Die unregierbare Gesellschaft: Eine Genealogie des autoritären Liberalismus 9783518587386


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Die unregierbare Gesellschaft: Eine Genealogie des autoritären Liberalismus
 9783518587386

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Grégoire Chamayou

Die unregierbare Gesellschaft Eine Genealogie des autoritären Liberalismus

Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel La société ingouvernable. Une généalogie du libéralisme autoritaire © La Fabrique éditions.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erste Auflage 2019 © dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2019 Alle Rechte Vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany

ISBN 978-3-518-58738-6

Inhalt Einleitung ................................................................. Teil I Die aufsässigen Arbeiter Kapitel 1: Disziplinlosigkeiten der A rb e ite r.................... Kapitel 2: Das Humankapital ........................................... Kapitel 3: Soziale Unsicherheit ........................................ Kapitel 4: Krieg den Gewerkschaften............................... Teil II Managerrevolution Kapitel 5: Eine theologische K ris e .................................... Kapitel 6: Ethischer M anagerialism us............................. Kapitel 7: Die Manager disziplinieren............................. Kapitel 8: Katallarchie........................................................ Teil III Angriff auf das freie Unternehmertum Kapitel 9 : Belagerung der Privatregierung....................... Kapitel 10: Die Ideenschlacht ........................................... Kapitel ii : Wie reagieren?................................................. Kapitel 12: Das Unternehmen existiert n i c h t .................. Kapitel 13: Polizeitheorien der F irm a ............................... Teil IV Eine Welt voller Widersacher Kapitel 14: Gegenaktivismus des Unternehmens ...........

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Kapitel 15: Die Produktion der herrschenden Dialogie . . 166 Kapitel 16: Problemmanagement...................................... 174 Kapitel 17: Stakeholder...................................................... 182 Teil V Neue Regulierungen Kapitel 18 : Soft Law ........................................................... Kapitel 19: Kosten/Nutzen ............................................... Kapitel 20: Kritik der politischen Ö kologie.................... Kapitel 21 : Verantwortlich machen .................................. Teil VI Der unregierbare Staat Kapitel 22: Regierbarkeitskrise der D em okratien........... Kapitel 23 : Hayek in Chile ............................................... Kapitel 24: An den Quellen des autoritären Liberalismus ......................................... Kapitel 25: Die Politik e n tth ro n en .................................... Kapitel 26: Mikropolitik der Privatisierung....................

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Schluss........................................................................... 345 Anmerkungen ............................................................ 351 Bibliographie . Namenregister

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Einleitung »Regierbar (gouvernable), Adjektiv (Neologismus) : was re­ giert werden kann. Bsp.: Dieses Volk ist nicht regierbar.« Complément au Dictionnaire de l'Académiefrançaise (1839)1 Solche Zeiten sind bekannt. Die Zeichen trügen nicht. Der­ gleichen hat man bereits am Vorabend der Reformation oder der russischen Oktoberrevolution beobachten können, ver­ sichert der kalifornische Ingenieur und »Futurologe« Willis W. Harman, fur den alle Indikatoren auf das Bevorstehen eines schweren Erdbebens hindeuten, darunter die Zunahme von »Geisteskrankheiten, Gewaltverbrechen, Phänomenen sozialer Spaltung; der häufigere Rückgriff auf die Polizei, um Verhal­ tensweisen zu kontrollieren, die wachsende Akzeptanz hedonis­ tischer (vor allem sexueller) Verhaltensweisen [...], der Anstieg von Zukunftsängsten [...], der Vertrauensverlust in die Institu­ tionen, ob Regierung oder Unternehmen, das Gefühl, dass die Antworten der Vergangenheit nicht mehr taugen«.2 Kurzum, die »Legitimität der Gesellschaftsordnung in den Industriestaa­ ten selbst« stünde zur Disposition, warnte er 1975. Und tatsächlich wurde überall aufbegehrt. Kein Herrschafts­ verhältnis blieb verschont: Verweigerung der Geschlechterhie­ rarchie, der Kolonialordnung, der Rassen-, Klassen- und Ar­ beitsbeziehungen, Renitenz in den Familien, den Universitäten, Armeen, Betrieben, Büros und auf der Straße. Nach Auffassung Michel Foucaults wurde man Zeuge der »Entstehung einer Re­ gierungskrise«, in dem Sinne, dass »sämtliche Prozeduren, mit denen die Menschen einander führen, [...] in Frage gestellt 7

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worden« sind.’ Was sich zu Beginn der 1970er Jahre ereignete, war, nach späterer Ergänzung, eine »Krise der Regierbarkeit, die der Wirtschaftskrise vorausging«,4 eine »>Krise der Regierbarkeit< auf der Ebene der Gesellschaften wie auf der der Unter­ nehmen«,5eine »Krise der disziplinarischen Regierbarkeit«,6 die große Veränderungen der Machttechnologien ankündigte. Bevor sie allerdings von der kritischen Theorie aufgegriffen wurde, war diese Idee bereits von konservativen Intellektuel­ len formuliert worden. Sie entsprach ihrer Art, die laufenden Ereignisse zu interpretieren, die Situation zu problematisieren. Die Demokratie, so Samuel Huntington in einem berühm­ ten Bericht der Trilateralen Kommission, auf den noch detail­ liert einzugehen sein wird, unterläge einem »Problem der Re­ gierbarkeit«: Ein Aufbegehren der Massen untergrabe überall die Autorität und überfordere den Staat mit seinen endlosen Forderungen. Die Worte »gouvernabilité«, »governability« und »Regier­ barkeit« waren nicht neu. Man gebrauchte sie teilweise bereits im 19. Jahrhundert, um zum Beispiel die »Steuerbarkeit« eines Schiffes zu bezeichnen oder die »Stabilität und Lenkbarkeit« eines Luftschiffs, aber auch die Lenkbarkeit eines Pferdes, eines Menschen oder eines Volkes. Der Begriff steht somit für eine immanente Eigenschaft des zu lenkenden Objekts, seine Bereit­ schaft, sich leiten zu lassen, die Fügsamkeit oder Formbarkeit der Regierten. Unregierbarkeit bezeichnet demnach umgekehrt eine Tendenz zur Widerspenstigkeit, einen Geist der Insubordi­ nation, eine Weigerung, regiert zu werden, zumindest »nicht so und nicht dafür und nicht von denen da«.7 Allerdings ist dies nur eine Facette des Begriffs, nur eine der Dimensionen des Problems. Denn Regierbarkeit ist ein komplexes Vermögen, das zwar auf Seiten des Objekts eine Bereitschaft voraussetzt, sich regieren zu lassen, aber auch auf der anderen, der Seite des Subjekts, eine Fähigkeit zu regieren. Meuterei ist nur eine Möglichkeit. Eine 8

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Situation der Unregierbarkeit kann auch aus einer Störung oder einem Versagen des Regierungsapparats entstehen, obwohl die Regierten sich als fügsam erweisen. Eine Lähmung der Insti­ tutionen kann zum Beispiel aus etwas anderem resultieren als einer Bewegung zivilen Ungehorsams. Grob gesagt kann eine Krise der Regierbarkeit zwei große Po­ laritäten haben, unten, bei den Regierten, oder oben, bei den Regierenden, und zwei große Modalitäten, Revolte oder Ver­ sagen: Rebellische Regierte oder ohnmächtige Regierende - bei­ de Aspekte können sich natürlich kombinieren. »Erst dann«, führte Lenin aus, »wenn die >Unterschichten< das Alte nicht mehr wollen und die >Oberschichten< in der alten Weise nicht mehr können«, sei eine »Regierungskrise« geeignet, in eine re­ volutionäre Krise umzuschlagen.8 Die konservativen Theorien zur Krise der Regierbarkeit aus den 1970er Jahren stellten ebenfalls eine Beziehung zwischen diesen beiden Aspekten her. Zwar glaubten die Autoren nicht, am Rande einer Revolution zu stehen, machten sich aber den­ noch Sorgen über eine politische Dynamik, die ihnen verhäng­ nisvoll erschien. Das Problem war nicht nur, dass die Leute aufbegehrten oder die Regierungsapparate überfordert seien, sondern dass diese Defekte und diese Revolten sich gegenseitig überlagerten und auf diese Weise zu einer gefährlichen Belas­ tung des Systems würden. Foucault kannte den Bericht der Trilateralen Kommission über die »Regierbarkeit der Demokratien« und erwähnte ihn zur Illustration dessen, was er persönlich lieber als eine »Krise der Gouvernementalität«9 bezeichnete: keine bloßen »Aufstän­ de des Verhaltens«,10 sondern eine Blockade des »allgemeinen Dispositivs der Gouvernementalität«," und dies aus endogenen Gründen, die nicht auf die Wirtschaftskrisen des Kapitalismus reduzierbar, wenngleich mit diesen verbunden waren. Was sei­ ner Meinung nach ins Stocken geriet, war die »liberale Regie­ rungskunst«,11 worunter man nicht - denn das wäre ein Ana9

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chronismus - den herrschenden Neoliberalismus verstehen darf, sondern vielmehr das, was man inzwischen als »eingebet­ teten Liberalismus« bezeichnet, eine Art wackliger Kompromiss zwischen Marktwirtschaft und keynesianischem Interventio­ nismus. Aufgrund seiner Untersuchung ähnlicher Krisen in der Geschichte gelangte Foucault zu der Prognose, dass aus dieser Blockade etwas Neues entstehen würde, angefangen mit einer grundlegenden Neuordnung der Regierungskunst. Ist die Gesellschaft unregierbar, dann doch keineswegs per se, sondern, um eine Formulierung des saint-simonistischen Ingenieurs Michel Chevalier aufzugreifen, »unregierbar in der Art, wie man sie heute regieren möchte«.'3Das ist ein klassisches Thema dieser Art von Diskurs: Es gibt keine absolute, sondern nur eine relative Unregierbarkeit. Und genau auf diesem Un­ terschied beruhen die Daseinsberechtigung, der eigentliche Ge­ genstand und die wesentliche Flerausforderung jeglicher Regie­ rungskunst. In diesem Buch untersuche ich diese Krise in der Form, wie sie in den 1970er Jahren von denen wahrgenommen und theo­ retisch konzipiert wurde, die sich bemühten, die Interessen der »Wirtschaft« zu verteidigen. Im Gegensatz zu einer »Geschichte von unten« handelt es sich hier also um eine »Geschichte von oben«, geschrieben aus der Sicht der herrschenden Klassen, und zwar vorrangig der Vereinigten Staaten, die zu dieser Zeit das Epizentrum einer umfassenden geistig-politischen Mobilma­ chung waren. Nach der Beschreibung von Karl Polanyi reagierte die Ge­ sellschaft auf die Expansion des »freien Marktes« mit ihren zer­ störerischen Auswirkungen historisch gesehen mit einer umfas­ senden Gegenbewegung zum Schutz ihrer selbst —eine »zweite Bewegung«, die, so seine warnenden Worte, »letztlich mit der Selbstregulierung des Marktes und damit dem Marktsystem selbst unvereinbar« war.'4 Zu einer derartigen Schlussfolgerung gelangten auch die organischen Intellektuellen der Wirtschafts10

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weit in den 1970er Jahren: Das gehe alles zu weit, und wenn die aktuellen Trends anhielten, würden sie zur Zerstörung der »frei­ en Marktwirtschaft« fuhren. Was in diesem Jahrzehnt begann, war eine dritte Bewegung, eine große Reaktion, in deren Bann wir immer noch stehen. Ich will die Bildung dieser Gegenbewegung hier aus philoso­ phischer Sicht betrachten, indem ich eine Genealogie ihrer zen­ tralen Konzepte und Problemstellungen entwerfe, anstatt auf empirische Weise ihre institutionelle, soziale, ökonomische oder politische Geschichte zu schreiben. Die Einheit meines Gegen­ standes beruht gleichwohl nicht auf einer Doktrin (dies ist keine neue Ideengeschichte des Neoliberalismus), sondern auf einer Situation: Ich werde bei erkennbar gewordenen Spannungen, real ausgebrochenen Konflikten ansetzen, um zu untersuchen, wie sie thematisiert, welche Lösungen ins Auge gefasst wurden. Ich versuche, ein Denken im Prozess seines Entstehens zu erfas­ sen, seine Anstrengungen, die Intentionen, die ihm zugrunde lagen, aber auch die Unstimmigkeiten, Widersprüche und Aporien, denen es begegnete. Die Herausforderung dieser konzeptuellen Arbeit, die sei­ nerzeit begann, bestand nicht nur darin, neue Legitimations­ diskurse für einen umstrittenen Kapitalismus zu produzieren, sondern ebenso sehr darin, Theorieprogramme und Praxisideen zu formulieren, die darauf abzielten, die Ordnung der Dinge umzugestalten. Diese neuen Regierungstechniken, deren Ent­ stehung ich hier nachzeichnen möchte, sind heute immer noch wirksam. Worauf es bei dieser Analyse ankommt, ist also ein besseres Verständnis unserer Gegenwart. Diese dritte Bewegung ist beileibe nicht auf ihre neoliberale Variante in einem doktrinären Sinne reduzierbar. Viele der Ver­ fahren und Mechanismen, die für das heutige Regieren maß­ geblich geworden sind, standen nicht in den Texten der Grün­ derväter des Neoliberalismus, sofern sie nicht im diametralen Gegensatz zu deren Thesen eingeführt und vertreten wurden. 11

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Unser Zeitalter ist zwar ein neoliberales, aber dieser Neolibera­ lismus ist ein hybrides Produkt, ein eklektisches, in vielen As­ pekten widersprüchliches Ganzes, dessen eigentümliche Syn­ thesen nur aus der Geschichte der Konflikte erklärbar sind, die ihre Entstehung prägten. Diese Krise der Regierbarkeit hatte zahlreiche Facetten ebenso viele, wie es Machtbeziehungen gibt. Ihnen entsprachen, auf jedem Gebiet, spezifische »Gegenreaktionen«. Ich konzen­ triere mich hier auf die Krise, die das Unternehmen, in seiner Eigenschaft als Privatregierung, betraf. Diese Wahl des Gegenstandes ist, abgesehen von den nach wie vor aktuellen Problemen, die im Laufe der Kapitel auf­ tauchen werden, durch ein spezifischeres Anliegen begründet. Einerseits ist das Großunternehmen eine der dominierenden Institutionen der heutigen Welt, andererseits ist die Philosophie immer noch schlecht gerüstet, wenn es darum geht, es gedank­ lich zu erfassen. Zu ihrem überlieferten Traditionsbestand gehö­ ren vor allem Theorien der Staatsmacht und der Souveränität, die auf das 17. Jahrhundert zurückgehen. Sie verfügt seit langem über Abhandlungen zu den politisch-theologischen Organen aber über nichts Vergleichbares zu den sozusagen »politisch-kör­ perschaftlichen« Organen. Und wenn sie sich dann endlich dem Thema zuwendet und es zum Beispiel, verspätet, in ihre Lehre aufnimmt, geschieht das häufig auf die schlimmste Weise, nämlich indem sie einen an Business Schools produzierten dürftigen Diskurs über Ge­ schäftsethik und unternehmerische Sozialverantwortung wiederkäut. Die Philosophie, nicht mehr als Dienerin der Theo­ logie, sondern des Managements. Es ist höchste Zeit, stattdessen eine kritische Unternehmens­ philosophie zu entwickeln. Dieses Buch ist nur eine Vorarbeit in diese Richtung, eine historisch-philosophische Studie zu einigen der Zentralkategorien des herrschenden ökonomischen und unternehmerischen Denkens, die heute florieren, ohne dass 12

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noch bekannt wäre, welche Konflikte und Absichten für ihre Entstehung ausschlaggebend waren und nach wie vor ihre Be­ deutung prägen. Dieses Buch folgt den verschiedenen Achsen, die in ihrer Überschneidung jene Regierbarkeitskrise des Unternehmens konstituierten, wie sie seinerzeit thematisiert wurde. Für die Apologeten der Wirtschaftswelt verkörperte jede von ihnen eine neue Herausforderung, eine neue Front, an der es tätig zu wer­ den galt. 1. Ein Unternehmen ist ein Gebilde, das zunächst einmal Arbei­ ter regiert. Zu Beginn der 1970er Jahre sah sich das Manage­ ment mit massiven Disziplinlosigkeiten seitens der Arbeiter­ schaft konfrontiert. Wie sollte man darauf reagieren? Wie die verloren gegangene Disziplin wiederherstellen? Wenn die al­ ten Methoden überholt waren, wie konnte dann eine neue Kunst, die Arbeit zu regieren, aussehen? Verschiedene Strate­ gien wurden erwogen und debattiert. (Teil I) 2. Wenn man die vertikale Hierarchieachse weiter nach oben geht, tritt eine zweite Krise in Erscheinung, dieses Mal im Verhältnis zwischen Aktionären und Betriebsleitern. Ange­ sichts dessen, dass die Manager, die in Aktiengesellschaften zu bloßen Sachwaltern fremder Angelegenheiten geworden sind, möglicherweise nicht mehr das gleiche Interesse wie die einstigen Eigentümer-Unternehmer an der Maximierung der Profite haben, machten sich manche Sorgen über einen man­ gelnden Eifer ihrerseits, ja schlimmer noch, über eine »Ma­ nagerrevolution«. Wie konnten die Manager diszipliniert werden? Wie sollte man sie auf den Shareholder-Value ver­ pflichten? (Teil II) 3. Gleichzeitig tauchten links und rechts, im sozialen und po­ litischen Umfeld der Firmen, ganz neue Gefahren auf. Auf Grundlage einer wachsenden kulturellen und politischen Ab­ lehnung des Kapitalismus griffen neue Bewegungen die Kon­ zernleitungen direkt an. Wie sollte man auf das reagieren, was 13

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als »Angriff auf die freie Marktwirtschaft« wahrgenommen wurde? Über die richtige Strategie wurde heftig gestritten. (Teil III) 4. Als diese »Angriffe« sich ausweiteten und eine internationale Dimension annahmen, insbesondere mit den ersten großen Boykottaktionen gegen multinationale Konzerne, wandten sich die Firmen neuen Beratern zu. Wie sollte man nicht nur mit den eigenen Beschäftigten fertig werden, sondern oben­ drein mit unternehmensfremden Kritikern und über sie hi­ naus mit einem derart unruhig gewordenen »sozialen Um­ feld«? Neue Ansätze und Konzepte wurden ersonnen. (Teil IV) 5. Vor allem auf Initiative der entstehenden Ökobewegung wur­ den neue Sozialauflagen und Umweltvorschriften eingeführt. Zum seitlichen Druck durch die sozialen Bewegungen kam also ein vertikaler Druck durch neue Formen staatlicher In­ tervention hinzu. Wie ließen sich solche Regulierungsvor­ haben vereiteln? Und was hatte man ihnen entgegenzuset­ zen, in der Theorie wie in der Praxis? (Teil V) 6. Worauf war, grundsätzlicher gefragt, dieses doppelte Phä­ nomen allgemeiner Systemkritik und zunehmender Staats­ intervention zurückzufuhren? Auf die Mängel einer Wohl­ fahrtsdemokratie, die, wie behauptet wurde, keineswegs für Konsens sorgt, sondern sich vielmehr ihr eigenes Grab schau­ felt. In den Augen der Neokonservativen wie der Neolibera­ len stand der Staat selbst im Begriff, unregierbar zu werden. Daher die Fragen: Wie sollte man die Politik entthronen? Wie die Demokratie beschränken? (Teil VI) Im Rahmen dieser Studie trage ich heterogenes Material aus verschiedenen Disziplinen zusammen und nehme mir heraus, »vornehme« mit »vulgären« Quellen zu mischen, wenn sie das gleiche Thema behandeln — ein Nobelpreisträger für W irt­ schaftswissenschaften kann so neben einem Spezialisten für »Union busting« stehen. Diese Texte haben gemein, dass es 14

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sich bei ihnen um Kampfschriften handelt, die alle auf die eine oder andere Weise die Frage nach dem »Was tun?« beantwor­ ten. Es sind Texte, in denen Methoden, Techniken und Tak­ tiken vorgetragen werden, entweder auf sehr konkrete Weise, zum Beispiel in Praxisleitfäden oder Managementhandbüchern, oder eher programmatisch, durch Überlegungen zu diskursiven Strategien oder allgemeinen Praktiken. Dieser Korpus besteht überwiegend aus englischsprachigen Quellen: Was das Manage­ mentdenken und die Wirtschaftstheorien der Unternehmen an­ geht, waren die Vereinigten Staaten die Schmiede neuer Kon­ zepte, die sich rasch über die Welt verbreiteten. Ich nehme mich beim Schreiben oft zurück, um durch Aus­ wahl und Montage von Zitaten einen strukturierten Text ent­ stehen zu lassen, dessen einzelne Fragmente ihre Aussagekraft zumeist weniger durch ihre Zuschreibung zu einem bestimmten Autor erhalten als durch ihren Status als charakteristische Äu­ ßerungen der verschiedenen Positionen, die ich zum Sprechen bringen möchte.

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Teil I Die aufsässigen A rbeiter

Kapitel 1 : Disziplinlosigkeiten der Arbeiter »Dreizehn kleine Buchsen in dreizehn kleine Löcher stecken, sechzig Mal pro Stunde, acht Stunden pro Tag. 67 Blechteile pro Stunde schweißen und dann steht man eines Tages vor einer neuen Maschine, die n o verlangt. Arbeiten, inmitten von Lärm [...] in einem Nebel aus Öl, Lösungsmitteln und Metallstaub. [...] Ohne Widerrede gehorchen, Strafen klaglos akzeptieren.1

André Gorz »Tommy übergibt den Joint an Yanagan, der den Rauch tief inhaliert, bevor er ihn an mich weiterreicht. [...] Der Rauch, der meine Lungen füllt, lässt mein Herz schneller schlagen. Und bald schon erscheinen mir die sprühenden Funken, der glühende Stahl, die lodernden, rumorenden Öfen über un­ seren Köpfen als Frivolitäten einer Karnevalsnacht.«1

Bennett Kremen »Die junge Generation, die bereits die Universitäten erschüttert hat«, mahnte im Juni 1970 die New York Times, »offenbart auch Zeichen von Unruhe in den Fabriken des industriellen Ame­ rika. Viele junge Arbeiter fordern sofortige Änderungen ihrer Arbeitsbedingungen und verweigern die Fabrikdisziplin.«3»Die Arbeitsdisziplin ist zusammengebrochen«, konstatierte im sel­ ben Jahr ein interner Bericht von General Motors.4 Wenn Disziplin bedeutet, »die Körper der anderen in seine Gewalt [zu] bringen«,5dann äußert sich Disziplinlosigkeit um­ gekehrt in einem unwiderstehlichen Drang, sich aus diesem Zu19

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griff zu lösen: nicht länger stillzuhalten, abzuhauen, sich aus der Umklammerung zu befreien, sich den eigenen Körper wieder anzueignen und mit ihm zu verschwinden. Ebendiesen Drang rief die Fabrik in dieser Zeit massenhaft hervor, so tief saß in der jungen Arbeitergeneration »die Verachtung für die Arbeit und das Verlangen, sich ihr zu entziehen«.6 In der amerikanischen Automobilindustrie war die Fluktua­ tion enorm: Mehr als die Hälfte der ungelernten Jungarbeiter verließ vor Ende des ersten Jahres den Arbeitsplatz.7 Manche waren von ihrem ersten Kontakt mit der Bandarbeit so abge­ schreckt, dass sie schon nach den ersten Wochen auf Nimmer­ wiedersehen verschwanden, ohne »sich überhaupt die Mühe zu machen, den Lohn abzuholen, der ihnen für ihre geleistete Ar­ beit zusteht«,8 berichteten verblüffte Manager. Bei General Motors blieben täglich 5% der Arbeiter ohne stichhaltige Begründung der Arbeit fern.9 Montags und freitags verdoppelte sich diese Quote. Im Sommer konnte sie in man­ chen Werken auf bis zu 20 % steigen. »Wie sieht das so aus, ein Montag, im Sommer, in der Fabrik?«, fragte man 1973 einen Automobilarbeiter. »Keine Ahnung, ich bin montags noch nie da gewesen.« »Wie kommt es, dass Sie nur vier Tage in der Wo­ che arbeiten?«, fragte man einen zweiten. Antwort: »Weil ich in drei Tagen nicht genug zum Leben verdienen würde.«10Aber was wollen Sie denn eigentlich?, erkundigte man sich bei einem dritten. Was ich will: »eine Chance bekommen, mein Gehirn zu benutzen«, eine Arbeit, »bei der das, was ich in der Schule gelernt habe, etwas wert ist«." Die Fabrik? »Das ist wie in der Zelle«, äußerte sich ein weiterer - »mit dem Unterschied, dass du im Knast mehr Freizeit hast«.12 Denn man ruiniert sich dort den Körper und stumpft geistig ab: »Immer das Gleiche machen, das bringt einen um [...]. Ich singe, ich pfeife, ich bespritze meinen Kollegen am Band mit Wasser, ich tue alles, was ich kann, um die Langeweile zu ver­ treiben.«13 Die endlose Wiederholung des Gleichen nicht mehr 20

Kapitel 1 : Disziplinlosigkeiten der Arbeiter

ertragen können, schöpferisch tätig sein wollen, anstatt bloß zu produzieren: »Manchmal verbeule ich, aus einer Laune heraus, das Stück, an dem ich gerade arbeite, ein bisschen. Ich mag es, wenn das, was ich mache, wirklich einzigartig ist. Ich verpasse ihm extra einen Schlag mit dem Hammer, um zu sehen, ob es durchgeht, einfach, um sagen zu können, dass ich das gemacht habe.«14 Die gewöhnlichen Verstöße gegen die Disziplin entsprin­ gen, ebenso wie die Disziplin selbst, deren Pendant sie sind, einer Kunst des Details. Sie verwenden ebenso viel Sorgfalt und Ausdauer darauf, ihre Störungen zu produzieren, wie die Ge­ genseite, ihre Vorschriften zu erlassen. Sie setzen auf Ebene der kleinsten Geste an, um ein paar kurze Verschnaufpausen he­ rauszuholen, ein zähes Ringen, dessen Ausbeute bestenfalls eini­ ge Dutzend Sekunden beträgt, die sie dem Takt der Maschi­ ne fur sich abgewinnen. »Letztlich ist das Hauptproblem die Zeit.«15 Mutwillig bummeln, bremsen, allein oder im Kollek­ tiv, oder manchmal auch umgekehrt, beschleunigen, um eine kleine Auszeit herauszuschinden. »Fast jeder tut es, spielt dieses kleine Spielchen«, um ein paar Augenblicke für sich zu erschlei­ chen, durchzuatmen, einige Worte zu wechseln, etwas anderes zu machen: »Ich bin gut genug in meinem Job, um sehr schnell zwei oder drei Wagen nacheinander zu machen, und vielleicht 15 oder 20 Sekunden vor dem nächsten übrig zu behalten. Was ich in der Zwischenzeit mache, ist lesen. Ich lese die Zeitung, ich lese Bücher, manchmal ziemlich komplizierte Bücher. Um unter diesen Umständen lesen zu können, musste ich lernen, im Kopf zu behalten, was ich gerade gelesen hatte, und schnell zu der Stelle zurückzufinden, wo ich aufgehört hatte.«16 Ist Disziplin eine Tempopolitik oder eine Chronomacht, ist es die Disziplin­ losigkeit nicht minder, aber in die umgekehrte Richtung, ein Kampf gegen die Uhr der besonderen Art. »Ich habe eine Frau in der Fabrik gesehen, die am Band entlanglief, um das Tempo halten zu können. Ich laufe für niemanden. Kommt nicht in 21

Teil I

Frage, dass mir irgendjemand in der Fabrik befiehlt zu laufen.«'7 Die ersten großen Revolten gegen die Beschleunigung waren Ar­ beiterkämpfe. Die Disziplinverweigerer sind Zeitdiebe.'8 Bei General Motors, erzählt ein Gewerkschafter, »fuhren sich die Vorarbeiter auf wie in einer Diktatur«.'9 Das autoritäre Ge­ baren der Vorgesetzten, die strikte Überwachung, die pedanti­ schen Vorschriften und absurden Anweisungen, die Beschimp­ fungen und Ermahnungen, auch das geht nicht länger durch. »Der Vorarbeiter«, bringt es ein schwarzer Arbeiter aus Balti­ more trocken auf den Punkt, »könnte die Arbeiter mehr res­ pektieren - mit ihnen wie mit Menschen sprechen statt wie mit Hunden.«“ Die aktuellen sozialen Spannungen, gab sich das Wall Street Journal 1969 alarmiert, sind »die schlimmsten seit Menschen­ gedenken«. Alles deutet darauf hin, orakelte Fortune, dass man sich auf eine »epische Schlacht zwischen Management und Per­ sonal« zubewegt.2' Tatsächlich traten allein während des Jahres 1970 nahezu zweieinhalb Millionen Arbeiter in den Vereinigten Staaten in den Streik.22Es war die größte Ausstandswelle seit der unmittelbaren Nachkriegszeit. Zum numerischen Umfang der Mobilisierungen kam die Radikalität der Kampfformen. Über Lohnforderungen hinaus wurden Beschwerden gegen die For­ men der Arbeitsorganisation erhoben und richteten sich gegen jene Instanz, die sie zu verantworten hatte. Bill Watson, 1968 Arbeiter in einer Detroiter Autofabrik, be­ richtet über eine umfassende Sabotagewelle, deren Zeuge er ge­ worden war. Die Ingenieure hatten ein neues Modell für einen sechszylindrigen Motor entworfen, das in den Augen der Arbei­ ter schlecht konzipiert war. Vergeblich hatten sie der Betriebs­ leitung ihre Bedenken mitgeteilt. Angesichts dieser Abfuhr be­ gannen manche Teams damit, den Einbau bestimmter Teile zu »vergessen«. Andere folgten ihnen mit der Sabotage. Bald türm­ ten sich die unbrauchbaren Aggregate in den Werkhallen: »Ir­ gendwann stapelten sich so viele defekte Motoren in der Fabrik, 22

Kapitel 1 : Disziplinlosigkeiten der Arbeiter

dass es fast unmöglich geworden war, von einer Abteilung in die nächste zu gelangen.«13 Dabei handelte es sich, wie Watson be­ tont, um keinen Einzelfall. Derartige Konflikte tauchten seiner­ zeit überall in Amerika auf: In ihnen äußerte sich ein Wunsch, die Produktion zu übernehmen, die Kontrolle über die eigene Arbeit zu erlangen, über die Art, wie sie verrichtet und was pro­ duziert wird. 1970 richtete der Vorstandschef von General Motors folgen­ de Warnung an seine Beschäftigten: »Wir können nicht dulden, dass sich die Angestellten ihrer Verantwortung entziehen, gegen die elementarsten Gebote der Disziplin verstoßen und die Au­ torität verhöhnen [...]. General Motors hat neue Investitionen getätigt [...], um die Produktivität zu steigern und die Arbeits­ bedingungen zu verbessern, aber Maschinen und Technik sind so lange nutzlos, wie der Arbeiter seine Arbeit nicht tut. [...] Wir verlangen ordentliche Arbeit für den ordentlichen Lohn, den wir Ihnen zahlen.«14 Wie wollte man die Disziplin wiederherstellen? Die GMLeitung optierte für die »harte Linie«:15Arbeitsnormen erhöhen, unqualifizierte Aufgaben automatisieren, den Rest dequalifizieren, die Lohnmasse beschneiden, Aufsichts- und Kontrollfiinktionen verstärken. Die Automobilfabrik in Lordstown, Ohio, mit ihrem »schnellsten Montageband der Welt«, war das techno­ logische Prunkstück der Firma, der Inbegriff der unternehmeri­ schen Lösungen für die Produktivitätsprobleme. Sie wurde 1971 der »General Motors Assembly Division« unterstellt, einem dy­ namischen Managementteam, das als »gröbstes und härtestes«16 des ganzen Konzerns galt. Unter seiner Aufsicht wurden zahlrei­ che Arbeitsplätze gestrichen und das bereits hohe Arbeitstempo weiter erhöht: von 60 Autos pro Stunde auf nahezu die doppelte Zahl. Fortan »musste ein Arbeiter innerhalb von 36 Sekunden acht verschiedene Operationen durchführen«.17 »Du brauchst eine Erlaubnis, um pinkeln zu gehen. Kein Witz. Du hebst dein Händchen, wenn du Pipi machen musst. Und wartest dann viel23

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leicht eine halbe Stunde, bis sie einen Ersatzmann für dich ge­ funden haben. Und dann schreiben sie das jedes Mal auf, denn das soll von deiner Zeit abgehen, nicht von ihrer. Wenn du das zu oft machst, beurlauben sie dich fur eine Woche.«*3 Die Belegschaft in Lordstown ist besonders jung, 28 Jahre im Durchschnitt. Es braucht einen jungen Körper, um ein sol­ ches Tempo durchzuhalten, nur dass der junge Geist, der in ihm steckt, am wenigsten bereit ist, sich diesem Tempo zu unterwer­ fen. Eines Tages gelangt ein Auto ans Ende des Bandes, mit allen nicht montierten Teilen sorgfältig aufgereiht in der Karosserie. Die Direktion spricht von Sabotage. »Sabotage? Bloß eine Art, Dampf abzuiassen. Du kannst mit der Bandgeschwindigkeit nicht mithalten, also verpasst du dem Wagen im Vorbeigehen einen Kratzer. Einmal habe ich einen Hinterwäldler gesehen, der einen Zündschüssel in den Tank fallen lässt. Letzte Woche habe ich gesehen, wie so ein Typ einen brennenden Handschuh in den Kofferraum eines Wagens wirft. W ir wollten alle sehen, wie weit er das Band runterkommt, bevor sie es merken. Wenn du einen Wagen verpasst, nennen sie das Sabotage.«29 Die Werksleitung, die den Verlust, der auf das Konto von »Disziplinlosigkeiten« ging, auf 12000 nicht gebaute Wagen pro Jahr schätzte, reagierte mit zunehmender Härte und ergriff hunderte Disziplinarmaßnahmen: Ein Arbeiter wurde entlas­ sen, weil er eine Minute zu spät kam, ein zweiter suspendiert, weil er im Innern eines Fahrzeugs gefurzt, ein dritter, weil er an seinem Arbeitsplatz gejodelt hatte.30 Als Reaktion auf diese härtere Gangart treten die Arbeiter Anfang März 1972 in einen wilden Streik. Der Kampfgeist der Lordstowner Arbeiter ist beeindruckend: »Diese Jungs sind zu Tigern geworden.«3' »Sie sind nicht mehr bereit hinzunehmen, was ihre Väter ertragen haben, sie haben keine Angst vor dem Management. Und bei dem Streik geht es vielfach auch da­ rum.«32 Die Presse spricht von einem »Lordstown-Syndrom«, einem »industriellen Woodstock«.33 Nach einem Monat Kampf 24

Kapitel 1 : Disziplinlosigkeiten der Arbeiter

gibt die Betriebsleitung nach und kehrt zum vorherigen Pro­ duktionstempo zurück. Konfrontiert mit den Disziplinlosigkeiten der Arbeiter, wuss­ te sich das Management also keinen besseren Rat, als mit einer Verschärfung der Disziplinarordnung zu reagieren, die die Ar­ beiter gerade ablehnten, und schürte damit im Gegenzug den Konflikt in einer Weise, dass sich die Disziplinlosigkeiten zur offenen Revolte radikalisierten. Die Manager befanden sich in einem Dilemma. Sie wussten ganz genau, dass die Disziplinlo­ sigkeit der Arbeiter eine tiefsitzende Abneigung gegen die in­ dustrielle Arbeitsorganisation ausdrückt, »besonders bei den jüngeren Angestellten, die einen wachsenden Widerwillen an den Tag legen, eine strikte und autoritäre Betriebsdisziplin zu akzeptieren«.34 Ebenso waren sie sich darüber im Klaren, dass »die Arbeitsbedingungen in den neuen Fabriken dafür sorgen, dass Unzufriedenheit und Widersetzlichkeit keine Ausnahme­ reaktionen sind, sondern ein rationales Verhalten«,35 dass es einen »Zusammenhang gibt zwischen Erschöpfung und mono­ toner Arbeit, zwischen Unzufriedenheit und Krankfeiern«. Und dennoch taten sie weiter so, als sei Unzufriedenheit »ein »Fehl­ verhaltens das bestraft werden muss«,36 und reagierten darauf mit »Techniken der Angst und des ständigen Drucks, die Quelle endloser Konflikte sind«.37 Daher die Sorge: Wenn das so weitergeht, wo wird es enden? An der Wand, meinten manche: »Finstere Zeiten brechen für GM an, wenn Lordstown, wie von der Direktion oft genug ver­ kündet, die Zukunft der Automobilindustrie darstellt.«38 Auch unter den Spezialisten des Managements machte sich Ratlosigkeit breit. Manche, die die alten Verfahren fur obsolet erachteten, tüftelten an Reformprojekten. Angesichts der Krise der disziplinarischen Regierbarkeit galt es, eine neue Kunst der Arbeitsführung zu erfinden.

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Kapitel 2 : Das Humankapital »Ihre Fremdheit tritt darin rein hervor, daß, sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird.«1 Karl Marx In den 1950er Jahren hatten konservative Intellektuelle - schon einmal - geglaubt, das »Ende der Ideologie« ausrufen und zu­ sammen mit ihr den Klassenkampf beerdigen zu können. Der »amerikanische Arbeiter«, versicherte Daniel Bell 1956, »ist >domestiziert< worden«. Zwar nicht durch die Mittel, die Marx seinerzeit kritisierte, auch nicht durch die Verelendung oder »durch die Disziplin der Maschine, sondern durch die >Konsumgesellschafh, durch die Möglichkeit eines besseren Lebens, die ihm sein Einkommen, das Zusatzeinkommen seiner Frau sowie der unkomplizierte Zugang zu Krediten verschafft«.2 Selbst wenn der Arbeiter unter seinen Arbeitsbedingungen lei­ det, wendet er sich nicht »der kämpferischen Aktion zu [...], sondern flüchtet sich in Wunschträume - Besitzer einer Repara­ turwerkstatt, einer Truthahnfarm, einer Tankstelle, >eines eige­ nen kleinen Geschäfte werden«.3 Alles war ruhig, und dann bumm! Zunächst ist man sprach­ los, begreift überhaupt nichts. Man muss sich vor Augen halten, welche enorme und schmerzliche Überraschung die Bewegun­ gen der 1960er Jahre für diejenigen darstellten, die steif und fest an das Ende sozialer Konflikte in der »Konsumgesellschaft« ge­ glaubt hatten.4 26

Kapitel 2: Das Humankapital

Manche, die empört waren über die Revolte, beschuldigten die Störenfriede der Undankbarkeit. Earl Brambett, Vizeprä­ sident von General Motors, »beklagt die Penetranz der jungen Arbeiter, immer noch mehr Vergünstigungen und Verbesserun­ gen herausschlagen zu wollen, und empfiehlt ihnen, lieber dankbarer für das zu sein, was sie haben«.5Aber was wollen sie denn noch? - darin lag der Skandal. Aber wie können sie im­ mer noch aufbegehren? - darin lag das Mysterium. Man suchte nach Erklärungen, fabrizierte Theorien, Ätiologien der Revolte. Dieser Aufruhr war zunächst als Generationsphänomen zu verstehen. Die neuen Arbeiter sind »jünger, ungeduldiger, we­ niger homogen, stellen ihre ethnische Zugehörigkeit selbst­ bewusst zur Schau und sind weniger leicht zu manipulieren«.6 Sie »tragen die neuen Bestrebungen der amerikanischen Jugend der 1970er Jahre in die Fabrik«.7 Und weiter? Psychologen trugen das Ihre zur laufenden Dis­ kussion bei. Wenn der Mensch einmal seine Grundbedürfnisse befriedigt hat, bleibt er dabei nicht stehen: Ist der Bauch gesät­ tigt, beginnt der Geist, über Hunger zu klagen, erklärte Abra­ ham Maslow auf Grundlage seines berühmten Modells der »Be­ dürfnispyramide«.8Die jungen Generationen streben nach mehr als Geld und Karriere, nämlich nach intensiveren menschlichen Beziehungen, was, so las man in der Harvard Business Review, »durch Experimente mit dem Zusammenleben in Kommunen«9 belegt werde. Im gleichen Maße würden sich die Erwartungen der Arbeiter erhöhen, eine stärker qualitative Dimension an­ nehmen. Sie verlangten von ihrem Arbeitsplatz mehr als nur ein Einkommen, nämlich zwischenmenschliche Beziehungen, einen Inhalt, einen »Sinn«. Der Übergang zu einem »postmate­ rialistischen« Denken zeichnete sich ab. Klar ist: Je mehr sich eine solche Subjektivität festigt, umso weniger wird sie sich mit einer entfremdeten Arbeit abfinden. Schon Max Weber hatte gewarnt: »Die kapitalistische W irt­ schaftsordnung braucht diese Hingabe an den Beruf des Geld27

Teil I

verdienens«, braucht diese seltsame Einstellung, »[d]aß jemand zum Zweck seiner Lebensarbeit ausschließlich den Gedan­ ken machen könne, dereinst mit hohem materiellen Gewicht an Geld und Gut belastet ins Grab zu sinken«.10 Wenn ande­ re Bedürfnisse die Oberhand gewinnen, könnte das der »Ar­ beitsethik« einen schweren Schlag versetzen. »Wer will noch ar­ beiten?«, titelte Newsweek im März 1973." Die Ajntwort steckte schon in der Frage. In dieser Analyse wird gerade der relative materielle Wohl­ stand, der nach Beils Überzeugung eine dauerhafte Einwil­ ligung in die Ausbeutung der Lohnarbeit besiegelt hatte, als Quelle neuer Verwerfungen ausgemacht. So setzte ein Umden­ ken hinsichtlich der Ursachen der Revolte ein. Warum wird auf­ begehrt? Einst hatte es geheißen: aus Bedürftigkeit. Nunmehr hieß es: Weil wir Luxus haben.12 Die Fabrik ist einer der Orte, an denen neue Bestrebungen und alte Strukturen am härtesten aufeinanderprallen. Also ist Vorsicht geboten, denn »eine anachronistische Arbeitsorganisa­ tion kann einen explosiven und infektiösen Cocktail erzeugen«.13 »In manchen Fällen«, lässt uns der Managementdozent Richard Walton wissen, »drückt sich Entfremdung in einem passiven Rückzug aus - Verspätungen, Fernbleiben, Wechsel des Arbeits­ platzes, Nachlässigkeiten bei der Arbeit; in anderen Fällen in ak­ tiven Angriffen - Diebstähle, Sabotageakte, Feindseligkeiten, Aggressionen, Bombendrohungen und andere Störungen der Arbeit«.14 Gerade »diese Formen der Gewalt sind in den Fabri­ ken auf dem Vormarsch«.15Die Gefahr sei politischer Natur: Der Arbeiter drohe, »seine Frustration zu verlagern, indem er sich in radikalen sozialen oder politischen Bewegungen engagiert«.16 Als Echo auf den Streik in Lordstown rückte eine Weile die Frage nach der »Lebensqualität bei der Arbeit« in den Mittel­ punkt der öffentlichen Debatte in Amerika. 1972 fragte die Har­ vard Business Review in Anlehnung an die Terminologie des jun­ gen Marx: »Was tun gegen die Entfremdung in der Fabrik?« 28

Kapitel 2: Das Humankapital

Und der Kongress organisierte im selben Jahr Anhörungen vor dem Senat über die »Entfremdung des Arbeiters«.17 Doch problematisch ist die Entfremdung vor allem aus öko­ nomischen Gründen, aufgrund ihrer negativen Auswirkungen auf die Produktivität. Wenn es eine Lehre aus der LordstownEpisode zu ziehen gebe, dann die, dass man »die Interaktion zwi­ schen dem Personal und dem Kapital, der Technologie, zu sehr vernachlässigt« habe.18Denn was nützt es, »ein »vollkommen effizientes< Montageband zu haben, wenn die Arbeiter streiken wegen des Gefühls der Schinderei und Entmenschlichung, das sie bei der Arbeit an diesem »perfektem Band empfinden?«.19 Wenn Sie Ihr Berufsleben noch einmal von vorn beginnen könnten, würden Sie wieder den gleichen Arbeitsplatz wählen wie den, den Sie derzeit innehaben? Auf diese Frage antwor­ teten Mitte der 1960er Jahre 93 % der Universitätsprofessoren und 82% der Journalisten mit ja, aber nur 31% der Textilarbeiter und 16% der angelernten Arbeiter in der Automobilindustrie.20 Die Autoren der Studie gelangten zu dem Schluss, dass abge­ sehen von der geringeren körperlichen Belastung Autonomie der ausschlaggebende Faktor der Arbeitszufriedenheit sei. Um­ gekehrt liege Entfremdung vor, »wenn die Arbeiter nicht die Möglichkeit haben, ihren unmittelbaren Arbeitsprozess zu kon­ trollieren«.21 Unter Verweis auf die Vorzüge von »Autonomie und Selbst­ kontrolle«22 in einer ihrer Meinung nach »überregulierten und überkontrollierten Industrie«23 empfahlen die Unternehmens­ reformer der 1970er Jahre, die Arbeiter zur »Teilhabe« anzure­ gen, um zugleich ihre Produktivität und ihre Zufriedenheit zu steigern. Der alten »Kontrollstrategie« setzten sie eine »Mit­ wirkungsstrategie«24 entgegen. Während Erstere, als intensive, durch verstärkte Disziplin noch Druck auf die Arbeiter aus­ zuüben versuchte, beabsichtigte Letztere, als extensive, »ihre »latente< Produktivität anzuzapfen«.25 In diesem Sinne wurden in den Vereinigten Staaten mehrere 29

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Pilotprojekte in partizipativem Management gestartet.26 Konnte sich die französische Linke hinsichtlich ihrer Selbstverwaltungs­ vorstellungen auf die Erfahrungen der 1973 von ihren Arbeitern besetzten Uhrenfabrik LIP in Besançon stützen, so die amerika­ nischen Manager, um die Vorzüge der Partizipation zu beur­ teilen, auf den Fall des Hundefutterherstellers General Foods in Topeka (Kansas) von 1971. Das Werk war der Gegenentwurf zu Lordstown: Regeln wurden im Kollektiv vereinbart und die Betriebsabläufe in »autonomen Fertigungsgruppen« organisiert, »selbst gemanagte« Teams, die für weite Teile der Produktion verantwortlich zeichneten.27 Darin war man sich einig: »Die Produktivität erhöht sich [...], wenn die Arbeiter an Entscheidungen teilhaben, die ihr Leben betreffen.«28»Die Aufgabenbereicherung«, so der Psycho­ loge Frederick Herzberg zusammenfassend, »zahlt sich aus«.29 Dank dieses Befundes konnte man endlich die frohe Botschaft verkünden: Es gibt eine »erfreuliche Übereinstimmung zwi­ schen der Zufriedenheit der Arbeiter und der Verwirklichung von Unternehmenszielen«.30 Für die Arbeiter mehr Zufrieden­ heit; für das Kapital eine höhere Produktivität. Letzten Endes hätten alle dabei nur zu gewinnen gehabt. Allerdings gab es zumindest eine soziale Gruppe, die meinte, etwas dabei zu verlieren: Das Management fürchtete, auf die­ se Weise um einen wichtigen Teil seiner Vorrechte gebracht zu werden.3' Der militante Arbeiter Bill Watson erzählt folgende Anekdote: In der Fabrik, in der er arbeitete, hatte die Direktion beschlossen, eine Periode betriebsbedingter Kurzarbeit dafür zu nutzen, eine Lagerinventur durchzuführen, deren Dauer auf sechs Wochen angesetzt war. Der Job war einer Gruppe von et­ wa fünfzig Arbeitern anvertraut worden, die, um Zeit zu sparen, ein eigenes System austüftelten, eine selbstorganisierte Inventur, die sich als effizienter erwies als das ursprünglich vom Manage­ ment vorgesehene Verfahren. Die Direktion setzte diesem spon­ tanen Experiment ein jähes Ende, mit der Begründung, »dass 30

Kapitel 2: Das Humankapital

die legitimen Autoritäts-, Kompetenz- und Kommunikations­ wege übergangen worden« seien.32 »Das Management«, so Wat­ sons Kommentar, »war zu allem bereit, um die Arbeiter daran zu hindern, ihre Arbeit selbst zu organisieren, selbst wenn da­ durch die Inventur schneller beendet gewesen wäre, sie früher hätten nach Hause gehen können und obendrein sogar weniger Lohn hätte gezahlt werden müssen.«33 Es konnte also sein, dass die Manager dem Erhalt ihrer Macht einen höheren Wert bei­ maßen als Überlegungen rein wirtschaftlicher Effizienz. Wenn »die Versuche, eine Fabrikdemokratie zu etablieren, letztlich fehlschlugen«, dann lag das, auch nach Meinung von Business Week, daran, »dass die Manager sich in ihrer Stellung be­ droht fühlten durch den Erfolg solcher Experimente, bei denen die Arbeiter die Initiative in Entscheidungsfragen ergriffen«.34 »In Wahrheit«, so André Gorz, »hat die ablehnende Haltung der Unternehmer keine vorrangig technischen oder wirtschaft­ lichen Gründe. Sie ist politischer Natur. Die Aufgabenbereiche­ rung bedeutet das Ende der despotischen Macht und Gewalt der ganzen großen und kleinen Chefs. [...] Kurzum, hat man einmal diesen Weg eingeschlagen, wo ist dann noch ein Ende in Sicht?«33 Konnte man die Produktivitätsgewinne, die von der Partizi­ pation herrührten, abschöpfen, ohne die Kontrolle zu verlieren, ohne gefährliche Dynamiken auszulösen? Die Reformatoren setzten darauf, dass man den Arbeitern ein beschränktes Maß an Autonomie zugestehen könne, ohne dass die Sache ausartet; andere zeigten sich diesbezüglich deutlich skeptischer. Das Pro­ blem mit der Autonomie ist, dass sie sich, einmal eingefiihrt, schlecht damit abfindet, auf halbem Wege stehenzubleiben. Man fürchtete einen »Dominoeffekt«.36 Tatsächlich waren aus unternehmerischer Sicht die Hand­ lungsspielräume gering. Welche Optionen hatte man? Erste Strategie: der Status quo, wenn nicht sogar eine Verschärfung der bestehenden Disziplinarordnung, allerdings auf die Gefahr 31

Teil I

hin, die Disziplinlosigkeiten und sozialen Konflikte zu intensi­ vieren, mit allem, was dies an entgangenen Gewinnen beinhal­ tete. Zweite Option: »Partizipation« einfuhren, mit dem Ver­ sprechen auf einen harmonischen Interessenausgleich, zugleich weniger Entfremdung und mehr Produktivität - nur, dass man der Idylle nicht traute und befürchtete, selbst mit beschränkten Formen der Autonomie den Bock zum Gärtner zu machen. Das war das Dilemma: Entweder zurück zu einer Diszipli­ narordnung, von der man wusste, dass sie kontraproduktiv war, oder hin zu einer Autonomie, die sich, selbst wenn sie bloßer Schein war, als gefährlich erweisen konnte. Somit befand man sich in einer Sackgasse. Allerdings zeichnete sich am Horizont eine weitere Lösung ab.

