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German Pages [376] Year 2017
KÖLNER HISTORISCHE ABHANDLUNGEN Für das Historische Institut herausgegeben von Norbert Finzsch, Sabine von Heusinger, Karl-Joachim Hölkeskamp und Ralph Jessen Band 54
MÄNNLICHKEIT UND MODERNER ANTISEMITISMUS Eine Genealogie des Leo Frank-Case, 1860er–1920er Jahre
von
KRISTOFF KERL
2017 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Foto von Leo Frank (o. J.) © American Jewish Archives in Cincinnati
© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Rebecca Wache, Castrop-Rauxel Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50545-5
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Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 Antisemitismus, Rassismus und Krisenwahrnehmungen angloamerikanischer Männlichkeit im Leo Frank-Case . . . . . 1.1 „And the negro’s testimony was good enough to swear away the life of a Jew“: Zeitgenössische Konstruktionen von ‚Rasse‘ . . . . . . 1.2 Zeitgenössische Perspektiven auf Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Historiographische Auseinandersetzungen mit dem Leo FrankCase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Zum Zusammenhang von der empfundenen Krise angloamerikanischer Männlichkeit und Antisemitismus . . . . . . . . 1.4.1 Weibliche Lohnarbeit und ‚jüdische Kapitalisten‘ . . . . . . . . 1.4.2 Der Niedergang des Agrarian Way of Life und der empfundene Aufstieg einer ‚jüdischen Aristokratie‘ . . . . . . 1.4.3 ‚Juden‘, die Figuration des Carpetbaggers und der KuKlux-Klan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Kapitelfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Krisendiskurse angloamerikanischer Männlichkeit, die Figuration des Carpetbaggers und ‚Juden‘ in der Reconstruction Era . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Figuration des Carpetbaggers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der Carpetbagger in der Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Reconstruction, Carpetbagger und angloamerikanische Männlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Sklaverei, Freiheit und Männlichkeit im Old South . . . . . . 2.3.2 Die ‚Verschwörung‘ der Carpetbagger gegen den Süden . . 2.3.3 Carpetbagger, African Americans und White Supremacy . 2.3.4 Zeitgenössische Subjektkonstruktionen des Carpetbaggers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
2.4 Carpetbagger, ‚Juden‘ und der Jew Carpetbagger im Leo FrankCase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Kapitelfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 „The Rothschilds’ world with its Shylock children are laughing at us American sheep“: Angloamerikanische Männlichkeit und Antisemitismus im Populismus . . . . . . . . . . . 3.1 Die ‚Krise‘ des Agrarsektors und der Aufstieg der Farmers’ Alliance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Historiographische Perspektiven auf Antisemitismus und Geschlechterkonstruktionen im Populismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Der Niedergang der Yeomanry und angloamerikanische Männlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Krisenwahrnehmungen angloamerikanischer Männlichkeit und Vorstellungen einer Verschwörung des „Geldadels“ . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Die ‚Krise‘ der Yeomanry und Antisemitismus . . . . . . . . . . . . 3.4.2 ‚Juden‘ und die Unterwerfung des Südens . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Antisemitische Gewalt in ländlichen Regionen des Südens . . . . . 3.6 Antisemitische Elemente populistischer Weltsichten im Leo Frank-Case . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Kapitelfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Industrialisierung, Urbanisierung, angloamerikanische Männlichkeit und Antisemitismus von den 1880er bis in die 1910er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Urbanisierung und Industrialisierung im US-Süden . . . . . . . . . . . . . 4.2 Historiographische Arbeiten zur Industrialisierung und Urbanisierung des Südens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Industrialisierung, weibliche Lohnarbeit und angloamerikanische Männlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Urbane Räume und angloamerikanische Männlichkeit . . . . . . . . . . 4.5 Angloamerikanische Männlichkeit und Antisemitismus . . . . . . . . 4.5.1 Angloamerikanische Weiblichkeit und Konstruktionen ‚jüdischer‘ Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Alkohol, Prohibition und Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Weibliche Lohnarbeit, angloamerikanische Männlichkeit, Sexualität und ‚jüdische Kapitalisten‘ im Leo Frank-Case . . . . . . . . 4.7 Kapitelfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
5 Männlichkeit und Antisemitismus bei den Knights of the Ku Klux Klan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Der Leo Frank-Case und die Neugründung der Knights of the Ku Klux Klan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Aufstieg und Niedergang des Ku-Klux-Klan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Die Knights of the Ku Klux Klan in der Historiographie . . . . . . . . . 5.4 Krisenwahrnehmungen angloamerikanisch-protestantischer Männlichkeit im Ku-Klux-Klan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Der Aufstieg eines modernen Antisemitismus: Kontinuitäten und Modifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1 ‚Juden‘ als Gefahr für die republikanische Ordnung . . . . . 5.5.2 Angloamerikanische Weiblichkeit und die Idee des Jewish Hollywood . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Kapitelfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Archive und Datenbanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Nicht veröffentlichte Archivmaterialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Veröffentlichte Archivmaterialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Veröffentlichte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Zeitungs- und Zeitschriftenartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Danksagung
Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner im Juli 2015 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommenen Dissertation „To Restore Home Rule“: Männlichkeit und Antisemitismus im US-Süden zwischen den 1860er und 1920er Jahren. Die Forschung zu diesem Projekt wurde maßgeblich durch ein Stipendium des DAAD gefördert, das mir einen mehrmonatigen Archivaufenthalt in den USA ermöglicht hat. In dieser Zeit konnte ich zahlreiche Archive und Bibliotheken besuchen und so eine große Anzahl an Quellenbeständen sichten. Auch den dortigen Mitarbeiter_innen bin ich zu großem Dank verpflichtet. Die Drucklegung des Manuskripts wurde von der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaft mit einem großzügigen Zuschuss gefördert. Dorothee Rheker-Wunsch und Julia Roßberg vom Böhlau Verlag haben mit ihrer Erfahrung, ihren Anmerkungen, Ratschlägen und Korrekturen dazu beigetragen, das Manuskript in Buchform zu bringen. Ohne die Anglo-Amerikanische Abteilung des Historischen Instituts an der Universität zu Köln wäre die Arbeit in dieser Form kaum entstanden. Sowohl in den von Norbert Finzsch als auch den von Olaf Stieglitz geleiteten Seminaren wurde mein zwischenzeitlich verschüttetes Interesse an Geschichte wiederbelebt und eine Begeisterung für kritische Geschlechtergeschichte in mir geweckt. Im Verlauf meines Dissertationsprojektes konnte ich von den mannigfaltigen Anregungen und der Hilfsbereitschaft der beiden ungemein profitieren. Der stetige Austausch mit ihnen hat meinem Denken immer wieder neue Impulse verliehen und mir dabei geholfen, einige historiographische Klippen zu umschiffen. Auch andere Historiker_innen aus der Anglo-Amerikanischen Abteilung und deren Umfeld waren für die Durchführung des Projekts von immenser Bedeutung. Pablo Dominguez, Muriel González, Vanessa Höse, Teresa Huhle, Jens Jäger, Katharina Kloock, Helena Körner, Christiane König, Gudrun Löhrer, Nina Mirza, Dominik Ohrem, Massimo Perinelli, Björn Schmidt und Myron Tsakas danke ich sowohl für kritische inhaltliche Diskussionen und Gespräche als auch für die ein oder andere geistige Lockerungsübung außerakademischer Natur. Auch zahlreiche andere Menschen waren für das Gelingen meiner Dissertation von großer Bedeutung. An erster Stelle sei hier mein Vater, Wolf-Dieter Kerl, erwähnt, der mir auf unterschiedliche Art und Weise in schwierigen Zeiten
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Danksagung
zur Seite gestanden und sich zudem als ein äußerst geduldiger und aufmerksamer Korrekturleser hervorgetan hat. Meine Geschwister, Katharina Kerl-Kessler und Kornelius Kerl, haben mich in der Zeit der Dissertation auf vielfältige Weise unterstützt und die eine oder andere Laune geduldig über sich ergehen lassen. Dieter Stubbemann hat das gesamte Manuskript Korrektur gelesen und mir damit die eine oder andere Unannehmlichkeit erspart. Mit Thomas Paul Konzett und Sofie Steinberger habe ich viele schöne Stunden verbracht, die auch in stressigen Zeiten voll heiterer Momente waren. Gewidmet ist das Buch meiner Mutter Renate Kerl-Haevke. Köln, Oktober 2016
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Einleitung
1986 erschien in der Juniausgabe der Instauration, einer von Wilmot Robertson herausgegebenen und bis ins Jahr 2000 existierenden führenden Monatszeitschrift der radikalen US-Rechten, ein Artikel mit dem Titel „Pardoning the Unpardonable“.1 Darin wurde das 20. Jahrhundert als ein Zeitraum entworfen, der von einem Kampf zwischen zwei ‚Rassen‘, zwischen ‚Juden‘ und Angloamerikanern, durchzogen sei.2 Auf Grund ihrer vermeintlichen Kontrolle über Printmedien und die Kulturindustrie sowie durch den Einsatz der ihnen zugeschriebenen ökonomischen Potenz sei es ‚Juden‘ gelungen, die öffentliche Meinung zu manipulieren und die Geschicke der USA nach ihren Interessen zu 1
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Wilmot Robertson agierte nach Ansicht des Soziologen Mitch Berbrier als zentraler Vertreter eines intellektuellen White-Supremacy-Diskurses (Mitch Berbrier, „Impression Management for the Thinking Racist: A Case Study of Intellectualization as Stigma in Contemporary White Supremacist Discourse.“ In: The Sociological Quarterly, Jg. 40, Nr. 3 (Sommer 1999), S. 411–433). Ich verwende zwei differierende Schreibweisen zur Bezeichnung jüdischer Menschen, die jeweils auf unterschiedliche Bedeutungsgehalte verweisen. Mit ‚Juden und Jüdinnen‘ werden allgemein jüdische Menschen bezeichnet, z. B. wenn der historische Kontext der jüdischen Immigration dargestellt wird. In Abgrenzung dazu findet in der Arbeit auch die Bezeichnung ‚Juden‘ Verwendung, wenn die Arbeit sich der Rekonstruktion ihres Gegenstandes, den antijüdischen bzw. antisemitischen Diskursen, zuwendet. Die rein männliche Form verweist auf das im zeitgenössischen antisemitischen Diskurs vorherrschende Primat des Männlichen. Einerseits läuft eine solche Sprachpolitik zwar Gefahr, ‚Juden‘ im antisemitischen Diskurs als ausschließlich männlich zu homogenisieren und Jüdinnen somit zum Verschwinden zu bringen, andererseits haben Antisemit_innen in ihrem Weltbild ‚Juden‘ fast ausschließlich männlich gedacht, so dass eine genderneutrale Sprache dem historischen Gegenstand nicht gerecht würde. Die Verwendung ‚Juden‘ reflektiert somit ein das antisemitische Weltbild strukturierendes Denkmuster, stellt insofern einen Quellenbegriff dar und erscheint aus diesem Grunde deutlich besser dazu geeignet, die Geschlechterdimensionen des Antisemitismus nachzuzeichnen. Eine ähnliche Sprachregelung verfolge ich, wenn es um die Bezeichnung von ‚Katholik_innen‘, ‚Afroamerikaner_innen‘ oder ‚Italoamerikaner_innen‘ geht. Wenn zeitgenössische Diskurse über diese Gruppen nachgezeichnet werden, findet auch hier die rein männliche Bezeichnung Verwendung. Im Gegensatz dazu verweist der Gebrauch der Bezeichnungen ‚Katholik_innen‘, ‚Afroamerikaner_innen‘ oder ‚Italoamerikaner_innen‘ darauf, dass die Arbeit sich in diesen Momenten nicht der Rekonstruktion zeitgenössischer Diskurse, sondern der Beschreibung historischer Kontexte widmet.Diese theoretisch-sprachliche Differenzierung zwischen der antisemitischen Konstruktion von ‚Juden‘ und ‚Juden und Jüdinnen‘ oder zwischen ‚Afroamerikanern‘ und ‚Afroamerikaner_innen‘ ist in der historiographischen Praxis nicht immer eindeutig, so dass an einigen Stellen beide Verwendungen möglich wären.
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Einleitung
gestalten. Dabei wurden die an die vermeintliche Macht von ‚Juden‘ gekoppelten Bedrohungen häufig unter einer vergeschlechtlichten Linse wahrgenommen. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts seien die USA unter ‚jüdischem‘ Einfluss von einer Gesellschaft, in der Ehre, Ritterlichkeit und der hiermit verknüpfte Schutz tugendhafter Weiblichkeit als zentrale Werte angesehen worden seien, in eine Nation verwandelt worden, in der „aristokratische hebräische Familien“ den Ton angäben. Unter anderem wurde diesen vorgeworfen, aus ihrer Position die als widernatürlich kategorisierte Gleichstellung von Afroamerikaner_innen mit Angloamerikaner_innen zu betreiben. An die Stelle von „Kavalieren, Mondschein und Magnolien“ sei ein „verderbender und riechender Dunst von Geld und Macht“ getreten.3 Sich gegenüber dieser imaginierten ‚jüdischen‘ Macht ohnmächtig fühlend, verteidigte der Autor Gewalt gegen ‚Juden‘ als legitimes Mittel, um die vermeintliche Aggression abzuwehren.4 Diese hier kurz skizzierte, sich im Original über drei Seiten ergießende Flut antisemitischer Phantasien und Imaginationen evoziert Fragen nach dem Anlass für diese Hassschrift: Was hatte sich im Jahr 1986 ereignet, dass die Instauration derart vor Wut schäumte? Welches Ereignis identifizierte der Verfasser als Anfangspunkt des sich aus seiner Sicht über das 20. Jahrhundert erstreckenden Kampfes zwischen den beiden ‚Rassen‘?5 Nachdem das Georgia State Board of Pardons and Paroles noch im Dezember 1983 ein gemeinsames Gesuch verschiedener jüdischer Organisationen nach posthumer Begnadigung des jüdischen Fabrikleiters Leo Frank abgelehnt hatte, hob das gleiche Gremium nicht einmal drei Jahre später, im März 1986, das gegen Frank verhängte Todesurteil auf. Damit revidierte es eine Entscheidung, die ein Gericht in Atlanta gut 70 Jahre zuvor gegen den des Mordes an einer jungen Arbeiterin namens Mary Phagan angeklagten Leo Frank verhängt hatte und die, nachdem der damalige Gouverneur von Georgia, John M. Slaton, im Jahr 1915 die Todesstrafe in lebenslange Haft umgewandelt hatte, im Lynching des jüdischen Fabrikleiters mündete. Allerdings blieb die Schuldfrage vom Ur3
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[Unbekannt], „Pardoning the Unpardonable.“ In: Instauration, Jg. 11, Nr. 7 ( Juni 1986), S. 7. Aus Gründen der Lesbarkeit sind in der Arbeit englische Zitate, die Bestandteil eines deutschsprachigen Satzes sind, vom Verfasser ins Deutsche übersetzt worden. In seltenen Fällen, in denen eine Übersetzung einen Bedeutungsverlust impliziert hätte, wurden Zitate im Englischen belassen. Vollständige englische Sätze wurden ebenfalls nicht ins Deutsche übersetzt. Ders., S. 6–8. In der Arbeit wird sowohl der Begriff Race wie auch ‚Rasse‘ verwendet. Diese werden keineswegs synonym gebraucht, sondern transportieren vielmehr unterschiedliche Bedeutungsgehalte. Dabei geht die Arbeit mit dem Populationsgenetiker L. Luca Cavalli-Sforza davon aus, dass die Klassifizierung von Menschen in distinkte ‚Rassen‘ unhaltbar ist (L. Luca
Einleitung
teil des Board of Pardons and Paroles unberührt.6 Das Gremium verwies explizit darauf, dass der Entschluss nicht als Freispruch Franks von der Schuld am Tod der jungen Arbeiterin Mary Phagan misszuverstehen sei. Auf der einen Seite begründete die Kommission die Entscheidung mit dem Versäumnis des Staates Georgia, das Leben Franks zu schützen und ihm damit die Möglichkeit zu bewahren, das gefällte Urteil zu widerlegen, auf der anderen mit dem eindeutig politisch motivierten Wunsch, „alte Wunden zu heilen“.7 Sowohl das konzertierte Vorgehen der jüdischen Organisationen als auch die vom Georgia State Board of Pardons and Paroles angestellte Diagnose einer noch ein dreiviertel Jahrhundert nach dem Leo Frank-Case schwelenden Wunde verweisen auf die immense Bedeutung, die das 1913 auf der Basis einer zweifelhaften Beweislage getroffene Todesurteil gegen Frank sowie das sich an-
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Cavalli-Sforza, Paolo Menozzi, Alberto Piazza, The History and Geography of Human Genes. Princeton: Princeton University Press 1994, S. 16–20). Diesen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen versucht das Konzept Race Rechnung zu tragen. Denn obwohl mit CavalliSforza die Vorstellung von der Existenz genetisch bedingter menschlicher ‚Rassen‘ zu negieren ist, entwickelt ein auf biologistischen Vorstellungen gründendes rassistisches Wissen bis in die Gegenwart eine enorme Wirkmacht (Roger Sanjek, „The Enduring Inequalities of Race.“ In: Steven Gregory und Roger Sanjek (Hg.), Race. New Brunswick: Rutgers University Press 1994, S. 1–17). Das heißt, Race ist nicht etwa biologisch determiniert, sondern stellt tendenziell ein leeres Konzept bzw. einen leeren Signifikanten dar (Norbert Finzsch, „‚Picking up the gun‘: Die Black Panther Party zwischen gewaltsamer Revolution und sozialer Reform, 1966–1984.“ In: Amerikastudien, Jg. 44, Nr. 2 (1999), S. 223–254, hier S. 225; ders., „Wissenschaftlicher Rassismus in den Vereinigten Staaten von Amerika – 1850 bis 1930.“ In: Heidrun Kaupen-Haas und Christian Saller (Hg.), Wissenschaftlicher Rassismus: Analysen einer Kontinuität in den Human- und Naturwissenschaften. Frankfurt et al.: Campus Verlag 1999, S. 84–110, hier S. 84 f.). In der vorliegenden Arbeit wird von Race gesprochen, wenn es darum geht, den Konstruktcharakter zu betonen. Im Gegensatz dazu wird ‚Rasse‘ als Quellenbegriff verwendet. Er dient der Beschreibung zeitgenössischer Vorstellungen von ‚Rasse‘ als einer in der Biologie wurzelnden Differenz zwischen Menschen, die gleichzeitig eine Hierarchie zwischen den zu unterschiedlichen ‚Rassen‘ zusammengefassten Menschen begründe. Für eine historiographische Auseinandersetzung mit Antisemitismus, der zumindest in seiner modernen Spielart auf dem Verständnis von Juden und Jüdinnen als einer ‚Rasse‘ aufbaut, erscheint die Verwendung von ‚Rasse‘ insofern als fruchtbar, vielversprechend und auch notwendig, als nur auf diesem Wege das zeitgenössische Wissen über ‚Juden‘ und die ihm zugrundeliegenden ontologischen bzw. anthropologischen Vorstellungen nachgezeichnet werden können. Fay S. Joyce, „Pardon Denied for Leo Frank in 1913 Slaying.“ In: New York Times, 23.12.1983, [keine Seitenangabe]. Leonard Dinnerstein, „The Fate of Leo Frank.“ In: American Heritage, Jg. 47, Nr. 6 (Oktober 1996), S. 7, URL: www.americanheritage.com/content/fate-leo-frank?, letzter Zugriff am 25.11.2014.
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Einleitung
schließende Lynching noch Dekaden später in der US-Gesellschaft einnahmen. Auch die Vielzahl öffentlicher Reaktionen, die die Begnadigung hervorrief, unterstreicht die enorme Wirkmacht der Affäre, die die USA von 1913 bis 1915 in Atem hielt. Dabei fielen die Reaktionen auf die Begnadigung äußerst kontrovers aus. Viele Beobachter_innen begrüßten die Entscheidung als einen Akt der Wiedergutmachung eines Verbrechens, an dessen Wurzel sie einen rabiaten Antisemitismus verorteten. Der Vorsitzende der Atlanta Jewish Federation sprach davon, dass mit der posthumen Aufhebung des Todesurteils ein tragisches Stigma von Georgia und der ganzen Nation entfernt worden sei.8 Anderen Akteuren ging der Entschluss des Komitees nicht weit genug. Die Anti-Defamation League begrüßte zwar die Entscheidung, monierte jedoch zugleich, dass die Entscheidung keine Rehabilitation Franks im rechtlichen Sinne bedeute, also seine Unschuld nicht festgestellt worden sei.9 Andererseits rief die Entscheidung auch kritische Stimmen und Unmut hervor. Die Familie der 1913 ermordeten Mary Phagan tadelte das Urteil wie auch das Vorgehen des Komitees. Mary Phagan Kean, die Großnichte der 1913 ermordeten Arbeiterin, kritisierte in dem nur ein Jahr nach der Begnadigung publizierten Buch The Murder of Little Mary Phagan die Entscheidung des Gremiums. Niemals zuvor habe es einen verurteilten Mörder begnadigt, ohne dass dessen Unschuld zweifelsfrei bewiesen sei. Als Ursache für die von ihr als singulär eingeordnete Entscheidung machte sie einen im Verborgenen wirkenden ‚jüdischen‘ Einfluss aus.10 Noch heftigere Reaktionen löste das Urteil im explizit antisemitischen Lager aus. Exemplarisch hierfür steht die bereits erwähnte Monatszeitschrift Instauration, in der das Urteil über Jahre wieder und wieder in die Hetze gegen ‚Juden‘ sowie auch gegen den Staat Israel integriert wurde.11 8
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David Simpson, „Leo Frank Pardoned 70 Years Later.“ In: Ocala Star-Banner, 12.3.1986, S. 7A; ders., „Leo Frank Pardoned 70 Years Later.“ In: The Gadsden Times, 12.3.1986, S. D 4; ders., „Georgia Pardons Leo Frank 70 Years After His Lynching.“ In: The Free Lance-Star, 12.3.1986, S. 8. Anti-Defamation League, The People v. Leo Frank Teacher’s Guide. URL: www.adl.org/assets/pdf/education-outreach/People-v-Leo-Frank-Teacher-s-Guide-ADL.pdf, letzter Zugriff am 25.11.2014. Mary Phagan Kean, The Murder of Little Mary Phagan. Far Hills: New Horizon Press 1987, S. 201, 316. [Unbekannt], Pardoning, S. 6–8; [unbekannt], [kein Titel]. In: Instauration, Jg. 11, Nr. 10 (September 1986), S. 39; [unbekannt], „TV’s Murderous Murder of Mary Phagan.“ In: Instauration, Jg. 13, Nr. 6 (Mai 1988), S. 8 f.; [unbekannt], [kein Titel]. In: Instauration, Jg. 15, Nr. 7 ( Juni 1990), S. 20; [unbekannt], „Schmaltzy Show.“ In: Instauration, Jg. 24, Nr. 3 (Februar 1999), S. 18.
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Auch wenn die kurz skizzierten Reaktionen auf die Begnadigung Franks unterschiedlicher kaum ausfallen könnten und sich die verschiedenen Beurteilungen diametral gegenüberstanden, hatten sie eins gemein: Sie alle maßen der Entscheidung auch 70 Jahre nach dem Lynching eine große Bedeutung bei und stellten Verknüpfungen zwischen dem Beschluss und dem zeitgenössischen Gesellschaftszustand der USA her. Die Auseinandersetzung um die Deutungshoheit über den Leo Frank-Case manifestierte sich jedoch nicht nur in den Debatten, die als Reaktion auf die Amnestie entbrannten. Auch in den Jahrzehnten vor und nach der Begnadigung versuchten zahlreiche Kommentator_innen Einfluss auf die Interpretation der Affäre zu nehmen. Eine Vielzahl an Schriften und anderen kulturellen Produktionen wie Theaterstücke oder Filme nahm sich des Gegenstands an und lieferte zum Teil stark divergierende Lesarten des historischen Ereignisses.12 Die über Dekaden andauernde Kontroverse verweist auf die immense Wirkmacht, die der Fall innerhalb der Geschichte der USA ausübte. Er ist somit für eine historiographische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Antisemitismus in den Vereinigten Staaten von Amerika von enormer Bedeutung. Aus diesem Grunde widmet sich diese Arbeit, deren Gegenstand die Genese des modernen Antisemitismus in den USA bildet, der Untersuchung des Leo Frank-Case. Allerdings fokussiert die Arbeit nicht bloß die zweijährige Affäre. Vielmehr zielt sie ebenso darauf ab, die Entstehungsbedingungen des Leo Frank-Case auf der einen sowie die Wirkmacht der zweijährigen Affäre auf der anderen Seite mit dem Ziel zu beleuchten, eine Genealogie des modernen Antisemitismus zu liefern, der sich, so eine These der Arbeit, während der zweijährigen Affäre ausbildete. So sollen die sich bereits in den dem Fall vorangehenden Dekaden herauskristallisierenden diskursiven Verknüpfungen von ‚Juden‘ mit bestimmten Diskursfeldern nachgezeichnet werden. Zusätzlich richtet die Arbeit ihren Fokus auf die Effekte und die Strahlkraft des Leo Frank-Case in Bezug auf einen in den anschließen12
Matthew Bernstein, „Oscar Micheaux and Leo Frank: Cinematic Justice Across the Color Line.“ In: Film Quarterly, Jg. 57, Nr. 4 (Sommer 2004), S. 8–21; ders., Screening a Lynching: The Leo Frank Case on Film and Television. Athens et al.: University of Georgia Press 2009; Harry Golden, A Little Girl Is Dead. Cleveland et al.: The World Publishing Company 1965; Jeffrey Melnick, Black-Jewish Relations on Trial: Leo Frank and Jim Conley in the New South. Jackson: University Press of Mississippi 2000, S. 3–29; [unbekannt], „Tireless Agitator.“ In: Instauration, Jg. 1, Nr. 5 (April 1976), S. 9; [unbekannt], „Minority Catfight.“ In: Instauration, Jg. 7, Nr. 7 ( Juni 1982), S. 21; [unbekannt], „Leo Frank Case Revisited.“ In: Instauration, Jg. 7, Nr. 9 (August 1982), S. 18 f.; [unbekannt], „No ‚Posthumous Pardon‘ for B’nai B’rith Killer.“ In: Instauration, Jg. 9, Nr. 7 ( Juni 1984), S. 16; [unbekannt], Murder Casebook. London: Marshall Cavendish Ltd. 1991.
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den Dekaden in den USA an Einfluss gewinnenden modernen Antisemitismus.13 Dabei spürt sie folgenden Fragestellungen nach: Welche Bedeutung kam dem Leo Frank-Case für die Herausbildung eines modernen Antisemitismus in den Vereinigten Staaten von Amerika zu? An welches bereits vor dem Fall in den Südstaaten zirkulierende, judenfeindliche Wissen konnte der Fall anknüpfen? Inwieweit erfuhr dieses Wissen durch die sich über zwei Jahre erstreckende Affäre Modifikationen, Verschiebungen, Verdichtungen oder Zuspitzungen? Welche Effekte hatte der Leo Frank-Case auf die im Anschluss erfolgende Neugründung des Ku-Klux-Klan (KKK) und dessen dezidiert antisemitische Stoßrichtung? Welche Bedeutung kam vergeschlechtlichten Bedrohungswahrnehmungen, die sich wiederholt in den antisemitischen Tiraden der Instauration manifestierten, bei der Herausbildung einer modernen antisemitischen Weltsicht zu? Die zentrale Stellung, die der Leo Frank-Case in der vorliegenden Studie einnimmt, lässt sich nur vor dem Hintergrund der spezifischen historischen Lebensbedingungen von Juden und Jüdinnen beziehungsweise der besonderen und sich signifikant von der Geschichte des Antisemitismus in Europa unterscheidenden Geschichte des Antisemitismus in den Vereinigten Staaten von Amerika verstehen.14
Der Leo Frank-Case im Kontext der Geschichte des Antisemitismus in den USA Der Leo Frank-Case, der mit der Ermordung der jungen Arbeiterin Mary Phagan am Confederate Memorial Day im April 1913 seinen Anfang nahm und gut zwei Jahre später mit dem Lynching des jüdischen Fabrikleiters Leo Frank durch die Knights of Mary Phagan seinen mörderischen Höhepunkt fand, erschütterte die jüdische Community in den USA schwer.15 Als Reaktion auf die Erfahrung eines bis dato in der Geschichte der USA einzigartigen antisemitischen Furors kam es zur Gründung der noch heute aktiven Anti-Defamation League, einer 13 14
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Leonard Dinnerstein, „Anti-Semitism Exposed and Attacked, 1945–1950.“ In: Jeffrey S. Gurock (Hg.), Anti-Semitism in America, Part Two. New York et al.: Routledge 1998, S. 563–594. Albert S. Lindemann, The Jew Accused: Three Antisemitic Affairs (Dreyfus, Beilis, Frank), 1894–1915. Cambridge: Cambridge University Press 1991, S. 195–199; Howard N. Rabinowitz, „Nativism, Bigotry and Anti-Semitism in the South.“ In: Jeffrey S. Gurock (Hg.), Anti-Semitism, Part Two, S. 647–661, hier S. 648. Steven Hertzberg, Strangers within the Gate City: The Jews of Atlanta, 1845–1915. Philadelphia: The Jewish Publication Society of America 1978, S. 213–215.
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jüdischen Organisation, die 1913 mit folgender Intention ins Leben gerufen wurde: „To stop the defamation of the Jewish people and to secure justice and fair treatment to all.“16 Die heftige Reaktion von in den USA lebenden Jüdinnen und Juden auf den Leo Frank-Case resultierte unter anderem aus der im Vergleich zu Europa relativ geringen Dichte und Wirkmacht antijudaistischer beziehungsweise antisemitischer Diskurse.17 Lange Zeit galten die Vereinigten Staaten von Amerika Jüdinnen und Juden als sicherer Zufluchtsort. Die Emigration jüdischer Menschen aus Europa und die damit häufig verbundene Einwanderung in die USA nahmen zwischen den 1820er und den 1920er Jahren derartige Ausmaße an, dass die Historikerin Hasia Diner Migration für diesen Zeitraum als einen der charakteristischsten Aspekte jüdischen Lebens beschrieb. Zwischen 1820 und 1880 wanderten ca. 250.000 Jüdinnen und Juden aus Europa in die USA ein, viele von ihnen kamen aus Gebieten, die ab 1871 das Deutsche Reich bilden sollten. Eine zweite Phase jüdischer Einwanderung ereignete sich um die Jahrhundertwende. In den Dekaden unmittelbar vor dem Leo Frank-Case immigrierten zahlreiche jüdische Menschen, insbesondere aus Osteuropa, in die USA. Zwischen 1881 und 1923 verließen ungefähr 2,5 Millionen osteuropäische Jüdinnen und Juden, ein Drittel der dortigen jüdischen Community, ihre Heimat, um antisemitischen Pogromen zu entfliehen oder einfach um unter besseren Bedingungen als zuvor ihr Leben zu gestalten. 90 Prozent von ihnen überquerten den Atlantik, um sich in den USA niederzulassen.18 Folglich stieg ihre Zahl in den Vereinigten Staaten von Amerika drastisch an. Lebten dort im Jahr 1880 gut 250.000 jüdische Menschen, waren es 1920 bereits um die vier Millionen. Zusätzlich zum rasanten Wachstum der jüdischen Community veränderte sich auch deren Zusammensetzung grundlegend. Während 1880 lediglich ein Sechstel der jü16
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Leonard Dinnerstein, The Leo Frank Case. Athens et al.: The University of Georgia Press 2008, S. 157; Anti-Defamation League, About the Anti-Defamation League. URL: www.adl.org/about-adl/, letzter Zugriff am 29.11.2014. Im deutschen Sprachgebrauch verfügt der Begriff ‚Diskurs‘ über mehrere Bedeutungsebenen. Im Alltagsgebrauch wird er häufig synonym zu ‚Debatte‘ verwendet (Franz X. Eder, „Historische Diskurse und ihre Analyse – eine Einleitung.“ In: ders. (Hg.), Historische Diskursanalysen: Genealogie, Theorie, Anwendungen. Wiesbaden: VS Verlag 2006, S. 9–23, hier S. 10). In der vorliegenden Arbeit werden Diskurse jedoch im Sinne Foucaults verstanden. In Archäologie des Wissens beschreibt er Diskurse als „Praktiken […], die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Michel Foucault, Archäologie des Wissens. Frankfurt: Suhrkamp 2013, S. 74). Hasia Diner, The Jews of the United States, 1654 to 2000. Berkeley et al.: University of California Press 2004, S. 74, 79–81, 88–92.
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dischen Bevölkerung aus Osteuropa stammte, machten sie 40 Jahre später fünf Sechstel dieser Gruppe aus.19 Dies beschreibt eine Situation, die von Ambivalenzen charakterisiert ist. Einerseits wurden die gesellschaftlichen Bedingungen in den USA von in Europa lebenden jüdischen Menschen als dermaßen verheißungsvoll beziehungsweise die Situation in ihren europäischen Herkunftsländern als so bedrohlich und perspektivlos wahrgenommen, dass sie massenhaft die beschwerliche Reise über den Atlantik auf sich nahmen. Andererseits intensivierten und verdichteten sich in dem Land, in dem sie sich eine sichere Zukunft erhofften, antisemitische Diskurse und produzierten ein Wissen über ‚Juden‘, das den Ereignissen zwischen 1913 und 1915 den Boden bereitete und im Anschluss an den Leo Frank-Case mit dem Ku-Klux-Klan die erste Organisation mit einer kohärenten, dezidiert antisemitischen Programmatik hervorbrachte. Der Leo Frank-Case sowie die ihm vorhergehenden und sich ihm anschließenden Jahrzehnte stellen insofern einen für die Entwicklung beziehungsweise die Ausbreitung des modernen Antisemitismus eminent bedeutsamen Zeitraum dar. Die Genese des modernen Antisemitismus in den Südstaaten ist somit nur vor dem Hintergrund der damaligen gesellschaftlichen Zustände und der damit verbundenen zeitgenössischen Weltwahrnehmungen und -erklärungen verständlich. Historiker_innen haben also der Frage nachzuspüren, welche historischen Verhältnisse mit dieser gesteigerten Bedrohungswahrnehmung gegenüber ‚Juden‘ in Verbindung gesetzt wurden. Wieso kam es in dieser Zeit zur Ausbildung einer kohärenten antisemitischen Welterklärung? Für Historiker_innen, die zur Geschichte des Antisemitismus in den Südstaaten forschen, ist dieser Zeitraum somit von herausragender Bedeutung. Unter ihnen herrscht weitgehend Konsens darüber, dass die Ausbreitung antisemitischer Haltungen in einem kausalen Verhältnis zu der fortschreitenden Industrialisierung und Urbanisierung der Südstaaten sowie dem damit verbundenen Niedergang des Southern Way of Life gestanden habe. Insbesondere Arbeiten zum Leo Frank-Case haben diesen Zusammenhang wiederholt betont.20 Dem 19 20
Barbara Lüthi, Invading Bodies: Medizin und Immigration in den USA 1880–1920. Frankfurt et al.: Campus Verlag 2009, S. 203. Dinnerstein, Frank Case, S. 9–11; Hertzberg, Strangers, S. 202 f.; Lindemann, Jew Accused, S. 15, 239; Nancy MacLean, „The Leo Frank Case Reconsidered: Gender and Sexual Politics in the Making of Reactionary Populism.“ In: The Journal of American History, Jg. 78, Nr. 3 (Dezember 1991), S. 917–948, hier S. 919–922; Melnick, Black-Jewish Relations on Trial, S. 19 f., 30; Steve Oney, And the Dead Shall Rise: The Murder of Mary Phagan and the Lynching of Leo M. Frank. New York: Pantheon Books 2003, S. 4–8.
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während der zwei Jahre ebenso wirkenden religiösen Antijudaismus schrieben sie eine nachgeordnete Bedeutung zu.21 Obwohl die bisherige Forschung einen zentralen Aspekt des modifizierten Judenhasses benannt hat, indem sie auf die Verwobenheit des Aufstiegs einer industriell-kapitalistischen Gesellschaftsformation mit der Zunahme judenfeindlicher Einstellungen hinwies, bleiben dennoch wichtige Probleme und Fragestellungen von ihr weitgehend unberührt. Um sich der daraus resultierenden Forschungsdesiderate anzunehmen, müssen Fragen beantwortet werden, die auf die Ursachen und Entstehungsbedingungen einer solchen massiven und dichten Verknüpfung von ‚Juden‘ mit Phänomenen der Industrialisierung und der Urbanisierung während des Leo Frank-Case zielen. Warum konnte während des Leo Frank-Case die Idee, ‚Juden‘ seien für die aus dem industriellen Kapitalismus resultierenden sozialen und kulturellen Verwerfungen verantwortlich zu machen, einer solch breiten Masse an Menschen als Welterklärung dienen? Welche bereits vor dem Fall existierenden antisemitischen Diskursstränge und Versatzstücke wurden in den zwei Jahren aktiviert, befeuert und peu à peu zu einem kohärenten Weltbild zusammengefügt? An welche bereits zuvor vorhandenen Wissensbestände über ‚Juden‘ knüpfte das während der zweijährigen Affäre konstruierte Narrativ einer ‚jüdischen‘ Dominanz über die USA an? Die Beantwortung dieser Fragen, die eine grundlegende 21
Leonard Dinnerstein, Uneasy at Home: Antisemitism and the American Jewish Experience. New York: Columbia University Press 1987, S. 88–91, S. 104–107; ders., Antisemitism in America. New York et al.: Oxford University Press 1994, S. 48 f.; Edward S. Shapiro, „AntiSemitism Mississippi Style.“ In: David A. Gerber (Hg.), Anti-Semitism in American History. Urbana et al.: University of Illinois Press 1986, S. 129–151, hier S. 129 f. Eine Ausnahme bildet in dieser Hinsicht der Historiker Robert Michael. In A Concise History of American Antisemitism beschreibt er Antijudaismus, also eine religiös begründete Judenfeindschaft, als die primäre Antriebskraft des Leo Frank-Case. Ökonomischen, politischen und anderen Ursachen kam nach seiner Darstellung nur eine nachgeordnete Bedeutung zu. Mit dieser Priorisierung zugunsten der religiösen Komponente bietet Michael eine Lesart des Falls an, die sich deutlich von den anderen unterscheidet (Robert Michael, A Concise History of American Antisemitism. Lanham et al.: Rowman & Littlefield 2005, 102–104). Auch wenn antijudaistische Einstellungen im Leo Frank-Case wirkmächtig waren, scheint Michaels Lesart in ihrer Zuspitzung und Akzentuierung wenig plausibel. Wie die Arbeit im Folgenden zeigen wird, standen eindeutig Aspekte der Industrialisierung, Urbanisierung, der weiblichen Lohnarbeit und des Erhalts der White Supremacy im Zentrum der Affäre. Dass die Wahrnehmung dieser Transformationen sich auch über eine religiös eingefärbte Linse vollzog und durchaus auch Versatzstücke eines religiös begründeten Antijudaismus während der antisemitischen Raserei artikuliert wurden, lässt nicht den Schluss zu, den Leo Frank-Case als Resultat eines christlichen Antijudaismus aufzufassen. Auch die Konstruktion einer als pervers kategorisierten jüdischen Sexualität, die in der Beweisführung der Anklage eine Schlüsselfunktion einnahm, verweist auf eine biologisch-rassistische Sichtweise auf Juden.
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Historisierung des Leo Frank-Case und seiner Entstehungsbedingungen bedeuten würde, bleiben die bisherigen historiographischen Arbeiten schuldig oder aber es fehlt ihren Analysen in weiten Teilen an Tiefenschärfe. Leonard Dinnerstein konstatiert, dass seit den 1890er Jahren antisemitische Einstellungen in Atlanta deutlich an Boden gewonnen hätten. ‚Juden‘ seien zunehmend mit sozioökonomischen oder kulturellen Phänomenen sowie mit neuartigen, als bedrohlich wahrgenommenen Formen der Interaktion zwischen unterschiedlichen Subjekttypen verknüpft worden, die sich im urbanisierten und industrialisierten Raum ausgebildet hatten.22 Als eine Quelle dieser Identifizierung von ‚Juden‘ als urban macht Nancy MacLean völlig zu Recht die politische Bewegung des Populismus und die ihr zugrundeliegende Ideologie des Agrarianism aus. So verweist sie auf den Einfluss einer an den „Produzenten orientierten politischen Kultur“ auf die Entwicklung und den Verlauf der zweijährigen antisemitischen Raserei. Allerdings geht die Untersuchung der Bedeutung und Wirkmacht antisemitischer Versatzstücke des Populismus während der Affäre – eventuell auch auf Grund des begrenzten Raumes, den das Format ‚Zeitschriftenartikel‘ bietet – nicht über diese Feststellung hinaus.23 In Ergänzung zu MacLean verweist Jeffrey Melnick auf die bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Südstaaten zirkulierende Konstruktion von ‚Juden‘ als Industrielle, in deren Fabriken die Moral der Arbeiterinnen grundlegend zerstört worden sei.24 Zusätzlich zu dieser unter Südstaatler_innen bereits vor dem Leo Frank-Case kursierenden Verknüpfung von ‚Juden‘ mit Industrialisierung, weiblicher Lohnarbeit und der daran gekoppelten Erosion weiblicher Tugendhaftigkeit erwähnt Melnick unter Bezugnahme auf Steven Hertzberg auch, dass ‚Juden‘ auf Grund des ihnen zugeschriebenen absoluten Strebens nach materiellen Reichtümern und der daraus resultierenden zahlreichen geschäftlichen Kontakte zu Afroamerikaner_innen im Anschluss an den Atlanta Race Riot in Verdacht gerieten, afroamerikanische Menschen zu Widerstand gegen die White Supremacy zu ermutigen.25 Während die Arbeiten somit auf ausgesprochen wichtige zeitgenössische Verknüpfungen von ‚Juden‘ mit als bedrohlich kategorisierten gesellschaftlichen Verhältnissen hinweisen, beleuchten sie nur blitzlichtartig das in den Jahrzehnten zuvor existierende judenfeindliche Wissen, das dem antisemitischen Furor 22 23 24 25
Dinnerstein, Frank Case, S. 70 f. MacLean, „Frank Case Reconsidered“, S. 941 f. Melnick, Black-Jewish Relations, S. 58. Hertzberg, Strangers, S. 161, 186 f.; Melnick, Black-Jewish Relations, S. 55 f.
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den Boden bereitete. Eine ausgiebige und fundierte Untersuchung der judenfeindlichen Diskursstränge für die Jahrzehnte vor dem Leo Frank-Case bleibt in diesen Arbeiten aus. Folgerichtig bleibt die Genese des modernen Antisemitismus als ein historischer Prozess weitgehend im Dunkeln. Die Arbeiten laufen somit tendenziell Gefahr, den Leo Frank-Case seiner historischen Genealogie zu entreißen und dessen Charakter als historisch Gewachsenes durch die Ausblendung seiner Verwobenheit mit ihm Vorgängigen zu negieren. Die gleiche Problematik weist die Forschung auch hinsichtlich der Beleuchtung der Effekte des Leo Frank-Case auf. Der Zusammenhang zwischen der antisemitischen Affäre, der antisemitischen Programmatik des Klans sowie der damit verbundenen Ausbreitung judenfeindlichen Wissens wird häufig nicht ausreichend berücksichtigt. Als Konsequenz gelingt es den Arbeiten nicht in zufriedenstellendem Maße, die Bedeutung des Leo Frank-Case für die rasante Expansion moderner antisemitischer Narrative in den 1920er bis 1940er Jahren herauszuarbeiten. Ursächlich dafür ist das Fehlen einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang zwischen dem Leo Frank-Case und dem zweiten Ku-Klux-Klan. Der Konnex findet zwar in den Arbeiten Erwähnung, wird jedoch in seinen Effekten nicht ausreichend beleuchtet. Zum Standard der bisherigen Werke zum Leo Frank-Case gehört die Feststellung, dass Thomas Watson während der zweijährigen Affäre wiederholt die Reanimierung des Klans propagierte und damit der Neugründung des Geheimbunds den Weg bereiten half.26 Zusätzlich wird in einigen Arbeiten auch auf die Kontinuität im Weltbild hingewiesen, das sowohl vom Anti-Frank-Lager wie auch von den Knights of the Ku Klux Klan vertreten wurde.27 Überraschenderweise jedoch bleibt die Funktion des Leo Frank-Case als Kristallisationspunkt des modernen Antisemitismus sowie die zentrale Rolle, die diese modifizierte Judenfeindschaft im zweiten Klan einnahm, weitgehend unberücksichtigt. Diese historiographische Unterbelichtung der Wirkmacht der Affäre, das heißt das Außerachtlassen der Effekte des Leo Frank-Case auf die Verfasstheit der Südstaatengesellschaft in den anschließenden Dekaden, verunmöglicht ein fundiertes Verständnis des signifikanten Bedeutungsgewinns, den der moderne Antisemitismus in den Südstaaten in der Zeitspanne zwischen den 1920ern und den 1940ern erfuhr. Ohne 26
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Dinnerstein, Frank Case, S. 149 f.; David A. Gerber, „Anti-Semitism and Jewish-Gentile Relations in American Historiography and the American Past.“ In: ders. (Hg.), Anti-Semitism, S. 3–54, hier S. 27; MacLean, „Frank Case Reconsidered“, S. 920, 946; Melnick, Black-Jewish Relations, S. 73; Michael, American Antisemitism, S. 104, 137; Oney, Dead Shall Rise, S. 605 f. Dinnerstein, Frank Case, S. 149 f.; MacLean, „Frank Case Reconsidered“, S. 920.
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den Einfluss des Leo Frank-Case auf die Genese des modernen Antisemitismus zu berücksichtigen, lässt sich weder befriedigend erklären, warum der zweite KuKlux-Klan im Gegensatz zu dem der Reconstruction Era von einer fundamental antisemitischen Stoßrichtung geprägt war, noch lässt sich begreifen, warum antisemitische Politiker wie Gerald L. K. Smith, John E. Rankin oder Theodore G. Bilbo im Anschluss an den KKK derart erfolgreich waren.28 Sowohl das Vorspiel wie auch die Effekte des Leo Frank-Case werden somit in diesen Arbeiten zu wenig berücksichtigt. Diese mangelnde Verortung in der Historie führt beinahe zwangsläufig auch zu einer Blindheit gegenüber den qualitativen Veränderungen, die der Antisemitismus während des zwei Jahre währenden Skandals erfuhr. Die Ausnahmestellung, die diese Arbeiten dem Leo Frank-Case innerhalb der Geschichte des Antisemitismus in den USA zuschreiben, basiert in diesen Lesarten lediglich auf einer quantitativen Zunahme antisemitischer Einstellungen, die sich dann letztlich in einem Gewaltakt materialisierten. Unberücksichtigt bleibt in diesem Narrativ, dass der Leo FrankCase den Antisemitismus in den USA jedoch auch qualitativ auf ein anderes Niveau versetzte. Folglich gerät die Bedeutung, die dem Leo Frank-Case als Kristallisationspunkt für die Genese des modernen Antisemitismus zukommt, fast vollständig aus dem Blickfeld dieser Arbeiten. Die qualitative Veränderung des Antisemitismus, die die Synthese einzelner judenfeindlicher Diskursstränge und Versatzstücke zu einem kohärenten Welterklärungsansatz bedeutete, bleibt damit zwangsläufig unerkannt.29 Jedoch lässt sich nur vor dem Hintergrund der sich während der zwei Jahre vollziehenden Kristallisierung des modernen Antisemitismus der mit dem Erfolg des Ku-Klux-Klan einhergehende Aufstieg der Judenfeindschaft zu einer massenkompatiblen Welterklärung verstehen.30 Zusätzlich zu diesem Problem weist die Historiographie zur Geschichte des Antisemitismus in den USA eine zweite Leerstelle auf, die mit der vorliegenden Arbeit geschlossen werden soll: die weitgehende Nichtberücksichtigung der 28
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Glen Jeansonne, „Combating Anti-Semitism: The Case of Gerald L. K. Smith.“ In: David A. Gerber (Hg.), Anti-Semitism, S. 152–166; dies., „Arkansas’s Minister of Hate: A Research Odyssey.“ In: The Arkansas Historical Quarterly, Jg. 59, Nr. 4 (Winter 2000), S. 429–435;Michael,AmericanAntisemitism,S. 143;Shapiro,„MississippiStyle“,S. 129–151. Eric L. Goldstein, The Price of Whiteness: Jews, Race, and American Identity. Princeton et al.: Princeton University Press 2006, S. 43. Damit soll nicht gesagt werden, dass der Leo Frank-Case und die damit verbundene Streuung antisemitischen Wissens über einen Zeitraum von gut zwei Jahren die alleinige Wurzel für den massiven Erfolg antisemitischer Weltsichten in den anschließenden Jahrzehnten bildete. Vielmehr war auch ein transnationaler Transfer antisemitischen Wissens von großer
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Kategorie Geschlecht. Mit den Arbeiten von Nancy MacLean und Jeffrey Melnick sind zwar aufschlussreiche historische Untersuchungen zur Bedeutung von Geschlecht für den Leo Frank-Case entstanden, eine umfassende Studie zur Bedeutung der Kategorie Geschlecht für die Genese des modernen Antisemitismus in den USA steht jedoch nach wie vor aus.31 Damit lässt die Forschung einen wichtigen Aspekt bei der Analyse der Entstehungsbedingungen des modernen Antisemitismus beziehungsweise des antisemitischen Subjektes weitgehend unberücksichtigt. Diese Lücke in der historischen Forschung schließen zu helfen, ist eine zusätzliche Intention der vorliegenden Arbeit. Dabei geht sie von der These aus, dass Krisenwahrnehmungen angloamerikanischer Männlichkeiten in den Südstaaten bei der Genese des modernen Antisemitismus eine fundamentale Rolle gespielt haben. Um jedoch die Klippen, die das Konzept der ‚Krise‘ für historiographische Untersuchungen mit sich bringt, zu umschiffen, bedarf es zunächst einiger theoretischer Reflexionen über die Kategorie Geschlecht im Allgemeinen und das Konzept ‚Krise von Männlichkeit‘ im Besonderen. In diesem Kontext soll auch die Theorie der Intersektionalität thematisiert und im Rahmen der Arbeit verortet werden.
Eine theoretische Annäherung an das Verhältnis von Männlichkeit und Antisemitismus Wie die feministische Forschung und die daraus hervorgehenden Gender Studies gezeigt haben, stellt Geschlecht eine in ihrer Wirkmächtigkeit nicht zu unter-
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Bedeutung. Zum Beispiel besuchte Gerald Winrod, der führende Kopf der Organisation Christian Defenders bzw. Defenders of the Christian Faith 1934 das Deutsche Reich und zeigte sich begeistert von der nationalsozialistischen Ideologie und Rassenlehre. Beeinflusst vom Nationalsozialismus kehrte Winrod in die USA zurück, kandidierte 1938 in Kansas für den US-Senat und konnte 22 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Obwohl er den Einzug in den Senat damit deutlich verpasste, legt das gute Abschneiden bei der Wahl Zeugnis über die enorme gesellschaftliche Bedeutung eines modernen Antisemitismus ab (Michael, American Antisemitism, S. 145; Cornelia Wilhelm, Bewegung oder Verein?: Nationalsozialistische Volkstumspolitik in den USA. Stuttgart: Franz Steiner Verlag Stuttgart 1998, S. 218). Noch signifikanter zeigte sich dieser Wissenstransfer an der Geschichte des German-American Bund, der von dem ‚Bundesführer‘ Fritz Julius Kuhn geleitet wurde (Zum German-American Bund siehe u. a. Susan Canedy, America’s Nazis: the German American Bund. Menlo Park: Markgraf Publications Group 1990; Sander A. Diamond, The Nazi Movement in the United States, 1924–1941. Ithaca et al.: Cornell University Press 1974). MacLean, „Frank Case Reconsidered“; Melnick, Black-Jewish Relations.
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schätzende Kategorie der Subjektivierung dar.32 Die in sozialen Konstruktionsprozessen hervorgebrachten vergeschlechtlichten Menschen unterscheiden sich auf Grund der divergierenden Subjektivierungsprozesse. Geschlechterentwürfe beeinflussen Aktivitäten, Handlungen und Verhaltensweisen der vergeschlechtlichten Subjekte, indem sie diese durch spezifische Formen der (Welt-)Wahrnehmung, des Selbstverständnisses und der Identitätskonstruktion auf unterschiedliche Art und Weise in der sozialen Matrix verorten. Die in Raum und Zeit variierenden hegemonialen Vorstellungen von Männlichkeit oder Weiblichkeit – also die jeweils dominanten Ideen davon, was Mannsein beziehungsweise Frausein bedeutet – entwickeln folglich machtvolle Effekte. Sie statten vergeschlechtlichte Subjekte mit unterschiedlichen Denkmustern und Handlungsweisen aus und schreiben ihnen sich stark unterscheidende Funktionen im Prozess der gesellschaftlichen Reproduktion zu.33 Die Kategorie Geschlecht wirkt somit im Zusammenspiel mit anderen Kategorien wie Race, Klasse oder regionaler Zugehörigkeit als sozialer Platzanweiser, indem sie den vergeschlechtlichten Subjekten den Zugang zu gewissen gesellschaftlichen Sphären und Feldern ge32
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In der vorliegenden Arbeit wird Geschlecht nicht wie in essentialistischen Ansätzen als in der menschlichen Biologie verwurzelt verstanden, sondern als Resultat eines sozialen Konstruktionsprozesses. Männliche und weibliche Identitäten entspringen also nicht etwa quasi naturwüchsig der menschlichen Genetik, sondern werden durch die Effekte eines Geschlechterdispositivs hergestellt, das von mannigfaltigen gesellschaftlichen Machtverhältnissen durchzogen ist (zum Dispositivbegriff siehe u. a. Jeffrey Bussolini, „What Is a Dispositive?“ In: Foucault Studies, Nr. 10 (November 2010), S. 85–107, URL: www.rauli.cbs.dk/index.php/foucault-studies/article/view/3120/3294, letzter Zugriff am 27.12.2014; Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Frankfurt: Suhrkamp 1983; ders., „Ein Spiel um die Psychoanalyse“: Gespräch mit Angehörigen des Departement de Psychanalyse der Universität Paris/Vincennes.“ In: ders. Dispositive der Macht: Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve Verlag 1978, S. 118–175). Männlichkeit und Weiblichkeit sind also nicht durch unterschiedliche biologische Kerne auf ewig voneinander geschiedene Entitäten, sondern vielmehr auf Grund ihrer Relationalität unauflöslich miteinander verwoben. Sie bedürfen ihrer gegenseitig, um überhaupt denkbar zu sein (R. W. Connell, Masculinities, Berkeley et al.: University of California Press 2005, S. 68). Verbunden mit dem Konstruktcharakter der Kategorie Geschlecht ist ihre Wandelbarkeit in Raum und Zeit. Männlichkeiten und Weiblichkeiten sind keine transhistorischen, starren und unveränderlichen Größen. Geschlechteridentitäten variieren vielmehr zwischen den unterschiedlichen Kulturen, in die sie eingebettet sind, und unterliegen im Verlaufe der Zeit vielfältigen Modifikationen und Transformationen (siehe u. a. Martin Dinges (Hg.), Männer – Macht – Körper: Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute. Frankfurt et al.: Campus Verlag 2005; Wolfgang Schmale, Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000). Wien: Böhlau 2003). Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz, Geschichte der Männlichkeiten. Frankfurt et al.: Campus Verlag 2008, S. 10.
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währt oder auch verwehrt. Laut R. W. Connell nimmt die Kategorie Geschlecht beziehungsweise Männlichkeit seit der Moderne eine derart zentrale Bedeutung für die Ausbildung menschlicher Denk- und Handlungsweisen ein, dass die „vergeschlechtlichte Persönlichkeit […] den Beweggrund für seine (oder, im Fall von maskulinen Frauen, ihre) Handlungen“ darstelle.34 Damit wird auch deutlich, dass die unterschiedlichen Geschlechterkonfigurationen nicht bloß als passive Produkte des auf die Subjekte einwirkenden Geschlechterdispositivs zu verstehen sind. Ohne einen Anstoß von einem anderen Feld zu benötigen, können Geschlechterverhältnisse aus sich heraus als Triebkräfte historischen Wandels agieren.35 Die Wirkmacht der Kategorie Geschlecht auf die gesellschaftliche Verfasstheit und die ihr innewohnende soziale Stratifizierung war auch in der Geschichte der USA immens. So waren in den Vereinigten Staaten von Amerika seit ihrer Unabhängigkeit republikanische Tugenden aufs Engste an Männlichkeit geknüpft.36 Während tugendhafte Männlichkeit als Fundament des gesellschaft34 35 36
Connell, Masculinities, S. 186. Dies., S. 81 f. Jürgen Martschukat, „Vaterfigur und Gesellschaftsordnung um 1800.“ In: Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz (Hg.), Väter, Soldaten, Liebhaber: Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas. Bielefeld: transcript Verlag 2007, S. 83–100. Laut Mark E. Kann stellte die Vorstellung, dass junge Männer im Verlaufe ihres Lebens zu über die weiblichen Familienangehörigen bestimmenden Familienpatriarchen reifen sollten, in der frühen Republik eine Selbstverständlichkeit dar (Mark E. Kann, A Republic of Men: The American Founders, Gendered Language, and Patriarchal Politics. New York et al.: New York University Press 1998, S. 2 f.). Die Figuren des Staatsbürgers, des Soldaten oder des Breadwinner waren (und sind) in den Vereinigten Staaten männlich konnotiert (Norbert Finzsch und Michaela Hampf, „Männlichkeit im Süden, Männlichkeit im Norden.“ In: WerkstattGeschichte, Jg. 29 (2001), S. 43–59, hier S. 46; Evelyn Nakano Glenn, Unequal Freedom: How Race and Gender Shaped American Citizenship and Labor. Cambridge: Harvard University Press 2002, S. 58; Christina Jarvis, „Kampfbereite Männerkörper und der Weg in den Zweiten Weltkrieg.“ In: Martschukat und Stieglitz, Väter, S. 243–274; Judith N. Shklar, American Citizenship: The Quest of Inclusion. Cambridge: Harvard University Press 1991, S. 15 f., 31). Einige gesellschaftliche Felder und die in diesen Feldern zu verteilenden Ressourcen blieben zu verschiedenen Zeiten ausschließlich Männern vorbehalten. In anderen wie z. B. dem Feld der Ökonomie waren (und sind) Männer im Vergleich zu Frauen mit deutlichen Privilegien ausgestattet (Linda K. Kerber und Jane Sherron De Hart, „Introduction.“ In: dies. (Hg.), Women’s America: Refocusing the Past. New York et al.: Oxford University Press 1991, S. 1–24, hier S. 12–15; Gerda Lerner, The Creation of Patriarchy. New York et al.: Oxford University Press 1986). Auf Grund zahlreicher Exklusionsmechanismen, die entlang der Scheidelinie männlich/weiblich verliefen, lässt sich für die Geschichte der USA ein Primat des Männlichen über das Weibliche festhalten (Michael Kimmel, Manhood in America: A Cultural History. New York et al.: Oxford University Press 2012, S. 33, 71–73).
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lichen Systems und der Prosperität der Nation verstanden wurde, zog Weiblichkeit ihre Bedeutung primär aus ihrem Verhältnis zu Männlichkeit. Weiblichkeit wurde daran gemessen, ob sie die Ausbildung und Reproduktion von Männlichkeit nicht gefährde oder gar verunmögliche. Eine besondere Zuspitzung erfuhr das patriarchalische Geschlechterverhältnis in den Südstaaten. Vor dem Hintergrund der dort bis zur Niederlage im Bürgerkrieg herrschenden Sklaverei und Plantagenökonomie sowie des daraus resultierenden hierarchisierten und gewaltvollen Verhältnisses zwischen angloamerikanischen und afroamerikanischen Menschen entwickelte sich ein Männlichkeitsideal, das angloamerikanische Männer als uneingeschränkte Autorität über Frauen ihres Haushaltes sowie über ‚afroamerikanische‘ Menschen entwarf. Dieses Machtgefüge mit dem Mann an der Spitze übertrug sich auf Grund der engen Verknüpfung zwischen der Position im Haushalt und dem rechtlichen Status innerhalb der Gesellschaft auf die gesellschaftliche Ordnung im Old South. Frauen, Kinder sowie Sklav_innen wurden zumindest der Norm nach in dieser Gesellschaftsformation auf die private Sphäre reduziert. Ihre Vergesellschaftung erfolgte alleinig über den Haushaltsvorstand, ihre gesellschaftlichen Funktionen und Aufgaben wurden ausschließlich über diesen vermittelt. Als Repräsentant ihrer Interessen trat der Familienpatriarch in der öffentlichen Sphäre auf.37 Mannsein war also im Verlaufe der Geschichte der USA, und insbesondere in den Südstaaten, auf Grund der männlichen Dominanz mit unterschiedlichen 37
Victoria E. Bynum, Unruly Women: The Politics of Social and Sexual Control in the Old South. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 1992, S. 89; Laura Edwards, Gendered Strife and Confusion: The Political Culture of Reconstruction. Urbana et al.: University of Illinois Press 1997, S. 6–9; Stephanie McCurry, „Producing Dependence: Women, Work, and Yeoman Households in Low-Country South Carolina.“ In: Susanna Delfino und Michelle Gillespie (Hg.), Neither Lady Nor Slave: Working Women of the Old South. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 2002, S. 55–71. Insbesondere zum Leben von Frauen und dominanten Weiblichkeitskonstruktionen im Old South ist bereits eine Vielzahl an lesenswerten historiographischen Arbeiten publiziert worden. Dazu siehe u. a. Joan E. Cashin, „According to His Wish and Desire: Female Kin and Female Slaves in Planter Wills.“ In: Christie Anne Farnham (Hg.), Women of the American South: A Multicultural Reader. New York et al.: New York University Press 1997, S. 90–119; Catherine Clinton, The Plantation Mistress: Woman’s World in the Old South. New York: Pantheon Books 1982; Anya Jabour, Scarlett’s Sisters: Young Women in the Old South. Chapel Hill: The University of North Carolina Press 2007; Sally Gregory MacMillen, Southern Women: Black and White in the Old South. Arlington Heights: Harlan Davidson 1992; Marli F. Weiner, Mistresses and Slaves: Plantation Women in South Carolina, 1830–80. Urbana et al.: University of Illinois Press 1998.
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materiellen wie auch immateriellen Dividenden versehen.38 Diese Feststellung männlicher Privilegien und Dominanz kollidiert jedoch mit der offensichtlichen Unterwerfung und Entrechtung afroamerikanischer Männer im Zuge der Sklaverei und dem Fortleben des rassistischen Regimes der White Supremacy nach deren Abschaffung. Auch indigene, italoamerikanische, chinesische, mexikanische oder jüdische Männer waren angloamerikanischen Männern deutlich untergeordnet.39 Nicht alle Männer profitierten also in gleichem Maße von der männlichen Herrschaft über Frauen. Vielmehr stellten Kategorien wie Race, Klasse, Sexualität oder Alter multiple Männlichkeiten her, die gleichzeitig existierten und in asymmetrischen Machtverhältnissen zueinander standen. Um diese Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Männlichkeiten zu fassen, greift die Arbeit auf die Konzepte der Intersektionalität und der hegemonialen Männlichkeit zurück, die im Folgenden kurz vorgestellt werden. Das Konzept der Intersektionalität geht auf die Juristin Kimberlé Crenshaw zurück, die den Begriff in dem Aufsatz „Demarginalizing the Intersection of Race and Sex“ erstmals verwendete.40 Die Soziologin Leslie McCall fasst den Be38
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Freilich stellten die USA in dieser Hinsicht keinen Einzelfall dar. Zu Männlichkeiten im deutschsprachigen Raum des 19. und 20. Jahrhunderts siehe u. a. Thomas Kühne (Hg.), Männergeschichte – Geschlechtergeschichte: Männlichkeiten im Wandel der Moderne. Frankfurt et al.: Campus Verlag 1996. Kimmel, Manhood, S. 67–71. Kimberle Crenshaw, „Demarginalizing the Intersection of Race and Sex.“ In: The University of Chicago Legal Forum, Jg. 140 (1989), S. 139–167. Als Entstehungshintergrund werden in den meisten Versuchen, den theoretischen Ansatz zu historisieren, Unmutsbekundungen afroamerikanischer Feminist_innen wie z. B. des Combahee River Collectives in den 1970er und den frühen 1980er Jahren angegeben. Afroamerikanische Frauen kritisierten die von angloamerikanischen Feminist_innen vorgenommene Analogiebildung zwischen der Situation von Afroamerikanern und der von Frauen scharf. Der Feminismus der angloamerikanischen Frauen aus der Mittelklasse lasse die Interessen von Frauen mit einem anderen ethnischen oder sozioökonomischen Hintergrund unberücksichtigt (Nina Degele und Gabriele Winker, Intersektionalität: Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld: transcript Verlag 2009, S. 11; bell hooks, Ain’t I a Woman: Black Women and Feminism. London: Pluto Press 1997; Audre Lorde, „Rassismus.“ In: Dagmar Schultz (Hg.), Macht und Sinnlichkeit: Ausgewählte Texte. Berlin: sub rosa Frauenverlag 1983, S. 98–100; Helma Lutz; Maria Teresa Herrera Vivar und Linda Supik, „Fokus Intersektionalität – eine Einleitung.“ In: dies. (Hg.), Fokus Intersektionalität: Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 9–30, hier S. 10 f.; Katharina Walgenbach, „Gender als interdependente Kategorie.“ In: Gabriele Dietze; Antje Hornscheidt; Kerstin Palm et al. (Hg.), Gender als interdependente Kategorie: Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Opladen et al.: Verlag Barbara Budrich 2007, S. 23–64, hier S. 27–29). Mitunter wurde die von Crenshaw vorgenommene Begriffsbil-
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griff als: „The relationships among multiple dimensions and modalities of social relations and subject formations.“41 Dabei gehen intersektionale Theoriebildungen von der Relationalität und Interdependenz von Kategorien wie Geschlecht, Klasse, Race, Sexualität oder Alter aus. Kategorien wie Geschlecht entwickeln also keine separat, sondern immer nur in Interaktion mit anderen Machtachsen zu analysierenden Effekte. So brachten die Wechselwirkungen zwischen Judesein und Mannsein im antisemitischen Diskurs in westlichen Gesellschaften eine ganz spezifische Subjektkonfiguration hervor, die während des Leo Frank-Case eine immense Wirkmacht entfaltete. Das Attribut Judesein modifizierte dabei das Mannsein und es entstand die Vorstellung vom effeminierten, perversen ‚jüdischen‘ Mann.42 Allerdings waren innerhalb des antisemitischen Diskurses nicht nur Geschlecht und Race, sondern auch Kategorien wie Sexualität und Klasse im ‚jüdischen‘ Subjekttypus miteinander verwoben. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die vermeintliche Entmännlichung ‚jüdischer‘ Männer mit den Krank-
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dung dafür kritisiert, dass die Metapher der Kreuzung zu dem Schluss verführe, dass die unterschiedlichen Machtachsen an einem bestimmten Punkt zusammenstoßen und danach wieder getrennter, voneinander unbeeinflusster Wege gingen (Gabriele Dietze; Antje Hornscheidt; Kerstin Palm et al., „Einleitung.“ In: dies. (Hg.), Interdependente Kategorie, S. 8–22, hier S. 8 f.). In den Überkreuzungsmetaphern bleibe, so kritisiert Katharina Walgenbach, „die Vorstellung eines ‚genuinen Kerns‘ sozialer Kategorien“ bestehen (Walgenbach, „Gender“, S. 23). In eine ähnliche Richtung weist u. a. auch die Kritik von Lann Hornscheidt. Er/sie kritisiert intersektionale Ansätze u. a. dafür, eine Trennbarkeit interdependenter Kategorien zu postulieren und diese Annahme als Ausgangspunkt ihrer Theoriebildung zu setzen (Lann Hochscheidt, „entkomplexisierung von diskriminierungsstrukturen durch intersektionalität.“ URL: www.portal-intersektionalität.de, letzter Zugriff am 4.1.2015). Um einem Missverständnis vorzubeugen, soll hier noch einmal betont werden, dass die unterschiedlichen Machtkategorien in der vorliegenden Arbeit als interdependent verstanden werden. Leslie McCall, „The Complexity of Intersectionality.“ In: Signs, Jg. 30, Nr. 3 (2005), S. 1771–1800, hier S. 1771. Sander Gilman, „Decircumcision: The First Aesthetic Surgery.“ In: Modern Judaism, Jg. 17, Nr. 3 (Oktober 1997), S. 201–210, hier S. 201; Klaus Hödl, Die Pathologisierung des jüdischen Körpers: Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle. Wien: Picus-Verlag 1997; ders., „Genderkonstruktionen im Spannungsfeld von Fremd- und Selbstzuschreibung.“ In: A. G. GENDER-KILLER (Hg.), Antisemitismus und Geschlecht: Von „maskulinisierten Jüdinnen“, „effeminierten Juden“ und anderen Geschlechterbildern. Münster: UNRASTVerlag 2005, S. 81–101. Die Konstruktion jüdischer Männer als weiblich existierte bereits im Mittelalter und manifestierte sich u. a. in der Vorstellung des menstruierenden ‚Juden‘ (Sander Gilman, „‚We’re Not Jews‘: Imagining Jewish History and Jewish Bodies in Contemporary Multicultural Literature.“ In: Modern Judaism, Jg. 23, Nr. 2 (Mai 2003), S. 126–155, hier S. 135).
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heitsbildern der Neurasthenie oder der Hysterie in Zusammenhang gebracht.43 Die Konstruktion als neurasthenisch – Neurasthenie wurde als ein Phänomen der Oberschicht verstanden – wiederum traf zum einen Aussagen über die vermeintliche Klassenzugehörigkeit von ‚Juden‘ und zum anderen über die ihnen zugeschriebene, als deviant markierte Sexualität. Der ‚jüdische‘ Subjekttypus wurde im antisemitischen Diskurs also durch die Interaktion und Verwobenheit verschiedener Kategorien konstruiert. Auch in ihren Annahmen hinsichtlich der Wirkungsweise der verschiedenen Machtachsen unterscheiden sich intersektionale Theorien von bloß additiven Modellen. Anstatt die Wirkungen der einzelnen Diskriminierungskategorien zu addieren, gehen intersektionale Ansätze davon aus, dass das Zusammenspiel sozialer Strukturierungskategorien eine jeweils spezifische Dynamik entwickelt. Durch die Interaktion kann sich die Wirkung unterschiedlicher Kategorien gegenseitig potenzieren, abschwächen oder anderweitig verändern. Aus dem Zusammenwirken der Kategorien ergibt sich die Verortung der Subjekte in der sozialen Matrix. Patricia Hill Collins schreibt deshalb den unterschiedlichen Kategorien – sie fokussiert Race, Klasse und Geschlecht – den Effekt zu, eine „Matrix der Herrschaft“ zu errichten.44 Unter diesen Kategorien werden keine grundsätzlichen Hierarchisierungen vorgenommen, sondern sie werden prinzipiell als gleichwertig verstanden.45 Aus 43
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Sander Gilman, Difference and Pathology: Stereotypes of Sexuality, Race, and Madness. Ithaca et al.: Cornell University Press 1989, S. 154–156; ders., The Jew’s Body. New York et al.: Routledge 1991, S. 62–64. Patricia Hill Collins, Black Feminist Thought: Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment. New York et al.: Routledge 1991, S. 225–230; L. Paul Weeks, „Patricia Hill Collins.“ In: George Ritzer (Hg.), Encyclopedia of Social Theory, Bd. 1. London et al.: SAGE Publications 2005, S. 122 f., hier S. 122. Degele und Winker, Intersektionalität, S. 10; Nikola Langreiter und Elisabeth Timm, „Editorial: Tagung Macht Thema.“ In: Sabine Hess; Nikola Langreiter und Elisabeth Timm (Hg.), Intersektionalität revisited: Empirische, theoretische und methodische Erkundungen. Bielefeld: transcript Verlag 2011, S. 9–13, hier S. 9. Die aus dieser theoretisch komplexen Konzeptionalisierung gesellschaftlicher Hierarchisierungs- und Exklusionsprozesse resultierende Tendenz zur Unendlichkeit kollidiert in der Praxis jedoch mit der Umsetzbarkeit eines solchen nicht-hierarchisierten Nebeneinanders der diversen Kategorien. Der Versuch, eine möglichst große Anzahl an Kategorien in der jeweiligen Studie zu berücksichtigen, konfligiert u. a. mit der narrativen Struktur einer Untersuchung. Als Ausweg aus diesem Dilemma bedarf es in der Praxis einer Verengung bzw. Schließung. Die in einer Studie berücksichtigten Kategorien sind vor dem Hintergrund des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes und der an ihn gerichteten Forschungsfrage zu gewichten und eine Auswahl der in der Studie berücksichtigten Kategorien ist vorzunehmen. Es besteht also ein Spannungsverhältnis zwischen
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dem Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit leitet sich jedoch eine Auswahl und Priorisierung bestimmter Kategorien ab, die von herausragender Bedeutung für die Untersuchung der Genese des modernen Antisemitismus in den Südstaaten sind. Aus diesem Grund fokussiert die Arbeit die Kategorien Race, Geschlecht und regionale Zugehörigkeit (Sektion). Zusätzlich ist durch die antisemitische Konstruktion von ‚Juden‘ als reich und die Gesellschaft dominierend die Kategorie Klasse implizit Gegenstand der Untersuchung. Während die Fokussierung von Race und Sektion in einer Arbeit, die sich mit Antisemitismus in den Südstaaten auseinandersetzt, keiner weiteren Erklärung bedarf, wird im Folgenden die Bedeutung und die Konzeptionalisierung der Kategorie Geschlecht für die Arbeit näher beleuchtet. Dabei werden zum einen der von R. W. Connell entwickelte Begriff der hegemonialen Männlichkeit sowie das heuristische Konzept einer ‚Krise von Männlichkeit‘ vorgestellt und im Rahmen der Arbeit verortet.46 Um die bereits grob skizzierte dominante gesellschaftliche Stellung angloamerikanischer Männer theoretisch zu durchdringen und deren Machtposition in ein Verhältnis zur gesellschaftlichen Daseinsweise anderer Menschen zu setzen, rekurriert die Arbeit auf das von Connell entwickelte Konzept der hegemonialen Männlichkeit.47 Auf diesem Wege lässt sich nicht bloß das Verhältnis zwischen Männern und Frauen als ein naturalisiertes Herrschaftsverhältnis bestimmen, sondern auch ein engmaschiges Machtgeflecht und -gefälle zwischen den sich entlang der Kategorien wie Klasse, Race, Sexualität oder Sektion scheidenden Männlichkeiten.48 Da die Position der hegemonialen Männlichkeit mit
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intersektionaler Theorie einerseits und Untersuchungen, die mit intersektionaler Theorie arbeiten, andererseits. Katharina Walgenbach kritisiert zu Recht, dass viele Arbeiten, die auf theoretischer Ebene eine Gleichwertigkeit der verschiedenen Kategorien postulieren, durch die nicht explizierte Fokussierung auf einige wenige Kategorien implizit eine Gewichtung durch die Hintertür vornähmen (Walgenbach, „Gender“, S. 42–44). Zum Entstehungskontext und der Rezeption des Konzeptes siehe R. W. Connell und James W. Messerschmidt, „Hegemonic Masculinity: Rethinking the Concept.“ In: Gender and Society, Jg. 19, Nr. 6 (Dezember 2005), S. 829–859, hier S. 830–835. Der Begriff der Hegemonie trifft keine quantitative Aussage darüber, von wie vielen Männern diese Männlichkeitskonfiguration tatsächlich verkörpert wird. Es muss sich dabei keineswegs um die Mehrheit handeln. Vielmehr rekurriert der Begriff darauf, welche Männlichkeit zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort als Ideal akzeptiert wurde bzw. durchgesetzt werden konnte (Mike Donaldson, „What Is Hegemonic Masculinity?“ In: Theory and Society, Jg. 22, Nr. 5 (Oktober 1993), S. 643–657, hier S. 646. Mimi Schippers, „Recovering the Feminine Other: Masculinity, Femininity, and Gender Hegemony.“ In: Theory and Society, Jg. 36, Nr. 1 (Februar 2007), S. 85–102, hier S. 87.
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einem privilegierten Zugang zu diversen gesellschaftlichen Ressourcen verbunden ist, sind die unterschiedlichen Männlichkeiten beständig in Hegemoniekämpfe verwickelt. Männlichkeiten, die in diesen Auseinandersetzungen um Macht unterliegen, werden einerseits marginalisiert oder subordiniert, andererseits profitieren sie von der durch die hegemoniale Männlichkeit gewährleisteten Subordination der Frauen unter die Männer und der damit einhergehenden patriarchalen Dividende.49 Es zeigt sich also, dass hegemoniale Männlichkeit in ein kompliziertes Machtgefüge eingebunden ist und ihre dominante gesellschaftliche Position permanent verteidigen muss. Aus diesen Kämpfen und Auseinandersetzungen resultieren Verschiebungen und Brüche sowohl innerhalb der einzelnen Männlichkeitskonfigurationen als auch in den Verhältnissen der Männlichkeiten untereinander. Hegemoniale Männlichkeit ist also nicht als starr und transhistorisch fixiert, sondern als dynamisch und wandelbar zu verstehen.50 Eine besondere Dynamik können diese multiplen Beziehungen in Zeiten gesellschaftlicher Transformationen und Umbrüche entfalten, wie sie sich in den Südstaaten nach deren Niederlage im Bürgerkrieg ereigneten.51 Der Niedergang des Agrarsektors und die damit verbundene zunehmende Industrialisierung und Urbanisierung des Südens führten zum Untergang des Yeoman, des Leitbildes 49
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R. W. Connell, The Men and the Boys. Cambridge: Polity Press, 2000, S. 10 f.; dies., Masculinities, S. 77–79. R. W. Connell unterscheidet in Abgrenzung zur hegemonialen Männlichkeit zum einen subordinierte sowie zum anderen marginalisierte Männlichkeiten. Unter subordinierten Männlichkeiten versteht Connell diejenigen, deren Unterordnung der Ordnung des Geschlechterverhältnisses inhärent sei. Darunter versteht sie z. B. das Machtverhältnis zwischen heterosexuellen und homosexuellen Männern. Von marginalisierten Männlichkeiten spricht Connell, wenn sich das asymmetrische Verhältnis zwischen unterschiedlichen Männlichkeiten über die Einbeziehung von Kategorien außerhalb des Geschlechterverhältnisses realisiert. Unter solchen Machtachsen versteht sie Kategorien wie Klasse oder Race (Connell, Masculinities, S. 80). Diese von Connell getroffene Unterscheidung erscheint jedoch problematisch, da sie ein besonderes Verhältnis zwischen den Kategorien Geschlecht und Sexualität postuliert bzw. die Machtachse Sexualität der Kategorie Geschlecht unterordnet. Aus diesem Grund wird diese Unterscheidung in der vorliegenden Arbeit verworfen. R. W. Connell, The Men, S. 13 f.; dies., Masculinities, S. 77. Es lässt sich allerdings keineswegs eine Kausalität in die Richtung behaupten, dass Krisenwahrnehmungen immer bloß in Reaktion auf sozio-ökonomische oder politische Transformationen aufträten. Vielmehr könnten diese ebenso als Initiatoren sozialer Wandlungsprozesse agieren (Thomas Kühne, „Männergeschichte als Geschlechtergeschichte.“ In: Kühne (Hg.), Männergeschichte, S. 7–30, hier S. 16; Claudia Opitz-Belakhal, „‚Krise der Männlichkeit‘ – ein nützliches Konzept der Geschlechtergeschichte?“ In: L’Homme, Jg. 19, Nr. 2 ( Juli 2008), S. 31–50, hier S. 33 f.).
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hegemonialer Männlichkeit.52 Diese Situation des Machtverlustes wurde von den betroffenen Männern als eine Krise von Männlichkeit wahrgenommen.53 Bevor ich jedoch weiter in den historischen Gegenstand der vorliegenden Arbeit einführe, bedarf der Krisenbegriff zunächst einer Theoretisierung und Konzeptionalisierung, um ihn für eine nicht-essentialistische, kritische Geschichtsschreibung der Männlichkeiten anwendbar zu machen. Die Feststellung einer Krise konstruiert Männlichkeit als etwas Kohärentes und eine Essenz in sich Tragendes.54 Die Rede von einer Krise der Männlichkeit bemängelt die Veränderung eines vermeintlich vormals besseren beziehungsweise natürlichen Zustandes. Sie verweist also auf etwas der krisenhaften Situation Vorgängiges, wobei dieser Wandel als Verlust verstanden wird.55 Dem Krisenbegriff ist damit, wie Claudia Opitz-Belakhal feststellt, „ein Bedürfnis nach (Wieder-)Herstellung von Ordnung [inhärent]“.56 Damit verbunden ist die bedeutsame Erkenntnis, dass die Wahrnehmung einer Krise von Männlichkeit immer im engen Zusammenhang mit der in der sozialen Matrix eingenommenen Position steht. Während gesellschaftliche Veränderungen und Umbrüche eine Bedrohung ihrer dominanten Position in der Gesellschaft bedeuten können, können die gleichen Transformationen eine Verbesserung der Situation marginalisierter Männlichkeiten oder Weiblichkeiten ermöglichen. Die Kategorisierung gesellschaftlichen Wandels als ‚Risiko‘ oder 52 53
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Mit dem Begriff Yeoman wurden unabhängige Farmer bezeichnet, die mit Hilfe ihrer FamilienmitgliederundmituntereinigerSklav_innenihreneigenenGrundundBodenbewirtschafteten. Im weiteren Verlauf wird ‚Krise von Männlichkeit‘ dann in Anführungszeichen gesetzt, wenn aus dem jeweiligen Satz nicht eindeutig hervorgeht, dass ich mit einer solchen ‚Krise‘ nicht eine tatsächliche Krise beschreiben will, sondern Krisenwahrnehmung von Zeitgenoss_innen rekonstruiere. Eine breiter angelegte und etymologisch fundierte Einordung und Konzeptionalisierung der Krisenmetapher zur historiographischen Verwendung des Begriffs leisten Moritz Föllmer; Rüdiger Graf und Per Leo, „Einleitung: Die Kultur der Krise in der Weimarer Republik.“ In: dies. (Hg.), Die „Krise“ der Weimarer Republik: Zur Kritik eines Deutungsmusters. Frankfurt et al.: Campus Verlag 2005, S. 9–44. Felix Krämer und Nina Mackert, „Wenn Subjekte die Krise bekommen: Hegemonie, Performanz und Wandel am Beispiel einer Geschichte moderner Männlichkeiten.“ In: Achim Landwehr (Hg.), Diskursiver Wandel. Wiesbaden: VS Verlag 2010, S. 265–279, hier S. 267; Felix Krämer und Olaf Stieglitz, „Männlichkeitskrisen und Krisenrhetorik, oder: Ein historischer Blick auf eine besondere Pädagogik für Jungen.“ In: Edgar Forster, Barbara Rendtorff und Claudia Mahs (Hg.), Jungenpädagogik im Widerstreit. Stuttgart: W. Kohlhammer 2011, S. 45–61, hier S. 48; Sabine Sielke, „‚Crisis? What Crisis?‘: Männlichkeit, Körper, Transdisziplinarität.“ In: Martschukat und Stieglitz (Hg.), Väter, S. 43–61, hier S. 45. Opitz-Belakhal, „‚Krise der Männlichkeit‘“, S. 41.
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aber als ‚Chance‘ ist also abhängig von der Position, die der jeweilige Mensch in der sich verändernden Gesellschaft einnimmt. Insofern stellt die Verwendung der Krisenmetapher eine Strategie innerhalb eines Kampfes um gesellschaftliche Ressourcen dar und dient der Reproduktion des Geschlechterverhältnisses sowie der ihm immanenten Hierarchisierungen.57 Der Krisenbegriff zielt also auf den Erhalt der jeweiligen hegemonialen beziehungsweise marginalisierten Positionen der verschiedenen Männlichkeiten und Weiblichkeiten.58 Felix Krämer und Nina Mackert bezeichnen diesen Effekt als „die hegemonialisierende Wirkung von Krisenproklamationen“.59 Der Krisenbegriff ist also aus unterschiedlichen Gründen als Analyseinstrument gesellschaftlicher Veränderungen und zur Beschreibung historischer Realität unbrauchbar. Ist das Konzept der ‚Krise von Männlichkeiten‘ folglich aus der Historiographie zu verbannen? Olaf Stieglitz und Jürgen Martschukat verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass die Krisenmetapher als zeitgenössischer Quellenbegriff Verwendung fand und somit ein häufig verwendetes Denkmuster zeitgenössischen Weltverständnisses darstellte.60 Insofern stellt die Untersuchung dieser Krisennarrative einen Gegenstand für historiographische Studien dar, der fruchtbare Einsichten in die Machtverhältnisse, die eine Gesellschaft strukturierten, und in die daraus resultierenden Machtkämpfe gewährt. Das Konzept der ‚Krise von Männlichkeit‘ dient in diesem Sinne als ein heuristisches Instrument, das nicht darauf abzielt, in Erfahrung zu bringen, zu welchem Zeitpunkt und mit welchen Konsequenzen eine Gesellschaft tatsächlich von einer Krise heimgesucht wurde, sondern welche Effekte die Krisenanrufung hatte und wem sie diente. Die Fragen, die die Historiographie an die Krisendiskurse zu richten hat, zielen auf die Anordnungen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen innerhalb dieses Narrativs und lauten wie folgt: Wer identifiziert zu welchem Zeitpunkt und zu welchem Zweck eine Krise der Männlichkeit? Trägt das Sprechen von einer Krise zur Reproduktion gesellschaftlicher Hegemonie bei? Welche Bevölkerungsgruppen werden mit der vermeintlichen Krise assoziiert, das heißt für den vermeintlich krisenhaften Zustand (mit-)verantwortlich gemacht?61 57 58 59 60 61
Krämer und Mackert, „Krise bekommen“, S. 268; Sally Robinson, Marked Men: White Masculinities in Crisis. New York: Columbia University Press 2000, S. 3. Krämer und Stieglitz, „Männlichkeitskrisen“, S. 48; Martschukat und Stieglitz, Männlichkeiten, S. 68. Krämer und Mackert, „Krise bekommen“, S. 267. Martschukat und Stieglitz, Männlichkeiten, S. 69. Krämer und Stieglitz, „Männlichkeitskrisen“, S. 49; Opitz-Belakhal, „‚Krise der Männlichkeit‘“, S. 41.
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Solche Krisenwahrnehmungen angloamerikanischer Männlichkeiten lassen sich auch für die Südstaaten während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diagnostizieren. Sie standen in engem Zusammenhang mit der Niederlage der Confederate States Army im Civil War sowie mit sich in diesem Zeitraum vollziehenden sozioökonomischen Transformationen: dem Niedergang des Agrarsektors sowie der sich langsam und insbesondere seit 1880 vollziehenden Industrialisierung und Urbanisierung.62 Dieser grundlegende Wandel der sozioökonomischen und kulturellen Verhältnisse bedeutete eine Erosion des Southern Way of Life und damit eine Erschütterung der gewohnten Lebenswelt vieler Südstaatler_innen. Die damit einhergehenden Veränderungen wurden von vielen angloamerikanischen Männern als Angriff auf ihre gesellschaftlich dominante Position verstanden. Die seit dem Bürgerkrieg beinahe durchgehend existierenden schwerwiegenden ökonomischen Probleme großer Teile des Agrarsektors sowie der damit verbundene Niedergang der Yeomanry verunmöglichten einer steigenden Anzahl angloamerikanischer Männer, dem in der Figuration des Yeoman verkörperten Leitbild hegemonialer Männlichkeit und der darin zentral gesetzten manly Independence zu entsprechen.63 Der einflussreiche Vertreter des Southern Presbyterianism Robert Lewis Dabney machte diese Bedrohungswahrnehmung zu einem zentralen Punkt in einer 1882 auf der Jahreskonferenz der Philanthropic and Union Literary Societies in Hampden gehaltenen Rede. Mit folgenden Worten beschreibt er die Auswirkungen des sich vollziehenden Übergangs von einer ländlichen in eine industriell-kapitalistische Ordnung für das Leben angloamerikanischer Männer: 62
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Lee J. Alston und Kyle D. Kauffman, „Agricultural Chutes and Ladders: New Estimates of Sharecroppers and ‚True Tenants‘ in the South 1900–1920.“ In: The Journal of Economic History, Jg. 57, Nr. 2 ( Juni 1997), S. 464–475; Don Doyle, New Men, New Cities, New South: Atlanta, Nashville, Charleston, Mobile, 1860–1910. Chapel Hill et al.: University of North Carolina Press 1990; Eric Foner, A Short History of Reconstruction, 1863–1877. New York: Harper & Row Publishers 1990, S. 171; Connie L. Lester, Up from the Mudsills of Hell: The Farmers’ Alliance, Populism, and Progressive Agriculture in Tennessee, 1870–1915. Athens et al.: University of Georgia Press 2006, S. 4 f.; Howard N. Rabinowitz, The First New South, 1865–1920. Arlington Heights: Davidson 1992, S. 27 f.. Wie Linda Kerber herausgearbeitet hat, wurde Abhängigkeit seit der Unabhängigkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika mit Weiblichkeit assoziiert (Linda K. Kerber, Women of the Republic: Intellect and Ideology in Revolutionary America. Chapel Hill et al.: University of North Carolina Press 1980, S. 34).
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The industrious producing citizen was a ‚free-holder,‘ a name whose vital significance to British liberty our times have almost forgotten. He dwelt under his own roof-tree. He was his own man; he was the fee-simple owner of the homestead where his production was created by the skill and labor of himself and his children, apprentices and servants. Now all this is changed; the loom is no longer heard in the home; vast factories, owned by monopolists for whom the cant of the age has already found their appropriate name as ‚kings of industry,‘ now undersell the home products everywhere. The axe and hoe which the husbandman wields, once made at the country forge, the shoe placed on his mule’s feet, the plow with which he turns the soil, the very helve in his tool, all come from the factory. … Thus production is centralized. Capital is collected in commanding masses, at whose bidding the free-holding citizen is sunk into the multitudinous hireling proletariat. Conditions of social organization are again produced, fully parallel to the worst results of feudalism, in their incompatibility with republican institutions.64
Der Verlust der manly Independence wurde also nicht nur als eine Krise angloamerikanischer Männlichkeit, sondern darüber vermittelt auch als Bedrohung für die republikanische Ordnung der USA wahrgenommen. Während diese gesellschaftlichen Prozesse auch im Norden der USA von vielen Menschen als Bedrohung empfunden wurden, steigerten spezifische historische Verhältnisse in den Südstaaten die Feindseligkeiten gegenüber diesen Entwicklungen:65 zum einen die unter Einsatz einer vergeschlechtlichten Linse wahrgenommene Niederlage im Bürgerkrieg und die daran gekoppelten, zumindest temporären Erschütterungen des Geschlechterverhältnisses, zum anderen die als Fremdbeherrschung des Südens durch den Norden und damit als Verstoß gegen die manly Independence verstandene Stationierung von Bundessoldaten im Süden sowie die überwiegende Besetzung der politischen Ämter durch häufig aus den Nordstaaten stammende Politiker der Republikanischen Partei; darüber hinaus die Emanzipation der afroamerikanischen Sklav_innen, die Verleihung der Bürgerrechte an afroamerikanische Männer sowie die Besetzung politischer Ämter durch Afroamerikaner während der Reconstruction Era, die sowohl die Stratifizierung der Südstaatengesellschaft wie auch das da64
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R. L. Dabney, The New South. Raleigh: Edwards, Broughton & Co., Steam Printers and Binders, 1883, S. 5 f., Louis Round Wilson Special Collection Library (im Folgenden: LRWL), Southern Pamphlet Collection (im Folgenden: SPC). Mary Eschelbach Hansen, „Land Ownership, Farm Size and Tenancy after the Civil War.“ In: The Journal of Economic History, Jg. 58, Nr. 3 (September 1998), S. 822–829, hier S. 822; James Gilbert, Men in the Middle: Searching for Masculinity in the 1950s. Chicago et al.: The University of Chicago Press, 2005, S. 16; Kimmel, Manhood, S. 80–82.
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mit verwobene Selbstverständnis angloamerikanischer Männer fundamental erschütterten.66 66
Zur Bedeutung von Geschlechterkonstruktionen für das Verständnis des Civil War und zu den Effekten der militärischen Niederlage auf das Geschlechterverhältnis siehe Catherine Clinton und Nina Silber (Hg.), Divided Houses: Gender and the Civil War. New York et al.: Oxford University Press 1992; Sonya Michel, „The Reconstruction of White Southern Manhood.“ In: Norbert Finzsch und Jürgen Martschukat (Hg.), Different Restorations. Providence et al.: Berghahn Books 1996, S. 140–164; Marjorie Spruill Wheeler, „Divided Legacy: The Civil War, Tradition, and the ‚Woman Question,‘ 1870–1920.“ In: Edward D. C. Campbell und Kym R. Rice (Hg.), A Woman’s War: Southern Women, Civil War, and the Confederate Legacy. Charlottesville et al.: University Press of Virginia 1996, S. 165–191, hier S. 167–169; LeeAnn Whites und Alecia P. Long (Hg.), Occupied Women: Gender, Military Occupation, and the American Civil War. Baton Rouge: Louisiana State University Press 2009. Die Wahrnehmung der militärischen Niederlage als Effeminierung der Südstaatenmänner zeigte sich u. a. in der Anekdote, die sich um die fehlgeschlagene Flucht des Präsidenten der Konföderierten Staaten, Jefferson Davis, rankte und insbesondere in den Nordstaaten eine breite Rezeption in Zeitungsartikeln, Gedichten, Karikaturen und gar Theaterstücken fand. Nachdem die NordVirginia-Armee unter dem Kommando von General Robert E. Lee in der Schlacht bei Appomattox geschlagen wurde und Lee daraufhin kapitulierte, habe Jefferson Davis versucht, sich der Ergreifung durch die Unionstruppen durch eine List zu entziehen. Um seine Identität zu verbergen, habe sich Davis ein Kleid angezogen und als Frau getarnt versucht sich in den Wald zu flüchten. Allerdings sei er schnell an den unter dem Kleid hervorscheinenden Schuhen erkannt und von Soldaten gefangengenommen worden. Bei seiner Festnahme habe sich Davis pikiert darüber geäußert, dass die Bundesregierung Jagd auf Frauen und Kinder mache. Wie auch immer sich diese Geschichte tatsächlich ereignet haben mag, fest steht, dass Nordstaatler_innen durch die Effeminierung Jefferson Davis’ die Männlichkeit von Südstaatlern als Ganzes in Frage stellten (Michel, „White Southern Manhood“, S. 146 f.; Nina Silber, „Intemperate Men, Spiteful Women, and Jefferson Davis.“ In: Clinton und Silber (Hg.), Divided Houses, S. 283–305, hier S. 284). Zum Zusammenhang zwischen der Emanzipation von Afroamerikaner_innen und Bedrohungswahrnehmungen angloamerikanischer Männer siehe u. a. Whites, „Civil War as a Crisis“, S. 9 f.; Nell Irvin Painter, Southern History Across the Color Line. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press, 2002, S. 116 f.; Nancy Leys Stepan, „Race and Gender: The Role of Analogy in Science.“ In: David Theo Goldberg (Hg.), Anatomy of Racism. Minneapolis: University of Minnesota Press 1990, S. 38–57. Die mit der Aufhebung der Sklaverei verbundene Schwächung der Verfügungsgewalt und Dominanz angloamerikanischer Männer über afroamerikanische Männer erschütterte jedoch nicht nur das Selbstverständnis angloamerikanischer Südstaatler. Auch für Männer im Norden war die gesellschaftliche Subordination afroamerikanischer Männer von konstitutiver Natur (William E. Forbath, „Caste, Class and Equal Citizenship.“ In: Michigan Law Review, Jg. 98, Nr. 1 (Oktober 1999), S. 2 f. (1–91). Dieser Zusammenhang von Männlichkeit und Soldatentum wurde im Übrigen auch von afroamerikanischen Männern anerkannt. Norbert Finzsch und Michaela Hampf betonen, dass diese die Möglichkeit zu militärischen Kampfeinsätzen ganz wesentlich als eine Chance begriffen hätten, ihrer Männlichkeit Anerkennung zu verschaffen (Finzsch und Hampf, „Männlichkeit im Süden“, hier S. 55).
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Um diese als krisenhaft empfundene Situation zu überwinden, griffen angloamerikanische Männer auf Strategien der Einschüchterung und der Gewalt zurück. Sie überzogen den Süden mit einer primär gegen afroamerikanische Menschen gerichteten Terrorwelle.67 Auch nachdem die Demokratische Partei im Süden bereits in den 1870er Jahren in einem Bundesstaat nach dem anderen die politische Macht erobern konnte, blieb das Verhältnis zwischen anglo- und afroamerikanischen Menschen auch in den anschließenden Dekaden ein zentrales und spannungsgeladenes Thema.68 Eine strikte Segregation entlang der Color Line wurde errichtet und vermeintliche Verstöße gegen diese Grenzziehung in zahlreichen Lynchings unter dem Einsatz brutalster Gewalt geahndet. Jedoch wurden nicht nur afroamerikanische Menschen auf vielfältige Weise in dieses mehrsträngige Krisennarrativ angloamerikanischer Männlichkeiten eingebunden und mit verschiedenen Aspekten der wahrgenommenen Krisenhaftigkeit in Verbindung gesetzt. Im Hinblick auf ihren zentralen Untersuchungsgegenstand, die Genese einer modernen antisemitischen Weltsicht in den Südstaaten, spürt die vorliegende Arbeit den Verknüpfungen nach, die ‚Juden‘ in zeitgenössischen Krisendiskursen mit vermeintlichen Bedrohungen assoziierten. Dabei versucht sie, Antworten auf folgende Fragen zu finden: Mit welchen Gefahren wurden ‚Juden‘ verknüpft? In welches Verhältnis wurden sie zu den sich vollziehenden gesellschaftlichen Transformationen und Umbrüchen gesetzt? Wie wurde das Verhältnis zwischen ‚jüdischen‘ und ‚afroamerikanischen‘ Menschen imaginiert? Wie wurde ein als ‚jüdisch‘ benannter Subjekttypus in 67
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Siehe u. a. Stephen Kantrowitz, Ben Tillman and the Reconstruction of White Supremacy. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 2000; Allen W. Trelease, White Terror: The Ku Klux Klan Conspiracy and Southern Reconstruction. Westport et al.: Greenwood Press 1971. Insbesondere afroamerikanische Männer wurden häufig Opfer brutaler Übergriffe angloamerikanischer Männer. Dies hatte u. a. darin seine Ursache, dass die vermeintliche Entmännlichung häufig auf dem Feld der Sexualität verhandelt wurde. Der Verlust der Kontrolle über afroamerikanische Männer bzw. deren formal rechtliche Gleichstellung wurde mit der Unfähigkeit verbunden, die Reinheit und Tugendhaftigkeit der weiblichen Familienangehörigen und damit die eigene Ehre zu bewahren. Wie Martha Hodes gezeigt hat, gewann die Figuration des Black Beast Rapist nach der Verleihung der Bürgerrechte an afroamerikanische Männer während der Reconstruction Era deutlich an Wirkmacht. Die mit der Krisenwahrnehmung unauflöslich verwobene Hypersexualisierung afroamerikanischer Männer zielte also darauf ab, den Freedmen ihre kürzlich gewonnenen Rechte zu entreißen und somit wieder die gesellschaftlich dominante Stellung angloamerikanischer Männer zu rekonstituieren (Martha Hodes, „The Sexualization of Reconstruction Politics: White Women and Black Men in the South after the Civil War.“ In: Journal of the History of Sexuality, Jg. 3, Nr. 3 ( Januar 1993), S. 402–417). Zur Redemption siehe u. a. Foner, A Short History, S. 247–253.
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zeitgenössischen Diskursen konstruiert? Welche Wirkmacht entwickelten diese Verknüpfungen im Verlaufe des Leo Frank-Case? Um diese Fragen beantworten zu können, bedarf es zunächst einer weiteren Schärfung zentraler Konzepte der Arbeit. Aus diesem Grunde werde ich, bevor ich mich der Vorstellung des Aufbaus der Arbeit widme, die Begriffe ‚Judenfeindschaft‘, ‚Antijudaismus‘ und ‚Antisemitismus‘ voneinander trennen und sie innerhalb des Untersuchungsvorhabens verorten.
Judenfeindschaft, Antijudaismus und Antisemitismus: Zum Verständnis grundlegender Begriffe in der Arbeit Die im Folgenden vorgenommene Begriffsbeschreibung ist nicht mit einer starren Definition zu verwechseln. Sie zielt nicht darauf ab, eine transhistorisch gültige, also tendenziell von Raum und Zeit abstrahierende Definition von Antisemitismus zu geben. Vielmehr möchte sie die Begriffe konkret in Bezug auf ihren historischen Gegenstand und ihre Fragestellung entwickeln, um mit ihnen einen sich im Leo Frank-Case vollziehenden qualitativen Wandel der Judenfeindschaft in den Südstaaten erfassen zu können. Der Begriff des ‚Antijudaismus‘ beziehungsweise das dazugehörige Adjektiv ‚antijudaistisch‘ beschreibt eine feindselige Haltung gegenüber ‚Juden‘, die religiös motiviert ist und sich aus dem spannungsgeladenen Verhältnis zwischen Christentum und Judentum entwickelte.69 In den Südstaaten spielte diese Form der Judenfeindschaft eine bedeutende Rolle. Im alltäglichen Leben wie auch in Textproduktionen wurden ‚Juden‘ zum Beispiel immer wieder mit der Kreuzigung von Jesus Christus in Verbindung gesetzt. Robert Michael stellt auf Grund der enormen Wirkmacht des Antijudaismus gar folgende These auf: „The single most potent and effective cause of American antisemitism is religious antagonism.“70 In Abgrenzung dazu bezeichnet ‚Antisemitismus‘ beziehungsweise ‚antisemitisch‘ eine Feindschaft gegenüber ‚Juden‘, die ihre Antriebskraft primär daraus bezieht, dass ‚Juden‘ mit wahrgenommenen sozialen, ökonomischen oder kulturellen Verwerfungen der kapitalistischen Moderne verknüpft werden. Charakteristisch für antisemitische Denkweisen ist die Imagination einer 69 70
Walter Dietrich, Martin George und Ulrich Luz, „Vorwort.“ In: dies. (Hg.), Antijudaismus – christliche Erblast. Stuttgart: Kohlhammer 1999, S. 7 f., hier S. 7. Michael,Concise History, S. 5.
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geheimnisvollen, unfassbaren Macht von ‚Juden‘, die sich in einer ‚jüdischen‘ (Welt-)Verschwörung manifestiert.71 Moderner Antisemitismus stellt also eine potenziell allumfassende Welterklärung dar. Allerdings werden in der Arbeit auch Zuschreibungen als antisemitisch bezeichnet, die ‚Juden‘ mit einzelnen Aspekten moderner Vergesellschaftung verbinden, ohne diese an Vorstellungen einer umfassenden ‚jüdischen‘ Verschwörung zu koppeln. So wurden in den Dekaden vor dem Leo Frank-Case ‚Juden‘ mit einzelnen Facetten von Urbanität in Verbindung gesetzt, ohne dass sie mit weiteren Aspekten der kapitalistischen Moderne verknüpft wurden. Auf diesem Weg soll die historische Verwobenheit zwischen den bis zum Leo Frank-Case zirkulierenden, unverbundenen antisemitischen Versatzstücken und der modernen antisemitischen Weltsicht, die während der Affäre aus diesen diskursiven Strängen synthetisiert wurde, deutlich gemacht werden. Während sich Antisemitismus also in ganz zentralen Aspekten deutlich von Antijudaismus unterscheidet, lässt sich jenseits der theoretischen Ebene in der historiographischen Praxis, insbesondere für die Südstaaten, in denen evangelikale Glaubensrichtungen einen immensen gesellschaftlichen Einfluss ausübten, keine vollends scharfe Trennlinie zwischen diesen beiden Formen der Judenfeindschaft ziehen. Zum einen weil Antisemitismus an die durch Antijudaismus hergestellte Konstruktion von ‚Juden‘ als bedrohlich anknüpfte und die Frontstellung zwischen Christ_innen sowie ‚Juden‘, wenn auch unter anderen Vorzeichen, fortschrieb, und zum anderen weil in den Südstaaten antijudaistische Elemente und Metaphern wie „Geldwechsler“ auch in antisemitische Diskurse integriert wurden. Diese Verflochtenheit zeigte sich während des Leo Frank-Case, insbesondere aber bei den evangelikalen Knights of the Ku Klux Klan. Trotz dieses verwobenen Verhältnisses zwischen Antijudaismus und modernem Antisemitismus wird in der Arbeit auf Grund ihres Erkenntnisinteresses beziehungsweise ihres Gegenstandes und der an ihn gerichteten Fragestellungen eine Trennung der beiden Konzepte vorgenommen. Ihr ist nicht daran gelegen, eine Geschichte des Antijudaismus zu schreiben, sondern sie will vielmehr durch eine genealogische Untersuchung der Entstehungsbedingungen des Leo Frank-Case die Genese einer modernen antisemitischen Weltsicht rekonstruieren. Um die Entstehungsbedingungen dieses modernen Antisemitismus und 71
Robert S. Wistrich, „The Devil, the Jews, and Hatred of the ‚Other‘.“ In: Robert S. Wistrich (Hg.), Demonizing the Other: Antisemitism, Racism and Xenophobia. Amsterdam: Harwood Academic Publishers 1999, S. 1–15, hier S. 1.
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deren Verknüpfung mit Krisendiskursen angloamerikanischer Männlichkeit zu untersuchen, ist folglich eine Differenzierung zwischen den beiden Formen der Judenfeindschaft sowie die Fokussierung auf Antisemitismus beziehungsweise eine (weitgehende) Außerachtlassung des Antijudaismus unerlässlich. Der im Untersuchungszeitraum der Arbeit, also von den 1860ern bis in die 1920er, in den Südstaaten neben dem Antisemitismus weiterhin wirksame Antijudaismus bleibt somit weitestgehend unberücksichtigt.
Quellenkritik und Diskursanalyse Ein bedeutsamer Akteur des qualitativen Wandels der Judenfeindschaft sowie der immensen Ausbreitung antisemitischen Wissens im Verlaufe des Leo FrankCase war Thomas Watson beziehungsweise die von ihm herausgegebenen Printmedien: die Wochenzeitung The Jeffersonian und die Monatszeitschrift Watson’s Magazine. In unzähligen Ausgaben dieser beiden Zeitungen wurden ‚Juden‘ mit unterschiedlichen Aspekten einer vermeintlichen Krise angloamerikanischer Männlichkeit verknüpft. Insbesondere ab dem Zeitpunkt, an dem das ProFrank-Lager den (juristischen) Kampf gegen das verhängte Todesurteil aufnahm, entwickelte sich die Affäre und die in dieser vermeintlich zum Ausdruck kommenden Machenschaften von ‚Juden‘ zu den Themen, die die Berichterstattung der Wochenzeitung The Jeffersonian dominierten.72 Der enorme Bedeutungs72
In einigen Ausgaben beherrschte der Leo Frank-Case die Berichterstattung von The Jeffersonian derart, dass er beinahe zum einzigen Gegenstand geriet. In der Ausgabe vom 2. September 1915 setzten sich mit Ausnahme zweier Artikel, einem Leserbrief und einigen Werbeanzeigen alle Texte mit dem Leo Frank-Case auseinander. Das Thema füllte zehn der zwölf Seiten der Ausgabe. Einer der beiden Artikel, die sich nicht explizit der zweijährigen Affäre widmeten, thematisierte die vermeintliche Unterdrückung der Farmer durch das „Big Money“. Durch die antisemitische Konnotation dieses Begriffs, der in zahlreichen Berichten in The Jeffersonian in ein enges Verhältnis mit „reichen Juden“ gesetzt wurde, wies auch dieser Artikel eine antisemitische Stoßrichtung auf. Somit lässt sich festhalten, dass in dieser Ausgabe lediglich ein Artikel und ein Leserbrief mit nicht-antisemitischem Gehalt erschienen (The Jeffersonian, 2.9.1915). In Watson’s Magazine wurden auf Grund des anderen Formats eher längere, reportagenartige Berichte publiziert. In der Ausgabe vom August 1915 hetzte Thomas Watson unter dem Titel „The Celebrated Case of the State of Georgia vs. Leo Frank“ auf über 50 Seiten gegen ‚Juden‘ im Allgemeinen und Leo Frank im Speziellen (Thomas Watson, „The Celebrated Case of the State of Georgia vs. Leo Frank.“ In: Watson’s Magazine, Jg. 21, Nr. 4 (August 1915), S. 182–235). Auch die Ausgaben vom Januar, März, September und Oktober des Jahres 1915 beinhalteten längere Artikel zu der Affäre (siehe Thomas Watson, „The Leo Frank Case.“ In: Watson’s Magazine, Jg. 20, Nr. 3 ( Januar 1915),
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zuwachs, den der Antisemitismus in der Weltsicht Thomas Watsons sowie in den beiden von ihm herausgegebenen Zeitungen erfuhr, zeitigte enorme Effekte unter Zeitgenoss_innen und war maßgeblich für die Streuung dieses Wissens verantwortlich. Die Breitenwirkung und Strahlkraft, die von den beiden Printmedien ausging, manifestierten sich unter anderem in der drastischen Steigerung der Auflage des The Jeffersonian im Verlauf der zweijährigen Affäre. Wurden 1913 lediglich 25.000 Exemplare gedruckt, verdreifachte sich die Auflage bis September 1915 auf 87.000.73 Damit lässt sich für den Jeffersonian zur Zeit des Leo Frank-Case festhalten, dass er zum einen die erste Zeitung in den Südstaaten darstellte, die über einen längeren Zeitraum eine zusammenhängende und umfassende moderne antisemitische Weltsicht in einer derartigen Dichte propagierte, und zum anderen, dass er diese Sichtweise einer breiten Leser_innenschaft unterbreitete.74 Folglich stellen die beiden Printmedien zentrale Quellen für die Rekonstruktion des antisemitischen Diskurses im Zeitraum zwischen 1913 und 1915 dar. Die sich während des Leo Frank-Case vollziehende Herausbildung von Medien wie dem Jeffersonian, die ganz wesentlich auf die Verbreitung einer antisemitischen Weltsicht zielten, fand ihre Fortsetzung in den Publikationen des Ku-Klux-Klan. Mit dem Invisible Empire entstand die erste Organisation in
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S. 139–163; ders., „A Full Review of the Leo Frank Case.“ In: Watson’s Magazine, Jg. 20, Nr. 5 (März 1915), S. 235–281; ders., „The Official Record in the Case of Leo Frank, a Jew Pervert.“ In: Watson’s Magazine, Jg. 21, Nr. 5 (September 1915), S. 251–294; ders., „The Rich Jews Indict a State! The Whole South Traduced. In the Matter of Leo Frank.“ In: Watson’s Magazine, Jg. 21, Nr. 6 (Oktober 1915), S. 301–342). Dinnerstein, Frank Case, S. 119. Die Publikationen aus dem Umfeld der populistischen Bewegung unterscheiden sich in zweierlei Hinsicht vom Jeffersonian während des Leo Frank-Case. Zum einen wurde in populistischen Zeitungen wie Southern Mercury die Propagierung des antisemitischen Wissens während der 1890er Jahre niemals zur primären Intention und erreichte niemals eine derartige Dominanz in der Berichterstattung wie es in The Jeffersonian der Fall war. Zum anderen ist der Antisemitismus von Populist_innen nicht mit der während der Affäre entstehenden kohärenten antisemitischen Weltsicht gleichzusetzen. Die für den modernen Antisemitismus bedeutende Idee einer auf ökonomischem Reichtum aufbauenden jüdischen Verschwörung gegen Nichtjuden lässt sich zwar bereits in Artikeln finden, die in den 1890er Jahren in Zeitungen wie dem Southern Mercury publiziert wurden, oder auch in Karikaturen zum Beispiel von Watson Heston. Allerdings verknüpfte das Verschwörungsnarrativ der Populist_innen im Gegensatz zur modernen Weltsicht, wie sie während des Leo Frank-Case hergestellt wurde, ‚Juden‘ nicht oder nur äußerst rudimentär mit weiteren Aspekten der kapitalistischen Moderne bzw. kapitalistischer Vergesellschaftung wie Urbanisierung oder weiblicher Lohnarbeit.
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der Geschichte der Südstaaten, die eine dezidiert antisemitische Programmatik propagierte.75 Zu diesem Zweck wurden in den Südstaaten erstmals antisemitische Schriften, Pamphlete und Broschüren wie The Attitude of the Knights of the Ku Klux Klan toward the Jew produziert, deren einzige Stoßrichtung der Kampf gegen diverse vermeintlich von ‚Juden‘ ausgehende Gefahren für die US-Gesellschaft bildete.76 Die zentrale Bedeutung, die ‚Juden‘ im Weltverständnis des KKK zukam, materialisierte sich somit auch in der Gattung der Texte, die vom Klan über ‚Juden‘ verfasst wurden, und folglich auch in den für die Arbeit herangezogenen Quellen. Das gesteigerte Bedrohungspotenzial, das in der Weltsicht des Klans mit ‚Juden‘ verknüpft war, machte es notwendig, die mit ihnen assoziierten Gefahren eingehender zu beschreiben. Zusätzlich zu diesen Pamphleten stützt sich die Untersuchung auch auf vom Klan publizierte Zeitungen wie The Imperial Night-Hawk und vom KKK herausgegebene Bände, in denen zum Beispiel Reden von hochrangigen Funktionären verbreitet wurden. Für die Untersuchung der einzelnen im Leo Frank-Case zusammenlaufenden Diskursstränge wiederum gestaltet sich die Quellenlage auf Grund der weniger zentralen Bedeutung, die ‚Juden‘ in den Krisendiskursen der Dekaden vor der Affäre einnahmen, deutlich anders. Für alle drei Kapitel, die sich genealogisch mit den Entstehungsbedingungen des Leo Frank-Case auseinandersetzen, lässt sich festhalten, dass die Diskurse, die eine allgemeine ‚Krise angloamerikanischer Männlichkeit‘ beschreiben, von einer unglaublichen Dichte gekennzeichnet waren. Es lassen sich zahlreiche Monographien, ausführliche Pamphlete, dokumentierte Reden und Zeitungsartikel zu den verschiedenen Aspekten der vermeintlichen Krisenhaftigkeit finden. Deutlich weniger dicht und explizit waren jedoch die zeitgenössischen Beschreibungen, in denen ‚Juden‘ mit diesen vermeintlichen Krisenphänomenen verknüpft wurden. Entstanden zwar insbesondere im Umfeld der populistischen Bewegung Texte, in denen ein Zusammenhang zwischen einer angeblich von ‚den Rothschilds‘ und/oder Shylocks ausgehenden Verschwörung gegen die Farmer und einer vermeintlichen Versklavung ehemals unabhängiger angloamerikanischer Männer explizit hergestellt wurde, bildeten ‚Juden‘ in den Dekaden vor dem Leo Frank-Case häufig nicht 75
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Während unter Populist_innen antisemitische Erklärungsansätze verbreitet waren, lässt sich in der Programmatik der People’s Party keine explizit antisemitische Stoßrichtung ausmachen (Diner, Jews of the United States, S. 171). Hiram W. Evans, The Attitude of the Knights of the Ku Klux Klan toward the Jew. Atlanta: Knights of the Ku Klux Klan Inc. 1923, Library of Congress (im Folgenden: LoC), Ku Klux Klan Papers (im Folgenden: KKKP), Box 1, Folder 6.
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den zentralen Gegenstand von Texten.77 Sie tauchten meist wie beiläufig auf der Bühne auf, um ebenso schnell wieder von ihr zu verschwinden.78 Die oftmals periphere Positionierung von ‚Juden‘ innerhalb dieser Textproduktionen verweist auf die nachgeordnete Bedeutung, die ‚jüdischen‘ oder als solche kategorisierten Menschen in den zeitgenössischen Erklärungsansätzen der vermeintlichen Krise zugeschrieben wurde. Daraus lässt sich jedoch nicht der Schluss ziehen, ‚Juden‘ seien nicht bereits in den Dekaden vor dem Leo Frank-Case in den Südstaaten mit diversen Eigenschaften versehen worden, die in christlich-westlichen Kulturen seit Jahrhunderten als ‚jüdisch‘ galten. Vielmehr lässt sich mittels einer breit angelegten Analyse zeitgenössischer Diskurse zeigen, dass zahlreiche Attribute, die ‚Juden‘ in antisemitischen Diskursen zugeschrieben wurden, bereits in diesen Dekaden einen festen Platz innerhalb des Alltagswissens vieler Südstaatler_innen einnahmen und somit jederzeit abrufbar waren. Um die in den unterschiedlichen Textproduktionen und dort oftmals am Rande reproduzierten Versatzstücke in den Blick zu bekommen, bedarf es einer Methode mittels derer sich dieses latente und alltägliche Wissen über ‚Juden‘ rekonstruieren und somit für eine Genealogie des Leo Frank-Case fruchtbar machen lässt. Eine historische Diskursanalyse bietet für dieses historiographische Unterfangen insofern das richtige methodische Werkzeug, als sie „das Aussagen als Wiederholung ähnlicher Aussagen“ dokumentiert.79 Die unterschiedlichen, in zahlreichen Zeitungsartikeln getätigten Äußerungen über ‚Juden‘, die einzeln betrachtet kaum oder keine Aussagekraft über die zeitgenössische Konstruktion von ‚Juden‘ aufweisen, geben im Zusammenspiel mit den in anderen Artikeln getätigten ähnlichen oder gleichen Aussagen als Serie Auskunft über das in den Südstaaten zu dieser Zeit zirkulierende Wissen über ‚Juden‘; ein Wissen, das zwar in den zeitgenössischen Krisendiskursen deutlich vom enorm wirkmächtigen Rassismus gegen ‚Afroamerikaner‘ oder dem Ressentiment gegenüber sogenannten Carpetbaggern und Yankees überlagert wurde, das aber dennoch je77
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Zur Figuration Shylock und ihrem Verhältnis zu judenfeindlichen und antisemitischen Diskursen im Allgemeinen siehe u. a. D. M. Cohen, „The Jew and Shylock.“ In: Shakespeare Quarterly, Jg. 31, Nr. 1 (Frühling 1980), S. 53–63; Anat Feinberg-Jütte, „Siebtes Bild: Shylock.“ In: Julius H. Schoeps und Joachim Schlör (Hg.), Antisemitismus: Vorurteile und Mythen. München et al.: Piper 1995, S. 119–126; Michael, American Antisemitism, S. 33. Eine Ausnahme hiervon bildete das von Arthur Abernethy verfasste Pamphlet The Jew a Negro, das 1910 publiziert wurde, aber keine breite Rezeption erfuhr (Arthur T. Abernethy, The Jew a Negro: Being a Study of the Jewish Ancestry from an Impartial Standpoint. Moravian Falls: Dixie Publishing Company 1910). Philipp Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse. Frankfurt: Suhrkamp 2003, S. 34 f.
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derzeit präsent war und sich in (Alltags-)Diskriminierungen und vereinzelt gar in Gewalttaten manifestierte.80 Eine Untersuchung der zeitgenössischen Diskurse ermöglicht somit in einem genealogischen Verfahren die Entstehungsbedingungen des Leo Frank-Case beziehungsweise die Herkunft des während der Affäre wirksamen antisemitischen Wissens in den Blick zu bekommen.81 Der Rückgriff auf ein solches methodisches Instrumentarium befähigt somit dazu, diskursive Verschiebungen offenzulegen, die sich im Vorfeld oder während des Leo FrankCase vollzogen und dadurch erst die gewaltige Potenz des antisemitischen Furors hervorgebracht haben.82 Auf diesem Weg lässt sich unter anderem die in der bisherigen Historiographie weitgehend unbeantwortet gebliebene Frage ergründen, warum die Carpetbagger-Figuration im Verlauf des Leo Frank-Case eine Verschiebung zum Jew Carpetbagger erfahren konnte. Das in der Arbeit angewandte genealogische Verfahren ermöglicht also den Fall mittels einer breit angelegten Untersuchung zeitgenössischer Diskurse zur vermeintlichen Krise angloamerikanischer Männlichkeit sowie der Verortung von ‚Juden‘ innerhalb 80
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Achim Landwehr, Geschichte des Sagbaren: Einführung in die historische Diskursanalyse. Tübingen: edition diskord 2001, S. 7. Als Carpetbagger wurden nach dem Bürgerkrieg angloamerikanische Nordstaatler bezeichnet, die sich zum einen nach dem Bürgerkrieg in den Südstaaten niederließen und dort zum anderen auf verschiedene Art und Weise in den politischen Betrieb der Reconstruction involviert waren (Randolph B. Campbell, „Carpetbagger Rule in Reconstruction Texas: An Enduring Myth.“ In: Southwestern Historical Quarterly, Jg. 97, Nr. 4 (1994), S. 587–596, hier S. 587; William Warren Rogers, Black Belt Scalawag: Charles Hays and the Southern Republicans in the Era of Reconstruction. Athens et al.: University of Georgia Press 1993, S. x). Eine genauere Auseinandersetzung mit dieser Figuration liefert das zweite Kapitel der vorliegenden Arbeit. Mit Foucault wird in dieser Arbeit Genealogie bzw. ein genealogisches Verfahren als der Versuch verstanden, die „Entstehung [von Diskursen, K. K.], die zugleich zerstreut, diskontinuierlich und geregelt ist“, zu untersuchen (Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag 2010, S. 41). Zur Genealogie nach Foucault siehe u. a. Hannelore Bublitz, „‚Geheime Rasereien und Fieberstürme‘: Diskurstheoretisch-genealogische Betrachtungen zur Historie.“ In: Jürgen Martschukat (Hg.), Geschichte schreiben mit Foucault. Frankfurt et al.: Campus Verlag 2002, S. 29–41; Martin Saar, Genealogie als Kritik: Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault. Frankfurt et al.: Campus Verlag 2007. ‚Herkunft‘ ist hier im foucaultschen Sinne zu verstehen. Michel Foucault konzeptualisierte in „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ die Suche nach der Herkunft als die Suche nach den „vielfältigen, subtilen, einzigartigen, subindividuellen Merkmale[n]“ einer Idee, „die sich darin kreuzen und ein schwer zu entwirrendes Netz bilden“ (Michel Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie.“ In: Michel Foucault, Geometrie des Verfahrens. Frankfurt: Suhrkamp 2009, S. 181–205, hier S. 186). Foucault, Archäologie, S. 42–45.
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ebendieser aus einer anderen Perspektive als bisherige historiographische Arbeiten zu untersuchen. Der gewählte methodische Zugang macht es zum einen möglich, die Einbettung der Affäre in die Geschichte der Südstaaten, also ihre Verflechtung mit zeitlich Vorgängigem beziehungsweise ihr Nachfolgendem, deutlicher als in bisherigen historischen Arbeiten herauszuarbeiten, und zum anderen, bis dato in der historiographischen Auseinandersetzung mit dem Leo Frank-Case weitgehend im Dunkeln verbliebene Aspekte, wie die Genese der Figur des Jew Carpetbaggers, stärker zu beleuchten.
Gliederung Für das Vorhaben, in einem genealogischen Verfahren den Leo Frank-Case als etwas historisch Gewachsenes und aufs engste mit der Geschichte der Südstaaten Verwobenes zu verstehen, erscheint eine chronologische Gliederung der Arbeit wenig zielführend. Stattdessen dient die zweijährige Affäre in der Arbeit als Angelpunkt, von dem aus zum einen, in die Vergangenheit blickend, der Herkunft der unterschiedlichen, im Fall zusammengeführten diskursiven Stränge nachgespürt wird, und zum anderen, die unmittelbaren Jahre nach dem Leo FrankCase in den Fokus nehmend, das Fortleben und die Verbreitung dieser während der Affäre hergestellten kohärenten, modernen antisemitischen Weltsicht durch den Ku-Klux-Klan untersucht wird. Der Fall bildet somit das Gravitationszentrum, den festen Bezugspunkt der darum angeordneten Kapitel. Jedes von ihnen ist sowohl thematisch wie auch zeitlich mit der Affäre verknüpft. Die Verwobenheit der einzelnen Kapitel mit dem Leo Frank-Case manifestiert sich auch in ihrer jeweiligen Struktur. So münden die Kapitel, die zeitlich der Affäre Vorgängiges zum Gegenstand haben, jeweils in dem Fall, während seine Bedeutung für die Neugründung des Ku-Klux-Klan als moderne Massenorganisation mit nun auch antisemitischer Stoßrichtung den thematischen Ausgangspunkt des letzten Kapitels bildet. Folglich verlaufen die drei Kapitel, die, retrospektiv von der zweijährigen antisemitischen Raserei ausgehend, je einem der drei als zentral für den Verlauf der Affäre identifizierten Stränge des Krisendiskurses nachgehen, zeitlich weitgehend parallel zueinander. Die Gliederung basiert also zuvorderst auf thematischen Gesichtspunkten und nicht primär auf chronologischen. Das erste Kapitel untersucht den Leo Frank-Case, beziehungsweise fokussiert die zeitgenössischen Auseinandersetzungen, die sich um die Ermordung der jungen Arbeiterin Mary Phagan rankten. Nachdem Phagan am 26. April 1913 tot auf dem Gelände der National Pencil Company aufgefunden worden war, geriet
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der jüdische Fabrikleiter, Leo Frank, schnell ins Visier der Ermittlungen. Es kam zur Anklage wegen Mordes. Ende Juli wurde unter enormer Teilnahme der Öffentlichkeit ein Prozess eröffnet, an dessen Ende das Todesurteil gegen Frank verhängt wurde. Das Urteil wie auch die Prozessführung lösten in der Bevölkerung erregte und hitzige Auseinandersetzungen aus. Insbesondere die Rolle von James Conley als Hauptbelastungszeuge im Prozess, einem Afroamerikaner, der als Reinigungskraft in der National Pencil Company arbeitete und zunächst selbst unter Mordverdacht geriet, wurde vor dem Hintergrund des zeitgenössisch rabiaten Rassismus häufig thematisiert. Aber auch die Bedeutung von Franks Judesein wurde zum zentralen Gegenstand der leidenschaftlichen Kontroverse zwischen einem Pro-Frank- und einem Anti-Frank-Lager. In einem ersten Schritt werde ich in diesem Kapitel den strikt rassifizierten Auseinandersetzungen mit der äußerst ungewöhnlichen Konstellation zwischen Angeklagtem und Hauptbelastungszeugen sowie mit der Frage, ob Antisemitismus die Triebkraft für den Frank entgegenschlagenden Hass gebildet habe, nachspüren. Zum Abschluss des Kapitels wird dann der Zusammenhang zwischen Krisenwahrnehmungen angloamerikanischer Männlichkeit und der feindseligen Haltung vieler Zeitgenoss_innen gegenüber ‚Juden‘ im Allgemeinen und Leo Frank im Besonderen fokussiert. Dabei werden drei Felder zeitgenössischer Krisendiskurse identifiziert, in denen ‚Juden‘ als Aggressoren gegenüber angloamerikanischer Männlichkeit wahrgenommenen wurden. Die Entstehungsbedingungen dieser drei Verknüpfungen in einem genealogischen Verfahren zu rekonstruieren, bildet das Vorhaben der anschließenden drei Kapitel. Den Untersuchungsgegenstand des zweiten Kapitels bilden zeitgenössische Vorstellungen einer engen Verflochtenheit von ‚Juden‘ mit Yankees beziehungsweise Carpetbaggern, die im Verlaufe des Leo Frank-Case eine signifikante Wirkmacht entfalteten. In Weltwahrnehmungen angloamerikanischer Südstaatler_innen verschmolzen während der Affäre ‚Juden‘ und Yankees zur Figuration des Jew Carpetbaggers. Um zu verstehen, warum diese antisemitische Figur für Zeitgenoss_innen denkbar und plausibel war, werden in einem ersten Schritt, der zurück in die Zeit der Reconstruction Era führen wird, zunächst die in dieser Phase entstehende Figur des Carpetbaggers sowie eng an sie gekoppelte Verschwörungsnarrative rekonstruiert. Dabei wird unter anderem folgenden Fragen nachgegangen: Mit welchen gesellschaftlichen Umbrüchen setzten Südstaatler_innen diese Figur während der Reconstruction Era in Verbindung? Mit was für einer Subjektivität versahen sie diese? In diesem Zusammenhang sind die Verschiebungen, die sich durch die Abschaffung der Sklaverei und die Verleihung der Staatsbürgerrechte an afroamerikanische Männer im hierarchisierten
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Verhältnis zwischen anglo- und afroamerikanischen Menschen vollzogen hatten, von herausragender Bedeutung. In einem zweiten Schritt werde ich den Verknüpfungen nachspüren, die Zeitgenoss_innen in den Dekaden vor dem Leo Frank-Case zwischen der Figuration des Carpetbaggers oder des Yankees und ‚Juden‘ herstellten, um abschließend zu untersuchen, inwieweit und in welcher Form dieses antisemitische Wissen während der zweijährigen Affäre wirkmächtig wurde. Im dritten Kapitel wiederum wird den Entstehungsbedingungen einer weiteren zeitgenössischen Vorstellung nachgegangen, die im Verlauf des Leo FrankCase von enormer Wirkmacht gewesen ist: der Wahrnehmung von ‚Juden‘ als Triebkräfte des Niedergangs der Yeomanry. Seit dem Bürgerkrieg litten weite Teile des Agrarsektors unter schwerwiegenden ökonomischen Problemen. Viele Yeomen waren stark überschuldet und verloren letztendlich ihre Farm. Diese Entwicklungen lösten unter Zeitgenoss_innen fundamentale Bedrohungswahrnehmungen aus. Als Reaktion entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts die populistische Bewegung, die sich für die Interessen von primär angloamerikanischen Farmern einsetzte. Die sich vollziehenden Umbrüche wurden von Populist_innen häufig geschlechtlich codiert als eine Krise angloamerikanischer Männlichkeit verstanden. Diesen an die Probleme weiter Teile des Agrarsektors gekoppelten, vergeschlechtlichten Krisendiskursen werde ich in einem ersten Schritt nachspüren. In diesem Zusammenhang wird zum einen das zeitgenössischen Krisenwahrnehmungen zugrunde liegende Männlichkeitsideal untersucht und zum anderen danach gefragt, welche gesamtgesellschaftlichen Bedrohungen Zeitgenoss_innen mit dieser vermeintlichen Krise angloamerikanischer Männlichkeit verbanden. Anschließend richtet sich der Fokus der Untersuchung auf die bereits Ende des 19. Jahrhunderts hergestellten Verknüpfungen zwischen den Problemen des Agrarsektors und ‚Juden‘ im Allgemeinen sowie der vermeintlichen Krise angloamerikanischer Männlichkeit und ‚Juden‘ im Besonderen. Zum Abschluss des Kapitels wird dann der Frage nachgegangen, welche Bedeutung dieses in den Dekaden vor dem Leo Frank-Case hergestellte antisemitische Wissen im Verlauf der Affäre entwickelte. Das vierte Kapitel der Arbeit, das in seiner Struktur weitgehend den beiden vorhergehenden gleicht, setzt sich wiederum mit der Suche nach den Spuren einer weiteren während des Leo Frank-Case enorm wirkmächtigen Vorstellung auseinander: der zeitgenössischen Wahrnehmung von ‚Juden‘ als Akteuren der im Süden langsam vor sich gehenden Industrialisierung und Urbanisierung. In den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts hatten sich die Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse beschleunigt. Die Expansion sowohl von
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Lohnarbeitsverhältnissen als auch von urbanisierten Räumen wurde von angloamerikanischen Südstaatler_innen als fundamentaler Bruch mit dem Southern Way of Life verstanden. Insbesondere die mit der Zunahme industrieller Arbeitsverhältnisse einhergehende Ausweitung weiblicher Lohnarbeit. Aber auch andere Aspekte dieser gesellschaftlichen Transformation waren mit vielfältigen zeitgenössischen Bedrohungswahrnehmungen verknüpft. Innerhalb dieser Krisendiskurse wurden auch ‚Juden‘ mit unterschiedlichen Aspekten der als negativ empfundenen gesellschaftlichen Veränderungen in Verbindung gesetzt. In diesem Zusammenhang waren häufig auch Vorstellungen einer devianten männlich-‚jüdischen‘ Sexualität von Bedeutung. Wie die beiden vorherigen Kapitel endet auch dieses mit einem Abschnitt, in dem der Wirkmacht dieser Vorstellungen im Leo Frank-Case nachgegangen wird. Das fünfte und abschließende Kapitel wiederum blickt auf das Fortwirken des während des Leo Frank-Case hergestellten zusammenhängenden antisemitischen Weltbildes. Während der Affäre wurde wiederholt die Wiederbelebung des Ku-Klux-Klan propagiert. Tatsächlich gründete sich im November 1915, nur wenige Monate nach dem Lynching an Leo Frank, der Klan neu. Viele seiner Gründungsmitglieder stammten aus den Reihen der Knights of Mary Phagan, der Gruppe angloamerikanischer Männer, die den jüdischen Fabrikleiter umgebracht hatte. Diese Überschneidungen lassen vermuten, dass der Leo Frank-Case mehr als nur in personeller Hinsicht Einfluss auf die wiederbelebten Knights of the Ku Klux Klan ausgeübt hat. Diesem Verdacht nachgehend setzt sich die Arbeit mit der Frage auseinander, inwieweit sich Kontinuitäten, aber auch Verschiebungen zwischen der während des Leo Frank-Case hergestellten antisemitischen Weltsicht und dem vom Klan propagierten Antisemitismus diagnostizieren lassen.
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1 Antisemitismus, Rassismus und Krisenwahrnehmungen angloamerikanischer Männlichkeit im Leo Frank-Case You are possibly not aware of the fact, [sic!] that the Jews claim to believe, teach and preach that Christ’s mother was a prostitute and He a bastard, this I have heard from their own lips. They have three great objects in life, the first is to apparently make friends with the gentiles, the second is to swindle him out of his belongings, the third, last but not least, is to disgrace and seduce the wife, the daughter or sister of the gentile. They are degrading and destroying more than five hundred thousand gentile women each year in the United States.1
Mit diesen Worten legitimierte ein episkopaler Pfarrer retrospektiv das Lynching an Leo Frank, das eine Gruppe angloamerikanischer Männer einen Monat zuvor begangen hatte. In der Nacht zum 16. August 1915 drangen The Knights of Mary Phagan in die State Prison Farm in Milledgeville, Georgia, ein, entführten den dort inhaftierten Frank und erhängten ihn wenige Stunden später in einem Waldstück vor Marietta, einer Kleinstadt in der Nähe Atlantas. Das Lynchkommando setzte sich nicht aus sozial deklassierten Männern zusammen. Vielmehr bestand es, um mit den Worten des damaligen Dekans des Theologischen Seminars in Atlanta zu sprechen, aus Männern, die von bedeutenden Teilen der Bevölkerung als „sober, intelligent, of established good name and character“, als „good American citizens“ geschätzt wurden.2 Große Teile der Bevölkerung begrüßten die Ermordung Franks und zelebrierten den Fund der Leiche enthusiastisch. Nachdem der leblose, noch immer stranguliert an einem Baum hängende Körper am nächsten Morgen entdeckt wurde, kam es zu einem Menschenauflauf am Ort des Verbrechens. Souvenirjäger_innen schnitten Stücke aus der Kleidung des Gelynchten, sicherten sich 1 2
T. Benson, „An Episcopalian Lashes the Episcopal Minister, C. B. Wilmer.“ In: The Jeffersonian, 30.9.1915, S. 11. Zitiert nach: Robert Michael, A Concise History of American Antisemitism. Lanham et al.: Rowman & Littlefield Publishers 2005, S. 104. Zur Zusammensetzung des Lynchkomitees und zum Ablauf des Lynchings siehe Steve Oney, And the Dead Shall Rise: The Murder of Mary Phagan and the Lynching of Leo M. Frank. New York: Pantheon Books 2003, insbes. die Kapitel 19–21; [unbekannt], List of Vigilance Committee’s Members. Manuscript Archives, and Rare Book Library, Emory University, Atlanta (im Folgenden: MARBL), Leo Frank Collection (im Folgenden: LFC), Box 1, Folder 16.
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Fasern des Stricks oder machten Fotos von dem Erhängten. Überlieferte Fotos und Beschreibungen des Ereignisses vermitteln den Eindruck eines fröhlichen Volksfestes, dem ganze Familien beiwohnten. Wiederholt kam es zu Angriffen und gewalttätigen Übergriffen auf den Leichnam.3 Nachdem die Leiche in ein Bestattungsunternehmen in Atlanta gebracht werden konnte, versammelten sich vor dem Gebäude Tausende Menschen und drohten, sich gewalttätig Zugang zum Gebäude und damit zum Körper des Ermordeten zu verschaffen. Die Polizei organisierte daraufhin eine öffentliche Leichenschau, bevor die sterblichen Überreste von Frank nach New York überführt wurden. 15.000 Männer, Frauen und Kinder nahmen an diesem ‚Event‘ teil und machten Fotos des Aufgebahrten. Einige wohlhabende Bürger_innen Georgias boten gar 250 Dollar für den Kauf der Eiche, an der Leo Frank erhängt wurde. Aber der Besitzer lehnte ab.4 Zumindest in Teilen der Zeitungsredaktionen wurden die leidenschaftliche Freude und Genugtuung, die die Nachricht von der Gewalttat in großen Teilen der Bevölkerung ausgelöst hatte, geteilt. Als Speerspitze der journalistischen Hetze fungierten Thomas Watson und die von ihm herausgegebenen Zeitungen The Jeffersonian und Watson’s Magazine. Erstere dankte dem Lynchkommando in der unmittelbar nach dem Mord erschienenen Ausgabe auf der Titelseite dafür, den Staat Georgia erlöst zu haben.5 Diese heftigen zeitgenössischen Reaktionen stellen historische Beobachter_innen vor wichtige Fragen. Warum reagierten weite Teile der Bevölkerung derart leidenschaftlich und hasserfüllt? Was war geschehen, dass so viele Menschen einen derartigen Hass auf Leo Frank in sich trugen? Gut zwei Jahre zuvor, am Morgen des 26. April 1913, wurde die zum damaligen Zeitpunkt dreizehnjährige Mary Phagan auf dem Gelände der National Pencil Company ermordet aufgefunden. Geleitet wurde die Fabrik, in der Phagan als Arbeiterin angestellt war, von dem aus New York stammenden Juden Leo Frank. Vor dem Hintergrund, dass eine junge Frau vielen Südstaatler_innen als die „reinste Sache auf der Erde“ galt, versetzten die Nachricht von der Ermordung Phagans sowie kursierende Gerüchte, dass der Mord das Resultat eines fehlgeschlagenden Versuchs war, die junge Arbeiterin sexuell zu missbrauchen, 3 4 5
Leonard Dinnerstein, The Leo Frank Case. Athens et al.: The University of Georgia Press 2008, S. 134 f. Dinnerstein, Frank Case, S. 144 f. [Thomas Watson?], „John M. Slaton Talks in Alaska. Attacks Senators Smith and Hardwick. Is Coming Back to Run for the Senate.“ In: The Jeffersonian, 19.8.1915, S. 1+5, hier S. 1.
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angloamerikanische Bewohner_innen Atlantas in hellen Aufruhr.6 Zusätzlich wurde die aufgeheizte Stimmung durch eine sensationslüsterne und Aufmerksamkeit erheischende Medienberichterstattung angefacht.7 Nach Ansicht des bekannten zeitgenössischen Investigativjournalisten C. P. Connolly befand sich die angloamerikanische Bevölkerung Atlantas, nachdem sie von der Tat erfahren hatte, in einem „allgemeinen Wahn“.8 Von Beginn an wurden die polizeilichen Ermittlungen von einem immensen öffentlichen Interesse begleitet. Lautstark geäußerte Forderungen nach einer schnellen Ergreifung des Täters setzten die Polizei unter erheblichen Druck. Zu Anfang geriet Newt Lee, ein afroamerikanischer Nachtwächter der National Pencil Company, der die Leiche der jungen Frau im Keller des Fabrikgebäudes aufgefunden hatte, ins Visier der Ermittler. Nachdem die Polizei Lee jedoch einem dreitägigen scharfen Verhör unterzogen hatte, ohne den geringsten Hinweis auf eine Verwicklung in den Mord erhalten zu haben, wurde er in eine Zelle gesperrt und geriet aus dem Blickfeld der polizeilichen Ermittlungen.9 Nur wenige Tage nach dem Mord an Phagan gerieten auch Leo Frank und James „Jim“ Conley, ein als Reinigungskraft in der National Pencil Company beschäftigter Afroamerikaner, unter Mordverdacht. Obwohl Zeugenaussagen vorlagen, Conley habe an dem Tag nach dem Mord versucht, Blut aus einem TShirt zu waschen, fokussierten sich die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft zunehmend auf den jüdischen Fabrikleiter.10 Nach wenigen Wochen wurde trotz einer konfusen und widersprüchlichen Beweislage Anklage gegen ihn erhoben.11 Ende Juli wurde der Prozess vor dem Fulton County Superior Court eröffnet. Verteidigt wurde der Angeklagte in diesem Prozess von den beiden zu diesem Zeitpunkt herausragenden Anwälten Georgias: Luther Z. Rosser und Reuben R. Arnold. Als Vertreter der Anklage agierten die Staatsanwälte Hugh Dorsey und Frank Hooper. In den folgenden Wochen erfolgte die Anhörung hunderter Zeug_innen vor Gericht. Eine herausragende Bedeutung kam dabei Jim Conley zu. Anfangs selbst unter Verdacht stehend, war er zum 6 7 8 9 10 11
Zitiert nach: Dinnerstein, Frank Case, S. 9. Ders., Frank Case, S. 11–16; Oney, Dead Shall Rise, S. 35–45. C. P. Connolly, The Truth about the Leo Frank Case. New York: Vail-Ballou Company 1915, S. 40. Dinnerstein, Frank Case, S. 14. Ders., S. 21. Ders., S. 14–29. Die detaillierteste Rekonstruktion der Tat, der Ermittlungen und des Prozesses liefert Oney, Dead Shall Rise.
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Hauptbelastungszeugen der Anklage geworden. Er sagte aus, dass er von Frank Geld dafür erhalten habe, die Leiche der jungen Frau im Keller der Fabrik zu verbergen.12 Wiederholt machten Zeug_innen sich widersprechende Aussagen. Während einige Leo Frank einen ‚moralischen‘ und ‚anständigen‘ Charakter bescheinigten, gaben andere zu Protokoll, der Angeklagte sei ihnen schon vor dem Verbrechen durch sein ‚lüsternes‘ und ‚unmoralisches‘ Verhalten gegenüber jungen Fabrikarbeiterinnen aufgefallen. Trotz dieser Ungereimtheiten sowie anderer ungeklärter Fragen bei der Rekonstruktion des Tatherganges befand die Jury Frank am 25. August 1913 des Mordes schuldig. Der den Prozess führende Richter Leonard Roan verhängte daraufhin die Todesstrafe gegen ihn. Nachdem sich die Nachricht über das Urteil außerhalb des Gerichtssaals verbreitet hatte, kam es vor dem Gerichtsgebäude zu spontanen Massenaufläufen, bei denen tausende Menschen ihrer Freude über die Entscheidung Ausdruck verliehen und den Staatsanwalt Dorsey hochleben ließen.13 Allerdings sollte dieses Urteil noch lange nicht das Ende des Leo Frank-Case bedeuten. Auseinandersetzungen um die Rechtmäßigkeit der Prozessführung spalteten in den nächsten zwei Jahren nicht nur die Bevölkerung Atlantas, sondern hielten die gesamten USA in Atem. Ein Pro-Frank- und ein Anti-FrankLager lieferten sich einen unerbittlichen Kampf um das Leben des jüdischen Fabrikanten. Ab diesem Zeitpunkt erhielten Frank und seine Verteidiger auch von jüdischen Organisationen und Einzelpersonen aus dem Norden der USA Unterstützung in ihrem Kampf für eine Revision des Gerichtsverfahrens. Diese hatten sich bis zur Verkündung des Todesurteils jeglicher offenen Einmischung enthalten, da sie sich sorgten, die Situation des Angeklagten durch ihre Intervention zu verschärfen. Auch nach dem Schuldspruch legten Organisationen wie das American Jewish Committee äußerste Vorsicht in ihrem Vorgehen an den Tag. Sie befürchteten, eine Einmischung von Juden aus dem Norden könne das antisemitische Ressentiment im Süden weiter entfachen und aus dem Fall eine allgemeine „Judenfrage“ machen.14 Die Anwälte des zum Tode Verurteilten legten gegen das Urteil Berufung ein. Sie begründeten diesen Schritt damit, dass die aufgeheizte und gegen den Angeklagten voreingenommene Stimmung einen fairen Prozess verunmöglicht 12 13
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Ders., S. 138–141. Zur ausführlichen Rekonstruktion der Gerichtsverhandlung sowie der Ungereimtheiten und Unstimmigkeiten in der Beweisführung gegen Leo Frank siehe Dinnerstein, Frank Case, insbesondere die Kapitel „The Murder of Mary Phagan“ und „Prejudice and Perjury“; Oney, Dead Shall Rise, insbesondere die Kapitel „Prosecution“, „Defense“ und „Verdict.“ Dinnerstein, Frank Case, S. 72–76; Oney, Dead Shall Rise, S. 345 f.
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habe. Somit sei ein qua Verfassung garantiertes Recht Franks verletzt worden und eine Revision des Prozesses unabdingbar. Allerdings folgte das zuständige Gericht dieser Argumentation nur partiell. Obwohl Richter Roan, der den Prozess gegen Frank geleitet hatte, im Verlauf des Berufungsverfahrens eingestand, von dessen Schuld nicht vollständig überzeugt gewesen zu sein, wies er den Antrag auf Neuaufnahme des Prozesses zurück. Auch der Georgia Supreme Court glaubte nicht in toto an die Rechtmäßigkeit des Verfahrens, lehnte aber in einem Mehrheitsurteil von 4:2 das Gesuch der Anwälte ab.15 Kurz nach der Verkündung des Urteils vergrößerten sich die Zweifel an der Gesetzmäßigkeit des Verfahrens. Einige Zeug_innen der Anklage widerriefen die Aussagen, die sie während des Prozesses getätigt hatten. Sie gaben an, ihre Erklärungen seien unter der Einflussnahme und dem Druck der Ermittlungsbehörden zustande gekommen. Andere sprachen gar davon, dass ihre Angaben zum Fall das Resultat polizeilicher Bestechung gewesen seien.16 Trotz dieser Ereignisse blieben auch weitere Gesuche der Anwälte Franks nach einem neuen Prozess erfolglos. Als letzte Möglichkeit blieb dem zum Tode Verurteilten auf dem Rechtsweg nur noch die Anrufung des Obersten Verfassungsgerichts in den USA.17 Dabei beriefen sich die Anwälte auf die in der US-Verfassung gewährte Habeas-CorpusGarantie. Sie argumentierten, die in der Verfassung garantierten Rechte ihres Mandanten seien verletzt worden, da dieser während des Urteilsspruchs nicht im Gerichtssaal anwesend gewesen sei. Die Inhaftierung Franks sei verfassungswidrig, da ihr die Legitimierung durch einen rechtmäßigen Prozess fehle.18 Am 19. April 1915 wies der Supreme Court of the United States das Anliegen Leo Franks mit einem Votum von 7:2 zurück. Damit waren alle rechtlichen Mittel und Wege im Kampf gegen das verhängte Urteil ausgeschöpft.19 Somit blieb dem Pro-Frank-Lager eine letzte Option, um den jüdischen Fabrikleiter vor dem Tode zu bewahren: die Begnadigung durch den Gouverneur von Georgia, John M. Slaton. Seit dem Herbst 1914 hatten die Unterstützer_innen Franks wegen der unwägbaren Aussichten des juristischen Kampfes begonnen, neben dem rechtlichen einen zweiten Weg zu beschreiten, an dessen Ende eine Strafminderung stehen sollte. Dieses Unterfangen stieß auf große Re15 16 17 18
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Dinnerstein, Frank Case, S. 77–83; Oney, Dead Shall Rise, S. 349–370. Dinnerstein, Frank Case, S. 85–87. Ders., S. 55–57. Zur Geschichte von Habeas Corpus im angloamerikanischen Raum siehe u. a. Paul D. Halliday, Habeas Corpus: From England to Empire. Cambridge et al.: The Belknap Press of Harvard University Press 2010. Dinnerstein, Frank Case, S. 107–113; Oney, Dead Shall Rise, S. 467.
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sonanz und breite Unterstützung: Über eine Million Unterschriften wurden in den USA gesammelt, mehr als 100.000 Briefe aus allen Bundesstaaten an den Gouverneur geschickt. Allerdings stießen die Bemühungen um Begnadigung bei den Widersacher_innen Franks auf vehemente Gegenwehr. Demonstrationen wurden abgehalten und gar Todesdrohungen gegen Slaton ausgesprochen, um die Aufhebung des Todesurteils zu verhindern. Trotz dieser Einschüchterungsversuche verkündete der Gouverneur, entgegen der Empfehlung der Georgia Prison Commission, am 20. Juni 1915 die Umwandlung der Todesstrafe in lebenslange Haft.20 Nicht weiter überraschend evozierte dieser Entschluss ein geteiltes und stark polarisiertes Echo innerhalb der Bevölkerung Georgias. Während eine große Anzahl der in Georgia erscheinenden Zeitungen diesen Schritt begrüßte, gab sich ein Teil der Bevölkerung erneut einem wahren Furor hin. Sie denunzierten Slaton als „König der Juden“, versuchten seiner mit Gewalt habhaft zu werden, hängten ihn in effigie an einem Laternenmast auf und riefen zu Aktionen gegen ‚Juden‘ auf.21 Um das vermeintlich durch Slatons Entscheidung suspendierte Recht wiederherzustellen, plante eine Gruppe von ca. 150 angloamerikanischen Männern gar die Ermordung Franks, der zu diesem Zeitpunkt auf einer Prison Farm in Milledgeville inhaftiert war. Jedoch konnte die Umsetzung des Mordplans zunächst vereitelt werden, da der neu im Amt befindliche Gouverneur Nathaniel Harris, nachdem er von dem Vorhaben erfahren hatte, eine verstärkte Bewachung der Gefängnisanlage angeordnet hatte. Trotz dieses ersten Misserfolgs hielt die Gruppe, oder zumindest Teile von ihr, an ihrer Absicht fest. Nur wenige Wochen nach dem ersten gescheiterten Anlauf unternahmen die Knights of Mary Phagan einen zweiten, detailliert vorbereiteten Versuch, entführten Frank aus dem Gefängnis und erhängten ihn in einem Wald in der Nähe des Geburtsortes von Mary Phagan.22 Jedoch setzte das Lynching keinesfalls einen Schlusspunkt hinter den Leo Frank-Case. Auch danach fanden die Spekulationen darüber, ob Frank tatsächlich der Mörder der jungen Mary Phagan gewesen sei, kein Ende. Zahlreiche His20 21
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[Unbekannt], Sentence Commutation Hearing Transcript 1915. MARBL, LFC, Box 1, Folder 1–3. Jim Brumby; Josiah Carter und Moultrie M. Sessions, To the Citizens of Marietta. American Jewish Archives, Cincinnati (im Folgenden: AJA), Leo M. Frank Papers (im Folgenden: LFP), Box 4, Folder 4; Dinnerstein, Frank Case, S. 114–135; Oney, Dead Shall Rise, S. 469–512; C. W. Carr, „Athens and Clark County Folk Boycott Jews.“ In: The Jeffersonian, 22.7.1915, S. 2. Dinnerstein, Frank Case, S. 136–140.
„And the negro’s testimony was good enough ...“
toriker_innen sowie kulturelle Produktionen nahmen sich dieser Frage an.23 In vielen dieser Narrative wird die Auffassung vertreten, dass Frank nicht der Mörder Phagans gewesen sei. Vielmehr sei er selbst Opfer eines Mordes geworden, dessen Antriebskraft ein rabiater Antisemitismus gebildet habe. Unter Verweis auf einige Indizien identifizieren sie häufig Jim Conley als wahrscheinlichen Täter.24 Auch wenn es wenig fruchtbar ist, sich an der Spekulation um den ‚wahren‘ Mörder (oder die Mörderin?) zu beteiligen, wirft die Funktion, die Conley in dem Prozess einnahm, vor dem Hintergrund der damaligen rassistischen Zustände in den Südstaaten wichtige Fragen auf. Wieso erhielt vor dem Hintergrund des rabiaten Rassismus in den Südstaaten die Aussage eines Afroamerikaners in diesem Fall eine solche Glaubwürdigkeit und ein derart großes Gewicht, dass sie ganz wesentlich zur Verurteilung eines nicht-afroamerikanischen Menschen beitrug? Wie wurde das Auftreten Conleys als Hauptbelastungszeuge zeitgenössisch wahrgenommen? Auf welche Art und Weise integrierte das Pro-Frank-Lager die außergewöhnlich zentrale Position Conleys in seine Strategie der Verteidigung?
1.1 „And the negro’s testimony was good enough to swear away the life of a Jew“: Zeitgenössische Konstruktionen von ‚Rasse‘ Leo Frank wurde im April 1884 in Paris, Texas, geboren, aber nur wenige Monate nach seiner Geburt zog seine jüdische Familie nach Brooklyn, New York. 1906 machte er an der Cornell University seinen Abschluss zum Ingenieur. Zwei Jahre später ging er auf Einladung seines Onkels Moses Frank nach Atlanta, um dort mit diesem zusammen die Atlanta’s National Pencil Factory aufzubauen. In relativ kurzer Zeit gelang es ihm, sich in den gehobeneren Kreisen Atlantas zu etablieren. 1910 heiratete er Lucille Selig, die Tochter einer wohlhabenden und angesehenen Familie, und nur zwei Jahre später wurde er zum Präsidenten der lokalen B’nai B’rith gewählt. Bis zu seiner Verhaftung im April 1913 war er in keinerlei Weise mit dem Gesetz in Konflikt geraten.25 23
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Zu kulturellen Produktionen, die den Leo Frank-Case zum Gegenstand haben, siehe u. a. Matthew H. Bernstein, Screening a Lynching: The Leo Frank Case on Film and Television. Athens at al.: The University of Georgia Press 2009; Jeffrey Melnick, Black-Jewish Relations on Trial: Leo Frank and Jim Conley in the New South. Jackson: University Press of Mississippi 2000, S. 3–29. Dinnerstein, Frank Case, S. 102 f., 114 f., 125, 158 f. Dinnerstein, Frank Case, S. 5–7; Albert S. Lindemann, The Jew Accused: Three Antisemitic Affairs (Dreyfus, Beilis, Frank), 1894–1915. Cambridge: Cambridge University Press 1991, S. 237; Oney, Dead Shall Rise, S. 10–13, 79–85.
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Die Biographie James Conleys unterschied sich grundlegend von der Franks. Der 27-jährige Afroamerikaner war zum Zeitpunkt des Mordes an Mary Phagan seit zwei Jahren bei der Atlanta’s National Pencil Factory tätig. Während er zunächst als Fahrstuhlführer angestellt war, wurde er später wegen Trunkenheit am Arbeitsplatz zur Reinigungskraft degradiert. Außerhalb des Arbeitslebens hatte ihn sein mitunter exzessiver Alkoholkonsum mehrmals in Konflikt mit dem Gesetz gebracht. Er wurde einige Male von der Polizei wegen Trunkenheit verhaftet und zweimal zu Gefängnisstrafen verurteilt.26 Die beiden Biographien sind für die Arbeit insofern von Relevanz, als bei vielen Zeitgenoss_innen sowie bei historischen Beobachter_innen die Tatsache Verwunderung auslöste, dass Conley im Verlauf des Gerichtsverfahrens als Hauptbelastungszeuge der Anklage gegen Leo Frank in Stellung gebracht wurde. So schrieb der Journalist Connolly tendenziös: „And the negro’s testimony was good enough to swear away the life of a Jew“.27 Um dieses Erstaunen verstehen zu können, ist es wichtig, zunächst einen kurzen Blick auf die Funktionsweise und Logik des in den Südstaaten zur Zeit des Leo Frank-Case herrschenden und enorm wirkmächtigen Rassismus zu werfen. Während der Kampf um staatsbürgerliche Rechte für African Americans während der Reconstruction Era de jure, aber auch de facto gewisse Fortschritte und Errungenschaften zu verzeichnen hatte, war die Zeit zwischen den 1890er und 1920er Jahren in dieser Hinsicht von schweren Rückschlägen geprägt. Eine Vielzahl an Gesetzen, die in den verschiedenen Bundesstaaten des Südens in diesem Zeitraum verabschiedet wurden, negierten zuvor erkämpfte (staatsbürgerliche) Rechte afroamerikanischer Menschen. Verfassungszusätze verhinderten die Teilnahme afroamerikanischer Männer an Wahlen. Die Segregation der ‚Rassen‘ sowie die Unterordnung von African Americans wurden erneut auf gesetzlicher Ebene verankert.28 Um die Wiederherstellung der White Supremacy zu gewährleisten, überzogen angloamerikanische Menschen den Süden zudem mit einer gegen Afro26 27 28
Oney, Dead Shall Rise, S. 118–120. Connolly, The Truth, S. 84. Zum gegen Afroamerikaner_innen gerichteten Rassismus sowie der darauf beruhenden White Supremacy im Anschluss an die Reconstruction Era siehe u. a. Glenda Elizabeth Gilmore, Gender and Jim Crow: Women and the Politics of White Supremacy in North Carolina, 1896–1920. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 1996; Stephen Kantrowitz, Ben Tillman and the Reconstruction of White Supremacy. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 2000; Joel Williamson, The Crucible of Race: Black-White Relations in the American South since Emancipation. New York et al.: Oxford University Press 1984.
„And the negro’s testimony was good enough ...“
amerikaner_innen gerichteten Terrorwelle. Die Zahl der verübten Lynchmorde schoss explosionsartig in die Höhe und ließ diese Form der extralegalen Gewalt seit 1865 zunehmend zu einem Phänomen des Südens werden. Mit jeder weiteren Dekade, die seit dem Bürgerkrieg verstrich, stieg der Anteil der Lynchmorde, die im Süden verübt wurden. Während in den 1880er Jahren 82 Prozent der in den USA begangenen Lynchings in den Staaten der ehemaligen Konföderation begangen wurden, waren es in den 1920ern bereits 95 Prozent. Quantitativ stellte die Zeit zwischen 1890 und 1920 die Hochphase der an African Americans verübten Lynchings dar.29 Zwischen 1890 und 1817 fielen im Süden jede Woche zwei bis drei Afroamerikaner_innen angloamerikanischen Lynchmobs zum Opfer.30 Insgesamt wurden im Zeitraum zwischen 1880 und 1930 über 3.320 Afroamerikaner_innen in den Südstaaten durch Mobgewalt getötet.31 Die mit äußerster Brutalität durchgesetzte und scharf bewachte Grenzziehung zwischen afroamerikanischen und angloamerikanischen Menschen verlief auch durch den Gerichtssaal. Zumindest in Prozessen mit Beteiligung als weiß kategorisierter Menschen beschränkte sich der Platz, der Afroamerikaner_innen innerhalb des Gerichts zugestanden wurde, weitestgehend auf den der Anklagebank. Mit dem Ende der Reconstruction Era war afroamerikanischen Männern das Recht entzogen worden, als Mitglieder einer Jury zu agieren. Im Jahr 1880 sanktionierte der Supreme Court im Prozess Virginia v. Rives de facto diese rassistische Praxis.32 Auch von anderen Positionen innerhalb des Prozesses gerichtlicher Wahrheitsfindung wurden Afroamerikaner_innen ausgeschlossen. Erklärungen afroamerikanischer Zeug_innen wurde in Gerichtsverfahren gegen angloamerikanische Frauen oder Männer kein Gewicht beigemessen. Ned Cobb, ein afroamerikanischer Sharecropper aus Alabama, fasste diesen Zusammenhang im Jahre 1907 mit folgenden Worten zusammen: „White folks is white folks, niggers is niggers, and a nigger’s word never has went worth a penny unless some 29 30 31
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Katherine Stovel, „Local Sequential Patterns: The Structure of Lynching in the Deep South, 1882–1930.“ In: Social Forces, Jg. 79, Nr. 3 (März 2001), S. 843–880. Leon Litwack, „Jim Crow Blues.“ In: OAH Magazine of History, Jg. 18, Nr. 2 ( Januar 2004), S. 7–11, hier S. 10. William F. Brundage, Lynching in the New South: Georgia and Virginia, 1880–1930. Urbana et al.: University of Illinois Press 1993, S. 8; ders., „Introduction.“ In: ders. (Hg.), Under Sentence of Death: Lynching in the South. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 1997, S. 4. Leon Litwack, Trouble in Mind: Black Southerners in the Age of Jim Crow. New York: Knopf 1999, S. 255.
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white man backed it up and told the same thing that the nigger told and was willing to stand up for the nigger.“33 Obwohl die Ideologie der White Supremacy in den Südstaaten generell von enormer Wirkmacht war, lassen sich nach Eileen Boris Differenzen in den Graden der Durchsetzung der Segregation innerhalb des Südens feststellen. Gerade in den am schnellsten wachsenden urbanen Zentren wie Atlanta, Richmond oder Montgomery, in denen ein dynamisches Wachstum alte Formen des Zusammenlebens transformierte, maßen Angloamerikaner_innen dem Erhalt der Color Line eine gesteigerte Bedeutung zu.34 Die für die Südstaaten außergewöhnliche Aufwertung Jim Conleys zum Hauptzeugen gegen Leo Frank ereignete sich also ausgerechnet in einer Gegend, in der Angloamerikaner_innen besonders erbittert über den Fortbestand der White Supremacy wachten. In dieser Hochphase des Rassismus gegen Afroamerikaner_innen, zu der neben segregierten Räumen und Alltagspraxen ein zu jeder Zeit und an jedem Ort potenziell zum Zuschlagen bereites Terrorregime, eine strikt hierarchisierende Gesetzgebung sowie eine diskriminierende Rechtspraxis gehörten, betrat Jim Conley im Prozess gegen Leo Frank in prominenter Position die gerichtliche Bühne. Nach der Einschätzung von Zeitzeug_innen stellte Conley innerhalb der Strategie der Anklage ein ganz zentrales Element dar, da er der einzige Zeuge gewesen sei, der Frank direkt mit dem Mord verknüpft hatte.35 Damit war der Leo Frank-Case der erste Mordprozess seit dem Civil War, in dem ein zumindest von Teilen zeitgenössischer Angloamerikaner_innen als weiß kategorisierter Mensch auf Grund der Aussage einer/s Afroamerikaner_in verurteilt wurde.36 Die Bedeutung und Funktion, die Jim Conley innerhalb des Mordprozesses einnahm, löste unter Zeitgenoss_innen Verwunderung und Erstaunen aus. Un33 34
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Zitiert nach: ders., S. 253 f. Eileen Boris, „The Racialized Gendered State: Constructions of Citizenship in the United States.“ In: Social Politics, Jg. 2, Nr. 2 (Sommer 1995), S. 160–180, hier S. 164; Evelyn Nakano Glenn, Unequal Freedom: How Race and Gender Shaped American Citizenship and Labor. Cambridge: Harvard University Press 2002, S. 109; Litwack, „Blues“, S. 7–9. [Unbekannt], The Frank Case: Inside Story of Georgia’s Greatest Murder Mystery. Atlanta: The Atlanta Publishing Company 1913, S. 82. Steven Hertzberg, Strangers within the Gate City: The Jews of Atlanta, 1845–1915. Philadelphia: The Jewish Publication Society of America 1978, S. 207; Melnick, Black-Jewish Relations, S. 8. Zu der Frage, ob ‚Juden‘ von Zeitgenoss_innen als weiß angesehen wurden, siehe Eric L. Goldstein, The Price of Whiteness: Jews, Race, and American Identity. Princeton et al.: Princeton University Press 2006, S. 17 f., 46 f.; Leonard Rogoff, „Is the Jew White?: The Racial Place of the Southern Jew.“ In: Mark K. Bauman (Hg.), Dixie Diaspora: An Anthology of Southern Jewish History. Tuscaloosa: University of Alabama Press 2006, S. 390–426.
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zählige Male wurde seine Rolle entrüstet thematisiert.37 Zeitgenoss_innen sahen die von Conley gemachten Zeugenaussagen als völlig wertlos für die Wahrheitsfindung an, da sie von einem „low, drunken negro dive habitue and jail bird“ stammten und längst durch die Aussagen von „respektablen weißen Zeugen“ widerlegt worden seien.38 Die zahlreichen Vorwürfe, die insbesondere die Verteidigung Franks, aber auch das weitere Umfeld seiner Unterstützer_innen gegen Conley und dessen Rolle innerhalb des Prozesses vorbrachten, waren durchsetzt mit Aussagen des zu dieser Zeit grassierenden rassistischen Diskurses. Wieder und wieder wurde Jim Conley mit pejorativen Eigenschaften versehen und somit in seiner Glaubwürdigkeit herabgesetzt. Er galt als „betrunkener, unverantwortlicher und abstoßender Neger“, als „meineidiger, betrunkener Neger“ oder in den Worten von Franks Anwalt Luther Rosser als „ein schlichter, bestialischer, betrunkener, dreckiger, lügender Neger mit einer breiten Nase, durch die er wahrscheinlich Tonnen an Kokain geschnupft hat“.39 Der Wahrheitsgehalt der von Afroamerikaner_innen vor Gericht abgegebenen Aussagen wurde von Zeitgenoss_innen generell in Frage gestellt: „Negroes are adepts in making up falsehoods when caught in the commission of crime, and can fabricate detailed and circumstantial tales.“ Angloamerikaner_innen wiederum seien ihrer Wesensart entsprechend nicht in der Lage, dem Gericht derartige Lügen aufzutischen, da sie an der Scham ob dieser unmoralischen Tat zerbrächen.40 Einer der Anwälte Franks versuchte während der Verhandlungen die Aussagekraft Conleys zu untergraben, indem er African Americans mit Kindern in eins setzte und deren Erklärungen vor Gericht zum bloßen Produkt ihrer Phantasie degradierte.41 Jedoch zielte das Pro-Frank-Lager nicht bloß darauf ab, den Wert Conleys als Hauptbelastungszeuge zu untergraben. Vielmehr sah man in ihm den eigentlichen Mörder Mary Phagans.42 Vorstellungen von unterschiedlich rassi37 38 39
40 41 42
[Unbekannt], Frank Case, S. 83. [Unbekannt], „Shame to Civilization.“ In: The Houston Post, 20.6.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 2, Folder 10. [Unbekannt], „Gov. Slaton’s Courageous Act.“ In: The Atlanta Journal, 21.6.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 3, Folder 8; [unbekannt], „Frank in the Supreme Court.“ In: Philadelphia Inquirer, 30.12.1914, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 4, Folder 3; zitiert nach: Oney, Dead Shall Rise, S. 324. Connolly, The Truth, S. 65. [Unbekannt], Frank Case, S. 134. [Unbekannt], „In Georgia.“ In: Austin Statesman, 28.6.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 3, Folder 8.
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fizierten Subjekttypen bildeten die Grundlage für den Versuch, die Unschuld Franks zu beweisen. Die Art und die Grausamkeit des Verbrechens schlössen einen ‚Juden‘ als Täter aus, da ‚jüdische‘ Menschen per se nicht gewalttätig seien. Vielmehr sei das brutale Vorgehen des Mörders charakteristisch für ‚afroamerikanische‘ Menschen. Durch Alkoholkonsum vollends enthemmt habe Conley angloamerikanischen Frauen aufgelauert und letztendlich Mary Phagan missbraucht und getötet.43 Zeitungen berichteten von Conley als einem „abscheulichen, schwarzen Biest, das tatsächlich das Verbrechen begangen habe“.44 Die Gegenüberstellung einer friedlichen, die körperliche Gewalt meidenden ‚jüdischen Rasse‘ mit einer gewalttätigen, brutalen und aufrührerischen ‚afroamerikanischen‘ manifestierte sich dementsprechend in Beschreibungen des Charakters Leo Franks beziehungsweise Jim Conleys. Frank wurde in diesem Narrativ als guter Staatsbürger entworfen, während Conley wiederum häufig als Gefahrenquelle für die gesellschaftliche Ordnung identifiziert wurde. Von zentraler Bedeutung für diese diametralen Konstruktionen waren rassifizierte Vorstellungen von Moral sowie von Arbeit und Ökonomie. Im Feld der Moral galt dabei das Hauptaugenmerk der Ehe, der Familie und der Sexualität. Leo Frank wurde als junger Mann gezeichnet, der eine ebenfalls jüdische Frau geheiratet habe und damit zum Erhalt der vorherrschenden, auf einer strikten Trennung der ‚Rassen‘ basierenden Ordnung beitrage.45 Jim Conley hingegen wurde in diesem Narrativ als der komplementäre Gegenentwurf imaginiert. Sein uneheliches Zusammenleben mit einer Frau und deren zwei Kindern wurde in Verbindung mit ihm zugeschriebenen „primitiven Instinkten“ und einer daran gekoppelten, von ihm ausgehenden Gefahr für die angloamerikanische Weiblichkeit gesetzt.46 Des Weiteren erfolgte die rassistische Subjektkonstruktion über eine Verbindung Conleys mit bestimmten Orten. Indem er als Stammgast von „Negerspelunken“ entworfen wurde, wurde er aufs engste mit Räumen verknüpft, die Angloamerikaner_innen als bedrohlich empfanden.47 Diese Orte boten Afroamerikaner_innen die Möglichkeit, sich zumindest partiell der Kontrolle durch Angloamerikaner_innen zu entziehen. Sie waren somit Horte potenziellen Wi43 44 45 46 47
[Unbekannt], Frank Case, S. 132 f. [Unbekannt], „Civilization“, 20.6.1915. Ders. Connolly, The Truth, S. 64, 92. Ders., S. 63 f.
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derstands gegen die White Supremacy und aus diesem Grunde häufig Bestandteil von Krisendiskursen angloamerikanischer Zeitgenoss_innen. Im Anschluss an die mehrtägigen rassistischen Ausschreitungen, die sich 1906 in Atlanta ereigneten und häufig als Atlanta Race Riot bezeichnet werden, bildeten die Negro Dives einen integralen Bestandteil zeitgenössischer Ursachenforschung. Nachdem angebliche sexuelle Übergriffe ‚afroamerikanischer‘ Männer auf angloamerikanische Frauen als Auslöser der Gewalttaten ausgemacht worden waren, wurden die von ‚afroamerikanischen‘ Menschen betriebenen und/oder aufgesuchten Bars und Tanzlokale als Orte der Tugend- und Morallosigkeit, des Verbrechens und der Gefährdung angloamerikanischer Frauen konstruiert.48 Den zweiten, zentralen Aspekt in den komplementären Subjektkonstruktionen bildeten die Positionen innerhalb des ökonomischen Feldes, die Frank und Conley jeweils zugeschrieben wurden. Als leitender Angestellter der National Pencil Company, als Absolvent der renommierten Cornell University sowie als arbeitsamer Mensch, der selbst an Feiertagen sein Büro aufsuchte, wurde Frank als wertvoller Bestandteil der Gesellschaft entworfen. Jim Conley hingegen wurden Unwirtschaftlichkeit und Mittellosigkeit attribuiert.49 Angeblich bereits mehrfach betrunken an seinem Arbeitsplatz aufgefallen, wurde er als unzuverlässige Arbeitskraft und deviantes Subjekt charakterisiert.50 Allerdings problematisierte nicht nur das Pro-Frank-Lager die zentrale Rolle, die Conley im Prozess einnahm. Auch Stimmen, die dem Pro-Frank-Lager kritisch gegenüberstanden, befürworteten die Commutation und griffen dabei auf einen rabiaten gegen Afroamerikaner_innen gerichteten Rassismus zurück.51 Zwei Wochen vor der Entscheidung von Gouverneur Slaton publizierte der Augusta Chronicle einen Artikel, in dem der/die Verfasser_in, ohne von der Unschuld Franks überzeugt zu sein, die Umwandlung der Todesstrafe forderte. Zur Unterfütterung dieser Forderung wurden zwei Argumente ins Feld geführt. Zum einen habe der Prozess in einer aufgeheizten Atmosphäre stattgefunden, sodass das Recht auf einen fairen Prozess verletzt worden sei. Zum anderen gebe es nach wie vor begründete Zweifel an der Schuld Franks, da der 48
49 50 51
[Unbekannt], „Drive Out the Dives.“ In: The Atlanta Constitution, 31.8.1906, S. 6; [unbekannt], „Negro ‚Clubs‘ and Negro ‚Dives.‘“ In: The Atlanta Constitution, 22.9.1906, S. 6; [unbekannt], „Riot and Liquor Were His Theme.“ In: The Atlanta Constitution, 29.10.1906, S. 6. Connolly, The Truth, S. 34. Ders., S. 63. [Unbekannt], „The Frank Case.“ In: Memphis Appeal, 22.6.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 3, Folder 7.
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einzige direkte Belastungszeuge ein „notorisch niederträchtiger Neger“ gewesen sei.52 Wie kam es nun, dass das Anti-Frank-Lager, das nicht weniger vom Rassismus gegen African Americans durchzogen war als das Pro-Frank-Lager, die mehrfach modifizierte und korrigierte Aussage Conleys als ausreichenden Beweis für die Verhängung der Todesstrafe gegen den Angeklagten erachten konnte? Auf Grund welcher diskursiven Strategien konnten die Aussagen des afroamerikanischen Belastungszeugen ein derartiges Gewicht erlangen? Welche Aufschlüsse lassen sich hieraus über die im Anti-Frank-Lager zirkulierenden Vorstellungen über das Verhältnis zwischen ‚Juden‘ und ‚Afroamerikaner‘ gewinnen? Grob lassen sich drei Strategien identifizieren, die im Umgang des Anti-Frank-Lagers mit dieser schwierigen Konstellation von afroamerikanischem Hauptbelastungszeugen und jüdischem Angeklagten Anwendung fanden. Die erste Strategie zielte darauf ab, die große Bedeutung Conleys für die Verurteilung Franks zu leugnen und stattdessen angloamerikanische Akteur_innen in das Zentrum und damit ins Blickfeld des Publikums zu rücken. Conley bildete in diesem Narrativ nicht mehr den einzigen und damit für die Anklage zentralen Zeugen, der Leo Frank direkt der Ermordung Mary Phagans bezichtigte, sondern er geriet zu einer Nebensächlichkeit, der für die Wahrheitsund Urteilsfindung der Jury keine große Bedeutung beizumessen sei. Trotz der Hautfarbe und der schlechten Reputation des Hauptbelastungszeugen sei Leo Frank durch die „überdurchschnittlich intelligente“ angloamerikanische Jury zum Tode verurteilt worden.53 Die Entscheidung, sich der Darstellung Conleys anzuschließen, wurde auf diesem Wege nicht etwa durch den vermeintlich devianten Hauptbelastungszeugen diskreditiert. Vielmehr wurde die Überzeugung der Jury von Franks Schuld, und damit die Richtigkeit und Rechtmäßigkeit des Urteilsspruchs, akzentuiert. Die zweite Strategie zielte darauf ab, Leo Frank charakterlich Jim Conley anzugleichen, um auf diesem Wege die Glaubwürdigkeit des letzteren zu erhöhen. Die Aussagekraft eines Zeugen sei nicht allein und abschließend vor dem Hintergrund seiner Persönlichkeit zu beurteilen, sondern müsse bei jedem Verfahren kontextualisiert und einer neuen Bewertung unterzogen werden. Der Wert der Aussage variiere je nach dem Verfahren, in dem sie getätigt werde, und 52 53
[Unbekannt], „Let Governor Slaton Do His Duty As He Sees It, Regardless.“ In: Augusta Chronicle, 10.6.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 3, Folder 10. [Unbekannt], „Loyless and the Frank Case.“ In: Valdosta Times, 14.12.1914, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 3, Folder 1.
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dem Angeklagten, gegen den sie sich richte. Da in kriminellen Milieus keine moralisch integren Menschen verkehren würden, sei die Justiz zur Aufklärung der dort verübten Verbrechen auf Zeug_innen aus diesen Kreisen angewiesen.54 Übertragen auf das Verfahren gegen Frank führte diese Strategie zu einer Homogenisierung des Charakters des Angeklagten und des Zeugen. Hierbei wurde nicht das ‚afroamerikanische‘ und das ‚jüdische‘ Wesen identisch gesetzt, sondern vielmehr beide in Abgrenzung zu Angloamerikaner_innen als unmoralisch konstruiert. So schrieb Thomas Watson in The Jeffersonian: If Conley were afforded as a witness against Governor Slaton, or against Chief Justice Fish, the impression made by his evidence would be entirely different from that made when he testifies against a man who chose him as an employee, used him in illicit commerce, and made him the confidante [sic!] of his amours.55
Dieses beiden zugeschriebene deviante Verhalten produzierte zum einen ein einigendes Band zwischen Frank und Conley und verortete sie zum anderen deutlich im kriminellen Milieu. Da sowohl Frank als auch Conley als deviant markiert wurden, stellte letzterer folglich einen angemessenen Zeugen im Verfahren gegen den jüdischen Fabrikleiter dar. Allerdings beschränkte sich dieses Narrativ nicht bloß auf deren Konstruktion als bedrohlich, sondern produzierte zudem eine Hierarchie zwischen diesen beiden als tugend- und morallos charakterisierten Menschen. Zwischen Leo Frank und Jim Conley wurde ein hierarchisiertes Verhältnis etabliert, in dem Frank als verantwortlich für die Untaten Conleys dargestellt wurde. Die dritte Strategie ließ Conley weitgehend unbeachtet und zielte stattdessen auf als ‚jüdisch‘ identifizierte Verhaltensweisen, die im Verlauf der Affäre beobachtbar gewesen seien. Die zeitgenössische Debatte um die Rolle Conleys in dem Prozess wurde als von ‚Juden‘ initiiert verstanden. Sie galt dem AntiFrank-Lager als Versuch, eine Anwendung der allgemeingültigen Gesetze auf Frank zu verhindern und somit einen ‚jüdischen‘ Menschen vor der gerechten Strafe für das von ihm begangene Verbrechen zu bewahren. ‚Juden‘ wurde also unterstellt, nach einer Sonderstellung innerhalb der US-Gesellschaft zu streben beziehungsweise diese bereits innezuhaben. 54 55
Thomas Watson, „The Leo Frank Case.“ In: Watson’s Magazine, Jg. 20, Nr. 3 ( Januar 1915), S. 139–163, hier S. 159. [Thomas Watson?], „Leo Frank, As a Regular Newspaper Contributor.“ In: The Jeffersonian, 3.12.1914, S. 1+8, hier S. 8.
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Als Nachweis für dieses vermeintliche Machtstreben wurde das ‚Juden‘ zugeschriebene Verhalten gegenüber afroamerikanischen Menschen angeführt. Watson schrieb ihnen eine ambivalente Haltung zum Auftreten afroamerikanischer Zeug_innen vor Gericht zu. Diese wiederum verstand er als Ausdruck einer undemokratischen Haltung von ‚Juden‘, die letztendlich ihr Streben nach einer gesellschaftlichen Sonderstellung beweise. Yet in the Frank case, the great point emphasized by the World and the other Jewish papers is, that the main witness against Frank was a negro [sic!]! It seems that negroes [sic!] are good enough to kill our ballots, make our laws, hold office, sleep in our beds, eat at our tables, marry our daughters, and mongrelize the Anglo-Saxon race, but are not good enough to bear testimony against a rich Jew! That sort of logic is a fair sample of all the Leo Frank special pleading.56
Als Beleg für die ‚jüdische‘ Bestrebung, sich über das allgemeingültige Rechtssystem zu erheben, wurde ein weiterer Justizfall herangezogen, der Becker Case, der sich in etwa zeitgleich zum Leo Frank-Case in New York ereignete und in dem ebenfalls jüdische und afroamerikanische Menschen eine zentrale Bedeutung einnahmen. Im Becker Case wurde ein New Yorker Polizist namens Becker angeklagt, die Ermordung des jüdischen Kleinkriminellen Rosenthal in Auftrag gegeben zu haben. Auf Grundlage der Aussage eines afroamerikanischen Zeugen sei Becker dann im Prozess, obwohl er wiederholt seine Unschuld beteuert habe, für schuldig befunden worden. Während ‚jüdische‘ Medien einerseits im Verlauf des zweijährigen Prozesses „gnadenlos“ und „wild“ die Bestrafung Beckers eingefordert sowie dessen Hinrichtung zelebriert hätten, hätten sie andererseits im Leo Frank-Case auf Grund der von Conley eingenommenen Rolle auf den Freispruch beziehungsweise die Wiederaufnahme des Verfahrens gedrängt.57 Watson sah darin eine Haltung von ‚Juden‘ zum Ausdruck kommen, die er wie folgt beschrieb: „A nigger was good enough to put Becker to death, for Becker had caused the murder of a Jew.“ Vor dem Hintergrund des vermeintlich ambivalenten Verhaltens von ‚Juden‘ während der beiden Prozesse identifizierte Watson ein Schema, das ‚Juden‘ im Umgang mit dem Rechtssystem charakterisiere: Während sie ‚jüdische‘ Verbrecher vor der Durchsetzung des Rechts zu 56 57
Ders., S. 8; Watson, „Leo Frank Case“, Januar 1915, S. 158. [Thomas Watson?], „A Gentile Put to Death on the Evidence of a Negro for Killing a Jew.“ In: The Jeffersonian, 5.8.1915, S. 1–3, hier S. 2.
Zeitgenössische Perspektiven
bewahren suchten, würden sie nach dem Blut der Menschen lechzen, die ein Verbrechen an ‚Juden‘ begangen hätten.58 Insbesondere im Rahmen dieser dritten Strategie wurden ‚Juden‘ häufig in einer Weise konstruiert, die charakteristisch für antisemitische Diskurse ist. ‚Juden‘ wurde ein extremer Zusammenhalt zugeschrieben, der eine Integration in die Gesellschaft verunmögliche. Sie galten als bestrebt, Nichtjuden zu übervorteilen und zu unterwerfen, und seien durch Hartherzigkeit und Unnachgiebigkeit gegenüber nichtjüdischen Menschen gekennzeichnet. Die in diesem Zusammenhang vorgenommene Konstruktion von ‚Juden‘ wirft Fragen nach der umfassenderen Bedeutung antisemitischer Diskurse während des Leo FrankCase auf. Welche weiteren Eigenschaften wurden ‚Juden‘ im Verlauf der Affäre zugeschrieben? Welche Wirkmacht entfaltete antisemitisches Wissen im Leo Frank-Case? Welche Bedeutung maßen Zeitgenoss_innen antisemitischen Weltsichten für die Ermordung Franks zu?
1.2 Zeitgenössische Perspektiven auf Antisemitismus Sowohl während des Leo Frank-Case als auch in den zahlreichen späteren Auseinandersetzungen mit der Affäre wurde dem Anti-Frank-Lager vorgeworfen, dass Antisemitismus eine wesentliche Triebkraft für die Forderung nach der Todesstrafe für Frank gebildet habe. Zeitgenössische Beobachter_innen beklagten, dass einige Printmedien voreingenommen über Frank berichtet hätten. Ein „Vorurteil gegen Frank als Juden“ wurde als zentral für diese Form der Berichterstattung identifiziert. Dabei wurde der vermeintlichen journalistischen Hetze, die auch als Verschwörung gegen Frank bezeichnet wurde, eine dermaßen große Wirkmacht zugeschrieben, dass sie als Ursache für die Verurteilung Franks ausgemacht wurde.59 Nach Ansicht des damaligen Bürgermeisters von Athens, Georgia, hätten Frank und seine Verteidiger in dem Gerichtsprozess von Anbeginn einen Kampf gegen Windmühlen geführt.60 Als Beleg für die große Wirkmacht des antisemitischen Ressentiments wurde auch in diesem Zusammenhang erneut die Rolle, die Conley in dem Prozess einnahm, vor dem Hintergrund der White Supremacy in den Südstaaten be58 59 60
Ders., S. 2. [Unbekannt], „Civilization“, 20.6.1915; [unbekannt], „The Leo Frank Case.“ In: San Antonio Express, 19.6.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 3, Folder 8. [Thomas Watson?], „Mayor Dorsey of Athens“, 29.7.1915.
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Antisemitismus, Rassismus und Krisenwahrnehmungen
leuchtet. Der absolute Wille, Frank für den Tod Phagans zur Rechenschaft zu ziehen, habe zeitweilig die sonst so wirkmächtige Ideologie der White Supremacy überlagert beziehungsweise dazu geführt, dass Frank und vermeintliche Unterstützer_innen als nicht-weiß wahrgenommen worden seien.61 In den Presseerzeugnissen des Nordens wurde der Vorwurf des Antisemitismus häufiger erhoben als in den Zeitungen des Südens.62 So publizierte das Lafayette Journal aus Indiana im Dezember 1914 einen Artikel mit dem Titel „Prejudice against Jew“, in dem die Verurteilung Leo Franks zum Tode auf ein in Atlanta kursierendes antisemitisches Ressentiment zurückgeführt wurde.63 Das Todesurteil galt Nordstaatler_innen als Resultat einer fanatischen Voreingenommenheit und eines judenfeindlichen Vorurteils im Speziellen sowie der Rückständigkeit Georgias im Allgemeinen, das von „halb barbarischen und fanatischen Menschen“ bevölkert sei.64 In die gleiche Richtung zielten Aussagen von Zeitgenoss_innen, die weite Teile der Bevölkerung Atlantas als tosenden Mob konstruierten, dem es nach dem Blut Franks dürste und der alle Menschen bedrohe, die der Hinrichtung des aus dem Norden stammenden Juden entgegenwirken würden.65 Mit anderen Worten stellten Zeitgenoss_innen diese Verknüpfung her, wenn sie das Lynching als „Affront Georgias gegenüber der Zivilisation“ beschrieben oder den Süden als eine Region entwarfen, die von primitiven und brutalen Verhaltenscodes beherrscht sei.66 Nordstaatler_innen 61 62
63 64 65 66
[Unbekannt], „The Georgia Mob.“ In: [Zeitung aus Wheeling, West Virginia?], 24.6.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 4, Folder 3. Zwar bewerteten auch einige Zeitgenoss_innen im Süden die Ermordung Franks als einen Anschlag auf die Würde und Zivilisation Georgias sowie der USA, dessen sich gar „die Banditen in Mexico oder die grausamsten Wilden in Afrika“ schämen würden. Jedoch waren die Stimmen, die einen Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Verfasstheit des Südens mit dem Lynching herstellten, im Norden deutlich zahlreicher und vehementer zu vernehmen. Zu den kritischen Stimmen aus dem Süden siehe u. a. [unbekannt], „The Assassination of Frank.“ In: Richmond Journal, 17.8.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 5, Folder 5; [unbekannt], „On Trial.“ In: Louisville Herald, 19.8.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 5, Folder 6. [Unbekannt], „Prejudice against Jew.“ In: Lafayette Journal, 17.12.1914, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 2, Folder 11. Wm. Preston Hill, „Letters from the People.“ In: St. Louis Post, 18.12.1914, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 2, Folder 11. [Unbekannt], „The Case of Leo Frank.“ In: [Zeitung unbekannt], [kein Datum], [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 2, Folder 11. [Unbekannt], „What Will Georgia Do?“ In: Massilon Independent, 19.8.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 5, Folder 4; [unbekannt], „The South.“ In: Chicago Tribune, 19.8.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 5, Folder 4.
Zeitgenössische Perspektiven
gingen in ihrer Beurteilung des Leo Frank-Case gar soweit, dass sie die Wirkmacht und den Einfluss, die das Judesein im Verlauf der Affäre eingenommen hatte, als einzigartig innerhalb der Geschichte der USA einschätzten.67 Als Erklärung für den antisemitischen Furor und die zivilisatorische Rückständigkeit des Südens wurden primär zwei Charakteristika der Südstaatengesellschaften ausgemacht. Zum einen wurde in diesem Zusammenhang häufig die Religiosität der Menschen in Georgia thematisiert. Große Teile der Bewohner_innen Georgias wurden als von einem religiösen Fanatismus beherrscht entworfen. Dieser gerate schnell zur Gefahr für die körperliche Unversehrtheit von Menschen, die als anders wahrgenommen würden.68 Außerdem wurde in den Analysen von Nordstaatler_innen einem für den Süden als hegemonial identifizierten Ideal des Geschlechterverhältnisses große Bedeutung beigemessen. So berichtete eine Zeitung aus Wisconsin: „The sentimental ‚chivalry‘ of placing her [die Frau, K. K.] upon a pedestal was responsible for the mob lust which resulted in Frank’s killing.“ Die Hegemonie eines als rückständig beschriebenen Geschlechterverhältnisses im Süden wurde als bedeutsamer Aspekt des zivilisatorischen Rückstands begriffen. Die ungebrochene Popularität der Figur des männlichen ritterlichen Beschützers sei ein Indikator dafür, dass die Staaten der ehemaligen Konföderation „ihrer Vorliebe für das Mittelalter noch nicht entwachsen seien“.69 Viele Nordstaatler_innen sahen hinter der hegemonialen Männlichkeitskonstruktion des Südens eine Scheinheiligkeit und Doppelmoral.70 Die Konstruktion von Männern als Beschützer der Frauen ziele nicht primär auf eine Verbesserung der Lebensverhältnisse der Frauen. Kontrastiv wurden Südstaatenmänner den tatsächlich um das Wohl ihrer Frauen besorgten Männern des Nordens gegenübergestellt. Während sich Südstaatenmänner in der permanenten Inszenierung als Southern Gentleman erschöpfen würden, schritten Männer im Norden trotz oder wegen ihrer größeren Zivilisiertheit hinsichtlich des Schutzes der Frauen zur Tat.71 Andere attackierten den hegemonialen Männlichkeitsentwurf primär für ein ihm inhärentes Potenzial zu Gewalt und Brutalität. Das 67 68 69 70 71
[Unbekannt], „The Case of Leo M. Frank.“ In: Preoria Star, 30.12.1914, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 2, Folder 10. Hill, „Letters“, 18.12.1914. [Unbekannt], „Frank’s Corpse Argues for Woman Suffrage.“ In: [Zeitung aus Beloit, Wisconsin?], 19.8.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 5, Folder 5. [Unbekannt], „The Age of Consent.“ In: Sioux City News, 31.8.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 5, Folder 3. [Unbekannt], „The South“, 19.8.1915.
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Antisemitismus, Rassismus und Krisenwahrnehmungen
angebliche Eintreten für die weibliche Tugend und Moral diene Männern im Süden lediglich als Vorwand, um ihre Lust an Gewalt zu befriedigen.72 Der einzige Effekt der mit der Chivalry verwobenen „abscheulichen Gesetzlosigkeiten“ sei gewesen, Frauen zu gefährden und zu erniedrigen.73 Der Ansicht, dass Antisemitismus die Triebfeder für den Leo Frank-Case darstelle, wurde von vielen Zeitgenoss_innen, insbesondere im Süden, vehement widersprochen. Sie widersetzten sich dem vom Pro-Frank-Lager vorgetragenen Narrativ und reagierten wütend auf die Anschuldigung, welche die Augusta Chronicle wie folgt zusammenfasste: „The people of Atlanta and Georgia are a set of blood-thirsty barbarians, who would deliberately sacrifice the life of a guilt-less fellow-citizen for no better reason than that he is a Jew and came hence from a northern city.“74 Vielmehr sei das Gegenteil der Fall. Unter Verweis auf die vermeintlich herausgehobene soziale und ökonomische Position von ‚Juden‘ in verschiedenen Kommunen Georgias wurde der Bundesstaat als eine Region konstruiert, in der ‚Juden‘ höchster Respekt entgegengebracht werde und die in dieser Hinsicht einzigartig innerhalb der USA sei. Die Beschreibung Georgias als ein Bundesstaat, in dem antisemitische Einstellungen nahezu nicht existent wären, diente hier also als Strategie, den Vorwurf des Antisemitismus zu widerlegen.75 Jedoch standen die Verfechter_innen dieses Arguments vor der Herausforderung, den sich während des Prozesses äußernden leidenschaftlichen Hass auf Leo Frank entweder zu leugnen oder ihm durch die Verknüpfung mit einer nicht-antisemitischen Ursache eine andere Quelle zuzuschreiben. Vielfältige diskursive Strategien und Techniken wurden angewandt, um die hasserfüllte Haltung gegenüber dem jüdischen Fabrikanten als losgelöst von dessen Judesein zu begründen. Eine der Strategien bestand darin, ein vom Pro-Frank-Lager vorgebrachtes Argument umzudeuten. Dabei wurde die Lesart, dass die zentrale Stellung Conleys in dem Gerichtsprozess vor dem Hintergrund des rassistischen Normalzustands in der Südstaatengesellschaft einen deutlichen Ausweis von Antisemitismus darstelle, umgekehrt. Vertreter_innen des Anti-Frank-Lagers bezogen 72
73 74 75
[Unbekannt], „Consent“, 31.8.1915; [unbekannt], „The Age of Consent.“ In: Mattoon Gazette, 31.8.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 5, Folder 3; [unbekannt], „The Age of Consent.“ In: St. Paul News, 28.8.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 5, Folder 4. [Unbekannt], „Frank’s Corpse“, 19.8.1915. [Unbekannt], „In Simple Defense of Georgia’s Honor and Civilization.“ In: Augusta Chronicle, 15.12.1914, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 2, Folder 8. [Unbekannt], „Leo Frank Is, At Least, Entitled to Be Saved from Some of His Friends.“ In: Waycross Journal, 18.12.1914, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 2, Folder 11.
Zeitgenössische Perspektiven
sich auf den vorgebrachten Verweis auf den in den Südstaaten vorherrschenden Rassismus gegen African Americans, um den Antisemitismusvorwurf ins Leere laufen zu lassen. In diesem Sinne merkte eine Leserin der Wochenzeitung The Jeffersonian in einem Leserbrief an: „If there is in me any of the much vaunted race prejudice it’s directed to the negro, not to the Jew.“76 Durch den Hinweis, dass ihr Rassismus ihren Antisemitismus deutlich an Kraft und Wirkmacht übersteige, wird die Glaubwürdigkeit der Aussage Conleys gesteigert und damit dem Vorwurf begegnet, dass Antisemitismus das Leitmotiv im Leo Frank-Case sei. Auch in anderer Hinsicht waren rassifizierte Kategorisierungen von Menschen in den Bemühungen des Anti-Frank-Lagers zentral, um die Glaubwürdigkeit der Aussagen Conleys beziehungsweise die Schuld Franks zu beweisen. Die Wahrnehmung des Verbrechens war, wie bereits dargestellt, von rassifizierten Charakterisierungen und Typisierungen durchzogen. In dieser der rassistischen Weltsicht eigenen biologistischen Logik zeigten sich in der versuchten Vergewaltigung und dem vermeintlichen Verhalten des Täters bestimmte sexuelle, charakterliche und psychische Strukturen, die Rückschlüsse auf die ‚Rasse‘ des Täters zuließen. Die sich in dem vermeintlichen Vergewaltigungsakt ausdrückende Struktur sexuellen Begehrens bildete in diesem Zusammenhang einen wichtigen Aspekt der ‚rassischen‘ Identifizierung des Täters. Die Postulierung einer ‚rassespezifischen‘ Sexualität, also die Annahme, dass die verschiedenen ‚Rassen‘ durch unterschiedliche Begehrensstrukturen und unterschiedliche Potenziale der Triebregulierung charakterisiert seien, spiegelte sich unter anderem in der Beschreibung und Beurteilung Conleys wider. Analog zu der rassistischen Konstruktion ‚afroamerikanischer‘ Menschen als unzivilisiert und der Natur verhaftet wurde auch die ‚afroamerikanische‘ Sexualität als ‚natürlich‘ entworfen. Thomas Watson schied in The Jeffersonian eine als typisch ‚afroamerikanisch‘ deklarierte Begehrensstruktur und Sexualität von einer vermeintlich ‚unnatürlichen‘ und als ‚pervers‘ kategorisierten: Negro men will commit bestiality, but they never commit sodomy, unless they are chained up in convict camps, where they have no access to females. The negro [sic!] is natural lustful, and will take a female, even a beast, if it costs his life, but he never takes a woman UNNATURALLY. […] 76
[Unbekannt], „A Texas Lady’s Stinging Rebuke to H. E. Stockbridge, Carpet-Bagger.“ In: The Jeffersonian, 14.10.1915, S. 10.
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Antisemitismus, Rassismus und Krisenwahrnehmungen
The excited barbarian, like the brutish negro [sic!], may commit bestiality; but it is the degenerate of wealth and culture who commits sodomy.77
Auf der Basis dieses rassistischen Wissens wurde Conley eine ebenso ‚natürliche‘ wie wilde und ungehemmte Sexualität zugeschrieben. Er wurde als „typical African negro, a perfect specimen of the human animal, just such a man as goes after black women naturally“ entworfen. Die Markierung der männlich-‚afroamerikanischen‘ Sexualität als ‚natürlich‘ diente als Nachweis für die Unschuld Conleys an der Ermordung und der vermeintlichen Vergewaltigung Phagans. Da diese zum „unnatürlichen Geschlechtsverkehr“ gezwungen worden sei, könne Conley als Mörder ausgeschlossen werden.78 Jedoch ließen sich mit diesem Wissen von ‚rassespezifischen‘ Sexualitäten nicht bloß potenzielle Täter ausschließen, sondern es ließ sich auch vice versa von dem vermeintlichen Ablauf des Verbrechens auf den Täter schließen. Das Begehren nach „unnatürlichem Geschlechtsverkehr“ wurde als Resultat eines zivilisatorischen oder ‚rassischen‘ Verfalls begriffen, oder in den Worten Thomas Watsons: „The vice of Sodom is the vice of civilization, not of barbarism. The sadistic monster is the rotten product of the higher race.“79 Die Annahme ‚rassespezifischer‘ Sexualitäten ermöglichte so die Identifizierung von Frank als Mörder Phagans. In zahlreichen vor Gericht getätigten Aussagen wurde Frank ein ‚perverses‘ sexuelles Verlangen attestiert. Thomas Watson beschrieb den jüdischen Fabrikleiter wie folgt: „Frank’s lewd character was shown up by eleven white girls, and […] one of these girls swore to his beastly habit which had left a lifelong scar on her person.“80 Der lebensbedrohliche Angriff eines in der State Prison Farm inhaftierten Häftlings namens Bill Creen auf Frank galt als weiterer Beweis für Franks vermeintlich ‚perverse‘ sexuelle Neigungen. So habe Creen als Rechtfertigung für den Angriff erklärt, dass die Attacke eine Reaktion auf Franks Versuche gewesen sei, „ihn zu sodomisieren“.81 77 78
79 80 81
[Thomas Watson?], „The Frank Case; the Great Detective; and the Frantic Efforts of Big Money to Protect Crime.“ In: The Jeffersonian, 30.4.1914, S. 1+9, hier S. 9. Während der Ermittlungen konnte nicht gezeigt werden, dass Mary Phagan überhaupt vor ihrer Ermordung vergewaltigt wurde. Es wurde lediglich nachgewiesen, dass Phagan bereits vor ihrem Tod sexuell aktiv gewesen war (Nancy MacLean, „The Leo Frank Case Reconsidered: Gender and Sexual Politics in the Making of Reactionary Populism.“ In: The Journal of American History, Jg. 78, Nr. 3 (Dezember 1991), S. 917–948, hier S. 921). [Thomas Watson?], „Gentile Put to Death“, 5.8.1915, S. 3. Ders. Ders.
Zeitgenössische Perspektiven
Vor dem Hintergrund der divergierenden Sexualitätskonstruktionen gerieten Details wie die Nichtauffindbarkeit von Sperma am Körper der Leiche zu unwiderlegbaren Beweisen für die Unschuld Conleys beziehungsweise die Schuld Franks. Da viele Zeitgenoss_innen davon ausgingen, dass Mary Phagan vor ihrer Ermordung sexuell missbraucht worden sei, maßen sie dem fehlenden Sperma Aussagekraft über die Sexualität des Täters zu. Die Nichtexistenz des Spermas beweise, dass Mary Phagan nicht von einem ‚afroamerikanischen‘ Mann ermordet worden sei. So erklärte Thomas Watson: „A negro rapist would have left the spermatozoa! Is it not so? No spermatozoa was found; but the girl’s leg had been bared, and some sort of violence had been done to the vagina.“82 Auch hier gestatteten die vorgenommenen Typologisierungen ‚rassespezifischer‘ Sexualitäten nicht nur Conley als Täter auszuschließen, sondern sie lieferten auch einen weiteren, dem menschlichen Körper eingeschriebenen und damit objektivierten Beweis der Schuld Franks. Die Konfiguration des Körpers und der Sexualität Franks beantwortete die Frage nach dem nicht vorhandenen Sperma. Staatsanwalt Dorsey stellte während des Prozesses explizit einen Zusammenhang zwischen dem fehlenden Sperma und Franks Sexualität her, indem er darauf verwies, dass dieser nicht wie andere Männer sei.83 Physiognomische Merkmale wie die Lippen, die Augen beziehungsweise der Blick oder die Nase wurden darüber hinaus als körperliche Materialisierungen von Franks ‚perverser‘ Sexualität gelesen.84 Auch das vermeintliche Verhalten des Täters nach der Tat wurde als Nachweis für die Glaubwürdigkeit Conleys in Anschlag gebracht. Sowohl die unmittelbar nach dem Mord wie auch während der Verhöre gezeigten Reaktionen und Verhaltensmuster Conleys und Franks wurden auf der Folie einer Typologisierung ‚rassespezifischer‘ Handlungen und Verhaltensweisen gelesen. In diesem Zusammenhang wurde dem Verhalten Conleys im Anschluss an den Mord eine große Bedeutung zugeschrieben. Da Conley sich nach dem Verbrechen weiterhin offen in Atlanta bewegte, schied er für einige Zeitgenoss_innen als potenzieller Täter 82 83 84
Ders. N. Christophulos, Argument of Hugh M. Dorsey at the Trial of Leo M. Frank. Atlanta: Press of Johnson-Dallis Co. 1914, S. 82. Zur zeitgenössischen Einschreibung der als widernatürlich identifizierten Sexualität Franks in dessen Körper siehe Kristoff Kerl, „‚He Makes WHITE WOMEN THE SERVANTS OF NEGRO MEN‘: Racialised Sexualities, White Masculinities and Industrialisation in the Leo Frank Case.“ URL: http://www.inter-disciplinary.net/critical-issues/wp-content/ uploads/2014/05/kerlwhitepaper.pdf, letzter Zugriff am 14.4.2015; ders. „Thomas Watson: A Full Review of the Leo Frank Case (1915). Oder: Zur Physiognomie des „jüdischen Perversen“ im Leo Frank Case.“ In: Olaf Stieglitz und Jürgen Martschukat (Hg.), Race & Sex. Eine Geschichte der Neuzeit. Berlin: Neofelis Verlag 2016, S. 233-241.
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Antisemitismus, Rassismus und Krisenwahrnehmungen
aus.85 Denn es läge in „der angeborenen Natur afroamerikanischer Vergewaltiger“, sich zu verstecken.86 Es lässt sich also festhalten, dass zumindest für Teile des Anti-Frank-Lagers der Rückgriff auf rassistische Subjektkonstruktionen in dieser spezifischen historischen Konstellation der Entlastung und Legitimierung des afroamerikanischen Hauptzeugen diente. Eine weitere Technik zur Widerlegung des Antisemitismusvorwurfs bildete die Umkehrung der Kausalität zwischen Judenfeindschaft und den Sichtweisen des Anti-Frank-Lagers. Es wurde zwar nicht geleugnet, dass sich im Verlauf des Leo Frank-Case ein Ressentiment gegen Frank gebildet habe, dieses habe jedoch nur eine Antwort auf das Verhalten von Nordstaatler_innen dargestellt. Am Ausgangspunkt dieser Argumentation stand die These, dass zu Anfang der Affäre keinerlei antisemitisch motivierte Voreingenommenheit gegenüber Frank existiert habe. Erst der vermeintlich unberechtigte Vorwurf, von Hass auf ‚Juden‘ geleitet zu sein, habe diesen hervorgebracht.87 Der gegen Georgia beziehungsweise den Süden in Anschlag gebrachte Antisemitismusvorwurf wurde als Beleidigung der Ehre des Bundesstaates im Speziellen und der gesamten Sektion im Allgemeinen gewertet.88 Die vermeintliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten Georgias galt als Akt der Fremdherrschaft und der erneuten Unterwerfung des Südens. Die New York Times, die wiederholt ihre Zweifel an der Schuld Franks und an der Rechtmäßigkeit des Prozessablaufs geäußert hatte, wurde als „Hauptorgan der Frank-Junta im Norden“ bezeichnet.89 Diese aus dem Norden auf den Süden einprasselnden Ehrverletzungen seien ursächlich für den Zuwachs antisemitischer Einstellungen und würden somit ihrerseits eine schwere Ungerechtigkeit gegen in Georgia lebende ‚Juden‘ darstellen.90 Ein weiteres Argument, das den Hass auf Frank jenseits dessen Judesein zu erklären suchte, verwies auf gesellschaftliche Antagonismen und sozioökonomi85 86 87 88
89 90
Christophulos, Argument of Hugh M. Dorsey, S. 57; Watson, „Leo Frank Case“, Januar 1915, S. 148. [Thomas Watson?], „Texas Lady’s Stinging Rebuke“, 14.10.1915, S. 10. [Unbekannt], „Frank Case“, 22.6.1915. Die Titel diverser Zeitungsartikel sprechen in dieser Hinsicht Bände. Sie lauteten: „In Simple Defense of Georgia’s Honor and Civilization“, „Slander of the South“, „ Slandering the South“ oder „Hysteria“ ([unbekannt], „Simple Defense of Georgia’s“, 15.12.1914; [unbekannt], „Slander of the South.“ In: Nashville Banner, 20.8.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 5, Folder 7; [unbekannt], „Slandering the South.“ In: Austin Statesman, 22.8.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 5, Folder 3; [unbekannt], „Hysteria.“ In: Tampa Tribune, 26.8.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 5, Folder 3). [Unbekannt], „Loyless“, 14.12.1914. [Unbekannt], „Simple Defense“, 15.12.1914.
Historiographische Auseinandersetzungen
sche Verwerfungen, die aus der Transformation des Südens in eine zunehmend industrialisierte und urbanisierte Gesellschaft resultierten. Leo Frank sei den sich im Zuge dieses Wandels zuspitzenden Konflikten zwischen unterschiedlichen sozialen Klassen Atlantas zum Opfer gefallen. Seine Stellung als Fabrikleiter, die Beschäftigung junger, schlecht entlohnter Frauen in der National Pencil Company sowie die Ermordung Phagans hätten ihn zum Symbol der Unterdrückung der Armen durch Kapitalisten gemacht. Der vehemente Kampf für die Todesstrafe sowie das Lynching wurden in diesem Narrativ zu einem Kampf gegen eine aus der Unterdrückung und Ausbeutung der Arbeiterklasse resultierende Zweiklassenjustiz. Von Anbeginn des Falles habe Frank große finanzielle Mittel, seine gesellschaftliche Reputation und seine guten Kontakte zu wohlhabenden und einflussreichen gesellschaftlichen Kreisen für sich in die Waagschale geworfen und damit letztlich die Umwandlung der Todesstrafe in lebenslange Haft erreichen können.91 In dieser Variante war also nicht das Judesein, sondern das Kapitalistsein der Makel, der die Bewohner_innen Atlantas nach dem Leben Leo Franks trachten ließ. Während sich die zeitgenössischen Einschätzungen zur Bedeutung von Antisemitismus für den Verlauf des Leo Frank-Case fundamental unterschieden, wird ersichtlich, dass die Frage, ob Antisemitismus für den Verlauf der Affäre bedeutsam war, bereits von Zeitgenoss_innen als enorm bedeutsam wahrgenommen wurde. Auch in den anschließenden Dekaden weckte der Fall das Interesse zahlreicher historisch interessierter Menschen. Insofern überrascht es nicht, dass auch Historiker_innen der Frage, welche Wirkmacht antisemitische Weltsichten im Verlauf der Affäre entwickelten, wiederholt nachgingen. Die in historiographischen Arbeiten angebotenen Erklärungen und Motive für die Entwicklung und die Dynamik des Falls bilden den Gegenstand des anschließenden Unterkapitels.
1.3 Historiographische Auseinandersetzungen mit dem LeoFrankCase In den letzten Dekaden sind einige historiographische Arbeiten, sowohl Aufsätze als auch Monographien, zum Leo Frank-Case verfasst worden. In diesen Untersuchungen wurden verschiedene historiographische und theoretische Ansätze verfolgt, unterschiedliche Fokussierungen vorgenommen und divergierende Ursachen der Affäre ausgemacht. Gemein ist den Arbeiten, dass sie den Leo Frank-Case in einen engen Zusammenhang mit den sich vollziehenden sozio91
[Unbekannt], „The Frank Case.“ In: The Jewish Ledger, 9.7.1915, S. 15 f., hier S. 15.
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ökonomischen und kulturellen Transformationen, der Industrialisierung und Urbanisierung des Südens setzten.92 Trotz dieser Gemeinsamkeit unterscheiden sich die verschiedenen historiographischen Arbeiten deutlich in den von ihnen angebotenen Lesarten der Affäre. Sie fokussieren unterschiedliche Aspekte des Falles und gewichten deren Bedeutung divergierend. Kategorien wie Geschlecht, Sexualität, Klasse, Sektion und Race finden in den Arbeiten auf differierende Art und Weise Berücksichtigung. Eine in diesen Arbeiten gestellte zentrale Frage zielt auf die Bedeutung des Judeseins Franks, also der Existenz und der Wirkmacht von Judenfeindlichkeit in der Affäre. Bei der Beantwortung dieser Frage herrscht unter Historiker_innen weitgehend Einigkeit. Sie schätzen Antisemitismus als ein äußerst zentrales Antriebsmoment für den Verlauf, die Dynamik und den Ausgang des Leo FrankCase ein. Eine Ausnahme bildet das von Albert Lindemann entwickelte Narrativ.93 Er schreibt Antisemitismus für das Verständnis des Leo Frank-Case eine nachgeordnete Bedeutung zu. Das Judesein gerät bei Lindemann zu einer bedeutungsleeren und austauschbaren Kategorie, die lediglich als Ausweis von Franks Fremdsein in der Südstaatengesellschaft gedient habe. Nach Meinung Lindemanns hätte der Leo Frank-Case im Wesentlichen den gleichen Verlauf genommen, wenn es sich bei dem jüdischen Fabrikanten um einen Italiener, Griechen oder Yankee gehandelt hätte. Xenophobie und nicht Antisemitismus sei also für den Verlauf der Affäre entscheidend gewesen. Auch die während der Affäre getätigten judenfeindlichen Aussagen stellen für Lindemann keinen Beleg dafür dar, dass zeitgenössische Wahrnehmungen von Elementen des modernen Antisemitismus durchzogen gewesen seien. Vielmehr plädiert er dafür, die judenfeindlichen Äußerungen als eine, wenn auch ungerechtfertigte, Reaktion auf reales Handeln von Juden und Jüdinnen zu verstehen. Erst nachdem sich Jüdinnen und Juden aus dem Norden in den Fall eingeschaltet, einen gewissen gesellschaftlichen Einfluss geltend gemacht und damit ein weltweites Interesse an dem Fall erweckt hätten, habe Franks Judesein eine besondere Wirkmacht entfaltet.94 Der Leo Frank-Case ist für Lindemann somit nicht mit Judenfeindschaft oder Antisemitismus zu erklären. Vielmehr stelle der Fall das Resultat des Einzugs des industriellen Kapitalismus in die Südstaaten dar, der wegen der dadurch ausgelösten 92 93 94
Siehe u. a. Dinnerstein, Leo Frank Case, S. xii f.; Hertzberg, Strangers, S. 202; MacLean, „Frank Case Reconsidered“, hier S. 921; Melnick, Black-Jewish Relations, S. ix. Lindemann, Jew Accused. Ders., S. 236 f.
Historiographische Auseinandersetzungen
Erosion des Southern Way of Life als gefährlich wahrgenommen wurde. Diese als bedrohlich kategorisierten Transformationen der gesellschaftlichen Ordnung wurden nach Lindemann mit einem unspezifischen Fremden verknüpft, das als Quelle und Träger des vermeintlich über den Süden hereinbrechenden Übels ausgemacht wurde. Zufällig sei dieses Fremde in diesem Fall vom ‚Juden‘ Frank verkörpert worden. Diese These einer weitgehenden Bedeutungslosigkeit des Judeseins und damit des Antisemitismus für den Fall erscheint jedoch aus folgendem Grund als problematisch. Lindemann lässt völlig außer Acht, dass die zentrale Bedeutung, die die Industrialisierung und Urbanisierung der Südstaaten sowie die diesen gesellschaftlichen Veränderungen zugeschriebenen Bedrohungen in dem Leo Frank-Case einnahmen, eine willkürliche Verknüpfung mit unterschiedlichen sozialen oder ethnischen Gruppen tendenziell unmöglich machte. Mit anderen Worten: Die gesellschaftlichen Transformationen, die in der zwei Jahre währenden Affäre verhandelt wurden, ließen sich auf Grund der unterschiedlichen Subjektkonstruktionen und der divergierenden inhaltlichen Zuschreibungen, die in den rassistischen oder antisemitischen Diskursen vorgenommen wurden, nicht mit jedem beliebigen Fremden in Verbindung setzen. Diese These wird im Folgenden in einem Exkurs zur rassistischen Konstruktion italienischer Migrant_innen im Süden zur Zeit der Jahrhundertwende kursorisch ausgeführt. Historische Arbeiten, die ihren Blick auf anti-italienischen Rassismus in den Südstaaten in den Jahrzehnten um die Wende zum 20. Jahrhundert richten, haben überzeugend nachgewiesen, dass ‚Italiener‘ im rassistischen Diskurs auf mannigfaltige Art und Weise als nicht-weiß konstruiert wurden. Jedoch wurden sie nicht bloß als nicht-weiß entworfen – das würde sie noch nicht von einigen zeitgenössischen Konstruktionen ‚jüdischer‘ Subjekte scheiden –, sondern sie wurden mit als minderwertig, unterlegen und unzivilisiert kategorisierten ‚Rassen‘ in Verbindung gebracht. Dies geschah zum einen durch diskursive Verknüpfungen mit ‚chinesischen‘ Migrant_innen, zum anderen durch die Herstellung von Ähnlichkeiten zwischen ‚Italienern‘ und ‚Afroamerikanern‘.95 Wie ‚afroamerikanische‘ Menschen 95
Matthew Frye Jacobson, Whiteness of a Different Color: European Immigrants and the Alchemy of Race. Cambridge: Harvard University Press 1998, S. 58; [unbekannt], „Sights of Brooklyn Navy Yard.“ In: Keowee Courier, 26.6.1907, S. 4; [unbekannt], „Chink and Dago No Good.“ In: Keowee Courier, 24.7.1907, S. 2. Die Identifizierung von Analogien zwischen italienischen Migrant_innen, die sich überwiegend aus den südlichen Regionen Italiens rekrutierten, und Afroamerikaner_innen scheint zumindest partiell das Resultat eines Wissenstransfers darzustellen. So waren solche Gleichsetzungen von ‚Süditalienern‘ und ‚Afrikanern‘ schon vorher im Norden Italiens verbreitet (David Richards, Italian American: The Racializing of an Ethnic Identity. New York et al.: New York University Press 1999, S. 159).
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galten auch ‚Italiener‘ als von ihren Emotionen beherrscht. Von dieser Leidenschaftlichkeit und Unfähigkeit zu rationaler Reflektion gingen in zeitgenössischen Wahrnehmungen jedoch andere Bedrohungen für die Ordnung des Südens aus als vom Unvermögen zu Selbstkontrolle und Ratio, das ‚afroamerikanischen‘ Menschen zugeschrieben wurde. Nicht im zügellosen Begehren nach angloamerikanischen Frauen, sondern in ihrer vermeintlichen Tendenz zu Gewalttätigkeit, Rachsucht und Blutrünstigkeit äußerte sich in den Augen vieler Zeitgenoss_innen die ‚Italienern‘ zugeschriebene Leidenschaftlichkeit. Diese unterschiedlichen Bedrohungswahrnehmungen manifestierten sich in differierenden Begründungen, mit denen Lynchings an ‚italienischen‘ Migranten auf der einen und an ‚Afroamerikanern‘ auf der anderen Seite legitimiert wurden. ‚Afroamerikaner‘ wurden als Vergewaltiger, ‚Italiener‘ als Mörder gelyncht.96 Zudem wurden letztere als Ganoven und Kriminelle entworfen.97 Der Historiker John V. Baiamonte Jr. spricht in diesem Zusammenhang von einer im Süden grassierenden Mafia Scare.98 Trotz dieser Unterschiede lassen sich jedoch bedeutsame Parallelen in den Konstruktionen ‚afroamerikanischer‘ und ‚italienischer‘ Menschen feststellen. Italienische Migrant_innen, die sich in den Südstaaten niederließen, arbeiteten zumeist als Lohnarbeiter_innen oder Kleinpächter_innen innerhalb des landwirtschaftlichen Sektors. Sie übten also häufig die gleichen Tätigkeiten wie afroamerikanische Menschen aus und führten um die Wende zum 20. Jahrhundert wiederholt gemeinsam Arbeitskämpfe mit ihnen durch.99 Die Art der Arbeit und die damit verbundenen Lebensverhältnisse führten dazu, dass Italiener_innen, willentlich oder gezwungenermaßen, die strikte und rassifizierte Codierung von Räumen und Arbeit als schwarz beziehungsweise weiß missachteten.100 Sie stellten also eine Herausforderung für die klare Segregierung der Südstaatengesellschaft entlang der Color Line dar. Die Ausübung ähnlicher Arten der Lohnarbeit stand in einem engen Zusammenhang mit zeitgenössischen Vorstellungen einer Wesensgleichheit zwischen 96
Clive Webb, „The Lynching of Sicilian Immigrants in the American South, 1886–1910.“ In: American Nineteenth Century History, Jg. 3, Nr. 1 (Frühling 2002), S. 45–76, hier S. 50. 97 Siehe u. a. [unbekannt], „Regarding the Italian Population.“ In: The Mascot, 7.9.1889, S. 1. 98 John V. Baiamonte, „‚Who Killa de Chief ‘ Revisited: The Hennessey Assassination and Its Aftermath, 1890–1991.“ In: Louisiana History: The Journal of the Louisiana Historical Association, Jg. 33, Nr. 2 (Frühling 1992), S. 117–146, hier S. 121–125. 99 Vincenza Scarpaci, „Walking the Color Line: Italian Immigrants in Rural Louisiana.“ In: Jennifer Guglielmo und Salvatore Salerno (Hg.), Are Italians White?: How Race Is Made in America. New York et al.: Routledge 2003, S. 62–66. 100 Jacobson, Whiteness, S. 57.
Historiographische Auseinandersetzungen
‚Afroamerikanern‘ und ‚Italienern‘. Ebenso wie ‚Afroamerikaner‘ wurden ‚Italiener‘ als kulturell minderwertige Menschen und damit als unfähig zu einer zivilisierten Lebensführung entworfen.101 Auch in den Begriffen, mit denen ‚Italiener‘ von der angloamerikanischen Mehrheitsgesellschaft bezeichnet wurden, manifestierte sich die wahrgenommene Ähnlichkeit ‚italienischer‘ und ‚afroamerikanischer‘ Menschen. ‚Italiener‘ wurden als „Dago“ oder als „weiße Neger“ bezeichnet.102 Obwohl sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die ökonomische wie auch rechtliche Situation von Italoamerikaner_innen verbesserte, blieben unter Südstaatler_innen Vorstellungen einer weitgehenden Ähnlichkeit zwischen ‚italienischen‘ und ‚afroamerikanischen‘ Menschen auch in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts wirkmächtig.103 Das ‚jüdische‘ Subjekt wurde deutlich abweichend davon entworfen. ‚Juden‘ galten als ökonomisch besonders versiert und wurden von Zeitgenoss_innen als Verkörperung gesellschaftlicher Transformationsprozesse wie Industrialisierung und Urbanisierung gesehen.104 Die unterschiedlichen Konstruktionen von ‚Italienern‘ und ‚Juden‘ und die daraus resultierenden, divergierenden Möglichkeiten, gesellschaftliche Wandlungsprozesse wie die Industrialisierung und die Urbanisierung mit ihnen zu verknüpfen, stehen der These Lindemanns entgegen, dass es für den Verlauf und den Ausgang des Leo Frank-Case von nachgeordneter Relevanz gewesen sei, ob der Beschuldigte Italiener, Grieche oder Jude gewesen sei.105 Damit soll nicht darüber spekuliert werden, ob Frank ermordet worden wäre oder nicht, wenn er Italiener gewesen wäre. Vielmehr soll festgehalten werden, dass sein Judesein und die daran geknüpften Zuschreibungen für den Verlauf der Affäre von großem Gewicht gewesen sind. Im Gegensatz zu Lindemann betonen die übrigen historiographischen Arbeiten zum Leo Frank-Case die Bedeutung, die Antisemitismus in der Affäre einnahm. Leonard Dinnerstein, einer der führenden Historiker_innen 101 Cutcliffe Hyne, „Dago Divers.“ In: The Laurens Adviser, 3.7.1901, S. 4; Webb, „Lynching of Sicilian Immigrants“, S. 50. Zur Bedeutung des Konzeptes ‚Zivilisation‘ für die Herstellung von Whiteness und Männlichkeit siehe u. a. Gail Bederman, Manliness and Civilization: A Cultural History of Gender and Race in the United States, 1880–1917. Chicago et al.: The University of Chicago Press 1995, S. 23–31. 102 Hyne, „Dago Divers“, 3.7.1901; Jacobson, Whiteness, S. 56. Siehe auch Darstellungen von ‚Italienern‘ in der Zeitschrift The Mascot wie: [unbekannt], „Encouraging Italian Immigration.“ In: The Mascot, 5.1.1889, S. 1; [unbekannt], „Result of Encouraging Emigration.“ In: The Mascot, 13.4.1889, S. 1; [unbekannt], „Regarding the Italian Population“, 7.9.1889. 103 Scarpaci, „Color Line“, S. 61. 104 Hertzberg, Strangers, S. 203. 105 Lindemann, Jew Accused, S. 236.
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zur Geschichte des Antisemitismus in den Vereinigten Staaten von Amerika, kategorisierte im Vorwort des erstmals 1968 publizierten Pionierwerks zum Fall die Ereignisse als „einen der schändlichsten antisemitischen Ausbrüche in den USA“.106 Eric Goldstein bezeichnete den Leo Frank-Case als „einen der schlimmsten antisemitischen Ausbrüche in der amerikanischen Geschichte, der durch die Unzufriedenheit von Südstaatler_innen mit der Industrialisierung ausgelöst wurde“.107 Und Steven Hertzberg verstand die Affäre um den jüdischen Fabrikanten als „die vielleicht entsetzlichste Manifestation von Antisemitismus in der US-amerikanischen Geschichte“.108 Hinsichtlich der enormen Bedeutung des Judeseins für das Verständnis der Affäre herrscht im Lager der Historiker_innen also weitgehend Einigkeit. Ebenso diagnostizieren sie allesamt die Wichtigkeit von Industrialisierungsund Urbanisierungsprozessen für den Fall. Im Zusammenhang mit diesen Transformationen wird auch der Kategorie Geschlecht Bedeutung beigemessen, auch wenn sie dabei häufig nicht explizit benannt wird. Allerdings differieren die Arbeiten stark darin, inwieweit sie diese Kategorie ins Zentrum der Untersuchung rücken oder aber nur peripher berücksichtigen. Zum Common Sense der Arbeiten gehört die Identifizierung des zeitgenössischen hegemonialen Verständnisses von weiblicher Lohnarbeit als Triebkraft des sich gegen Frank richtenden Hasses. Die sich mit der Industrialisierung vollziehende Ausweitung weiblicher Lohnarbeit sei als Angriff auf die in den Südstaaten vorherrschenden Geschlechterund Sittlichkeitsvorstellungen wahrgenommen worden.109 Während die Arbeiten damit einen zentralen Punkt zum Verständnis des Leo Frank-Case benennen, fehlt es den Auseinandersetzungen mit der Kategorie Geschlecht jedoch deutlich an Tiefenschärfe. Ursächlich dafür scheint ein grundsätzlich mangelndes Bewusstsein dafür zu sein, welch enorme Bedeutung der Kategorie Geschlecht für die (Re-)Produktion gesellschaftlicher Ordnungen zukommt. Als (notwendige) Konsequenz ergibt sich daraus eine mangelnde Konzeptionalisierung und Theoretisierung von Geschlecht. Folglich gelingt es den bisherigen historiographischen Arbeiten zum Leo Frank-Case nicht, oder sie unternehmen erst gar nicht den Versuch, den interdependenten Charakter der verschiedenen, für den Fall bedeutsamen Kategorien wie Geschlecht, Klasse, Race oder Sexualität in den Blick zu nehmen. 106 107 108 109
Dinnerstein, Frank Case, S. xv. Goldstein, Price of Whiteness, S. 43. Hertzberg, Strangers, S. 202. Dinnerstein, Frank Case, S. 10 f.; Hertzberg, Strangers, S. 203; Oney, Dead Shall Rise, S. 73.
Historiographische Auseinandersetzungen
Eine Zäsur stellt in dieser Hinsicht der 1991 publizierte Aufsatz The Leo Frank Case Reconsidered von Nancy MacLean dar.110 Hier wird Geschlecht erstmals explizit als eine bedeutsame Kategorie für die Analyse des Falles verstanden. MacLean begreift den Hass auf Frank als Konsequenz einer tiefen kulturellen Verunsicherung in Folge des sich ereignenden Wandels innerhalb des Geschlechterverhältnisses. Die sich im Leo Frank-Case vollziehenden Kämpfe zwischen Männern unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen analysiert sie überzeugend als Auseinandersetzungen um Macht und Kontrolle über angloamerikanische Frauen.111 Während MacLean die Bedeutung der Kategorie Geschlecht für die Affäre treffend herausarbeitet, bleibt die Kategorie Race bei ihr tendenziell unterbelichtet. Sie konstatiert zwar vollkommen zu Recht, dass im Leo Frank-Case Judesein mit Kapitalistsein gleichgesetzt wurde. Zusätzlich verweist sie auf zu Anfang des 20. Jahrhunderts kursierende Vorstellungen von ‚Juden‘ als sexuell bedrohlich. Allerdings bleiben die historischen Entstehungsbedingungen für diese zeitgenössischen Verknüpfungen bei ihr völlig unberücksichtigt. Zudem bleibt die für die Affäre zentrale Imagination einer perversen ‚jüdischen‘ Sexualität und damit auch die Verwobenheit der Kategorien Klasse, Sexualität und Race außerhalb ihres Blickwinkels. Weitreichende Erkenntnisse über zeitgenössische Vorstellungen von ‚jüdischer‘ Perversion bietet das Buch Black-Jewish Relations on Trial von Jeffrey Melnick.112 Melnicks primäre Forschungsfrage zielt auf das im Leo Frank-Case zum Ausdruck kommende Verhältnis zwischen ‚Juden‘ und ‚Afroamerikanern‘. Zu diesem Zweck untersucht er zeitgenössische Konstruktionen ‚jüdischer‘ und ‚afroamerikanischer‘ Menschen sowie deren daran geknüpfte Positionierungen in der sozialen Matrix des Südens. Eine seiner zentralen Thesen besagt, dass sich die unterschiedliche Verortung von ‚Juden‘ und ‚Afroamerikanern‘ an den Rändern der Gesellschaft ganz wesentlich über die Konstruktion einer vermeintlich ‚rassespezifischen‘ Sexualität und Begehrensstruktur vollzogen habe. Auf diesem Wege wurden ‚jüdischen‘ und ‚afroamerikanischen‘ Menschen jedoch nicht bloß höchst unterschiedliche Wesenskerne zugeschrieben, sondern sie wurden zusätzlich in Abgrenzung zur angloamerikanischen Sexualität als deviant markiert. Die Imagination einer spezifisch ‚afroamerikanischen‘ beziehungsweise ‚jüdischen‘ Sexualität war dabei aufs engste mit zeitgenössischen Vorstellungen eines ‚afroamerikanischen‘ beziehungsweise ‚jüdischen‘ Subjekttypus verwoben. 110 MacLean, „Frank Case Reconsidered“, S. 917–948. 111 Dies., S. 930 f. 112 Melnick, Black-Jewish Relations.
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In der Konstruktion Franks als ‚jüdischen Perversen‘ manifestierten sich zeitgenössische Wahrnehmungen, die diesen als ‚jüdischen Kapitalisten‘ entwarfen. Die Herstellung Franks als ‚jüdischen Perversen‘ stellt in Melnicks Lesart der Affäre eine Strategie dar, derer sich Angloamerikaner_innen bedienten, um den gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen und der damit einhergehenden Erschütterung der gesellschaftlichen Dominanz angloamerikanischer Männer zu begegnen.113 Mit dieser intensiven und komplexen, wenn auch mitunter ahistorischen Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Sodomievorwurfes gegen den jüdischen Fabrikleiter hat Melnick einen wichtigen historiographischen Beitrag zur Analyse des Leo Frank-Case geliefert.114 Allerdings bleibt bei Melnick, ebenso wie auch in den anderen historiographischen Arbeiten, eine für das Verständnis der Affäre wichtige Kategorie fast vollständig außen vor: die Kategorie Sektion beziehungsweise die Konstruktion Franks als Jew Carpetbagger. Dies ist insofern überraschend, da alle Historiker_innen, die sich mit der Affäre beschäftigt haben, die große Bedeutung der Nichtzugehörigkeit Franks zur Südstaatenkultur betonen.115 Jedoch bleibt die Auseinandersetzung mit dieser Kategorie überwiegend auf einem oberflächlichen Niveau. Zwei problematische Aspekte lassen sich im Umgang mit der Kategorie ‚Sektion‘ in den bisherigen Arbeiten ausmachen: zum einen die Tendenz zur Gleichsetzung von Yankeesein mit Fremdsein und zum anderen die 113 Ders., insbes. das Kapitel „Capitalism and Perversion in the New South“. 114 Dieser mitunter ahistorische, spekulativ-psychoanalytische und nicht belegbare Charakter, den die Analyse Melnicks an einigen Stellen annimmt, soll an folgendem Beispiel kurz dargestellt werden. Aus der plausiblen und belegbaren These, dass die zeitgenössischen Darstellungen von Franks Lippen antisemitisch aufgeladen waren, zog Melnick zusätzlich den Schluss, dass die Beschreibung der Lippen eine Anspielung auf die Vagina sei und Frank auf diesem Weg als effeminiert markiert worden sei (Melnick, Black-Jewish Relations, S. 54). Eine zeitgenössische Verknüpfung zwischen Franks Lippen und dem weiblichen Genital lässt sich jedoch im Quellenmaterial zum Fall nicht finden. Vielmehr wurde von Zeitgenoss_innen eine Verbindung zwischen Franks Lippen und der ihm zugeschriebenen und als pervers kategorisierten Neigung zu Oralsex hergestellt. Da ‚sexuelle Perversion‘ von Zeitgenoss_innen als Resultat der Verweiblichung von Männern wahrgenommen wurde, hat Melnick Recht, wenn er die These aufstellt, dass die Beschreibung von Franks Lippen eine Technik der Effeminierung darstellte, allerdings aus anderen Gründen als von ihm angegeben (Kerl, „He Makes WHITE Women“, S. 5 f.). 115 Siehe u. a. Dinnerstein, Frank Case, S. 32; Jacobson, Whiteness, S. 65; Lindemann, Jew Accused, S. 238 f.; MacLean, „Frank Case Reconsidered“, S. 917; Jeffrey Melnick, „‚The Night Witch Did It‘: Villainy and Narrative in the Leo Frank Case.“ In: American Literary History, Jg. 12, Nr. 1/2 (Frühling–Sommer 2000), S. 113–129, hier S. 117; Oney, Dead Shall Rise, S. 320, 514.
Historiographische Auseinandersetzungen
Unfähigkeit, der zeitgenössischen Verflochtenheit der Kategorie Sektion mit Race, Klasse, Geschlecht und Sexualität nachzuspüren. Besonders augenscheinlich manifestiert sich diese Gleichsetzung wie bereits skizziert in Albert Lindemanns The Jew Accused, aber auch in der Auseinandersetzung Jeffrey Melnicks mit dem Leo Frank-Case. Melnick untersucht auf beeindruckende Art und Weise die Strategien, die zeitgenössisch angewandt wurden, um Frank als fremden Eindringling in die Südstaatenkultur zu konstruieren und zu markieren. Jedoch beschränkt sich seine Analyse darauf, zu zeigen, dass die Verortung Jim Conleys innerhalb der Kultur des Südens beziehungsweise die Konstruktion von Frank als dieser nicht zugehörig eine bedeutsame Wirkmacht in dem Fall entwickelt haben.116 Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Yankeeseins wurde somit bisher von der Historiographie nicht geleistet. Es besteht in dieser Hinsicht also nach wie vor eine wichtige Leerstelle innerhalb der historischen Forschung, die zu schließen einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Antisemitismus im Süden im Allgemeinen und des Leo Frank-Case im Speziellen verspricht. Eine Auseinandersetzung mit den Figurationen des Yankees oder des Carpetbaggers müsste den Versuch unternehmen, folgende Fragen zu beantworten: Mit welchen spezifischen Zuschreibungen wurden diese Figurationen versehen? Welche von Zeitgenoss_innen diagnostizierten Bedrohungen und Gefahren wurden mit ihnen verbunden? Wieso konnte im Verlauf der Affäre die Figuration des Carpetbaggers mit der des ‚Juden‘ zum Jew Carpetbagger verschmolzen werden? Diese bisher unzureichende historiographische Auseinandersetzung mit den Figurationen des Yankees beziehungsweise Carpetbaggers erschwert auch den Blick auf die Bedeutungen, die der Kategorie Sektion in der Affäre zugeschrieben wurden. Ein Verständnis vom Yankeesein als unspezifischem Fremdsein verunmöglicht, die Verwobenheit der Kategorie Sektion mit Race, Klasse, Geschlecht oder Sexualität zu durchdringen. Eine historiographische Auseinandersetzung mit der Figuration des Yankees beziehungsweise des Carpetbaggers ermöglicht somit wichtige Erkenntnisse zum Leo Frank-Case und damit zur Geschichte des Antisemitismus. Dabei hat eine solche Untersuchung nicht nur die inhaltlichen und strukturellen Parallelen und Differenzen zwischen den zeitgenössischen Konstruktionen von Yankee/Carpetbagger und ‚Juden‘ herauszuarbeiten, sondern auch zu fragen, zu welchen Zeitpunkten explizit Verknüpfungen zwischen ihnen hergestellt wurden. Eine fundierte Analyse dieser Fragestellungen könnte 116 Melnick, „Night Witch“.
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zeigen, so eine der Thesen der Arbeit, dass sich die Verschmelzung von Judesein und Yankeesein während des Leo Frank-Case nicht zufällig vollzog und dass sie spezifische Effekte erzeugte, die für das Verständnis der besonderen Dynamik des Falls von großer Bedeutung sind.
1.4 Zum Zusammenhang von der empfundenen Krise angloamerikanischer Männlichkeit und Antisemitismus Ever since reading that threat against you and others, my old blood has been hot. When General Strauss, Colonel Haas, Major Ochs with their gang of Gideonite sodomites, and all that great army of Jerusalemites marches into Georgia to run you and others out of the state or even whisper assassination, I felt like greasing up old Betsy and hitting the trail as I did in Johnson’s Army in ’64 and ’65. I am an old Confederate soldier, but not too old to fight, if I am too old to run. When such riotous talk as that comes out in the Jew-owned newspapers that same old spunk that our forefathers had in 1776 and 1812 comes right into a fellow and he gets in an ugly mood and wants to hurt somebody. General Strauss and his dirty gang of Jews would get wiped off the face of the earth before hell could scorch a feather. One blast from Tom Watson’s horn would put 50,000 men in the field at any central point as quick as the iron horse could carry them, and I would be there with old Betsy.117
General Strauss, Colonel Haas, Major Ochs, die drohende Invasion Georgias durch ‚jüdische Sodomiten‘ und die Formierung heroischer Gegenwehr wie zur Zeit des Civil War; zwei sich unerbittlich auf dem Schlachtfeld gegenüberstehende Armeen, wobei die Rollen zwischen Aggressoren und Verteidigern, zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘ klar verteilt sind. In dieser Beschreibung des Verhältnisses zwischen ‚Juden‘ und Angloamerikanern, die einige Monate nach dem Lynching Franks publiziert wurde, manifestierte sich eine Weltsicht, die ‚Juden‘ als eine mit zerstörerischen Kräften versehene Bedrohung für die gesellschaftliche Ordnung des Südens entwarf. Dem im Süden hegemonialen Männlichkeitsideal, das angloamerikanische Männer als Beschützer von Frauen und Kindern sowie als Stützpfeiler der sozialen Ordnung konstruierte, war es geschuldet, dass die im Zitat beschriebene Krisenhaftigkeit des Südens als Krise angloamerikanischer Männlichkeit verstanden wurde. 117 [Thomas Watson?], „Will Judge Lambdin Stand for This?“ In: The Jeffersonian, 28.10.1915, S. 1+4, hier S. 1.
Zum Zusammenhang von der empfundenen Krise
Auf Grund der Verknüpfung von ‚Juden‘ mit einem vermeintlich über den Süden hereinbrechenden Übel verstanden Zeitgenoss_innen den Kampf gegen ‚Juden‘ als einen Kampf für die Überwindung der Krise des Südens durch die Rekonstitution angloamerikanischer Männlichkeit. Die Vorstellung, dass ‚Juden‘ die Unterwerfung und Subordination angloamerikanischer Menschen betrieben, stellte in zeitgenössischen Weltsichten eine sich über verschiedene gesellschaftliche Felder erstreckende Frontstellung zwischen angloamerikanischen Männern und ‚jüdischen‘ Invasoren her. Im Zentrum dieser Kräfte, die die Verteidigung des Südens gegen den Einfall von ‚Juden‘ gewährleisten wollten, stand Thomas Watson.118 Watson verfügte auf Grund seiner politischen Karriere über eine erhebliche Anhänger_innenschaft. 1890 als Populist für die Demokratische Partei in den Kongress eingezogen, trat er zwei Jahre später bei den Kongresswahlen als Kandidat der Populist Party an. Zu diesem frühen Zeitpunkt seiner politischen Karriere agierte Thomas Watson als Anwalt sowohl angloamerikanischer wie auch afroamerikanischer Farmer, die er als Opfer einer Verschwörung begriff. Im Zentrum dieser Konspiration verortete Watson neben Banken, verschiedenen Trusts und dem Großkapital im Allgemeinen auch Städte.119 Dieser verschwörungstheoretische Ansatz zur Erklärung des ökonomischen Niedergangs der Yeomanry wies früh eine antisemitische Färbung auf. Bereits 1892 diagnostizierte Watson im People’s Party Campaign Book die Dominanz von „rotäugigen jüdischen Millionären“ über die Demokratische Partei.120 1896 trat Thomas Watson als Running Mate auf dem Ticket der Demokratischen Partei bei den Präsidentschaftswahlen an, um gemeinsam mit William Jennings Bryan die Wahl gegen den Kandidaten der Republikanischen Partei, William McKinley, zu gewinnen. Nach dem Scheitern dieses Unterfangens zog sich Watson zunächst aus der Politik zurück, um sich Mitte der ersten Dekade 118 Den Klassiker zum Leben und politischen Werdegang Thomas Watsons bildet die 1938 von C. Vann Woodward publizierte Biographie Tom Watson, Agrarian Rebel (C. Vann Woodward, Tom Watson, Agrarian Rebell. New York: The Macmillan Co. 1938). Arbeiten jüngeren Datums zu Watson sind u. a. William F. Holmes, „Tom Watson.“ In: William Ferris und Charles Reagan Wilson (Hg.): The Encyclopedia of Southern Culture. Chapel Hill: The University of North Carolina Press 1989, S. 1200 f.; G. Jack Gravlee, „Tom Watson.“ In: Cal. M. Logue und Howard Dorgan (Hg.): The Oratory of Southern Demagogues. Baton Rouge et al.: Louisiana State University Press 1981, S. 85–108. 119 Gregory Mixon, The Atlanta Riot: Race, Class and Violence in a New South City. Gainesville et al.: The University Press of Florida 2005, S. 56 f. 120 Zitiert nach: Louise A. Mayo, The Ambivalent Image: Nineteenth-Century America’s Perception of the Jew. Rutherford: Fairleigh Dickinson University Press 1988, S. 129.
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des 20. Jahrhunderts mit der Herausgabe der beiden Zeitungen The Jeffersonian und dem Watson’s Magazine wieder im politischen Geschäft zurückzumelden. Allerdings hatte seine politische Agenda in der Zwischenzeit eine bedeutende Neuausrichtung erfahren. Vom Advokaten einer zumindest politisch-strategischen Allianz zwischen afroamerikanischen und angloamerikanischen Farmern hatte er sich zu einem strikten Verfechter der White Supremacy sowie zum Propagandisten einer von antisemitischen, antimormonischen und antikatholischen Elementen durchzogenen Weltsicht entwickelt.121 Seine beiden Zeitungen zu permanenten Interventionen nutzend, stellte Watson im Laufe des Leo FrankCase einen der wichtigsten und stimmgewaltigsten Akteure des Anti-FrankLagers dar. Mit diesem Kurs stieß er in der Bevölkerung Georgias auf große Zustimmung. Die Auflage der Wochenzeitung The Jeffersonian steigerte sich in dieser Zeit rasant von 25.000 Exemplaren vor dem Leo Frank-Case auf 87.000 im September 1915.122 Eine wesentliche Triebkraft dieser Feindschaften gegenüber ‚afroamerikanischen‘, ‚jüdischen‘ und ‚katholischen‘ Menschen bildete in diesem Weltbild die Verteidigung der als bedroht wahrgenommenen dominanten gesellschaftlichen Stellung angloamerikanischer Männer. Die empfundene Erosion gesellschaftlicher Macht und Kontrolle manifestierte sich häufig in Konstruktionen ‚afroamerikanischer‘, ‚jüdischer‘ und ‚katholischer‘ Männer als Aggressoren gegenüber der Reinheit und Tugendhaftigkeit angloamerikanischer Frauen. Darüber hinaus galten ‚Katholiken‘ und ‚Juden‘ Watson als bestrebt, angloamerikanische Menschen durch Verschwörungen zu unterjochen.123 Diese Bedrohungswahrnehmungen nahmen in der Affäre eine herausragende Bedeutung ein.124 In deren Verlauf wurden ‚Juden‘ auf mannigfaltige Art und Weise mit unterschiedlichen Aspekten zeitgenössischer Krisenwahrnehmun121 Catherine McNicol Stock, Rural Radicals: Righteous Rage in the American Grain. Ithaca: Cornell University Press 1996, S. 128. Zum Antimormonismus im Süden siehe u. a. Patrick Mason: The Mormon Menace: Violence and Anti-Mormonism in the Postbellum South. New York et al.: Oxford University Press 2011. 122 Dinnerstein, Frank Case, S. 119. 123 [Unbekannt], „Sign, Get Others to Sign, and Mail It to Your Senators and Representatives in Congress.“ In: The Jeffersonian, 16.3.1916, S. 5; Thomas Watson, „One of the Priests Who Raped a Catholic Woman in a Catholic Church: What the Supreme Court of Massachusetts Decides as to the Responsibility of a Catholic Bishop Who, Knowingly, Appointed a Libertine Priest.“ In: Watson’s Magazine, Jg. 20, Nr. 3 ( Januar 1915), S. 135–138; ders., „The Rich Jews Indict a State! The Whole South Traduced. In the Matter of Leo Frank.“ In: Watson’s Magazine, Jg. 21, Nr. 6 (Oktober 1915), S. 301–342. 124 MacLean, „Frank Case Reconsidered“, S. 918–920.
Zum Zusammenhang von der empfundenen Krise
gen verknüpft. Sie galten als treibende Kraft des Niedergangs eines agrarisch geprägten Southern Way of Life, in dem die Vorstellung eines durch Unabhängigkeit, Autonomie und Gleichheit charakterisierten angloamerikanischen Mannes von zentraler Bedeutung war. Sie wurden auf vielfältige Art mit der sich langsam vollziehenden industriell-kapitalistischen Durchdringung und Urbanisierung des Südens sowie der sich damit fundamental verändernden Interaktion zwischen Menschen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen in Verbindung gesetzt. Außerdem wurde die im Süden seit der Niederlage im Civil War enorm wirkmächtige Figuration des Carpetbaggers und die sich darin materialisierende Angst vor einer Unterwerfung unter den Yankee-Norden mit ‚Juden‘ verknüpft und auf diese Weise die Konstruktion des Jew Carpetbaggers hervorgebracht.125
1.4.1 Weibliche Lohnarbeit und ‚jüdische Kapitalisten‘ The young girl comes from the country to work in office or store or mill. She is compelled to do so. We all know the necessity that drives. And the things of the city dazzle and she is lifted out of the wholesome atmosphere of home into the confusing and sensous [sic!] and fetid air of the city. She should in this condition appeal to all that is best in man. She needs his protection, she needs his wisdom that is wordly [sic!] to guide her feet around the flower strewn rocks in the moss covered path of shame.126
Diese Sichtweise auf Industrialisierung und Urbanisierung wurde Anfang Juni 1915, also gut zwei Monate vor dem Lynching Franks, in der Zeitung Columbia Record publiziert. Die Überschrift des Artikels lautete The Mary Phagan Side of It. Den Leo Frank-Case als Aufhänger nutzend identifizierte der Verfasser weibliche Lohnarbeit und urbane Gebiete als Gefahrenherde für angloamerikanische Frauen. Jedoch beschrieb er nicht nur die unterschiedlichen, mit diesen Transformationen verbundenen Bedrohungen, sondern präsentierte auch eine Strategie, mittels derer den vermeintlichen Gefahren entgegengetreten werden könne. Er appellierte an angloamerikanische Frauen und Männer, sich auf ein tugendhaftes und moralisches Leben zurückzubesinnen. Dazu bedurfte es seiner Ansicht nach unter anderem der Rekonstitution eines strikt hierarchischen Verhältnisses 125 [Thomas Watson?], „The State versus John M. Slaton.“ In: The Jeffersonian, 23.9.1915, S. 1. 126 [Unbekannt], „The Mary Phagan Side of It.“ In: Columbia Record, 9.6.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 4, Folder 5.
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zwischen den Geschlechtern, das sich in Zukunft wieder dadurch auszeichnen sollte, dass ‚ritterliche‘ Männer für den Schutz der ‚schwachen‘ Frauen zu sorgen hätten. Vor dem Hintergrund dieser Agenda sieht der/die Autor_in in der Ermordung Phagans einen potenziellen Wendepunkt zum Besseren: Wenn der Tod Phagans die angloamerikanischen Männer des Südens dazu bewegen würde, in Zukunft besser auf die Tugend und körperliche Unversehrtheit angloamerikanischer Frauen zu achten und sie vor Gefahren zu beschützen, wäre die junge Arbeiterin der National Pencil Company nicht vergeblich gestorben.127 Auch in vielen anderen zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit dem Leo Frank-Case standen Fragen zu Industrialisierung und Urbanisierung des Südens, der damit verbundenen weiblichen Lohnarbeit und den grundlegend anderen Lebensbedingungen in städtischen Räumen im Zentrum der Analysen. Dabei standen sich die Haltungen zu dem sich vollziehenden sozioökonomischen und kulturellen Wandel mitunter diametral gegenüber. Insbesondere im Pro-FrankLager waren Stimmen zu vernehmen, die die Industrialisierung und Urbanisierung des Südens geradezu euphorisch begrüßten und vehement gegen Kritik verteidigten.128 Dieser positiven Einstellung stand während des Leo Frank-Case eine Vielzahl zeitgenössischer Stimmen entgegen, die die Ermordung Phagans und den Verlauf der zweijährigen Affäre aufs engste mit der sozioökonomischen Transformation des Südens verknüpften. Kommentator_innen verstanden die emotionsgeladene Stimmung innerhalb des Anti-Frank-Lagers als Resultat einer sich im Zuge der Industrialisierung herausbildenden hitzigen Klassenauseinandersetzung. Die von ‚Kapitalisten‘ angeblich durch ihren Einfluss auf die Legislative hervorgebrachten Arbeitsbedingungen sowie darüber hinaus die schwierigen allgemeinen Lebensbedingungen, denen die neu entstehende Arbeiterklasse ausgesetzt war, wurden als ursächlich für den Hass auf Frank ausgemacht. Der Memphis Appeal identifizierte das niedrige Alter des Opfers als Ursache der großen Empörung, mit der Zeitgenoss_innen auf den Mord reagierten. Angehörige der Arbeiterklasse hätten die Ermordung und den Verlauf des Prozesses bis hin zur Commutation als Zeichen ihrer eigenen Ohnmacht sowie ihrer totalen Subordination unter ‚Kapitalisten‘ verstanden. Durch den Einsatz ihrer finanziellen Potenz hätten ‚die Kapitalisten‘ eine Zweiklassenjustiz errichtet, die 127 Ders. 128 [Unbekannt], „Child Labor Tactics Misleading.“ In: Charlotte News, 8.8.1914, S. 10, The Georgia University of Technology Archives (im Folgenden: GUTA), Fulton Bag and Cotton Mills Record (im Folgenden: FBCMR), Box 4, Folder 12.
Zum Zusammenhang von der empfundenen Krise
es ermöglicht habe, Leo Frank vor der gerechten Bestrafung für die Ermordung einer jungen Frau aus der Arbeiterklasse zu bewahren.129 Andere Zeitgenoss_innen betonten die Bedeutung der Beschäftigungspolitik der National Pencil Company für das Verständnis der Affäre. Die Anstellung von Kindern und insbesondere von jungen Mädchen wurde als Auslöser der Raserei ausgemacht. Die Hilflosigkeit der Arbeiter_innen, ihre Kinder vor gesundheitsschädlichen Arbeitsverhältnissen und vor Übergriffen durch Vorgesetzte zu bewahren, sei in Wut gegen Frank umgeschlagen. Die unter industriellen Verhältnissen entstehende und mit dem jüdischen Fabrikleiter assoziierte Kinderarbeit, die von zeitgenössischen Beobachter_innen fundamental anders bewertet wurde als die Arbeit, die Kinder auf den Farmen ihrer Eltern verrichteten, sei verantwortlich für die aufgeheizte und tumultartige Stimmung während des Leo Frank-Case.130 Jedoch wurden nicht nur die harten Arbeits- und Lebensbedingungen als Ursache für den Hass auf Frank verstanden. Weitere Analysekategorien und Zusammenhänge wurden von zeitgenössischen Beobachter_innen als grundlegend für das Verständnis des Falles ins Feld geführt. Nicht mehr allein die sozioökonomischen Bedingungen, unter denen die neu entstehende Arbeiterklasse arbeiten und leben musste, waren in ihren Analysen bedeutsam, sondern vielmehr kulturelle Besonderheiten der Südstaatengesellschaft. In diesem Narrativ stießen die Industrialisierung und die damit verbundene weibliche Lohnarbeit auf ein spezifisches kulturelles System in den Südstaaten, das für die Dynamik, den Verlauf und den Ausgang der Affäre von fundamentaler Bedeutung gewesen sei. Der Journalist C. P. Connolly maß der ausgesprochen feindseligen Haltung vieler angloamerikanischer Südstaatler_innen zu weiblicher Fabrikarbeit eine enorme Bedeutung für den Leo Frank-Case zu. Gemeinsam mit dem Judesein Franks sei sie ursächlich für den Verlauf der Affäre gewesen.131 Andere Zeitgenoss_innen stellten diese negative Einstellung gegenüber weiblicher Lohnarbeit und ‚Juden‘ explizit mit einem spezifischen (Selbst-)Verständnis angloamerikanischer Männlichkeit in Zusammenhang. Obwohl dieses aus Zeiten des Old South stamme, sei es trotz der voranschreitenden gesellschaftlichen Transformation des Südens nach wie vor hegemonial gewesen und habe in der Affäre seine fatale Wirkmacht entfaltet. Ein unbekannter, wahrscheinlich 129 [Unbekannt], „Frank Case“, 22.6.1915. 130 [Unbekannt], „Handing It to a State.“ In: Fort Smith American, 10.7.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 5, Folder 1. 131 Connolly, The Truth, S. 27 f.
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aus den Nordstaaten stammender Zeitgenosse beschrieb diesen Zusammenhang zwischen Männlichkeit und dem Hass auf Frank mit folgenden Worten: In the south the chivalry of the old days survives. It has never become reconciled to the employment of white women in factories. They view those things differently in the south. There the caste system survives. Things that northern women may do, southern women may not do without losing their social standing. A man – especially a Jew – who came from the north and started a factory, as Frank did for the manufacture of pencils, and therein employed white women was open to censure and hatred. That is the social phase of the case.132
Dieser zeitgenössisch diagnostizierte Zusammenhang zwischen dem Hass auf Leo Frank, weiblicher Lohnarbeit und einer spezifischen Konfiguration von Männlichkeit verweist auf einen für das Verständnis des modernen Antisemitismus im US-Süden elementaren Aspekt: den Aufstieg einer urbanisierten und industrialisierten Gesellschaftsformation und einer damit einhergehenden Krisenwahrnehmung angloamerikanischer Männer. Die Untersuchung der Genealogie dieser Verknüpfung bildet den Gegenstand des vierten Kapitels dieses Buches. In diesem Zusammenhang wird unter anderem folgenden Fragen nachgespürt: Warum ging in den Augen der Zeitgenoss_innen von weiblicher Lohnarbeit und ‚jüdischen Kapitalisten‘ eine solch drastische Bedrohung für angloamerikanische Frauen aus? Inwieweit lassen sich in der Geschichte der Südstaaten Diskursstränge ausfindig machen, die diese Verknüpfung von ‚Juden‘ mit den vermeintlich in den Fabriken auf angloamerikanische Arbeiterinnen lauernden Gefahren als denkbar und plausibel erscheinen ließen?
1.4.2 Der Niedergang des Agrarian Way of Life und der empfundene Aufstieg einer ‚jüdischen Aristokratie‘
Zusätzlich zu der Darstellung von ‚Juden‘ als mannigfacher Gefahr für angloamerikanische Lohnarbeiterinnen wurden ‚Juden‘ im Verlauf des Leo FrankCase als (mit-)verantwortlich für den Niedergang der ländlichen Lebensweise im Süden entworfen. Daran waren auch Wahrnehmungen von ‚Juden‘ als Gefahr für die republikanische Staatsordnung gekoppelt. Ihnen wurde ein Streben nach einer exklusiven gesellschaftlichen Stellung zugeschrieben. Wie jedoch 132 [Unbekannt], [kein Titel]. In: [Zeitung unbekannt], [kein Datum], [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 3, Folder 3.
Zum Zusammenhang von der empfundenen Krise
vollzog sich in zeitgenössischen Perspektiven dieser Zugriff auf gesellschaftliche Macht? Welche Strategien und Techniken setzten ‚Juden‘ in den Augen von Zeitgenoss_innen zu diesem Zweck ein? Als zentrales Instrumentarium ‚jüdischer‘ Einflussnahme galt dem AntiFrank-Lager der angebliche Reichtum von ‚Juden‘, der es ihnen ermöglicht habe, durch Bestechung Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen auszuüben. So kursierten in Atlanta Gerüchte, dass ‚Juden‘ einen großen Korruptionsfonds gegründet hätten, um Leo Frank, schuldig oder nicht, vor einer Verurteilung zu bewahren.133 Im Prozess behauptete der Staatsanwalt Dorsey, dass Frank durch den Einsatz von Reichtum und Macht vor der Strafe für den Mord bewahrt werden sollte.134 Jim Conley wiederum gab während des Gerichtsverfahrens zu Protokoll, dass der jüdische Fabrikleiter unmittelbar nach dem Mord an der jungen Arbeiterin geäußert habe, dass er nicht für die Tat belangt werde, da er reiche Verwandte in Brooklyn habe.135 Und der in Louisville, Kentucky, erscheinende Western Recorder berichtete, dass auf Seiten Franks der große Einfluss und das große Geld zu Hause gewesen seien.136 Es zeigt sich also, dass viele Zeitgenoss_innen ‚Juden‘ mit Reichtum assoziierten und darüber hinaus davon ausgingen, dass sie diese monetären Mittel dazu nutzen würden, auf unrechtmäßige Art und Weise ihre Ziele zu erreichen. Wie konstruierten Südstaatler_innen den Zusammenhang zwischen ökonomischer Potenz und gesellschaftlicher Macht jedoch konkret? Welcher Techniken bedienten sich ‚Juden‘ in dem antisemitischen Narrativ? Als grundlegendes Merkmal des Strebens von ‚Juden‘ nach gesellschaftlichem Einfluss wurde ein verschwörerisches Agieren aus dem Hintergrund erachtet. Sie seien in der Lage gewesen, zur Durchsetzung ihrer Interessen auf Geheimgesellschaften zurückzugreifen.137 Diese Verortung von ‚Juden‘ im Unsichtbaren hatte Konsequenzen für die Wahrnehmung gesellschaftlicher Konflikte. Um aus dem Verborgenen gesellschaftlich wirkmächtig werden zu können, bedarf es Mittelsmänner, die an der Oberfläche die Interessen der Hintermänner durchsetzen, ohne dass die Verbindung zwischen ihnen öffentlich wird. Sich in einem Kampf gegen eine ‚jüdische‘ Verschwörung wähnend, versuchte das Anti-Frank-Lager wiederholt angebliche Verbindungen zwischen ‚jüdischen‘ Hintermännern und 133 134 135 136 137
[Unbekannt], Frank Case, S. 41. Christophulos, Argument of Hugh M. Dorsey, S. 53. [Unbekannt], Frank Case, S. 48. [Unbekannt], „Frank Case“, 9.7.1915, S. 15. [Thomas Watson?], „This Is One Place Where Money Does Not Count.“ In: The Jeffersonian, 5.8.1915, S. 8.
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ihnen ergebenen, in der Öffentlichkeit als unabhängig auftretenden nichtjüdischen Marionetten sichtbar zu machen. So wies Thomas Watson darauf hin, dass auf Grund des Verharrens von ‚Juden‘ im Hintergrund Konflikte zwischen ‚Juden‘ und Nichtjuden auf der Erscheinungsebene lediglich als Kämpfe zwischen Nichtjuden wahrnehmbar seien. Auf diesem Wege bleibe die Einflussnahme von ‚Juden‘ auf gewisse Entscheidungen im Dunkeln, ihre gesellschaftliche Dominanz werde somit eskamotiert und Widerstand dagegen verunmöglicht.138 Dementsprechend wurde wiederholt die Forderung vorgetragen, ‚Juden‘ sollten ihre vermeintlichen Angriffe auf Watson oder auf den Bundesstaat Georgia offen vortragen und sich nicht hinter dem Rücken von Nichtjuden verstecken.139 Als zentrale Technik dieser verborgenen Einflussnahme wurde die vermeintliche Kontrolle über die Presseberichterstattung identifiziert. In einem im The Jeffersonian abgedruckten Leserbrief wurde beklagt, dass ‚Juden‘ während der zweijährigen Affäre die US-amerikanische Presse kontrolliert und ihr einen Maulkorb angelegt hätten.140 Thomas Watson sah den Einfluss von ‚Juden‘ auf die Medien als derartig groß an, dass er davon ausging, dass niemals zuvor in den USA derartig umfassend und wohlwollend über einen Inhaftierten berichtet worden sei. Ironisch merkte er an, dass er sich einsam fühle, wenn die Presse, und insbesondere die angeblich im Besitz von ‚Juden‘ befindlichen Zeitungen des Nordens, mal eine Woche auf ihre parteiischen Artikel und Kolumnen zugunsten Franks verzichten würden.141 Der ‚jüdische‘ Einfluss auf die Berichterstattung der nationalen Presse wurde von Seiten des Anti-Frank-Lagers als nahezu absolut konstruiert. Fast alle Zeitungen und Zeitschriften galten ihnen als von ‚Juden‘ kontrolliert. Ex negativo manifestierte sich diese Sichtweise in einem Leserbrief, in dem sich ein Leser bei Watson für die Befreiung aus einem Leben in Verblendung und Unwissenheit bedankte, in das ihn die von ‚Juden‘ kontrollierte Presse gestoßen habe. My Dear Sir: Permit me to congratulate you on the masterly manner in which you have given the world the facts regarding the Leo Frank case. Before reading what you have said in Watson’s Magazine and the Jeffersonian, I in common with the majority, having read nothing except the Hearst and other papers of the paid prostitute class; believed this degenerate Jew 138 [Thomas Watson?], „Why Do They Keep Up the Big Money Campaign against the People and the Courts of Georgia?“ In: The Jeffersonian, 12.8.1915, S. 1–3, hier S. 1. 139 [Thomas Watson?], „Do the Jew Business Men Want to Provoke Us Into a General Boycott?“ In: The Jeffersonian, 12.8.1915, S. 9. 140 Al H. Foster, „The Modest Jew.“ In: The Jeffersonian, 4.11.1915, S. 3. 141 [Thomas Watson?], „Regular Newspaper“, 3.12.1914, S. 1.
Zum Zusammenhang von der empfundenen Krise
to be innocent, virtuous, pure minded and a persecuted man, whom you barbarous Georgians sought to slay. … Friends of mine, to whome [sic!] I had loaned copies of the Jeffersonian and the magazine, after reading them would exclaim: „Why I didn’t know that before!“ Of course, they did not, because the papers they had read were paid to keep the truth from the public.142
Jedoch galten nicht nur die Printmedien als unter ‚jüdischer‘ Kuratel stehend, sondern auch das relativ neue Medium des Kinos wurde als ein Instrumentarium verstanden, das ‚Juden‘ dazu diente, die öffentliche Meinung in ihrem Interesse zu manipulieren.143 Als ein zweites Feld, in dem ‚Juden‘ ihre Herrschaft über Nichtjuden (re-)produzierten, identifizierten Watson und seine Anhänger_innen die Politik. Sie verstanden Politiker als bloße Erfüllungsgehilfen von ‚Juden‘. Während des Leo Frank-Case galten insbesondere Politiker, die gegen eine Hinrichtung Franks argumentierten, als von ‚Juden‘ gekauft.144 Diese Wahrnehmung manifestierte sich in den Reaktionen auf die Umwandlung der Todesstrafe in lebenslange Haft durch Gouverneur Slaton. Er wurde als „Jew Money Slaton“ oder als „John M. Slaton, König der Juden und Georgias ewiger Verräter” beleidigt.145 Jedoch galten nicht nur die in den Fall involvierten Politiker als unter Einfluss von ‚Juden‘ stehend, sondern die gesamte Politik der USA. Watson charakterisierte den Politikbetrieb des frühen 20. Jahrhunderts wie folgt: „Big Money makes and unmakes Presidents, makes and unmakes legislation, makes and unmakes the policies of the greatest Republic.“146 Zeitgenoss_innen verstanden die Gesellschaft, in der sie lebten, nicht länger als eine Republik. Angloamerikanische US-Staatsbürger_innen seien zu Sklav_innen von ‚Juden‘ herabgesunken. Watson bezeichnete die gesellschaftliche Situation der Arbeiter_innen gar als schlimmer als die der afroamerikanischen Sklav_innen vor der Niederlage des Südens im Civil War. What we have now, is not a rule of the people, but a centralized despotism of Money Bags, in which the ordinary citizen has no real voice, and the working classes are worse off than the 142 Steiner, „Illinois Man“, 30.9.1915, S. 11. 143 [Thomas Watson?], „Big Money Campaign“, 12.8.1915, S. 1; Thomas Watson, „The Celebrated Case of the State of Georgia vs. Leo Frank.“ In: Watson’s Magazine, Jg. 21, Nr. 4 (August 1915), S. 182–235, hier S. 198. 144 [Thomas Watson?], „Mayor Dorsey of Athens“, 29.7.1915, S. 5. 145 Elijah M. Patterson, „An Atlanta Man Writes.“ In: The Jeffersonian, 5.8.1915, S. 12; Dinnerstein, Frank Case, S. 130. 146 Watson, „Leo Frank Case“, Januar 1915, S. 139.
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slaves were in ancient Persia, ancient India, ancient Egypt, ancient Rome, ancient Germany, ancient Britain – and in the Southern States before the War.147
Als ursächlich für das ‚jüdisch‘-antidemokratische Verhalten wurde ein spezifisches Wesen erachtet, das ‚Juden‘ antithetisch zum demokratisch-staatsbürgerlichen Subjekt setzte.148 Als Quelle der vermeintlichen Unfähigkeit von ‚Juden‘, sich in demokratische Ordnungen zu integrieren, galt ein Begehren ‚jüdischer‘ Menschen nach gesellschaftlicher Dominanz, an dessen Wurzel ein besonders ausgeprägter „rassischer Stolz“ verortet wurde.149 Dabei wurde dieses vermeintliche Streben nach gesellschaftlicher Suprematie als dem Judentum inhärent beschrieben. Dies geschah zum Beispiel, indem es in zentralen religiösen Schriften und Instanzen verankert wurde. So schrieb Watson: They are taught in their Talmud that, ‚As man is superior to other animals, so are the Jews superior to all other men.‘ Do the Hebrews of today hold to that, in their heart of hearts? [Hervorhebung im Original.] They are taught by their great teacher, Rabbana Ashi, that ‚Those who are not Jews, are dogs and asses.‘150
Die Annahme, unter die Herrschaft einer ‚jüdischen Aristokratie‘ geraten zu sein, machte Widerstand gegen die Unterdrückung angloamerikanischer Menschen zwingend notwendig. Der Leo Frank-Case wurde als ein solcher Akt des Widerstands verstanden. Nicht etwa Judenhass, wie es ein großer Teil der Presse aus dem Norden und auch das Verteidigerteam Franks dem Anti-Frank-Lager vorwarfen, sondern die Verteidigung Georgias und seiner republikanischen Ordnung gegen eine „Bande Geier, die ihren Erlöser für ein paar Stücke Silber verkaufen würde“ habe den Treibstoff für die Kampagne gegen Leo Frank gebildet.151 Das Verständnis des Leo Frank-Case als Abwehrkampf gegen von ‚Juden‘ ausgehende Unterdrückungsbestrebungen manifestierte sich besonders prägnant in der Bewertung des Lynchings an Frank. Für Thomas Watson und seine Anhänger_innen stellte nämlich die extralegale Ermordung des jüdischen Fabrikanten nicht etwa ein grausames Verbrechen dar. Vielmehr sahen sie in dem Mord einen 147 148 149 150
[Thomas Watson?], „Stands Disgraced“, 5.8.1915, S. 4. Foster, „Modest Jew“, 4.11.1915. [Unbekannt], „Frank Case“, 9.7.1915, S. 15. [Thomas Watson?], „Further Considerations of the Case of Leo Frank.“ In: The Jeffersonian, 3.6.1915, S. 1. 151 Cuthbert Joyner, „Old Confed Writes.“ In: The Jeffersonian, 26.8.1915, S. 10.
Zum Zusammenhang von der empfundenen Krise
Akt der Wiederherstellung und Durchsetzung geltenden Rechts.152 Die wütenden Reaktionen von ‚Juden‘ auf das Lynching wiederum wurden als Ausdruck mangelnder Bereitschaft interpretiert, sich dem rechtstaatlichen Rahmen einer demokratischen Ordnung zu unterwerfen. Das Fundament des Verständnisses von Mobs als Notwehrmaßnahme des Volkes gegen aristokratische oder despotische Angriffe auf die demokratische Ordnung bildete ein Geschichtsbild, das die Bildung von Mobs als entscheidendes Moment im Unabhängigkeitskampf begriff und diese somit als Conditio sine qua non für die Existenz der US-Republik verstand. Dabei wurden Mobs aufs engste mit einer virilen Männlichkeit verknüpft, die „rotes Blut in ihren Adern“ trage und nach Autonomie und Freiheit strebe. Im Gegensatz dazu hätten Gesellschaften, in denen Mobs ein nicht-existentes Phänomen darstellten, Nationen von „Milchbubis“ und „Weichlingen“ hervorgebracht und seien von Despoten und Sklavenhaltern unterworfen worden. Innerhalb dieser Logik bildete der Lynchmord an Frank eine Defensivmaßnahme gegen einen Aggressor, der sowohl die demokratische Ordnung wie auch die damit verbundenen freiheitsliebenden angloamerikanischen Männer bedroht habe.153 Die in diesem Narrativ konstruierte Frontstellung zwischen ‚jüdischen‘ und angloamerikanischen Menschen stellte erstere vor folgende Wahl: entweder unterwürfen sie sich den für alle Bürger_innen geltenden Rechten und Regeln oder aber Nichtjuden wären gezwungen, eine Organisation zu gründen, die die Verteidigung gegen die ‚jüdischen‘ Aggressionen gewährleisten werde.154 Mit diesen Äußerungen legte Thomas Watson den Grundstein für den nur wenige Monate später aus der Taufe gehobenen zweiten Ku-Klux-Klan. Die Imagination, dass ‚jüdisches‘ Handeln die republikanische Ordnung in ihren Fundamenten bedrohe, nahm also derartige Ausmaße an, dass eine Vielzahl protestantischer Angloamerikaner_innen die Ausübung von Gewalttaten sowie die Gründung einer Organisation von Vigilanten als notwendige und angemessene Reaktion auf die von ihnen selbst konstruierte ‚jüdische‘ Bedrohung ansah. Für Historiker_innen ergeben sich daraus Fragen hinsichtlich der Genealogie einer solchen gegen ‚Juden‘ gerichteten Bedrohungswahrnehmung: Aus welchem Grund verorteten dermaßen viele Südstaatler_innen wie selbstverständlich ‚Ju152 [Thomas Watson?], „Dorsey and Watson Threatened with Assassination by Infuriated Jews.“ In: The Jeffersonian, 9.9.1915, S. 5. 153 [Thomas Watson?], „When ‚Mobs‘ Are no Longer Possible, Liberty Will Be Dead.“ In: The Jeffersonian, 8.7.1915, S. 6. 154 [Thomas Watson?], „Dorsey and Watson Threatened“, 9.9.1915.
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den‘ im Zentrum einer solchen Verschwörung? Wieso konnte die Imagination einer ‚jüdischen Aristokratie‘ während des Leo Frank-Case eine derartige Wirkmacht entwickeln? Wo lassen sich in der Geschichte der Südstaaten vor der Affäre diskursive Verknüpfungen zwischen ‚Juden‘ und einem vermeintlichen aristokratischen Angriff auf die republikanische Ordnung aufspüren? Antworten auf diese Fragen liefert das Kapitel drei des Buches.
1.4.3 ‚Juden‘, die Figuration des Carpetbaggers und der Ku-Klux-Klan
Neben der Industrialisierung und Urbanisierung sowie der mit diesen Prozessen verknüpften Zerstörung der republikanischen Ordnung lässt sich ein drittes bedeutsames Feld ausmachen, das für die Entwicklung und Dynamik des Leo Frank-Case von besonderer Bedeutung war: die Imagination einer erneuten Unterwerfung des Südens unter den Norden sowie der maßgeblichen Beteiligung von ‚Juden‘ an diesem Unterfangen. Zuhauf wurden Warnungen vor einer Invasion des Südens durch „fremde Elemente, Yankees und Feinde des Südens“ artikuliert.155 Immer wieder wurde der Kampf des Anti-Frank-Lagers mit dem Kampf der konföderierten Armee gegen die Unionstruppen verglichen.156 Außerdem wurden vielfach Analogien zu der Situation der Südstaaten nach der Niederlage im Civil War hergestellt. Viele Zeitgenoss_innen wähnten sich erneut dem Machtstreben von Kräften ausgesetzt, die den Süden bereits während der Reconstruction Era unterjocht hätten und die nach einer Restaurierung dieses Unterdrückungsverhältnisses streben würden.157 Diese Bedrohungswahrnehmung einer erneuten Subordination unter den Norden war häufig mit dem Rekurs auf die Figuration des Carpetbaggers verbunden. Menschen, die nicht von Franks Schuld überzeugt waren und das gegen ihn verhängte Todesurteil kritisierten, wurden als Agenten dieser Invasion des Südens konstruiert. Der aus Hadley, Massachusetts, stammende Herausgeber des Southern Ruralist, Horace E. Stockbridge, hatte in einem Leitartikel auf grobe Ungereimtheiten in der Beweisführung der Anklage hingewiesen und zudem 155 Floridian, „Overwhelmed by Foreign Element.“ In: The Jeffersonian, 4.11.1915, S. 1+4, hier S. 1. 156 [Thomas Watson?], „Judge Lambdin“, 28.10.1915, S. 1. 157 [Unbekannt], „Outside Comment on the Frank Case.“ In: Savannah News, 21.8.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 5, Folder 5; [unbekannt], „The Chicago Tribune’s Arraignment of the South.“ In: Birmingham News, 23.8.1915, [keine Seitenangabe], AJA, LFP, Box 5, Folder 4.
Zum Zusammenhang von der empfundenen Krise
die Inszenierung Phagans als Ikone der Tugendhaftigkeit und Reinheit in Frage gestellt. Diese Äußerungen machten Stockbridge in den Augen Watsons zu einem „Yankee carpet-bagger“, der die ermordete Arbeiterin und darüber vermittelt den Süden beschmutzen wolle.158 Während der zweijährigen Affäre wurde die Figuration des Carpetbaggers aufs engste mit ‚Juden‘ verknüpft. Auf diesem Weg konnte die Figuration in die Weltsicht des Anti-Frank-Lagers im Allgemeinen und in dessen Perspektive auf die Affäre im Besonderen integriert werden. Zu Zeiten der Reconstruction Era waren prominente jüdische Carpetbagger oder Scalawags wie Franklin J. Moses, Gouverneur von South Carolina zwischen 1872 und 1874, fast ausschließlich als die Südstaatenordnung zersetzende und den Süden finanziell ruinierende Republikaner attackiert worden.159 Deren Judesein war in zeitgenössischen Narrativen von nachgeordneter Bedeutung.160 Während des Leo Frank-Case jedoch wurde die Figuration des Carpetbaggers einer Rassifizierung unterzogen. Juden als ‚Juden‘ wurde die maßgebliche Schuld an der vermeintlichen Unterjochung des Südens während der Reconstruction Era gegeben. Außerdem wurden sie als Triebkräfte der Ausformung Atlantas zu einem urbanen Zentrum des industriellen Kapitalismus konstruiert. Nachdem General William Sherman Atlanta bis auf die Grundmauern zerstört hatte, seien viele ‚Juden‘ im Gefolge der Unionstruppen in die darniederliegende Stadt gezogen, um von dem schweren Schicksal der Bewohner_innen ökonomisch zu profitieren. Auf diesem Weg seien ‚Juden‘ zu einer die Geschicke und Entwicklung Atlantas dominierenden Gruppe geworden.161 Die Figuration des jüdischen Carpetbaggers, der sich den Süden zum Zwecke seiner Bereicherung Untertan mache, wurde auch häufig mit der Forderung nach einer Wiederbelebung des Ku-Klux-Klan verbunden. Den Ausgangspunkt dieses Wunsches bildeten Analysen der zeitgenössischen gesellschaftlichen Zustände, in denen ein seit Ende der Reconstruction Era nicht erreichtes Maß 158 [Thomas Watson?], [kein Titel]. In: The Jeffersonian, 7.9.1916, S. 8. 159 Eine signifikante Anzahl angloamerikanischer Südstaatler_innen stand während der Reconstruction Era auf Seiten der Republikanischen Partei. Von konservativen angloamerikanischen Südstaatler_innen wurden sie despektierlich als Scalawags bezeichnet. Andererseits wurden konservative angloamerikanische Südstaatler_innen auch aus dem Norden, insbesondere aus der Demokratischen Partei, unterstützt ( James Harris, „A Critical View of ‚Stunde Null‘ in Comparative Historical Perspectives: 1865, 1945, 1990.“ In: Finzsch und Martschukat (Hg.), Different Restorations, S. 27–47, hier S. 31–42). 160 Zu Franklin Moses siehe Benjamin Ginsberg, Moses of South Carolina: A Jewish Scalawag during Radical Reconstruction. Baltimore: The John Hopkins University Press 2010. 161 [Thomas Watson?], „State versus John“, 23.9.1915.
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der Unterjochung des Südens konstatiert wurde. Auf Grund dieses gesellschaftlichen Zustandes beschrieben Südstaatler_innen die Reaktivierung des Klans als einen notwendigen Schritt zur Überwindung der Misere. Dem Klan wurde dabei die Aufgabe zugewiesen, die angebliche Aggression aus dem Norden zurückzuschlagen und auf diesem Wege die Ehre des Südens zu rekonstituieren.162 Die Imagination einer, zumindest von ