

8

— 114 — der Kompliziertheit und antinomischen Spannung der Charaktere vielfach ebensowenig gerecht, wie der grob materiellen und interessenmäßigen Grundlagen ihres Seins und Wirkens. Einer Erscheinung wie v. d. Heydt gegenüber wird sich Haym der Schranken und der Lebensferne seines moralisierenden Idealismus selbst bewußt. Wenn es ihm auch nicht klar wird, daß er es hier im Grunde mit einem politischen Streber und Karrieremacher größeren Stils zu tun hat, so erkennt er doch, daß sich sein Wesen mit den Kategorien einer idealistischen Ethik nicht erfassen läßt. Und so muß er denn schließlich resigniert bekennen, daß es ihm hier an der „idealen Form" fehle, „wodurch allein ein Charakter typisch und bedeutsam wird" 1 ). In jedem Falle jedoch bleibt es eine erstaunliche Leistimg, •wie Haym auf Grund spärlicher biographischer Notizen, der auf dem Landtag gehaltenen Reden und vereinzelter Dokumente aus früherer Wirksamkeit mit intuitivem Blick und meist treffsicherem Instinkt auf dem Wege psychologischer Kombination Charakterbilder von einer Lebensfülle und Anschaulichkeit geschaffen hat, die der historischen Wirklichkeit zwar nicht immer völlig gerecht werden, durch die Lebendigkeit der Gestaltung jedoch noch heute voller Anziehungskraft sind. Aus der praktischen Arbeit heraus hat Haym in den „Reden und Rednern" die Grundlagen zu seiner ganz persönlichen psychologisch-analytischen Methode gelegt, die in die Tiefe der menschlichen Individualitäten hinabzusteigen, sie intuitiv zu erfassen, verstandesmäßig zu zergliedern, anschaulich-plastisch darzustellen vermag, eine Methode, die in verfeinerter und durch die kritische Philologie vertiefter Form auch seinen späteren kulturhistorischpsychologischen Biographien zugrunde liegt. Wie seine Weltanschauung in der Lehre von der sittlichen Autonomie der Persönlichkeit ihr Zentrum gefunden hatte, so war seine erst im Werden begriffene Geschichtsauffassung von dem Urgedanken beherrscht, daß das Allgemeinste „ewig nur an dem Besondersten" 2 ) hervorbreche, daß die Individualität die Grundform der Geschichte darstelle: „Das Konkrete sind niemals und nirgends die Massen, sondern es sind distinkte, lebendige, inkommensurable Individuen, es sind Menschen im Konflikt mit Zuständen und Leidenschaften, es sind Naturen und Charaktere" 3 ). Wie bereits Hayms Kritik von Gervinus' Verfassungsschrift erkennen ließ, ist es die aus seinem „System" zu begreifende Reden und Redner, S. 157. ) Die Krisis unserer religiösen Bewegung S. 28. 3 ) Artikel „Philosophie", S. 194. 2

— 115 — theoretisch-dogmatische Bestimmung des Verhältnisses von Politik, Recht und Sittlichkeit, die ihm den Blick für die nüchterne Erkenntnis der politischen Wirklichkeit und ihrer Gesetze verbaut hat und damit den historisch-politischen Erkenntniswert seiner „Reden und Redner" beeinträchtigt. Den innigen Zusammenhang von Politik und Metaphysik immer wieder betonend, die Machtfragen auf ethische Freiheitsfragen reduzierend, verweilt seine Feder mit besonderer Liebe und Ausführlichkeit bei Männern wie Mevissen, Beckerath und Camphausen, in denen dieser Zusammenhang handgreiflich faßbar und die Bedeutung der Philosophie für das praktische Leben offenbar wird. Es ist das Dogma vom „sittlich-praktischen Idealismus", das ihn zu einer Überschätzung der intellektuellen und moralischen Kräfte führt und ihn in politischer Instinktlosigkeit die „Bestimmung" des Vereinigten Landtags darin erblicken läßt, „die ganze Verfassung sittlich zu gründen und mit dem Rechtsbewußtsein des Volkes zu vermitteln"1). Gerade darum erscheint ihm ja der Vereinigte Landtag so reich an Interesse, „weil er einen Blick in die Bewegung des sittlichen Geistes gestattet, wenn dieser zuerst in eine reichere Welt der Kräfte und der Interessen tritt" 2 ). Nicht der durch den Landtag entfesselte politisch-soziale Machtkampf als solcher, sondern die in diesem Machtkampf sich auswirkenden „Ideen", die Tatsache, daß hier „Systeme im parlamentarischen Kampfe mit Systemen sich auseinandersetzen"8), ist es, die Hayms Blick fesselt, seine Darstellung beflügelt und ihr durch die Orientierung an dem Gesamtsystem der Kultur ein universales Gepräge verleiht. So zeigt sich bereits an diesem politisch-publizistischen Erstlingswerk Hayms, wofür sein künftiges Leben immer wieder erneut die Bestätigung geliefert hat, daß ihm der weite politische Blick abging, daß er, wie die große Masse des politisierenden deutschen Professorentums, die Macht der Ideen und der Wissenschaft überschätzend, über das ehrliche und redliche Beteuern politischer Gesinnungen und politischer Theoreme, über das Entwickeln von Grundsätzen, Klarmachen von Ideen, über die geistige Agitation und formalistische Auffassung der Politik nicht hinauskam, kurz, daß er Politiker nur soweit war, wie er Schriftsteller, Philosoph und Ideenhistoriker war. *) Reden und Redner, S. 2. *) Ebda., S. 175. 3) Ebda., S. 3.

8*

VIERTES KAPITEL.

DIE REVOLUTION UND DAS FRANKFURTER PARLAMENT.

Die Sturmflut, die sich im Februar des Jahres 1848 von Frankreich her über die deutschen Grenzen wälzte, die Dämme niederbrach, die morschen Gebäude in Trümmer legte und die deutsche Staatenwelt, ja einen ganzen Erdteil überschüttete, hat in jähem Schlage den geruhsamen Gang der Entwicklung unterbrochen. Mit elementarer Gewalt erhob sich, mit dem Rufe nach Erneuerung unlöslich ineinander verflochten, der Drang der deutschen Nation nach freiheitlicher Gestaltung ihres inneren, nach nationaler Autonomie ihres äußeren Staatslebens. Ein einiges, mächtiges, freies, in bürgerlichem Geiste und modernen politischen und sozialen Formen errichtetes Deutschland war zur Forderung des Tages geworden. Eine fieberhafte Erregung hatte sich, auf dem Hintergrunde einer schweren wirtschaftlichen Depressionslage, der Gemüter bemächtigt. Sie beschränkte sich nicht auf das städtische Bürgertum, auf die Notabein, die Honorationen, die besitzenden Mittelschichten. Sie ergriff auch die Kleinbürger, die Kleinhändler und die Kleingewerbetreibenden, die Handwerksgesellen, die Tagelöhner, die Industriearbeiter, sie sprang auf das platte Land über und rüttelte die bäuerliche Bevölkerung aus ihrem politischen und sozialen Schlummer. Ist das Signum dieser von dem klaren Bewußtsein einer Epochenscheide getragenen Bewegung auch ein kunterbuntes Durcheinander von Wirklichkeitssinn und Erdenferne, von nationalem Gemeinsinn und partikularistischem Sondergeist, von Opferbereitschaft und krassem Egoismus, von politischer Reife und kindlicher Naivität, von praktischer Nüchternheit und ins Uferlose sich verlierenden chiüastischen Hoffnungen, von schwungvollem Idealismus und dem Drang nach Durchsetzung robuster Interessen und Abschüttelung bestehender Lasten, — das ewig Denkwürdige und historisch Großartige an diesem Jahre 1848 war, daß hier die ganze deutsche Nation, vertreten durch alle ihre Stämme, Klassen und Stände, in die politische

— 117 — Arena eintrat und als mobilisierte Masse sich aktiv an dem Ringen der Kräfte, an Aktion und Reaktion, an dem Aufeinanderprallen der Doktrinen und Interessen zu beteiligen begann. Nichts vermittelt einen lehrreicheren und anschaulicheren Einblick in den grundlegenden Wandel der Atmosphäre und in die Breite und Massenhaftigkeit der Bewegung in ihrer Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit als eine Lektüre der unter der neuen Pressefreiheit mächtig aufblühenden Zeitungen mit ihrer Fülle an Petitionen und „Eingesandts". Auch die Dorfzeitungen und kleinen Lokalblätter stehen in diesem Zeichen. Bis zum Eintritt der Märzereignisse im philiströsesten Kleinkram und privatesten Detail verkommend, sind es von da ab die an die Grundlagen der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung rührenden Probleme, die zur Diskussion stehen und unter leidenschaftlichster, intensivster wie extensivster, bis dahin unerhörter Anteilnahme sämtlicher Bevölkerungsschichten zur Erörterung gelangen. Von 1848 ab gibt es in Deutschland eine durch politische GesinnungsundParteiverbände, wirtschaftlichelnteressenorganisationen und soziale Gruppen vertretene „öffentliche Meinung"im Sinne der„öffentlichkeit der Meinimg" und der „Meinungen in der Öffentlichkeit". Für wissenschaftliche Muße und gelehrte Arbeit, soweit sie nicht direkt im Dienste der konkreten Wirklichkeit stand, war jetzt die Zeit vorbei. Wie die liberalen Professoren in Deutschland, so hat auch Haym, seinem Bildungsgange und seinen Bestrebungen nach schon damals zu ihnen gehörig, die Märztage mit Jubel durchlebt und als einen Aufruf zum praktischen Handeln verstanden. Es entspricht völlig einer damals weit über Preußen hinaus verbreiteten Stimmung und dem unentschieden hin und her schwankenden Meinungskampf jener Tage, wenn er sich am 16. März an dem Wunsche berauschte, den König von Preußen „im Sturme die Hegemonie über ganz Deutschland in die Hand nehmen zu sehen"1), um dann nach dem Ausbruch der Wiener, aber noch vor dem Eintritt der Berliner Revolution in jäher Wendung hoffnungsfroh zu verkünden: „Jetzt ist kein Schlagbaum mehr zwischen Österreich und dem übrigen Deutschland; eine einige, allgemeine, deutsche Entwicklung unserer Geschichte ist möglich geworden, und ich halte nichts mehr, auch ein deutsches Parlament im volkstümlichen Sinne, nicht mehr für unmöglich. Gott sei gedankt, daß wir diesen Tag erlebt haben; meine Hoffnung ist groß, daß er weiter helfen wird!" 2 ) 1

) Briefwechsel Hayms, S. 35. «) Ebda., S. 36



118



Und als es nun galt, aus dem Umsturz der Verhältnisse für sein persönliches Schicksal die Konsequenz zu ziehen, da wandte sich Haym an einen Mann, dessen nüchtern-utilitarische, ganz auf praktisches Handeln, Geschäftemachen und Machteroberung eingestellte Art seiner theoretisch-reflektierenden, von aristokratischem Bildungsstolz erfüllten, im moralisierenden Idealismus ihr Gehäuse findenden noblen Natur zwar wenig homogen war, den er aber gerade dieses ihm voll bewußten Gegensatzes wegen in seinen „Reden und Rednern des Ersten Vereinigten Landtags" in breit angelegter Charakteristik als die Verkörperung des gesunden Realismus eines neuen bürgerlichen Zeitalters gefeiert hatte: an David Hansemann, den Präsidenten der Aachener Handelskammer. Als einen „Gelehrten mit hervorstechendem Beruf zum politischen Schriftsteller"1) hatte Hansemann bereits im Oktober 1847 Haym bezeichnet. Auf die Aufforderung hin, unverzüglich zu ihm zu kommen, traf Haym am 24. März 1848 in Köln mit Hansemann zusammen, als dieser, von Machthunger getrieben und in der sicheren Erwartung, daß die Regierung ihn brauchen werde, grade im Begriff stand, nach Berlin abzureisen. Die Stellung des unpopulären Übergangsministeriums ArnimBoytzenburg war mittlerweile unhaltbar geworden. Das Versagen der altpreußischen Adelspartei in dieser Schicksalsstunde des preußischen Staates und die gegen das monarchische Prinzip mit unwiderstehlicher Gewalt sich wendende Volksbewegung verhalfen dem parlamentarisch-konstitutionellen Verfassungsprinzip zum vorläufigen Siege. An die Stelle des konservativen Beamtenministeriums trat am 29. März das Ministerium Camphausen-Hansemann, in dem der rheinische, bürgerlich-kapitalistische Liberalismus den Ton angab. Mit dem Einzüge Hansemanns in das preußische Finanzministerium erhielt Haym eine ähnliche Stellung, wie sie der junge Ägidi bei Alfred v. Auerswald, dem Minister des Innern, innehatte. Er wurde, nicht ohne inneres Widerstreben, zum halboffiziösen Sprachrohr des Ministers und zugleich damit betraut, diesem über den wichtigsten Inhalt der Tageszeitungen regelmäßig Bericht zu erstatten. In der am 1. April gegründeten „Nationalzeitung", die mit ihrer energisch vertretenen Forderung nach der „konstitutionellen Monarchie, gegründet auf die weitesten demokratischen Institutionen" keineswegs gewillt war, mit dem neuen Ministerium durch dick und dünn zu gehen, hat Haym, Aus meinem Leben, S. 173.

— 119 — Haym in einer Reihe von Aufsätzen zu der durch den Ministerweehsel entstandenen Lage Stellung genommen1). Bereits der erste dieser Aufsätze, der die Notwendigkeit des eingetretenen Ministerwechsels zu begründen und als einen Sieg des Volkswillens zu feiern unternimmt, schlägt die Töne an, die in der Folge die öffentliche Debatte beherrscht und einen Chor von Stimmen auf den Plan gerufen haben, deren rauschvolle Begeisterung und phrasenhafte Rhetorik nicht darüber hinwegtäuschen konnte, daß der Zeitpunkt gekommen war, wo der Stoß den Gegenstoß hervorrief und wo die robusten Interessen in ihrer unverhüllten Nacktheit offen zutage traten. Über das von Krone und altpreußischer Adelspartei vertretene legitimistische monarchische Prinzip hatte zunächst die parlamentarisch-konstitutionelle Rechtsstaatsidee des gebildeten und besitzenden Bürgertums triumphiert, aber drohend hatte sich bereits neben ihr die Idee der Sozialrevolutionären Demokratie erhoben, die in der kleinbürgerlichen, kleinbäuerlichen und proletarischen Volksmasse vielfach Eingang gefunden, aber auch einen Teil der Intellektuellen zum Vorkampf für politische Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit entflammt hatte. „Freiheit" und „Ordnung", so ruft Haym bei der Begrüßung des neuen Ministeriums aus, „diese zwei, welche nur eins sind, da ja jene das Errungene, diese die Sicherung des Errungenen ist", bezeichnen das Gebot der Stunde. Mit der Berufung der besten Kräfte der Opposition des Ersten Vereinigten Landtags in die Regierung hat die preußische Revolution ihren wünschenswertesten Abschluß erreicht und die feste Bahn der Reform und der gesetzlichen Fortentwicklung betreten. Nur zwei große Aufgabenkomplexe harren noch der Lösimg: die organische Ausbildung 1. 2. 3. 4.

Es handelt sich um die folgenden Aufsätze: Das neue Ministerium, Probenummer vom i . April. Die Haltung des Landtags in seiner ersten Sitzung, Nr. 5. Die Opposition des Herrn v. Vincke, Nr. 9. Die Rede des Herrn v. Vincke in der Schlußsitzung des Vereinigten Landtags, Nr. 13.

5. Schwächen des neuen Kabinetts, Nr. 19. 6. Der Wahlmodus, Nr. 23. Aus der für die gleiche Zeit bezeugten Mitarbeiterschaft Hayms bei der „Kölnischen Zeitung" rühren m. E. her die mit einem Stern bezeichneten Berliner Korrespondenzartikel vom 8., 10., 13., 17, und 22. April in Nr. 102, 104, 107, i n , 116. Von besonderen Stileigentümlichkeiten ganz abgesehen, die auf H a y m als Verfasser deuten, schließen sich diese Artikel ihrem Inhalt und ihren Gesichtspunkten nach auf das engste an seiüe Aufsätze in der „Nationalzeitung" an.



120



und Legalisierung der errungenen Rechte und Freiheiten auf dem Wege der konstitutionellen Reform und damit die Wiederaufrichtimg der Herrschaft des Gesetzes und der in ihren Grundlagen erschütterten Staatsgewalt, und auf der anderen Seite die rücksichtslose Abwehr aller über einen gemäßigten Konstitutionalismus hinausgehenden Bestrebungen, die das bereits Erreichte nur wieder in Frage stellen und der „Anarchie" Tür und Tor öffnen würden. Überaus charakteristisch für die Lage der Dinge, wie nun Haym in der Folge zur Verteidigung der von ihm im Schatten Hansemanns ergriffenen machtpolitischen Position in mannigfache, ihm selbst offenbar unbewußt bleibende Widersprüche sich verwickelnd, der juristischen Argumentation sich bedient und dabei einen an sich überaus fragwürdigen, von taktischen Erwägungen bestimmten, durchaus labilen Legalitätsbegriff entwickelt, der als Funktion eines machtpolitischen Stabilisierungsdranges jedoch einen bedeutsamen praktischen Sinn gewinnt. Von dem zweiten Vereinigten Landtag fordert er „die freie Hingebung an die Errungenschaft der Revolution", zugleich aber „im Namen der Ordnung und Gesetzlichkeit" die „höchste Rücksicht auf seine eigene faktisch noch bestehende Verfassung"1). Gegen die „Theoretiker", die „Formalisten", die „Pedanten des Rechtes", gegen die doktrinären Verfechter des „Rechtsbodens" sich wendend, pocht er auf das „Recht der Geschichte" und das „Gesetz der Entwicklung", das über „die Syllogismen der Juristen" und das Paragraphenrecht eines geschriebenen Gesetzes sich erhebe: „Auch das Volk erläßt seine Patente und ist das Konzept derselben auch bisweilen mit Blut geschrieben"2). In gleichem Atemzuge fordert er, unter Hinweis auf das in Aussicht gestellte und durch die Existenz des gegenwärtigen Ministeriums angeblich bereits gesicherte konstitutionelle Recht, den über seine eigene Rechtslage ungewissen Landtag zu einem unbedingten Vertrauensvotum für die Anleiheforderung des Ministeriums Hansemann auf — „zum Schutze der Monarchie", zur „Wiederherstellung des Kredits" und zur „Aufrechthaltung der Industrie". War für den Ersten Vereinigten Landtag der Kampf um den Rechtsboden „der archimedische Punkt, um die Welt des alten Systems zu bewegen", gegenwärtig wird ein Streit tun Rechtsfragen und Rechtsdeduktionen zur schweren Gefahr: „Ist das Recht 'verletzt, so werde das Recht rekonstruiert: ist Nationalzeitung, Nr. 5. ») Ebda., Nr. 9.



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unsere Existenz in Gefahr, so sorge man allererst, daß wir existieren!" 1 ) Nur so, das ist der unausgesprochene Sinn dieser Forderung, kann sich die konstitutionell-liberale Partei als Regierungspartei erhalten, einem Wiedererstarken der konservativfeudalreaktionären Kräfte die Spitze abbrechen und andererseits und vor allem die „Anarchie", das heißt die demokratische, von sozialen Erneuerungswünschen mit getragene revolutionäre Massenbewegung aus eigener Kraft zum Scheitern bringen. Im Zeichen dieser Auffassung steht nun auch derjenige, ganz offensichtlich von Hansemann inspirierte Aufsatz Hayms, der am 18. April, also an dem gleichen Tage geschrieben ist, an dem Hansemann sein Entlassungsgesuch einreichte2), Hansemann, der zum Handeln und zur Machtbehauptung entschlossene Mann des vertrauensseligen, in unentschiedener Halbheit dahintaumelnden, auf den aufrichtigen Gesinnungswandel des Königs sich verlassenden Ministeriums, das vor einer rücksichtslosen Ausbeutimg der durch die augenblickliche Schwäche der Krone sich darbietenden Chance zurückschreckte. Unter Hinweis auf die innere Zerrüttung und die nach Konzentration der Kräfte verlangende gefahrdrohende außenpolitische Lage griff Haym in seinem Artikel vom 18. April in scharfer Form unter dem Titel „Schwächen des neuen Kabinetts" den Innenminister und den Kriegsminister an und beschuldigte sie „eines gefährlichen Temporisierens und eines bedauerlichen Mangels an Tatkraft" 3 ), forderte er rasche Erfüllung der „berechtigten" Forderungen der Revolution, damit mit um so gesammelterer Kraft den „imberechtigten" entgegengetreten werden könne. Stärkung der exekutiven Staatsgewalt, Entfernung mißliebiger Beamter, Reinigung der Bürokratie, Umgestaltung der neu erstandenen Gewalten zu „Organen der Ordnung", Inangriffnahme der Institutionenreform, insbesondere eine durchgreifende Reorganisation des gesamten Militärwesens und eine „Popularisierung der Landwehr in dem demokratischen Geiste, aus welchem sie entsprungen", bezeichnete er als die am nächsten liegenden Maßnahmen, die mit Mut und Kühnheit, rasch zupackender Energie und entschlossener Handlungsbereitschaft unverzüglich zu ergreifen seien. Gelinge es nicht den starken Persönlichkeiten unter den Mitgliedern des Ministeriums, ihren Willen durchzusetzen und dem Geiste energischen Handelns zum Siege zu verEbda., Nr. 9. *) Vgl. A. Bergengrün, David Hansemann, 1901, S. 457. l ) Nationalzeitung, Nr. 19.



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helfen, dann bleibe nur noch eine Wahl übrig: sich den Schwachen zu beugen oder zu demissionieren. „Wir haben entweder ein schwaches oder wir haben gar kein K a b i n e t t ! " Mit dieser schwungvollen, auf machtpolitische Ausnutzung der Situationschance bedachten Wendung schloß der Aufsatz Hayms. In dem Streit um die Wahlrechtsfrage hat Haym ein letztesmal als publizistischer Adjudant Hansemanns und damit zugleich als Exponent der herrschenden Machtgruppe seine Stimme erhoben1). Wie die führenden rheinischen Liberalen und seine Gesinnungsgenossen aus dem „Konstitutionellen Klub" in Halle lehnte Haym das allgemeine gleiche Wahlrecht wegen seiner demokratischen Konsequenzen grundsätzlich ab2). Als nun aber unter dem Druck der Volksversammlungen und des Adressensturmes das preußische Ministerium das allgemeine Wahlrecht in sein Aktionsprogramm aufnehmen mußte3), da hat er der veränderten Lage dadurch Rechnung zu tragen gesucht, daß er, ganz im Sinne des Ministeriums, sich zum Anwalt des indirekten Wahlmodus machte. Von der konservativen, der Vormachtstellung der gebildeten und besitzenden Schichten zugute kommenden Wirkung dieses Wahlmodus überzeugt, trat er in ausführlicher Polemik den Verfechtern der direkten Wahlart entgegen. In etwas plumper, das wahre Ziel nur schlecht verhüllender Weise den Spieß gegen sie umkehrend, gipfelte seine Argumentation, die den Verfassungsstaat nach englischem Muster als das für Preußen-Deutschland gegebene Vorbild hinstellte, ohne das Wesen dieser Verfassung näher zu umschreiben, in der grotesken, fadenscheinig begründeten Behauptung, daß gerade direkte Wahlen das Gefürchtete und sittlich Korrumpierende im Gefolge haben würden: „die Wahl der Besitzenden und die Herrschaft der Kapitalisten". Hatte Haym in diesem wie in seinen früheren Aufsätzen aus ehrlicher Überzeugung heraus für Hansemann und seine Politik Partei ergriffen, so hatte er sich doch in Wahrheit, ohne daß es ihm recht bewußt geworden wäre, dazu mißbrauchen lassen, den von sozialem Klassenbewußtsein und einem robusten Herrschafts*) Nationalzeitung, 23. 4. 48, Nr. 23. ) Innerhalb der verfassungstheoretischen Literatur des Vormärz findet sich die Forderung nach dem allgemeinen gleichen Wahlrecht nur bei den Vertretern des demokratischen Radikalismus. Einzelnachweise bei Johanna Philippson, Über den Ursprung und die Einführung des allgem. gleichen Wahlrechts in Deutschland, 19x3, S. 7 ff. s ) Vgl. Hans Mähl, Die Überleitung Preußens in das konstitutionelle System, 1909, S. 108 ff. 2

— 123 — drang getragenen Machtbestrebungen Hansemanns die ideologische und ethische Legitimation zu liefern. Bei allem heißen Willen, sich unter Hansemanns Führung zum „Realisten" heranzubilden und so an seinem Teile der neuen Geschichtsepoche seinen Tribut zu zahlen, fühlte er sich doch bei den hohen Vorstellungen, die er mit dem Begriffe der geistigen Freiheit und Schriftstellerwürde und mit der Idee des bürgerlichen Rechtsstaates verband, von den machiavellistischen sowohl wie den krämerhaften Zügen im Wesen Hansemanns, bei aller Hochachtung vor dessen staatsmännischen Fähigkeiten, zunehmend abgestoßen. Wie Hansemann so erstrebte zwar auch Haym den auf Bildung und Besitz sich aufbauenden bürgerlichen Rechtsstaat, aber aus einer grundlegend verschiedenen, aus einer spezifisch „idealistischen" und nicht, wie Hansemann, aus einer kapitalistischen Bourgeoisgesinnung heraus. Sein Ideal war nicht die unter dem Visier des Staatsinteresses kämpfende Vorherrschaft einer Klasse, die, wissentlich oder unwissentlich, darauf hinausläuft, die Rechtsstaatsdoktrin rücksichtslos in den Dienst ihrer Partei- und Klasseninteressen zu stellen. Sein Ideal vielmehr war die Vormachtstellung der verantwortungsbewußten, um sachliche Neutralität und Ausgleich der Gegensätze und Interessen bemühten, als eine wirkliche Volksvertretung und als geläuterten Volkswillen sich fühlenden geistigen und wirtschaftlichen Aristokratie des Landes. Ausgehend von der für das liberale Staatsdenken des 19. Jahrhunderts grundlegenden Fiktion einer Trennung von Staat und Gesellschaft, von der Fiktion einer über Partei und sozialer Klasse sich erhebenden objektiven Staatspolitik und von dem Glauben an die Volksgemeinschaft, die politische Volkseinheit und Interessensolidarität aller Gemeinschaftsglieder, die durch die Gebildeten und Besitzenden zur sinnvoll geläuterten Repräsentation gelange, konnte diese Staatsanschauimg, die den Staat als Persönlichkeit und als Verwirklichung der sittlichen Idee und nur in bedingtem Maße als einen von Menschen geschaffenen und von Parteien getragenen reinen Zweckverband und Machtapparat auffaßte und ihn als „Höheren Dritten" 1 ) dem Dilemma von Fürsten- und Volkssouveränität gegenüberstellte, nur in einer Zeit auf allgemeinere Resonanz hoffen, „in welcher der Besitz noch gebildet und die Bildung noch besitzend war" 2 ). Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 1932, S. 30. ") H. Heller, Rechtsstaat oder Diktatur ? Die Neue Rundschau, Dezember 1929, S. 724. Vgl. auch Alfred Weber, Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, 1925, S. 62 f.

— 124 — Der peinlichen Zweideutigkeit seiner Stellung bei Hansemann, des Gegensatzes von Bildungsliberalismus und kapitalistischem Bourgeoisliberalismus und der mit diesem Gegensatze verbundenen Gefährdung seiner inneren Freiheit ist sich Haym immerhin allmählich dunkel bewußt geworden. Mit beiden Händen hat er daher sofort zugegriffen, als ihm von Freunden in Halle gemeldet wurde, daß der Mansfelder See- und Gebirgskreis, dem er durch sein Auftreten in den Halleschen Traubeversammlungen und durch seine „Reden und Redner" bereits näher bekannt war, auf Dunckers Anregung hin seine Kandidatur für die deutsche Nationalversammlung wünsche. Bei den etwas naivillusionären, weltfremden Vorstellungen, die man damals mit dem Begriffe der parlamentarischen Tätigkeit vielfach zu verbindeh pflegte, und bei dem starken idealistischen Einschlag, der die nationale Einheitsbewegung von den einzelstaatlichen Verfassungsbewegungen von vornherein deutlich unterschied und dem Frankfurter Parlament vor den Länderparlamenten ein besonderes Ansehen gab, durfte er sich in der Erwartimg wiegen, daß das Forum der Nationalversammlung der gegebene Ort sei, um hier als freier, unabhängiger, nur seinem Gewissen verantwortlicher Mann für seine philosophisch fundierten politisch-weltanschaulichen Ideale und freiheitlich-nationalen Träume in die Schranken zu treten. Wie es der Gepflogenheit der Zeit entsprach, die einen straff organisierten Partei- und einen zentral dirigierten Wahlapparat noch nicht kannte und die demgemäß auf den engen persönlichen Kontakt, auf das persönliche Vertrauensverhältnis zwischen Wählerschaft und Wahlkandidat entscheidendes Gewicht legte, hat Haym die Grundzüge seines politischen Glaubensbekenntnisses in einem als Flugblatt gedruckten Aufruf näher entwickelt, den er in glänzendem, von innerem Ergriffensein durchleuchteten Stil unter dem Datum des i. Mai an die Wahlmänner der Mansfelder Kreise richtete1). Bei der elastischen Allgemeinheit der Formeln, die diesem Aufruf das Gepräge geben, erscheint er, isoliert betrachtet, demokratischer, als er in Wirklichkeit gemeint war. Aus dem Gesamtzusammenhang von Hayms politischem Denken und Fühlen heraus betrachtet, erweist sich der Geist dieses Aufrufes jedoch als durchaus undemokratisch. Auch der Hauptpunkt des Programms, die für Preußen und den nationalen Gesamtstaat postulierte „konstitutionelle Monarchie auf breitester und aufrichtig demokratiAbgedruckt in Hayms Briefwechsel, S. 36 ff.

— 125 — scher Grundlage", vermag darüber nicht hinwegzutäuschen. Bei dem energischen Ruck nach links, den beinahe der gesamte konstitutionelle Liberalismus Deutschlands seit den Märztagen vollzogen hatte und unter dem Eindrucke der Volksbewegung vollziehen mußte, um nicht den Wind aus den Segeln zu verlieren, war „die konstitutionelle Monarchie auf demokratischer Grundlage" zum allgemeinen Schlagwort geworden. Haym hat diese Formel einfach übernommen, ohne dabei auch nur im entferntesten eine Konzession an den Geist der sozialen oder auch nur der politischen Massendemokratie im Sinne zu haben. Wohl aber hatte er damit die damals plötzlich und unvermittelt auftretende Forderung nach parlamentarischer Regierungsform in sein Aktionsprogramm aufgenommen. Im übrigen aber hielt er nach wie vor an den Grundzügen des Dahlmannschen Verfassungskatechismus, an dem Ideale der konstitutionellen Monarchie fest, die er sich sowohl als den Hort einer starken Staatsgewalt wie der im liberalen Sinne verstandenen Volksfreiheit und deren Funktionieren in der Praxis er sich nach dem legendären, angeblich von harmonischem Kräfteausgleich gekennzeichneten Bilde des englischen Verfassungslebens vorstellte1). Es war eine bloße Form mit noch zu erfüllendem konkreten Inhalt, es war eine Monarchie, gegründet auf die Vormacht von „Bildung und Besitz" als den nach seiner Meinimg durch die Natur der Dinge und das objektive Staatsinteresse gegebenen Repräsentanten des Volkes. Eine derartige Monarchie demokratisch zu nennen, obwohl sie nicht demokratisch war, ließ sich rechtfertigen in einer Zeit, in der die politische Begriffsbildung verworren und unklar war und in der die verschiedenen, unter der einheitlichen Flagge der „konstitutionellen Monarchie auf demokratischer Grundlage" segelnden, sich bereits deutlich voneinander abzeichnenden sozialen und politischen Gruppen noch nicht in einen scharfen Parteigegensatz zueinander getreten waren und noch ein Interesse daran hatten, gegen den niedergeworfenen, aber keineswegs vernichteten absolutistischen Militär- und Beamtenstaat sowohl wie gegen den republikanischen Radikalismus gemeinsam Front zu machen. Und um so mehr konnte sich der gemäßigte Liberalismus der zweideutigen Forderung nach der demokratisch-konstitutionellen Monarchie anschließen, als er hoffen zu dürfen glaubte, mit diesem Zugeständnis an Volksstimmung und Zeitgeist bei den Wahlen für die preußische *) Die Entstehung und Ausprägung dieser Legende im einzelnen behandelt Theodor Wilhelm, Die englische Verfassung und der vormärzliche deutsche Liberalismus, 1929. Zur Ergänzung vgl. noch H. Christern, Dahlmanns politische Entwicklung bis 1848, 1921.



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und deutsche Nationalversammlung die Oberhand zu gewinnen und damit die Geschicke der Zukunft in seine Hand zu bringen. In diesem Sinne war auch Haym zu Konzessionen bereit, hat er Konzessionen gemacht und sich auch nicht gescheut, mit einigen unverbindlichen Worten auf die Verbesserungsbedürftigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse „nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit" hinzuweisen. Da er aber nicht der Mann war, der im gegebenen Falle die Taktik über den Grundsatz stellte, so hat er die Forderung „nach möglichst unbeschränkter Wahl", die er in seinem Wahlaufruf erhoben hatte, auf den Wunsch seiner Wähler hin in einer seiner in Eisleben gehaltenen Wahlreden mit der ihm zeitlebens eigentümlichen persönlichen Redlichkeit und Mannhaftigkeit frei und offen dahin erläutert, daß er nach wie vor an dem indirekten Wahlmodus festhalte. Verzichtete er auch ausdrücklich — und bei der ungeklärten Lage der Dinge mit gutem Recht — auf eine allzu dogmatischdoktrinäre Festlegung von politischen Einzelfragen, deren Lösung je nach dem Gange der Entwicklung eine verschiedene sein müsse, gab er auch in seinen Wahlreden die ausdrückliche Versicherung ab, daß er sich lediglich als Vertrauensmann seiner Wähler betrachten, als Abgeordneter lediglich nach seiner persönlichen Uberzeugung stimmen werde und demgemäß den Gedanken eines imperativen Mandates entschieden ablehnen müsse, so hielt er es doch für seine Pflicht, in seinem gedruckten Wahlaufruf einige konkrete Leitsätze für die Begründung des deutschen Nationalstaates zu entwickeln. Dieser Teil seines Programmes lehnt sich eng an den „Entwurf des deutschen Reichsgrundgesetzes" durch die siebzehn Vertrauensmänner am Bundestage an, insbesondere an das Dahlmannsche Vorwort zu diesem Entwurf, gipfelt also in der Forderung nach dem deutschen Bundesstaat mit einem womöglich erblich und ein für allemal gewählten Reichsoberhaupt, dem ein aus Volkswahlen hervorgehendes Nationalparlament und ein Staatenhaus zur Seite zu treten habe. Die preußische und die deutsche Revolutionsbewegung als eine Parallelerscheinung auffassend, in diesem Augenblick noch ohne deutliche Vorstellung von den schweren Konflikten und robusten Machtkämpfen, die sich aus dem gleichzeitig auftretenden Drang nach dem deutschen, dem preußischen und österreichischen Verfassungsstaat, aus der Konkurrenz der Parlamente und dem Widerstreit der Interessen notwendig ergeben mußten, glaubte er an ein Gelingen des neuen Staatsbaues nach diesem Plane.

— 127 — Die mit der Freiheits- und Einheitsbewegung Hand in Hand gehende, einen Keil in die Nation hineintreibende Entfesselung der sozialen Kräfte und des im Volksgefühl verwurzelten partikularistischen Sondergeistes unterschätzend, ohne klare Erkenntnis der dem deutschen Einigungswerke von außen drohenden Gefahren, ohne Einsicht in das komplizierte Spiel der europäischen Politik, in der Überzeugung, daß es sich bei der Lösung der deutschen Frage weniger um eine europäische Macht-, als vielmehr um eine innere Verfassungsfrage handle, war er in seinem unerschütterlichen Vertrauen auf die alles überwältigende, staatsschöpferische Schwungkraft der liberal-nationalen Idee davon überzeugt, daß diese Idee alle anderen in sich einbeziehen, daß Preußen sich als Vormacht in den zu begründenden nationalen Bundesstaat harmonisch einfügen und daß die als gewiß vorausgesetzte „begeisternde Hingebung des Volkes an die Größe des Gesamtvaterlandes" ausreichen werde, um den Streit der Dynastien, den Widerstand der dynastisch-obrigkeitlichen Gewalten und der in ihren Händen befindlichen kompakten Macht in der Einmütigkeit der Stämme zum Erlöschen zu bringen. E s ist ein Signal der kommenden Reibungen und Kämpfe, daß Haym selbst in diesem Augenblick illusionsbegeisterter Hochspannung von seinem ausgeprägten, ihn mit Stolz erfüllenden preußischen Staatsbewußtsein sich nicht völlig frei zu machen vermochte. „ E s versteht sich", so erklärte er angelegentlich der Erörterung der Reichsoberhauptsfrage in seinem Wahlaufruf, „daß die Blicke aller Preußen sich dabei auf das Haus Hohenzollern richten". Vor einem kleinen Teile seiner Urwähler hat Haym sein Wahlprogramm am 5. Mai in freier Rede näher erläutert. Mehrfach hat er dann noch in den vorberatenden Wahlmännerversammlungen, die sich fast ausschließlich aus Akademikern und Besitzbürgern zusammensetzten, das Wort ergriffen. Zum letztenmal in Eisleben am W ahltage selbst, am Morgen des 10. Mai. Im unmittelbaren Anschluß an seine Rede schritten die Wahlmänner zur Wahl, aus der Haym mit starker Majorität hervorging. Nach vollzogener Wahlhandlung konstituierten die Wahlmänner aus ihren Reihen ein Komitee für den Mansfelder See- und Gebirgskreis, das sich in der Folge alle acht Tage versammelte, um Petitionen aus den Kreisen anzunehmen, zu prüfen, weiterzubefördern und um die Mitteilungen und Berichte des Deputierten in die beiden Kreise zu vermitteln 1 ). *) Hierzu die bereits auch für das Vorgehende benutzte, vom 20. April bis 14. Mai in Eisleben erschienene „Wahlzeitung ftlrden Mansfelder Seekreis" (im Besitz des Vereins für Geschichte der Grafschaft Mansfeld in Eisleben).



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Das verwirrende und neuartige Getriebe, in das sich die Abgeordneten der deutschen Nationalversammlung nach der Eröffnungssitzung am 18. Mai hineingestellt sahen, die fehlende Vertrautheit mit der parlamentarischen Technik und den praktisch-politischen Geschäften, die mangelnde Fähigkeit, aus dem gewohnten Lebens- und Ideenkreis herauszutreten und sich auf die neue, wahrhaft unvergleichliche Aufgabe, auf die Taktik und Strategie der Revolution radikal umzustellen, das Überwiegen der Gelehrten und der Ideologen, der Rechtsformalisten und der Prinzipienreiter, haben aus der in Frankfurt vereinigten geistigen Elite der Nation nur verschwindend Wenige zu politischem Führertum und nur einen kleinen Kreis zu intensiver politischer Wirksamkeit emporsteigen lassen, eine für heutige Begriffe beträchtliche Anzahl dagegen zu einem praktisch völlig wirkungslosen parlamentarischen Einspännertum verurteilt. Wie es in der Natur der Umstände lag, folgte die große Majorität der Versammlung, nachdem die ersten, mit Formalien und Präliminarien angefüllten Wochen vorüber waren und die der Lösung harrenden konkreten politischen Probleme die Parteigegensätze abgezeichnet, die Fraktionsbildung gefördert und damit erst ein parlamentarisches Arbeiten möglich gemacht hatten, den Wenigen, die durch ihr Auftreten, ihre Geschäftskenntnis und ihre überlegene Willensenergie die Führung an sich gerissen hatten. Trotz seiner Jugend, seiner Unerfahrenheit, seines vorwiegend philosophischen Bildungsganges und seiner im Grunde unpolitischen Natur hat sich Haym, zum Dienen und zum Unterordnen bereit, in seinen parlamentarischen Flitterwochen erstaunlich schnell in die neue Atmosphäre eingelebt. Durchaus bescheiden, äußerlich unscheinbar, beinahe unsichtbar war die Stellung, die er in dieser Kapazitäten- und Honorationenversammlung einnahm. Ein unermüdlich fleißiger, verantwortungsbewußter Besucher der Parlamentssitzungen, ein in den Gesamtrahmen sich willig einfügender, im Hintergrunde sich haltender lernbegieriger und scharfer Beobachter, ist er im Plenum nur ein einzigesmal und auch da nur mit höchst zweifelhaftem Erfolge als Redner hervorgetreten1). Erst allmählich ist es ihm gelungen, sich bei den Vorberatungen der Abteilungen, der Ausschüsse, der Klubs lind der Fraktionen stärker zur Geltung zu bringen und hier durch x

) Der Abg. G. M. Hallbauer bemerkt in seinem Tagebuch zu diesem Auftreten: „Haym (interessantes geistiges Gesicht, Verfasser des Berichts über das rechte Zentrum) spricht höchst befangen, bleibt teilweise stecken. (Verhöhnung auf der Linken)". L. Bergsträßer, Das Frankfurter Parlament in Briefen und Tagebüchern, 1929, S. 221.

— 129 — Eingreifen in die Debatte und Stellen von Anträgen eine Initiative zu entfalten, die von der Eigenwilligkeit seines Denkens und Wollens Zeugnis ablegt, hie und da auch zur Klärung der Probleme und politischen Entscheidungen ein wenig beigetragen, das Zustandekommen der endgültigen Beschlüsse jedoch nirgendwo maßgeblich mitbestimmt hat. Wenn wir nun trotz des im Grunde belanglosen Anteils, den Haym im Kampfe der praktischen Politik damals gehabt hat, ihn durch das wechselvolle Auf und Ab der Frankfurter Parlamentsgeschichte begleiten und seine Stellungnahme zu den die Nationalversammlung bewegenden politischen Hauptproblemen, soweit sie ihn persönlich erregten, aus dem politisch-historischen Gesamtzusammenhang heraus näher zu erläutern suchen, so geschieht dies weniger seiner individuellen Persönlichkeit, als vielmehr seines typischen Repräsentantencharakters wegen. Denn es ist von allgemeinerem historischen Interesse zu verfolgen, wie ein Mann, genährt von dem besten deutschen Bildungsgut, bis in das Innerste seines Wesens hinein erfüllt von den Ideen des „klassischen", in dem Erbe des deutschen Idealismus verwurzelten Liberalismus der deutschen Bildungsaristokratie, wie dieser von den Strömungen der Zeit ergriffene Mann von bestem politischem Wollen und schwachem politischem Können als Repräsentant einer für das politische Denken und die politische Willensbildung des deutschen Bürgertums entscheidenden Kulturschicht die geschichtliche Probe bestanden, wie er eine Versöhnving von Geist und Staat versucht, wie er die Geschichte seiner Zeit war nicht mitgemacht, sondern erlebt, wie er sie nicht eigentlich mitgestaltet, sondern gedeutet und schließlich, seiner eigentlichen Begabimg und seinem Rechenschaft fordernden Gewissen folgend, mit der Gestaltungskraft des schöpferischen Schriftstellers in einem von ehrlichem sittlichen Pathos und enthusiastischer Anteilnahme erfüllten Gesamtbilde festgehalten hat, daß trotz aller Mängel und Einseitigkeiten seinen Namen dauernder mit der Geschichte des deutschen Einigungswerkes verknüpft, als er bei den seiner Natur gesteckten Grenzen durch eine ausgedehntere praktisch-politische Tätigkeit je hätte erreichen können1). x)

Der folgenden Darstellung liegen neben den allgemein bekannten und

zugänglichen Quellen zur Geschichte der Frankfurter Nationalversammlung und neben dem von mir in Hayms „Briefwechsel" zum Abdruck gebrachten Material vornehmlich zugrunde: 30 bisher unbekannte ausführliche Berichte und Aufrufe Hayms an seine Wähler, die 1848/49 gedruckt worden sind in dem Wochenblatt für den Mansfelder Gebirgskreis (Hettstädt), in dem Bergboten, Wochenblatt (später Tageblatt) für Unterhaltung und BeBeiheft d. H. Z. 31

g

— 130 — Bereits die ersten, im Rechtsformalienstreit sich verlierenden Verhandlungen der Nationalversammlung haben den Beweis geliefert, daß die der Organisation noch völlig entbehrenden gemäßigten Mittelgruppen und nicht die Extreme auf der Linken und Rechten das Gepräge der Versammlung bestimmen würden. In voller Schärfe war gleich zu Anfang der Hader um Aufgabenkreis, Machtkompetenz und Rechtsboden der Nationalversammlung entbrannt. Dem Gegensatz zwischen der Vereinbarungstheorie und dem Prinzip der Volkssouveränität hatte Gagern, der neu gewählte Präsident, dadurch die Spitze abgebrochen, daß er, vom Begriff der staatsrechtlichen Einheit der Nation und der formalistischen Gewaltenteilungslehre ausgehend, die Rechtsauffassung des Vorparlamentes akzeptierend, in seiner Antrittsrede das Prinzip der „Nationalsouveränität" proklamierte und der Nationalversammlung den Beruf und die Vollmacht zuschrieb, kraft ihrer konstituierenden Gewalt eine Verfassung und ein Deutsches Reich zu schaffen, „regiert vom Willen des Vojkes, unter Mitwirkimg aller seiner Gliederungen", auch der Staatenregierungen. Wie von der überwältigenden Majorität der Versammlung so ist auch von Haym diese Rede Gagerns als das erlösende W ort empfunden worden, ohne daß er sich klar darüber war, daß Gagem mit seiner Auffassung die bestehenden Gegensätze und Spannungen zwar im Augenblick vermittelte, die politische Entscheidung jedoch, auf die es ankam, nicht löste, sondern nur vertagte. Zu einer eindeutigeren Festlegung des konstituierenden und damit übergreifenden Rechtes der Nationalversammlung kam es wenige Tage später durch den Antrag Raveaux', „daß es denjenigen Mitgliedern, welche in Preußen zugleich Mitglieder des Landtages und der Nationalversammlung sind, freistehen solle, beide Wahlen lehrung (Eisleben), in dem Volksblatt für die Grafschaft Mansfeld (Eisleben), in dem Konstitutionellen Bürgerblatt für Stadt und Land (Halle). Es handelt sich hier um überaus seltene Zeitungen, für deren Zugänglichmachung ich der Mansfeld A. G. für Bergbau und Hüttenbetrieb, der Bibliothek der Marienkirche in Halle und dem Verein für Geschichte und Altertümer der Grafschaft Mansfeld zu danken habe. Neben einer Reihe von ungedruckt gebliebenen Briefen Hayms sind dann noch von Bedeutung Hayms anonyme Beiträge zur C. P. C., der sog. Zentralparlamentskorrespondenz. Leider hat sich nur für die Nr. i, 14, 132 (Beilage), 136, 141, 142 und 149 seine Autorschaft mit völliger Sicherheit feststellen lassen. Ein vollständiges Exemplar der C. P . C. im Besitz von Herrn Prof. L. Bergsträßer ist mir von diesem freundlicherweise zur Verfügung gestellt worden. Ein annähernd vollständiges Exemplar befindet sich in der Univ.-Bibl. Göttingen.

— 131 — anzunehmen". Wie sofort von der Versammlung erkannt und durch zahlreiche Anträge und Amendements zum Ausdruck gebracht worden ist, schloß dieser scheinbar rein formale Antrag die prinzipielle, hochpolitische Entscheidung in sich über das Verhältnis der deutschen Nationalversammlung zu den konstituierenden Versammlungen der Einzelstaaten, insbesondere über die Stellung Preußens zu Deutschland. Haym hat zu dieser Frage, den Einheitsgedanken über alles andere stellend, klar und präzis Stellung genommen, und er hatte die Genugtuung, daß der von ihm mitunterzeichnete und am 22. März mit eingebrachte Antrag — „Die deutsche Nationalversammlung, als das aus dem Willen und den Wahlen der ganzen Nation hervorgegangene Organ zur Gründung der Einheit Deutschlands, erklärt: daß sie alle Beschlüsse, welche von konstituierenden Versammlungen einzelner Staaten Deutschlands etwa gefaßt werden möchten, nur nach Maßgabe des für das gesamte Deutschland zu gründenden Verfassungswerkes als gültig betrachten wird"1) — in einer nur dem Wortlaut nach veränderten Fassung als Antrag Werner von der Nationalversammlung fast einstimmig zum Beschluß erhoben wurde2). Hatte die Stellungnahme der Nationalversammlung zu der Frage ihrer eigenen Machtkompetenz und zu ihrer Stellung gegenüber den einzelstaatlichen Parlamenten sie bisher als eine verhältnismäßig geschlossene, kompromißbereite Einheit erscheinen lassen, so begannen die Parteigegensätze in ihrer vollen Schärfe sich voneinander abzuzeichnen, als das Problem der Einführung einer provisorischen Zentralgewalt für Deutschland auf die Tagesordnung erhoben wurde. Im Verlaufe der Verhandlungen über die Zentralgewalt hat sich die Sonderung der Parteien und mit ihr, nach zahlreichen vorberatenden Versammlungen, die Fraktionsbildung vollzogen. Der Konstituierimg der extremen Parteien, der demokratischen Linken und der äußersten Rechten, folgte der organisatorische Zusammenschluß der gemäßigten Mittelgruppen. Sie schieden sich, je nach ihrer Stellung zu den Flügelparteien, in ein „linkes" und ein „rechtes Zentrum", womit jedoch, da es sich hier um reine Beziehungsbegriffe handelt, über Inhalt und Ziel ihres politischen Wollens noch nichts ausgesagt war. Wie die Nationalversammlung bei den erregten Debatten über die zu schaffende Zentralgewalt zunächst noch zwischen den Stenograph. Bericht über die Verhandlungen der Konstit. Nationalversammlung zu Frankfurt, hrsg. von Wigard, X, 40. *) Vgl. Jürgens, Zur Geschichte des deutschen Verfassungswerkes, I, 126;

9*

— 132 — verschiedenartigsten Projekten und Vorschlägen unsicher hin- und herschwankte und sich in eine Diskussion einließ, die ins Uferlose abzuschweifen drohte, bis endlich Gagern seinen „kühnen Griff" wagte, so hat auch Haym erst im weiteren Verlaufe der Verhandlungen Klarheit über die zu ergreifenden Maßnahmen gewonnen. In der einmütigen Überzeugung, daß die Begründung einer provisorischen Zentralgewalt notwendig und unaufschiebbar sei, war die Nationalversammlung in diese Verhandlungen eingetreten. Aber bereits die Ausschußberatungen und die ersten Reden zur Tagesordnung hatten erkennen lassen, daß der zwischen den politischen Interessen und Doktrinen bestehende Gegensatz zu stark und der Hader um das „richtige" politische Denken zu heftig war, um einen einmütigen Beschluß möglich zu machen. Der Streit um den Ursprung, die Zusammensetzung, den Aufgabenkreis und Machtbereich der Zentralgewalt, um ihr Verhältnis zum deutschen Parlament und zu den deutschen Regierungen wurde von epochemachender Bedeutung für die Paulskirche, indem er den vorübergehend suspendierten Prinzipienkampf um das konstituierende Recht der Nationalversammlung erneut, aber nunmehr bis in seine letzte Konsequenz aufflammen und die bestehenden Machtfaktoren und Parteiströmungen in unverhüllter Gestalt hervortreten Heß. Der um Ausgleich der Gegensätze bemühte Ausschußantrag, der die Grundlage für die ganze Debatte bildete, suchte diesen Machtverhältnissen dadurch gerecht zu werden, daß er die Bildung eines dreiköpfigen Bundesdirektoriums vorschlug, dessen Mitglieder von den deutschen Regierungen bezeichnet und, nachdem die Nationalversammlung durch einfache Abstimmung ohne Diskussion ihre Zustimmung gegeben haben wird, von denselben ernannt werden sollten. Haym gehörte zu den Wenigen, die, trotz anfänglicher Bedenken, bis zuletzt an diesem Vorschlage festgehalten haben. Prinzipiell gewiß war ihm, „daß auf alle Fälle hier wie überhaupt die Nationalversammlung mit den Regierungen zusammengehen muß. Sodann dies, daß die zu errichtende Gewalt weder ausschließlich in Bedientenstellung zur Nationalversammlung stehen, noch andrerseits einen selbständigen und unnahbaren Platz über der Nationalversammlung einnehmen darf" 1 ). Er hatte die Absicht, für die Durchsetzung des Triasplanes auch von der Tribüne herab in die Schranken zu treten, und er war aus realpolitischen Erwägungen um so mehr dazu entschlossen, als Hansemann, der ihn nach wie vor als seinen Ver!) H a y m an Hansemann, 6. 6. 48.

Hayms Briefwechsel, S. 44.

— 133 — trauensmann betrachtete und durch ihn auf die preußischen Abgeordneten in Frankfurt zu wirken bemüht war, ihm mehrfach die eindringliche Weisung hatte zugehen lassen, im Interesse der von der Nationalversammlung vernachlässigten Machtstellung des preußischen Staates nur ja an dem Triasgedanken, womöglich in der Form eines Fürstentriumvirates, festzuhalten1). Die über die Köpfe der einzelnen hinweg sich vollziehende Metamorphose der Stimmungen und Überzeugungen, die sich zunächst in den hin- und herfluktuierenden vorberatenden Versammlungen und dann im Plenum selbst vollzog, jene seltsame, noch heute nicht völlig geklärte Komplikation von unklaren Meinungen, Neigungen und Einflüssen, die den Vorschlag des Dreimännerdirektoriums vereitelte und dem Gedanken der Reichsverweserschaft in der Gestalt der Monas schließlich zum Siege verhalf2), hat Haym nicht mehr zu Worte kommen lassen. Er mußte sich schließlich sagen, daß es der überwältigenden Majorität der Nationalversammlung gegenüber zwecklos sei, in prinzipientreuem Eigensinn für seine Überzeugung einzutreten, die sich zwar durch politischen Geist auszeichnete und den gegebenen Machtverhältnissen weit mehr als die entgegenstehenden Meinungen und Bestrebungen gerecht wurde, Aussicht auf praktische Realisierung jedoch nicht mehr besaß. Schweren Herzens zwar, in letzter Stunde aber doch in handlungsbereiter Entschlossenheit hat er sich auf den Boden der unabwendbar gewordenen Monas gestellt und sich bei den endgültigen Abstimmungen dem in der Formation begriffenen rechten Zentrum angeschlossen. So stimmte er gegen die Anträge, die die provisorische Zentralgewalt zum Exekutivorgan der Nationalversammlung machen und die Zentralgewalt einem Präsidenten übertragen wissen wollten; so stimmte er für die UnVerantwortlichkeit des Reichsverwesers und für die Aufhebung des Bundestages, jedoch mit der Rechten gegen die freie Wahl des Reichsverwesers durch die Nationalversammlung3). Am 28. und 29. Juni hat er dann schließlich, auch diesmal nicht ohne schwere politische und Gewissensbedenken, dem „Gesetz über Einführung einer provisorischen Zentralgewalt für Deutschland" und der Wahl des Erzherzogs Johann zugestimmt. x

) Vgl. Hayms Briefwechsel, S. 47 ff. ; Bergengrün, David Hansemann, S. 563 ff.; Meinecke, Radowitz und die deutsche Revolution, S. 120 ff. *) Vgl. hierzu jetzt die Darstellung Veit Valentins, Geschichte der deutschen Revolution von 1848—49, Bd. II, 1931, S. 29 ff. ®) Vgl. Stenograph. Berichte I, 584, 594, 601, 607, 612.

— 134 — Haym hat diese endgültigen Beschlüsse der Paulskirche zunächst als „einen Schritt abwärts in die Revolution"1) und Gagerns „kühnen Griff" insbesondere als einen verhängnisvollen politischen Fehler empfunden, der durch „die darin ausgedrückte Anerkennung jenes bodenlosen Prinzips von der Volkssouveränität" 2 ) das Parlament an den Rand der Republik hinreiße. Aber schon sehr bald hat er sich bei der allzu optimistischen und ideologischen Deutung beruhigt, daß Prinzipien und Theorien, wie die von der Volkssouveränität, nicht mehr die Bedeutung hätten wie 1789. „Unwiderstehlich, scheint es, ist dermalen der Instinkt der Nation, das Bedürfnis derselben, sich zu einigen und ihre Einheit monarchisch zusammenzufassen. Dieser gesunde Drang der Nation nach der Einheit und der monarchischen Darstellung und Zuspitzung derselben hat daher jene prinzipielle gefährliche Konzession unschädlich gemacht; das Prinzip der Volkssouveränität liegt wirkungs- und konsequenzlos in unserem Beschlüsse eingehüllt; seine Spitze ist abgestumpft dadurch, daß die freie Wahl der Nationalversammlung einen Prinzen traf, abgestumpft dadurch, daß man ihn unverantwortlich hinzustellen kein Bedenken trug" 8 ). Im Geiste dieser Anschauungen und im Vertrauen darauf, daß die Einsetzung eines Reichsverwesers mit verantwortlichem Reichsministerium als Provisorium ein Präjudiz für die definitive Ausgestaltung der Reichsverfassimg und für die Sicherstellung der konstitutionellen Monarchie abgebe, hat Haym eine Reihe von ausführlichen Rechenschaftsberichten über die Frankfurter Vorgänge und Ereignisse an Hansemann4) erstattet und sich vergeblich darum bemüht, ihn, den nüchtern rechnenden realistischen Praktiker und pfiffigen Taktiker, der seit der Übernahme der Macht zum Verfechter des partikularen Preußentums und seiner eigensten Interessen geworden war, zu seiner Auffassimg der Dinge zu bekehren. Zugleich aber war es ihm bei seinen Darlegungen wesentlich darum zu tun, zwischen der Berliner Regierung und der Frankfurter Versammlung die Brücke der Verständigung zu schlagen. Es war die um die Klärung der politischen Begriffsbildung in Deutschland, insbesondere um die theoretische Klärung der Reichseinheitsidee hochverdiente Partei des rechten Zentrums, die Partei der Gagern, Beseler, Dahlmann, Droysen, Gervinus, Waitz, Bassermann, Beckerath, Mevissen, Simson, der er sich l

) ) ») *)

s

Hayms Briefwechsel, S. 50. Ebda., S. 52. Ebda., S. 52. Ebda, abgedruckt.

— 135 — angeschlossen hatte in dem festen Glauben, daß sie am reinsten, fruchtbarsten und politisch zukunftsreichsten den nationalen Idealismus verkörpere, daß sie, frei von Prinzipienreiterei, mit ihrem Plane des konstitutionellen Bundesstaates zwischen dem Prinzip der ausschließlichen Machtvollkommenheit der Nationalversammlung und der Theorie der Vereinbarung und des Vertrages mit den Regierungen die gesunde, maßhaltende, Autorität und Freiheit miteinander versöhnende Mitte haltend, an Disziplin, Mitgliederzahl und moralischer Kraft so weit wachsen werde, um den Ausschlag in allen grundsätzlichen Fragen geben und mit Erfolg ein Kompromiß zwischen dem Einheitswillen der Nation und den retardierenden deutschen Regierungen und partikularistischen Strömungen herbeiführen zu können. Erneut ist Haym in der Beurteilung der politischen Lage wieder wankend geworden, als er von Hansemann Ende Juli nach Berlin gerufen wurde. Hansemann, der nach dem Rücktritte Camphausens mit der Bildung des neuen Ministeriums beauftragt worden war, war inzwischen, wenn auch nicht nominell, so doch faktisch zum preußischen Ministerpräsidenten aufgestiegen. Er ging mit dem Plane um, zur Verteidigung der Regierungspolitik eine große Tageszeitung zu gründen, zu deren Chefredakteur er Haym ausersehen hatte. Haym, des moralischen Ansehens seines Abgeordnetenmandates mehr denn zuvor sich bewußt, hat den an ihn ergehenden Antrag ausgeschlagen. Aber er hat seinen Berliner Aufenthalt ausgiebig zu seiner politischen Information benutzt und sich namentlich mit Hansemann über die allgemeine politische Lage und insbesondere über die zwischen der preußischen Regierung und der Paulskirche bestehende Spannung ausgesprochen. Erstaunt und tieferregt über den in Preußen eingetretenen Stimmungswandel, über das starke Hervortreten des wieder populär gewordenen spezifischen Borussentums, über die entschiedene Abwehrstellung, die sowohl die demokratischen wie die konservativen Kräfte gegen Frankfurt eingenommen hatten, kehrte Haym am 7. August nach Frankfurt zurück. Er hatte die Überzeugung gewonnen, daß die Aufgabe der Nationalversammlung fortan erst recht darin zu bestehen habe, zwischen den Extremen zu vermitteln, die einzelstaatlichen Interessen, den dynastischen, bürokratischen und parlamentarischen Partikularismus in Kontakt mit dem gesamtstaatlichen Zentrum zu halten, der Machtstellung des preußischen Staates und dem wieder hergestellten preußischen Selbstbewußtsein Rechnimg zu tragen und das deutsche Verfassungswerk vor einer Überspannung der unitarischen

— 136 — Tendenz zu bewahren. Bei alledem war er jedoch noch viel zu sehr von dem Machtrausch der Nationalversammlung erfüllt, um zu der Einsicht vorzudringen, daß die Entscheidimg über das Schicksal der Revolution überhaupt in dem inneren preußischen und österreichischen Machtkampf fallen werde. Auch besaß er noch keine rechte Klarheit über die prekäre Stellung des in sich unausgeglichenen preußischen Ministeriums, das durch den an Schärfe und Erbitterung ständig zunehmenden Kampf gegen verschiedene Fronten bereits erheblich geschwächt war. Hatte es doch nicht nur die vorwärtsdrängende Berliner Nationalversammlung und den Radikalismus der demokratischen Volksbewegung, sondern auch die wiedererstarkte altkonservative Adels- und Militärpartei und in dem von der Kamarilla bearbeiteten Könige einen geheimen, aber dafür um so gefährlicheren Feind gegen sich. Haym hat unter diesen verschiedenen Machtfaktoren nur den einen, die von links drohende Gefahr, wirklich erkannt. Gegen die Bestrebungen der Linken das preußische Ministerium, auch von Frankfurt aus, zu unterstützen, schien ihm jetzt die zentrale politische Aufgabe geworden zu sein. Hatte er noch in der zweiten Julihälfte an der Auerswaldschen Vorbehaltserklärung gegenüber der Wahl des Erzherzogs Johann entschieden Kritik geübt, diese Wahl, das Gesetz über die provisorische Reichsgewalt und mit ihm das Verhalten der Frankfurter Versammlung mit vorwiegend patriotischen Gefühlsargumenten gegen Hansemann verteidigt und Preußens „Aufgehen" in Deutschland gefordert1), ohne dabei allerdings eine Vernichtung der preußischen Eigenstaatlichkeit oder eine Zerstückelung des preußischen Staatsverbandes im Sinne zu haben, — nach seinem Berliner Aufenthalt und nach der von der preußischen Regierung nicht anerkannten Verfügung des Reichskriegsministers vom 6. August2) vermochte er jedoch an der aus seinem idealistischen Glauben geborenen Fehleinschätzung der gegebenen Kräfte nicht mehr in dem gleichen Maße festzuhalten. Wie er seinen Wählern von dem Umschwung seiner Überzeugung einen rückhaltlosen Rechenschaftsbericht erstattete, so war Haym emsig bemüht, auch unter seinen Fraktionsgenössen für die Anschauung zu werben, daß vom 6. August ab „die Politik des Vertrauens der Politik des Verhandeins und der Transaktionen x ) Vgl. Hayms Briefwechsel, S. 51 — 57, sowie den Bericht an seine Wähler vom 28. 7. 48. s ) In dieser Verfügung wurde die Huldigung der gesamten Bundesarmee für den Reichsverweser und das Anlegen der deutschen Kokarde anbefohlen.

— 137 — müsse1).

Platz machen" Der „Radikalismus der Einheit", der bisher die Nationalversammlung in ihrem „von Sieg und Erfolg gekrönten Kampfe gegen den Radikalismus der Freiheit, gegen die ultrademokratische Agitation und deren Ziel, die Republik"2) geleitet habe, müsse, so war seine Meinung, fortan gezügelt, das allzu forcierte, an den einzelstaatlichen Interessen mit ideologischer Rücksichtslosigkeit vorbeisehende Einheitsstreben zum Eindämmen gebracht werden. In Zukunft könne es sich nur noch darum handeln, unter Anerkennung der gegebenen konkreten Machtverhältnisse auf dem Wege des Verhandeins und des Diplomatisierens den Partikularismus, vor allem den preußischen, zu gewinnen, statt ihn vor den Kopf zu stoßen. „Allein peccatur intra muros et extra! Wie die Schuld, so ist auch deren Sühnimg auf beiden Seiten. Wir werden reüssieren nur dann, wenn auch das Volk und die Regierung in Preußen uns entgegenkommt. Wenn wir bereit sein sollen, nachzulassen in dem schroffen Geltendmachen der nationalen Einheitsidee: so wird man auf der anderen Seite auch nachlassen müssen in dem übertriebenen und übelverstandenen Geltendmachen des Partikularismus. ... Wir wollen vertrauen, daß nicht an Preußen das große Wort von dem Aufgehen in Deutschland scheitern werde: dafür aber, Ihr in Preußen, Männer im Volk und Heer, vertrauet auch Ihr, daß wir mit Besonnenheit fördern werden, was seit den Märztagen der Wunsch und der Wahlspruch unser aller ist: Ein einiges D e u t s c h land, und: Deutschland über alles!"8) Nachdem sich Haym in seiner meditativen Weise über die einzuschlagende neue Taktik Klarheit verschafft hatte, hat er sich mit hoffnungsfreudigem Optimismus den Verhandlungen der Nationalversammlung wieder zugewandt. Bevor es über der schleswig-holsteinischen Frage zu einem neuen schweren Konflikt der Paulskirche mit der Preußenregierung kam, der den endgültigen Beweis dafür erbrachte, daß die Machtstellung der Nationalversammlung nur solange fest gegründet war, als sie ihr nicht streitig gemacht wurde, bot sich dem vom Einheitstraum erfüllten Enthusiastentum noch einmal die Gelegenheit zu siegesfroher Zuversicht. Es war dies bei dem dekorativen Kölner Dombaufest, an dem beinahe die Hälfte aller Mitglieder der Frankfurter Versammlung teilgenommen hat. Mit seinen politischen Glaubensgenossen aus dem Lager der konstitutionellen *) Bericht an seine Wähler vom 12. 8. 48. *) Ebda. s ) Ebda.

— 138 — Bundesstäatspartei hat Haym, der übrigens bei dieser Gelegenheit als „Biograph des Vereinigten Landtages" dem Könige persönlich vorgestellt wurde, dieses von Disharmonien wahrlich nicht freibleibende Fest empfunden und erlebt als „das Fest patriotischer Einigkeit, das Fest konfessioneller Versöhnung und das Fest der Ausgleichung zwischen dem preußischen und dem deutschen Geiste"1). Wie seine politischen Freunde so hat auch er sich an den Trinksprüchen berauscht, die der Reichsverweser und der König von Preußen miteinander austauschten, ist er in der Überzeugung von Köln geschieden, daß der König „der deutscheste Mann in Preußen sei" und daß Preußen sich niemals von der deutschen Sache abwenden werde. Mit seinem über die spröden Gegebenheiten sich vielfach hinwegsetzenden, an die siegende Kraft der Ideen und sittlichen Prinzipien und an das Edle im Menschen glaubenden Ideologentum, mit seinem ihn erfüllenden Triebe, Denken und Handeln in Einklang miteinander zu bringen, ist Haym der widerspruchsvollen Natur Friedrich Wilhelms IV. nur dadurch nahe gekommen, daß er sie idealisierte und die ideologische Schale für den Wesenskern nahm. Der unklare romantische Idealismus und die mystisch schwärmerische Rhetorik Friedrich Wilhelms IV., an deren subjektiver Ehrlichkeit man nicht zu zweifeln braucht, schwebten keineswegs im luftleeren Räume. Waren doch die zur Phantastik und verstiegenen Marottenhaftigkeit neigenden deutschen Beglückungspläne des Königs in einem auf Macht in Deutschland gerichteten natürlichen Ehrgeiz verwurzelt, und haben doch die patriarchalisch-autokratischen Vorstellungen, die ihm für die Ordnung des Verhältnisses zu seinem Volke vorschwebten, ihn trotz allen gefühlsseligen Geredes keineswegs davon abgehalten, in der Wahrnehmung seiner dynastischen Herrschaftsinteressen überaus geschickt zu operieren und an dem monarchischen Prinzip und dem Haß gegen die revolutionäre Volksbewegung durch alle Wandlungen der Revolution hindurch mit unerschütterlicher Konsequenz und zäher Beharrlichkeit festzuhalten2). Und wie wenig Friedrich Wilhelm IV. trotz aller Betonung seiner deutschen Gesinnung und trotz seines Bekenntnisses zum Reichsgedanken geneigt war, um einer vorerst theoretischen Zukunftsmöglichkeit willen die europäische Machtstellung seines Staates zu gefährden, das hat er bewiesen, als er den Abschluß des Malmöer Waffenstillstandsvertrages in die Wege leitete. 1)

Bericht an seine Wähler v o m 21. 8. 48. Vgl. auch das Urteil E. Brandenburgs, Untersuchungen und Aktentücke zur Geschichte der Reichsgründung, 1916, S. 244 ff. 2)

— 139 — Dieser Vertrag, den die preußischen Unterhändler am 26. August zugleich im Namen des Deutschen Bundes mit Dänemark abschlössen, um die schwer bedrückten preußischen Ostseeprovinzen zu entlasten und um der Gefahr einer europäischen Verwicklung zu entgehen, hat bekanntlich die Frankfurter Nationalversammlung in ein wild bewegtes, stürmisches Gewoge versetzt. Wie die überwältigende Majorität der Versammlung so hat auch Hayms deutsches Herz diesen Vertrag, der das Schicksal Schleswig-Holsteins unentschieden ließ, als eine unerhörte nationale Schmach, als einen der deutschen Idee angetanen Schimpf empfunden. Aber mit gutem Recht durfte er voller Genugtuung am 17. September Hansemann darauf hinweisen1), daß er in dieser Frage zu den Wenigen gehört habe, die von Anfang an nicht dem Zuge ihres Herzens, sondern der politischen Einsicht und dem praktischen Sinn für das machtpolitisch Realisierbare gefolgt seien. Und in der Tat, soviel war ihm bereits am 4. September, als das Reichsministerium dem deutschen Parlament die Bedingungen des Vertrages mitteilte, klar gewesen, daß das Parlament, wenn es einen offenen Bruch mit der preußischen Regierung, einen Rücktritt des Reichsministeriums und einen europäischen Krieg vermeiden wolle, trotz seines Anspruches auf Nationalsouveränität nichts anderes tun könne, als aus dem Faktum seiner äußeren Machtlosigkeit die Konsequenz zu ziehen und den Vertrag, wenn auch womöglich unter dem Ausdruck der Mißbilligung, zu ratifizieren2). Aus dieser Erkenntnis heraus hat er denn auch den am 5. im Plenum zur Abstimmung gelangenden Antrag auf Sistierung des Waffenstillstandes, der bereits am Abend des 4. in den Fraktionsversammlungen hin- und herdiskutiert worden war, mit der Minorität abgelehnt. Wenn auch der erste Eindruck, den er Von dem Majoritätsbeschluß empfing, ihm ein Lossagen Preußens von dem Einigungswerke, wie es in Frankfurt betrieben wurde, in möglicher Aussicht erscheinen ließ, so hielt er doch noch nicht alles für verloren. Denn noch war lediglich die Sistierung, aber nicht die Verwerfung des Waffenstillstandes ausgesprochen und zudem die prinzipientreue Majorität ihres Beschlusses nicht recht froh geworden. Es schien sich ihm daher die Chance für einen vermittelnden Antrag zu bieten, der durch kleinere Konzessionen *) Briefwechsel Hayms, S. 58. *) Ich stütze mich hier und im Folgenden vornehmlich auf eine Reihe von Briefen Hayms an den Justizkommissar Giseke in Eisleben vom 4. bis 19. September 1848.

— 140 — einen Keil in das Lager der Majorität hineintreibe und damit der bisherigen Minorität die ihr zur Erlangung der Mehrheit noch fehlenden Stimmen zuführe. Demgemäß hat er in einer Versammlung der gesamten Minorität ohne Unterschied der Parteien, die am Abend des 6. September stattfand, einen Antrag eingebracht und näher begründet, der den Malmöer Vertrag ausdrücklich genehmigte, es jedoch als selbstverständlich voraussetzte, daß der Sitz der schleswigschen Abgeordneten in der deutschen Nationalversammlung durch diese Genehmigung in keiner Weise gefährdet werde. Er hat diesen Antrag dann noch dahin ergänzt, daß durch die Zentralgewalt die preußische Regierung ersucht werden müsse, dahin zu wirken, daß der zum Präsidenten der provisorischen schleswig-holsteinischen Regierung bestimmte Graf Moltke, dessen Person in Frankfurt als besonders mißliebig empfunden wurde, nicht in Funktion trete. Dieser Antrag, der in den vorberatenden Zusammenkünften der Minorität günstige Aufnahme fand und zahlreiche, in seinem Geiste gehaltene Modifikationsanträge im Gefolge hatte, ist zwar, da er durch den Gang der Ereignisse überholt wurde, nicht angenommen und infolgedessen auch im Plenum nicht eingebracht worden, hat aber doch zur Bereinigung der erregten Atmosphäre und zur Klärung der täglich sich verschiebenden Parteienkonstellation nicht unwesentlich beigetragen. Noch vor dem Ratifizierungsbeschluß der Nationalversammlung vom 16. September hat Haym, rückblickend auf den unfruchtbaren Prinzipienstreit, der das Ansehen der Nationalversammlung auf das schwerste geschädigt und ihre äußere Machtlosigkeit offen enthüllt hatte, eine Auffassung des Streites um den Malmöer Vertrag vertreten, in der sich realpolitische, idealistische und verfassungstheoretische Erwägungen so eindrucksvoll ineinander verschlingen, daß sie einen besonderen Hinweis verdient. Wie er dunkel empfand, handelte es sich in diesem Streit auch um eine geschichtliche Probe für das Funktionieren des parlamentarischen Systems überhaupt. Daß das Reichsministerium den Sistierungsbeschluß der Nationalversammlung mit seinem Rücktritt quittierte, hat Haym als eine politische und patriotische Tat begrüßt. Aber er hielt es für einen politischen Fehler des Ministeriums, daß es in der Rücksichtnahme auf Preußen und die gegebenen Machtverhältnisse und in der Selbstaufopferung nicht noch einen Schritt weitergegangen sei. Es hätte, nach seiner Meinung, statt eine Entscheidung der Nationalversammlung zu provozieren, diktatorisch vorgehen und, ohne die Versammlung erst zu befragen, den

— 141 — Waffenstillstand von sich aus einfach ratifizieren sollen: „Dann wäre es einen Tag früher gefallen, es wäre wegen Nichterfüllung des Gesetzes über die provisorische Zentralgewalt c u m i n f a m i a removiert worden: — aber die Nationalversammlung hätte den Waffenstillstand und somit das Schicksal des Vaterlandes nicht mehr in Frage stellen können" 1 ). Das überaus Bezeichnende an dieser Auffassung der Dinge ist, wie hier der Sinn für die tatsächlichen Erfordernisse und sachlichen Notwendigkeiten der praktischen Politik, namentlich gegenüber einer schnelles Handeln erfordernden außenpolitischen Situation, seine Schranke findet einerseits an einer starr unbeweglichen, doktrinär formalistischen Ausdeutung des parlamentarisch-konstitutionellen, des Gewaltenteilungsprinzips, andererseits an dem weltfernen Glauben, daß ein seiner Leistungsfähigkeit und der Notwendigkeit des von ihm eingeschlagenen Weges sich voll bewußtes Ministerium um formalistischer Dogmen willen kampflos freiwillig auf die Machtausübimg verachten werde. Der wenn auch nur mit knapper Mehrheit zustande gekommene Beschluß der Frankfurter Nationalversammlung auf Annahme des Malmöer Vertrages, den die demokratischen Republikaner mit der Entfesselung einer revolutionären Erneute beantwortet haben, ist für die Parteigruppierung, sowie für die Stellung der Versammlung zu den Einzelstaaten und namentlich zu Preußen von folgenreicher Nachwirkung gewesen. Bis in die Kreise des linken Zentrums hinein war das Bewußtsein vorgedrungen, daß es an der Zeit sei, gegenüber „den anarchischen Feinden gesetzlicher Freiheit und den Verrätern, die die Heiligkeit des Volks in seinen Vertretern anzutasten die Frechheit haben" 2 ), energisch Front zu machen, sich von der revolutionären Volksbewegung endgültig zu trennen, die Kräfte der Mitte zu sammeln und zu einem disziplinierten, arbeitsfähigen, einträchtig zusammenwirkenden Parteigefüge auszubauen. „Wir, die Streiter für gesetz- und ordnungsmäßige Freiheit", so hat Haym diesem Gefühle Atisdruck gegeben, „sahen uns auf einmal an den Rand eines Abgrunds gestellt, vor welchem wir um so tiefer schauderten, jejtweniger wir ihn bisher gewahr geworden" 3 ). „Wenn jetzt nicht", so erläuterte er diesen Gedanken, „die Freunde der Ordnung und gesetzlichen Freiheit sich fest zusammenscharen, wenn wir durch die Geister unsrer Ermordeten uns nur wie jener *) An Giseke, 14. 9. 48. J) H a y m an Giseke, 19.9.48. *) Bericht an seine Wähler vom 29. 9. 48.

— 142 — Hamlet zu Träumen statt zu Taten anregen lassen, dann, ohne Zweifel, wird das Schicksal der Girondisten auch das unsrige sein" 1 ). Es kam, nachdem im Laufe des September die verschiedenen Fraktionen des rechten und linken Zentrums, das „Kasino", der „Landsberg" und der „Württemberger Hof" mit programmatischen Kundgebungen hervorgetreten waren2), Ende des Monats durch die Abspaltung des „Augsburger Hofes" vom „Württemberger Hof" zur Bildung der sogenannten „Neunerkommission", eines von allen drei Fraktionen beschickten Zentralkomitees, dessen Aufgabe im wesentlichen darin bestehen sollte, einen geregelten geschäftlichen Verkehr zwischen „Kasino", „Landsberg", „Augsburger Hof" und Ministerium aufrechtzuerhalten, durch Vorberatung der wichtigeren Fragen ein Handeln in kräftiger Übereinstimmung und gemeinschaftliche Operationen gegen die republikanische Linke möglich zu machen3). Hand in Hand mit diesen Konsolidierungsbestrebungen der parlamentarischen Mittelgruppen, die fortan die Führung in der Nationalversammlung hatten, ging das auf die Militärgewalt der Einzelstaaten sich stützende zielbewußte und kräftige Vorgehen der Zentralgewalt gegen den Septemberaufruhr. Haym hat die diesbezüglichen Maßnahmen der Zentralgewalt, insbesondere ihre Verfügung auf Bildung großer militärischer Beobachtungslager, im Zusammenhang mit seiner bereits Anfang September vollzogenen taktischen Schwenkung als einen unschätzbaren politischen Gewinn begrüßt. Denn durch diese gegenrevolutionären Maßregeln trat, wie er meinte, „eine Solidarität der einzelnen deutschen Staaten für einander und für die gemeinschaftliche Gefahr der Republik und der Anarchie ein. Die deutsche Einheit wird so zum ersten Male nicht ideell, sondern auf höchst realistische Weise verwirklicht. Die Maßregel, ausgehend von der Zentralgewalt, muß dazu dienen, das Ansehen und die Existenz derselben zu befestigen und gegen den Partikularismus der Einzelstaaten zu wohltätig gefühlter Geltung zu bringen. Wenn wir nun dies zunächst dem Frankfurter Aufstand verdanken, so zeigt sich, wunderbar erfreulich, die Ordntang als eine Frucht der Unordnung, und wenn die entferntere Veranlassung zu alledem die Waffenstillstandsangelegenheit gewesen ist, so ist eine Frage, in welcher das preußische !) Ebda. 2 ) Abgedruckt bei F. Salomon, Die deutschen Parteiprogramme, Heft i, 1924» S. 62 ff. 8 ) Die Einzelheiten der neuen Organisation siehe bei Heinr. Laube, Das erste Deutsche Parlament, 1849, III, 9ff.; K. Biedermann, Erinnerungen aus der Paulskirche, 1849, S. 39 ff.

— 143 — Interesse in einen betrübten Gegensatz zu dem allgemeinen deutschen zu treten schien, zur Ursache geworden, dem letzteren eine neue Stütze zu bereiten und den Bruch zwischen Interessen zu heilen, welche die Hoffnung des Patrioten nicht aufhören darf zusammenzudenken"1). Daß dieser Bruch tatsächlich nur verkleistert und nicht behoben war, das offenbarte sich mit greller Dissonanz im November, als der offene Konflikt zwischen Volksvertretung und Krone in Preußen, der über das Schicksal der preußischen und mit ihr — nachdem soeben erst die Gegenrevolution durch die Niederwerfimg der Wiener Oktoberrevolution einen ersten großen Sieg erfochten hatte — der deutschen Revolution entschied, das sogenannte preußisch-deutsche Problem erneut in Fluß brachte und in voller Wucht die deutsche Einheitsfrage mit der preußischen Verfassungsfrage und der sozialen Bewegung zusammenprallen ließ. Mit der Berufung des Ministeriums Brandenburg und der Verlegung der preußischen Nationalversammlung vön Berlin nach Brandenburg war für das in sich vielfach uneinige liberale Bürgertum in Preußen wie in Deutschland die Stunde der durchgreifenden Entscheidung gekommen. Vor dem radikalen Umsturz des Bestehenden, der Mobilmachung der Massen und der Entfesselung wirklich revolutionärer Energien zurückschreckend, ist der konstitutionelle Liberalismus, gelähmt durch die Angst vor dem Schreckgespenst der „roten Anarchie", in dem Kampf um seine politische Freiheit auf halbem Wege stehengeblieben, hat er die zum Widerstande entschlossene Majorität der Berliner Nationalversammlung im Stich gelassen, nachdem er ihr nach Verhängung des Belagerungszustandes über Berlin und nach Entwaffnung der Berliner Bürgerwehr für wenige Tage sekundiert hatte2). Mit innerem Schauder ist er vor der bloßen Chance zurückgewichen, im Bunde mit der „Demokratie" die zum vernichtenden Schlage ausholenden alten politischen Herrschaftsgruppen endgültig über den Haufen zu rennen oder auch nur durch unerschütterliches Festhalten am „passiven Widerstand" in die Enge zu treiben. Indem das Uberale Bürgertum im Lande die revolutionäre Einheitsfront des 18. März verließ und sich unter Führung des Geld- und Titelpatriziates für die friedliche Verständigung und für das Bündnis mit der von der agrarmilitaristi1

) Bericht an seine Wähler vom 25. 9. 48. *) Vgl. Hans Wegge, Die Stellung der Öffentlichkeit zur oktroyierten Verfassung und die preuß. Parteibildung 1848/49, 1932, S. 22 ff.

— 144 — sehen Feudalpartei gestützten preußischen Krone entschied, mit dem hinter dieser stehenden kompakten Machtapparat eine gemeinsame Kampffront gegen die soziale Demokratie sowohl wie gegen die republikanische, zur Volkssouveränität sich bekennende bürgerliche Linke bildete und um der Wiederherstellung der „Ordnung" willen auch die Mittel der Restauration in Kauf nahm, hat es zwar seine wirtschaftlich-soziale Vormachtstellung gegenüber den von unten nachdrängenden Schichten gesichert, jedoch nur unter Preisgabe seiner politischen Ansprüche. So hat es die Niederwerfung der Demokratie teuer genug bezahlen müssen. Denn indem es im November und Dezember 1848 mit der Anerkennung des preußischen Staatsstreiches vom parlamentarischkonstitutionellen zum monarchisch-konstitutionellen Staatsgedanken abzuschwenken begann, hat es den alten Regierungen und den ihnen anhängenden konservativ-feudalen Kräften wieder in den Sattel verholfen, der militärisch-bürokratischen Reaktion und Gegenrevolution die Bahn frei gemacht und auf die politische Herrschaft Verzicht leisten müssen. Und als sich das liberale, antirevolutionäre Bürgertum, das in dem Jahrzehnt der Reaktion auf wirtschaftlichem Gebiete, auf dem Felde der materiellen Interessen, in höchstem Maße die Lorbeeren geerntet hat, die ihm auf dem Felde der Politik versagt geblieben waren, in den 1860 er Jahren von neuem ermannte und den durch die oktroyierte und revidierte preußische Verfassung lediglich suspendierten Machtkampf um die politische und damit zugleich um die soziale Gewichtsverteilung erneut entfachte, da ist es, wie es die unausbleibliche Folge der nur mit „gesetzlichen Mitteln" kämpfenden liberalen Notabein- und Honorationenpolitik war, die einen breiten Anhang in den damals schlummernden Massen nicht nur nicht fand, sondern ihn auch verschmähte — im Kampf gegen das Altpreußentum wiederum der unterlegene Teil gewesen. Es waren die in Bildung und Besitz führenden Schichten im Bunde mit dem ruheseligen mittelständlerischen Spießbürgertum in den Städten und ländlichen Ortschaften, die nach den Novemberereignissen in Preußen den energischen Ruck nach rechts vollzogen, nachdem sich bereits, wie die zeitgenössische Publizistik sehr schön erkennen läßt, seit Monaten in diesen Kreisen ein allgemeiner Stimmungsumschwung vorbereitet hatte. Man war der Revolten, der Unsicherheit und der Lähmung des Geschäftsverkehrs gründlich satt geworden. Auf das tiefste beunruhigt durch die radikale Agitation, von einer geradezu panischen Angst ergriffen vor der vermeintlichen, in Wahrheit kaum vorhandenen Gefahr einer Umbildung der bestehenden Besitz-

— 145 — Verhältnisse, sehnten sich die besitzenden Klassen, in ihrer unsozialen Haltung gestärkt durch den Ausgang der Pariser Junischlacht, nach der Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung, nach der Wiederaufrichtung des autoritären Staates. Der Ruf nach Sicherung der bestehenden sozialen Ordnungen fand lauten Widerhall auch in den Kreisen der „Gebildeten". Es zeigte sich hier — wofür die kommenden Jahrzehnte immer wieder erneut den Beweis geliefert haben —, daß die „Bildung" in Deutschland neben ihrer national einigenden auch eine sozial differenzierende Wirkung ausgeübt hat. Denn die bürgerlich akademischen Schichten, die durch ihr Studium Angehörige einer höheren Gesellschaftsschicht geworden waren, haben in ihrer weit überwiegenden Mehrheit die demokratischen Parolen des Jahres 1848 empfunden als eine Gefährdung ihrer Lebensform und sozialen Sonderstellung und, soweit ihr Idealismus nicht bloßes Aushängeschild, sondern gelebtes Leben war, als eine Bedrohung des Kulturbestandes und der Humanität, der Autonomie des Geistes und der aristokratischen Persönlichkeits- und Lebensgestaltung. Ganz in diesem Sinne dachten auch die Männer des Zentrums und der Rechten in der Frankfurter Nationalversammlung. Für diejenigen unter ihnen, die als wirklich begeisterte Verfechter des nationalen Idealismus zu betrachten sind, war dieser Gesichtspunkt allerdings nicht der zentrale. Für sie stand turmhoch über allen anderen Fragen die Frage der deutschen Einheit, der Wunsch, Deutschland aus einem geographischen Begriff zu einem fest umrissenen, allgemein anerkannten politischen Machtfaktor werden zu lassen. Für die Männer des Zentrums, die weniger aus rechtsformalistischen Souveränitätserwägungen und einem natürlichen Machttrieb, als vielmehr aus dem heiligen Glauben an den Primat des nationalen Gedankens heraus das übergreifende Recht der Nationalversammlung gegenüber den Einzelstaaten und den in ihnen entfachten Verfassungsbewegungen betonten, bedeutete es eine verhängnisvolle Bedrohung des in ihre Hände gelegten deutschen Einigungswerkes, wenn ihr Danaidenkampf um Versöhnimg der bestehenden Macht- und Interessengegensätze durchkreuzt wurde von den beiden Mächten, auf die sie ihre ganze Hoffnung gesetzt hatten: von der preußischen Krone und von dem preußischen Volke. Pochend auf das ihnen erteilte Mandat, hatten sie, nachdem das Versäumnis des Frühjahrs, alle revolutionären Kräfte zum Kampf gegen die Einzelregierungen aufzubieten, nicht wieder gutzumachen war, den Bück dafür verloren, daß der in den Einzelstaaten ausgefochtene Kampf um die verfassungspolitische Erneuerung und soziale Umschichtung nunBeiheft d. H. Z. 31

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— 146 — mehr weitaus bedeutsamer und bei zusammengefaßten Kräften auch erfolgversprechender war, als der die hier gefallene Entscheidung sowohl wie eine veränderte außenpolitische Lage voraussetzende Kampf um den deutschen Nationalstaat. Ihr ganzes Sinnen und Trachten basierte auf der inzwischen unhaltbar gewordenen Fiktion, daß die Nation in ihrem Rücken stände. Grundlegend jedoch hatte sich seit dem Frühjahr die Lage für die Nationalversammlung verändert. Nicht nur die einzelstaatlichen Regierungen, die dynastischen Machtbestrebungen, die alten Autoritäten und Führerschichten waren wieder erstarkt, der Partikularismus war auch wieder eine populäre Macht geworden. Während in Frankfurt unentwegt weiter getrommelt wurde, standen im Lande bereits keine Soldaten mehr. Längst hatte sich das nationale Bewußtsein zwischen Gesamtnation und Einzelstaat gespalten. Nur eine verhältnismäßig dünne gebildete Oberschicht in Gemeinschaft mit versprengten Mitläufern aus anderen Bevölkerungsklassen war der nationalen, reichsdeutsch-überpartikularistischen Parole wirklich treu geblieben. In den breiten Mittelschichten und unteren Volksklassen jedoch war, zumal eine akute, allgemein sichtbare außenpolitische Gefahr nicht vorlag, die nationale Begeisterung schnell wieder erlahmt und allmählich, soweit sie nicht bereits völliger politischer Apathie gewichen war, durch die Wendimg zum heimischen Staat und dem in ihm sich abspielenden innerpolitischen Macht- und wirtschaftlich-sozialen Interessenkampf abgelöst worden. Die im Verlaufe der Revolution sich vollziehende Umbildung der politischen Fronten ist in erster Linie durch den sozialen Gegensatz zwischen dem Geld- und Titelpatriziat im Bunde mit dem gewerblichen, händlerischen und bäuerlichen Mittelstand auf der einen und der kleinbürgerlich-kleinbäuerlichen Masse in lockerer, bereits von Grund auf unterhöhlter Gemeinschaft mit den Handwerksgesellen, Tagelöhnern und Arbeitern auf der anderen Seite bestimmt worden. An die Stelle der Solidarität der Interessen, die im März der revolutionären Bewegung zum Siege verholfen hatte, war der klaffende Gegensatz zwischen „Konstitutionellen" und „Demokraten" getreten, wobei von der antirevolutionären liberalen Reformpartei, die sich jetzt um der Sicherung ihrer wirtschaftlich-sozialen Interessen willen mit Vorliebe als „konservativ" ausgab, die demokratische Opposition ohne weiteres gleichgesetzt wurde mit „roter Republik", „Anarchie" und „Sozialismus". Tatsächlich war nun aber die demokratisch-sozialrevolutionäre Bewegung von 1848 ebensowenig eine einheitliche Größe wie „das Bürgertum" eine solche darstellte. Zu

— 147 — ihr gehörte einmal die bürgerliche Linke, die, in der Mehrheit monarchisch und nicht republikanisch gesinnt, in ihrem politischen Wollen von den „Konstitutionellen", „Konservativ-Konstitutionellen" und „Liberal-Konservativen" sich dadurch unterschied, daß sie an den demokratischen Verfassungsprinzipien, am suspensiven Veto und allgemeinen gleichen Wahlrecht, an dem Gedanken der staatsbürgerlichen Gleichheit und der parlamentarischen Regierungsform imbedingt festhielt und nicht an dem Grundsatze rütteln lassen wollte: Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. Neben dieser Linken stand als ein verfassungspolitisch höchst unsicherer und unzuverlässiger, weil leicht beeinflußbarer Faktor die zum Landhunger erwachte Bauern- und Landarbeiterschaft mit ihrem agrarrevolutionären Wollen. Der am weitesten links stehende, der eigentlich Sozialrevolutionäre, zahlenmäßig jedoch am wenigsten entscheidende Flügel der Bewegung wurde durch einen Teil der proletarischen Unterschicht gebildet, die sich in den Städten und größeren Ortschaften unter der Fahne der „sozialen Republik" zum Kampfe für ihre materielle Besserstellung und soziale Gleichberechtigung gesammelt hatte, aufgerüttelt durch die Schlagworte des vormarxistischen, idealistischhumanitär-utopischen Sozialismus, hie und da aber auch schon bewußt im Geiste des marxistischen Klassenkampfgedankens sich zusammenschließend. Obwohl also die „Demokratie" durch den Interessengegensatz in ihren eigenen Reihen in sich vielfach gespalten und gelähmt war und nur in der Negation des Bestehenden zu einer einheitlichen Programmatik gelangte, obwohl sie nur über eine unzureichende Führung und Organisation1) und über äußere Machtmittel so gut wie überhaupt nicht verfügte, überschätzte doch die liberale Bourgeoisie die von der „roten Republik" drohende Gefahr „ebenso ungeheuerlich, wie sie die in Wahrheit alleinige Gefahr der Reaktion unterschätzte"2). Ganz im Zeichen dieser einem Phantom nachjagenden Fehleinschätzung der gegebenen Situation steht auch die Auffassung Hayms. Die von Katastrophenstimmung erfüllten Berichte an seine Wähler aus dem November und Dezember legen hiervon ein beredtes Zeugnis ab. Sie gestatten einen Einblick bis in die geheimen Schlupfwinkel seines liberal-konservativen Denkens, das weit davon entfernt blieb, den nationalen Gedanken auf dem 1 ) Eine Ausnahme bildet der „Zentralmärzverein", der nach der A n gabe Valentins (Gesch. der deutschen Revolution, II, 455) bis Ende März 1849 950 Zweigvereine mit fast einer halben Million Mitglieder umfaßt haben soll. s)

Hugo Preuß, Staat, Recht und Freiheit, 1926, S. 207. IO»

— 148 — Fundamente des demokratischen und sozialen aufzubauen und ihn damit erst zu einem wahrhaft nationalen, die Klassengegensätze überbrückenden, von den breiten Massen mitgetragenen Volksgemeinschaftsgedanken zu gestalten. Der Konflikt der preußischen Krone mit der Volksvertretung hat ihn auf das tiefste erregt, sein ganzes politisches System ins Wanken gebracht und ihn monatelang um so intensiver beschäftigt, als er als Mitglied des von der Nationalversammlung eingesetzten Ausschusses für das Verhältnis der Zentralgewalt zu den Einzelstaaten, des sogenannten Biedermannschen Ausschusses, eifrig bemüht war, in diesem Streite zu vermitteln und eine Entscheidung herbeiführen zu helfen, die das Werk der deutschen Einigung nicht dadurch gefährde, daß in Preußen „irgendeine der Gewalten geschädigt oder gar vernichtet werde, deren Unversehrtheit allein die Bürgschaft einer Freiheit ist, wie wir sie für die Gesamtverfassimg des Vaterlandes erstreben"1). Im Verlaufe des Kampfes ist er immer mehr von seiner anfangs vermittelnden, durch taktische Rücksichten bestimmten Haltung zu einer vorbehaltlosen Unterstützung der preußischen Krone hinübergedrängt worden. In der Überzeugung, daß im Interesse der Freiheit und der Einheit die Krone und mit ihr die ganze Monarchie gerettet werden müsse, hatte er zunächst am 14. November in der Nationalversammlung alle Anträge mit niedergestimmt, die auf eine ausdrückliche Mißbilligung der von der preußischen Regierung ergriffenen Maßnahmen 'hinausliefen2). Um aber diese Maßregeln „zu läutern und dieselben von jedem Schein der Willkür und der Reaktion zu befreien"3), hatte er sich am gleichen Tage dem zur Annahme gelangenden vermittelnden Ausschußantrage angeschlossen, der von der preußischen Regierung die Rückverlegung der Berliner Nationalversammlung forderte, sobald der Grund dieser Verlegung beseitigt sei, und der der preußischen Krone anempfahl, sich alsbald mit einem Ministerium zu umgeben, „welches das Vertrauen des Landes besitzt und die Besorgnisse vor reaktionären Bestrebungen und Beeinträchtigung der Volksfreiheiten zu beseitigen geeignet ist" 4 ). Haym hatte für diesen Antrag nur gestimmt, um der öffentlichen Stimmung Rechnimg zu tragen und um „die Würde", die angeblich überparteiliche, schiedsrichterliche Stellung der *) Bericht an seine Wähler vom 15. 1 1 . 48. *) Vgl. Stenograph. Berichte, V, 3303, 3308, 3313. 3 ) Bericht an seine Wähler vom 15. i r . 48. 4 ) Stenograph. Berichte, V, 3316. Vgl. auch Jürgens, Zur Geschichte des deutschen Verfassungswerks, I, 305.

— 149 — Frankfurter Nationalversammlung zu wahren. Wäre er ausschließlich seiner innersten Uberzeugung gefolgt, wie er sie seinen Wählern gegenüber entwickelt und verteidigt hat, so würde er bereits jetzt, ähnlich wie Bassermann1), über die Halbheit des Nationalversammlungsbeschlusses hinausgegangen sein und der preußischen Krone ein offenes Vertrauensvotum erteilt haben. Hatte er doch an ihr nur das eine zu tadeln, daß sie nicht bereits am 31. Oktober losgeschlagen und sich gegen das ungebärdige Parlament zur Wehr gesetzt habe. „In diesem Dilemma zwischen der Krone und der Vernichtung der Krone", so erklärte er, „kann der Freund der Freiheit und derjenige, der die konstitutionelle Monarchie für die beste Form der Verwirklichung der Freiheit hält, nur einfach auf die Seite der Krone treten. Es heißt: hie Weif! hie Waiblingen! Wer in dieser schweren Entscheidung gegen die Krone ist, der befördert, er mag es wissen oder nicht, den Anbruch der Republik und der Anarchie"2). Diese Auffassung der Sachlage wurde für Haym vollends zu einem unantastbaren Dogma, als die Berliner Versammlung am 15. November mit dem Aufruf zum passiven Widerstand und zur allgemeinen Steuerverweigerung auseinanderging. Von diesem Zeitpunkt ab galt ihm das preußische Parlament „nicht mehr als Nationalversammlung, sondern als rebellisches Rumpfparlament'