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Kapitel 3 : Soziale Unsicherheit »[W] eichen Grund zur Furcht haben sie, wenn man ihnen versichert, falls sie durch ihre eigene Faulheit und Verschwen­ dung, Trunksucht und Liederlichkeit in Not geraten sollten, würden sie auf Kosten anderer reichlich versorgt werden, nicht nur mit Nahrung und Kleidung, sondern auch mit ihren gewohnten Annehmlichkeiten?«1

Joseph Townsend 1970 besucht ein Reporter des Wall Street Journal eine Fabrik. Am Band trifft er auf lange Haare, Bärte und manchmal auch, als Plakette an einem T-Shirt, ein Friedenszeichen. Vor allem aber auf »junge Gesichter, Augen voller Neugier, Augen, die den Protest im Land sich haben ausbreiten sehen«. Er mustert diese Blicke, die ihn überraschen, und gelangt zu dem Schluss: »Sie scheinen keine Angst zu haben.«2 Genau das ist, für die Unter­ nehmerseite, das Hauptproblem. Woher stammt diese neue Unerschrockenheit? Diese Ju­ gend weiß nichts von den »harten wirtschaftlichen Realitäten der vorherigen Epoche«.3Früher hatten jene, die zu jung waren für die düsteren Jahre der Depressionskrise nach 1929, zumin­ dest in den Familien darüber sprechen hören. Doch dieses sozia­ le Gedächtnis sei, wie manche begründen, schließlich verloren gegangen: »Es hat lange gedauert - zwei Generationen - , be­ vor die Angst vor wirtschaftlicher Not als Ansporn nicht mehr wirkt.«4Die heutigen Arbeiter, die »nie erfahren haben, was Not oder Angst, ja nicht einmal, was wirtschaftliche Unsicherheit 33

Teil I

bedeutet, wissen im Grunde, dass, was auch passiert, die Politik sie nicht verhungern lassen wird.«5 Der Hauptgrund »unserer derzeitigen Schwierigkeiten mit dem Personal«, liege, nach den Worten eines führenden FordVertreters, Malcolm Denise, »an einer allgemein nachlassen­ den Frustrationstoleranz bei den Beschäftigten«.6 Der Gedan­ ke, dass es unterschiedliche Grade an »Frustrationstoleranz« gibt, stammte aus der Verhaltenspsychologie. Ende der 1930er Jahre hatten Forscher Experimente an Schimpansen durchgefuhrt, aus denen hervorging, dass Individuen, die zu Beginn ihres Lebens nur wenige Frustrationserfahrungen gemacht hat­ ten, »ein zu geringes Niveau an Frustrationstoleranz entwickeln, um mit späteren Frustrationen fertig zu werden«.7 Die Psycho­ logen schlossen daraus, dass die wesentliche Aufgabe einer rich­ tig verstandenen Pädagogik weniger darin bestünde, dem jun­ gen Subjekt bei der Selbstverwirklichung zu helfen, als es durch Disziplin in »Frustrationstoleranz zu schulen«. Die Erklärung dieser Knecht-Ruprecht-Theorie für »abweichendes Verhalten« fiel entsprechend aus. Ein undisziplinierter Mensch sei ein Sub­ jekt mit einer krankhaft niedrigen Frustrationstoleranzschwelle. Um ihn davon zu kurieren, müsse man ihm beibringen, bei sei­ nen Wünschen Abstriche zu machen: »Die Umerziehung oder Psychotherapie ist [...] ein Prozess zum Aufbau von Frustra­ tionstoleranz, der dem Patienten ermöglicht [...], Erfahrung mit kleinen, zumutbaren Dosen an Frustration zu machen, bis sich der Widerstand allmählich entwickelt hat und Zonen mit schwacher Frustrationstoleranz verschwinden.«8 Dieses Interpretationsschema auf Arbeiterrevolten zu über­ tragen, hieß, sie als Äußerungen psychischer Unreife, als Launen verwöhnter Kinder darzustellen. Die Verortung des Problems in einer zu geringen Frustrationstoleranz der Subjekte lief auf eine Leugnung der Tatsache hinaus, dass die entscheidende Frage die zu große Unzufriedenheit mit einer entfremdenden Arbeit war. Die Arbeiter, hieß es pauschal, seien zu wehleidig geworden. 34

Kapitel 3: Soziale Unsicherheit

»Krankfeiern«, behauptete ein General-Motors-Funktionär, »ist keine Folge monotoner Arbeit, sondern des wirtschaftlichen Wohlstands der Nation, des hohen Grades an Sicherheit und der vielen von der Industrie bereitgestellten Sozialleistungen.«9 Die Problemverschiebung schritt zügig voran: Anstatt nach Mitteln zu suchen, um den »blue-collar blues« zu beseitigen, empfahl man, sich mehr für die vorteilhaften sozialen Bedin­ gungen zu interessieren, die den Arbeitern den Luxus erlaubten, sich so unverschämt zu geben. Das Problem sei nicht die zu har­ te Arbeit, sondern die zu weiche Gesellschaft. Schon Ende der 1960er Jahre - und damit längst vor der be­ rühmten »Ölkrise« von 1973, die oft als historische Zäsur her­ halten muss - begann die Profitrate in den Vereinigten Staaten zu sinken.10 In Wirtschaftskreisen war man sich dessen bewusst und machte sich Sorgen. Wie ließ sich diese Talfahrt erklären? Die Mainstream-Wirtschaftspresse war schnell mit einer Theo­ rie oder vielmehr einer Ideologie der Profitabilitätskrise zur Hand. Im März 1969 berichtete Fortune über ein Schrumpfen der Profite.11 Im Juli hatte das Magazin den Schuldigen gefunden: die steigenden Arbeitskosten,12 ihrerseits bedingt durch die Kampfbereitschaft der Arbeiter. Angesichts einer galoppieren­ den Inflation und steigender Preise gelinge es den Gewerkschaf­ ten noch, Lohnerhöhungen auszuhandeln.13Zugleich stagniere die Arbeitsproduktivität, die zuvor in raschem Tempo gestiegen war. Wenn die Profite nachgäben, so sei dies, wurde behauptet, einzig dem Zusammenwirken dieser beiden Faktoren geschul­ det: Während die Löhne unter dem Druck der Kämpfe zunäh­ men, würden die steigenden Arbeitskosten nicht mehr durch ein hinreichend starkes Produktivitätswachstum kompensiert. Wenn aber die »Produktivität nachzulassen beginnt, dann weil die Produzenten bestimmte Motivationen - Angst und Elan verloren haben. Wir können uns also darauf gefasst machen, dass die derzeitige Inflation noch länger anhält.«14 35

Teil I

Die Debatten über die Ursachen der »profit queeze«, der »Profitldemme«, spalteten die Ökonomen. Die Keynesianer ar­ gumentierten, wie üblich, mit der Nachfrageschwäche, einem Unterkonsumtionsphänomen. Manche Marxisten machten sich seltsamerweise die Theorie der /wtawi’-Leitartikler zu eigen, während andere alternative Erklärungen formulierten.'5 Doch was man auch als ausschlaggebenden Faktor für den Fall der Profitrate ausmachte - Stärke der Arbeiterklasse (Boddy und Crotty), Überakkumulation (Sweezy), zunehmender interna­ tionaler Wettbewerb und seine Auswirkungen auf die Preise (Brenner) - , »eines war sicher: Die Lösung der Krise bestand, wie noch zu zeigen sein wird, im Angriff auf die Arbeit«.'6 Die vorherrschende Krisentheorie - nennen wir sie »Kräf­ teverhältnistheorie« - beanstandete eine die Arbeiter und ihre Kämpfe zu sehr begünstigende sozioökonomische Lage. Jenseits psychologischer Überlegungen schrieb sie diese Situation drei wesentlichen Faktoren zu: i.) dem keynesianischen Bemühen um Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung; 2.) den sozialen Sicherheitsnetzen des Wohlfahrtsstaates; 3.) der Stärke der Ge­ werkschaften. Wenn man den Trend umkehren wolle, dürfe kei­ ner dieser drei Pfeiler stehenbleiben. Tatsächlich zeichnete sich der Arbeitsmarkt in den Vereinig­ ten Staaten bis ins erste Drittel der 1970er Jahre durch eine Si­ tuation der Quasi-Vollbeschäftigung aus. Unter diesen Um­ ständen wurde die schärfste Waffe, über die ein Unternehmer verfügt, die Entlassung, als nicht mehr so bedrohlich wahrge­ nommen. »Um Arbeit zu finden«, erinnert sich ein Teamster aus Detroit, »genügte es, sich irgendwo in einem Lager oder Dock vorzustellen. Es war uns scheißegal, ob wir gefeuert wur­ den.«'7 Daher rührte auch eine Fähigkeit, nein zu sagen, eine Freiheit und Stärke, über die man sich auf der Gegenseite Sor­ gen machte. »Wenn die Regierung eines Landes ausdrücklich verpflichtet ist, die Vollbeschäftigung aufrechtzuerhalten, welche Kräfte sol36

Kapitel 3: Soziale Unsicherheit

len dann«, so fragte Business Week 1970, »die im Übrigen voll­ kommen verständlichen Forderungen der Arbeiter nach mehr Geld und mehr Macht in Grenzen halten?«18 Wenn die Dis­ ziplinlosigkeit der Arbeiter tatsächlich ein Resultat der Voll­ beschäftigung ist, dann müsse man ernsthaft darüber nachdenken, diese aufzugeben. »Massenbeschäftigung ist keine politisch tragfähige Option [...]. Im Klartext: Was dieses Land braucht, um diese Bande von Taugenichtsen zur Räson zu bringen, ist eine ordentliche Depression«, schrieb zu Beginn der 1970er Jah­ re ein Wirtschaftskolumnist, dem es umso leichter fiel zu pro­ vozieren, als er seine Texte mit einem Decknamen - einem viel­ sagenden Pseudonym - zeichnete: »Adam Smith«.19 Wenn der naturwüchsige Krisenverlauf des Kapitalismus kei­ ne derartige Gelegenheit bietet, kann man sich immer noch be­ mühen, künstlich eine Krise herbeizufuhren. Was auch geschah, mit Hoffnung auf mehr: »Zwischen 1969 und 1970 provozierte die Nixon-Administration eine kurze Rezession, um die W irt­ schaft abzukühlen - ein Euphemismus, um die Arbeiter in die Schranken zu weisen.«20 Im August 1971 kündigte sie eine Lohnund Preiskontrolle an. Ziel dieses Lohnstopps war, wie ein Bera­ ter des Weißen Hauses verriet, »den Arbeitern einen Schuss vor den Bug zu verpassen, und das haben wir auch getan«.21 Diese Politik begann, Früchte zu tragen, ein Fortune-Redakteur nahm 1971 erste Hoffnungszeichen wahr: Sollte der Trend zu steigender Arbeitslosigkeit sich bestätigen, »könnte sich die Haltung der Arbeiter schnell ändern«.22 Denn man müsse wis­ sen, dass »selbst eine geringe Zahl von Entlassungen eine äu­ ßerst beruhigende Wirkung«23auf den Eifer der Protestierenden haben könne. Solange allerdings soziale Sicherheitsnetze existierten, kön­ ne die Drohung mit dem Arbeitsplatzverlust nicht voll durch­ schlagen, da »die Existenz der Arbeitslosenversicherung den mit dem Entlassenwerden verbundenen Charakter einer >Strafe< ab­ schwächt«.24 Öffentlich jedoch wurde der Angriff auf das So37

Teil I

zialsystem mit einer anderen Art von Diskurs gerechtfertigt. Neokonservative Ideologen, allen voran George Gilder, ent­ wickelten eine anti-wohlfahrtsstaatliche Rhetorik, mit der sie die »Kultur der Armut« anprangerten: »Die Armen müssen hart arbeiten, ja sogar härter als die Klassen über ihnen [...], doch die Armen von heute weigern sich, hart zu arbeiten.« Wenn sich jedoch »die Armen für den Müßiggang entscheiden, dann nicht aus moralischer Schwäche, sondern weil man sie dafür be­ lohnt«.1S Für Gilder stellte der Wohlfahrtsstaat eine moralische, wenn nicht zivilisatorische Gefahr dar: Durch Hilfsprogramme für den Lebensunterhalt würde der Sozialstaat die Bedürftigs­ ten der Verpflichtung entheben, sich voll und ganz den Markt­ mechanismen zu unterwerfen, die als mächtige Anreize zu tu­ gendhaftem Verhalten präsentiert werden. Demnach würde das Arbeitslosengeld die Faulheit fördern; der Rentenanspruch die Kinder von der Sorge für ihre Eltern entbinden, Beihilfen für Behinderte oberflächliche physische Defekte aufbauschen usw. Die alten Doktrinen kehrten mit Macht zurück. Schon 1786 hatte sich der Brite Joseph Townsend, in seiner berühmten Ab­ handlung Über die Armengesetze, mit ähnlichen Argumenten ge­ gen Unterstützungsmaßnahmen gewandt, die in seinen Augen den Fehler machten, den Nodeidenden den Magen zu füllen und dadurch die wertvolle Triebkraft des Hungers zu beseitigen. Um die Armen zum Arbeiten zu veranlassen, sei es nicht nötig, sie per Gesetz zu zwingen. Das »geht einher mit zu viel Ärgernis, Gewalt und Lärm. [...] Hunger dagegen übt nicht nur fried­ lichen, schweigsamen, gleichmäßigen Druck aus, sondern er ist der natürlichste Antrieb zu Fleiß und Mühen und ruft deshalb die stärksten Kraftanstrengungen hervor. [...] Ein Sklave muss zur Arbeit gezwungen werden; ein freier Mann sollte selbst ent­ scheiden und urteilen dürfen.«16 Ein kostbares Dokument für eine Genealogie der liberalen Moral: Worin man erfahrt, dass ihre Auffassung von »Freiheit« die Peitsche des Elends voraus­ setzt und die Abschaffung gesellschaftlich instituierter Solidar38

Kapitel 3: Soziale Unsicherheit

Strukturen Entstehungsbedingung fur die Gestalt des »willigen Arbeiters« ist.27 In der Nachkriegszeit konnte man sich allerdings dem auf­ richtigen Glauben hingeben, solche alten Modelle überwunden zu haben. Während in vorherigen Phasen des Kapitalismus die soziale Unsicherheit noch für nützlich erachtet werden konnte, »weil sie die Menschen [...] dazu drängt[e], sich so sehr wie nur möglich anzustrengen«,28 so sei in einem »Zeitalter des Über­ flusses« klar geworden, wie Galbraith 1959 befand, dass ein »ho­ her Grad sozialer Sicherheit [...] wichtig für ein Maximum an Produktivität« ist.29 Arbeitslosengelder beispielsweise würden keineswegs ein Nachlassen der Arbeitsleistung bewirken, son­ dern durch Aufrechterhaltung einer konstanten Nachfrage eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung der Wirtschaft spielen. Doch ein neuerlicher Ausschlag des Pendels in die andere Richtung stellte diesen Konsens zu Beginn der 1970er Jahre wieder in Frage. Wohin manche nun wieder zurückzukehren wünschten, waren Gesellschaften der sozialen Unsicherheit. »Die Vollbeschäftigungspolitik der Regierung«, schrieb Gilbert Burck 1971 in Fortune, »hat die alten Ängste, langfristig ohne Arbeit dazustehen, praktisch beseitigt. Das Arbeitslosengeld, zusammen mit anderen Stoßdämpfern, die eine wohlmeinen­ de Gesellschaft: eingeführt hat, ermutigt zu Streiks, weil es den Streikenden ermöglicht, aus einer relativ komfortablen Position heraus abzuwarten, dass der Arbeitgeber kapituliert.«30 Daher das Programm: Demontage dieser »Stoßdämpfer«, um die »al­ ten Ängste« wiederzubeleben, die sie zum Verstummen gebracht hatten. Wie soll man die Arbeiter disziplinieren? Die erste Option war, wie gesehen, die Disziplinarmacht zu intensivieren, auf die Gefahr hin, Gegeneffekte zu erzeugen. Die zweite, von Manage­ mentreformern vorgeschlagene Lösung bestand in der Einfüh­ rung partizipatorischer Formen, zum Zweck der Selbstdiszipli­ nierung. »Die Management-Initiativen zur >Humanisierung< 39

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der Arbeit sind«, so die Analyse von Stephen Marglin, »im All­ gemeinen eine Reaktion auf die gestiegenen Axbeitskosten in Verbindung mit der Disziplinlosigkeit, die ihrerseits dem Wohl­ stand entspringt«31 - doch alle diese schönen Projekte kamen zum Erliegen, als die Arbeitslosigkeit wieder auf die Tagesord­ nung trat. Damit eröffnete sich eine dritte Perspektive: Um drinnen zu disziplinieren, musste man nur die Faktoren ökonomischer und sozialer Unsicherheit draußen voll zur Entfaltung kommen las­ sen. Wenn die Leute weiter unter Bedingungen arbeiteten, die sie eigentlich hassten, erklärte der militante Arbeiter John Lippert gegen Ende der 1970er Jahre, zu einem Zeitpunkt, als sich der Konjunkturrückgang bereits abzeichnete, dann nicht »we­ gen der internen Kontrolle der Firma über die Arbeiter. Die Kontrolle kommt eher von außen: Die ökonomischen Verluste wären zu gravierend, wenn die Arbeiter täten, was ihr Instinkt ihnen sagt: Dem Laden den Rücken kehren und nie wieder einen Fuß hineinsetzen.«32 Disziplin wird in geschlossenen Institutionen, vom Typ Ge­ fängnis, die man nur durch Flucht verlassen kann, nicht auf die gleiche Weise hergestellt wie in offenen Institutionen, vom Typ Unternehmen, denen man jederzeit kündigen kann. In ersteren herrscht Disziplin in einem abgeschotteten Raum, indem man die Betroffenen am Gehen hindert, in letzteren funktio­ niert sie umgekehrt, indem man ihnen mit Rauswurf droht. Hier die Einsperrung, dort die Entlassung. In Institutionen, die die Betroffenen aus »freien Stücken« verlassen können, reicht die Strenge der internen Disziplinarmacht normalerweise nicht aus, um ihre Fügsamkeit zu erzwingen. Vielmehr ist, wo es an einer hinreichend positiven Motivierung fehlt, der negative An­ reiz externer Disziplinierungseffekte erforderlich. Der Begriff spaltet sich auf. Es gibt nicht mehr nur eine Disziplin, sondern mindestens zwei: Eine Disziplinarmacht im Inneren und einen Disziplinierungsdruck von außen, in einer Konstellation, bei 40

Kapitel 3: Soziale Unsicherheit

der die Intensität des Letzteren den Grad der Unterwerfungs­ bereitschaft: unter die Erstere bestimmt.33 Die Generationen, die nach 1973 geboren wurden, die in einem Zeitalter der »Dauerkrise« aufgewachsen sind, haben nacheinander den Gedanken verinnerlicht, dass jede von ihnen alles in allem schlechter leben würde als die vorherige. Sie haben wieder gelernt, Angst zu haben. Eine historische Trendwende, die man auch als eine Art Großgruppentherapie, eine Massen­ erziehung zur »Frustrationstoleranz« verstehen kann.

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Kapitel 4: Krieg den Gewerkschaften »Geschäftsleute des gleichen Gewerbes kommen selten, selbst zu Festen und zur Zerstreuung, zusammen, ohne daß das Gespräch in einer Verschwörung gegen die Öffent­ lichkeit endet oder irgendein Plan ausgeheckt wird, wie man die Preise erhöhen kann. Solche Zusammenkünfte kann man aber unmöglich durch irgendein Gesetz unterbinden, das durchführbar oder mit Freiheit und Gerechtigkeit vereinbar wäre.«1 Adam Smith »Das Land kann sich den Luxus nicht leisten, den Arbeiterforde­ rungen nachzugeben«, titelte Business Week im April 1970: »Die neue Gewerkschaftsmilitanz könnte die Löhne sprunghaft ansteigen lassen und eine galoppierende Inflation auslösen.«2 Das Magazin kritisierte, dass die Wirtschaft durch die Gewerkschaf­ ten quasi in Geiselhaft genommen würde: »Das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft setzt voraus, dass keine ihrer Gruppen so viel Macht ansammelt, um den anderen ihren Wil­ len aufzwingen zu können. [...] Sind die Tarifverhandlungen noch Verhandlungen oder haben sie sich nicht eher in eine Art Erpressung durch die Gewerkschaften verwandelt?«3 »Das größte wirtschaftliche Problem, vor dem die westliche Welt zu Beginn der 1970er Jahre steht«, legte Gilbert Burck in Fortune nach, »ist das der Inflation, verbunden mit den Kosten, die durch übertriebene Lohnerhöhungen verursacht werden. [...] Das Phänomen ist überall in der westlichen Welt iden42

Kapitel 4: Krieg den Gewerkschaften

tisch: Die Arbeiterorganisationen stehen im Begriff, den Bogen zu überspannen.«4 Doch war dieser Befund auch paradox, denn während man einerseits den Machtmissbrauch der Gewerkschaften anpran­ gerte, sorgte man sich andererseits um ihren Autoritätsverlust. »Die Gewerkschaftsfuhrungen scheinen«, nach dem Eindruck von Richard Armstrong in Fortune, nicht mehr in der Lage zu sein, eine »gierige und aufsässige« Basis5 zu kontrollieren, die immer offensichtlicher von einem »wachsenden Gefühl des Zorns und der Empörung gegen das Management, ihre eigenen Führer und in einem erheblichen Maße auch gegen die ganze Gesellschaft ergriffen ist«.6 Da die Gewerkschaftsfuhrungen immer weniger in der La­ ge seien, ihre Truppen im Zaum zu halten, scheinen sie auch nicht mehr geeignet, eine Rolle als Wahrer des sozialen Frie­ dens zu spielen. »Sind die alternden Gewerkschaftsbosse aus der Übung gekommen?«7 Letztlich hätten auch sie mit einer Krise der Regierbarkeit zu kämpfen. Zurzeit, klagte ein Manager der Autoindustrie, ist unser Gesprächspartner nicht mehr der üb­ liche Gewerkschaftsbürokrat, sondern »ein engstirniger Typ, der verantwortungslose Ortsleiter«.8Diese Machtübernahme durch »gesichtslose Basisaktivisten« schien auf »ein neues Zeitalter in den Beziehungen zwischen den Tarifparteien« hinzudeuten, das möglicherweise durch Streiks unbekannten Ausmaßes gekenn­ zeichnet sein würde.9 In der Nachkriegszeit hätten sich die amerikanischen Ge­ werkschaften, laut der Analyse des Soziologen Michael Burawoy von 1979, in den »Binnenstaat« des Unternehmens integriert. Durch den Einbezug in ein geregeltes Verfahren tariflicher Ver­ handlungen unter weitgehendem Verzicht auf reale Auseinan­ dersetzungen trugen sie mehr dazu bei, die herrschende Ord­ nung zu reproduzieren, als sie in Frage zu stellen.10 Indem sie sich an einer Art »Privatregierung in der Industrie«11beteiligten, sicherten sie, zusammen mit der Aufrechterhaltung der Fabrik43

Teil I

Ordnung, auch die Herstellung von Konsens, die Hegemonie des bestehenden Produktionssystems. Im gleichen Moment, als der marxistische Soziologe seine Thesen vortrug und schlüssig nachwies, wie festgefügt dieses Herrschaftssystem war, begann es in seinem Rücken bereits zu bröckeln.12 Aus unternehmerischer Sicht war der Befund ein doppelter: die Gewerkschaften sind gleichzeitig zu stark und in gewissem Sinne zu schwach. Zu stark, insofern sie noch in der Lage sind, Lohnerhöhungen herauszuschlagen, aber nicht mehr stark ge­ nug, insofern die Gewerkschaftsbürokratien nicht mehr fähig sind, ihre Truppen zu disziplinieren.'3 Wozu, fragte man sich schließlich, soll man den Gewerkschaftsführungen weiterhin Zugeständnisse machen, wenn es nicht dazu fuhrt, sich damit den sozialen Frieden an der Basis zu erkaufen? Man bereitete eine Kraftprobe vor, allerdings nur auf einer Seite des Verhandlungstisches, denn die Gewerkschaftsführer hatten nichts kommen sehen.14Als sie endlich verstanden, war es bereits reichlich spät und aus ihrer Reaktion sprach Verbitte­ rung. 1978 schlug Douglas Fraser, eine der großen Persönlich­ keiten der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung, die Tür der »Labor Management Group« hinter sich zu und verfasste einen offenen Brief, der klang wie ein politisches Testament: »Die Ver­ treter der Unternehmerschaft haben sich heute, mit wenigen Ausnahmen, dafür entschieden, in diesem Land einen einsei­ tigen Klassenkrieg zu führen - einen Krieg gegen die Arbeiter, die Arbeitslosen, die Armen, die Minderheiten [...]. In den Ver­ einigten Staaten haben die führenden Vertreter der Industrie, der Geschäfts- und Finanzwelt den zerbrechlichen, ungeschrie­ benen Vertrag gebrochen und aufgekündigt, auf dem eine nun­ mehr beendete Ära des Wachstums und des Fortschritts beruh­ te.«15 Er registrierte das Ende einer fast dreißigjährigen Periode guten Einvernehmens, in deren Verlauf sich »viele Großunter­ nehmen auf die Gewerkschaften als wesentlichen Stabilisie­ rungsfaktor verlassen hatten«.16 44

Kapitel 4: Krieg den Gewerkschaften

Auf theoretischem Gebiet war diese Trendwende durch eine geistige Strömung vorbereitet worden, deren einst minoritäre Thesen nunmehr als ideologische Unterfütterung für den Angriff auf eine grundsätzlich abgelehnte Gewerkschaftsbewe­ gung dienten sollten. Die neoliberalen Ökonomen formulier­ ten seit langem eine aggressive Kritik an den Gewerkschaften. Der Wirtschaftswissenschaftler Fritz Machlup charakterisierte schon 1947 ihr Vorgehen als Versuch »einer monopolistischen Lohnfestsetzung«.17 Im gleichen Zeitraum kritisierte Henry C. Simons, ein vehementer Gegner des New Deal und Mentor des jungen Milton Friedman, die »Anomalien der Kontrolle durch freiwilligen Zusammenschluss«: Angesichts der drohen­ den Entstehung einer Art Gewerkschaftsregierung sei es lebens­ wichtig, »die Konkurrenzdisziplin zu wahren«.18 In diesen stra­ tegischen Debatten, die die Mont Pèlerin Society, Wiege und Vorhut des Neoliberalismus, in dieser Frage spalteten, vertrat Machlup eine konfrontative Position: »Der industrielle Frieden ist etwas, das wir furchten sollten, denn er kann nur um den Preis einer wachsenden Verzerrung der Lohnstruktur erkauft werden.«19 Es war diese Position, die sich zu Beginn der 1970er Jahre bei den Wirtschaftseliten durchsetzte. Fortune geißelte 1971 »die monopolistische Macht der Arbeiterschaft«20: »Da man ihnen gestattet, sich wie Armeen zu organisieren, greifen die Gewerk­ schaften zu Zwang und Einschüchterung und schrecken nicht davor zurück, die ganze Wirtschaft zu destabilisieren, um ihre Ziele zu erreichen. [...] Die Frage ist nicht mehr, ob man diese Macht in die Schranken weisen soll, sondern wie. Entscheidend ist zu verstehen, dass die Macht der Gewerkschaften nicht na­ turgegeben ist. Sie hängt nämlich von einer ganzen Reihe von Freiheiten und Privilegien ab, die die Regierung den Gewerk­ schaften einräumt, um ihnen ein Refugium zu schaffen, wie es in unserer Gesellschaft kein zweites gibt. Unsere Aufgabe ist, dieses Refugium zu zerstören.«21 45

Teil I

Das konnte die Form direkter politischer Attacken von oben annehmen, aber auch örtlich begrenzter Manöver. Ab Mitte der 1970er Jahre entstand das bald florierende Gewerbe einer neuen Art von Unternehmensberatern, der »Union buster«.“ Sie sind leitender Angestellter in einem amerikanischen Groß­ unternehmen und finden in Ihrem Briefkasten eine Broschüre mit dem Titel: »Gewerkschaften: wie vermeiden, wie besiegen, wie loswerdem. Beigefugt ist eine Einladung zu einem dreitägigen Seminar in einem großen Hotel. Bei der Ankunft am Vorabend treffen Sie auf die Organisatoren. Die Erscheinung des ersten, eines Arbeitspsychologen - Bart, offenes Hemd, hochgekrem­ pelte Ärmel - , stimmt Sie zunächst skeptisch, bevor Sie verste­ hen, dass diese ungezwungene Art Teil eines Berufs ist, den er seit mehr als zwanzig Jahren bei amerikanischen Großunterneh­ men wie IBM, Shell, Dupont oder Texas Instruments ausübt. Der zweite ist ein New Yorker Anwalt und trägt die obligatori­ sche Uniform: dunkler Anzug und maßgeschneidertes Hemd. Das Seminar gliedert sich in drei Teile: 1.) wie der Gewerk­ schaftsbildung Vorbeugen?; 2.) wie eine gerade entstehende Ge­ werkschaftsorganisation bekämpfen?; 3.) wie einen Betrieb »ge­ werkschaftsfrei« bekommen? Der erste Tag ist dem »Industriepsychologen« Vorbehalten, der Ihnen erklärt, »wie man Gewerkschaften überflüssig macht«: »Wenn eine Führungsriege sich in ihrem Unternehmen einer Gewerkschaft gegenübersieht, dann weil sie es so gewollt hat.« »Gegenüber Gewerkschaften gibt es nur zwei mögliche Haltun­ gen: Entweder Sie machen den Kaktus oder die Pflaume. Die Pflaume ist ein leichtes Ziel [...], der Kaktus hingegen ist zäh, wer ihn berührt, wird gestochen —Sie müssen ein dezidiert ge­ werkschaftsfeindliches Umfeld schaffen.«13 Es beginnt mit dem Einstellungsgespräch. Sie müssen lernen, die Kandidaten auszuforschen. Da das Gesetz verbietet, allzu direkte Fragen nach ihren persönlichen Überzeugungen zu stel­ len, müssen Sie Umwege gehen: »Versuchen Sie herauszufinden, 46

Kapitel 4: Krieg den Gewerkschaften

ob sie sich zugunsten progressiver Anliegen engagieren, ob sie einem Mieter- oder Verbraucherverein angehören oder anderen Aktivitäten nachgehen, die auf gewerkschaftliche Sympathien hindeuten könnten.«24 Ist jemand erst einmal eingestellt worden, machen Sie der Person klar, »dass die Firma ohne Gewerkschaft auskommt, und das seit langem. [...] Wir sagen nicht, dass Gewerkschaften gut, auch nicht, dass sie schlecht sind, sondern lediglich, dass wir kein Verlangen verspüren, eine bei uns zu haben; und wie es scheint, hat niemals jemand dieses Bedürfnis verspürt, denn bei uns gibt es keine Gewerkschaft.«25 Quod erat demonstrandum. Auch mit der Kunst des »störungsfreien Managements« müs­ sen Sie sich vertraut machen. »Kommen Sie nicht am Steuer eines Luxuswagens zur Arbeit. Nennen Sie die Leute nicht Ar­ beiter, nicht einmal Angestellte und nennen Sie die Chefs nicht Chefi. Jeder sollte als Teil einer einzigen großen Firma betrachtet werden. [...] Geben Sie den Leuten Bezeichnungen, vor denen sie Respekt haben, wie Techniker oder Ingenieur.«26 Um Ihnen verständlicher zu machen, was Ihre Untergebenen bewegt, gibt Ihnen der Psychologe anschließend einen Einblick in die Grundprinzipien der Lernpsychologie. Wenn Sie im Auto durch den Yellowstone-Park fahren, dort einem Bären begegnen und ihm durch das Fenster ein Bonbon reichen, »ist es fur ihn normal, ein zweites zu erwarten. [...] Wenn Sie weitermachen, werden Ihnen am Ende die Bonbons ausgehen - und der Bär wird Ihnen nicht nur die leere Tüte entreißen, sondern einen Arm oder ein Bein zerfleischen. Man darf sich fragen, warum der Bär, der doch eigentlich ein reizendes Tier ist, sich plötzlich in eine wilde Bestie verwandelt hat. Die Antwort ist einfach: Der Bär ist für sein aggressives Verhalten belohnt und darin be­ stärkt worden, genau wie die Angehörigen mancher Organisa­ tionen in ihren kollektiven Kampfmaßnahmen.«27 Nach der Mittagspause präsentiert Ihnen der Psychologe sein »Frühwarnsystem vor gewerkschaftlicher Organisierung« 47

Teil I

einen Stapel Fragebögen. Die Beschäftigten sollen Persönlich­ keitstests ausfiillen, offiziell zu dem Zweck, »Probleme des persönlichen Umgangs zu antizipieren und zu lösen«,28 die in Wahrheit aber dazu dienen, ein »psychologisches Profil der Ar­ beitskraft« zu erstellen, um die »Loyalität des Angestellten« zu beurteilen und anhand schwacher Signale jene Personen auf­ zuspüren, die am ehesten für einen Gewerkschaftsbeitritt emp­ fänglich sind.29»Fragen Sie sich, welche Beschäftigten am anfäl­ ligsten sind, wenn eine Gewerkschaft an Ihre Tür klopft. Sind diese Leute bei Ihnen wirklich gut aufgehoben? Wären sie nicht vielleicht woanders glücklicher. Schmeißen Sie sie raus. Endedigen Sie sich derer, die keinen Teamgeist haben.«30 Und haben Sie kein schlechtes Gewissen, denn es ist Ihre Freiheit, die auf dem Spiel steht. Denn wenn es keine Gewerk­ schaft gibt, dann »stellen Sie ein, wen Sie wollen, zahlen ihm, was Sie können oder wollen, entlassen ihn, wann Sie wollen. Sie weisen ihm die Aufgabe zu, die Sie wollen. Doch von der Minute an, da Sie mit einer Gewerkschaft einen Vertrag unter­ zeichnet haben [...], wird das alles anders.«3' »Wenn eine Ge­ werkschaft in Ihrer Firma Fuß fasst, wer, glauben Sie, hat dann den meisten Ärger? Nicht der Geschäftsführer oder die Vizeprä­ sidenten des Unternehmens. Sondern Sie, meine Damen und Herren, die direkten Vorgesetzten. Sie werden Tag für Tag mit der Gewerkschaft zu tun haben. Sie werden sich mit dem Ver­ trauensmann herumschlagen müssen, den Reklamationen, Be­ schwerden, Verzögerungen, Schikanen [...]. Sobald Sie eine Gewerkschaft in Ihrem Laden haben, betrifft das ganz unmit­ telbar Ihre Handlungsweise [...], die Kontrolle, die Sie über Be­ förderungen, Postenvergabe, Aufgabenverteilung, Probezeiten, Disziplin, Urlaub, Verrentungen und Entlassungen haben.« Mit diesen schönen Worten beschließt der Psychologe den ersten Seminartag. Am nächsten Tag erläutert Ihnen der Jurist eine Reihe von Manövern, mit denen Sie die Bildung einer Gewerkschaftsgrup48

Kapitel 4: Krieg den Gewerkschaften

pe behindern oder die Durchführung von Betriebsratswahlen verzögern können - Obstruktionstaktiken am Rande der Lega­ lität. Des weiteren werden Ihnen Argumentationshilfen gegen Gewerkschaften, Musterbriefe und vorformulierte Textbaustei­ ne für Ansprachen an Ihre Untergebenen ausgehändigt. Am dritten Tag schließlich verrät Ihnen der Anwalt, unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit, eine ganze Palette an Taktiken zur »Entsyndikalisierung«. Wenn Sie beispielsweise (was Ihnen empfohlen wird) Ihre Angestellten ausspionieren, sollten Sie Folgendes beherzigen: »Ich weiß, dass die Gewerk­ schaftsversammlungen im Holiday Inn stattfinden. Ich stel­ le mich mit meinem Wagen auf den Parkplatz und beobach­ te, wer reingeht. Das ist ein Akt der Überwachung, zu dem ich nicht berechtigt bin. Wenn ich mich hingegen aus irgend­ einem Grund ins Holiday Inn begebe und bei dieser Gelegen­ heit zufällig einige Personen hereinkommen sehe, dann bin ich im Recht.« Wenn die Rädelsführer erkannt sind, muss man sie ordnungsgemäß entlassen können. Auch hier wiederum, nichts leichter als das, vorausgesetzt, man hat sich rechtzeitig darauf vorbereitet: »Wenn das Management sorgfältig Buch fuhrt über Fehlzeiten und Verweise, kann es die Sache im Allgemeinen so einrichten, dass die Entlassung eines gewerkschaftsfreundlichen Arbeiters einen legalen Anstrich bekommt.«32 Als Gedächtnisstütze können Sie dieses Seminar mit einem Widmungsexemplar des Buches verlassen, das der eine oder andere dieser Berater geschrieben hat. Ein Praxisleitfaden, in dem Sie bis ins kleinste Detail alle »notwendigen Taktiken und Strategien«33 erläutert finden, die Sie brauchen, um Ihre Anti­ gewerkschaftsguerilla auf die Beine zu stellen. Wichtig sei, stets auf der Hut zu sein, beschwört Sie dieses kostbare Vademekum, die Zeichen zu erkennen, die auf eine bevorstehende Gewerkschaftstätigkeit hindeuten: wenn »ange­ regt diskutierende Gruppen plötzlich verstummen, wenn sich ein Vorgesetzter nähert«, wenn »unternehmensfeindliche Krit49

Teil I

zeleien auf den Toilettenwänden auftauchen« und diese Toilet­ ten »auf einmal viele Leute anziehen«, obwohl Ihres Wissens nach keine »Durchfallepidemie ausgebrochen ist, dann haben Sie Grund zu dem Verdacht, dass die Leute sich in den Toiletten versammeln, um etwas zu diskutieren«.34 Wenn dieser Verdacht sich bestätigt, richten Sie einen »War Room« in der Chefetage ein, eine Kommandozentrale, die als »Aktionszentrum«35fungiert. Hängen Sie ein großes Diagramm an die Wand, auf dem »abteilungsweise die Namen aller Ange­ stellten aufgelistet sind, mit dem Vermerk >GewerkschaftFirma< oder >?Eigentümern< geleitet würden. [...] Doch gibt es auch nur den Hauch eines Beweises, dass unsere Gesellschaft in den Händen der Ford Motor Company sicherer wäre als in denen von General Motors oder AT&T?«8 Zwar wäre im ersteren Fall, dem des Eigentümer-Unternehmers, die Einheit der patrimonialen Kontrolle gewahrt, doch »wem gegenüber ist der Einzel­ ne oder der Familienverband seinerseits verantwortlich?«9 Die neoliberalen Ökonomen, die solche Einwände ignorier­ ten, begaben sich auf die Suche nach Methoden zum »Ausgleich der Anreize«,10 die sich eigneten, um das Managerverhalten am Aktionärsinteresse auszurichten. Sie waren der Überzeugung, dass die Lösungen schon fertig bereitlägen. Denn wenn es kei­ ne unauffälligen Mechanismen gäbe, die im Verborgenen darauf hinwirkten, die von Berle und Means entdeckte Dynamik zu neutralisieren, wäre die Aktiengesellschaft schon längst vom Erd­ boden verschwunden, unaufhaltsam verdrängt von effizienteren Modellen auf dem Metamarkt konkurrierender Organisations­ formen. Ihr Fortbestand sei hingegen, so glaubte man, der Tat­ sache geschuldet, dass der Kontrollverlust der Eigentümer durch eine »disziplinierende Rolle der Märkte« konterkariert würde." Der Marxist Paul Sweezy, ein Gegner der Thesen von Berle und Burnham, hatte schon 1942 als einer der Ersten auf eine einfache, aber entscheidende Tatsache aufmerksam gemacht, die die fortwährende Übereinstimmung zwischen Managerkon­ trolle und Aktionärsinteresse erklärte: Das Führungspersonal der Großunternehmen, bemerkte er, »hält zwar nur einen ver­ schwindend geringen Anteil der Gesamtaktien, ist aber fest im77

Teil II

mer in Besitz erheblicher Mengen in absoluten Beträgen, sodass seine Interessen sich weitgehend mit denen der großen Masse der Aktionäre decken«.12 Der britische Ökonom Robin Marris, der gleichwohl fel­ senfest davon überzeugt war, dass im Zeitalter des »Manager­ kapitalismus« das »Management über eine beträchtliche Hand­ lungsfreiheit verfugt«,'3 machte sich zu Beginn der 1960er Jahre Gedanken über die potentiellen Auswirkungen einer veränder­ ten Entgeltstruktur bei Führungskräften. In den Vereinigten Staaten tendierten manche Ökonomen dazu, andere Einkom­ mensquellen als das Gehalt zu befürworten, darunter diverse Formen »finanzieller Vergütungen«, wie Boni und Aktienoptio­ nen, um »die Interessen der Manager enger mit denen der Ak­ tionäre abzustimmen«14 und »ein >neoklassisches Verhalten< zu fördern«.15War eine solche »institutioneile Veränderung« geeig­ net, »einige der immanenten Widersprüche der neoklassischen Auffassung des Kapitalismus«'6 zu beseitigen? Die neoliberalen Ökonomen jedenfalls hatten diese Hoff­ nung. Jensen und Meckling empfahlen, »attraktive Vergütungs­ systeme für Manager zu schaffen oder ihnen Aktienoptionen zu geben«.'7 Durch Kopplung der Managereinkommen an den Kurswert und Ertrag der Aktie könne, wie Easterbrook und Fi­ schei prognostizierten, das persönliche Interesse der Manager »mit dem der Investoren über automatische Mechanismen in Einklang gebracht werden«.'8»Die Mobilisierung«, theoretisiert heutzutage Frédéric Lordon von der anderen Seite der Barrika­ de, »ist Sache der Kolinearität: Es geht darum, das Begehren der Rekrutierten am dominanten Begehren auszurichten.«19 Das zweite große Verfahren ist negativer Art und gründet sich eher auf Bestrafung als auf Belohnung. In den 1960er Jahren erhob Henry Manne, führender Vertreter der »Law and Economics«-Strömung, einen entscheidenden Einwand gegen die These von Berle und Means: Wenn die Managerriegen, wie die­ se behaupteten, eine absolute Kontrolle über die Unternehmen 78

Kapitel 7: Die Manager disziplinieren

ausübten, wie komme es dann, dass die Geschäftsführer ziem­ lich regelmäßig gegen ihren Willen ersetzt, von anderen ver­ drängt würden? Dafür habe die managerialistische Orthodoxie keine Erklärung.20 Er schon. »Es gibt heute in der Welt«, wie sein Freund und Kollege Gordon Tullock feststellte, »Menschen und Organisationen, deren Geschäft darin besteht [...], Geld mit der Übernahme schlecht geführter Unternehmen zu machen [...]. Man kann riesige Profite machen mit der Ausschaltung der Inkompeten­ ten.«21Es gebe eine ganze Palette von Methoden, um das zu be­ werkstelligen: vom öffentlichen Übernahmeangebot, bei dem man den Inhabern verspricht, ihre Aktien zu kaufen, wenn man bis zu einem bestimmten Termin eine ausreichende Zahl hat erwerben können, bis zur »Jagd auf Vollmachten«, bei der eine Gruppe von Aktionären Stimmrechte von anderen erwirbt, um die Kontrolle über einen Vorstand zu übernehmen. Die Kontrolle eines Unternehmens wird selbst zu einem be­ gehrten Objekt, zu einer Ressource mit eigenem Wert, für die es einen Markt gibt, einen M arkt der Macht. Das war gleichbedeu­ tend mit der Entdeckung eines bis dahin von der Wirtschafts­ theorie übersehenen Aspektes der Finanzmärkte, der Existenz eines »Marktes der Unternehmenskontrolle«, auf dem »Mana­ gerteams um das Recht konkurrieren, die Unternehmensres­ sourcen zu kontrollieren - das heißt zu managen«.22 Durch die Prägung des Begriffs »Markt für Unternehmens­ kontrolle«23 unterstrich Manne 1965 »die Rolle, die der Börsen­ markt als Instrument zur Kontrolle und Disziplinierung der Manager spielt«.24Er reinterpretierte so die feindliche Übernah­ me, die gewöhnlich als Intensivierung der Managermacht einer Firma über eine andere wahrgenommen wird, als Unterwerfung des Managements in seiner Gesamtheit unter die Marktleistung im Allgemeinen. Wenn das Management eines Unternehmens leistungs­ schwach ist, argumentierte er, sinkt tendenziell der Aktienkurs, 79

Teil II

was andere Akteure, die sich Zutrauen, eine »wettbewerbsfähi­ gere« Betriebsfiihrung zu gewährleisten, dazu veranlasst, die im Wert fallenden Titel aufzukaufen, um die Unternehmenslei­ tung zu übernehmen. Eine der grundlegenden Prämissen die­ ser Theorie lautet, dass eine hohe Korrelation zwischen »Ma­ nagementeffizienz und Aktienpreis«25 besteht. Jede signifikante Abweichung von einem gewinnmaximierenden Verhalten fuhrt automatisch zu einem Fall des Aktienkurses und macht die Fir­ ma zur leichten Beute für feindliche Übernahmen mit anschlie­ ßender Entlassung des Führungsteams. Das Topmanagement habe deshalb ein Damoklesschwert über dem Kopf schweben: Es laufe ständig »Gefahr, ersetzt zu werden«.26 Auf ihm laste ein beträchtlicher Druck: »Je mehr Geld es macht, umso besser ist es geschützt, und umso weni­ ger es macht, umso größer die Gefahr, über Bord geworfen zu werden.«27 Diese permanente Drohung veranlasse die Manager schon jetzt, ständig und mit einem mulmigen Gefühl im Ma­ gen, den Aktienkurs im Auge zu behalten. »Stellen Sie sich vor, Sie sind Präsident eines Großunternehmens mit Milliarden von Dollar Kapital. Plötzlich gefährdet ein anderes Managerteam Ihren Job und Ihr Ansehen, indem es versucht, die Aktien Ihrer Firma aufzukaufen. Die ganze Welt schaut auf Sie, auf Sie und Ihre Leistungen.«2*Was tun Sie? »Die Sanktionierung der managerialen Drückebergerei«, fass­ te Alchian zusammen, »erfolgt durch eine Marktkonkurrenz sei­ tens neuer Gruppen potentieller Manager [...], die versuchen, das bestehende Management zu entthronen«.29 »Unpersönliche Marktkräfte« sorgen somit für »einen konstanten Druck auf die Führungskräfte, damit sie das Unternehmen gemäß den Interes­ sen der Aktionäre leiten«.50 Solange man das nicht erkenne und »keinerlei Kontrollbeziehungen zwischen Kleinaktionären und dem Manage­ ment« wahrnehme, so lange behalte die These von Berle und Means ihre Glaubwürdigkeit. Sobald man hingegen diese Lo80

Kapitel 7: Die Manager disziplinieren

gik erfasse, ändere sich alles. Man erkenne, dass »der Markt fur Unternehmenskontrolle diesen Aktionären zugleich Macht und Schutz gewährt«31 und aufgrund seiner Eigendynamik eine »wirkliche Interessengleichheit zwischen Eigentümern und Ma­ nagement«32 garantiere. Manne ebnete damit den Weg für eine »marktbasierte Unternehmenstheorie«,33 die bald die alten managerialistischen Vorstellungen verdrängen sollte, die auf dem gegenteiligen Postulat einer Verselbständigung der Manage­ mentrationalität gegenüber dem Markt beruhten. Parallel dazu fand eine weitere wichtige Entdeckung statt. Der managerialistische Ökonom und Jesuitenpater Paul Har­ brecht lenkte 1959 die Aufmerksamkeit auf ein neues wirtschaft­ liches Phänomen mit erheblichen Auswirkungen: Die Verwalter von »Pensionsfonds« hätten seiner Beobachtung nach begon­ nen, massiv in Aktien zu investieren und stünden davor, »die Kontrolle über die einflussreichsten Firmen Amerikas zu über­ nehmen, und zwar in einem relativ raschen Tempo«.34Wo wer­ den wir, fragte er, in ein oder zwei Jahrzehnten stehen? »Wenn man >Sozialismussozialistische< Land. Durch ihre Pensions-Fonds besitzen heute die Arbeitnehmer der amerikanischen Wirtschaft mindes­ tens 25 Prozent ihres Eigenkapitals - mehr als genug, um sie zu kontrollieren.«35 Ein herausforderndes Paradox, doch Drucker übertrieb - bewusst. »Aktienbesitz in dieser Größenordnung«, musste auch Har­ brecht zugeben, »bedeutet Macht, doch diese Macht liegt«, wie er gleich richtigstellte, »in den Händen der Fondsverwalter«, nicht der Beschäftigten selbst.36 Mithin eine neuerliche Tren­ nung von Eigentum und Kontrolle. Der Managerialismus hatte ein weiteres Eisen im Feuer. Da zur Managerialisierung des Un­ ternehmens eine Managerialisierung der Aktionäre hinzutrat, konnte die Problematik der sozialen Verantwortung auf diese 81

Teil II

neue wirtschaftliche Ebene übertragen werden: Wessen Treu­ händer sind die Verwalter der »Sozialfonds«? Sollten die Arbei­ ter nicht eine Kontrolle darüber haben, wie man ihre aufgescho­ benen Löhne verwendet? Usw. Manne kannte diese Texte und nahm die Sache ernst. Die Sozialfonds, billigte er 1962 zu, spielten »eine viel wichtigere Rolle, als man gemeinhin annimmt«. Derartige Institutionen verfugten über eine Schlagkraft ohnegleichen, da »der Verkauf eines großen Aktienpakets den Marktkurs eines Wertpapiers schlagartig in den Keller treiben kann«.57 Allerdings wischte er die Kritiken Harbrechts leichterhand vom Tisch und begnügte sich damit, zur Kenntnis zu nehmen, welch wichtige Rolle die Pensionsfonds in seinem Modell der disziplinarischen Kontrolle von Managerleistungen durch den Markt spielen konnten. Manne und seine Kollegen gaben sich nicht damit zufrieden, die managerialistischen Thesen durch den Nachweis gegenläu­ figer Mechanismen zu widerlegen, sie setzten sich auch sehr en­ gagiert für eine Intensivierung dieser Mechanismen ein. Damit der disziplinarische Effekt des Kontrollmarktes voll durchschla­ gen konnte, war es notwendig, die Börsenmärkte zu deregu­ lieren - insbesondere die kartellrechtlichen Einschränkungen feindlicher Übernahmen zu beseitigen. Agenturtheorien sind zugleich erklärend und präskriptiv. Sie sagen zugleich, wie es ist und wie es sein sollte. Nur dass bei ihnen zwischen diesen beiden Diskursebenen ein Widerspruch besteht, auf den noch nicht ausreichend hingewiesen wurde. Während sie auf der einen, ihrer »positiven« Seite nachweisen, dass kein wirkliches Anpassungsproblem besteht, bemühen sie sich auf der anderen, ihrer »normativen« Seite, Lösungen für ebendieses Problem zu bieten, dessen Existenz sie bestreiten. »Die Enthusiasten des Laisser-faire«, bemerkte Williamson, »le­ gen bisweilen eine gewisse Schizophrenie an den Tag [...]. Be­ trachten sie die Dinge zu einem Zeitpunkt t, leugnen sie in der Regel jeglichen Handlungsspielraum des Managements. Sobald 82

Kapitel 7: Die Manager disziplinieren

sie aber eine langfristige Perspektive einnehmen, verweisen sie stolz auf die Rolle, die neue Techniken zur effektiveren Kontrol­ le des Managements gespielt haben.«38 Der Ökonom Robert Larner, der sich zur Aufgabe machte, die drängende Frage nach den »Managerfreiheiten« auf empi­ rische Weise zu beantworten, konnte nach eingehender Prü­ fung der Statistiken keinen signifikanten Unterschied zwischen den Leistungen »manager-« und »eigentümergefiihrter« Unter­ nehmen feststellen: »Obwohl Kontrolle und Eigentum in den meisten der amerikanischen Großunternehmen getrennt sind«, schlussfolgerte er 1968, »sind die Auswirkungen auf das Firmen­ verhalten hinsichtlich Profitorientierung und Aktionärswohl gering. Das Ausmaß der festgestellten Effekte ist zu unbedeutend, um die Aufmerksamkeit zu rechtfertigen, die ihnen in der Li­ teratur der letzten 36 Jahre [seit der Veröffentlichung des Bu­ ches von Berle und Means] zuteilwurde«.39 Was bestätigte, wo­ von Marxisten und Neoliberale seit langem überzeugt waren: Die These von der Verselbständigung der Managermacht, ihrer Abkopplung vom Gebot der Profitmaximierung war auf Sand gebaut. Das Programm von Manne und Konsorten wurde deshalb nicht minder aktiv propagiert - zwar nicht zur Lösung eines Problems, dessen Nichtexistenz offensichtlich war, und damit auch nicht zur Wiederanpassung,, sondern vielmehr zur Über­ anpassung des Managerverhaltens an den Shareholder-Value. 1981 übergab Reagan die kartellrechtliche Abteilung des Jus­ tizministeriums an William F. Baxter, einem vehementen Geg­ ner von Kartellgesetzen und Anhänger von Mannes Thesen über die Vorzüge des »Kontrollmarktes«. Baxter war derjenige, der eine neue Wettbewerbspolitik einleitete und die Verfahren bei Firmenfusionen und -übernahmen deregulierte.40 In der nachfolgenden Phase fieberhafter Spekulation, in der Firmen per Handstreich übernommen wurden, um sie besser 83

Teil II

zerschlagen und mit Profit Weiterverkäufen zu können, wurden mehr als ein Viertel der amerikanischen »Top 500«-Unternehmen Ziel feindlicher Übernahmeversuche und fast ein Drittel der großen Industriebetriebe wurden aufgekauft oder fusio­ niert.4' »Der hypothetische Kontrollmarkt Mannes wurde zur Realität.«42 Und mit ihm seine unvermeidlichen Folgen: Um­ strukturierungen und Massenentlassungen. Eine immense so­ ziale Gewalt. Die amerikanische Arbeiterklasse, gerade in ihren am stärks­ ten gewerkschaftlich organisierten Fraktionen, die sich - wir erinnern uns - im Jahrzehnt zuvor so aufmüpfig gezeigt hat­ te, wurde überrollt. Und die von den Börsenmärkten erzwun­ gene Wirtschaftsdisziplin, in Kombination mit der Rezession und den Auswirkungen internationaler Konkurrenz, war in dieser Hinsicht wesentlich effizienter als alle »Union buster« zusammengenommen ,43 Bei der großen Jagd der 1980er Jahre auf die Börsenprofite standen die Pensionsfonds in nichts nach. Die tragische Ironie bei dieser Geschichte ist, dass die Spekulationsgelder, die da­ zu dienten, ganze Teile der amerikanischen Arbeiterklasse zur Strecke zu bringen, teilweise aus ihren eigenen, für die Rente zurückgelegten Einkommen stammten.44 Im Interesse der Ar­ beiter als Aktionäre trat man die Interessen dieser Aktionäre als Arbeiter mit Füßen. Der Grundwiderspruch des Kapitalismus im Allgemeinen, und des Finanzkapitalismus im Besonderen, veranschaulicht an dieser großen antisozialen Zweckentfrem­ dung des gesellschaftlichen Reichtums. In einer Reihe später und unvollendeter Texte entwarf Marx seine eigene Theorie der Trennung von Eigentum und Kontrol­ le. Eine vorweggenommene Alternativversion zu den späteren managerialistischen Thesen. »Die Aktienunternehmungen« notierte er, »haben die Ten­ denz, diese Verwaltungsarbeit als Funktion mehr und mehr zu trennen von dem Besitz des Kapitals«.45 Die alte einheitliche 84

Kapitel 7: Die Manager disziplinieren

Gestalt des produzierenden Kapitalisten zerfallt. Es gibt fortan auf der einen Seite die nichtbesitzenden Direktoren und auf der anderen die Aktienbesitzer, einfache Geldkapitalisten. Gleich­ zeitig hat sich das alte Privateigentum an Produktionsmitteln aufgespalten in soziales Kapital einerseits und privaten Aktien­ besitz andererseits. Das Kapital erhält somit »direkt die Form von Gesellschaftskapital (Kapital direkt assoziierter Individuen) im Gegensatz zum Privatkapital, und seine Unternehmungen treten auf als Gesellschaftsunternehmungen im Gegensatz zu Privatunternehmungen. Es ist die Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Pro­ duktionsweise selbst.«46 Für Marx bestand darin der Ansatz zu einer Überwindung der kapitalistischen Eigentumsbeziehun­ gen: y>[O\as A ktien ka p ita l^ die vollendetste Form (zum Kom­ munismus überschlagend)«,47 schrieb er eines Tages im Tele­ grammstil an Engels, der das Glück hatte, keine Ausführungen zu benötigen. Abgesehen davon ist die dialektische Nuance »innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst« - von großer Bedeutung. Denn auch wenn man darin »schon [den] Gegensatz gegen die alte Form [erblickt], worin gesellschaftliches Produktionsmittel als individuelles Eigentum erscheint«, so bleibt doch »die Verwandlung in die der Aktie [...] selbst noch befangen in den kapitalistischen Schranken«.48 Der Widerspruch zwischen gesellschaftlichem Reichtum und Privateigentum besteht also in neuer Form weiter. Doch was für eine Form ist das? Marx bestimmte sie anläss­ lich der Gründung des »Crédit Mobilier«, einem entfernten Vorläufer der heutigen Investmentfonds, im Frankreich von Napoléon III. »Eine Art von Industriekönigen ist entstanden, deren Macht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Verantwort­ lichkeit steht, sind sie doch nur bis zur Höhe ihrer Aktien haft­ bar, während sie über das gesamte Kapital der Gesellschaft ver­ fugen. Sie bilden ein mehr oder weniger beständiges Element, während die Masse der Aktionäre einen unaufhörlichen Prozeß 85

Teil II

der Veränderung ihrer Zusammensetzung durchläuft.« Marx entlieh sich zur Beschreibung des Phänomens bei Fourier den Begriff des »industriellen Feudalismus«,49 nur dass das, was dort erfunden wurde, das Phänomen verdoppelte, denn: »Der neue Gedanke, den sie aufgebracht haben, besteht darin, den indus­ triellen Feudalismus der Börsenspekulation tributpflichtig zu machen.«50 Auf Grundlage dessen, was er allenfalls flüchtig hatte erbli­ cken können, zog Marx also ganz andere Schlussfolgerungen als Berle und Means nach ihm: Die Aktienform war weit da­ von entfernt, den Triumph eines allmächtigen Managements zu besiegeln. Abgesehen davon, dass sie die Möglichkeit einer Überwindung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse bein­ haltete, angesichts der von ihr ausgelösten gewaltigen Soziali­ sierungsbewegung des Kapitals, kündigte sie einstweilen deren Unterwerfung unter andere Herrn an. Nicht bloß unter neue Finanzfursten, Verwalter, die die Kontrolle über große Men­ gen sozialisierten Geldkapitals wahrnahmen, sondern in einem grundsätzlicheren Sinne, durch sie, mit ihnen und über sie hi­ naus, eines neuen finanz- und börsengetriebenen Stadiums einer Regierung durch das Kapital.

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Kapitel 8: Katallarchie »Wir werden später sehn, [...] wie der Kapitalist vermittelst des Kapitals seine Regierungsgewalt über die Arbeit ausübt, dann aber die Regierungsgewalt des Kapitals über den Kapitalisten selbst.«1 Karl Marx Man hatte also mächtige Werkzeuge entdeckt, um die Manager zu disziplinieren, ihre Interessen eng mit denen der Aktionäre zu verknüpfen und die Unternehmensfuhrung noch stärker auf die Finanzmärkte zu verpflichten, und sei es um den Preis einer drastischen Neudefinition »wirtschaftlicher Effizienz« anhand der kurzfristigen Erfolgskriterien des Shareholder-Value.2 All das erhielt den schönen Namen »Governance«. Wir sind diesem Begriff bereits begegnet. Inzwischen hat er eine grund­ legende Überarbeitung erfahren. Der Begriff der Governance wurde, wie erwähnt, in den 1960er Jahren durch einen »konstitutionalistischen« Diskurs wiederbelebt, um die Übertragung von Prinzipien staatlichen Regierens auf die Standards privater Unternehmensfuhrung zu bezeichnen. Unter dem Einfluss der Agenturtheorien begann dieser Begriff Ende der 1970er Jahre, in einer ganz anderen Perspektive verwendet zu werden. »Un­ sere Sicht der Corporate Governance«, konnte man Ende der 1990er Jahre bezeichnenderweise schreiben, »erfolgt eindeutig aus einer Agenturperspektive [...]. Wir wollen wissen, wie die Investoren dafür sorgen, dass die Manager ihnen ihr Geld zu­ rückerstatten.«3 87

Teil II

Während letzterer Begriffsteil der Corporate Governance dazu diente, das Problem der Managermacht als politisches zu formulieren, holte ersterer es zurück in die Form einer beson­ ders eng gefassten Ökonomie. In dem Bemühen, »die internen und externen Instrumente zur Disziplinierung des Manage­ ments und der Ausrichtung der Unternehmen am Aktienkurs zu beschreiben«,4 so das Resümee des Soziologen Gerald Davis, »hat die funktionalistische Theorie der Corporate Governance dem Aktionärskapitalismus sein geistiges Fundament geliefert«.5 Der Umschlag von der ethischen Managerialität in die Finanzgouvernementalität. Die Schlüsselfrage der zeitgenössischen Governance laute, so war zu hören, wie man regiert ohne Regierende.6 Das ist über­ trieben. Agenten, die sich in den Sessel setzen, um die Rolle von Führungskräften zu spielen, braucht es immer noch. Die wirk­ liche Frage ist vielmehr, wie man die Regierenden regiert, wie man Formen von Metakontrolle installiert, damit ihnen, egal, was sie anfangs gewollt haben, nichts anderes übrig bleibt, wenn sie erst einmal auf ihrem Posten sind, als genau das zu tun, was man von ihnen erwartet. Was Marx als »Regierung des Kapi­ tals« bezeichnete, heißt im zeitgenössischen Neusprech »Gover­ nance«. Governance als Kunst, die Regierenden zu regieren - als Mechanismen unpersönlichen Regierens der Führungsfiguren. Wenn die Governance des Marktes funktioniere, seien die Be­ strebungen einer ethischen Governance ohnehin außerstande, irgendetwas Relevantes zu bewirken.7 Wenn man anfangs so viel Nachdruck auf diesen Gedanken legte, dann vor allem, um die Alternative abzuwehren. Denn in den Augen der Neoliberalen lag die »größte Gefahr«, die von den Forderungen nach Selbstverwaltung und Wirtschaftsdemo­ kratie ausging, »in der vorgeschlagenen Form der Kontrolle«,8 nämlich einer bewussten, zielgerichteten, politischen Kontrolle der Wirtschaft. Eben dagegen richtete sich im Wesentlichen das Ideal einer Kontrolle durch die Märkte. 88

Kapitel 8: Katallarchie

Niemand hat dieses Projekt klarer formuliert als Friedrich Hayek. Die Kernfrage berührte schon die Definition der Öko­ nomie als solche. Etymologisch verweist der Begriff bekanntlich auf oikos, Haushalt, zugleich Wohnsitz der Familie und häus­ liche - in der Regel landwirtschaftliche - Produktionseinheit. Ökonomie ist ursprünglich die Kunst, den oikos zu regieren, ein Herrnwissen, ein Know-how der über Frau, Kinder und Sklaven ausgeübten Herrschaft. In diesem archaischen Sinne ist Ökonomie gleichbedeutend mit der Kunst der Privatherrschaft. Hayek versuchte nun, verständlicherweise, Abstand zu neh­ men von dieser antiken Auffassung. Er bevorzugte eine weniger abschreckende, freundlichere Vorstellung von Ökonomie, die besser wiedergegeben werde durch den Neologismus »Katallaxie«,9 ein in Anlehnung an das griechische Wort für »Tausch« gebildeter Begriff. Im Gegensatz zur oikonomia, der »Wirtschaft im engeren Sinne des Wortes, in dem ein Haushalt, ein H of oder ein Unternehmen als Wirtschaften bezeichnet werden können«,10 dient der Begriff Katallaxie dazu, »das System der zahlreichen aufeinander bezogenen Wirtschaften zu bezeich­ nen, die die Marktordnung ausmachen« oder, besser noch, die »besondere Art spontaner Ordnung, die vom Markt [...] her­ vorgebracht wird«.11 Während Ökonomie als »Taxis« zu verstehen sei, als »be­ wusstes Arrangement«, präsentiere sich die Katallaxie als »Kos­ mos«, als eine Welt. Während Erstere eine »Teleokratie« sei, eine Einheit, in der ein zentraler Agent eine Hierarchie von ihm fest­ gelegter Ziele vorgibt, sei Letztere eine »Nomokratie«,12 eine Ordnung, in der jeder innerhalb der Regeln eines universellen Spiels seine eigenen Ziele verfolgt. Einerseits Organisationen, andererseits Märkte; einerseits Autorität, andererseits Tausch; einerseits zentrale Leitung, andererseits Selbstkoordination ohne sichtbare Herrschaft; einerseits Befehle, die erteilt und empfangen werden, andererseits spontane Ordnung freier In­ teraktionen; einerseits Kommandoordnung, andererseits Ver89

Teil II

laufsordnung. Einerseits die Tyrannei des Herrn, andererseits das Gesetz des Dschungels. Nach der neoliberalen Geschichtsauffassung ersetzt und ver­ drängt die katallaxia die oikonomia·. »das Modell des Marktes ersetzt das Modell des Haushalts«. Zwischen der aristotelischen und der heutigen Welt sei das alte »Wirtschaftsparadigma« der Unterordnung unter einen Herrn dem »Tauschmodell der Wirt­ schaft«, der »Katallaxie«,'3gewichen. In Wahrheit aber hat das eine das andere nicht verdrängt, sondern sich untergeordnet. Subsumption der oikonomia unter die katallaxia, der privaten Regierungsgewalt des Herrn unter die kosmische Ordnung der Märkte. Doch im Zuge dessen hat die Katallaxie eine Grenze überschritten. Sie ist zu etwas ande­ rem geworden. Sie hat sich, könnte man mit einem anderen Neologismus aus der Hayek’schen Terminologie sagen, in »Katallarchie« verwandelt - in ein neues Regierungssystem, eine Re­ gierung der Regierenden durch die Märkte. Der von Manne konzipierte Kontrollmarkt ist die Antwort auf das von den Agenturtheorien thematisierte Problem der »Feststellungs- und Überwachungskosten«. Was durch eine mühselige Arbeit direkter Beaufsichtigung hätte bewerkstelligt werden müssen, vollzieht sich von ganz alleine als Nebeneffekt der Spekulation. Wer kontrolliert die Manager? Auf dem Markt niemand, kein einzelner Aktionär. Diese Kontrolle zweiter Ordnung erfolgt auf eine ganz andere Weise, die konträr zur ersten steht: nicht per­ sönlich, sondern unpersönlich, nicht direkt, sondern indirekt, nicht bewusst, sondern unbewusst, nicht intentional, sondern automatisch. Jede Abweichung vom Standard des ShareholderValue fuhrt augenblicklich zu einer negativen Reaktion mit Einfluss auf den Aktienkurs. Letztendlich bedeutet das, wenn man diesen Weg fortsetzt, die Ausschaltung der Führungsrie­ ge. Da die Sanktion in den Marktmechanismus selbst integriert ist, ist der Shareholder-Value nicht mehr nur eine ideologische 90

Kapitel 8: Katallarchie

Norm, sondern noch etwas anderes: Auslöser einer automatisch vollzogenen Ordnungsmaßnahme. Dem Börsenmarkt wird ein gewisser Veridiktionsmodus zu­ gesprochen, der produktive Tätigkeiten anhand der »einheit­ lichen Messgröße« der Finanzperformances bewertet.14 Doch diese »Wahrheits«produktion ist auch Instrument einer Techno­ logie der Verhaltenssteuerung. Da die Schwankungen des Ak­ tienpreises angeblich Auskunft geben über die Leistungen des Managements, kann jeder entsprechend reagieren.15 Auf die­ sem Wege »disziplinieren die vom Arbeitsmarkt für Führungs­ kräfte und vom Kapitalmarkt ausgesandten Signale [...] die Manager«.16 In dieser neuerlichen Apologetik der Marktwirtschaft wird der Primat des Shareholder-Value als Prinzip einer effizienten katallarchischen Metaregierung verherrlicht, als Dogma eines neuen Glaubens, bei dem der Nomos des Marktes das kapi­ talistische Chaos spontan in eine geregelte Ordnung verwan­ delt. Der eigentliche Daseinsgrund der Börse und des Profits, »ihre ultimative Rechtfertigung« sei, so schrieb der französi­ sche Neoliberale Henri Lepage 1980, dass sie zunächst und vor allem »ein Instrument sozialer >Regulierungneue Klasse< ist nicht leicht zu definieren«, musste Irving Kristol zu­ gestehen, »aber man kann sie in groben Zügen beschreiben. Sie setzt sich größtenteils aus Leuten mit Universitätsbildung zu­ sammen, deren Fähigkeiten und Neigungen sich in einer post­ industriellen Gesellschaft^ rasch vermehren.«15 Lehrer, Journa­ listen, Sozialarbeiter, Angestellte des öffentlichen Dienstes ... »Wenn man auf die Anfänge des Kapitalismus zurückgeht, dann gab es immer schon eine kleine Gruppe von Männern und Frauen, die den allgegenwärtigen Einfluss des freien Marktes auf die Zivilisation, in der wir leben, missbilligte. Man nannte diese Gruppe >die Intellektuellem, das sind die Ahnen unserer >neuen Klasseneue Klasse< und warum zeigt sie sich der Unternehmenswelt gegenüber so feind­ selig?«, fragte Kristol. »Nun [...], sie interessiert sich nicht viel für Geld, aber sehr wohl für Macht. [...] Die Macht, unsere Kultur zu gestalten - eine Macht, die in einem kapitalistischen System dem freien Markt Vorbehalten bleiben sollte.«18 Nun sei man auf dem besten Wege - das ist der zweite Teil der Diagnose - , diesen Krieg zu verlieren. Der Feind mache rasche Fortschritte. Er erobere ständig neue Positionen. Die Jugend sei bereits fast vollständig in sein Lager übergewechselt und ande­ re soziale Schichten folgten ihr auf dem Fuße. »Das System anders ausgedrückt, die freie Gesellschaft - , das doch schon eine eindrucksvolle Reihe derartiger Schlachten gewonnen hat, schwebt in großer Gefahr, den Krieg zu verlieren«,19warnte 1973 ein Bericht der National Association of Manufacturers. Die Forscher David Vogel und Leonard Silk, die seinerzeit die Befindlichkeit des amerikanischen Unternehmertums erkunde­ ten, stießen auf eine tiefe Vertrauenskrise, einen regelrechten Glaubensschwund: »Die Wirtschaftsfiihrer zeigen sich beson­ ders pessimistisch hinsichtlich der Zukunft des kapitalistischen Systems. Es gibt nur eine Gruppe, die stärker davon überzeugt ist, dem Untergang des Kapitalismus beizuwohnen, das sind die Marxisten.«10 Einer der befragten Manager äußerte nicht ohne 111

Teil III

bittere Ironie: »Das kapitalistische System in Amerika durchlebt die düstersten Stunden seiner Geschichte. So schnell, wie sich die Dinge ändern, kann es sein, dass die Wirtschaft bald Hilfe von den Umweltschützern erhält: Es genügt, das Unternehmen auf die Liste der bedrohten Arten zu setzen.«11 Auch Powell machte sich diesen Gedanken zu eigen und nahm dafür in Kauf, das wirkliche Ausmaß der Gefahr be­ trächtlich zu übertreiben: »Was auf dem Spiel steht, ist das blo­ ße Überleben dessen, was wir das System der freien Marktwirt­ schaft nennen.«11Was diese Dramatisierung bewirken sollte, ist klar: zum Handeln treiben. Denn wenn man die Schlacht ver­ liere, dann vor allem, weil man vergessen habe, sie zu fuhren. »Welche Antwort hat die Wirtschaft auf diesen massiven Angriff auf ihre ökonomischen Grundprinzipien, ihre Philosophie, ihr Recht, ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln, und letztlich ih­ re bloße Integrität?«13 Keine oder fast keine. Es bliebe, eine trä­ ge Masse zu beschreiben, die unfähig sei, auf eine unmittelbare Bedrohung zu reagieren. Die feindlichen Vorstöße zögen Nut­ zen aus dieser Passivität, die einer »Abdankung der kapitalisti­ schen Klasse«14 gleichkomme. Sie sei dabei, »eine schwere Krise zu ignorieren«, und diese Verblendung könne ihren Untergang herbeiführen. Die Denker der amerikanischen Wirtschaftswelt hatten Gramsci nicht gelesen. Dennoch ähnelte das, was ihre Texte be­ schrieben, dem, was der italienische Kommunist, der in Musso­ linis Kerkern nicht aufhören konnte, sich Notizen zu machen, als »Hegemoniekrise«15 bezeichnet hatte. Die Wirtschaft müsse heute in einen »Krieg um die Köpfe der Menschen«"5eintreten, schrieb 1972 der Präsident des American Enterprise Institute, William Baroody. Die Hochburg des Fein­ des - zugleich Rückzugsbasis und Agitationsstätte - sei die Uni­ versität. Man müsse begreifen, dass die »Institutionen, die Wis­ sen erzeugen und legitimieren«, einen beträchtlichen Einfluss auf den Rest der Gesellschaft ausübten. Die Tatsache, dass sie 112

Kapitel 10: Die Ideenschlacht

auf systematische Weise kritisch »voreingenommen« seien, stelle »ein gravierendes Problem für diejenigen unter uns dar, die sich um die Erhaltung einer liberalen Gesellschaft sorgen«.27 »Eine der vorrangigen Aufgaben der Wirtschaft [...] ist, sich mit dem universitären Ursprung dieser Feindseligkeit zu befassen.«28 Und hier wie überall sei das Geld der Lebensnerv des Krieges. Denn wer ernähre, wer finanziere letztlich diese Brutstätten feindlicher Ideen? Die Universitäten würden sub­ ventioniert durch »Steuergelder, die größtenteils von der ame­ rikanischen Wirtschaft aufgebracht werden, und durch Ka­ pitalfonds, die ebenfalls von der amerikanischen Wirtschaft generiert oder kontrolliert werden. [...] Eine der verblüffends­ ten Paradoxien unserer Zeit ist, in welchem Ausmaß das markt­ wirtschaftliche System seine eigene Zerstörung nicht nur tole­ riert, sondern geradezu befördert.«29 Wenn man nicht länger den Strick liefern wolle, an dem man selbst aufgehängt werde, müsse man all denen den Geldhahn zudrehen, die direkt oder indirekt kritische Sichtweisen der kapitalistischen Ordnung propagierten. David Packard, ehe­ maliger stellvertretender Verteidigungsminister und Boss von Hewlett-Packard, beschwor 1973 seine Kollegen, damit aufzuhö­ ren, die Universitäten blindlings mit ihren Spenden zu subven­ tionieren. Denn »Gruppen feindseliger Wissenschaftler sind in einem hohen Maße mitverantwortlich für die wirtschaftsfeind­ liche Einstellung vieler unserer heutigen Jugendlichen. Und ich glaube nicht, dass es im Interesse der Unternehmen ist, diese zu unterstützen.«30 Kristol pflichtete bei: Es sei »vollkommen ver­ ständlich, dass die Unternehmen bei ihren philanthropischen Zuwendungen zwischen Freund und Feind unterscheiden«.31 »In Zukunft«, mahnte Packard, »sollten wir unser Geld und unsere Energie auf jene Fachbereiche konzentrieren, [...] die einen Beitrag zu unseren individuellen Firmen oder zum All­ gemeinwohl unseres marktwirtschaftlichen Systems leisten.«32 Robert Malcott, Großunternehmer der chemischen Industrie, 113

Teil III

verwies seinerseits auf die Vorteile, die eine wachsende Abhän­ gigkeit der Universitäten von privaten Geldgebern hätte: Der philanthropische Spender könne erst den Inhalt der Lehrpläne prüfen, bevor er sich entscheidet, ob er sein Scheckheft zückt oder nicht, zumal man kein Experte sein müsse, um sich »zu vergewissern, ob ein Seminar in Volkswirtschaft [...] die kon­ servativen Ansichten, sagen wir, eines Milton Friedman präsen­ tiert oder nicht«. »Haben wir das Recht, einen philosophischen Filter einzusetzen, um zu entscheiden, wie das Geld der Aktio­ näre verteilt wird? Ich behaupte, dass wir nicht nur das Recht und die Fähigkeit, sondern geradezu die Pflicht dazu haben.« Parallel dazu müsse man, wie William Simon, Exfinanz­ minister und Präsident der Olin Foundation, anregte, neue Institutionen gründen, die »explizit als geistige Refugien für nicht gleichmacherische Akademiker und Autoren fungieren [...]. Ihnen muss man Stipendien, Stipendien und nochmals Stipendien erteilen und dafür im Gegenzug Bücher, Bücher und noch mehr Bücher erhalten.«33 So entstanden zu Beginn der 1970er Jahre, um die »politische Agenda der Konservativen voranzubringen«,34 neue Think Tanks in den Vereinigten Staa­ ten, aber auch auf internationaler Ebene, mit der Gründung des Weltwirtschaftsforums von Davos 1971 und der Trilateralen Kommission 1973. »Ideen sind Waffen«, schrieb Powell, und doch haben die Männer der Wirtschaft »bisher wenig Neigung an einer schar­ fen Konfrontation mit ihren Kritikern gezeigt, und eine ge­ ringe Begabung, wirkliche geistig-philosophische Debatten zu führen«.35 Das sei zwar richtig, erwiderte Kristol, doch müsse man zu ihrer Endastung sagen, dass sie dafür nicht in der besten Position seien: »Wenn sie mit bloßen Händen gegen die New Class zu Felde zieht, hat die Wirtschaft vorn vornherein gerin­ ge Erfolgsaussichten. Wie sollen denn Geschäftsleute, denen es nicht einmal mehr gelingt, ihre eigenen Kinder von der mora­ lischen Legitimität der Unternehmen zu überzeugen, aus eige114

Kapitel 10: Die Ideenschlacht

ner Kraft die ganze Welt davon überzeugen? Man kann eine Idee nur mit einer anderen Idee bekämpfen und deshalb wird der Krieg der Ideen und Ideologien innerhalb der neuen Klasse und nicht gegen sie entschieden.« Anstatt sich selbst in der Rol­ le des Intellektuellen zu versuchen, solle man lieber Überläufer aus dem feindlichen Lager rekrutieren. Aber wie erkennt man diese? »Nun, wenn Sie sich dazu entschlossen haben, nach Öl zu bohren, begeben Sie sich zunächst auf die Suche nach einem kompetenten Geologen. Und wenn Sie Vorhaben, produktive Investitionen im Geistes- und Bildungssektor zu tätigen, dann werden Sie kompetente Intellektuelle und Wissenschaftler fin­ den - >Dissidenten< der neuen Klasse sozusagen - , die Ihnen Orientierung bieten.«36 Es ging ausdrücklich darum, eine »Ge­ genintelligenz« zu bilden, eine auf die Interessen der Wirtschaft verpflichtete Intellektuellengemeinschaft.37 Neben den Produktionsstätten der Ideen müsse man auch ihre Verbreitungswege ins Visier nehmen. Denn auch hier be­ stehe das Paradox, dass die Firmen »mit ihrer Werbung Me­ dien sponsern, die heute unübersehbar als nationale Lautspre­ cher für gleichmacherische Kreuzzüge aller Art auftreten«.38Das Mindeste, was man von einem bewussten Geschäftsmann er­ warten dürfe, sei, dass er aufhört, »Medien zu finanzieren, die als Sprachrohr antikapitalistischer Meinungen dienen«, und den Geldsegen der Werbung stattdessen einer wohlwollenderen Presse zukommen lässt: »Das Geld der Unternehmen soll üppig fließen [...], aber in Richtung freiheitlicher Medien oder Me­ dien, die nicht zwangsläufig >wirtschaftsfreundlichvon den Kritiken an uns gewaltig profitiert, zumal wir diesbezüglich niemals den geringsten Mangel zu leiden hattenUmwelt< nennt«, verwiesen, doch war dies, wie Freeman kritisierte, nur ein »bequemes Eti­ kett, um unsere Unwissenheit zu kaschieren«.16 Wenn man je­ doch auf die neuen Herausforderungen reagieren wolle, sei es höchste Zeit, diese terra incognita zu erkunden und zu kartographieren, um sie besser zu beherrschen. Freeman machte sich daran, »unser Bild der Firma zu über­ denken«17 und eine neue »konzeptuelle Karte« zu zeichnen: In der Mitte ein Rechteck, »die Firma«, rings umgeben von Dop185

Teil IV

E N V IR O N M E N T

Abbildung 2: Die Firma nach dem Produktionsmodell.15 pelpfeilen, die die Beziehungen wechselseitiger Einflussnahme zwischen »der Firma« und einer Vielzahl heterogener Einheiten, ihren »Stakeholders, darstellen. Diese Darstellung der Firma als Pusteblume erinnert an die, die zur selben Zeit von der »Nexustheorie« entwickelt wurde. Parallel zu Jensen und Meckling, die die Firma als Geflecht ver­ traglicher Beziehungen definierten, konzipierte Freeman sie als »eine Konstellation kooperativer und konkurrierender In­ teressen«.18 Der Idee einer Verbindung zwischen verschiedenen »Kapitaleignern« schien die einer Beziehung zwischen diversen, an der Firma interessierten »Stakeholdern« zu entsprechen. Es zeichneten sich also gleichzeitig zwei Unternehmensbilder ab, das eine in der Wirtschaft, das andere im Management, die un­ geachtet ihrer Differenzen - auf die wir noch kommen werden eine Familienähnlichkeit, eine gewisse Isomorphie aufwiesen. In Der Begriffdes PoliHschen entwarf Carl Schmitt ein Schema zur Analyse der liberalen Begriffsbildung. Weißes Licht, das durch ein optisches Prisma fällt, zerlegt sich in verschiedene Farbflächen. Dementsprechend werden politische Begriffe, die durch diese Denkform gehen, in getrennte Vorstellungen aufgebrochen. Sie spalten sich in zwei divergierende Bündel, die sich an den gegensätzlichen Polen Wirtschaft und Ethik aus186

Kapitel 17: Stakeholder

Abbildung 3: Die Firma nach dem Stakeholder-Modell.'9

richten. »So wird der politische Begriff des Kampfes im libera­ len Denken auf der wirtschaftlichen Seite zur Konkurrenz, auf der anderen, >geistigen< Seite zur Diskussion.«“ Der Begriff Staat oder Gesellschaft wird »auf der einen, der ethisch-geistigen Seite zu einer ideologisch-humanitären Vorstellung von der >MenschheiU; auf der andern zur ökonomisch-technischen Einheit eines einheitlichen Produktions- und Verkehrssystems«.21 Es findet aber nicht nur eine Spaltung oder Verdopplung statt, sondern auch eine Ausblendung konkreter politischer Be­ griffe, die durch diese Brechung unfassbar und durch abstrakte Begriffspaare ersetzt werden, ethisch-ökonomische Dubletten, deren Einzelelemente nur noch einen reduzierten Aspekt der ursprünglichen Vorstellung enthalten. Deshalb ist »zu beachten, daß diese liberalen Begriffe sich in einer typischen Weise zwi­ schen Ethik (>Geistigkeitlegitimen< Regierungen abwendet, um sich ganz auf die Zwangsgewalt zu konzentrieren, die der ANC in seinem Widerstand anwendete (erstere verschweigen die Autoren, während sie letztere natür­ lich verabscheuen)«.42 Doch zum Glück, so die Autoren weiter, sei der ANC »durch den Erwerb von Legitimität und den Verzicht auf die Anwen­ dung von Zwangsgewalt« vom Status eines »gefährlichen Stake­ holders« in den eines »abhängigen Stakeholders« (ihrer Klassi­ fizierung nach eine Organisation, die legitime und dringliche Forderungen, aber keine autonome Macht besitzt) gewechselt, eine Position, die ihm erlaubt habe, die Unterstützung ande195

Teil IV

rer Akteure zu gewinnen. Die Organisation sei zu einem »ab­ hängigen Stakeholder der in Südafrika ansässigen multinatio­ nalen Konzerne« geworden. Als solcher »war der ANC in der Lage, den Schutz [...] mächtigerer Stakeholder (insbesondere der Investoren) zu erhalten«. In der Folge wurde »die weltwei­ te Desinvestitionsbewegung unter Führung der Aktionäre multi­ nationaler Konzerne zur treibenden Kraft beim Wandel«45 des Regimes. Nach dieser interessanten Umdeutung der Geschichte waren es also die Multis und ihre Aktionäre, die als begeisterte Anti-Apartheid-Aktivisten (wir hatten schon oben mit Shell ein ähnlich himmelschreiendes Beispiel) eine »abhängige« Befrei­ ungsbewegung großzügig unter ihre Fittiche nahmen und eine Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionskampagne organisier­ ten, die schließlich das Regime zu Fall brachte. Gegeben sei eine »gefährliche Gruppe«. Was tun? Sie zu­ nächst identifizieren, ohne sie anzuerkennen, das heißt, ohne ihr Legitimität zuzusprechen, sie also delegitimieren, um ein repressives Vorgehen gegen sie zu ermöglichen. Das geschieht, um sie zu veranlassen, auf den Gebrauch dessen zu verzichten, was die Autoren »Zwangsgewalt« nennen, eine weite Kategorie, die jenseits physischer Gewalt das ganze Spektrum der »direk­ ten Aktion«, jede Form außerparlamentarischer Konfrontation umfasst, und sie dadurch, durch den Verzicht auf ihre Stärke, auf den Status eines »abhängigen Stakeholders« zu reduzieren. Wenn sie also die Waffen niederlegt, erhält sie die Anerkennung der Mächtigen, die sie an ihren Tisch bitten, sie legitimieren und eventuell so weit gehen, sie in ihrem Aufstieg zu fordern nicht ohne sich vorher, gegebenenfalls durch domestizierende Maßnahmen, ihrer Fügsamkeit versichert zu haben. Die »gefährlichen Stakeholder«, bescheinigt man uns, sind illegitim. Doch was man darunter zu verstehen hat, ist vielmehr Folgendes: Nur die Ungefährlichen können als legitim gelten. In den Augen der Macht ist nur derjenige Gegner legitim, der fiir sie keine Bedrohung darstellt. Das ist das Geheimnis der 196

Kapitel 17: Stakeholder

»Legitimität« aus Sicht der Herrn: Als legitim werden nur die­ jenigen anerkannt, die auf ihre Stärke verzichtet haben. »Legi­ timität« ist der Karnevalsorden, den man ihnen im Tausch ge­ gen ihre Entwaffnung verleiht. Darum geht es im Kampf um die so verstandene Anerkennung. Denn was ist die Vorausset­ zung für den Erhalt dieser »Legitimität«, nach der manche stre­ ben? Sie lässt sich mit der Devise des Herrn wiedergeben, die bereits Malcolm X kritisierte: »Kämpft nur unter Beachtung der Grundregeln, die jene aufgestellt haben, die ihr bekämpft«44 beugt euch, wenn ihr kämpft, diesen Regeln, die genau dafür geschaffen wurden, euch die Mittel zum Kampf zu nehmen. Die beiden Seiten der Stakeholder-Theorie, ethische An­ erkennung und strategische Identifizierung, verbinden sich zu einem Double-Bind-Szenario, dem sich die Akteure ausgesetzt sehen. Gelingt es den »Stakeholdem«, ein Kräfteverhältnis auf­ zubauen, dann werden sie auf strategischer Ebene ernst ge­ nommen, aber auf ethischer Ebene delegitimiert. Die falsche Alternative, die dieses Anerkennungsdilemma den Opponenten aufzuzwingen versucht, ist die: entweder illegitime Macht oder ohnmächtige Legitimität. Das ist die Falle. Auf den ersten Blick schien die »Stakeholder-Theorie« nur eine Nebelkerze zu sein, »bloße Ideologie«, doch sollte man sich nicht täuschen lassen, sie war weit mehr als das. Sie war zwei­ schneidig. Sie lieferte dem Management zugleich das Vokabular eines ethischen Diskurses und die operativen Kategorien eines strategischen Umgangs mit Herausforderern. Tatsächlich ging das Stakeholder-Konzept mit Analyseinstrumenten einher, »Soziogrammen«, »analytischen Modellen«, die es ermöglichten, »die Macht und Herausforderung, die jede Gruppe darstellt, genauestens zu kartographieren«.45 Hinter den falschen Vorstel­ lungen verbargen sich echte Technologien. Auf einer Konferenz in Houston 2011 über die »Beziehungen zu Stakeholdem« am Beispiel der Fracking-Industrie gab ein ge­ wisser Matt Carmichael, »Außenbeauftragter« von Anadarko 197

Teil IV

Petroleum, seinem Publikum Lektüretipps: »Wenn Sie PR-Berater in dieser Branche sind [...] empfehle ich Ihnen dreierlei [...]: i.) Laden Sie sich das Handbuch der US-Armeefur Auf­ standsbekämpfung herunter - denn das, womit wir zu tun ha­ ben, ist ein Aufstand. Diesem Text lassen sich viele nützliche Lektionen entnehmen. Ich selbst habe einen militärischen Hin­ tergrund und ich habe wirklich bemerkenswerte Ideen darin ge­ funden. 2.) Zwei Mal jährlich findet in Harvard, am MIT, ein Kurs statt, der nennt sich »Umgehen m it einer zornigen Öf­ fentlichkeit«. Belegen Sie diesen Kurs. [...] Viele hochrangige Vertreter unserer Armee befolgen diese Lehren. Das gibt Ihnen Werkzeuge an die Hand. [...] 3. Ich besitze ein Exemplar der Rumsfeld-Regeln. Sie kennen ja alle Donald Rumsfeld - das ist so was wie meine Bibel, auf diese Weise gehe ich vor.«46 Ein weiterer Referent, Aaron Goldwater, Leiter eines mit­ telständischen Informatikunternehmens, beschloss den Kon­ ferenztag mit einem Vortrag in eigener Sache, in dem er die Bedeutung von Datenerhebungs- und Data-Mining-Methoden hervorhob: »Mehrmals wurde im Laufe des heutigen Tages [...] von einer Schlacht mit den Stakeholdern, einem Krieg gegen die Stakeholder gesprochen. Nun, schauen Sie sich an, was die Experten auf diesem Gebiet tun, ich meine die Angehörigen des Militärs, sie sammeln Informationen. Wie stellen Sie das an, Informationen über Ihre Stakeholder zu sammeln? [...] Denn am Ende werden Sie mit ihnen zu tun haben und dann müssen Sie über sie Bescheid wissen. [...] Die Stakeholder gehen zum Beispiel mit einer ganzen Geographie einher; sie haben vieler­ lei Arten zu kommunizieren [...] und sie haben Beziehungen, viele Beziehungen [...] und alle diese Beziehungen sind wichtig [...]. Mein Vater war Aktivist, und Daddy stand mit vielen an­ deren Personen in Kontakt [...]. Er stützte sich auf diese Bezie­ hungen, um seinen Kampf zu fuhren.« Es sei folglich essentiell, folgerte der missratene Sohn, »die Beziehungen zwischen Sta­ keholdern nachzuvollziehen und aufzuzeichnen«. Und auch in 198

Kapitel 17: Stakeholder

dieser Hinsicht dient das Militär als nachahmenswertes Modell: »Die Armee gibt nicht zum Spaß Milliarden Dollar für DataMining aus. Sie will wissen, wer mit wem in Beziehung steht.« Die Unternehmen sollten es genauso machen: »Der Gedanke ist, über eine Datenbank zu verfügen, die nicht nur Aufzeich­ nungen aller ihrer >OfflineOnlineeine sehr gute Ideedie dreckigen Bastarde< beschwerte, >die in meiner Nach­ barschaft Fracking machen wollern. Wie anders hätten Sie das in Erfahrung bringen sollen? Sie müssen anfangen, Ihre Daten zu verknüpfen.« So kam hinter der Fassade eines Beschwichtigungsdiskur­ ses etwas anderes zum Vorschein, nämlich die Übertragung ge­ heimdienstlicher Methoden, die von Aufstandsbekämpfungs­ spezialisten im Irak und Afghanistan unter dem Stichwort »Kartierung des menschlichen Terrains«47 entwickelt wurden, auf all jene, die gegen Konzernstrategien opponieren. Vermeint­ lich »entmilitarisierte« Konzepte wurden also remilitarisiert. Das von Schmitt vorgeschlagene Schema, um der liberalen Begriffsbildung Rechnung zu tragen, musste korrigiert werden. Zwischen Ökonomie und Ethik befand sich ein dritter, strate­ gischer Pol, der zwischen den beiden anderen vermittelte. Zwi­ schen die Wirtschaftstheorie der Firma als Nexus und die Mo­ raltheorie der Firma als verantwortliche Partnerschaft schob sich ein dritter Begriff, die Theorie des strategischen Managements der Stakeholder. Und wenn man von der Firma-als-Vertrag zur Firma-alsKonflikt übergeht, verdoppeln sich die Begriffe erneut. Unter dem ethischen Aspekt sprach man von Anerkennung des ande­ ren, unter dem strategischen Aspekt schritt man zur militärisch­ polizeilichen Identifizierung; unter dem ethischen Aspekt glori­ fizierte man den Dialog, unter dem strategischen Aspekt führte 199

Teil IV

man den Kampf. Paradoxerweise dienten entpolitisierte Katego­ rien dazu, Politik zu machen, und entmilitarisierte Kategorien dazu, Krieg zu fuhren. Zwar war auf dem Papier jede dieser drei Sichtweisen mit den anderen theoretisch unvereinbar. Das schloss jedoch nicht aus, dass sie sich in der Praxis ergänzten. Zwischen der Auffas­ sung der Firma als Vertragsnexus und der des Unternehmens als Kriegsmaschine, zwischen einem Jensen und einem Pagan, gab es, in intellektueller Hinsicht, keinerlei Gemeinsamkeit. Und doch machte der Triumph der einen die Entwicklung der an­ deren nur umso notwendiger. Die neoliberale Neuorientierung der Unternehmensfuhrung, ihre rigorose Ausrichtung am Ak­ tionärsprofit, bleibt nicht ohne massive Auswirkungen auf Um­ welt und Gesellschaft, was, wenn Polanyi Recht hat, die histori­ sche Tendenz in sich birgt, mächtige soziale Gegenbewegungen auf den Plan zu rufen, denen das Management wiederum nicht begegnen kann, ohne das entsprechende strategische Denken zu entwickeln.

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Teil V Neue Regulierungen

Kapitel 18: Soft Law »Woher stammen die Bestimmungen des Rechts? Aus der gesellschaftlichen Realität selbst und aus dem Zusammentreffen von Ethik und Macht.«1 Georges Scelle In den 1970er Jahren entdeckte man, neben anderen, erfreu­ licheren Dingen, die Existenz von multinationalen Konzernen. Begriffe wie Thema - in den Diskursen des vorangegangenen Jahrzehnts praktisch nicht vorhanden - hielten Einzug in die öffentliche Debatte. Akademiker und Journalisten, Aktivis­ ten und Politiker interessierten sich plötzlich für diese giganti­ schen Firmen, die ihren Einfluss auf die Welt ausdehnten und in mancherlei Hinsicht mit den Nationalstaaten rivalisierten. Mit den Multis, »der wichtigsten und sichtbarsten Innovation der Nachkriegszeit auf ökonomischem Gebiet«, begann man ge­ rade einmal das auffälligste Symptom fur die »Entstehung einer echten Weltwirtschaft« wahrzunehmen: »Zum ersten Mal [...] seit dem Ende des 16. Jahrhunderts, als das Wort »Souveräni­ tä t erfunden wurde«, bemerkte Peter Drucker, »ist die politi­ sche Territorialeinheit nicht mehr deckungsgleich mit der öko­ nomischen Einheit.«2 Die Internationalisierung des Handels ging mit einer zunehmenden Transnationalisierung der Pro­ duktion einher, sodass der alte territoriale Rahmen der Staats­ macht offenkundig nicht mehr mit dem der ökonomischen Pri­ vatmacht zusammenfiel. Folglich stellte sich immer deutlicher die Frage nach den Grenzen nationaler Gesetzgebungen und 203

Teil V

einer ihrerseits internationalen Regulierung der multinationa­ len Konzerne.3 Diesbezüglich ging zunächst die Arbeiterschaft in die Of­ fensive. Schon Ende der 1960er Jahre setzten sich Gewerk­ schaftsorganisationen wie der Internationale Bund Freier Ge­ werkschaften für ein neues internationales Recht ein, um die Praktiken von Konzernen zu beschränken, die »Arbeiterrechte beschneiden« und das »internationale Gefalle bei den Arbeits­ kosten ausnutzen, um ihre Profite zu erhöhen«.4 1972 forder­ te der IBFG die Erarbeitung eines internationalen Abkommens unter Schirmherrschaft der UNO, ein Text, der neben den Rechten der Arbeiter auch nahezu alle anderen Tätigkeitsfacet­ ten dieser Firmen einbeziehen sollte, darunter Kapitalbesteue­ rung, Investitionskontrolle durch die Gaststaaten, Technologie­ transfers und Entwicklungshilfe für Drittweltländer. Im selben Jahr beauftragte der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen eine Expertengruppe mit der Unter­ suchung der Frage. Sollte man sich für eine bindende Verein­ barung entscheiden oder doch lieber für eine flexiblere Form? In seiner Anhörung vor diesem Gremium vertrat der Fiat-Vor­ sitzende Giovanni Agnelli den Unternehmerstandpunkt: »Wir brauchen selbstverständlich bessere Regeln für den Umgang zwischen multinationalen Konzernen und Regierungen. Aber ein verbindliches multilaterales Abkommen [...], das die Form eines >GATT-Abkommens für Investitionen< annähme, scheint mir derzeit kein gangbarer Weg zu sein. Der Gedanke, an Stelle dessen einen freiwilligen Kodex über die Rechte und Pflichten multinationaler Gesellschaften zu vereinbaren, erscheint mir als vielversprechendere Option.«3 Während der Kongressanhörungen in Washington stellte Se­ nator Abraham Ribicoff die gleiche Frage: »Glauben Sie, dass wir eine Art internationalen Verhaltenskodex brauchen, der fest­ legen würde, wie die multinationalen Konzerne in allen Ländern behandelt werden? Mittel zu finden, um den globalen Kapitalis204

Kapitel 18: Soft Law

mus zu regulieren, ist die große Aufgabe der 1970er Jahre.« »Ein Verhaltenskodex ist tatsächlich das, was wir brauchen«, bestä­ tigte ihm der Experte Samuel Pisar, »doch wie soll er umgesetzt werden [...]? Ich glaube, es ist wenig sinnvoll, von den multi­ nationalen Konzernen zu erwarten, dass sie von sich aus einen selbstverpflichtenden Kodex einfiihren und sich daran halten.«6 In ihrem Abschlussbericht gelangten die UNO-Experten zwar zu dem Schluss, dass das langfristige Ziel »ein allgemeines Abkommen über die multinationalen Konzerne mit der Ver­ bindlichkeit eines internationalen Vertrages« sei, dass es aber »verfrüht« wäre, bereits Verhandlungen über dieses Thema auf­ zunehmen. Statt eines Vertrages würde man also einen Verhal­ tenskodex verfassen. »An einem solchen Ansatz ist nichts Fal­ sches«, kommentierte der Ökonom Raymond Vernon, »außer dass er trivial ist, verglichen mit dem Übel, das es zu behandeln gilt.«7 Ob trivial oder nicht, der Vorschlag sorgte gleichwohl für Un­ ruhe in Unternehmerkreisen. »Der Bericht der Vereinten Natio­ nen«, kommentierte Financial World 1973, »stellt zweifellos eine Zeitbombe dar, die eine ständige Gefahr für die zukünftigen In­ vestitionen der multinationalen Konzerne beinhaltet. Alles deu­ tet daraufhin, dass sie den Höhepunkt ihres Wachstums bereits überschritten haben. Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg ha­ ben die multinationalen Unternehmen so viele schlechte Vor­ zeichen an ihrem Investitionshorizont aufeiehen sehen.«8 Innerhalb der UNO befanden sich die internationalen Regu­ lierungsprojekte der Gewerkschaften im Einklang mit der anti­ imperialistischen Agenda einer Koalition »blockfreier« Staaten, von denen viele erst kürzlich ihre Unabhängigkeit erlangt hat­ ten. Auf Initiative des algerischen Präsidenten Boumedienne nahm die Generalversammlung im Mai 1974 ein »Aktionspro­ gramm zur Errichtung einer neuen internationalen Wirtschafts­ ordnung« an.9 Sechs Monate später bekräftigte die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten die Souveräni205

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tät der Staaten über ihre natürlichen Ressourcen und ihr unver­ äußerliches Recht, ausländische Investitionen zu kontrollieren, einschließlich des Rechts, gegen angemessene Entschädigung »ausländisches Eigentum zu verstaatlichen, zu enteignen oder das Eigentum daran zu übertragen«. Dieser letzte Satz war fur die Geschäftswelt besonders inakzeptabel. Das bedeutete: Klar Schiff zum Gefecht! »Das multinatio­ nale Unternehmen«, schrieb David Rockefeiler 1975, »wird der­ zeit von allen Seiten belagert. Und die Schlacht hat gerade erst begonnen.«10»Akademiker, Schriftsteller, linke Ökonomen und Politiker« würden diesen neuen »Satan« beschuldigen, die Pro­ duktion zu verlagern, die Entwicklungsländer durch Aneignung ihrer Ressourcen auszubeuten, Steuerflucht zu betreiben und die Souveränität der Nationalstaaten auszuhöhlen. »Wir müs­ sen alles in unserer Macht Stehende tun, um diese Belagerung zu durchbrechen.«" Ansonsten, legte Peter Drucker nach, sei es »sehr wohl möglich, dass die Multis innerhalb des kommenden Jahrzehnts schwer angeschlagen, wenn nicht vollends zerstört werden«.11 »Die UNO hat den Multinationalen und dem System der freien Marktwirtschaft de facto den Krieg erklärt«, behauptete auch ein Bericht der Heritage Foundation von 1982.° Es seien die »armen Länder«, die sie dazu drängten, »eine Regulierungs­ macht auszuüben« und »die Weltwirtschaft zu steuern«, um »Ressourcentransfers zu ihren Gunsten zu steigern«. Diese Län­ der würden tatsächlich die Technologie als ein »gemeinsames Menschheitserbe< betrachten —eine Ressource, die niemandem gehört und dazu berufen sei, von allen Ländern geteilt zu wer­ den«, also als Recht und nicht »als Privateigentum, das man kau­ fen muss«.14 Und man verdammte den sehr bedenklichen Un­ terabschnitt, in dem tatsächlich schwarz auf weiß geschrieben stand, dass man Eigentum gegebenenfalls »verstaatlichen, ent­ eignen oder übertragen« könne. Die gleiche Litanei im folgen­ den Jahr bei Jeane Kirkpatrick (Botschafterin, UNO-Vertrete206

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rin der Vereinigten Staaten, Mitglied des Reagan-Kabinetts und glühende Antikommunistin) : Bei der UNO, einer Arena, in der eine »krude antikapitalistische Ideologie«15 herrsche, eine »Ver­ sion des Klassenkrieges, die auf einer grobschlächtigen Über­ tragung marxistischer Kategorien auf zwischenstaatliche Bezie­ hungen beruht«,16würden »paternalistische Regulierungspläne« geschmiedet, die in Wirklichkeit, wie sie sich ereiferte, Teil einer Strategie seien, um einen »neuen globalen Sozialismus« zu in­ stallieren. Von der Übertreibung abgesehen, erkannte Kirk­ patrick beiläufig, worum es bei dem Antagonismus wirklich ging: »Die Regulierung ist ein Instrument zur Umverteilung dessen, was man die Reichtümer der Welt nennt.«17 Um die Gründe dieser andauernden Dramatisierung zu verstehen, obwohl doch, wie wir heute wissen, die neolibera­ le Wende 1983 bereits fest verankert war, gilt es, im Kopf zu behalten, dass »viele multinationale Unternehmen den Beginn der 1980er Jahre nicht als Anbruch eines neuen Zeitalters, son­ dern als Fortsetzung der 1970er Jahre erlebten«.18 Es gilt auch, gegen den Fatalismus rückblickender Erzählungen, daran zu erinnern, dass »weit entfernt vom unausweichlichen Triumph marktwirtschaftlicher Ideen die Zukunft als eine Schlacht zwi­ schen dem [später so genannten] Washington-Konsens und [...] der Aussicht auf eine >neue internationale Regulierungsordnung< erschien«.19Man war sich seinerzeit keineswegs sicher, diese Schlacht zu gewinnen. Die ersten Siege standen, wie man nur zu gut wusste, auf wackligen Beinen und waren nicht ge­ gen Rückschläge gefeit. Pagan warnte noch 1983: Die Versuche, eine »neue Wirtschaftsordnung« zu errichten, die »Bemühun­ gen, Präzedenzfälle zur Regulierung multinationaler Unterneh­ men zu schaffen«, seien keineswegs verschwunden: »Sie warten nur auf einen geeigneteren Moment«, um wieder aus der Ver­ senkung aufeu tauchen.20 Im Zentrum der Schlacht stand also eine bestimmte Textsor­ te, der »Verhaltenskodex«, dessen Bedeutung, Status und Reich207

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weite den Gegenstand konträrer Interpretationen bildete: Sollte er obligatorisch und bindend oder unverbindlich und freiwil­ lig sein? Anlässlich dieser Debatten begannen manche Juris­ ten, eine Vorstellung zu thematisieren, die heute fur die neue kapitalistische Weltpolitik zentral geworden ist, nämlich das »soft law« - das sanfte, weiche, geschmeidige, ja »gasförmige« Recht. Der Rechtstheoretiker René-Jean Dupuy —einer der Ersten, der sich fxir den aufkommenden Begriff interessierte - schlug 1975 vor, das »soft law« als Ausdruck einer Kraft zu verstehen, die noch nicht in der Lage sei, sich als Recht zu etablieren, als ein noch »grünes«, werdendes, vorläufiges Recht oder, wie er selbst zu sagen pflegte, als ein »programmatisches« Recht: »Von den Ländern der Dritten Welt beschlossen, richten sich [die­ se Resolutionen] gegen ein positives Recht, das sie ablehnen. [...] Anstatt von unvollkommenen Gesetzen zu sprechen, sollte man besser den Begriff programmatisches Recht verwenden.«“ Er erkannte darin, sichtlich angetan, einen »Versuch der Rechts­ revision auf dem Weg der Gewohnheit«, ein insofern originel­ ler Weg, als er beabsichtigte, aus freien Stücken, ohne vorheri­ ge Tradition, einen gänzlich neuen Brauch zu erschaffen, der die materielle Grundlage eines künftigen Rechts abgeben sollte. Eine Art »revolutionärer Brauch«, der als »faktische Abbildung eines politischen Willens«12 fungierte. Andere Juristen, die Dupuys Begeisterung keineswegs teilten, äußerten sich besorgt über den laufenden Prozess. Das Manö­ ver der Blockfreien bestand, wie ihnen sehr wohl klar war, da­ rin, »stillschweigend« anzuerkennen, dass die Codes [...] ih­ rer Rechtsform nach freiwillig sein müssen, um zu erreichen, dass der Norden im Gegenzug substantiellere politische und wirtschaftliche Zugeständnisse bezüglich des Inhalts des Codes selbst akzeptiert«.13Tatsächlich erklärten sich die westlichen Di­ plomaten bereit, wichtige Zugeständnisse zu machen, voraus­ gesetzt, »sie werden nicht als verbindliche Regeln festgelegt, 208

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sondern als einfaches >soft lawsoft law< (abgesehen vom logischen und semantischen Widersinn eines >juristisch nicht verbindlichen RechtsRecht ohne die geringste juris­ tische Verbindlichkeit«^ Die Gefahr, wenn man weiches Recht akzeptiert, um hartes Recht zu vermeiden, ist nun die, dass das Weiche zum (schnellen) Hartwerden tendiert, zumal wenn die Nutznießer dieser »soften Regeln« »bestrebt sind, sie so schnell wie möglich so hart wie möglich zu machen«.24 Kaum wäre ein internationaler Kodex verabschiedet, wür­ de er schon als Referenznorm fungieren. Was in der Praxis be­ deutet, dass »dasjenige Lager, das als Erstes einen >Kodex< nach seinen Vorstellungen formuliert, einen erheblichen taktischen Vorteil genießt«.25 Im Kampf um die Norm dominiert derjeni­ ge, der als Erster kommt, was die wesendichen Protagonisten auch verstanden. Daher das Kodifizierungsrennen, das anschlie­ ßend einsetzte, der »Run auf rivalisierende Formulierungen«.26 Auf Seiten der reichen Länder war man der Ajnsicht, dass »Angriff die beste Verteidigung gegen die Attacke der G 77 auf die westlichen Wirtschaftsinteressen«27 sei und dieser Angriff nahm die Form einer »Scheinkonzession« an. In Erwägung, dass es einfacher sei, einen Konsens unter seinesgleichen herzu­ stellen, drängte die amerikanische Regierung die OECD, ihren eigenen Verhaltenskodex zu verfassen. Man wechselte die Are­ na und entschied sich für ein geneigteres Gremium. Befanden sich die Industriestaaten in der UNO in der Minderheit, so wa­ ren sie in der OECD unter sich. Hier konnten sie zügig voran­ schreiten. Die OECD brauchte nur anderthalb Jahre, um ihre Leitsätze fu r multinationale Unternehmen auszuarbeiten, unver­ bindliche Empfehlungen mit »breit gefassten und bisweilen zweideutigen« Formulierungen,28 die im Juni 1976 angenom­ men wurden - sechs Monate bevor die UNO überhaupt damit begann, sich mit ihrem eigenen Kodex zu befassen. Tatsächlich steckten die in New York geplanten Regelwerke in Verhandlun209

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gen zwischen unvereinbaren Positionen fest und kamen niemals zustande. Auf diese Weise wurde »das Rennen um konkurrierende Ko­ difizierungen [...] von der OECD gewonnen«.19 »Das war«,so John Robinsons Resümee, »eine schnelle Reaktion der reichen Welt auf die drohende Entstehung eines rechtsverbindlichen, sehr viel härteren, von den Vereinten Nationen in New York ausgehandelten Verhaltenskodex«.30 Ein »Präventivschlag«.3' Ko­ dex gegen Kodex. Bevor staatliche Akteure sie innerhalb der OECD umsetz­ ten, wurde diese als »Führung versus Regulierung«31 bekann­ te Strategie bereits von privaten Akteuren angewendet. Früh­ zeitig durch die gewerkschaftlichen Initiativen zur Regulierung der multinationalen Unternehmen alarmiert, hatte die Interna­ tionale Handelskammer im November 1972 mit ihren eigenen Leitsätzen fiir internationale Investitionen reagiert. Es galt, »die Initiative zu ergreifen, um einem Prozess Einhalt zu gebieten, der bedrohliche Ausmaße anzunehmen drohte, wenn man ihn den Gewerkschaften und den Entwicklungsländern überließ«.31 Einige Großunternehmen, die ebenfalls begriffen, was auf dem Spiel stand, begannen, ihre eigenen hausgemachten Ver­ haltensregeln zu formulieren, darunter Caterpillar, das als eines der ersten Unternehmen 1974 seinen »Code of Worldwide Busi­ ness Conduct« verfasste. »Ich sage voraus«, erklärte sein Leiter für Öffentlichkeitsarbeit 1975, »dass andere Unternehmen die­ sem Beispiel folgen werden, zumal in einem Kontext, in dem multinationale Unternehmen von der Öffentlichkeit immer kritischer beäugt werden.«34 Ein klassisches Manöver: Ethische Bereitschaft signalisieren, um den gesetzlichen Zwang zu vermeiden. »Sobald die Multis den heißen Atem des Staates im Nacken spüren«, analysierte der Ökonom Raymond Vernon, »suchen sie nach Rezepten, um den Druck stellenweise zu lindern [...]. Daher das Aufwarten mit Rezepten vom Typ >VerhaltenskodexRückzug des Staates< verbundenen Deregulierung. Neoliberales Regieren besteht in einer Mischung aus beidem: Hard Law zum Schutz von Unternehmensrechten und Soft Law zur Regulierung von Sozialrechten.«39 Man darf sich auch nicht von den Konnotationen des Vo­ kabulars in die Irre fuhren lassen. Die Geschmeidigkeit der Norm, ihre vermeintliche Flexibilität bedeutet, dass in der Pra­ xis, in Ermangelung eines konsequenten Rechtsschutzes, die Willkür der privaten Macht herrscht, also tatsächlich sehr harte Verhältnisse. Eine geringere gesetzliche Verpflichtung (für die einen) drückt sich in einem stärkeren Zwang (für die anderen) aus. Somit muss man sich stets fragen, fiir wen das Soft Law »soft« ist. Ein »softes« Arbeitsrecht bedeutet knallharte Ausbeu­ tung, ein reduziertes Umweltrecht zunehmende Verschmutzung usw. Statt von Soft Law sollte man wahrscheinlich besser von »low law«, von Billigrecht, sprechen. Das bringt der Politolo­ ge James Rowe unverblümt zum Ausdruck: »Die disziplinari­ sche Kehrseite der freiwilligen Mechanismen [...] sind Schlag­ stöcke, Gummigeschosse und Tränengas. Die Zustimmung, die die Wirtschaft durch freiwillige Mechanismen nicht erlangen kann, muss durch eine staatliche Regulierung< der offen gewalt­ samen Art hergestellt werden.« Kurzum: »Der Schlagstock ist das tebs des Verhaltenskodex.«40 213

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Aus Defensivwaffen zur Abwehr drohender Regulierungen verwandelten sich die Verhaltensregeln später, in einer dritten Phase, in Offensivwaffen gegen bestehende Regulierungen. Es ging nicht mehr nur darum, sich »gegen ein mögliches Gesetz zu schützen«,41 Regulierung zu vermeiden, sondern aktiv zu de­ regulieren, und das nicht etwa gegen staatlichen Willen, son­ dern gerade auf Betreiben neoliberaler Regierungen. Drei Jahrzehnte nach den hier geschilderten Ereignissen hielt David Cameron 2006 eine Rede vor britischen Unternehmern. Er wollte diejenigen unter ihnen eines Besseren belehren, »die immer noch meinen, unternehmerische Verantwortung sei die Einführung des Sozialismus durch die Hintertür«. Mit diesen Betonköpfen gelte es, eine deudiche Sprache zu sprechen. Was sich in folgender Devise zusammenfassen lässt: »Deregulierung gegen mehr Verantwortung«. Im Klartext: »Je bereitwilliger die Unternehmen verantwortliche Geschäftspraktiken annehmen [...], umso glaubwürdiger wird ihr Ruf nach einer Verringe­ rung von Kontrollen und Vorschriften.«42

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Kapitel 19: Kosten/Nutzen »[A]n sich sind solche Urteile Dummheiten. Man muß durchaus seine Finger danach ausstrecken und den Versuch machen, diese erstaunlichefinesse zu fassen, daß der Wert des Lebens nicht abgeschätzt werden kannV Nietzsche Zu Beginn der 1970er Jahre war es den Umwelt- und Ver­ braucherschutzbewegungen gelungen, sich in den Vereinigten Staaten als unumgängliche politische Kraft zu etablieren. Ihre Mobilisierungen lösten eine ungeahnte Welle staatlicher Regu­ lierungen aus: Zwischen 1965 und 1975 wurden mehr als 25 Bun­ desgesetze in Sachen Arbeits-, Verbraucher- und Umweltschutz erlassen - die entsprechenden Budgets verfünffachten sich in diesem Zeitraum.2Daneben entstanden diverse Aufsichtsbehör­ den für Gesundheits- und Umweltschutz, darunter zwei, die zu Hassobjekten der Unternehmerschaft wurden, die Environ­ mental Protection Agency (EPA) und die Occupational Safety und Health Administration (OSHA). Zum horizontalen Druck durch die Sozialbewegungen kam somit auch noch wachsende staatliche Kontrolle hinzu. Dieser Regulierungseifer, zürnte ein Leitartikler des Wall StreetJournal, sei die unmittelbare Konsequenz eines »konzertierten Angriffs auf die Wirtschaft«, geführt von »Interessenverbänden«, deren »feindliche Agenda von einem neuen Typ allmächtiger staat­ licher Aufsichtsbehörden übernommen wurde«.3 Die Originalität dieser »neuen sozialen Regulierungen« lag in 215

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ihrem sektorenübergreifenden oder »pan-industriellen« Charak­ ter4 - was unter anderem zur Folge hatte, dass das traditionelle, nach Branchen getrennte Unternehmenslobbying nicht mehr funktionierte. Da die Unternehmen, wie David Rockefeller ver­ merkte, »einem simultanen Angriff ausgesetzt sind, müssen sie mit vereinten Kräften darauf reagieren. Isolationismus kann verheerend sein, in der Wirtschaft ebenso wie in der Außen­ politik.«5Es stellte eine Herausforderung dar, die bornierte Lo­ gik des Konkurrenzkampfes zu überwinden, um geschlossen fiir eine gemeinsame Sache zu kämpfen.6 Im Zuge dieses Bemühens wurden alte Organisationen —wie die United States Chamber of Commerce - wiederbelebt und neue - wie 1972 der »Business Roundtable« - geschaffen. Eine gewerkschaftliche Taktik auf­ greifend, bemühten sie sich vor allem darum, »Political Action Committees« zu gründen, um die Wahlkampagnen befreunde­ ter Kandidaten zu finanzieren, mit der Absicht, »die politische Zusammensetzung des Kongresses zu verändern«.7 Somit brach eine epische Schlacht gegen die »neuen Regulie­ rungen« an. Aber was hatte man eigentlich gegen Maßnahmen einzuwenden, die letztendlich nicht mehr bezweckten, als die Luftverschmutzung zu reduzieren, Arbeitsunfälle zu verhüten, die Diskriminierung am Arbeitsplatz zu bekämpfen und die Ge­ sundheit der Verbraucher zu schützen? Thomas Shepard, Koautor eines der ersten antiökologischen Manifeste, nahm 1971 ins Visier, was er als »Katastrophenlob­ by« bezeichnete, ein Sammelsurium schwarzmalerischer ökos und Panikmacher, die er zu den »gefährlichsten Männern und Frauen Amerikas«8 erklärte. Diese Aktivisten seien nicht nur unreif, kompromisslos und extremistisch, sondern obendrein schamlose Lügner, die behaupteten, dass die Luftverschmutzung zunähme, während das Gegenteil der Fall sei, oder dass sich in Amerika »ein schwarzer Aufstand« anbahne, während es sich nur um »ein paar durchgedrehte Aktivisten handelt, die in jedem an­ deren Land bereits hinter Gittern wären —die Freiheit, die sie 216

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einstweilen noch genießen, beweist ja gerade, dass wir im freis­ ten und am wenigsten rassistischen Land der Erde leben«.9 Was den Anspruch betraf, durch den Erhalt der Wälder die Natur retten zu wollen, hatte Shepard folgenden schlagenden Einwand parat: »Wer wirft denn einem Biber vor, der Natur zu schaden, weil er einen Baum zerlegt, um einen Damm zu bauen.«10 Ge­ stützt auf so gediegene Argumente, gelangte er zu dem Schluss: »Es ist keine Zeit mehr für Kapitulation und Kompromiss. Die amerikanische Öffentlichkeit muss wissen, dass wenn die freie Marktwirtschaft den Angriffen der Verbraucher, der Umwelt­ schützer und der ganzen übrigen Katastrophenlobby erliegt, die Freiheit des Konsumenten das gleiche Schicksal erleiden wird. Dann ist Schluss mit seiner Freiheit, so zu leben, wie es ihm rich­ tig erscheint, und das zu kaufen, was ihm gefällt, ohne dass ein Big Brother aus Washington ankommt und es ihm verbietet.«11 Damit war das zentrale Argument benannt: Auf ethisch-philoso­ phischer Ebene beeinträchtigten diese Regulierungen die unver­ äußerliche Konsumfreiheit. Wenn ich Lust habe, mein Zimmer mit bleihaltiger Farbe zu streichen, meine Decke mit Asbestplat­ ten zu isolieren, einen Wagen ohne Sicherheitsgurt zu kaufen oder meine Kinder mit Palmöl als Brotaufstrich zu futtern, mit welchem Recht sollte mich »Big Brother« daran hindern? Aber damit nicht genug, denn außer der Freiheit des Kun­ den träte die Regulierung auch die des Unternehmers mit Fü­ ßen. Gesundheitsinspektoren verschafften sich unangekündigt Zutritt zu den Fabriken, ohne die geringste Vollmacht vorwei­ sen zu müssen - eine staadiche Einmischung, die den Zorn al­ ler Menschenrechtsanwälte hervorrufen sollte, stellte dies doch einen eklatanten »Eingriff in die Freiheit des Individuums als Unternehmenschef« dar.12 Der regulierende Staat ein neuer Big Brother? Eher eine »Big Mother«,13nuancierte Murray Weiden­ baum - eine erdrückende Macht im Namen der Fürsorglich­ keit, eine wohltätige Tyrannei, der freiheitsfeindliche Ausdruck eines Willens zu sozialer Bevormundung. 217

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Doch die Situation sei sogar noch schlimmer als gedacht, denn man müsse sich bewusst machen, dass sich hinter dieser »massiven Ausdehnung staatlicher Kontrolle der Privatindus­ trie«1'' ein schleichender Systemwechsel verberge, der gerade­ wegs zum Auszug aus dem Kapitalismus führe. Diese »neue Welle staatlicher Wirtschaftsregulierung« sei nichts weniger, wie Weidenbaum unter Bezug auf Berle und Burnham verkündete, als der Vorbote einer »zweiten Revolution der Manager«.'5Wäh­ rend bei der ersten die Kontrollmacht von den Eigentümern auf die Manager überging, seien nunmehr die Unternehmensmana­ ger dabei, ihre Privilegien nach und nach an staatliche Manager, nämlich die Beamten der Aufsichtsbehörden, zu verlieren. Doch sei die Machtverschiebung damit noch nicht been­ det. Denn hinter dem Bürokraten verberge sich der linksradi­ kale Aktivist, der in Wirklichkeit die Fäden ziehe.'6 Während manche Neomarxisten seinerzeit, gegen Engels und Lenin, die These einer »relativen Autonomie des Staates«17 gegenüber den herrschenden Klassen vertraten, gingen manche konservativen Intellektuellen sogar noch weiter: Der Staat stünde im Begriff, ihnen zu entgleiten, seine Zwangsgewalt sei von Feinden ver­ einnahmt, die, wie Jensen kritisierte, »den politischen Prozess dazu benutzen, um durch die polizeilichen Befugnisse des Staa­ tes die Kontrolle über das Vermögen der Gesellschaft zu erlan­ gen«.'8 Bei diesen Animositäten gegenüber der Regulierung war der Wille, die vollständige Macht über die Unternehmensfuhrung zu behalten, ein entscheidendes Motiv. Insofern handel­ te es sich um eine wesentlich politische Revolte. Doch brachte diese »Staatsphobie« in einem viel grundsätzlicheren Sinne eine große Angst vor den sozialen Bewegungen zum Ausdruck. Allerdings hatte diese Ablehnung auch eine wirtschaftliche Dimension. Die neuen Sozial- und Umweltauflagen erschienen als zusätzliche Kostenfaktoren, schlimmer noch, als Mechanis­ men sozialer Umverteilung.'9 Insofern sie einen Teil der Sozialund Umweltkosten privater Produktion reinternalisierten und 218

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das Kapital mit Kosten belasteten, die es zuvor in Form nega­ tiver externer Effekte auf andere abgewälzt hatte, hatten diese Maßnahmen tatsächlich einen redistributiven Charakter.20 Murray Weidenbaum, nachmals Vorsitzender des Council of Economic Advisers der Reagan-Administration und Architekt der Deregulierungswelle der 1980er Jahre, verwendete Mitte der 1970er Jahre seine gesamte Energie darauf, die »überhöhten Kosten staatlicher Regulierung« anzuprangern. Die neuen, von den Regulierungsbehörden erlassenen Standards hätten direkte Kosten für die Industriellen - zum Beispiel »Anpassungskosten« (durch Anschaffung neuer Maschinen) - , aber auch indirekte Kosten (der Zeitaufwand zum Ausfullen neuer Behördenformu­ lare). Diese zusätzlichen Produktionskosten, argumentierte er, müssten auch die Konsumenten bezahlen.21 Die neuen Sicherheits- und Umweltschutzstandards hätten, wie er errechnete, den Durchschnittspreis eines Neuwagens zwischen 1968 und 1974 um 320 Dollar erhöht.22 In der Liste der kostspieligen Maßnahmen befanden sich die seit 1968 be­ stehende Pflicht zum Einbau von Sicherheitsgurten (11,51 Dol­ lar Mehrkosten pro Wagen), die 1972 eingeführte Pflicht zur Einhaltung der Abgasnormen (6 Dollar zusätzlich) sowie die, aus demselben Jahr, zur Verstärkung der Fahrzeugkabine, um den Unfallschutz der Insassen zu erhöhen (69,90 Dollar). »Man muss sich dafür einsetzen«, schlussfolgerte er, »die Kontrollmaßnahmen zu beseitigen, die überzogene Kosten verursachen.«23 Folgt man seiner Logik, wird verständlich, warum man Sicher­ heitsgurte und Partikelfilter als Zusatzoption hätte deklarieren sollen. »In früheren Zeiten, als Produktivität und Lebensstandard rasch anstiegen, konnte die Nation sich leisten, die fortschrei­ tende Reglementierung zu begrüßen und gleichzeitig vor ihren Kosten die Augen zu verschließen. Doch heute verstärken diese zunehmenden Bundeskontrollen den Rückgang des Produktivi­ tätswachstums.«24 Ist es vernünftig, sich über Gesundheit und 219

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Umwelt den Kopf zu zerbrechen, während unsere Profite und Ihre Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen? Würde man diese Re­ gulierungen beseitigen, wäre die Wirtschaft von einer schweren Last befreit.15 Die Krisenrhetorik, Instrument einer »Pädagogik der Unterwerfung unter die Wirtschaftsordnung«, lieferte die Rechtfertigung dafür, die in der vorherigen Phase errungenen sozialen Zugeständnisse wieder rückgängig zu machen.16 Doch im Unterschied zur Forderung bornierter Ultrakonser­ vativer, Sozial- und Umweltauflagen schlicht und einfach abzuschaffen, plädierte Weidenbaum für ein indirektes Vorgehen: Anstatt sie pauschal zu widerrufen, müsse man sie ausbremsen, ihnen genug Hindernisse in den Weg legen, um sie praktisch unwirksam werden zu lassen. Problematisch sei nicht die Regulierung an sich, sondern nur die übertriebene Regulierung, die Überregulierung. Eine Regulierung sei natürlich vonnöten, aber es gebe Grenzen, die nicht überschritten werden dürften. Doch wie soll man sie fest­ legen? Wo verläuft die Schwelle? Eine Überregulierung liege dann vor, so Weidenbaum, wenn »die Kosten für die Gesell­ schaft den Nutzen überschreiten«. Weshalb er folgende goldene Regel empfahl: »Staatliche Regulierungen dürfen bis zu dem Punkt gehen, wo die Zusatzkosten den zusätzlichen Nutzen ausgleichen, und nicht weiter.«17 Was sich als Sache des gesunden Menschenverstandes gerierte, war in Wirklichkeit eine kleine Revolution. Denn es ging darum, die so verstandene KostenNutzen-Analyse zum neuen Entscheidungskriterium zu erhe­ ben, zu einer Grundregel, die als unbedingte Voraussetzung je­ des Regulierungsvorhabens gelten sollte. Um das Ausmaß dieses Paradigmenwechsels zu erfassen, muss man dem neuen Prinzip diejenigen gegenüberstellen, die es er­ setzen sollte. Nehmen wir den Fall einer Fabrik, deren giftige Rauchgase Atemwegserkrankungen in der Nachbarschaft ver­ ursachen. Unter welchen Bedingungen kann eine Regierungs­ behörde das Unternehmen zwingen, Abgasfilter einzubauen? 220

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In einem ersten Ansatz würde man dem Schutz der Gesund­ heit, die als Grundrecht gilt, absoluten Vorrang einräumen. Die Perspektive wäre demnach, den Ausstoß krankheitserregen­ der Schadstoffe zu minimieren, ja, nach Möglichkeit auf null zu reduzieren. In diesem Sinne müsste der Fabrikant gezwun­ gen werden, den leistungsfähigsten Abgasfilter auf dem Markt anzuschaffen. Ein zweiter Ansatz, eine Abwandlung des ersten, nimmt eine Abwägung vor zwischen dem Schutzprinzip und Mach­ barkeitsüberlegungen technischer und wirtschaftlicher Art. Das heißt, vor dem Erlass einer Norm sicherzustellen, dass die ent­ sprechenden Techniken vorhanden sind oder entwickelt wer­ den können, wofür der Industrie gegebenenfalls die nötige Frist eingeräumt wird; die Anpassungskosten abzuschätzen, sie in Relation zu den Gewinnen zu setzen und dafür zu sorgen, dass die Maßnahme den Geschäftsbetrieb nicht finanziell gefährdet, was übergangsweise durch staatliche Zuschüsse gewährleistet werden kann. Diesem Prinzip zufolge wird der Fabrikant genö­ tigt, den wirksamsten Abgasfilter anzuschaffen, den er sich im Rahmen seiner Möglichkeiten leisten kann.28 Wenn man hingegen den Kosten-Nutzen-Ansatz der Deregulierer zugrunde legt, sind die beiden vorherigen Prinzipien ungültig: Es wird unmöglich, uneingeschränkte Gesundheits­ normen festzulegen (die Gesundheit der Anwohner wird nur in dem Maße geschützt, wie es den Fabrikanten nicht »zu teuer« kommt) und das Unternehmen kann nicht gezwungen werden, selbst wenn es finanziell dazu in der Lage wäre, seine giftigen Emissionen zu reduzieren (ein Abgasfilter wird als zu kostspie­ lig angesehen, sobald sein Preis die entsprechenden »Gewinne« für die Bevölkerung überschreitet, selbst wenn die Ausgabe im Verhältnis zu den von der Firma erzielten Gewinnen bescheiden ist). Im Klartext: Wenn es für das Unternehmen teurer ist, seine Rauchgasemissionen zu reduzieren, als für die Opfer, ihre Atem­ wegserkrankungen zu heilen, kann der Industrielle fortfahren, 221

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die Umwelt zu verschmutzen. Man rechnet die Gesundheitsaus­ gaben der Anwohner auf gegen die Kosten, die der Industrielle hätte, um sie ihnen nicht aufzubürden. Die Umkehrung eines alten Sprichworts: heilen ist besser als Vorsorgen. Doch bevor man in Erfahrung bringen kann, ob ein Regulie­ rungsvorhaben diese Art von Test besteht oder nicht, stellt sich die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen des Testes selbst. Was sind die Kriterien? Damit eine Abwägung stattfinden kann, müssen aber zugleich die Kosten der Regulierung und ihr po­ tentieller Nutzen im Vorfeld abgeschätzt werden können. Doch was letzteren Aspekt betrifft, ist die Sache nicht so einfach. Denn wie soll man den »zu erwartenden Nutzen« einer schad­ stoffreduzierenden Maßnahme berechnen? Unabhängig von der Frage ihrer monetären Bewertung müss­ te man zunächst einmal in der Lage sein, ihre wahrscheinlichen Auswirkungen zu modellieren, beispielsweise eine verlässliche Korrelation zwischen der Reduzierung des Schadstoffgehalts in der Luft und ihren genauen Folgen für die Zahl der damit ver­ bundenen Erkrankungen herzustellen. Doch »eine Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen Schadstoffbelastung und Krank­ heitsrisiko zu ermitteln«,29 ist eine schwierige Aufgabe, die »ein ganzes Spektrum komplexer wissenschaftlicher und medizi­ nischer Modelle erfordert, mit Unwägbarkeiten, die sich rasch vermehren auf den verschlungenen Wegen, wo sich Verschmut­ zungsquellen, Atmosphärenchemie, Meteorologie, Materialwissenschaft und Epidemiologie kreuzen«.30 »Hätten wir gewartet«, äußerte sich ein Senator bei einer diesbezüglichen Anhörung Ende der 1970er Jahre, »die not­ wendigen Informationen zu erhalten, um beurteilen zu kön­ nen, in welchem Verhältnis die Kosten-Nutzen-Bilanz für den Einbau einer Staubfilteranlage in der Armco-Fabrik zu der der medizinischen Behandlung chronischer Erkältungen und an­ derer Atemwegserkrankungen steht, hätten wir darauf gewar­ tet, wäre es nie zu irgendeiner Regulierung gekommen. Wäre 222

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das der Beweisstandard gewesen, hätte nie eine Regulierung vor den Gerichten Bestand gehabt.«31Genau darum ging es: Durch Einführung der Kosten-Nutzen-Analyse als Entscheidungsprin­ zip wollte man die Beweislast zugunsten der Industrie umkeh­ ren. Es handelte sich um eine Offensive auf dem doppelten Ter­ rain der epistemologischen und der juristischen Beweisführung. 1977 erschien in der Zeitschrift Lancet eine epidemiologische Studie, die zeigte, dass die Arbeiter einer Fabrik für Kunststoff­ folien, die einer Benzolbelastung noch innerhalb der zulässigen Grenzwerte ausgesetzt waren, dennoch ein fünf bis zehn Mal höheres Leukämierisiko aufwiesen als die Durchschnittsbevöl­ kerung.32 Die OSHA, die für Hygiene und Arbeitsschutz zu­ ständige Behörde, erließ umgehend eine neue Norm, die die zu­ lässige Höchstbelastung für Benzol absenkte. Sie tat dies gemäß ihrer Politik im Umgang mit karzinogenen Stoffen: die Belas­ tung im Rahmen des technisch und wirtschaftlich Machbaren so weit wie möglich zu reduzieren.33 Doch die Industrie wollte davon nichts hören. 1978 hob ein Gericht in Louisiana die neue Norm wieder auf, mit der Be­ gründung, die OSHA habe es, »mangels einer Nutzendarstel­ lung, die sich auf belastbare Beweise stützt«, versäumt, den Be­ weis zu erbringen, dass die Auswirkungen der neuen Norm auf die Gesundheit der Arbeiter in einem »vernünftigen Verhältnis zu ihren Kosten« steht. Die Richter fugten ziemlich clever hin­ zu: »Das allgemeine Einvernehmen in der wissenschafdichen Gemeinde [...] lässt den Schluss zu, dass eine Senkung der Grenzwerte [...] einen gewissen Nutzen verspricht. Gleichwohl [...] ist daraus nicht zu erschließen, dass messbare Vorteile ent­ stehen, und die OSHA ist nicht in der Lage, entsprechende Un­ tersuchungen oder Hochrechnungen vorzuweisen.«34 Im Klar­ text: Man weiß, dass die Substanz krebserregend ist und dass eine Reduzierung der Belastung wahrscheinlich auch das Risiko reduziert, doch ist die Behörde die Antwort auf die Frage nach dem »Wie viel?« schuldig geblieben. Wie viele Leukämiefälle 223

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weniger auf wie viele millionstel Teile Benzol weniger in der Fabrikluft? Sie hat diese Frage nicht beantwortet, weil es keine dementsprechenden Studien gibt. Aber statt die Norm prophy­ laktisch sofort zu senken, verpflichteten die Richter die Behör­ de dazu, mit ihrer Entscheidung zu warten, bis solche Studien vorliegen. Mit diesem Urteil hielt das Kosten-Nutzen-Prinzip Einzug in die US-amerikanische Rechtsprechung. Weidenbaum begrüßte seinerzeit diese Entscheidung als verheißungsvolles Signal, das, wie er mit unverkennbarer Begeisterung kommentierte, »einen neuen, anspruchsvolleren Rahmen zu setzen scheint, an dem sich die öffendiche Regulierungsdebatte mit Gewinn orientie­ ren könnte«.35 Der Gewerkschafter Anthony Mazzocchi sah das anders: »Das Gericht lässt uns keine andere Beweismethode als die, darauf zu warten, bis die Toten im Leichenschauhaus lan­ den [...]. Die Frage ist, wer zahlen wird. Und diesbezüglich ha­ ben sich die Gerichte eindeutig auf die Seite des Unternehmens gestellt.«36 Tatsächlich sollten zehn Jahre vergehen, bevor die 1977 erlas­ sene Norm wiederhergestellt wurde. Der Experte Peter Infante schätzt, dass diese Frist mehr als zweihundert Leukämie- und Myelomtote unter den betroffenen Arbeitern »gekostet« hat.37 Und das ist nur ein Beispiel unter vielen für die »menschli­ chen Kosten« dieser Obstruktionsmanöver im Namen der Kosten-Nutzen-Analyse. Manche Ökonomen haben Blut an den Händen. Das Schwert der Kosten-Nutzen-Analyse ist allerdings ein zweischneidiges. Selbst wenn die erste Bedingung erfüllt wä­ re - die Wahrscheinlichkeitsangabe hinsichtlich des genauen Umfangs der erwarteten Effekte —, bliebe eine zweite: die mo­ netäre Bezifferung der so vermiedenen Schäden - die unerläss­ lich ist, um den »Nutzen« einer Regulierungsmaßnahme für Umwelt und Gesellschaft auf ihre Kosten für die Industrie zu beziehen. 224

Kapitel 19: Kosten/Nutzen

Wie lassen sich Schäden an Umwelt, Gesundheit oder Le­ ben monetär bewerten?38 Solange es Handelsgüter sind, die zer­ stört werden, kann man ihren Preis zugrunde legen. Doch so­ bald nichtmarktförmige Gegebenheiten betroffen sind, fehlt es dem Ökonomen an Anhaltspunkten. In Ermangelung dessen muss er fiktive Bewertungsverfahren erfinden. In den 1970er Jahren haben sich Ökonomen, motiviert durch die zunehmen­ de Bedeutung der Kosten-Nutzen-Analyse, mit dieser Frage beschäftigt - und dabei verschiedene, mehr oder minder absur­ de Methoden entworfen, um zu beurteilen, was ein Leben wert ist. Ein erster Ansatz, der der »diskontierten Zukunftserträge« (»Discounted Future Earnings« oder DFE), geht davon aus, dass der Wert Ihres Lebens gleichzusetzen ist mit der Summe der zu­ künftigen Einkommen, die Ihnen durch einen vorzeitigen Tod entgangen ist. Da die Einkommen ungleich sind, ist nicht je­ des Leben gleich viel wert. An diesem Maßstab gemessen, ist das Leben eines Managers mehr wert als das eines gleichaltrigen Arbeiters. Das Leben eines Kleinkinds ist weniger wert als das seines älteren Bruders, der bereits Geld verdient, während es selbst noch viele Jahre von den Eltern abhängt. Das Leben einer Hausfrau, die ohne Lohn arbeitet, ist wertlos. Das eines Rent­ ners nahezu wertlos: Ende der 1970er Jahre »betrug laut DFEIndex der Wert einer schwarzen 85-jährigen Frau 123 Dollar«.39 Aufschlussreich ist auch der Fall eines »defizitären Lebens«, das Kosten verursacht (zum Beispiel medizinische Betreuung), aber kein Einkommen generiert: ein »Verkehrsunfall, bei dem ein schwerbehindertes Kind getötet wird, kann dieser Methodik zu­ folge einen Nettogewinn fur die Gesellschaft erzeugen«.40 In seinem berühmten Bescheidenen Vorschlag, wie man ver­ hüten kann, daß die Kinder armer Leute in Irland ihren Eltern oder dem Lande zur Last fallen, und wie sie der Allgemeinheit nutzbar gemacht werden können, zog Swift eine andere Berech­ nungsmethode in Betracht: »Ich habe bereits die Kosten für die 225

Teil V

Aufzucht eines Bettlerkindes [...] einschließlich seiner Lum­ pen auf etwa zwei Shilling im Jahr berechnet; und ich glaube, kein feiner Mann würde sich sträuben, für ein gutes, fettes Kind zehn Shilling pro Stück zu zahlen, das, wie ich bereits gesagt habe, vier Mahlzeiten von ausgezeichnetem, nahrhaften Fleisch ergibt.«41 Er unterschied folglich zwei Arten der Berechnung: zum einen den Wert des Kindes, anhand seiner Produktions­ kosten, zum anderen den Preis desselben Kindes, anhand der Zahlungsbereitschaft der Käufer dieser Art von Speisen auf dem Lebensmittelmarkt. Zeitgenössische Ökonomen, die in dieser Denktradition ste­ hen, vernachlässigen die - doch so wichtige - Frage nach den Produktionskosten des Lebens und konzentrieren sich ganz auf das zweite Kriterium, das der Zahlungsbereitschaft, allerdings mit einem nicht unerheblichen ethischen Fortschritt gegenüber dem Swift sehen Text, denn inzwischen wird nicht mehr nur der Wille des Käufers, sondern auch derjenige der Person, deren Le­ ben Gegenstand des Handels ist, in Betracht gezogen: Für wie viel wärst du bereit, dich verzehren zu lassen? Oder umgekehrt, was aber auf das Gleiche hinausläuft, wie viel würdest du geben, um nicht verzehrt zu werden? Das ist die zweite große Methode, die der sogenannten »Zah­ lungsbereitschaft« (»Willingness To Pay« oder WTP), die auf den Bewertungen des »Gutes«, am Leben zu sein, durch die Be­ troffenen selbst beruht. Anfangs hatten die Ökonomen geplant, die Leute auf demoskopischem Wege direkt zu befragen, doch taten sich die Befragten schwer m it einer Antwort —viele zogen es letzdich vor, lieber eine unendlich große Summe zu verlieren, als zu sterben. Um diese Schwierigkeit zu umgehen, formulier­ ten Schelling und Mishan die Frage um: nicht mehr »Wie viel wären Sie bereit zu zahlen, um nicht sterben zu müssen?«, son­ dern »Wie viel wären Sie bereit zu zahlen, um das Risiko eines vorzeitigen Todes um x% zu vermindern?«.44 Doch diese Be­ wertung variiert. Sie hängt insbesondere mit den Unterschie226

Kapitel 19: Kosten/Nutzen

den der Zahlungsfähigkeit zusammen. Der leitende Angestellte einer Bergbaugesellschaft ist in der Lage, mehr zahlen zu kön­ nen, um den Asbest aus seinem Büro entfernen zu lassen und sein Krebsrisiko von 0,05 auf 0,01 % zu reduzieren, als ein Ar­ beiter desselben Unternehmens, sein Risiko von 0,5 auf 0,1 % zu reduzieren.43Welche der beiden Bewertungen ist in diesem Fall die maßgebliche, und für wen? Angesichts solcher Aporien schlug man einen anderen, klas­ sischeren Weg ein. Um den monetären Wert der Dinge zu mes­ sen, vertraut die ökonomische Analyse üblicherweise auf die »aggregierte Zahlungsbereitschaft der Konsumenten«, sprich, den Preis.44 Da der Ökonom seit Abschaffung der Sklaverei über keinen offiziellen Menschenmarkt mehr verfügt, um an derarti­ ge Erkenntnisse zu gelangen, begibt er sich auf die Suche nach »Ersatzmärkten«. Das sind in der Regel Risikoberufe oder -posten. Er registriert, für welchen zusätzlichen Betrag die Arbei­ ter bereit sind, ein höheres Risiko zu tragen, und hofft, daraus ableiten zu können, welchen Wert sie ihrem Leben beimessen. Doch auch hier reißen die Schwierigkeiten nicht ab. Denn im Gegensatz zu dem Postulat, auf dem diese Metho­ de gründet, ist es zweifelhaft, ob die Höhe der Risikoprämie als Selbsteinschätzung des eigenen Lebenswerts angemessen gedeu­ tet werden kann. Sie entspricht vielmehr in einem ganz banalen Sinne dem, was diese Arbeiter in einer Situation unfreier Wahl haben herausschlagen können, einer Situation, die durch Un­ gleichheiten der Qualifikation, der Ressourcen, des Informa­ tionszugangs beeinflusst wird, ganz zu schweigen von Arbeits­ losigkeit, Mobilitätsschranken und Diskriminierungen. Man ist ständig »bereit«, schlecht bezahlt zu werden, genauso wie man ständig »bereit« ist, zu viel zu zahlen, aber das bedeutet keines­ wegs, dass man diesen zu niedrigen Lohn oder diese zu hohe Miete für einen gerechten Wertmaßstab hält, für einen Preis, der als allgemeine Norm einer staatlichen Maßnahme dienen könnte. 227

Teil V

Die Gesellschaft wendet sich an den Ökonomen und fragt ihn, in seiner Eigenschaft »als anerkannter Experte fur den mo­ netären Wert der Dinge«,45 was ein Leben wert ist, sprich, was ein fairer Preis für ein Leben ist, den man als Referenznorm zugrunde legen könnte, um beispielsweise den Nutzen einer Reduzierung von Arbeitsrisiken monetär zu bewerten, und er, der sich in einer sehr unangenehmen Lage befindet, weil er im Grunde Angst hat, zuzugeben, dass er absolut außerstande ist, derartig normative Fragen zu beantworten, er druckst herum, zaudert, geht auf und ab und reicht die Frage schließlich an die Gesellschaft zurück: Schauen wir mal, füllen Sie mir doch bit­ te diesen Fragebogen aus, oder nein, lieber nicht, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihren Antworten trauen kann, zeigen Sie mir besser Ihre Gehaltsabrechnung, angefangen mit Ihnen, die Sie in Gefahrenberufen arbeiten, für wie viel wären Sie tat­ sächlich bereit, Ihr Leben zu verlieren? Ach ja, so wenig? Auf die Frage »Was ist ein Leben wert?«, die - zur Erinnerung - ge­ stellt wurde, um zu erfahren, was man vernünftigerweise aus­ geben sollte, um es zu retten, antwortet der Ökonom also am Ende: Nicht mehr, als die Arbeitgeber eh schon bereit sind aus­ zugeben, um es aufs Spiel zu setzen. Kurzum, die Katze beißt sich in den Schwanz. Nach ausgeklügelten ökonomischen Berechnungen war ein statistisches Leben 2006 in den Vereinigten Staaten exakt 1266 037 Dollar wert, und ebenso exakt in Bangladesch 5248 Dol­ lar.46 Muss man daraus den Schluss ziehen, dass der »Nutzen«, das Leben eines Bangladeschers zu retten, etwa 241 Mal geringer ist als der, ein amerikanisches Leben zu retten? Dieses Land, das Schätzungen zufolge bis Ende dieses Jahrhunderts zu einem Viertel unter Wasser stehen könnte, erlebt die laufende Klima­ katastrophe aus nächster Nähe. Soll man länderweise Rabatt ge­ währen bei der Berechnung der globalen »Gewinne« an Men­ schenleben durch eine Reduzierung der Treibhausgase? Oder lieber einen globalen Durchschnittspreis des menschlichen Le228

Kapitel 19: Kosten/Nutzen

bens festlegen? Doch auf welcher »wissenschaftlichen« Grund­ lage sollte das geschehen? Die Wahrheit ist, dass es keine gibt. Und zwar nicht auf­ grund von technischen Schwierigkeiten, Antwortverzerrungen oder Rechenfehlern, sondern weil es keinen richtigen Preis des Lebens gibt, weil seine Beendigung einen unermesslichen Ver­ lust bedeutet. Mit anderen Worten, die Frage ist zwangsläufig aporetisch. Doch eben das ist, wie man betonen muss, fester Be­ standteil der Herausforderung, vor die die Deregulierer uns stel­ len. Ihre Taktik ist eine sphinxhafte·, uns keine andere Wahl zu lassen, als entweder eine unlösbare Frage zu beantworten oder in den Abgrund zu springen. Bei der Anhörung vor einem Senatsausschuss wurde Weiden­ baum 1979 vom jungen Al Gore ins Kreuzverhör genommen, der ihn auf die Frage nach dem Wert des Lebens festnagelte: Was ist der monetäre Wert einer Verstümmelung, einer angebo­ renen Missbildung, eines gestorbenen Asbestarbeiters? Weiden­ baum weigerte sich hartnäckig zu antworten und verschanzte sich hinter seinen moralischen Prinzipien: »Ich habe bei meinen Berechnungen niemals ein Preisschild auf ein Menschenleben geklebt. Ich denke, ein Leben ist kostbar.«47 Wenn es aber doch, insistierte der Senator, darum geht, wie von Ihnen gefordert, das Prinzip der Kosten-Nutzen-Abwägung einzuführen, wie wollen Sie da verhindern, dem Leben, zumin­ dest implizit, einen monetären Wert beizumessen? Wie zum Beispiel »quantifizieren Sie den Nutzen eines Asbestverbots?« »WEIDENBAUM: Der Nutzen eines Asbestverbots wäre die Zahl der Personen, deren Leben dadurch gerettet oder deren Le­ bensdauer dadurch verlängert würde. GORE: Und welchen monetären Wert hätten Sie ... ? WEIDENBAUM: Ich würde keinen Wert in Dollar fest­ legen.«48 Aber wie soll man die Kosten-Nutzen-Analyse dann anwen­ den? Man müsste, erwiderte Weidenbaum, die Zahl der Toten, 229

Teil V

die durch ein Asbestverbot vermieden werden, vergleichen mit der Zahl der Toten, die durch dieses Verbot verursacht werden. Die durch ein Asbestverbot verursachten Toten? »Als Autofah­ rer benutze ich Asbest, ich profitiere vom Asbest. Jedes Mal, wenn ich auf das Bremspedal meines Wagens trete, jedes Mal, wenn das Asbest, aus dem meine Bremsbeläge bestehen, mich daran hindert, in Ihren Wagen zu krachen, dann sind wir, Herr Vorsitzender, Sie und ich, uns beide sehr wohl über die Vorzüge von Asbest bewusst. Jede Analyse, die sich nur auf die durch ein Asbestverbot geretteten Leben bezöge, ohne die durch dieses Verbot verlorenen Leben zu berücksichtigen, brächte der Ge­ sellschaft keinen Nutzen.«49 Weidenbaum begnügte sich hier mit einem ziemlich plum­ pen Beispiel. Seit Bremsbeläge nicht mehr aus Asbest, sondern aus Fiberglas hergestellt werden, hat es, meines Wissens, kein neues Massensterben auf den Straßen gegeben. Doch der Sena­ tor ließ nicht locker: »GORE: Sie sagen: keine Grenzwerte für Asbest, solange wir nicht diese Kosten-Vorteil- oder Kosten-Effizienz-Analyse durchgefiihrt haben, und ich sage Ihnen, dass es unmöglich ist, die Zahl der Personen, deren Leben gerettet würde, hinreichend genau zu beziffern, wenn man nicht die Asbestbelastung der Arbeiter an ihrem Arbeitsplatz reduziert [...]. Meinen Sie, dass man das genau berechnen kann? WEIDENBAUM: Das ist die Herausforderung, vor die ich eine Regulationsbehörde stellen würde. GORE: Und Sie würden sie vor diese Herausforderung stel­ len, Sie würden von ihr verlangen, diese Herausforderung an­ zunehmen, bevor die an ihrem Arbeitsplatz belasteten Personen geschützt werden? [...] Selbst, wenn Sie nicht sicher sind, diese Herausforderung erfüllen zu können?«50 Weidenbaum hatte sich verraten, indem er das Schlüsselwort nannte, das seine Taktik auf den Punkt brachte: den Regulieret vor nicht zu erfüllende Herausforderungen zu stellen. 230

Kapitel 19: Kosten/Nutzen

So relativ einfach es ist, die Regulierungskosten der Industrie zu bestimmen, so schwierig ist es, deren Auswirkungen in einem offenen Milieu im Voraus zu quantifizieren, und unmöglich, ohne zu tricksen, ihren monetären »Nutzen« für nicht marktformige Güter zu bewerten. Weidenbaum wusste das und sei­ ne Taktik nutzte diese Asymmetrie systematisch aus, um den Gegner zu lähmen - was ihm dann selbst passierte, als die Frage letztlich an ihn zurückgegeben wurde.

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Kapitel 20: Kritik der politischen Ökologie »Der Nutzen des Unternehmers ist nichts als ein Raub an dem Arbeiter, er gewinnt nicht, weil sein Unternehmen viel mehr einbringt, als es kostet, sondern weil er nicht bezahlt, was es kostet.«1

Jean-Charles-Léonard Simonde de Sismondi »Das Kapital [...] wird in seiner praktischen Bewegung durch die Aussicht auf zukünftige Verfaulung der Menschheit und schließ­ lich doch unaufhaltsame Entvölkerung so wenig und so viel be­ stimmt als durch den möglichen Fall der Erde in die Sonne.«2

Karl Marx 1950 erschien ein innovatives Buch: Volkswirtschaftliche Kosten der Privatwirtschaft, von William Kapp, einem heterodoxen Au­ tor, dessen Name inzwischen aus den Aiinalen des ökonomi­ schen Denkens gelöscht ist.3 Dieses Werk ist ein frühes Beispiel einer ökologischen Kritik am Kapitalismus. Die Verfechter des Wirtschaftsliberalismus betrachteten es als neuerlichen Angriff, als neuerliche Herausforderung, die sie in ihrer geistigen Gegen­ offensive zu bestehen hatten. Nehmen wir an, eine Fabrik verschmutzt die Umwelt. Ihr Be­ trieb hat »private Kosten« - Ausgaben für Maschinen, Rohstof­ fe, Löhne - , aber auch »soziale Kosten«, die »bei den Firmenaus­ gaben nicht berücksichtigt, sondern auf andere abgewälzt und von diesen getragen werden«.4 Wenn ein Industrieller seine Ab­ fälle im nahegelegenen Fluss entsorgt, anstatt sie zu recyceln, 232

Kapitel 20: Kritik der politischen Ökologie

sind es in der Regel andere (Fische, Vögel, Sportsegler, Anwoh­ ner ...), die auf die eine oder andere Weise die »Kosten« über­ nehmen müssen. Diese sozialen Kosten der Privatproduktion werden nicht be­ zahlt (weder der Industrielle noch die Aktionäre kommen für sie auf), auf andere übertragen, die sie, gegebenenfalls in na­ tura, »bezahlen« (mit ihrem Wohlergehen, ihrer Gesundheit, vielleicht sogar ihrem Leben) und nicht verbucht (sie tauchen weder in den Firmenbilanzen noch in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung auf). Diese Externalisierung ist in erster Linie eine materielle, physische, aber auch eine kognitive, epistemologische: Aus Sicht der kapitalistischen Ökonomie zählen diese Negativitäten nicht, in jedem Sinne des Wortes. Werner Sombart vertrat die These, dass die dem modernen Rechnungswesen immanente »Sichtweise«, die den Profit als reine Quantität, als Zahl am Ende einer Spalte, erscheinen lässt, den Kapitalbegriff überhaupt erst denkbar gemacht habe.5»Wer Transaktionen auf buchhalterischer Basis durchführt«, ergänzte der Wirtschaftshistoriker Hector Robertson, »hat nur ein Ziel die Vermehrung des rein quantitativ gedachten Werts. Er be­ trachtet aus Prinzip weder Korn noch Wolle, Baumwolle, Stoff, Schiffsfracht, Tee oder Pfeffer. Diese Realien [...] werden zu Schatten, sie verflüchtigen sich ins Irreale. [...] Selbst die Vor­ stellung des Kapitals als >gewinnbringender Besitz< hängt in der Praxis von der wissenschaftlichen Rechnungsführung ab.«6 Die­ ser Hypothese zufolge wäre die kapitalistische Rationalität das Produkt einer gewissen »graphischen Vernunft«7, Folge einer Schrifttechnologie, die Qualität in Quantität verwandelt. Doch die kapitalistische Définition des Wertes hing auch und in einem radikaleren Sinne von einer grundlegenden Untertei­ lung in das zu Berücksichtigende und das nicht zu Berücksich­ tigende ab. Sie beruhte, wie die Historikerin Carroll Quigley in Erinnerung ruft, auf der Entscheidung, »nur die »ökonomi­ schen Kostern, nicht aber die »sozialen Kostern zu erfassen«.8»Im 233

Teil V

neuen Industriesystem des frühen 19. Jahrhunderts wurden alle diese Kosten —Transport der Arbeiter in die und aus den Fabri­ ken, Unterbringung, Erziehung, Ruhestand, Begräbnis, Krank­ heit, Waisenfürsorge - [ . . . ] aus den Unternehmensbilanzen ge­ strichen. Muss man sich da noch über ihren finanziellen Erfolg wundern?« Das Kapital profitiert von einer Reihe positiver Externalitäten, die es nur zu einem Bruchteil selbst finanziert. Da­ rüber hinaus gibt es eine ganze Reihe negativer Effekte an seine natürliche und soziale Umwelt ab, deren Last anderen, mensch­ lichen wie nichtmenschlichen Trägern aufgebürdet wird. Nur unter der stillschweigenden Voraussetzung dieser doppelten Entlastung von den realen Produktionskosten kann es sich als ökonomisch einträglich präsentieren. Der Kapitalismus ist eine Entlastungswirtschafi. Diese umfassende Externalisierung der sozialen Kosten priva­ ter Produktion konnte allerdings nicht vonstatten gehen, ohne große Gegenbewegungen sozialer Selbstverteidigung hervorzu­ rufen. »Man kann die politische Geschichte der vergangenen 150 Jahre nicht in vollem Umfang verstehen«, schrieb Kapp 1950 in Fortführung der Analysen seines Freundes Polanyi,9 »solange man nicht erkennt, dass es sich um eine breite öffendiche Re­ volte [...] gegen diese Übertragung eines Großteils der sozialen Kosten der Produktion auf Dritte oder die Gesellschaft han­ delte.«10 In diesem Licht könnte die jüngere und jüngste Ge­ schichte der Sozial- und Umweltkämpfe auch als Aufitand der Extemalisierten gelesen werden, deren nur scheinbar heterogene Motive allesamt auf eine gemeinsame Wurzel zurückgehen: der Weigerung, für die »sozialen Kosten« der Privatproduktion ge­ radezustehen, für das Kapital zu zahlen." Mit seinem Konzept der sozialen Kosten radikalisierte Kapp eine These des Ökonomen Arthur Pigou aus den 1920er Jah­ ren.11 In manchen Fällen, bemerkte Letzterer, führt eine Pro­ duktion, obwohl profitabel für denjenigen, der sie vornimmt, zu Verlusten für die Gesellschaft, die seine privaten Gewinne 234

Kapitel 20: Kritik der politischen Ökologie

übersteigen. Die Existenz einer punktuellen Diskrepanz zwi­ schen »Privatprodukt« und »Sozialprodukt«13widerlege die Ar­ gumentation der Laisser-faire-Anhänger. Denn in solchen Fäl­ len sei es offenkundig falsch zu behaupten, die Verfolgung des egoistischen Eigeninteresses maximiere den Gesamtwert. Um derartige Funktionsstörungen zu korrigieren, brauche es, so Pigou, »eine höhere Instanz, die eingreift und sich des kollek­ tiven Strebens nach Schönheit, Licht und Luft annimmt«.14 In solchen Fällen könne und müsse der Staat mit »außerordent­ lichen Förderungen« oder »außerordentlichen Restriktionen«15 eingreifen: Subventionen zum einen, Steuern zum anderen. Bis zu Kapps Buch wurden diese negativen Externalitäten allerdings als Randproblem, als marginaler Fehler der Wirt­ schaftstheorie behandelt. Er hingegen zeigte auf, dass die Ab­ wälzung sozialer Kosten ein generelles Phänomen ist, untrenn­ bar verbunden mit einem System der Entscheidungsfindung, das »dazu tendiert, jene negativen Effekte (z. B. Luft- und Was­ serverschmutzung) zu vernachlässigen, die >extern< fur den Ent­ scheidungsträger sind«.16 Das hatte tiefgreifende theoretische Folgen, denn wenn weder die Unternehmensbilanzen noch die Preise im Allgemeinen wirklich in der Lage sind, die auf die so­ ziale und natürliche Umwelt verlagerten, »nicht marktförmigen Schadenswirkungen«17 abzubilden, »dann sind die Preisindi­ katoren nicht nur unvollkommen und unvollständig, sondern verlogen«.18 Der liberale Ökonom Frank Knight, der als einer der ers­ ten schon 1924 die von Pigou vorgeschlagenen Umweltabgaben kritisiert hatte,19 verfasste Anfang der 1950er Jahre eine bissige Rezension von Kapps Buch, das er als sozialistische Propagan­ da reinsten Wassers denunzierte.20 Zwar verursache, wie er ihm entgegenhielt, die Umweltzerstörung Kosten, doch der Um­ weltschutz ebenso. Um ein vollständiges Bild zu erhalten, müs­ se man die Sozial- und Umweltkosten der Privatproduktion zu den Kosten der Alternative, den »Kosten der Kostenbesei235

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tigung«21 ins Verhältnis setzen. Er formulierte damit, was dann zur zentralen Denkfigur der neoliberalen Kritik an Sozial- und Umweltauflagen werden sollte, nämlich die Gleichsetzung von Krankheit und Arznei. Das gleiche Prozedere, das wir schon im letzten Kapitel konkret am Werk gesehen haben. Gemäß dem vorherigen Konsens bestand Einigkeit darüber, dass es wünschenswert sei, im Falle industrieller Umweltver­ schmutzung, »den Fabrikbesitzer für die angerichteten Schä­ den verantwortlich zu machen«.22 Eben das stellten Knight und Konsorten in Frage. Es war Ronald Coase, der das Argument formalisierte. Man denkt gemeinhin, behauptete er, »dass jede schadensbeseitigende Maßnahme notgedrungen zu begrüßen ist«,23 aber das sei ein Vorurteil. Denn man dürfe nicht verges­ sen, dass man in einem solchen Fall »um den für B entstande­ nen Schaden zu vermeiden, A einen Schaden zufugen muss«. Zwar verursache die Verschmutzung Kosten (für diejenigen, die darunter leiden), die entsprechenden Gegenmaßnahmen aber auch (für die Verschmutzer). Bevor man entscheidet, was zu tun ist, müsse man beide Standpunkte abwägen. »Wenn ein Unternehmen Schadstoffe in ein Gewässer einbringt«, erklärte Daniel Fischei in diesem Sinne, »bürdet es dessen Nutzern Kosten auf, die seine eigenen Gewinne mög­ licherweise überschreiten. Daraus folgt jedoch nicht, dass Ver­ schmutzung ein unmoralisches Verhalten ist, dem Einhalt ge­ boten werden muss. Betrachten wir den umgekehrten Fall, dass das Unternehmen, aus Rücksicht auf die Nutzer des Flusses, auf die Verunreinigung verzichtet und sich für eine kostspieligere Methode der Schadstoffbeseitigung entscheidet. In dieser Situa­ tion bürden die Nutzer des Flusses den Investoren, Angestellten und Kunden des Unternehmens Kosten auf, die ihren eigenen Nutzen möglicherweise überschreiten. Weder die Umweltver­ schmutzung noch der Verzicht darauf ist a priori >ethisch< oder >moralisch< korrekt.«24 Ein wenig so, als könne man aus der Tatsache, dass jemanden zu verletzen und ihn zu heilen beides 236

Kapitel 20: Kritik der politischen Ökologie

Kosten verursacht, den Schluss ziehen, dass beide Taten ethisch gleichwertig sind. Ich habe dich verletzt und das kostet dich was, aber dich zu heilen, würde mich auch etwas kosten, also schließe ich daraus, verkündet Ihnen der Ökonom und tippt in seinen Taschenrechner, dass weder die Tatsache, dir zu schaden, noch die Tatsache, das dir zugefiigte Leid wiedergutzumachen, a priori »ethisch« oder »moralisch« korrekt oder unkorrekt ist. Es wäre falsch zu behaupten, versichern diese Ökonomen, dass immer der Verantwortliche zahlen müsse. Das hänge da­ von ab, denn den Schadensverursacher zu bestrafen, könne sich alles in allem als weniger profitabel erweisen, als es nicht zu tun. Man wird so dazu verleitet, Schäden anhand einer Kosten-Nutzen-Bilanz zu beurteilen, bei der es allein auf den Gesamtwert ankommt. Ist dieser »größer, wenn es der geschädigten Partei überlassen bleibt, die Schäden zu tragen«,25 dann sei es öko­ nomisch sinnvoll, dass die Opfer die Kosten übernehmen, die andere ihnen aufbürden. »Nehmen wir an, der durch eine Ver­ schmutzung entstandene Schaden bestehe in einem Fischster­ ben, dann lautet die entscheidende Frage: Liegt der Wert des verlorenen Fisches höher oder niedriger als der Wert des Pro­ dukts, das durch die Kontamination des Gewässers ermöglicht wird?«26 Sind die toten Fische weniger wert als die Produkte der Chemiefabrik (was mehr als wahrscheinlich ist), dann ist es ökonomisch sinnvoll, sie krepieren zu lassen.27 Der Neolibera­ lismus ist von Grund auf antiökologisch. Wie sehr diese Ökonomen ihr Vorgehen auch als offenkun­ dig ausgeben, solche Berechnungen setzen zumindest voraus, dass es möglich ist, i.) die durch eine bestimmte Tätigkeit ent­ standenen Sozial- und Umweltschäden vollständig zu erfassen, und 2.), sie ihrem Marktwert entsprechend zu bemessen. Doch diese beiden Postulate sind problematisch. Untersuchen wir sie der Reihe nach. Den Beispielen nach zu urteilen, die in dieser Literatur an­ geführt werden, muss die Bestandsaufnahme von Umweltschä237

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den ein Kinderspiel sein. Die Rauchgaswolke betrifft annahme­ gemäß nur die unmittelbare Nachbarschaft, die Einleitung von Giftstoffen in den nahegelegenen Fluss beschränkt sich darauf, x Fische zu töten. Kurzum, man zieht nur geschlossene, raumzeit­ lich begrenzte Schadenssituationen in Betracht. Nur, dass damit die Realität von Verschmutzungsphänomenen verkannt wird, die sich gerade durch ihre Unabgeschlossenheit auszeichnen. Zunächst im Raum: Sie sind nicht nur örtlich auf bestimm­ te Gebiete begrenzt, sondern haben andernorts Auswirkungen. Dann in der Zeit: Umweltschäden äußern sich nicht nur zeit­ weilig und unmittelbar, sie können lange über ihr erstes Auf­ treten hinweg bestehen bleiben; sie können sich auch erst viel später zeigen, nach einer langen Latenzzeit.28 Die neoklassische Ökonomie behauptet, Verschmutzungs­ phänomene gemäß dem alten Schema »wechselseitiger Tausch­ beziehungen zwischen mikroökonomischen Einheiten«29 ana­ lysieren zu können. Nur: »Der Ursächlichkeitsprozeß ist in der Regel in seinem Wesen nicht zweiseitig, wo bestimmte Verschmutzer bei bestimmten, identifizierbaren Individuen oder betroffenen Parteien Schäden verursachen.«30 Man hat es viel­ mehr, wie Kapp betont, mit einem »kumulativen oder zirkulären Kausalitätsprinzip«31zu tun. Zahlreiche Verschmutzungsquellen erzeugen kombinierte Wirkungen, die »nicht notwendigerweise entsprechend ihrer Menge und Stärke variieren. Dies ist beson­ ders der Fall, wenn kritische Schwellenwerte der Absorptions­ fähigkeit der Umwelt erreicht sind und wenn sich verschiede­ ne Schadstoffe in chemischen Reaktionen und Konzentrationen verbinden. In einer solchen Situation kann das Abladen zusätz­ licher Abfall- bzw. Residualstoffe nicht verhältnismäßige, son­ dern unverhältnismäßige, d. h. nicht lineare Auswirkungen ha­ ben, mit möglicherweise plötzlichen katastrophenartigen Folgen für die menschliche Gesundheit und das Wohlbefinden.«32Ne­ ben ihrer Unabgeschlossenheit und Überdeterminiertheit haben Umweltstörungen auch einen globalen Charakter. »Sie sind welt238

Kapitel 20: Kritik der politischen Ökologie

weit in dem Sinne«, schrieb Kapp 1977, »daß gewisse unabbauba­ re Rückstände (Schad- und Residualstoffe) potentiell den ganzen Planeten durch die Veränderung der chemischen Zusam menset­ zung der Atmosphäre beeinträchtigen können, indem sie Klima­ wechsel m it weitreichenden Folgen hervorrufen können«.33

Während diese ökosystemische Denkweise zutage trat, blieb die orthodoxe Ökonomie einer seriellen und linearen Vorstel­ lung von Tausch verhaftet, die sie daran hinderte, etwas anderes als einfache Beziehungen zwischen bestimmten Verschmutzun­ gen und unmittelbaren Schäden zu denken. Eine Treibhausgas­ emission betrifft zwar diejenigen, die sie unmittelbar einatmen, sie hat aber auch teil an der Produktion eines globalen Hyper­ phänomens - eines »Hyperobjekts«, das die neoklassische Wirt­ schaftstheorie, die einer überholten, vorökologischen Epistemo­ logie verpflichtet ist, nur durch Fragmentierung und chronische Bagatellisierung erfassen kann.34 »Sich dieser Herausforderung zu stellen, erfordert aber«, so Kapp, »weit mehr als Quantifizie­ rung und Mathematik. Man müsste gewillt sein [...], die phy­ sischen Stoffströme und ihre Auswirkungen in realen Größen zu bewerten.«35 Gewillt sein, Wissenschaft anders zu betreiben, die ökonomische Rationalität durch eine neue ökologische Ver­ nunft zu überwinden. Neben dem Problem der Summierung von Umwelteffekten besteht das der Vergleichbarkeit der Schäden. »Man muss in Er­ fahrung bringen«, forderte Coase, »ob der mit der Schadens­ vermeidung verbundene Gewinn den Verlust übertrifft, der anderweitig aus der Beendigung der Schadensverursachung ent­ steht.«36 Doch diese Art von Abwägung setzt voraus, dass beide »Kosten« sich in ein und derselben Rechnungseinheit adäquat ausdrücken lassen. Wir haben auf die entsprechenden Schwie­ rigkeiten bereits im vorigen Kapitel verwiesen: Was ist ein Le­ ben wert? Was ist der Vergleichsmaßstab zwischen, sagen wir, den Profiten von Eternit und den Asbesttoten? Und wer ent­ scheidet, was gleichwertig ist? 239

Teil V

Die Moralisten mag das vielleicht empören, geben die Neoliberalen zurück, aber die Regulierungsmaßnahmen, angefan­ gen mit der Besteuerung unweltbelastender Industrien, wei­ sen solchen vermeintlich unschätzbaren Realien implizit bereits monetäre Äquivalente zu. Das Problem sei nicht, dass man einer Landschaft, einer Tierart, einem Menschenleben einen Wert beimisst. Problematisch sei die Art, in der das geschieht. Die geltenden Bewertungsverfahren, die der staatlichen Poli­ tik zugrundelägen, würden, ihrer Meinung nach, »auf sozia­ len Preisen basieren (Preis des Menschenlebens, Preis der Un­ fallverhütung ...), die mehr die Vorstellung widerspiegeln, die sich manche gut organisierte und hochmotivierte Lobbies {pres­ sure groups) von diesen impliziten Preisen machen, als das ge­ sellschaftlich »optimale« Niveau, das sich aus einer perfekten Kenntnis der Gesamtheit individueller Präferenzskalen ergä­ be«.37 Kurzum, was ihnen Sorgen machte, war die Tatsache, dass die geltenden Bewertungsverfahren politischer Natur sind: staatspolitischer Natur zwar, aber immer noch viel zu sehr den »Pressionen« sozialer Bewegungen unterworfen. Doch was ist die Alternative? Wie sonst soll man den »op­ timalen« Preis atembarer Luft und gesunden Lebens bestim­ men? Eine solche Alternative würde bestehen, »wenn wir über einen Markt verfugten, auf dem jeder den Preis, den er zu zah­ len bereit wäre, um weniger Umweltverschmutzung ertragen zu müssen, mit dem Preis vergleichen könnte, den der Verursa­ cher zu akzeptieren bereit wäre, um seine Verschmutzung zu reduzieren«.38 In einem berühmten Beispiel ließ Coase zwei Nachbarn auftreten, einen Arzt und einen Süßwarenfabrikanten. Der Ma­ schinenlärm des Handwerkers hindert den Doktor jenseits der Mauer daran, seine Patienten abzuhorchen. Der Arzt strengt einen Prozess gegen seinen Nachbarn an. Erste Möglichkeit: Das Gericht gibt dem Doktor Recht und zwingt den Bonbon­ fabrikanten, seine Maschinen abzustellen. Er würde so sei240

Kapitel 20: Kritik der politischen Ökologie

ne Einkommensquelle verlieren. Aber nichts würde ihn daran hindern, so Coase, wenn erst einmal ein Urteil ergangen sei, mit seinem Nachbarn darüber zu verhandeln, ob er ihm nicht das Recht, weiter Lärm zu machen, »abkaufen« könne. Zwei­ tes Szenario: Das Gericht verwirft die Klage des Arztes und er­ laubt dem Bonbonnier, weiter seine Maschinen laufen zu lassen. Wenn der Mediziner trotzdem weiter praktizieren will, kann auch er mit seinem Nachbarn darüber verhandeln, ob das Recht auf Ruhe nicht zu kaufen ist. Von George Stigler popularisiert, wurde das Coase-Theorem präsentiert als paradoxer Beweis für eine »grundlegende Sym­ metrie in den Beziehungen« zwischen Verursacher und Geschä­ digtem sowie der Tatsache, dass die »Zusammensetzung der Produktion von einer rechtlichen Verantwortungszuweisung unberührt bleibt«.39 In beiden Fällen seien die Akteure, un­ abhängig von der Entscheidung des Richters, in der Lage, ein für beide Seiten zufriedenstellendes Privatabkommen auszuhan­ deln. Im Übrigen sei die Frage, wer zahlt, »ökonomisch un­ erheblich«, weil ganz egal, in welche Richtung die Geldströme fließen, der Gesamtwert gleich bleibt. Eine hübsche Veranschau­ lichung der Umkehrbarkeit sozialer Positionen, der Gleichgül­ tigkeit der Wirtschaft gegenüber dem Recht, der Sinnlosigkeit einer Haltbarmachung, der Überflüssigkeit staatlicher Regulie­ rungen und, umgekehrt, der Selbstgenügsamkeit einer privaten Ordnung, die auf dem Aushandeln von Rechten (Recht zu ver­ schmutzen oder davon verschont zu bleiben) beruht. Nur, dass bei genauerem Hinsehen das Beispiel von Coase nichts von alldem beweist. Denn unter welchen Umständen hätte die Verhandlung sinnvollerweise zu einem Ergebnis fuh­ ren können? Der Arzt kann sich das Schweigen der Maschinen nur erkaufen, wenn er genügend verdient, um dem Bonbon­ fabrikanten ein Angebot zu machen, das dem Einkommen min­ destens gleichwertig ist, das dieser durch die Stilllegung seiner Maschinen verliert. Und umgekehrt kann der Confiseur seinem 241

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Nachbarn das Recht, weiter Krach zu machen, nur abkaufen, wenn er genauso viel verdient wie dieser, sonst wäre er nicht in der Lage, ihm ein Angebot zu machen, das seine Honorar­ verluste kompensiert.40 Fest steht, dass, unabhängig vom Urteil des Gerichts, nur derjenige, der mehr verdient als der andere, darauf hoffen kann, einen für ihn ungünstigen Justizentscheid durch Verhandlungen zu revidieren. Wenn sich der Richter zu­ gunsten des Süßwarenfabrikanten ausgesprochen hat, der Am aber weniger verdient als er, dann muss der Mediziner die Lärm­ emissionen wohl erdulden. Im Gegensatz zu den Interpretatio­ nen, die man ihm hat angedeihen lassen, beweist dieses typische Beispiel weder, dass die Positionen der Akteure stets umkehr­ bar sind, noch, dass die Entscheidung der Justiz in allen Fäl­ len unerheblich ist. Es verdeutlicht vielmehr, dass das Gesetz den Unterschied macht, indem es ein Recht anerkennt, nicht verschmutzt zu werden, und zwar unabhängig vom Einkom­ men des Geschädigten. Es beweist außerdem, dass die Asym­ metrie der Verhandlungsmacht, die sich aus der Ungleichheit der Einkommen ergibt, in der Regel unumkehrbar ist, wenn keine gesetzliche Verpflichtung vorliegt. Es beweist ferner, dass in Ermangelung einer juristischen Regel die Entscheidung der Willkür ökonomischer Ungleichheiten überlassen bleibt. Wie dem auch sei, die wesentliche theoretische Innovation von Coase bestand in der albernen Idee, dass die Geschädig­ ten den Umweltsündern das Recht abkaufen sollen, von Ver­ schmutzung verschont zu werden, dass Rechte kommerzialisiert und Verantwortungen privatisiert werden können.41Das bildete den Auftakt zu einer grundlegenden Verschiebung. Denn vor Coases Artikel wurde »die Möglichkeit einer Verhandlungs­ lösung einfach noch nicht erkannt«, und die Ökonomen waren sich weitgehend darin einig, dass die Staatsmacht Abhilfe schaf­ fen müsse. Den traditionellen Instrumenten staatlicher Inter­ vention in Sachen Umweltverschmutzung —Steuern, Subven­ tionen und Standards —stellten die Neoliberalen seit den 1960er 242

Kapitel 20: Kritik der politischen Ökologie

Jahren einen Ansatz im Sinne übertragbarer Eigentumsrechte gegenüber. Der Gedanke war, neue Märkte zu schaffen, auf de­ nen Verschmutzungsrechte gehandelt würden, als Alternativen zur staatlichen Intervention, aber auch zum sozialen und politi­ schen Machtverhältnis. Zunächst zog man kommerzielle Verfahren nach dem Vor­ bild von Coases kleiner Farce, dem Deal zwischen Arzt und Bonbonhersteller, in Betracht. Dem Geschädigten die Möglich­ keit einräumen, dem Verursacher das Recht abzukaufen, nicht geschädigt zu werden. »Wenn eine Fabrik tausend Haushalte verqualmt«, dozierte Stigler, »dann wäre die ideale Lösung, ein Ausgleichssystem zu schaffen, durch das die Eigentümer [der Wohnungen] die Fabrik für den Einbau von Abgasfiltern be­ zahlen, bis die Grenzkosten der Abgasreduktion die Summe der Grenzgewinne für die Eigentümer ausgleicht.«42 Der Wert der Gesundheits- und Umwelt»güter« könnte so nicht durch eine politische Entscheidung, sondern durch einen Marktmechanis­ mus bestimmt werden. Wenn Ihnen an Ihrer Gesundheit oder an dieser Landschaft etwas liegt, wenn ihr Erhalt Ihnen wichtig ist, dann nennen Sie den Preis, ein Betrag, der letzten Endes, über das objektive Maß der Zahlungsbereitschaft, den Wert der entsprechenden »Güter« ausdrückt. Eine sonderbare Erfindung: statt dem Verursacher- das Geschädigten-Prinzip. Thomas Crocker ersann 1966 einen anderen Typ von Markt: Eine Regierungsbehörde sollte Rechte zur Schadstoffemission erlassen, die dann versteigert würden.43John Dales schlug zwei Jahre später ein ähnliches Modell vor, ein System übertragbarer »Verschmutzungsrechte«, deren Obergrenze von der Regierung festgelegt würde, während die Preisbestimmung einem Markt überlassen bliebe, »der automatisch gewährleistet, dass die er­ forderliche Reduzierung der Schadstoffemissionen zu den ge­ ringstmöglichen Gesamtkosten realisiert wird«.44 Der Markt hat versagt? Es lebe der Markt. Denn gibt es eine bessere Lösung, um die Defekte des bestehenden Marktes zu 243

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beheben, als die Gründung eines neuen Marktes, als Tünche über dem ersten? Erfunden war also die kommerzielle Regulie­ rung von Externalitäten. Schon 1971 machte Nixon, in seiner Wiederwahlkampagne, beiläufig den Vorschlag, »Verschmut­ zungsgenehmigungen zu verkaufen«,45 doch die Idee war po­ litisch noch nicht ausgereift. Es sollte bis zu den 1990er Jahren dauern, bis solche, heute sattsam bekannten Märkte für Emis­ sionsrechte in den Vereinigten Staaten erprobt wurden.46 Dabei handelte es um einen ziemlich neuen Fall »künstlicher Märkte«, die aus dem Nichts der ökonomischen Theorie heraus entstan­ den.47 Mit dem bekannten Erfolg. Das Problem ist, besagte die ökologische Kritik, dass die So­ zial- und Umweltkosten von der kapitalistischen Wirtschaft nicht erfasst werden. Wenn ihr wollt, dass wir sie berücksich­ tigen, konterten die neoklassischen Ökonomen, dann müssen wir diesen Realien einen Preis geben - sonst ist eine Berück­ sichtigung nicht möglich. Dem von ihnen abgelehnten Prin­ zip einer politischen Beurteilung stellten sie das Prinzip der kommerziellen Bewertung gegenüber. Damit konnte man die Märkte als erkenntnistheoretische Lösungen für das Problem der Wertbestimmung präsentieren und auf sehr elegante Weise, fern des krassen Materialismus, der doch ihr wesentliches Motiv darstellt, eine neuerliche Ausdehnung des Bereichs privater An­ eignung rechtfertigen. »Ich leugne nicht«, verdeutlichte Kapp, »daß es möglich ist, Umweltschäden, der menschlichen Gesundheit, dem mensch­ lichen Leben oder auch ästhetischen Werten einen monetären Wert zuzuschreiben - so wenig, wie ich die Möglichkeit einer geldmäßigen Bewertung eines Kunstwerkes in Abrede stelle. In der Tat werden solche Bewertungen auf den Märkten bestän­ dig vorgenommen. Was ich aber in Frage stelle und in der Tat verneine, ist, daß monetäre Werte die angemessenen und ver­ antwortbaren Kriterien für die Bewertung der durch die Um­ weltzerstörung verursachten Schäden darstellen.«48 Das Pro244

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blem ist also nicht, dass diese Realien absolut inkommensurabel wären (was nicht der Fall ist), sondern dass diese kommerziel­ le Herstellung des Kommensurablen ihren Gegenstand ver­ fehlt. Kann ein Markt Sozial- und Umweltkosten adäquat bewer­ ten? Kapp verneinte das. Hinter dem Fetisch »Markt« verbergen sich individuelle Akteure, die in der Lage sein sollen, durch die Summe ihrer Entscheidungen, den richtigen Preis für die zur Disposition stehenden Umweltrealien zu bestimmen. Doch gibt es strukturelle Grenzen, die sie daran hindern, dies in zufrieden­ stellender Weise zu tun. Das erste Problem ist das der Erkenntnisgrenzen des ratio­ nalen Wirtschaftsteilnehmers. Sich selbst überlassen, ist ein solches Individuum nicht in der Lage, »die vielen Arten der kurz- oder langfristigen Vorteile einer Umweltverbesserung zu bestimmen oder eben die Auswirkungen der Umweltzerstörung auf seine Gesundheit und sein Wohlbefinden in ihrem ganzen Ausmaß zu erfassen«.49 Das soll nicht heißen, dass solche Folgen absolut unergründlich wären, sondern nur, dass der betreffende Akteur nicht in der Lage ist, sie aufgrund von Marktsignalen zu erkennen. Das würde etwas gänzlich anderes voraussetzen: Eine auf anderen gesellschafdichen Grundlagen organisierte Infor­ mationsarbeit, die Entwicklung neuer Umweltwissenschaften, die Kapp zwar herbeisehnte - die der Markt aber von sich aus nicht erzeugen wird. Die zweite Schwierigkeit betrifft den Zeithorizont, innerhalb dessen solche Akteure ihre Wahl treffen. Ihre Entscheidungen haben Auswirkungen auf »die Interessen künftiger Generatio­ nen«, da diese aber in den Berechnungen »nicht vertreten sind«, werden ihre Interessen »bei den gegenwärtigen Marktpreisen nicht mitberücksichtigt«.50 Die strukturelle Tendenz geht al­ so dahin, sich für einen unmittelbaren Gewinn zu entscheiden und den Verlust auf andere zu verlagern, in einer Zukunft, die uns nichts mehr angeht. 245

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Das dritte Hindernis hat mit den Grenzen der »Zahlungs­ bereitschaft« zu tun. Die Neoklassiker gehen davon aus, dass der Markt erlaubt, durch den Betrag, den die Einzelnen be­ reit sind, für bestimmte Güter auszugeben, den Stand subjek­ tiver Präferenzen abzubilden. Das Prinzip klingt einleuchtend: Wenn Ihnen etwas sehr wichtig ist, werden Sie auch bereit sein, eine hohe Summe zu zahlen, um es zu bekommen oder zu behalten. Nur, dass Ihre »Zahlungsbereitschaft« in der Praxis durch Ihre Zahlungsfähigkeit begrenzt wird. Sie würden ja ger­ ne alles Menschenmögliche geben, um ein geliebtes Wesen zu retten, aber Sie können nur auf den Tisch legen, was Sie auch haben. Das Kriterium der Zahlungsbereitschaft ist struktu­ rell verzerrt durch das Gefälle ökonomischer Ungleichheiten.5' Würde man anhand dieses Prinzips beispielsweise entscheiden, ob ein Park in einer wohlhabenden Wohngegend oder einem Armenviertel angelegt wird, so ist mehr als wahrscheinlich, dass in einem Bieterkampf bei subjektiv gleichen Präferenzen erstere Einwohnergruppe die Oberhand behält. Ginge es da­ rum, über den Standort einer Mülldeponie oder einer Zellu­ losefabrik zu entscheiden, ist ebenso sicher, dass letztere Grup­ pe wiederum verlieren würde. In einer ungleichen Gesellschaft dem Markt die Aufgabe zu überlassen, veräußerliche Umwelt­ rechte neu zu vergeben, läuft zwangsläufig darauf hinaus, den Reichsten die Möglichkeit einzuräumen, ihre Sozialkosten auf die Ärmsten abzuwälzen.52 Diejenigen, die kein Geld haben, um zu zahlen, zahlen in natura. Und dies in einem Teufels­ kreis, bei dem ökonomische Ungleichheit zu ökologischer Un­ gleichheit fuhrt, die wiederum das reale Elend der Besitzlosen verschlimmert. Sollen ökologische Gegebenheiten berücksichtigt werden, müsse man sie, den Neoliberalen zufolge, in die kapitalistische Wertlogik integrieren, was voraussetzt, den Bereich des Privat­ eigentums auf jene Gemeingüter zu erweitern, die sich ihm bis­ her noch entzogen haben. Das Postulat lautet, dass sobald eine 246

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Sache privatisiert wird und einen Marktwert erhält, diejenigen, die von ihr einen Nutzen haben, an ihrem Erhalt interessiert sind. Nach dieser Weltanschauung ist die Zerstörung einer öko­ logischen Gegebenheit so lange irrelevant, wie sie nicht ökonomisiert wurde. Die Verschmutzung eines Sees wird erst zur ökonomischen Realität - zur Realität schlechthin - , wenn es ein Wassersportzentrum gibt, dessen Einnahmen dadurch sin­ ken. Einen nichtkapitalistischen See hingegen gibt es nicht. Die Grundthese lautet, dass die kommerzielle Aneignung der Natur Voraussetzung ihres Erhalts ist. »Gemeingüter« hingegen stehen in dem Ruf, eine Tragödie zu sein.53 Um zu begreifen, dass die Versprechen dieses neuen »grünen Kapitalismus« nicht nur Hochstapelei, sondern eine Katastro­ phe sind, ist es lehrreich, ein altes Buch zu konsultieren. Zu Be­ ginn des 19. Jahrhunderts entdeckte ein schottischer Lord, der sich während der Französischen Revolution in Paris radikalisiert hatte, James Maitland, Graf von Lauderdale, das nach ihm be­ nannte ökonomische Paradox.54 Was ist »Nationalwohlstand«? Im Unterschied zu dem, was man vermuten könnte, beschränkt er sich nicht auf die »Ge­ samtsumme der Individualvermögen«55 - oder, wie man heute sagen würde, die »gesamte Wertschöpfung«. Die beiden Begrif­ fe, Nationalwohlstand und Privatwert, sind nicht nur verschie­ den, sondern sogar widersprüchlich, da sich letzterer in der Re­ gel nur auf Kosten des ersteren vermehren kann. Damit eine Sache »sich eigne, einen Teil des individuellen Wohlstands zu bilden«, genüge es nicht, dass sie nützlich und annehmlich sei: »Es muss obendrein ein gewisser Grad von Knappheit an ihr bestehen.«56 Und umgekehrt, wenn ein Gut im Überfluss vorhanden und frei zugänglich ist, kann es nicht mit Gewinn angeeignet werden. Man kann öffendichen Wohl­ stand nur unter der Bedingung in privaten Wert verwandeln, dass er ein knappes Gut wird. Stellen wir uns eine Landschaft vor, so Lauderdale, »die mit allen Notwendigkeiten und An247

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nehmlichkeiten des Lebens ausgestattet ist und rings von Strö­ men klarsten Wassers umspült wird: Was würde man über je­ manden sagen, der als Mittel, um den Wohlstand dieses Landes zu vermehren, vorschlagen würde, einen Mangel an Wasser herbeizuführen, dessen Fülle die Bewohner doch gerade als ihren größten Segen betrachten? Gewiss würde man ihn als Verrück­ ten behandeln. Und doch würde sein Rat dazu fuhren, die Mas­ se individuellen Reichtums zu erhöhen; denn dem Wasser, das ja seine Eigenschaft behielte, nützlich und begehrenswert zu sein, würde durch den zusätzlichen Umstand, knapp zu sein, ein gewisser Wert verliehen.«57 Das ist das Paradoxe: Die Ver­ mehrung privaten Reichtums, gemessen in Tauschwertbegrif­ fen, setzt die Verknappung der entsprechenden Gemeingüter voraus, sofern man sie nicht selbst künstlich verknappt, indem man sie vorsätzlich zerstört. Zu Zeiten Lauderdales fiel diese Vorstellung einer zerstöre­ rischen Aneignung von Wasservorkommen noch in den Be­ reich der Fiktion. Und doch reagierte sie bereits auf bestehende kapitalistische Praktiken, besonders in den Kolonien. Lauder­ dale zitierte das Beispiel »der Holländer, die Gewürze in großen Mengen verbrannten, wenn der Ertrag zu üppig war, und den Bewohnern der Inseln, auf denen Muskatnussbäume wachsen, Prämien zahlten, damit sie die jungen Triebe und grünen Blätter der Bäume pflückten und sie dadurch zerstörten«.58 Will man die wahre Bedeutung der aktuellen »Umweltkrise« erfassen, muss man sie im Lichte dieser Geschichte betrachten, der eines Wirtschaftssystems, dessen Expansion wesentlich auf zerstörerischer Naturaneignung beruht, und sie, wie Lauderdale quasi im Voraus nahelegte, in die Kontinuität des Kolonialraubs und der ursprünglichen Akkumulation stellen. Der Unterschied zwischen diesen Beispielen vorsätzlicher Zerstörung und den Hyperphänomenen der Umweltschädi­ gung, die wir seither erlebt haben, ist der, dass wir zum Bei­ spiel die Ursache für die globale Luftverschmutzung nicht dem 248

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konzertierten Vorgehen einer Clique von Spekulanten zuschrei­ ben können, die sie vorsätzlich herbeigeführt hätte, um direkt von ihr zu profitieren. Die Verknappung sauberer Luft ist nicht das geheime Werk von Verkäufern in Flaschen abgefüllter Luft, ebenso wenig wie die Erderwärmung das der Hersteller von Klimaanlagen, selbst wenn die von ihnen auf den Markt ge­ brachten Geräte mitunter dazu beitragen. Die globalen Aus­ wirkungen sind nicht das um seiner selbst willen angestrebte Ziel. Aber das ist auch der einzige Unterschied. Denn ob der Mangel nun vorsätzlich organisiert wird oder als struktureller Nebeneffekt einer Externalisierung sozialer Kosten eintritt, das Resultat bleibt sich gleich. Denn wenn die Umweltschäden zu Knappheitserscheinungen fuhren, liefern sie die objektiven Vo­ raussetzungen für einen neuen Kommerzialisierungszyklus, eine marktwirtschaftliche Konversion alten Reichtums in neuen Wert, gemäß einem Modell, bei dem, gestern wie heute, die Zerstö­ rung öffentlichen Reichtums als Vorbedingung für die Ausdeh­ nung privater Aneignung fungiert. Ist der alte öffentliche Reichtum einmal abgeschafift und in die Warenproduktion integriert, werden diejenigen, die davon profitieren, keinerlei Interesse daran haben - ganz im Gegen­ teil - , zu den vorherigen Zuständen marktfernen Überflusses zurückzukehren. Eine Firma, die Wasser in Flaschen verkauft, hätte vielmehr ein objektives Interesse daran, dass die öffent­ lichen Brunnen verschwinden. Deshalb muss der Zustand der Knappheit fortbestehen, ja sich verstärken, was im Widerspruch zu einer Politik der Wiederherstellung und Ausdehnung öko­ logischer Gemeingüter steht. »Wäre der Boden so leicht zu haben wie die Luft, so würde kein Mensch Grundzins bezah­ len«,59 schrieb der junge Engels. Er konnte sich wahrscheinlich nicht vorstellen, dass einmal der umgekehrte Fall eintritt: In einem Zeitalter, in dem saubere Luft zur Rarität wird, wird man nicht davor zurückschrecken, uns für sie, auf die eine oder an­ dere Weise, zur Kasse zu bitten. 249

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Das überzogene Versprechen der herrschenden Ökonomie, betonte John Bellamy Foster mit Nachdruck, ist der Anspruch, den Planeten durch Ausdehnung ebenjenes Kapitalismus zu retten, der gerade dabei ist, ihn zu zerstören.60 In einer fantas­ tischen Realitätsverkehrung präsentieren die Neoliberalen uns die private Aneignung als Lösung für eine Umweltkatastrophe, die doch zugleich Produkt vorheriger privater Akkumulationen und immer wieder neue Voraussetzung einer erweiterten kom­ merziellen Aneignung ist. Ein Pseudoheilmittel, das, wie in Fäl­ len von Suchtabhängigkeit, seine Macht nur erhöht, indem es das Übel vergrößert, das es zu bekämpfen verspricht.

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Kapitel 21 : Verantwortlich machen »Die Direktion der Yorkshire and Lancashire Railway verkündet auf ihren Fahrscheinen, daß, »welcher Unfall auch immer passie­ ren, welche Verletzung auch immer durch eigene Nachlässigkeit der Reisenden oder durch deren Bedienstete Vorkommen mag, die Direktion sich als jeder rechtlichen Verantwortung enthoben betrachte*. [...] Im ganzen genommen könnte es scheinen, daß das Kapital eine besondere, ihm eigene Moralität besitzt, eine Art höheren Gesetzes [...], während man die gewöhnliche Moral fixr eine Sache hält, die gerade gut genug für die armen Leute ist.«1

Karl Marx 1971. Eine Hand wirft eine Tüte aus dem offenen Fenster eines fahrenden Wagens. Sie zerplatzt am Straßenrand. Der Müll lan­ det vor den Mokassins einer majestätischen Gestalt. Ein India­ ner mit Feder im Haar. Großaufnahme des Gesichts. Er weint. Zoom auf die Träne, die über seine zerfurchte Wange rinnt. Stimme aus dem Off: »Umweltverschmutzung beginnt bei den Menschen, und Menschen können sie stoppen.« Einblendung auf dem Bildschirm: »Keep America Beautiful«.2 Der Indianer ist die Natur. Sie sind die Zivilisation. Er ist Ihr schlechtes Gewissen. Der Subalterne kann nicht sprechen, aber was der geschlossene Mund nicht vermag, besorgen die offenen Augen. Diesem jungfräulichen, vorkolonialen Amerika, das be­ schmutzt und verwüstet wurde, dessen Bewohner einem Völ­ kermord zum Opfer fielen, Sie fugen ihm weiterhin Leid zu und es macht Ihnen dafür einen stummen Vorwurf. Dann folgt der 251

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Slogan. Der Grund der Verschmutzung sind Sie. Das Gegen­ mittel sind folglich ebenfalls Sie. Alles liegt in Ihren Händen. Von Ihrer Schuld können Sie sich entlasten. Sie brauchen bloß Ihr Verhalten zu ändern. Ein schöner Appell an das Umwelt- und Verantwortungs­ bewusstsein eines jeden. Doch wer verbirgt sich eigendich hinter dieser erbaulichen Werbebotschaft? Anders, als man vermuten könnte, ist »Keep America Beautiful« keine Umwelt­ schutzorganisation, sondern ein Konsortium von Getränkeund Verpackungsherstellern, darunter Coca-Cola und die Ame­ rican Can Corporation. Diese Deckorganisation entstand 1953, in einem Kontext, den zu rekonstruieren lehrreich ist. In den Vereinigten Staaten existierte ein bewährtes Pfand­ system für Getränkeverkäufe: Der Kunde zahlte ein paar Cent mehr, die er bei Rückgabe der Flaschen erstattet bekam. Dieses System wiederverwendeter Behälter —das zu unterscheiden ist vom Materialrecycling (man schmolz das Glas nicht ein, son­ dern befüllte die Flasche neu) - war effizient, nachhaltig und minimierte Abfälle.3 In den 1930er Jahren begannen sich die Verhältnisse zu än­ dern. Als nach dem Ende der Prohibition das Alkoholgeschäft wieder anlief, erfanden die Bierhersteller die Blechdose. Die wiederverwertbare Glasflasche, an die die Verbraucher gewöhnt waren, behielt noch eine Weile die Oberhand, doch der Über­ gang zu Wegwerfbehältern eröffnete lukrative Perspektiven: Die Kosten für das Sammeln und Wiederaufbereiten der Fla­ schen konnten gespart, Zwischenhändler (wie die örtlichen Ab­ füller) ausgeschaltet, die Produktion konzentriert und der Ver­ trieb großflächig erweitert werden. Mit der Durchsetzung von Einwegbehältern vergrößerte sich natürlich die Abfallproduk­ tion, doch die Hersteller wuschen ihre Hände in Unschuld. Zu Beginn der 1950er Jahre folgten die Limonadefabrikanten, Pepsi voran, Coca-Cola hinterher, den Bierbrauern. Die Trendwende war spektakulär. Wurden 1947 noch 100% der Limonade und 252

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85 % des Biers in wiederverwertbaren Flaschen verkauft, betrug dieser Anteil 1971 nur noch 50 bzw. 25 %.4 In der Folge wur­ den von leeren Dosen und Wegwerfflaschen übersäte Rinnstei­ ne und Grünstreifen, aber auch Uferböschungen und andere beliebte Picknickplätze zu einem immer unübersehbareren Pro­ blem. Das sorgte für Aufregung. Petitionen wurden unterzeich­ net. Man forderte die Behörden auf, Maßnahmen zu ergreifen. 1953 führte als Erstes das Parlament von Vermont per Gesetz ein verbindliches Pfandsystem ein. Für die Firmen war das ein erns­ tes Alarmsignal. Man fürchtete, dass dieses Gesetz »einen Prä­ zedenzfall schafft, der eines Tages die ganze Industrie in Mitlei­ denschaft zieht«.5Um diesen Trend zu stoppen, wurde im selben Jahr »Keep America Beautiful« gegründet. In den 1960er Jahren drehte die Organisation eine Reihe von Werbespots mit einem kleinen weiß gekleideten Mädchen na­ mens »Susan Spotless« in der Hauptrolle, das ihren Eltern Mo­ ralvorträge hielt, wenn sie Verpackungsmaterial achtlos weg­ warfen.6 1963 produzierte die Organisation zusammen mit einer Ölfirma, der Richfield Oil Corporation, einen Kurzfilm, »Her­ itage of Splendor«, der die Schönheiten der Natur beschwor und zugleich die verheerenden Auswirkungen individueller Umwelt­ verschmutzung anprangerte. Der Erzähler war ein abgetakelter Schauspieler, der aber noch nicht den Weg in die Politik gefun­ den hatte, ein gewisser Ronald Reagan. Der Umweltvandalis­ mus nimmt zu, mahnte die Stimme aus dem Off; in manchen Regionen habe man schon den Zugang zu den Flussufern un­ tersagen müssen, wegen der »hohen Kosten für die Beseitigung des Abfalls, den sorglose Angler auf ihrem Weg hinterlassen ha­ ben«,7anderswo hätten »ganze Strände gesperrt werden müssen, wegen ein paar fahrlässiger Personen, die ihre Manieren verges­ sen«. Kleine Anekdote am Rande: Der Film kam kurz nach der Ölpest von 1962 in die Kinos, bei der der Mississippi und der Minnesota verseucht wurden, und zwar von einer Ölförderanlage, die offenbar ebenfalls »ihre guten Manieren vergessen« hatte. 253

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D och kom m en wir au f die Angler zurück, deren schlechte Manieren Reagans Stim m e anprangerte. Im Sommer 1936, an­ lässlich der M arkteinführung ihres ganz neuen Dosenbiers, leis­ tete sich die C ontinental Can C om pany eine große Werbekam­ pagne in der amerikanischen Presse. Sie pries darin die Vorzüge dieser neuen, so praktischen Erfindung an: D ie D ose war mit einem H andgriff zu öffnen, bewahrte G eschm ack und Frische und erm öglichte vor allem »das direkte Trinken, ohne leere Fla­ schen zurückbringen zu müssen«. Das Hauptverkaufsargument für das D osenbier war also, w enig überraschend, sein Wegwerf­ charakter. Kein Pfand mehr, kein Leergut mehr, das man he­ rumschleppen muss. Ein Foto, das W ort und Geste verband, zeigte zwei hemdsärmelige Angler in einem Boot, deren jewei­ lige H altungen die zwei M om en te einer Handlungssequenz verkörperten, die sich im Laufe eines langen Angelnachmittags offenbar unentwegt wiederholen würde: der eine, der mit ange-

MINIC RIGHT ROM THI CAMi NO ΕΜΠΙΒ TO RETURN Abbildung 4: Werbung der Continental Can Company von 1936 (Detail).8 254

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winkeltem Arm zum Trinken ansetzt, während der andere, die leere Dose in der Hand, ausholt, um sie im Seewasser zu versen­ ken. Sauf aus und weg damit. Drei Jahrzehnte später wäre eine solche Werbung undenk­ bar gewesen. Obwohl sich im Grunde nichts geändert hatte: Der Vorteil von Wegwerfprodukten ist, dass man sie wegwerfen kann (was sonst?). Nur ließ sich das nicht mehr so offen sagen. Die Zeit war gekommen, diese erste Botschaft durch eine zweite zu korrigieren. Im Werbespot von 1971, dem mit dem weinenden Indianer, war die gleiche Geste zu sehen, der zum Wegwerfen erhobe­ ne Arm, aber gefolgt von einem anderen Bild, der Indianerträne, die ihr, per Kuleschow-Effekt, im Nachhinein eine andere Bedeutung verlieh. Der ehemals manifeste und nunmehr ver­ drängte Inhalt besagte: »Kauf mich, das ist bequem, wenn du angesäuselt bist, kannst du mich einfach in den See werfen.« La­ tent geworden, wurde er nun offiziell durch folgenden ersetzt: »Ich bin zwar zum Wegwerfen, aber Vorsicht, wenn du mich dorthin wirfst, wo es sich nicht gehört (du hast es bereits getan), wirst du dich schuldig fühlen. Was wir dir einst empfahlen, da­ von raten wir dir jetzt nicht nur ab, sondern zwingen dich auch, die Schuld dafür zu tragen.« Es ging darum, ein Gefühl von Reue zu erzeugen. »Aus Sicht der Sozialkontrolle«, war in einem Sammelband zur Psychologie des Vandalismus zu lesen, »versuchen Gewissens­ appelle [...], die Risiken für Scham und Verlegenheit zu er­ höhen [...]. Ihre manifeste oder latente Funktion ist, den Men­ schen ein Schuldempfinden einzupflanzen.«9 Im vorliegenden Fall diente das Verfahren auch dazu, Verantwordichkeiten neu zu verteilen, sie den einen aufzubürden und die anderen zu ent­ lasten. Diese Träne, sie wurde Ihretwegen vergossen, Sie allein sind dafür verantwortlich. Die Botschaft bemühte sich außerdem darum, die Bedeu­ tung des Wortes »Umweltverschmutzung« neu zu definieren, sie 255

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auf das »littering«, das Vermüllen, zu reduzieren. Hatte man das Problem derart zu einer Sache individuellen Fehlverhaltens um­ formuliert, lag die Lösung au f der H and: Sie konnte nur einem Bemühen um moralische U m erziehung entspringen. Es würde genügen, w enn alle individuell ein gutes Umweltverhalten an den Tag legten, um m it der V erschm utzung Schluss zu machen. D ie Industrie hatte ein Problem, das im m er auffälliger wur­ de. Man konnte noch so laut verkünden, dass »die Leute« für den M üll allein verantwortlich seien, doch wenn »die Leute« einmal weg waren, blieben nur D in ge zurück, mitten über die Landschaft verstreut, schrillbunte D in ge m it groß aufgedruck­ ten Markennamen. Dieser M üll wird Ihnen präsentiert von ..., wahlweise C oca-C ola, Pepsi, Ballantine, Pabst oder Müller, schienen diese Überbleibsel in die W elt hinauszuposaunen. Auch w enn ich die D ose nicht selbst weggeworfen habe, brach­ te es der Vorsitzende der N ational Soft D rink Association 1970 auf den Punkt, »so steht doch m ein Logo drauf«.10 Da »die Aufm achung unserer Produkte sehr markant ist«, bedauerte der C oca-C ola-C hef, »werden wir stärker kritisiert als andere Hersteller«.11 Im April 1970, w enige Tage vor dem ersten »Tag der Er­ de«,12 hielt der Präsident von C oca-C ola, John Paul Austin, eine

Abbildung 5: Werbespot von »Keep America Beautiful« (1971). 256

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Rede vor Bankern. Bezug nehmend auf aktuelle Umweltthe­ men, bekannte er, dass er sich, seiner eigenen Kinder wegen, die in den 2000er Jahren sein Alter haben würden, Sorgen mache über den laufenden »Mord an der Umwelt«. Langfristig laufe der Planet Gefahr, unbewohnbar zu werden und den Menschen keine andere Wahl zu lassen, als »auf andere Planeten auszuwan­ dern«.13Während manche auf die jugendliche Protestbewegung schimpften, sprach er ihr ein öffentliches Lob aus: »Die jungen Menschen dieses Landes sind sich der Herausforderung bewusst [...], sie sind empört über unsere offensichdiche Sorglosigkeit. Massen von Studenten engagieren sich und demonstrieren.« Es sei an der Zeit, dieser aufmüpfigen Jugend zu danken: »Ich be­ glückwünsche unsere Jugendlichen zu ihrem Bewusstsein und ihrem Scharfsinn. Sie haben Alarm geschlagen und uns damit allen einen Dienst erwiesen.« Doch was folgte aus dieser Fest­ stellung? »Die Regierung kann das Problem nicht lösen. [...] Die Menschen dagegen können etwas tun.«14 In dieser zweitei­ ligen Formel war die Haltung der Industriellen gegenüber dem grünen Protest und seiner Übersetzung in Regulierungsvor­ haben gut zusammengefasst: Sinnlosigkeit staadicher Interven­ tion, Allmacht individueller Sensibilisierung. Doch anstatt, wie angeraten, die Jagd auf »sorglose Angler« und andere Freizeitsünder zu eröffnen, gingen die Umwelt­ schutzbewegungen an die Quelle zurück und beschuldigten die Industriellen, die sich für Wegwerfbehälter entschieden hatten, aus reiner Profitgier ein gut funktionierendes System der Wie­ derverwertung von Flaschen aufgegeben zu haben. Zu Beginn der 1970er Jahre entstanden zahlreiche Initiativen, die das Ziel verfolgten, die Hersteller zur Wiedereinführung des Pfandsys­ tems zu zwingen. 1972 wurde in Oregon und ein Jahr später in Vermont ein entsprechendes »Flaschengesetz« verabschiedet. Die Industriellen waren darüber so erzürnt, dass sie bisweilen ihre Sprachregelungen vergaßen. »Wir müssen diese Volksent­ scheide zum Flaschenpfand, die dieses Jahr in Maine, Massa257

Teil V

chusetts, Michigan und Colorado anstehen, mit allen Mitteln bekämpfen. Es sind Kommunisten oder Leute mit kommunis­ tischen Ideen, die versuchen, diese Staaten auf den Weg von Oregon zu bringen«,1’ ereiferte sich William E May in seiner doppelten Eigenschaft als Leiter der American Can Company und Vorsitzender von Keep America Beautiful. Angesichts der drohenden Regulierung startete das Glass Container Manufacturers Institute (G. C. M.I.) 1970 eine gro­ ße PR-Kampagne mit einem Budget von mehreren Millionen Dollar. Die mit der Durchführung beauftragte Werbeagentur hatte den Einfall, eine Musikgruppe zu gründen, um die Weg­ werfflasche bei Teenagern zu popularisieren. Die anfangs »Soda Pop and the One-Way Bottles«16 getaufte Band hatte die Mis­ sion, »die Jugend durch Radio- und Fernsehwerbung, Platten und Konzerte davon zu überzeugen, sich für Einwegflaschen zu entscheiden, wenn sie Softdrinks kauft«.17 »Meine Einweg­ flasche hält mich fit und am Leben ... ich muss nicht in die Stadt zurück, um sie abzugeben«, trällerte die Gruppe in einem ihrer ersten Stücke.'8 In Anbetracht der unmittelbar einsetzen­ den Polemik ruderte man ein wenig zurück. »Wir haben einen Irrtum begangen«, gestand der Leiter des Glass Container Man­ ufacturers Institute, »wir haben die politische Brisanz der Um­ weltfrage nicht vorhergesehen.«19Die Band wurde in »The Glass Bottle« umgetauft und ihr Anliegen verschleiert. Die Kon­ zernbarden im Hippielook (lange Haare, Indienhemden und Stirnbänder) besangen also im schnulzigen Ton und mit vielen schlechten Wortspielen20 die Vorzüge der Flaschenbrause (Glas ist sauber und konserviert den Geschmack), anstatt allzu deut­ lich auf die ach so bequeme Entsorgbarkeit ihres Behälters zu verweisen. Doch die Anti-Pfand-Kampagne nahm auch andere, ge­ schicktere Formen an als die einer primitiven Schnulzenpro­ paganda. 1970, zwei Tage vor dem ersten »Earth Day«, starte­ te das G. C. M.I. in Los Angeles ein Pilotprogramm in Sachen 258

Kapitel 21 : Verantwortlich machen

Recycling: Die Bewohner wurden über Partnervereine, Schu­ len und Kirchen dazu aufgefordert, leere Flaschen und andere Glasgefäße in eigens zu diesem Zweck eröffneten Sammelzen­ tren abzugeben, für zwei Penny pro Kilo Glas.11 Man wollte so den Beweis erbringen, »dass es aus ökonomischer und ökologi­ scher Sicht besser sei, Einwegflaschen zu recyclen, statt sie zu verbieten oder zu besteuern«.21Die Presse wurde täglich über die Zahl der gesammelten Flaschen auf dem Laufenden gehalten. Die Beteiligung übertraf die Erwartungen. Kaum einen Monat später sammelte man im Großraum Los Angeles 250 000 Fla­ schen pro Woche. Ermutigt durch diesen Erfolg, lancierte das G. C. M.I. im folgenden Jahr ein landesweites Recyclingpro­ gramm im Rahmen einer »Woche der Abfallvermeidung«. Das Recycling wurde somit von der Industrie als Alternative zur geplanten Pfandpflicht oder dem Verbot von Einwegbehäl­ tern beworben. Am Ende dieser erfolgreichen Gegenoffensive der Industrielobbys stand »das Recycling als ausschließliche Lö­ sung anstatt als Ergänzung zu verbindlichen Programmen einer Müllreduzierung an der Quelle«.13Zur gleichen Zeit, als die ers­ ten, von der Industrie geförderten Mülltrennungs- und Recyc­ lingverfahren eingefuhrt wurden, explodierte das Volumen der Haushaltsabfälle. Dieses Beispiel steht paradigmatisch für eine Methode der Respotisibilisierung, die inzwischen in vielen Bereichen zu einer der wesentlichen Taktiken des »ethischen Neoliberalismus« ge­ worden ist. Sein primäres Anliegen besteht darin, Regulierung zu vermeiden. Verhaltensweisen zu steuern durch Aktivierung von Bereitschaft, durch Förderung freiwilliger Teilnahme statt durch gesetzlichen Zwang. Responsibilisierung ist, nach der Analyse von Ronen Shamir, »eine Art der Ansprache, die eine moralische Handlungsfähigkeit erzeugt und voraussetzt«, »eine Regierungstechnik, die eine reflexive Subjektivität mit dem Ver­ mögen, zur Entfaltung einer horizontalen Autorität beizutra­ gen, entstehen lässt«.14 259

Teil V

Responsibilisierung appelliert an die subjektive Autonomie; sie wendet sich an Individuen mit der Aufforderung, selbstän­ dig zu werden, sich selbst zu regieren.15 Zu Beginn der 1980er Jahre prägte Thomas Schelling ein neues Wort, »Egonomie«, um die Kunst des Selbstmanagements zu bezeichnen.16Sich selbst zu behandeln, als wäre man jemand anderes, bemerkte er, »ist eine weit verbreitete Technik des Selbstmanagements«.17 Ist Re­ sponsibilisierung eine so verstandene Egonomie? Vielleicht, doch erscheint sie ebenso sehr als eine Kunst, andere zu regie­ ren, indem man sie nötigt, sich selbst zu managen. Eine Kunst, andere zu regieren, indem man in ihnen eine reflektierte Fä­ higkeit zur Selbststeuerung aktiviert —eine Autonomie in der Heteronomie. Zur gleichen Zeit, als die Industriellen das Pfandsystem zer­ schlugen und sich dadurch der Wiederverwertungskosten endedigten, als sie also strukturell umweltfeindliche Entscheidungen trafen, appellierten sie an das ökologische Verantwortungs­ bewusstsein der Verbraucher. Ein typischer Fall von Doppel­ moral, bei der man eine Norm ausruft, die für alle gilt, bloß nicht für einen selbst. Den anderen die Verantwortung aufbür­ den, um sich selbst besser von ihr freimachen zu können. Mit Unterstützung großer Werbekampagnen gelang es der Industrie, das Abfallproblem zu einer »vom Produktionsprozess entkoppelten Angelegenheit individueller Verantwortung«18zu machen, ohne Bezug zur Frage der Abfallreduzierung am Ent­ stehungsort. Es ist für uns, als Individuen, sicherlich schmei­ chelhaft, uns vorzustellen, dass alles auf unseren schwachen Schultern ruht. Doch vor lauter Mülltrennen in unseren Kü­ chen entgeht uns vielleicht, was nicht so unmittelbar ersichtlich ist, nämlich dass es andere Akteure sind, angefangen mit den Stadtverwaltungen, die angesichts des exponentiell anwachsen­ den Haushaltsmülls investieren und sich verschulden müssen, um die notwendige Infrastruktur zu finanzieren. Am Ende sind es allemal die Bürger, die »durch ihren Fleiß und ihre Steuern 260

Kapitel 21 : Verantwortlich machen

das Recyclingsystem fiir den Verpackungsmüll der Getränkein­ dustrie subventionieren und damit den Unternehmen ermög­ lichen, ihren Geschäftsbetrieb zu erweitern, ohne zusätzliche Kosten tragen zu müssen«.29 Die Industriellen griffen die Rhetorik der militanten Bewe­ gungen auf und verbreiteten in den 1970er Jahren Appelle, sich, durch kleine verantwortungsbewusste Gesten, »zu engagieren« und »den Kampf fortzusetzen«. Abgesehen von solchen eher grobschlächtigen diskursiven Anleihen bestand ihr taktisches Geschick in der Einsicht, dass sie über die Umweltbewegun­ gen nicht triumphieren konnten, ohne Gegenpraktiken einzuflihren, die in der Lage waren, deren Praktiken zu verdrängen. Im Rahmen der Werbekampagne mit dem weinenden Indianer erschien eine Broschüre, die »71 Dinge, die Sie tun können, um die Umweltverschmutzung zu stoppen«, auflistete.30 Man be­ mühte sich, Formen gezähmten Engagements zu fördern, die dem wachsenden Bedürfnis, etwas zu tun, entgegenkamen, es aber in eine nichtantagonistische Richtung lenkten, die eher in Einklang als in Konflikt mit den Interessen der Industrie stand. Die psychologische Stärke solcher Taktiken besteht darin, dass sie einem etwas sagen, was man gerne hört, war aber auch wahr ist, sofern man es richtig versteht: Alles liegt in Ihren Hän­ den, Sie haben die Macht, »den Unterschied zu machen«. Sie bemühen sich, mächtige Bestrebungen zur Änderung der Din­ ge im Hier und Jetzt, einschließlich auf Ebene der Alltagspraxis, zu kanalisieren und auf harmlose Aktionsformen umzulenken. Die Förderung des Recyclings durch die Konzerne war eine sol­ che Taktik: Potentielle Widerstände zu umgehen, indem man die Leute in einem Zustand des unpolitischen Aktionismus ver­ harren lässt.31 Dieser eigentümliche ethische Neoliberalismus stellte dem vermeintlich wirkungslosen politischen Handeln eine Anhäu­ fung isolierter Mikro-Aktionen gegenüber. Was allerdings in flagrantem Widerspruch zu seiner eigenen Praxis stand: Um 261

Teil V

umweltbezogene Regulierungsvorhaben abzuwehren, griffen die Industriellen aktiv in die Politik ein. Sie waren weit davon entfernt, als Aggregat zu handeln, sie vereinten sich vielmehr zum Konglomerat, einem zu konzertiertem Handeln fähigen Kollektiv.32 In den entstehenden Umweltbewegungen der 1960er Jah­ re, aber auch in den Frauenbewegungen, hieß es: »Das Per­ sönliche ist politisch.« Es galt, den Herrschaftsbeziehungen bis in die Verästelungen des Alltags nachzuspüren; Revolution zu machen, bedeutete auch, mechanische Gewohnheiten und vermeindich private Verhaltensweisen in Frage zu stellen. Mit alten Lebensformen aufzuräumen, wurde als eine der wesent­ lichen Dimensionen revolutionärer Politik verstanden. An der Veränderung der eigenen Lebenspraxis zu arbeiten und für den Systemwandel zu kämpfen, Kompostpflege und politischen Ak­ tivismus zu betreiben, schlossen sich nicht aus. Der Responsibilisierungsdiskurs der Industrie trennte diese beiden Dimensionen und brachte sie in einen Gegensatz zu­ einander, indem er die Mikroreform des individuellen Verhal­ tens als Alternative zum politischen Engagement propagierte. Er beförderte den falschen Gegensatz von Mikro- und Makro­ transformation und stellte der fortan als abgehobener, blanker Utopismus geltenden Forderung nach einem »Systemwandel« die vermeintliche Selbstgenügsamkeit einer Reform individuel­ ler Praktiken gegenüber, denen zugetraut wurde, Veränderun­ gen in kleinen Schritten zu bewirken, ohne kollektives Handeln oder Konflikte. Wenn man genauer darüber nachdenkt, hat diese Geschich­ te etwas Paradoxes. Das Pfandsystem beruhte auf dem Appell an ein rein pekuniäres Interesse: Wenn ich mein Leergut ab­ gab, dann um mir, als echter homo oeconomicus, meine 50 Cent zurückzuholen. Das war ein interessengeleitetes Verfahren im vollen Einklang mit den anthropologischen Prämissen der klas­ sischen Ökonomie. Und genau diesen Antrieb versuchte man, 262

Kapitel 21 : Verantwortlich machen

durch einen anderen zu ersetzen, der seinerseits auf einer un­ eigennützigen Motivation basierte. Nunmehr sehe ich mich aufgerufen, aus reiner Sorge ums Gemeinwohl meinen Müll zu trennen, ohne dass für mich scheinbar der geringste egoistische Anreiz bestünde, derartiges zu tun. Zwischen den homo oeco­ nomicus und den homo politicuP schiebt sich eine dritte Ge­ stalt, der homo ethicus, das »verantwortliche« Subjekt, das sich im Rahmen seiner Möglichkeiten durch seine Mikrotugend den Makrosünden des Systems widersetzt. Nur dass diese neue ethische Führung die andere, ökonomi­ sche, nicht verdrängt, die sich denselben Akteuren gegenüber geltend macht. Sie schafft sie nicht ab, sondern überlagert sie. Dieselben Individuen, die als ethische Subjekte angesprochen werden, sind immer auch, und in verstärktem Maße, öko­ nomische Akteure. Sodass sich jeder in der Position befindet, die Spannung, die sich aus diesen widersprüchlichen Geboten ergibt, persönlich bewältigen zu müssen: ökonomisch effizient und zugleich umweltbewusst zu sein. Responsibilisierung ist auch der Name dieser Verlagerung des Widerspruchs in die individuelle Psyche, der einer neuen Art von unglücklichem Bewusstsein, verbunden mit einer Form dilemmatischer Regierung. In einer Welt, in der die ethische und die ökonomische Dimension des Tuns auseinandertreten, fuh­ ren die Menschen, wie der junge Marx schrieb, »ein doppeltes, ein himmlisches und ein irdisches Leben«.34 Sie sind hin- und hergerissen zwischen ihrer »irdischen« Existenz als Wirtschafts­ teilnehmer und ihrer »himmlischen« Existenz als ethische Sub­ jekte. »Aber wem soll ich nun mehr glauben, der Nationalöko­ nomie oder der Moral?«35 Schwer zu entscheiden, denn »[e]s ist dies im Wesen der Entfremdung gegründet, daß jede Sphä­ re einen andren und entgegengesetzten Maßstab an mich legt, einen andren die Moral, einen andren die Nationalökonomie, weil jede eine bestimmte Entfremdung des Menschen ist und jede einen besondren Kreis der entfremdeten Wesenstätig263

Teil V

keit fixiert, jede sich entfremdet zu der andren Entfremdung verhält«.36 Was die Moral Fehlverhalten nennt, ist nichts als der voll­ endetste Ausdruck dessen, was die Ökonomie als Wohlverhalten bezeichnet. Wirtschaftliches Wohlverhalten, das in der Praxis durch eine Vielzahl von Maßnahmen des Interessenabgleichs, der Konkurrenzdisziplin und der Blockade von Agenturbezie­ hungen reglementiert wird. Die ethische Führung möchte uns einreden, dass die mächtigen Mechanismen der Marktsteue­ rung durch die individuelle Responsibilisierung entpolitisierter Akteure überwunden werden können. »Welche kolossale Täu­ schung, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die Gesellschaft der Industrie, der allgemeinen Konkurrenz, der frei ihre Zwecke verfolgenden Privatinteressen [...] anerkennen und sanktionie­ ren zu müssen und zugleich die Lebensäußerungen dieser Gesell­ schaft hinterher an einzelnen Individuen annullieren [...] zu wollen!«37 Ökonomische Irresponsibilisierung und ethische Responsibi­ lisierung, konkreter Sittenverfall und abstrakte Aufrufe zu mo­ ralischem Verhalten gehören zusammen und bilden ein wider­ sprüchliches Ganzes. Dessen Verlogenheit anzuprangern, reicht nicht: Die in jeder Situation entscheidende Frage wäre vielmehr, wie man den Widerspruch zuspitzen, das moralische Dilemma in politische Konfliktbereitschaft übersetzen kann.

264

Teil VI Der unregierbare Staat

Kapitel 22: Regierbarkeitskrise der Demokratien »[Diese Philosophen] sind [...] der Ansicht, daß der Mensch von allen Thieren am schwersten zu regieren ist.«1 Walter Bagehot Der Gedanke war nicht neu. Schon seit Jahren, so wurde be­ richtet, »zirkulierte er auf mondänen Cocktailpartys«.2 Liebste Freundin, ich sage Ihnen, dieses Land ist unregierbar geworden. Doch Mitte der 1970er Jahre setzte sich eine Reihe neokonser­ vativer Intellektueller in den Kopf, diesen reaktionären Gemein­ platz zu theoretischen Weihen zu verhelfen. 1975 veröffentlichte die Trilaterale Kommission einen Text, der für Aufregung sorgte, Die Krise der Demokratie. Bericht über die Regierbarkeit der Demokratien.3 Samuel Huntington, der heute vor allem wegen seines Kampfes der Kulturen im Gedächt­ nis geblieben ist, war einer der Verfasser. In der Vergangenheit, rekapitulierte er, habe es in jeder De­ mokratie »marginalisierte Bevölkerungsgruppen mehr oder minder großen Umfangs gegeben, die nicht aktiv an der Po­ litik teilnahmen«.4 Die griechische Demokratie beruhte auf dem Ausschluss von Sklaven, Fremden und Frauen, die Zen­ susdemokratie auf dem Ausschluss der Armen, die segregationistische Demokratie auf dem Ausschluss der Schwarzen, die patriarchale Demokratie auf dem Ausschluss der Frauen. Solche Ausgrenzungen waren vielleicht »von Natur aus antidemokra­ tisch«, sie sorgten gleichwohl dafür, »dass die Demokratie effi­ zient funktionierte«.5 267

Teil VI

Doch mittlerweile hätten sich »randständige Gesellschafts­ gruppen«, die zuvor »passiv oder unorganisiert« waren Schwarze, Indianer, Chicanos, Frauen ... - , in den Kopf ge­ setzt, vollwertige politische Subjekte zu sein.6 »In der Familie, an der Universität, in den Unternehmen [...] lockerte sich die Disziplin und Statusunterschiede verwischten sich. Jede Gruppe forderte ihr Recht ein, gleichberechtigt - und manchmal mehr als gleichberechtigt - an den sie betreffenden Entscheidungen teilzunehmen.«7 Anstatt froh zu sein über diesen »Aufschwung der Demokra­ tie«, machte sich Huntington Sorgen über die damit einher­ gehenden »Probleme für die Regierbarkeit der Demokratie in den 1970er Jahren«.8 Es bestehe »die Gefahr, das politische Sys­ tem mit Forderungen zu überfrachten, die seine Funktionen er­ weitern und seine Autorität untergraben«.9 »Die Krise der de­ mokratischen Regierung wird«, diesem reaktionären Denken zufolge, wie Jacques Rancière gezeigt hat, »einzig und allein von der Intensität des demokratischen Lebens hervorgerufen.«10Kurz gesagt, zu viel Demokratie macht der Demokratie den Garaus. Huntington aktualisierte ein klassisches Thema, das die po­ litische Philosophie im Grunde schon seit den Griechen immer wieder beschäftigte: Demokratie ist nichts anderes als das Re­ gime des permanenten Exzesses. Allerdings ging es ihm weni­ ger darum, eine Kritik an der Demokratie im Allgemeinen zu formulieren, der Demokratie als per se »unregierbarer« Regie­ rungsform, sondern, ausgehend von einer Beschreibung der La­ ge, Strategien der Krisenüberwindung zu entwickeln." Wie die grammatische Form erkennen lässt, heißt von einem Problem der »Regierbarkeit der Demokratie« zu sprechen nicht, das Regime nach seiner Fähigkeit zu befragen, seine Unterta­ nen zu regieren, als selbst regiert zu werden. Der Staat war von der Krise, in der er steckte, keineswegs gelähmt, vielmehr zeigte er Anzeichen von Hyperaktivität. Als Antwort auf die Heraus­ forderung intervenierte, regulierte und investierte er im großen 268

Kapitel 22: Regierbarkeitskrise der Demokratien

Stil. Die Regierbarkeitskrise der Demokratie äußerte sich nicht in einem Rückzug, sondern einer Expansion der Regierungs­ tätigkeit. Was, laut dieser Analyse, im Begriff stand, unregierbar zu werden, war das Regierungsphänomen als solches. Früher wandte sich der Mensch an Gott, »heutzutage«, er­ klärte Anthony King 1975, »wendet er sich an den Staat«.12Einen gottgleichen Staat, von dem er alles erwartet. Die seit der Nach­ kriegszeit befolgten keynesianischen Konzepte hätten »mehr Probleme geschaffen als gelöst«, vor allem weil sie die Men­ schen dazu ermutigten, sich eine übertriebene Vorstellung von ihren Rechten zu machen und der Gleichheit zu viel Bedeu­ tung beizumessen.13 In diesem Kontext hätten es »organisier­ te Minderheiten« leicht, das Feuer zu schüren. Keynesianischer Staat und soziale Bewegungen, das waren, für die konservati­ ven Intellektuellen, die »beiden endemischen Gefahren, die der liberalen Repräsentativdemokratie drohen«.14 Ihre kombinier­ ten Wirkungen würden eine »Inflation sozialer Erwartungen«, eine »Forderungsspirale« in Gang setzen, die einen unwidersteh­ lichen Druck auf die politische Macht ausübe.15Paradoxerweise wurden die sozialen Unruhen, die manche auf der Linken als Ausdruck einer Weigerung, sich regieren zu lassen, wahrnah­ men, gleichzeitig auf der Gegenseite, von der Rechten, als ausuferndes Verlangen nach staatlicher Intervention interpretiert. Der Wohlfahrtsstaat könne noch so viele Zugeständnisse ma­ chen, das würde die Begehrlichkeiten nicht zügeln. Vielmehr deute alles daraufhin, dass jede neue Großzügigkeit den Hun­ ger des unersättlichen demos nur noch mehr anstachelt. Das »Erzeugen übertriebener Erwartungen«,16 schrieb Samuel Brit­ tan von der Financial Times, sei eine der Repräsentativdemo­ kratie immanente Gefahr. Doch angesichts der »Differenz zwi­ schen Anspruchsvolumen und Steuerungskapazität« müssten diese Erwartungen unweigerlich enttäuscht werden.17 Es ent­ stehe ein Teufelskreis: Der Staat, der dem Schwund seiner Au­ torität durch Ausweitung seiner Tätigkeit entgegenwirken will, 269

Teil VI

nährt dadurch Erwartungen, die, wenn sie frustriert werden, zu einem neuerlichen Legitimitätsverlust fuhren, den er durch die gleichen Mittel zu beheben versucht, und so einen end­ losen Kreislauf in Gang setzt, bei dem im gleichen Maße, wie die Regierungstätigkeit sich ausdehnt, die staatliche Autorität dahinschwindet. Das Problem sei, so hieß es, die zu große Empfänglichkeit der Regierenden für die Forderungen von »pressure groups«. Doch warum zeigen sich die politischen Führer ihnen gegenüber so aufgeschlossen? Nach Meinung mancher liegt dies am Funk­ tionsmechanismus der Repräsentativdemokratien selbst. Im Anschluss an Schumpeter, der in den 1940er Jahren die Demokratie als »Konkurrenzkampf um die Stimmen des Vol­ kes«'8 beschrieb, und Anthony Downs, der in den 1950er Jahren eine »ökonomische Demokratietheorie«19 entwarf, machte sich in den 1970er Jahren eine neue Strömung, die Public-ChoiceSchule, daran, das Marktparadigma auf das politische Feld zu übertragen. Es galt, »auf den Staat und alle volkswirtschaftlichen Mechanismen die gleichen Techniken anzuwenden, die seit vier­ zig Jahren dazu dienen, die Fehler und Mängel der Marktwirt­ schaft zu erfassen«.“ Hatten die »Konstitutionalisten« einst das Unternehmen als Privatregierung verstanden, analysierten nun die Public-Choice-Theoretiker die Wahldemokratie im umge­ kehrten Sinne als eine Art politischen Markt. So betrachtet erschien der Wahlkandidat als ein politischer Unternehmer, der Versprechungen gegen Stimmen tauscht, und das auf einem Markt, auf dem mehrere Parteien »in regelmäßig stattfindenden Wahlen um die Kontrolle des Regierungsappa­ rates konkurrieren«.11 Und selbstverständlich »ist die einfachs­ te Art, Stimmen einzufahren, die, den Wählern zu geben, was sie wollen - oder wenigstens diesen Anschein zu erwecken. Ein Politiker, der die Ansichten seiner Wähler ignoriert, ist ebenso selten wie ein Händler, der am Nordpol Bikinis verkauft.«“ In Anbetracht der Tatsache, dass Politiker »leicht zusätzliche Stim270

Kapitel 22: Regierbarkeitskrise der Demokratien

men gewinnen können, wenn sie sich für neue Ausgabenpro­ gramme einsetzen, statt die Kürzung öffentlicher Ausgaben zu befürworten«,23 ist vorhersehbar, dass »in den westlichen De­ mokratien politische Koalitionen, die für eine Erhöhung der Staatsausgaben plädieren, stets [...] viel effizienter sein werden als Koalitionen von Steuerzahlern, die versucht sein könnten, sich dieser Ausgabensteigerung zu widersetzen«.14 Sind solche Programme einmal beschlossen, tritt ein »Sperrklinken-Effekt« ein, das heißt, keine Regierung kann zum alten Zustand zu­ rückkehren, ohne Stimmenverluste zu riskieren. Nach den Erklärungen der »Public Choice«-Theoretiker war die in ihren Augen weiter zunehmende Aufblähung des Wohl­ fahrtsstaates kein Zufallsphänomen, sondern Ausdruck dessen, wie der Wählermarkt üblicherweise funktioniert. Das Problem läge also nicht in der psychischen Schwäche von Regierenden, die zu leicht beeinflussbar wären, sondern an der grundlegen­ den Rationalität des homo gubernatorius unter demokratischen Bedingungen.25 Ironischerweise prophezeite diese Theorie also die wahrscheinliche Niederlage ihres eigenen politischen und sozialen Lagers, ohne, zumindest fürs Erste, den geringsten Aus­ weg anzubieten. Die Politiker müssten, hieß es von ihrer Seite, »die Bürger dazu erziehen, weniger Regierung zu wollen«,26 doch die Angesprochenen taten nichts dergleichen: Unter dem Zwang sich gegenseitig überbietender Wahlversprechen zogen sie es vor, im­ mer mehr Sozialstaat in Aussicht zu stellen, anstatt unpopulä­ re Sichtweisen zu vertreten. Doch manche Theoretiker sahen eine Lösung aufscheinen. Würde diese Demagogie nicht da­ durch ausgeglichen, dass die politischen Formationen, sobald sie einmal gewählt wären, die geweckten Erwartungen zwangs­ läufig enttäuschen müssten? Infolgedessen werde »das System als Ganzes einfach von einer unpopulären Regierung zur nächs­ ten wechseln«.27 Das war die Theorie des politischen Wechsels: Eine Pendelbewegung zwischen zwei sich ähnelnden Großpar271

Teil VI

teien. Es könne sein, mutmaßte Rose, dass die Rettung gerade aus diesen wiederholten Enttäuschungen resultiere: »Das suk­ zessive Scheitern verschiedener Parteien, die Wähler zufrieden­ zustellen, kann auf Letztere eine erzieherische Wirkung haben, indem es sie dazu veranlasst, weniger von Regierungen zu er­ warten, die sie so oft haben scheitern sehen.«18 Der Wechsel, als Folge wiederholter Frusterfahrungen, werde die desillusionierte Wählerschaft zu einem gesunden politischen Realismus bekehren. Ja, nur sei es auch möglich, wandte James Douglas ein, dass »das Zweiparteiensystem insgesamt bei jedem Ausschlag des Pendels weiter an Legitimität verliert«.19Wie tief kann man sin­ ken? Wie viele Wechsel, bis der Grund erreicht ist? Und was passiert nach dem Ende dieser angekündigten Talfahrt? Man­ che gingen von einer zunehmenden Entfremdung aus, die sich in massiver Wahlenthaltung niederschlage. Andere vermuteten, dass es dabei nicht bleiben werde. »Die solchermaßen akkumu­ lierten Enttäuschungen«, schlussfolgerte Claus Offe 1979, »kön­ nen ihre Sprengkraft in einer von zwei Richtungen entfalten: Entweder fuhren sie zu einer Polarisierung innerhalb des Partei­ ensystems« mit einem Anstieg der Extreme an beiden Seiten des politischen Spektrums oder aber zu einer »Polarisierung zwi­ schen Parteiensystem und nicht-parlamentarisch operierenden sozialen Bewegungen«30 —miteinander kombinierbare Optio­ nen, die auf jeden Fall zu heftigen politischen Verwerfungen fuhren würden. Ein solcher Zyklus, so die Vorstellung, könnte »in einer ähn­ lichen Konfrontation kulminieren wie die Ereignisse im Pa­ riser Mai 1968 - die zwar das Regime nicht gestürzt, aber die Grenzen seiner Macht aufgezeigt haben - oder in einen Staats­ streich münden wie den, der zehn Jahre zuvor in Frankreich stattgefunden hat«.31 Kurzum, am Ende würden nur noch zwei Möglichkeiten bleiben: aufstandsähnliche Situation und/oder Bonapartismus. Denn, seien wir unbesorgt, das sogenannte »po272

Kapitel 22: Regierbarkeitskrise der Demokratien

sitive« Szenario »sieht vor, dass die Einzelnen sich der Regie­ rung zuwenden, um sie vor dem Chaos zu schützen«. Das wäre dann die Option für eine »starke Regierung«, die den Gefahren trotzt.32 Wie dem auch sei, wenn es zutrifft, dass das Problem ein strukturelles, der »Binnendynamik der Demokratie«33 imma­ nentes ist, dann ist klar: Man wird sich nicht mit oberfläch­ lichen Gegenmaßnahmen begnügen können, sondern auf die eine oder andere Weise mit dem befassen müssen, was man als die Wurzel des Übels ausgemacht hat. »Die liberale Demokratie«, erkannte Brittan seinerzeit, »lei­ det an inneren Widersprüchen«.34Die Rechtsintellektuellen, die sich in diesen Jahren für eine »Renaissance konservativer Kri­ sentheorien« engagierten, eigneten sich ein Vokabular an, das bis dahin der Marxismus für sich gepachtet zu haben schien. Manche auf der Linken interpretierten diese »Versuche, neo­ marxistische Ideen für konservative Zwecke zu benutzen«, als einen Ausdruck von Theoriearmut, als »ideologischen Bank­ rott« des gegnerischen Lagers.35 Claus Offe war diesbezüglich weniger optimistisch. Die Rede von der Strukturkrise befand sich nach seiner Meinung auf dem besten Wege, die Seite zu wechseln. Ende der 1960er Jahre war die Linke der festen Über­ zeugung, dass es »so nicht mehr weitergehen kann«. Ein Jahr­ zehnt später hatten ihre Gegner den Kampfgeist geerbt, den die­ ses Gefühl vermittelte.36Eine Krisentheorie zu erarbeiten, stellte für sie die notwendige Voraussetzung für die systematische For­ mulierung eines Aktionsprogramms dar. »Ein Kamel ist ein Tier, das schwere Lasten tragen kann. Aber ab einem bestimmten Punkt braucht man nur einen Strohhalm hinzufügen und das Kamel bricht sich das Kreuz.«37 Der Po­ litologe Richard Rose griff zu diesem Bild, um den Begriff der »Nachfrageüberlastung« zu veranschaulichen: In der Rolle des Kamels, der Staat; in der der Strohhalme oder Heuballen, die sozialen Forderungen.38 273

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Die Beschwerden, die von allen Seiten auf den Staat einpras­ selten, seien der Anlass für Mehrausgaben, die eine Haushalts­ überlastung und in der Folge eine Krise der Staatsfinanzen ver­ ursachten, analysierte Daniel Bell 1974.39 Der neokonservative Intellektuelle übernahm diese These von einem jungen mar­ xistischen Ökonomen, James O ’Connor, der gerade ein um­ fangreiches Buch über Die Finanzkrise des Staates veröffentlicht hatte.40 Der Grundgedanke zu diesem Werk war diesem, wie er spä­ ter bekannte, gekommen, als er eines Morgens beim Aufschla­ gen der Tageszeitung bemerkte, dass alle auf der Titelseite wie­ dergegebenen Informationen ungeachtet ihrer Heterogenität im Grunde derselben Logik entsprangen: »Ein Kampf um So­ zialhilfe, ein Lehrerstreik, eine neue staatliche Unternehmens­ subvention, ein Steuerkonflikt. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass der Klassenkampf sich (teilweise) auf den Staat und seinen Haushalt verlagert hatte.«41 Wer trägt zum Steuer­ aufkommen bei? In welcher Höhe? Wem kommen die öffent­ lichen Ausgaben zugute? Da diese Fragen divergierende Sozial­ interessen ins Spiel bringen, setzt sich der Klassenkampf als Steuerkampf fort. »Das neue Terrain des Klassenkampfes«, bestätigte Bell, »ist der Steuerkonflikt.«42 Zwar machten sich die Neokonservativen O ’Connors Zentralthese zu eigen, blendeten dabei jedoch wei­ te Teile seiner Argumentation aus und beschränkten sich auf eine vereinfachende, eindimensionale Erklärung der Haushalts­ krise. Einig war man sich lediglich darin, dass eine Krise der öf­ fentlichen Finanzen existierte, die Begründungen gingen jedoch auseinander. Während die Neokonservativen vor allem auf die Defekte der Wohlfahrtsdemokratie abhoben, war die Analyse der Neomarxisten komplexer. Das Problem bestand ihrer Auffassung nach darin, dass der kapitalistische Staat zwei »grundlegende und oft widersprüch­ liche« Aufgaben zu erfüllen habe, eine Akkumulationsfunk274

Kapitel 22: Regierbarkeitskrise der Demokratien

tion - »den Privatindustriellen dabei zu helfen, mehr Kapital zu akkumulieren« - und eine Legitimationsfunktion - »die Loyali­ tät der Massen gegenüber dem System zu sichern«.43 Staatliche Intervention sei keineswegs immer ein Hemmnis für die private Wirtschaftstätigkeit, sie spiele vielmehr, wie sie der wirtschaftsliberalen Doxa entgegenhielten, eine wichtige wachstumsfördernde Rolle. Durch »soziale Investitionen« - in Infrastruktureinrichtungen, Transport- und Kommunikations­ netze, aber auch Gesundheit, Forschung und Bildung - schaffe der Staat einen Großteil der Voraussetzungen für die Kapital­ akkumulation. Nur dass eine derart geförderte und begünstigte Privatakkumulation Sozial- und Umweltkosten verursache, die zu Gegenbewegungen und sozialen Konflikten fuhren, die im Gegenzug neuerliche Interventionen eines Staates erforderlich machen, der, um seine Legitimität und die Zustimmung zur herrschenden Wirtschaftsordnung zu sichern, den »zahlreichen Forderungen derer nachkommen [muss], die unter den >Kosten< des wirtschaftlichen Wachstums leiden«.44 Im Gegensatz zur verkürzten Sicht der Neokonservativen ist der strukturelle Ausgabendruck ein doppelter, gemäß einem dialektischen Mo­ dell, bei dem die Konsolidierung des ersten Pols im Gegeneffekt die des zweiten hervorruft. Dieser strukturelle Widerspruch ist zwar stets vorhanden, spitzt sich in Zeiten wirtschaftlicher Rezession jedoch zu. Der Staat muss dann nämlich seine beiden Grundfunktionen weiter­ hin wahrnehmen, kann aber aufgrund schwindender Steuermit­ tel seine Legitimationsaufgaben nicht mehr finanzieren, ohne gleichzeitig seine Akkumulationsaufgaben zu beschneiden und umgekehrt. Wenn er sich dann auch noch dafür entscheidet, die Besteuerung von Kapital, Vermögen und Spitzeneinkom­ men im Sinne einer Angebotspolitik zu reduzieren, kann seine Haushaltssituation schnell unhaltbar werden. Doch diese »Krise des Krisenmanagements« resultiert noch aus einem grundsätzlicheren Widerspruch. Das Problem staat275

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licher Politik ist, »dass sie die dysfunktionalen sozialen Folgen privater Produktion organisieren [muss], ohne den Primat pri­ vater Produktion antasten zu können«.45 Der Staat muss den Kapitalismus ständig vor seinen selbstzerstörerischen Neigun­ gen bewahren, ohne jemals an die grundlegenden Wirtschafts­ beziehungen zu rühren, die fur diese verantwortlich sind. So­ bald er es wagt, soziale Regulierungsmaßnahmen zu ergreifen, so unverzichtbar diese gemäß einer Logik des wohlverstande­ nen Eigeninteresses sind, werden sie vom Kapital als unerträg­ liche Einschränkungen seiner Wirtschaftsfreiheit empfunden. Das ist das Dilemma: Der Staat muss gleichzeitig im Vorfeld die Akkumulationsbedingungen garantieren, und im Nach­ hinein eingreifen, um die Hegemonie aufrechtzuerhalten, die die Akkumulation gefährdet. Er kann seine Legitimations­ funktion nicht wirksam erfüllen, ohne auf den unmittelbaren Widerstand des Kapitals zu stoßen. In diesem Sinne, schluss­ folgert Offe, sind die kapitalistischen Gesellschaften »allemal >unregierbarKrise der Regierbarkeit< auf der Ebene der Gesellschaften wie auf der der Un277

Teii VI

ternehmen machte die Hinfälligkeit eines Modells sichtbar.«*0 Man war an eine Grenzsituation gelangt, bei der der Sozialstaat »seine Steuerungsmacht und Schiedsrichterrolle nur [hätte] be­ halten können, wenn er das freie Spiel des Marktes noch mehr als bisher eingeschränkt hätte [...]. Das aber hätte die offene Auseinandersetzung mit der Bourgeoisie bedeutet.«*1 Huntington wiederum zog zwei große Szenarien in Betracht, ein »optimistisches«, bei dem »die Offenheit und der Pluralis­ mus der Demokratie erlauben würden, sich wechselnden Um­ ständen anzupassen und so die langfristige Stabilität des Sys­ tems zu gewährleisten«, und ein »pessimistisches«, bei dem die sich vertiefende Krise der Regierbarkeit »zur Überlastung des Systems und, früher oder später, zu Polarisierung und Zusam­ menbruch« führen würde.sl In den Seventies gab sich der Rechtsintellektuelle gerne me­ lancholisch.55Die Krise ist schlimm. Der Kapitalismus rennt ins Verderben. Daher der apokalyptische Ton, der in dieser Litera­ tur oft angeschlagen wird: »Die liberale Repräsentativdemokra­ tie leidet unter inneren Widersprüchen, die sich mit der Zeit zu verschärfen drohen [...]. Geht man von den aktuellen Anzei­ chen aus«, prophezeite Brittan, »kann es sein, dass heutige Er­ wachsene das Ende des Systems noch miterleben.«54 »Der Pessimismus der Trilateralen Kommission«, kommen­ tierte man auf der Linken, »sollte alle anderen mit Optimis­ mus erfüllen. Wenn die Mächtigen glauben, dass sie die Macht verlieren, dann nur, weil alle anderen welche hinzugewinnen. Wenn ihre Welt zusammenbricht, dann weil unsere sich im Aufbau befindet. Ihre Ängste sind in Wirklichkeit nur das Spie­ gelbild unserer Chancen.«55 Doch das, was auf Seiten der Konservativen eher demons­ trative Panikmache als echter Defätismus war, bezeichnete vielmehr den Ansatz einer beginnenden Rückeroberung. Da­ vor zu warnen, dass ein gefährlicher Trend zum Ruin führen kann, beinhaltete noch keinen Glauben an die historische Un278

Kapitel 22: Regierbarkeitskrise der Demokratien

ausweichlichkeit oder die Vergeblichkeit politischen Handelns. Vielmehr wurde im Sinne einer bedingten Unvermeidlichkeit ar­ gumentiert: Wenn wir nichts tun, erwartet uns dieses oder jenes Schicksal, aber noch können wir handeln, um es abzuwenden. Eines ist sicher, schrieb Huntington, man könne »auf keine unsichtbare Hand< mehr zählen, um die Lebensfähigkeit de­ mokratischer Politik zu gewährleisten«. Kurzum, »anders als bei der Annahme einer automatischen Selbstkorrektur«56 müsse man intervenieren. Wenn eine solche Reaktion ausbliebe, könn­ ten die bereits erkannten Probleme »sich häufen und am Ende mit ziemlicher Sicherheit das politische System zerstören«.57 Die Zeit sei vorbei, ergänzte Dahrendorf, die durchgebrann­ ten Sicherungen einzeln zu ersetzen, nein, was wir wirklich bräuchten, sei »ein neues Sicherungssystem«.58 Nötig sind, wie wiederum Fritz Scharpf verkündete, »keine punktuellen Repara­ turen oder Verbesserungen an speziellen Elementen des wohl­ fahrtsstaatlichen Mechanismus, sondern eine Neuordnung der Macht«. Ein in der Größenordnung »mit dem Übergang vom Laisser-faire-Kapitalismus zum Wohlfahrtsstaat vor einem hal­ ben Jahrhundert«59 vergleichbarer Wandel. Nur in die umge­ kehrte Richtung: ein großer Sprung zurück.60

279

Kapitel 23: Hayek in Chile »Obwohl Kapitalismus und Demokratie historisch gemeinsam entstanden sind und beide gemeinhin durch den philosophischen Liberalismus gerechtfertigt wurden, läßt sich nichts angeben, das theoretisch wie praktisch zwingend dafür spricht, daß beide aneinander gebunden sein müssen.«1 Daniel Bell »Die existentielle Bedrohung des Großunternehmens [...] re­ sultiert aus einem Grundkonflikt zwischen unserer Form po­ litischer Demokratie und dem Marktsystem. Wir sind der Überzeugung, dass diese beiden Systeme in letzter Instanz un­ vereinbar sind.«2 Man sollte ernst nehmen, was Jensen und Meckling hier 1978 behaupteten. Für die radikale Linke konnte es keine wirkliche Demokratie ohne Austritt aus dem Kapitalis­ mus geben. Umgekehrt wurden auf der Rechten viele Stimmen laut, die immer offener verkündeten, es gebe keine Rettung für den Kapitalismus, wenn er sich nicht auf die eine oder andere Weise der »Demokratie« entledige. Manche behaupten, schrieb Huntington, »das einzige Heil­ mittel für die Übel der Demokratie sei mehr Demokratie«, doch unter den gegenwärtigen Umständen würde das bedeuten, »öl ins Feuer zu gießen«. In Anbetracht dessen, dass das politische System, um wirksam zu funktionieren, »ein gewisses Maß an Apathie und Nichtengagement«3 von Seiten der Regierten er­ fordert, sei das, was wirklich benötigt werde, »ein höherer Grad an demokratischer Mäßigung«.4 280

Kapitel 23: Hayek in Chile

Demokratie sei also in Maßen zu genießen. Doch wie soll­ te in einer Zeit starker Politisierung eine solche Zurückhal­ tung durchsetzbar sein? Da der förmliche Ausschluss eines Teils der Bevölkerung keine realistische Option mehr war, mussten Schwarze, Frauen und andere Minderheiten eben mehr »Selbst­ beschränkung« üben. Lernen, sich zu benehmen.5 Allerdings vermutete man stark, dass man sich darauf nicht allzu sehr verlassen konnte. »Die in einer postindustriellen Ge­ sellschaft auftretenden Spannungen werden wahrscheinlich«, warnte Huntington, »ein autoritäreres und effizienteres Modell staatlicher Entscheidungsfindung erfordern.« Und fugte frostig hinzu: »Es steht zu vermuten, dass die postindustrielle Politik die dunkelste Seite der postindustriellen Gesellschaft verkörpert.«6 Wie ein zeitgenössischer Kritiker notierte: »Der ungewohnt direkte Ton des Berichts über die Regierbarkeit der Demokra­ tien verstieß gegen ein Tabu der amerikanischen Gesellschaft: Wie groß dein Hass auf die Demokratie auch ist, lasse dich nie zu öffentlichen Ausfällen gegen sie hinreißen. Aus diesem Grund löste der Bericht auch eine echte Kontroverse innerhalb der Trilateralen Kommission selbst aus.« Jedenfalls »diskutieren westliche Intellektuelle inzwischen allen Ernstes über Hypothe­ sen, die noch vor kurzem einigen verrückten Außenseitern Vor­ behalten waren«.7 Im Laufe der Diskussion, die Huntingtons Referat auf der Versammlung der Trilaterale in Kyoto im Mai 1975 folgte, kriti­ sierte Dahrendorf behutsam dessen Problematik: Legte er nicht nahe, dass die Wiederherstellung staatlicher Autorität einen nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch starken Staat voraussetze? Einen interventionistischen, wenn nicht dirigisti­ schen Staat? Sollte man nicht besser daran erinnern, dass »eines der Kennzeichen von Demokratie ist, dass sie Einzelnen und Gruppen ermöglicht, in dem zu agieren, was man als Markt­ umfeld bezeichnen könnte, statt in einem Umfeld, das weit­ gehend von Direktiven des Staates oder politischer Institutio281

Teil VI

nen bestimmt wird«?8 Gegenstand der Debatte war die Art der von Huntington heraufbeschworenen autoritären Wende: Soll­ te sie auf wirtschaftlicher Ebene liberal sein oder nicht? In einem anderen Text verdeutlichte Dahrendorf den Kern des Problems: »Wenn das Wirtschaftswachstum - die unerläss­ liche Voraussetzung dafür, dass die Regierungen die von ihnen selbst geweckten Erwartungen erfüllen können - ins Stocken gerät, stecken die demokratischen Regierungen in ernsthaften Schwierigkeiten. Angenommen, wir befinden uns am Anfang eines Kondratieff-Zyklus - das heißt ein Vierteljahrhundert schwachen Wachstums oder sogar wirtschaftlichen Nieder­ gangs - , dann hat die demokratische Politik keine Mittel mehr, um damit fertigzuwerden. Nur wenn wir autoritäre Elemen­ te einfiihren, können wir, so zumindest lautet Huntingtons Schlussfolgerung, diese lange Dürreperiode überstehen.«9Denn schließlich kann, wie Richard Rose einigermaßen zynisch an­ merkte, »ein Regime, das die Zustimmung des Volkes verloren, aber seine Funktionsfähigkeit bewahrt hat, seine Politik immer noch mit der Androhung von Gewalt durchsetzen«.10 In gewissem Sinne waren wir von Anfang an vorgewarnt. Ich will damit sagen, dass schon die Geschichte des Wortes »Unregierbarkeit« selbst uns hätte hellhörig machen können. Be­ vor es in die politische Theorie einwanderte, gehörte das Wort zu einem polizeilichen Vokabular und bezeichnete im Kontext der »Jugendintervention« ein »nichtkriminelles Fehlverhalten«. Einen Jugendlichen als »unbeherrschbar« (ingouvernable) zu be­ zeichnen, gab den Behörden das Recht, ihn einfach aufgrund wiederholten FehlVerhaltens, ohne dass eine Straftat vorlag, Zwangs- oder Besserungsmaßnahmen zu unterziehen.11Wenn die herrschenden Klassen sich über die Unregierbarkeit ihrer Untertanen beschweren, und dafür eine Kategorie, die ansons­ ten dazu dient, die polizeiliche Beaufsichtigung unbotmäßiger Rotznasen zu rechtfertigen, ins Politische überträgt, muss man damit rechnen, dass sie zu ähnlichen Verfahren greift. 282

Kapitel 23: Hayek in Chile

Ende der 1970er Jahre warnte Nicos Poulantzas vor dem Auf­ kommen eines »autoritären Etatismus«, bei dem »ein gesteiger­ tes Eingreifen des Staates in sämtliche Bereiche des sozioökonomischen Lebens [...] mit dem einschneidenden Verfall der Institutionen der politischen Demokratie sowie drakonischen und vielfältigen Einschränkungen der sogenannten >formalen< Freiheiten einhergeht«.12 Diese Hypothese entsprach tatsäch­ lich dem, was die Neokonservativen seinerzeit im Sinn hatten: Ein starker Staat, der die autoritäre Gleichschaltung des politi­ schen Lebens mit einem technokratischen Dirigismus der Wirt­ schaft und einer neokorporatistischen Subsumtion des Sozialen kombiniert. Was jedoch weder Poulantzas noch Huntington deutlich hat­ ten kommen sehen, war die neoliberale Wende - die jedoch lan­ ge Zeit, wie man zu ihrer Entlastung sagen muss, nur als eine strategische Option unter vielen erschien, zudem in einer pro­ grammatischen Außenseiterposition. Aus dem laufenden Umstrukturierungsprozess sollten tat­ sächlich autoritäre Politikformen hervorgehen, allerdings waren sie vom sozioökonomischen Etatismus entkoppelt, dessen Ge­ genstück sie nach Poulantzas’ Auffassung hätten bilden sollen: Ein politisch autoritärer, aber ökonomisch liberaler Staat, der im Hinblick auf die Ordnung der sozialen Beziehungen die al­ ten Schemata korporatistischer Unterwerfung gegen selbständi­ gere Formen des privaten Managements eintauschte. Zum Ver­ ständnis der seltsamen strategischen Synthese, die sich somit abzeichnete - die eines autoritären Neoliberalismus mit vielen Facetten - , empfiehlt es sich, andere Autoren zu lesen. Einer Einladung von 1980 folgend, sich den Kapitalismus im Jahr 2000 vorzustellen, entwarf der Ökonom Paul Samuelson ein beunruhigendes Szenario. Wenn man in der Gegenwart ein mögliches Bild der Zukunft erkennen wolle, dürfe man sich nicht Skandinavien und seinem sozialdemokratischen Modell zuwenden, auch nicht dem alten Europa und seiner gemisch283

Teil VI

ten Ökonomie oder Jugoslawien und seinen Selbstverwaltungs­ experimenten, sondern bestimmten Ländern Lateinamerikas. Dort seien allerdings weniger glücksverheißende Perspektiven zu erahnen. Und er entwarf eine düstere »Parabel« im Sinne einer exem­ plarischen Erzählung: »Generäle und Admiräle ergreifen die Macht. Sie liquidieren ihre linken Vorgänger, treiben die Op­ position ins Exil, sperren dissidente Intellektuelle ins Gefäng­ nis, verbieten die Gewerkschaften, kontrollieren die Presse und unterbinden jede politische Betätigung. Doch in dieser Vari­ ante des Marktfaschismus halten sich die militärischen Führer aus der Wirtschaft heraus. Sie planen nicht und nehmen keine Schmiergelder. Sie übergeben die ganze Wirtschaft an religiöse Fanatiker - Fanatiker, deren Religion das Laisser-faire des Mark­ tes ist [...]. Nun dreht die Uhr der Geschichte sich rückwärts. Der Markt ist befreit und die Geldmenge wird streng kontrol­ liert. Da Sozialleistungen gestrichen wurden, müssen die Ar­ beiter schuften oder verhungern. [...] Die Inflation sinkt oder ist auf null reduziert. [...] Da die politische Freiheit suspen­ diert ist, nehmen die Einkommens-, Konsum- und Vermögens­ ungleichheiten tendenziell zu.«13 Dieses ganz und gar realisti­ sche, in Chile und Argentinien realisierte Szenario entsprach dem Aufkommen eines bestimmten Typs von politisch-öko­ nomischem Regime, den Samuelson unverblümt als »faschisti­ schen Kapitalismus« bezeichnete,14 ein entfesselter, mit brutaler Gewalt durchgesetzter und aufrechterhaltener Kapitalismus. »Wenn die >Chicago Boys< und die chilenischen Admiräle nicht existiert hätten«, bemerkte er, »hätten wir sie als archetypische Fälle erfinden müssen.«'5 Am 2. November 1973, kaum zwei Monate nach Pinochets Staatsstreich, geriet ein gut informierter Leitartikler des Wall Street Journal bereits in Verzückung: »Eine Anzahl chilenischer Ökonomen, die in Chicago studiert haben und in Santiago un­ ter dem Namen >Chicago School· bekannt sind, steht zum Los284

Kapitel 23: Hayek in Chile

legen bereit. Es wird ein Experiment sein, das wir aus akademi­ scher Sicht mit großem Interesse verfolgen.«'6 Aus eher pragmatischer Sicht erstellte Amnesty Internatio­ nal einige Monate später eine vorläufige Bilanz des fraglichen Experiments: »Folter ist gängige Praxis bei Verhören politi­ scher Gefangener [...]. Zehntausende von Arbeitern [...] ha­ ben aus politischen Gründen ihren Arbeitsplatz verloren und viele von ihnen sind höchstwahrscheinlich zum Hungern ver­ urteilt.«'7 Ein weiterer Bericht, drei Jahre später: »Die Men­ schenrechtsverletzungen dauern unvermindert an: willkürliche Verhaftungen, Exekutionen, systematischer Einsatz von Folter und >Verschwindenlassen< politischer Häftlinge [...]. Seit dem i i . September 1973 wurden ungefähr 100000 Personen verhaf­ tet und eingesperrt, mehr als 5000 exekutiert und zehntausende mussten aus politischen Gründen ins Exil gehen.«18 Das hinderte indes die Granden des westlichen Neoliberalis­ mus nicht daran, sich vollzählig und in Kenntnis der Sachlage nach Chile zu begeben, um dem Diktator zu gratulieren.19Als Friedman im März 1975 mit Pinochet zusammentraf, sprach er mit ihm, die Sache ist ja bekannt, über Wirtschaftspolitik und »Schocktherapie«.20 Als Hayek seinerseits im November 1977 empfangen wurde, unterhielt er den Diktator mit einem ande­ ren Thema, der heiklen Frage von »Repräsentativregierung und beschränkter Demokratie«. »Der Staatschef«, berichtete die chi­ lenische Presse, »hörte ihm aufmerksam zu und bat ihn, ihm seine diesbezüglichen Schriften zukommen zu lassen.«2' Zurück in Europa, schickte ihm Hayek über seinen Sekretär einen Ent­ wurf seines »Verfassungsmodells«, ein Text, der insbesondere den Ausnahmezustand rechtfertigt,22und schrieb an die Londo­ ner Times, um das Regime gegen Anwürfe zu verteidigen: »Ich habe in dem so arg geschmähten Chile niemanden getroffen, der nicht der Meinung gewesen wäre, die persönliche Freiheit sei unter Pinochet viel größer, als sie es unter Allende war.«23 Niemand, in der Tat: Denn jeder, der es hätte wagen können, 285

Teil VI

öffentlich das Gegenteil zu behaupten, war ja passenderweise verschwunden. Bei seinem zweiten Besuch im April 198124 gab Hayek der Tageszeitung El Mercurio ein langes Interview. »Was halten Sie von Diktaturen?«, fragte ihn die pinochetfreundliche Journalis­ tin. Sehr gute Frage. Danke, dass Sie sie stellen. Holen wir ein wenig aus. »Hayek: Nun, ich würde sagen, dass ich ganz und gar gegen Diktaturen als langfristige Einrichtungen bin. Aber eine Dik­ tatur kann während einer Übergangszeit ein notwendiges Sys­ tem sein. Es ist manchmal notwendig für ein Land, fur eine gewisse Zeit über eine Form diktatorischer Macht zu verfugen. Wie Sie verstehen werden, ist es einem Diktator möglich, liberal zu regieren. Und ebenso möglich ist, dass eine Demokratie mit einem völligen Mangel an Liberalismus regiert. Persönlich ziehe ich einen liberalen Diktator einer demokratischen Regierung ohne Liberalismus vor. [...] Sallas: Das bedeutet, dass Sie, für Übergangszeiten, starke und diktatorische Regierungen befürworten ... Hayek: [...] Unter solchen Umständen ist es praktisch unver­ meidlich, dass jemand über nahezu absolute Vollmachten ver­ fugt. Absolute Vollmachten, die er genau zu dem Zweck einsetzen müsste, jede absolute Macht in der Zukunft zu vermeiden und zu beschränken.«25 Was Samuelson als faschistischen Kapitalismus denunzier­ te, verteidigte Hayek als das kleinere Übel. Für Liberale stellt die Diktatur unter solchen Umständen die schlimmste Lösung dar - mit Ausnahme aller anderen, darunter an erster Stelle der Sozialismus. Wenn man vor der Entscheidung steht, zwischen Allende und Pinochet zu wählen, wie in früheren Zeiten zwi­ schen Republik und Franco, gibt es kein Zögern. Natürlich ak­ zeptiere man sie nicht als Regierungsform, die sich zur Dauer­ einrichtung berufen fühlt, sondern nur als zeitweilige Zuflucht, Übergangsphase, vorübergehender Ausnahmezustand, der, 286

Kapitel 23: Hayek in Chile

wenn man dieser Theorie der Bourgeoisiediktatur glauben darf, eine neue Ordnung etabliert und sich dann, wenn diese Auf­ gabe erledigt ist, selbst auflöst. Eine akrobatische Geschichtsdialektik, diese liberale Vertei­ digung der Übergangsdiktatur. Wie Lord Kaldor seinerzeit re­ sümierte: »Chile ist eine Diktatur mit einer Geheimpolizei, In­ ternierungslagern usw., in der Streiks unzulässig sind und der Zusammenschluss von Arbeitern in Gewerkschaften verboten ist. [...] Und wenn wir Professor Hayek beim Wort nehmen, müsste eine beliebige faschistische Diktatur als notwendige Vo­ raussetzung einer »freien Gesellschaft^ betrachtet werden (zu­ sammen mit dem Monetarismus).«26 Der Vorwurf traf ins Schwarze. Man muss bedenken, dass sich Hayek mit solchen Äußerungen keinen Ausrutscher leis­ tete, sondern dass sie in vollkommener geistiger Kontinuität zu den Theorien standen, die er seit Jahrzehnten vertrat.27 Dennoch passte dieses Lob einer »liberalen Übergangsdikta­ tur« schlecht zu dem, was man üblicherweise mit seiner Lehre verbindet. Wenn der Liberalismus sich, wie er nicht weniger beharrlich verkündete, durch die Forderung auszeichnet, dass »die Zwangsgewalt des Staates strikt [...] beschränkt wird«,28 wie konnte er da eine wenn auch nur vorübergehende Ver­ einbarkeit von Liberalismus und Diktatur behaupten? Das bleibt allerdings nur dann ein Rätsel, wenn man sich mit einer oberflächlichen Interpretation seiner Theorie begnügt. Bei ge­ nauerem Hinsehen entpuppt sich der Widerspruch als schein­ barer. Was ist Demokratie? Für Hayek, der eine rein instrumentei­ le Auffassung vertritt, ist sie nur eine »Verfahrensregel«,29 eine Entscheidungsmethode auf Grundlage des Mehrheitsprinzips. Ein bloßes Mittel, auf keinen Fall aber ein Selbstzweck. Als politische Technik hat sie ihre Vorzüge, vor allem insofern sie friedliche Übergänge an der Staatsspitze begünstigt, aber sie ist kein unantastbares Prinzip, keinesfalls die logische Konsequenz 287

Teil VI

von so etwas wie dem uneingeschränkten politischen Recht auf Selbstbestimmung. Der absolute Wert ist »Freiheit«, nicht Demokratie. Demo­ kratie ist nur eine Regierungsform, während man sich »Frei­ heit« eher als eine Lebensform vorzustellen hat.30 Sollten sich beide zufällig im Weg stehen, müsse Erstere, ohne Wenn und Aber, der Letzteren den Vortritt lassen. »Lieber würde ich vo­ rübergehend, ich wiederhole, vorübergehend, die Demokratie opfern, als dass ich auf die Freiheit verzichte.«3' Doch Hayek, der das Paradoxe liebt, geht noch weiter und behauptet, dass die »persönliche Freiheit« manchmal »in einem autoritären Regime besser geschützt werden kann als unter einer demokratischen Regierung«.32Unter Pinochet galt dieser Schutz aber weder für die politischen Freiheiten (das Recht, zu Wahlen anzutreten, aber auch die Meinungs-, Versammlungs- und Ver­ einigungsfreiheit, ganz zu schweigen vom Streik- und Demons­ trationsrecht) noch für die bürgerlichen Grundrechte (unter an­ derem nicht willkürlich verhaftet, eingesperrt oder hingerichtet zu werden). Die Behauptung, dass diese Art von Regime also die »persönliche Freiheit« schützen könne, setzt voraus, dass man diese ganz neu definiert. Doch welcher Inhalt bleibt einem der­ art verkürzten Freiheitsbegriff? Einzig der der »Wirtschaftsfrei­ heit«, verstanden als freie Verfügung über sein Eigentum. »Wenn Frau Thatcher sagt, dass die Wahlfreiheit eher auf dem Markt als an den Wahlurnen zum Zuge kommen muss, dann erinnert sie lediglich daran«, so Hayek zustimmend, »dass erstere Art von Wahl für die individuelle Freiheit unverzichtbar ist, letztere je­ doch nicht: Wahlfreiheit kann auch in einer zur Selbstbeschrän­ kung fähigen Diktatur existieren, nicht aber unter dem Regi­ ment einer uneingeschränkten Demokratie.«33 Klarer kann man es nicht ausdrücken: Die wirtschaftliche Freiheit, die des Besitz­ individualismus, ist nicht verhandelbar, die politische Freiheit hingegen ist lediglich optional. Es sei durchaus denkbar, dass »eine autokratische Regierung Selbstbeherrschung übt«, was 288

Kapitel 23: Hayek in Chile

Einmischungen in die Wirtschaft betrifft, »aber eine allmächti­ ge demokratische Regierung kann dies einfach nicht«.34 Hayeks politische Philosophie revidierte etablierte Katego­ rien und ordnete relevante Gegensätze neu. Im Zuge dieser be­ grifflichen Umgruppierung wurden paradoxe Äußerungen for­ mulierbar: Demokratie kann als totalitär denunziert, Diktatur aber auch als liberal angepriesen werden. Der Unterschied zwischen Liberalismus und Demokratie, er­ läuterte er, »zeigt sich am deutlichsten, wenn wir ihre Gegen­ teile nennen: Das Gegenteil der Demokratie ist eine autoritäre Regierung; das Gegenteil eines liberalen Systems ist ein tota­ litäres System.«35 Seinem Schema zufolge verläuft der Haupt­ gegensatz zwischen Liberalismus (verstanden als ökonomisch beschränkter Regierung) und Totalitarismus (verstanden als ökonomisch unbeschränkter Regierung). Eine weitere, aber se­ kundäre Trennlinie, dieses Mal zwischen Demokratie und Autoritarismus, untergliedert und vervollständigt das Gesamtbild. Wir erhalten so implizit eine vierteilige Typologie politischer Systeme, die man folgendermaßen rekonstruieren kann:

Demokratie Autoritarismus

Liberalismus

Totalitarismus

Liberale Demokratie

Totalitäre Demokratie

Liberaler Autoritarismus

Totalitärer Autoritarismus

Abbildung 6: Typologie der Regierungssysteme nach Hayek.

Dieses Tableau der Regierungsformen fungiert auch als Karte, will sagen als Mittel der politischen Orientierung und Entschei­ dungsfindung für den Neoliberalen. Die durchgängige Unter­ stützung des Pinochet-Regimes durch Hayek wird in diesem Lichte verständlich. Dieser Logik zufolge ist jede ökonomisch 289

Teil VI

»beschränkte« Regierungsform, gleich welcher Art, der entspre­ chenden »unbeschränkten« Form vorzuziehen. Und wenn »eine unbeschränkte Demokratie wahrscheinlich schlimmer ist als jede andere unbeschränkte Regierungsform«,56 dann liegt die Schlussfolgerung auf der Hand. Lieber Pinochet als Allende. Als Hayek 1981 zu seiner Haltung gegenüber den totalitä­ ren Regimen Südamerikas befragt wurde, erwiderte er, es gebe keine. Man dürfe Totalitarismus nicht mit Autoritarismus ver­ wechseln. Die einzige »totalitäre Regierung«, die es in jüngerer Zeit in Lateinamerika gegeben habe, »war das Chile unter Al­ lende«.37Zweifelsohne ein Extremfall von »totalitärer Demokra­ tie«.38Totalitär? In welchem Sinne? »Totalitär« sei, so Hayek, ein System, das im Unterschied zu Liberalismus und Individualis­ mus »die Gesellschaft als Ganzes und alle ihre Produktivkräfte« auf ein »einziges Ziel« auszurichten versucht.39 »Die Unterscheidung zwischen Autoritarismus und Totali­ tarismus«, klärt Andrew Gamble auf, »spielt in dieser Litera­ tur eine wichtige Rolle. Autoritäre Regime wie Chile sind to­ talitärem Regimen bei weitem vorzuziehen [...], weil sie zwar mit den politischen Freiheiten, nicht jedoch mit der wirtschaft­ lichen Freiheit in Konflikt geraten. Gewerkschaften sind selbst­ verständlich aufgelöst oder werden unterdrückt, aber Auslands­ investitionen unterliegen keinen Einschränkungen und die Bürger haben die Freiheit zu besitzen [...], zu kaufen und ver­ kaufen.« Für Neoliberale »ist die Abschaffung der politischen Freiheit zwar stets bedauerlich [...], doch fällt sie kaum ins Ge­ wicht, verglichen mit dem viel gravierenderen Verlust der wirt­ schaftlichen Freiheit für das Kapital«.40 Wolle man ein Versinken im »Totalitarismus« verhindern, müsse man, nach Hayek, den demokratischen Systemen unbe­ dingt Grenzen setzen, da die liberale Demokratie eine unaus­ weichliche Tendenz hätte, in die »unbeschränkte Demokratie« und von dort in die totalitäre Demokratie abzugleiten. Doch wie das bewerkstelligen? Eines ist sicher: Der Übergang wird 290

Kapitel 23: Hayek in Chile

nicht spontan erfolgen. Dergleichen erfordert Einmischung, Planung, Organisation, alles Dinge, die der Liberalismus sich offiziell untersagt hat. Somit steckte Hayek in einem Wider­ spruch fest. Er, der im Regelfall den Respekt vor der spontanen Selbsterzeugung im Gegensatz sowohl zum sozialen Konstruk­ tivismus als auch zum politischen Dezisionismus propagierte, stieß auf ein Phänomen, das seinen Ansichten zuwiderlief und dem er nicht anders abzuhelfen wusste als durch das genaue Ge­ genteil von Nichteinmischung: die qua politischem Beschluss durchgesetzte Begrenzung der Demokratie, gegebenenfalls, bei akuter Gefahr, durch den Rückgriff auf den Ausnahmezustand und die Übergangsdiktatur. »Letztlich«, so Hayek, »sind man­ che Demokratien durch die militärische Macht gewisser Gene­ räle erst ermöglicht worden.«41Sicher ist, dass viele durch sie be­ endet wurden. Der Hayeksche Liberalismus basiert auf »der Entdeckung einer sich selbst bildenden oder spontanen Ordnung gesell­ schaftlicher Erscheinungen«.42 Das offizielle Dogma dieser neuen Wirtschaftstheologie besagt, dass der Markt, wenn man ihn nur endlich gewähren ließe, in der Lage wäre, aus sich he­ raus eine harmonische Ordnung zu erzeugen.43 An die Stelle einer teleokratischen (zweckbeherrschten) Ordnung tritt eine nomokratische (durch Gesetz beherrschte) Ordnung. Aller­ dings schreckte Hayek nicht davor zurück, sich bei Bedarf als Anhänger einer Übergangsdiktatur zu gerieren. Um die poli­ tische Tyrannei einer »bewussten Steuerung« des Wirtschafts­ lebens zu vermeiden, war er bereit, die militärisch-polizeiliche Tyrannei einer bewussten Unterdrückung des politischen und gesellschaftlichen Lebens in Kauf zu nehmen - vorausgesetzt, sie bliebe »liberal«. Der tiefere Sinn dieser Verrenkungen ist in den Grundwider­ sprüchen des Wirtschaftsliberalismus selbst zu suchen. Denn im Gegensatz zu dem, was das Dogma behauptet, stellt sich die Marktordnung nicht auf spontane Weise her. Sie muss ständig 291

Teil VI

neu instituiert und reproduziert werden. Was uns als natürliche Ordnung präsentiert wird, verlangt in Wirklichkeit, um beste­ hen zu können, die »Zunahme eines ständigen, zentral orga­ nisierten und kontrollierten Interventionismus«, wie Polanyi schrieb.44 Diese Wirtschaftsordnung ist nicht nur nicht selbsttragend, sondern sie existiert, in einem grundsätzlicheren Sinne und ent­ gegen einem hartnäckigen Irrglauben, nicht einmal im getrenn­ ten Zustand. Staat und Zivilgesellschaft, Politik und Wirtschaft sind, wie Gramsci betonte, methodische Unterscheidungen, die innerhalb eines praktischen Ganzen vorgenommen werden und nicht auf real entkoppelte Sphären verweisen: »Aber da in der Wirklichkeit der Tatsachen Zivilgesellschaft und Staat ein und dasselbe sind, ist festzuhalten, daß auch der Liberalismus eine >Regulierung< staatlicher N atur ist, eingefiihrt und aufrecht­ erhalten auf dem Wege der Gesetzgebung und des Zwanges: Er ist eine Tatsache des sich der eigenen Ziele bewussten Wil­ lens und nicht der spontane, automatische Ausdruck der öko­ nomischen Tatsache. Darum ist der Liberalismus ein politisches Programm, dazu bestimmt, bei seinem Triumph das Führungs­ personal eines Staates und das Wirtschaftsprogramm des Staates selbst auszuwechseln, das heißt, die Verteilung des Nationalein­ kommens zu verändern.«45 Wenn sich diese Ordnung auch nicht selbst erzeugt, so pro­ duziert sie relativ spontan ihre eigene Negation oder, wie Marx schrieb, ihren eigenen Totengräber. Kurioserweise könnte man die alarmistischen Texte Hayeks über den fatalen Trend, der von der unbeschränkten Demokratie zum Sozialismus führt, auch als ungefähre Übersetzung dieser berühmten Marx’schen The­ se in ein liberales Idiom lesen. Nur dass dieser Widerspruch bei Hayek nicht auf endogene Weise, ausgehend von den Produk­ tionsverhältnissen, verstanden, sondern dem Eindringen einer als äußerlich, parasitär und überflüssig wahrgenommenen Rea­ lität zugeschrieben wird - die Politik als Alien. 292

Kapitel 23: Hayek in Chile

Im Grunde ist die Frage die der Krisentheorie: Wenn man den Kapitalismus wie die Neoliberalen für ein im Wesentlichen stabiles und selbstregulierendes System hält, dann müssen die Störungen und Verwerfungen, von denen er doch so offenkun­ dig betroffen ist, auf etwas anderes als ihn selbst zurückgehen. Die Krise ist zwangsläufig externen Usprungs, Resultat einer exogenen Politisierung der »Wirtschaft«. Die Theorien über die »Regierbarkei tskrise der Demokratie« sind Ausdruck dieser Ver­ leugnung. Werden die immanenten Widersprüche des Kapita­ lismus ausgeblendet und ihre Äußerungen der Einflussnahme demokratischer Politik zugeschrieben, dann liegt die allgemeine Lösung auf der Hand: in den Worten Hayeks, »die Demokratie beschränken«.

293

Kapitel 24: An den Quellen des autoritären Liberalismus »Da die Regierung in seinen Augen nur ein notwendiges Übel ist, schloss er daraus, dass es ihrer so wenig wie möglich bedarf. Das ist ein [...] Irrtum. Außerhalb ihrer Sphäre bedarf es ihrer nicht, doch innerhalb dieser Sphäre kann es nicht genug von ihr geben. Die Freiheit gewinnt alles, wenn die Regierung streng auf diesen ihr zustehenden Bereich begrenzt wird; aber sie gewinnt nichts, sie verliert vielmehr, wenn diese innerhalb ihres Bereichs schwach ist; sie muss innerhalb seiner allmächtig sein.«1 Benjam in Constant

Da die »unbeschränkte Demokratie« unaufhaltsam in einen »to­ talitären Staat« abgleite, sei es notwendig, ihr Grenzen zu setzen. So lautete, zumindest seit 1944 und dem Weg zur Knechtschaft, das Leitmotiv von Hayeks politischem Denken. Doch woher stammt dieses paradoxe Thema der »totalitä­ ren Demokratie«? Es handelt sich zunächst um die Wiederauf­ nahme eines alten Gemeinplatzes reaktionären Denkens, klassi­ sches Motiv einer langen Tradition des Demokratiehasses, die, in der Moderne, bis zur Antiaufklärung zurückreicht. Hayek war sich dessen bewusst, er verwies diesbezüglich selbst auf ein Buch von Franz Neumann, in dem man Folgendes lesen kann: »Wie wir wissen, werden seit der Französischen Revolution an­ ti-liberale und antidemokratische Theorien propagiert, die die These vertreten, daß aus der Demokratie notwendig die Herr­ schaft des Pöbels hervorgehen müsse [...]. Der totale Staat er­ scheint dann als notwendige Erfüllung der Demokratie. Die 294

Kapitel 24: An den Quellen des autoritären Liberalismus

Namen De Maistre, Bonald, Donoso Cortes, Spengler, Ortega y Gasset wiederholen - in der einen oder anderen Weise - die­ sen Gedanken.«1 Hayek bekannte sich zwar entschieden zu dieser eigentlich »antiliberalen« Tradition, traf jedoch eine Unterscheidung, die das scheinbar Unplausible einer solchen Positionierung besei­ tigte. Es gibt nämlich ihm zufolge historisch gesehen zwei Libe­ ralismen, ein echter, der angelsächsische, auf den er sich berief, der von Smith, aber auch von Burke, und ein künstlicher, kon­ tinentaler, den er verabscheute, »die Tradition Voltaires, Rous­ seaus, Condorcets und der Französischen Revolution, die zu Vorläufern des modernen Sozialismus wurden«.3 Im Gegensatz zwischen »liberaler und totalitärer Demokratie« drücke sich im Grunde nur »der Antagonismus zwischen Liberalismus und So­ zialismus« aus.4 Doch hat dieser Gedanke bei Hayek auch eine präzisere und näher liegende Quelle. Die These, dass »der im Entstehen be­ griffene demokratische Wohlfahrtsstaat dazu bestimmt war, den Rechtsstaat zu untergraben«, entnahm er seinen Jugend­ lektüren. »Für diejenigen, die sich in den juristischen Debat­ ten der Weimarer Republik auskennen«, kommentiert William Scheuerman, »ist ein Großteil der Hayekschen Erzählung er­ staunlich unoriginell; seine eigene geistige Sozialisierung hat sich, wie er selbst mehrfach betonte, eindeutig im Dunstkreis der Weimarer Debatten vollzogen. Tatsächlich weist seine Ana­ lyse in vielerlei Hinsicht verblüffende Parallelen zu der von Carl Schmitt auf.«5 »Die Schwäche der Regierung einer omnipotenten Demokra­ tie«, notierte Hayek in Recht, Gesetzgebung und Freiheit, »wurde sehr klar von dem bedeutenden deutschen Politikwissenschaft­ ler Carl Schmitt gesehen, der in den 20er Jahren den Charakter der entstehenden Form der Regierung wahrscheinlich besser als die meisten anderen begriff und dann regelmäßig auf der mei­ ner Auffassung nach moralisch wie intellektuell falschen Seite 295

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landete.«6 Hayek distanzierte sich also von den späteren politi­ schen Optionen Schmitts, übernahm aber seine pränazistische Kritik der Demokratie. Der Schlüsselbegriff zum Verständnis der Schmitt’schen Charakterisierung dieser Regierungsform ist der des »totalen Staates«.7 Als Schmitt diese Formel Anfang der 1930er Jahre aufbrachte, beschwor sie sofort den faschistischen »stato totalitario« herauf. Dazu muss man wissen, dass das Adjektiv »tota­ litär« von Mussolini und seinen Schergen seinerzeit positiv ver­ wendet wurde, zu Zwecken der Selbstbeweihräucherung.8Doch wie es seine Art war, verschob Schmitt die Bedeutung der Wor­ te. Er bürstete dieses Vokabular gegen den Strich und wendete es, in einem ersten Schritt, im abwertenden Sinne auf die par­ lamentarische Demokratie an. Schmitt ergänzte diese Umwid­ mung um eine impressionistische Geschichtsthese, die Hayek sich zu eigen machte. Sie lässt sich in einem Satz zusammenfas­ sen: »Der neutrale Staat des liberalen 19. Jahrhunderts« ist dabei, sich in einen »totalen Staat« zu verwandeln.9 In welchem Sinne total? Insofern er »in alle Lebensberei­ che« interveniert. Da der Wohlfahrtsstaat seine Befugnisse auf eine ganze Reihe sozialer und ökonomischer Fragen aus­ dehnt, die bisher nicht in die Zuständigkeit der Staatsgewalt fielen, wird seine Sphäre zu einer totalen, allumfassenden. An­ gesichts dessen, dass Staat und Gesellschaft identisch werden, schreibt Schmitt, »kann [man] nicht mehr zwischen staatlich­ politischen und gesellschaftlich-unpolitischen Sachgebieten un­ terscheiden«.10 Wenn alles politisch ist, verliert der Staat sein Außen. Doch worauf ist dieses Phänomen zurückzuföhren? »In der Demokratie«, antwortete Schmitt, sei »die Ursache für den heu­ tigen totalen Staats genauer der totalen Politisierung des ge­ samten menschlichen Daseins zu suchen«.“ Der Staat dehnt sich aus, weil eine demokratische Regierung ständig »die Ansprüche aller Interessenten erfüllen muß«.12 Der Staat interveniert in die 296

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Wirtschaft, weil die Gesellschaft in den Staat interveniert. Die Verstaatlichung der Gesellschaft ist nur das Ergebnis der »Ver­ gesellschaftung« des Staates. Nun ist diese Ausdehnung des staatlichen Bereichs parado­ xerweise kein Ausdruck von Stärke: »Ein pluralistischer Partei­ enstaat wird nicht aus Stärke und Kraft, sondern aus Schwä­ che >totale«13Aus Schwäche zunächst, weil er auf passive Weise wächst und dabei zum Spielball sozialer Interessen wird, die gewissermaßen von unten her von ihm Besitz ergreifen. Aus Schwäche zudem, weil je weiter sich seine Sphäre erstreckt, sei­ ne Kraft umso mehr nachlässt. Je allmächtiger dieser Staat er­ scheint, umso ohnmächtiger ist er in Wirklichkeit. Der alte, gefallene, zur bloßen »Selbstorganisation der Gesellschaft«14ge­ wordene Leviathan verliert seine ganze Transzendenz, er ver­ weichlicht und degeneriert. Hayek, aber auch Schumpeter, der eine intime Kenntnis der Schmitt sehen Demokratieanalysen besaß, wurden zu Vermitt­ lern dieser Thesen in der Nachkriegszeit. Diese Thesen bilde­ ten, aus der Ferne, den geistigen Grundstock der in den 1970er Jahren erarbeiteten Diskurse über die Regierbarkeitskrise der Demokratie.15 Am 23. November 1932, kurz vor Hiders Machtantritt, hielt Carl Schmitt, auf Einladung eines Unternehmerverbandes, des Langnam-VereinSy6 einen Vortrag. Der Titel war Programm: »Starker Staat und gesunde Wirtschaft«.17 In diesem Text nahm Schmitt eine Unterscheidung zwischen zwei Versionen des »starken Staates« vor, eine, die er ablehnte, und eine andere, die er sich herbeiwünschte. Der ersten sind wir bereits begegnet: Es ist der »quantitativ« starke Staat. Ein Staat, der aufgrund seiner Ausdehnung nicht stark, sondern schwach ist. »Ein Staat, der sich unterschiedslos auf alle Sachgebiete, alle Sphären des menschlichen Daseins begibt [...]. Er ist total in einem rein quantitativen Sinne, im Sinne des bloßen Volumens, nicht der Intensität und der politischen Energie.«18 297

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Doch wie wäre einem solchen totalen Staat beizukommen? »Nur ein sehr starker Staat«, behauptete Schmitt, »könnte diese furchtbare Verfilzung [...] lösen.«'9 Die Lösung, um den gor­ dischen Knoten des totalen Staates durchzuhauen, ist wiederum der totale Staat, aber in einem anderen Sinne. »Dem quantita­ tiv totalen Staat« stellt er den »qualitativ totalen Staat« gegen­ über: »Er ist total im Sinne der Qualität und der Energie, so, wie sich der faschistische Staat einen >stato totalitario< nennt«,10 ein starker Staat, der die gesamte Macht der modernen Tech­ nik in sich vereint, angefangen mit dem militärischen Instru­ mentarium und den neuen Massenkommunikationsmitteln; ein militärisch-medialer Staat, Krieger und Propagandist zu­ gleich, ausgestattet mit dem technologischen Nonplusultra in Sachen Unterwerfung des Körpers und Manipulation des Geis­ tes. Dieser Staat, der über »ungeahnte neue Machtmittel«11ver­ fugt, »läßt in seinem Innern keinerlei staatsfeindliche [...] Kräf­ te aufkommen«.11Da er wieder in der Lage sei, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden, werde er nicht mehr zögern, den inneren Feind zu bekämpfen. Eine wesendiche Frage blieb noch: In welchem Verhältnis stand ein solcher Staat zur Wirtschaft? Antwort: »[N]ur ein star­ ker Staat kann entpolitisieren, nur ein starker Staat kann offen und wirksam anordnen, daß gewisse Angelegenheiten, wie Ver­ kehr oder Rundfunk, sein Regal sind und von ihm als solche verwaltet werden, daß andere Angelegenheiten der [...] wirt­ schaftlichen Selbstverwaltung zugehören, und alles übrige der Sphäre der freien Wirtschaft überlassen wird.«13Man hätte dem­ nach drei Sektoren: öffentliche Monopole in bestimmten strate­ gischen Bereichen, den freien Markt und zwischen beiden eine Form wirtschaftlicher Selbstverwaltung durch die Unterneh­ merverbände. Schmitt wollte den deutschen Unternehmer verführen und beruhigen. Er versprach ihm einen starken, repressiv-propagan­ distischen Staat, der in der Lage sei, soziale und politische Wider298

Kapitel 24: An den Quellen des autoritären Liberalismus

stände zu unterdrücken, und versicherte ihm zugleich, dass diese riesige Macht an der Schwelle der Unternehmen und Märkte res­ pektvoll Halt machen werde. Die private Selbstregierung wirt­ schaftlicher Angelegenheiten werde nicht in Frage gestellt, son­ dern im Gegenteil ausgeweitet und für unantastbar erklärt. Während die demokratische Politik Staat und Gesellschaft vermischt, hält die »autoritär-totale« Politik sie sorgfältig aus­ einander; während Erstere die Gesellschaft politisiert und den Staat »sozialisiert«, entpolitisiert Letztere die Gesellschaft und stärkt den Staat, allerdings in den strikten Grenzen einer wohl­ verstandenen Unterscheidung von Staat und Wirtschaft. Ist der Klassenkampf somit dem eisernen Regiment des Staates unter­ stellt, kann »die Wirtschaft« aufblühen. Starker Staat, gesunde Wirtschaft. Allerdings enthielt dieses Programm, wie Schmitt gar nicht verhehlte, einige Abweichungen von den Dogmen des klassi­ schen Liberalismus. Zunächst müsse man, wie bereits in Der Hüter der Verfassung gezeigt, anerkennen, dass das »alte[.] liberale[.] Prinzip unbe­ dingter Nichteinmischung, absoluter Nicht-Intervention« über­ holt sei.24Angesichts einer Situation, in der die Massen in Auf­ ruhr seien und große Parteien miteinander rivalisierten, sei das Beharren auf einem bornierten »Laissez-faire«, auf einer Zu­ schauerposition, das Abwarten, dass der Bessere (oder Schlech­ tere, je nach Standpunkt) gewinne, keine Option mehr. Im Un­ terschied zu dem, was manche Kommentatoren in diese Passage hineininterpretierten, plädierte Schmitt hier allerdings nicht da­ für, dass die Staatsmacht administrativ in »die Wirtschaft«, son­ dern dass sie politisch in den Klassenkampf interveniert.25 »Das wäre«, warnte er, »ein schmerzhafter chirurgischer Eingriff, der nicht >organisch< im Sinne langsamen Wachstums vor sich gehen könnte.«26Man müsse sich also auch mit dem Ge­ danken anfreunden, dass »eine Entpolitisierung, eine Abhebung des Staates von den nichtstaatlichen Sphären [...], ein politi299

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scher Vorgang« ist,27 eine Aufgabe, die mehr erfordert als einen »minimalen« oder einen Nachtwächterstaat: »Ein Staat, der eine solche Neuordnung bewirken könnte, müßte, wie gesagt, außer­ ordentlich stark sein, und der Akt der Entpolitisierung ist eben in besonders intensiver Weise ein politischer Akt.«28 Schließlich sei auch die klassische liberale Sichtweise einer Atomistik der Zivilgesellschaft, bei der sich der Staat einzelnen Wirtschaftsteilnehmern gegenübersähe, überholt. Wenn sich der Staat aus einer ganzen Reihe wirtschaftlicher Steuerungs­ funktionen zurückziehe, müssten andere Instanzen an seine Stelle treten. Zwischen Staat und Markt schiebe sich als Zwi­ schenbereich die private Selbstregierung der großen Unterneh­ merverbände.29 Als er die Schmitt’sche Rede vor deutschen Unternehmern las, war dem sozialdemokratischen Juristen Hermann Heller nur zu gut bewusst, worum es sich handelte. Bevor er ins Exil ging (er starb im folgenden Jahr, 1933, in Spanien), hinterließ er einen kurzen Text, der zu den hellsichtigsten der Periode zählt. Wir wohnen der Erfindung einer neuen politischen Kategorie bei, analysierte er, eines kleinen Begriffsmonsters, einer Schimä­ re namens »autoritärer Liberalismus«^0 Schmitt, der bisher seine wahren Positionen »hinter geistrei­ chen Negationen« verborgen habe, schrieb Heller, habe kürz­ lich, vor den Industriellen, das Bedürfnis empfunden, seine Ide­ en »ein wenig klarer auszudrücken«.31 »Bisher hatte man von Carl Schmitt vernommen, daß der heutige Staat ein schwacher, weil >pluralistischer< Staat sei.«32 Doch inzwischen sei ihm eine Lösung eingefallen: der starke, autoritäre, »qualitativ totale« Staat. Doch wie weit reicht diese Stärke des starken Staates? Und wem gegenüber wäre er »autoritär«? Wem gegenüber nicht? Das Kriterium ist sein Verhältnis zur »Wirtschaftsordnung«: »Sobald nämlich von Wirtschaft die Rede ist, verzichtet der >autoritäre< Staat restlos auf seine Autorität und seine angeblich »konservati300

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ven< Wortführer kennen nur noch die Parole: Freiheit der Wirt­ schaft vom Staate!«33 Der Staat ist stark und schwach zugleich, stark gegenüber den einen, schwach gegenüber den anderen stark, wie Wolfgang Streek kommentiert, »gegenüber den de­ mokratischen Forderungen nach [sozialer] Umverteilung«, aber »schwach in seinen Beziehungen zum Markt«.34 Dieses Schlag­ wort, so Heller weiter, beinhaltet natürlich »nicht Abstinenz des Staates von der Subventionspolitik für Großbanken, Groß­ industrielle und Großagrarier, sondern autoritären Abbau der Sozialpolitik«. Was diese Anhänger des »autoritären« Staates vor allem verabscheuen würden, sei »der Wohlfahrtsstaat«.35 1934 veröffentlichte ein junger deutscher Philosoph, der eben­ falls vor den Nazis geflohen war, in der Zeitschrift der Frank­ furter Schule einen langen Artikel über den »Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären StaatsaufFassung«.36 Darin ana­ lysierte er ebenfalls die von Heller wahrgenommene Begriffsverschiebung. Und auch Herbert Marcuse, denn um ihn geht es, nahm Schmitt ins Visier. Oberflächlich betrachtet sei die neue Schmitt sehe Philoso­ phie des »total-autoritären Staates« gänzlich verschieden vom Liberalismus, dieser Lehre, für die ihr kein Wort der Verach­ tung zu hart sei. Doch worin besteht, fragt Marcuse, die rea­ le Substanz dieses Antagonismus? Sobald man sich mit ihrem Programm beschäftige, stelle man fest, dass die Anhänger dieses »total-autoritären Staates« nicht vorhätten, die grundlegenden Wirtschaftsbeziehungen anzutasten. Dieser neue Staat sei, in­ sofern er »die Gesellschaft organisiert, ohne ihre Basis entschei­ dend zu verändern, nur eine Selbsttransformation des liberalen Staates«.37 Und während die Liberalen ihrerseits eine ganz andere po­ litische Philosophie als die des faschistischen »stato totalitario« verträten, seien manche von ihnen dennoch in der Praxis be­ reit, sich dieser Option in letzter Konsequenz anzuschließen. Marcuse zitiert von Mises, Hayeks Mentor: »Das Programm des 301

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Liberalismus hätte«, schrieb dieser 1927, »in ein einziges Wort zusammengefaßt, zu lauten: Eigentum, das heißt: Sondereigen­ tum an den Produktionsmitteln ... Alle anderen Forderungen des Liberalismus ergeben sich aus dieser Grundforderung.« Der Liberalismus hält dafür, dass »der Faszismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen [...] für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet hat. Das Verdienst, das sich der Faszismus damit erworben hat, wird in der Geschichte ewig fortleben.«,8 Ungeachtet ihrer realen philosophischen Divergenzen sind sich beide Strömungen in einem entscheidenden Punkt einig, der Beibehaltung der kapitalistischen Wirtschaftsbeziehungen. »Wir können jetzt schon den Grund dafür erkennen«, schrieb Marcuse, »warum der total-autoritäre Staat seinen Kampf gegen den Liberalismus auf einen Kampf der Weltanschauungen ab­ lenkt, warum er die gesellschaftliche Grundstruktur des Libera­ lismus beiseite läßt: er ist mit dieser Grundstruktur weitgehend einverstanden. [...] [D]as Prinzip der Gestaltung der Produk­ tionsverhältnisse [bleibt] unangetastet.«39 Doch nuancierte Marcuse dieses erste Schema gleich wieder in einem weniger ökonomistischen Sinne, als es zunächst den Anschein hatte. Zwar vollziehe sich »die Wendung vom liberalistischen zum total-autoritären Staate [...] auf dem Boden der­ selben Gesellschaftsordnung«,40 doch wenn dieser Fall einträte, wäre dies ein wirklicher politischer Umbruch, nicht bloß eine »Ideologie-Anpassung«. Man unterläge einem Irrtum, woll­ te man »die Theorie des totalautoritären Staates [...] auf ein bloßes ideologisches Manöver reduzieren. Mit dem autoritären Staat und den Gedanken, die er zu propagandistischen Zwecken heraufbeschwört, entwickeln sich Formen, die über seine eige­ nen politischen Formen hinausgehen und einen anderen Zu­ stand erstreben.«4' Dass es letztlich eine Übereinstimmung hinsichtlich der grundlegenden Wirtschaftsbeziehungen gibt, bedeutet nicht, dass beide, Wirtschaftsliberalismus und Lehre vom totalauto302

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ritären Staat, identisch seien oder dass der Abstand, der ihre Weltanschauungen trennt, bloßer Schein oder unerheblich wäre. Dass der Umschlag des liberalen in den totalautoritären Staat möglich, wenngleich weder notwendig noch zufällig ist, lässt noch nicht den Schluss zu, dass der Liberalismus per se ein Kryptofaschismus oder der Faschismus die bloße Fortsetzung der liberalen Wirtschaft mit anderen ideologischen Mitteln wä­ re. Ein faschistischer Kapitalismus, das ist nicht die bloße Hin­ zufügung eines Attributs zu einem gleichbleibenden Substrat bei unwesentlicher Veränderung der Taxonomie. Es handelt sich um eine Weltanschauung, aber nicht nur um eine Welt­ anschauung. In diesem Fall, warnte Marcuse aus eigener Erfah­ rung, betritt man eine andere Welt. Als die Alliierten in den 1940er Jahren die Formel »Kampf gegen den Totalitarismus« zu verwenden begannen, um ihre militärische Offensive gegen die Achsenmächte zu bezeichnen, griffen manche konservative Intellektuelle innerhalb ebendieser »westlichen Demokratien« diese Formel auf, um ihre eigenen Regierungen zu kritisieren, denen sie vorwarfen, in ihrem In­ nern leichtfertig die Keime eines schleichenden Totalitarismus zu nähren. Hayek in Der Weg zur Knechtschaft (1944), von Mises in Om­ nipotent Government (1944)42 und Schumpeter in Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1942) prangerten nahezu gleich­ zeitig die Mängel der Repräsentativdemokratie an und verkün­ deten eine Botschaft, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: Wenn ihr wirklich den Totalitarismus bekämpfen wollt, dann bedarf es noch einiger Anstrengung, denn er sickert euch, ob ihr wollt oder nicht, aus den Poren, er ist den Auswüchsen eures demokratischen Systems und eures Wohlfahrtsstaates als fatum eingeschrieben. Während der Weimarer Republik, schwadronierte Hayek, waren es »großenteils Menschen guten Willens, [...] die [...] den Weg für die Kräfte bereiteten, die für sie jetzt alles Ver303

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abscheuenswürdige verkörpern. [...] Nur wenige wollen zu­ geben, daß der Aufstieg von Faschismus und Nationalsozialis­ mus nicht als Reaktion gegen die sozialistischen Tendenzen der voraufgegangenen Periode, sondern als die zwangsläufige Folge jener Bestrebungen begriffen werden muß.«43 Das ist der Kern des Arguments: Die Wohlfahrtsdemokratie befördert einen So­ zialismus, der geradewegs zum Faschismus fuhrt. Mussolini wäre somit das zwangsläufige Resultat Gramscis und Hitler dasjeni­ ge von Rosa Luxemburg. Dieser grobschlächtige Kontinuismus, gedanklich so falsch wie politisch, konnte nur um den Preis einer Negierung der realen politischen Verhältnisse formuliert wer­ den. Hayek mochte noch so viele Autoren aus den 1920er und 1930er Jahren herbeizitieren, die »den Liberalismus als Haupt­ feind des Nationalsozialismus identifizierten«, er scheiterte, wie Andrew Gamble bemerkt, »an dem Nachweis, dass der demo­ kratische deutsche Sozialismus per se totalitär war. Schließlich fusionierte er nicht mit dem Nationalsozialismus, sondern wur­ de von diesem gewaltsam zerschlagen.«44 Heller und Marcuse ließen sich nicht täuschen: Sie verstanden das entstehende Re­ gime nicht als Auswuchs des Sozialstaates, sondern im Gegenteil als dessen Negation, als reaktionäre Synthese aus liberaler Wirt­ schaft und politischem Autoritarismus der schlimmsten Sorte. Mitten im Zweiten Weltkrieg hatten Hayek und Konsorten also nichts Besseres zu tun, als die Auswüchse der Demokratie zu kritisieren und zur Abkehr vom Wohlfahrtsstaat aufzurufen. Doch sie verloren. Zu ihrem größten Leidwesen sollte die Nach­ kriegszeit keynesianisch werden. Und sie blieben drei lange Jahr­ zehnte dazu verurteilt, sich als Rufer in der Wüste zu betätigen. Als dann plötzlich die sozialen und politischen Turbulenzen der späten 1960er Jahre eintraten, waren sie zugleich besorgt und zuversichtlich, denn so schwerwiegend die politische Kri­ se war, sie schien ihnen auch Recht zu geben. Die Kassandras warfen sich in Pose. Wir haben es euch doch gesagt. Da seht ihr, wohin das fuhrt. In dieser Krise erkannten sie ihre Chance. Ihre 304

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alten Diagnosen würden endlich an Glaubwürdigkeit zurück­ gewinnen und mit ihnen ihre »heroischen Heilmittel«. Hayek betonte stets, dass er bei allem Lob fur die hellsichti­ gen Analysen des vornazistischen Schmitt zur »unbeschränkten Demokratie« dessen spätere politische Parteinahmen missbilligt habe.45Wir nehmen es zur Kenntnis und wollen ihm diesbezüg­ lich glauben. Hayek meinte also, dass Schmitt bei seiner Unter­ suchung der parlamentarischen Demokratie richtiggelegen ha­ be, aber »moralisch wie intellektuell regelmäßig auf der falschen Seite landete«. Als ob zwischen beiden kein Zusammenhang be­ stünde, als ob das Versagen reiner Zufall wäre. Doch trifft das zu? Kann man behaupten, dass Schmitt seiner guten Situations­ analyse zum Trotz einfach die falschen Schlüsse gezogen habe? Dann müsste man ihm vor allem mangelnde Folgerichtigkeit vorwerfen. Aber darf man, vor allem bei einem so scharfsin­ nigen Denker, so einfach zwischen Analyse und Entscheidung trennen? Es könnte auch sein, dass er falschgelegen und dann daraus, logischerweise, die entsprechenden Schlüsse gezogen ha­ be. Doch gibt es noch eine weitere Interpretation, die den Vor­ teil hätte, eine weniger mechanische Kopplung zwischen Di­ agnose und Therapie vorzunehmen, indem sie die Betonung weniger auf die Logik als auf den Willen legt. Um es direkter zu formulieren: Wer seinen Hund töten will, sagt, er habe die Tollwut. Das Gleiche gilt fur die Hündin Demokratie und ihre sozialistischen Jungen. Ungeachtet der wiederholten Vorwürfe an seine Adresse, hielt sich Hayek eng an Schmitt, wenn es darum ging, eine Mängel­ liste der parlamentarischen Demokratie zu erstellen. Was er sei­ nen Analysen entnahm, ist alles andere als vordergründig. Nur gibt es konzeptuelle Grundlagen, die lassen sich nicht ungestraft übernehmen. Schmitt hatte also, laut Hayek, richtiggelegen (hatte die De­ mokratie als schleichenden Totalitarismus erkannt) und war trotzdem regelmäßig auf der »falschen Seite« gelandet (wie wenn 305

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man zufällig vom rechten Weg abkommt). Und Hayek, der ja ebenfalls richtigliegen musste, weil er, um die Demokratiefrage zu studieren, die Schmitt sehe Brille aufgesetzt hatte, wo war er gelandet? Salazar ergreift in Portugal die Macht. Hayek über­ sendet ihm mit freundlichen Worten seinen Verfassungsent­ wurf. Die Generäle unterwerfen Argentinien, er reist ins Land, um sich mit ihnen ins Benehmen zu setzen. Pinochet terrorisiert Chile - das Gleiche in Grün. Gegen Südafrika wird ein Boykott initiiert, Hayek greift zur Feder, um das Regime zu verteidigen, und so weiter.46 (Fast) jedes Mal, wenn sich die historische Si­ tuation ergab, dass eben »als Reaktion gegen sozialistische Ten­ denzen« ein diktatorisches Regime an die Macht gelangte, eilte er herbei, um es mit seinen Ratschlägen einzudecken. Von Foucaults berühmtem Seminar über Die Geburt der Bio­ politik ist vor allem eine Sicht des Neoliberalismus als Prozess der Gouvernementalisierung des Staates, als Auflösung der al­ ten Souveränitätskonstellationen in den Formen des Marktes in Erinnerung geblieben.47 Diesen gibt es zwar, aber er stellt nur einen Teil dar. Um die Ambiguität neoliberaler Politik in ihrem Verhältnis zur Staatsmacht besser zu verstehen, muss man auch die andere Seite untersuchen. Wie Wolfgang Streeck bemerkt, »hätte Foucault weiter zurückgehen können, zu Schmitt und Heller, wo er auf die grundlegende Denkfigur gestoßen wäre, die die liberalen Anschauungen über die wirtschaftliche Rol­ le der Staatsautorität unter kapitalistischen Verhältnissen inspi­ rierte und noch inspiriert - der Gedanke, um den Titel eines in den 1980er Jahren veröffentlichten Buches über Margaret That­ cher aufzugreifen, dass es für eine >freie Wirtschafte eines star­ ken Staates< bedarf«.48

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Kapitel 25: Die Politik entthronen »Was ist schon ein Thron? Vier Stück vergoldetes Holz, bedeckt mit Samt.«1 Napoleon Welche Lösungen gab es für die »Regierbarkeitskrise der Demo­ kratie«? Unter den verfügbaren Optionen befand sich das, was Samuelson als »Teufelskur«2 bezeichnete: diktatorische Macht zur Eindämmung der Demokratie. Die Politik militarisieren, um die Gesellschaft zu entpolitisieren. Das war die Strategie des totalen Präventivkriegs gegen den inneren Feind, die in Latein­ amerika unter dem Namen »nationale Sicherheitsdoktrin« zu theoretischen Weihen gelangte.3 Demokratie ist nicht überall möglich,4 hatte Hayek gewarnt, doch umgekehrt galt das Gleiche: Pinochet war nicht überallhin exportierbar. Zur Errichtung der neoliberalen Ordnung ist die Militärdiktatur der letzte Ausweg, kein universell anwendbares Modell. Chile war, wie Milton Friedman betonte, »die Ausnah­ me, nicht die Regel«.5 Es gab noch viele andere mögliche Formen von »Übergangs­ regierung«. »Die Demokratie zu beschränken«, kann auf diskre­ terem Wege geschehen als durch lautes Säbelrasseln. In anderen Regionen konnten eine Thatcher oder ein Reagan diesen Zweck sehr gut erfüllen. Nach eigenem Eingeständnis wollte Hayek in seinen letzten Büchern »eine intellektuelle Notausrüstung [...] konstruieren«, um in der Lage zu sein, das System anders zu retten, als »in un307

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serer Verzweiflung zu irgendeiner Art von diktatorischem Re­ gime unsere Zuflucht zu nehmen«.6 Die Absicht war lobens­ wert, wenngleich sie sich auch als versteckte Drohung lesen lässt: Wenn ihr die sanfte Tour verweigert, dann lasst ihr uns keine Wahl, als es mit der harten zu versuchen. Als Reaktion auf die Diskussionen über die Regierbarkeitskrise der Demokratie tönte Hayek 1978 umso lauter, »daß die Vielregiererei, die immer beängstigendere Formen annimmt, eine unbeabsichtigte Folge des bestehenden Systems der unbe­ schränkten Demokratie ist«7 - nebenbei bemerkt, die Vereinig­ ten Staaten unter Carter, das Frankreich von Giscard oder das Italien Andreottis als »unbeschränkte Demokratie« zu bezeich­ nen, sagt viel über die Begrenztheit des Hayekschen Demo­ kratiebegriffs aus. Da diese Tendenz, so Hayek weiter, »der be­ sonderen Form, die wir demokratischen Regierungen gegeben haben, inhärent ist«, können wir »dieses explosive Wachstum nur verhindern [...], wenn wir unsere Institutionen in entschei­ dender Weise ändern«.8 »Die Demokratie«, so immer noch Hayek, »kann sich nur als beschränkte Demokratie erhalten. Eine unbeschränkte De­ mokratie zerstört sich notwendig selbst.«9 Wenn sie schon zur Selbstzerstörung verurteilt ist, dann kann man auch gleich mit gutem Beispiel vorangehen und sich selbst darum kümmern: sie amputieren, um dem Wundbrand vorzubeugen. Doch was stand dafür als Werkzeug zur Verfügung? Welche Art von Skal­ pell? Welche Techniken der Entdemokratisierung?10 Die Behandlung folgte der Diagnose. Denn wenn »die Kri­ se auf eine extreme Anfälligkeit der Regierung für Forderun­ gen aus der Bevölkerung zurückzuführen ist, dann muss man Mittel finden, um die Regierungen zu >isolieren< und eine Rei­ he von Fragen außerhalb der Reichweite demokratischer Politik anzusiedeln«." Es galt, herauszufinden, wie man »die Regierung selbst kontrolliert«.11 Konnte man nicht angesichts der Sirenen des Sozialprotestes in die antike Trickkiste greifen und den Ka308

Kapitel 25: Die Politik entthronen

pitän des Schiffes an seinen Mast binden? So, glaubte man, wäre die Regierbarkeit endlich wiederhergestellt. Zu diesem Zweck zog Hayek mehrere Verfahren in Betracht, die alle zur Verwirklichung desselben Programms, der »Entthro­ nung der Politik«, beitrugen.13Tatsächlich äußerte sich in die­ ser Formel die Strategie des Neoliberalismus als destituierende Macht. Das Hauptziel - den Handlungsspielraum der Regierungs­ macht in sozialen und ökonomischen Belangen drastisch einzu­ schränken - galt zwar für jede Regierungsform, doch »in der Demokratie« stieß seine Umsetzung auf eine spezifische Schwie­ rigkeit: Konnte man es erreichen, ohne allzu offen mit den Formen des Repräsentativsystems zu brechen? »Im allgemei­ nen wurde geglaubt, dass dies in einer Demokratie unmöglich sei«, gestand Hayek, der allerdings für sich in Anspruch nahm, einen Dreh gefunden zu haben: »Das Problem erschien jedoch nur deshalb unlösbar, weil ein älteres Ideal vergessen worden war, nämlich daß die Gewalt aller Regierungsfunktionen aus­ übender Autoritäten durch langbewährte Regeln beschränkt sein sollte, die im Dienste von Sonderinteressen zu ändern oder abzuschaffen niemand befugt ist.«14 Einzige Alternative: die Verfassung. »Tatsächlich bedarf die Demokratie«, nach seiner Begrün­ dung, »sogar noch stärkerer Einschränkungen der Ermessens­ gewalt, die die Regierung ausüben kann, als andere Formen der Regierung, weil sie weit stärker dem effektiven Druck von Son­ derinteressen, vielleicht nur kleiner Gruppen, unterworfen ist, auf denen ihre Mehrheit beruht«.15 Um »die charakteristischen Mängel politischer Regime, in denen legislative Mehrheiten mit einer nahezu uneingeschränk­ ten Gesetzgebungskapazität ausgestattet sind«,16 zu beheben, müsse man von vornherein den Geltungsbereich der Regie­ rungsmacht beschränken, ihr ein für alle Mal, durch die in Stein gemeißelten Verbote des Grundgesetzes, untersagen, »der 309

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Wirtschaft« ins Gehege zu kommen. Dem zu großen demokra­ tischen Entscheidungsspielraum stellte man das Modell einer in wirtschaftlichen Belangen »verfassungsmäßig beschränkten Regierung« gegenüber.17 Das alte Lieblingsthema des Liberalis­ mus wurde somit von einem ökonomischen Neoliberalismus wiederaufgenommen, der auf dem Gebiet des iuspoliticum zum Angriff überging. Entthronung der Politik also qua verfassungs­ mäßiger Unantastbarkeitserklärung der Wirtschaft. Das Para­ dox einer konstitutionellen Destitution oder eine destituierenden Konstitutionalisierung. Wie Buchanan übereinstimmend erklärte, könne man das Prinzip »freier« Wahlen ruhig beibehalten, vorausgesetzt, man blockiere im Vorfeld den Entscheidungsspielraum der Regieren­ den, die aus ihnen hervorgingen. »Wichtig ist«, verkündete er, »zu unterscheiden zwischen der Auswahl, die zwischen verschie­ denen Regeln (Verfassungspolitik), und einer, die innerhalb be­ stimmter Regeln (Normalpolitik) getroffen wird.« Und wenn »die Normalpolitik sich nicht zu einem ausgeglichenen Haus­ halt entschließen kann«, sei noch nicht alle Hoffnung verloren, denn man könne sie immer noch außer Kraft setzen durch die Formulierung einer höheren Regel, die sie dazu zwingt. Die­ se Verfassungsstrategie war als Metapolitik konzipiert, als ent­ politisierender Eingriff in den Entstehungsprozess politischer Entscheidungen. Anzumerken ist, dass die Formulierungen Buchanans, unter PR-Gesichtspunkten, vorsichtiger sind als die von Hayek: Was es zu begrenzen gelte, betonte Buchanan vor den Mitgliedern der Mont-Pèlerin-Gesellschaft, die sich 1981 im malerischen Badeort Vina del Mar in Chile versammelt hatten, sei keines­ wegs »die Demokratie«, bloß »die Regierung« - man beachte die Nuance.18 »Wenn Wahlen etwas ändern könnten«, sagt der Witzbold, »wären sie längst verboten.« Und wenn man, ergän­ zend dazu, im Vorhinein sicherstellt, dass sie nichts verändern können, dann spricht nichts dagegen, sie beizubehalten. 310

Kapitel 25: Die Politik entthronen

Hayek wiederum hielt mit der Wahrheit nicht hinter dem Berg: Man werde so, bekannte er, zu einem System der »be­ schränkten Demokratie« gelangen. Inwiefern beschränkt? In­ sofern, stellte er klar, »um Missverständnisse zu vermeiden«, als die Tätigkeit des Gesetzgebers »auf den Erlaß allgemeiner, abstrakter Verhaltensregeln beschränkt« sein sollte.19Allgemein und abstrakt, das ist diese Klarstellung auch. Aber was, genau und konkret, soll das heißen? Scheinbar betrifft die Begrenzung gar nicht den Inhalt poten­ tieller Gesetze, sondern nur ihre Form: Ein Parlament kann nur noch allgemeine Gesetze erlassen, die fur alle gleichermaßen gel­ ten, aber keine besonderen Maßnahmen mehr, die einzelne Ge­ sellschaftsgruppen im Speziellen betreffen. Allerdings ist, ohne hier Details des Hayekschen Verfassungsmodells zu diskutieren, der angestrebte Effekt sehr viel substantieller: »Eine Verfassung wie die hier vorgeschlagene würde natürlich alle sozialistischen Maßnahmen für eine Umverteilung unmöglich machen.«20 Doch so weit braucht man gar nicht zu gehen, bereits »jeder Eingriff in den Markt, um die Einkommensverteilung zu korri­ gieren, wird unmöglich«.21 Es dauert also nicht lange, und hin­ ter dem juristischen Formalismus tritt der wahre soziale Inhalt der Beschränkung zutage. Was befindet sich innerhalb der Ver­ botszone? Das Schild verkündet es in großen Lettern: Kraft un­ serer neuen Verfassung ist jede Umverteilung der Reichtümer untersagt, es ist absolut verboten, die »spontane« Ordnung so­ zialer Ungleichheiten anzutasten. Ein Schlüssel der entsprechenden Verfassungsstrategie war das Spiel mit den Machtebenen: Es ging um die Aufteilung, letztlich das Zerreißen und Auseinanderbrechen der klassi­ schen Territorialhoheit. Während die Verfassungshürde nach oben, auf Bundesinstanzen verlagert werden sollte, würde ein erheblicher Teil ehemals staatlicher Aufgaben dezentralisiert und untergeordneten Ebenen übertragen. »Die meisten Dienst­ leistungsaktivitäten der Regierung könnten [...] vorteilhaf311

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terweise an regionale oder lokale Behörden delegiert werden, deren Zwangsgewalt vollkommen durch die Regeln beschränkt ist, die von einer höheren legislativen Autorität fixiert worden sind.«“ Diese beiden Bewegungen sind komplementär: Sie ent­ sprechen den beiden gegenläufigen Vektoren einer doppelten Devolutionsstrategie, die die alte Form staatlicher Souveränität in die Zange nimmt, um sie durch andere Vorrichtungen einer »Gouvernabilisierung« öffentlicher Politik zu ersetzen. Der Pro­ zess der europäischen Einigung liefert ein Paradebeispiel zur ge­ naueren Untersuchung dieser Strategie. Schon 1939 konzipierte Hayek den Aufbau eines föderativen Systems und präsentierte es als Königsweg zur »Einschränkung der Macht und des Tätig­ keitsfeldes der Regierung« durch wirtschaftliche Konstitutionalisierung der Politik auf supranationaler Ebene.23 Diese Pläne zur konstitutionellen Beschränkung eröffneten zwar verlockende Aussichten auf eine Entmachtung demokra­ tischer Politik, aber es blieb dennoch ein praktisches Problem zu lösen. Wie sollte man dem Regulator Grenzen setzen? Wie den Leviathan in Ketten legen? Das war, laut Buchanan, »die Grundsatzfrage unserer Zeit«.24 Vom gottgesandten Diktator einmal abgesehen, wie sollte man der Demokratie Ketten anlegen, außer mit vorgehaltener Pistole? Konnte man ernsthaft darauf hoffen, dass die »unbeschränkte Demokratie« sich selbst beschränkt, zumal man ihr doch seit Jahrzehnten vorwarf, dazu strukturell außerstande zu sein? Rätsel über Rätsel. Den Public-Choice-Analysen zufolge galten politische Pro­ gramme, die öffendiche Ausgaben vorsahen, als tendenziell »ef­ fizienter als Koalitionen zugunsten von Steuersenkungen«.11 Der Ökonom Allan Meitzer gab sich dennoch zuversichtlich: »Es liegt nichts Unvermeidliches in diesem Prozess. Es wäre ab­ solut möglich, das Wachstum der Regierung durch eine kon­ stitutionelle Beschränkung zu beenden.«26Allerdings wurde die Schwierigkeit dadurch nicht geringer, denn wenn die Dynamik der Wahlen eine Sparpolitik strukturell benachteiligte, dann 312

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galt dies erst recht fiir ihre Verankerung in der Verfassung. Man musste also tricksen. »Konservative, die den Demokratiebetrieb nicht mögen, aber heutzutage auch nicht bereit sind, ihrer Logik bis zur faschisti­ schen Konsequenz zu folgen«, erkannte Paul Samuelson 1980, »befürworten eine konstitutionelle Beschränkung der Steuer­ pflicht als Form eines obligatorischen Kapitalismus«.27»Um sich mit dieser neuen Theorie anzufreunden, muss man nicht erst den Äquator überschreiten. [...] Wenn man der Demokratie nicht trauen kann, braucht man nur ein für alle Mal in die Verfassung zu schreiben, dass der Kapitalismus das Gesetz des Landes sein soll.«28 Samuelson bezog sich auf eine Gesetzesinitiative in Mas­ sachusetts, die 1980 per Volksbegehren durchsetzen wollte, den Höchstsatz für Kommunalsteuern auf 2,5% des Einkommens der Steuerzahler zu begrenzen.29 Diese neue Wahltaktik bestand darin, sich auf die latente Steuerrevolte der Mittelschichten zu stützen, sie zu schüren und zu instrumentalisieren, um verbind­ liche Normen zur Begrenzung öffentlicher Ausgaben einzufüh­ ren. Im konservativen Lager kam die Überlegung auf, dass wenn politische Koalitionen zum Erhalt des Sozialstaates tendenziell stärker sind als solche, die der Masse seiner Nutznießer verspre­ chen, ihnen ihre Leistungen zu streichen, man umgekehrt darauf hoffen durfte, wenn man die Dinge ein wenig aufhübschte, dass Programme, die den Mittelschichten versprachen, ihre Steuern zu senken, die Basis fiir neue Allianzen abgeben konnten, die ge­ eignet wären, die gegnerische Position zu schlagen. Zur gleichen Zeit wurde eine große ideologische Offensive rund um das Thema »ausgeglichener Haushalt« und »Defizit­ bekämpfung« gestartet. Die Ursache aller unserer Übel, konnte man 1977 in Democracy in Deficit von Buchanan und Wagner lesen, sei »die keynesianische Zerstörung der Haushaltsbilanz«.30 Der Staat sei aufgebläht, die Schulden schwindelerregend, der öffentliche Sektor »buchstäblich außer Kontrolle«.31 »Da man die Haushalte nicht länger orientierungslos auf dem Meer de313

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mokratischer Politik dahintreiben lassen kann«, müsse man als »externes, >oberstes< Gebot«,31 als restriktive und »unantastbare Verfassungsnorm« den Haushaltsausgleich einfuhren. So lautete der offizielle Gesang. Doch im kleinen Kreis träl­ lerte man unter Neoliberalen ein anderes Lied. 1982, auf einer Konferenz der Federal Reserve Bank von Atlanta plauderte Milton Friedman aus dem Nähkästchen: »Einen ausgegliche­ nen Haushalt zu haben, ist ja gut und schön, aber nicht um den Preis von Steuererhöhungen. Ich hätte lieber 400 Milli­ arden Dollar Bundesausgaben bei einem Defizit von 100 Mil­ liarden als 700 Milliarden Ausgaben bei perfekter Haushalts­ bilanz.«33 Im Gegensatz zu dem, was man uns weismachen will, ist Gleichgewicht also kein Selbstzweck. Das vorrangige Ziel ist die Reduzierung des Staatshaushalts. Aber warum dann ein sol­ ches Tamtam, wenn das Ziel ein anderes ist? »Ein ausgegliche­ ner Haushalt ist zwar wichtig«, fuhr Friedman fort, »aber vor allem aus politischen, nicht aus wirtschaftlichen Gründen. Man kann dann nämlich behaupten, dass wenn der Kongress höhere Ausgaben beschließt, er auch für Steuererhöhungen stimmen muss«34 —wovor die Parlamentarier, die ihre Wähler behalten wollten, zurückschrecken würden. Es ging also darum, die Ausgaben einzudämmen. Aber was verbarg sich wiederum hinter diesem Ziel? Hinter dem Problem der Staatsausgaben entzifferte Friedman noch weitere: das des »Steuerwesens, insbesondere die Zeitbombe der Sozial- und Krankenversicherungsprogramme«, und dahinter vor allem »die versteckten Steuern in Form obligatorischer Ausgaben für Pri­ vatunternehmen«.35 Das war des Pudels Kern: Die ganze Sorge um die »Überlastung« des Staatshaushaltes galt in Wirklichkeit der »Überlastung« des Kapitals, jenes andere Kamel, das unter der Last der Steuern und Sozialabgaben unweigerlich zusam­ menbrechen wird.36 Doch Friedman ging noch weiter. Wenn man es genau be­ trachte, befand er, sei das viel geschmähte Haushaltsdefizit gar 314

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keine Katastrophe, sondern ein Segen, eine wunderbare Chan­ ce für sein Lager: »Das Defizit war die einzige wirksame Bremse für die Ausgabenfreude des Kongresses. Wir würden allerdings einen Verfassungszusatz, der den Haushaltsausgleich und die Ausgabenbegrenzung vorschreibt, bei weitem vorziehen. Auf das Defizit zu verweisen, um die Ausgaben zu kontrollieren, ist eine Notlösung - aber immer noch besser als nichts.«37 In Er­ mangelung einer verfassungsmäßig festgeschriebenen Schul­ denbremse (der Idealfall) konnte auch eine Politik der leeren Kassen, bei gleichzeitiger ideologischer Beschwörung des Schul­ dengespenstes, ihren Zweck erfüllen.38 Doch es zeichnete sich bereits ein neues Wirtschaftsphäno­ men ab, das weitergehende Perspektiven eröffhete. Um der sich verschärfenden Krise der öffentlichen Finanzen Herr zu werden, notierte ein Politologe Ende der 1970er Jahre, »setzen die Re­ gierungen vermehrt auf die Finanzierung durch private Märk­ te«.39 Nun müsse man jedoch verstehen, dass diese »Abhängig­ keit der Regierungen von privaten Finanzmärkten [...] einen zusätzlichen Druck zugunsten einer konservativen und kapitalfreundlichen Wirtschaftspolitik erzeugt. Es wird schwieriger, egalitäre Strategien der Einkommensverteilung zu verfolgen.«40 Man hatte es hier mit einer weiteren Form der Beschränkung staatlicher Politik zu tun, die zweifellos wirksamer war als alle bisher erwähnten. Sie war weder über das Militär noch über die Verfassung, weder über die Wähler noch über die Ideologie, sondern in einem technischen Sinne über eine öffentliche Ent­ scheidungsinstanz vermittelt, die im Begriff stand, finanziell ab­ hängig zu werden von einer Bewertung ihrer Politik durch den Markt der Staatsanleihen. Die Norm stellte sich anders dar. Sie verfügte über andere Akteure, diskretere und sicherlich auch vi­ talere als irgendwelche ordensbehängten Senioren. Die Diktatur der Märkte war derjenigen der Generäle überlegen. »Es ist verblüffend«, stellte Bernard Manin kaum zehn Jahre nach Erscheinen des Berichts der Trilateralen Kommission fest, 315

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»dass das Thema der Regierbarkeit der Demokratien aus dem geistigen Fokus verschwunden ist. Es ist nicht mehr die Rede davon, niemand interessiert sich mehr für dieses Problem.«41 Warum? »Man hat gewissermaßen eine Lösung gefunden.«41 Im Zentrum der monetaristischen Regulierungen angesiedelt, »stellt der Markt [...] ein sehr wirksames Prinzip der Macht­ begrenzung dar, weil er eine Regulierungsinstanz bildet, die sich dem Zugriff der verschiedenen Akteure entzieht«. Das war »die globale Lösung fur die Regierbarkeitskrise: die Marktregel«.4’ Eine der wichtigsten Innovationen des Neoliberalismus, er­ läuterte Manin, war die Auffassung des Marktes als politische Technologie: Nicht mehr nur »als das, was eine optimale Res­ sourcenallokation« in der vermeintlich autonomen Sphäre der Ökonomie bewerkstelligt, sondern als »politisches Prinzip, als Ordnungs- und Regierbarkeitsprinzip«.44 Der Markt wurde von dem, woraus sich die Politik gefälligst heraushalten sollte, zu etwas, dem die Politik sich fortan zu unterwerfen hatte. In Be­ zug auf die Regierungspolitik wandelte sich also der Status des Marktes von dem eines Grenzobjekts zu dem eines ihr Handeln begrenzenden Subjekts. Die Lösung bestand letztlich darin, auf die staatlichen Ma­ nager etwas Ähnliches anzuwenden wie die katallarchische For­ mel, die man bereits entdeckt hatte, um sich der Loyalität der Unternehmensmanager zu versichern: eine Agenturbeziehung, abgesegnet durch die Märkte, die nicht nur ohne Rast und Ruh ihre spekulative Funktion erfüllen, sondern nebenbei, und ohne dass ihre Agenten es wollen müssen, auch noch eine Aufsichts­ funktion wahrnehmen. Die Finanzmärkte also als Organe, um die Regierungsfahigkeit der Regierungen herzustellen. Nur dass die berühmte »Regierbarkeitskrise der Demokratie« zwei Seiten aufwies und nicht nur eine. Neben der zu großen Empfänglichkeit dieser Politikform für »soziale Erwartungen« waren da noch diese Erwartungen selbst, die zu starke Mobili­ sierung, die zu große Politisierung der Gesellschaft, der »Auf316

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schwung der Demokratie«, der Huntington so sehr beunruhig­ te. Neben dem Problem der Regierungsdemokratie also das der Bewegungsdemokratie. Während die neoliberalen Blockadetaktiken darauf abziel­ ten, ersteres durch eine mehrdimensionale Begrenzung des staatlichen Entscheidungsspielraums zu lösen, blieb letzteres in vollem Umfang bestehen. Um die soziale Kampfbereitschaft zurückzudrängen, glaubte man, bei dem ihr zugrundeliegen­ den Kräfteverhältnis ansetzen zu müssen, doch das hätte be­ deutet, den Konflikt zu suchen, auf die Gefahr hin, das Min­ destmaß an Zustimmung zu verlieren, von dem diese Art von Regime trotz allem immer noch abhängt. Das Problem sei, be­ dauerte Brittan, dass »die liberale Demokratie die Regierungen hindert, die Druck ausübenden Gruppen [sprich die sozialen Bewegungen] zu bekämpfen, entweder durch Verzicht auf eine Vollbeschäftigungspolitik oder durch wirksame Einschränkung der monopolistischen Macht der Gewerkschaften oder durch Einführung einer »Lohnpolitik«.45 Rose, der ebenfalls eine gan­ ze Reihe offensiver Maßnahmen, darunter die Privatisierung weiter Bereiche des öffentlichen Sektors, in Betracht zog, äu­ ßerte sich skeptisch hinsichtlich der Erfolgsaussichten einer sol­ chen Strategie, so stark seien die Widerstände. »Letztlich«, wag­ te er sich vor, »würde nur eine Maßnahme wie die Abschaffung freier Wahlen den Erwartungsdruck auf die Regierung nachhal­ tig und unmittelbar verringern.«46 Sodass der zur Vordertür hi­ nausgeworfene Gedanke an eine Diktatur durch die Hintertür zurückkehrte. Der Kapitän wird gerade gefesselt, aber die Sirenen sind im­ mer noch da. Kann sein, dass sie es eines Tages leid sind, sich die Lunge aus dem Leib zu singen, und beginnen, das Schiff zu entern. Um das Feld zu räumen, könnte man sie harpunieren, aber die Schiffsordnung untersagt, das mit voller Kraft zu tun und außerdem, wenn man sich darauf einlässt, muss man damit rechnen, dass sie Zurückschlagen. 317

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1977 veröffentlichte die OECD den McCracken-Bericht über Inflation und nachlassendes Wirtschaftswachstum.47 Die noch vom herrschenden Keynesianismus geprägten Empfehlungen der Expertengruppe blieben eklektisch, aber manche Passagen erregten dennoch die Aufmerksamkeit der Kritiker, einige Sei­ ten, auf denen die Ökonomen sich, noch zaghaft, für Währungs­ disziplin, Reduzierung der Staatsausgaben und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes aussprachen. Diese Neuorientierungen wur­ den von manchen als Vorzeichen einer möglichen Trendwende interpretiert, als Ankündigung eines Übergangs der herrschen­ den Wirtschaftspolitik zum aufkommenden Neoliberalismus. In seiner bissigen Besprechung des Berichts fragte sich der Politologe Robert Keohane nach der politischen Machbarkeit des ökonomischen Projekts, das er darin vermutete. Die McCracken-Kommission, fasste er zusammen, empfehle den Regie­ rungen, »ihre Wirtschaften zu größerer Disziplin anzuhalten und gleichzeitig der Versuchung zu widerstehen, ihren Bürgern durch Staatsausgaben im großen Stil kurzfristige Vorteile zu ver­ schaffen«.4* Diese Position, kommentierte er, ist weder die des Minimalstaates der Laisser-faire-Liberalen noch die des Wohl­ fahrtsstaates der Keynesianer, sondern eine Zwischenform, ein »Disziplinarstaat«, der seine Rolle als Regulator der Wirtschaft beibehält, während er gleichzeitig an der Sozialpolitik einspart.49 Die Verfasser des Berichts hätten den in seinen Augen nai­ ven Glauben, dass solche »demokratischen Disziplinarstaaten in der Lage sein werden, ihre Bürger davon zu überzeugen, härtere wirtschaftliche Einschnitte mit geringeren Sozialleistungen zu akzeptieren«50und dabei eine »substantielle Legitimität in ihren Gesellschaften« zu bewahren.5' Er würde das stark bezweifeln. Während die OECD-Experten nicht den Anschein erweckten, als würden sie erkennen, wo das Problem liegt, wäre es anderen nicht entgangen. Die »Radikalen«, berichtete Keohane, denen man seit der Nachkriegszeit die Wunderwerke »des zeitgenössi­ schen Wohlfahrtsstaates [...] als Widerlegung der marxistischen 318

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Theorien über die Krise des Kapitalismus« entgegengehalten habe, zögen aus seinem aktuellen Niedergang die entsprechen­ den Schlussfolgerungen: »Wenn diejenigen, die an den Schalt­ hebeln der Wirtschaft sitzen, ihr Engagement zugunsten von Vollbeschäftigung und Preisstabilität korrigieren müssten, ge­ riete damit eine der wesentlichen Rechtfertigungen des Kapita­ lismus (aus Sicht der Arbeiterklasse) ins Wanken. Wer könnte den Arbeitern dann einen Vorwurf machen, wenn sie sich da­ für entschieden, ihr Bekenntnis zu politischen und ökonomi­ schen Arrangements, die ihre Erwartungen enttäuscht haben, zu überdenken?«51 Was sich hier schemenhaft abzeichnete, war, wie ich vermute, eine Neuauflage der Regierbarkeitskrise - selbst wenn Keohane den Begriff nicht verwendete -, die Übertragung des Motivs auf ein neues, im Entstehen begriffenes politisch-ökonomisch­ es System. Bis dahin hatte diese Krise nur die Wohlfahrtsdemo­ kratie betroffen. Es sei, hieß es, die unheilvolle Kombination aus Keynesianismus und Repräsentativdemokratie gewesen, die staatliche Politik undurchführbar gemacht hätte. Doch wie wür­ de es um die Aufrechterhaltung der Letzteren ohne den Ersteren bestellt sein? Wenn der Wohlfahrtsstaat letzdich trotz seiner gu­ ten Werke in eine schwere Legitimitätskrise geraten sei, was wer­ de dann erst passieren, wenn man den Hahn zudrehe? Die Frage lautete also: Ist eine postkeynesianische Demokratie möglich? Wenn es »strukturelle Bedingungen von Unregierbarkeit«53 gebe, wie man auf der Linken analysierte, dann reichten sie in Wirklichkeit viel tiefer, als es Neokonservative und Neolibera­ le zugeben wollten: Der Kapitalismus ist von der legitimatorischen Funktion der Sozialausgaben abhängig geworden. Das »peinliche Geheimnis«, der Widerspruch des Kapitalismus, ist, dass er »weder m it dem Sozialstaat koexistieren noch ohne ihn fortbestehen kannKonsens über die Notwen­ digkeit höherer Profite< anschließen würden.« Ergo »ist es wenig wahrscheinlich, dass diese Staaten in der gesamten OECD-Zone auf demokratische Weise entstehen werden«.s6 Also zurück auf Start. Es ist verblüffend zu sehen, wie sehr diese noch ungewisse Übergangsphase zum Neoliberalismus vom Gespenst der Dik­ tatur beherrscht wurde. Und doch sollten die 1980er Jahre, wenigstens auf dem Pa­ pier, zu dem eines großen Triumphzugs der »Demokratie« wer­ den. Im April 1981 zeichnete Norman Podhoretz in der Har­ vard Business Review einen Artikel über »die neuen Verteidiger des Kapitalismus«. Geschäftsleute täten gut daran, empfahl er 320

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seinen Lesern, sich mehr für das geistige Leben zu interessie­ ren und »die Ideen ernst zu nehmen«, denn sie seien von gro­ ßer politischer Bedeutung. Nun würden sich, verkündete der neokonservative Denker, »erste Anzeichen einer Veränderung der traditionell ablehnenden Haltung gegenüber dem Kapita­ lismus im Intellektuellenmilieu bemerkbar machen«57- vor al­ lem in Frankreich, wo es, so wusste er zu berichten, »neue Phi­ losophen« gebe, die »plötzlich mit dem Marxismus gebrochen« hätten.58 Diese neue Wertschätzung der »Vorzüge des Kapitalis­ mus« habe inzwischen zahlreiche Intellektuelle dazu gebracht, den politischen Hauptwiderspruch als den zwischen »Demokra­ tie« und »Totalitarismus« wahrzunehmen.59 Offenbar war sein neokonservativer Kollege Daniel Bell nicht gerade glücklich darüber, solche Zeilen zu lesen und fühlte sich bemüßigt, mit einem Leserbrief zu reagieren: Podhoretz be­ haupte, dass »der Kapitalismus [...] Freiheit und Demokratie begünstigt. Trifft das zu?« Nicht unbedingt: »Wenige ernst zu nehmende politische Philosophen verwechseln >Freiheit< mit >DemokratieVolkes< definiert, das sich seine vom Staat konfiszierten >Rechte< zurückholt.«61 Während somit das Wort »Demokratie« die neue Bedeutung eines liberalen Individualis­ mus im Gegensatz zum staatlichen Kollektivismus erhielt, wur­ de der entsprechende demos in einem neotraditionalistischen Sinne als ethnos definiert oder neu gedacht, dessen Identität be­ droht sei durch die »permissive Gesellschaft« - ein anderer Na­ me für die seinerzeit in vollem Gange befindliche soziale, eth­ nische, sexuelle und generationelle Emanzipation. Innerhalb der eigentümlichen Ideologie dieses liberalkonservativen Po­ pulismus bildeten individualistische und autoritäre, unterneh­ merische und traditionalistische Elemente eine unauflösliche Einheit. Bei seinem Eintritt in die Politik nahm der wirtschaft­ liche Neoliberalismus somit eine Art nationaldemokratisches Aussehen an, ergänzt um sexistische, homophobe und rassisti­ sche Züge. 322

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In dieser sich langsam entfaltenden widersprüchlichen Einheit liegt zweifellos einer der Hauptgründe für die aktuellen politischen Leiden der westlichen Liberaldemokratien. Als Andrew Gamble 1979 das Programm des Thatcheris­ mus zu charakterisieren versuchte, brachte er es auf die For­ mel: »Freie Wirtschaft und starker Staat«.62 Er stieß damit quasi wortwörtlich auf den Titel der Carl Schmitt sehen Rede. Der autoritäre Liberalismus kennt zahlreiche Ausprägungen. Aber, wohlgemerkt, verschiedene Ausprägungen. Es handelte sich nicht, wie Stuart Hall warnte, um die Rückkehr des »Fa­ schismus« auf die politische Bühne, nicht um das »Erwachen vertrauter Gespenster und Phantome« der Linken, sondern um den Anbruch von etwas Neuem, das es in seiner Besonderheit wahrzunehmen galt. Man musste also dem Reflex einer Fehl­ identifikation widerstehen. »Was wir zu erklären haben«, stellte er klar, »ist eine Verschiebung in Richtung eines »autoritären Populismus< - eine Sonderform des kapitalistischen Staates - , der im Gegensatz zum klassischen Faschismus einen Großteil (aber nicht die Gesamtheit) der formalrepräsentativen Institutionen intakt gelassen und es zugleich verstanden hat, innerhalb der Bevölkerung eine aktive Zustimmung fur sich zu erzeugen.«63 Der Thatcherismus präsentierte sich als eigentümlich synkretistische Ideologie, als die einer »neuen Rechten«, die »sich abwechselnd libertär und autoritär, populistisch und elitistisch geben« konnte.64 Das lag, abgesehen von offenkundigen Wider­ sprüchen, daran, dass sie eine Synthese aus »traditionell libera­ ler Verteidigung der freien Wirtschaft und traditionell konser­ vativer Verteidigung der Staatsgewalt« vollzog.65 Und dass sie, über das ideologische Moment hinaus, eine Strategie war, eine Strategie zur Umstrukturierung des Staates, der dazu auserse­ hen war, sich aus bestimmten Bereichen nahezu vollständig zu­ rückzuziehen, um im Gegenzug andere massiv zu besetzen, der interventionistisch und nichtinterventionistisch, zentralisiert und dezentral zugleich sein sollte. Doch diese scheinbar wider323

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sprüchlichen Dynamiken hingen eng zusammen. Denn wenn der Staat erstarken sollte, dann um besser demontiert werden zu können: »Hartes und entschlossenes Handeln ist notwen­ dig, um Ausgabenprogramme zu kürzen, die Steuern zu senken, den öffentlichen Dienst [...] zu privatisieren und interventio­ nistische Regulierungsbehörden abzuschaffen.«66 Nur dass sich hinter »der Abstraktion namens >Ausgaben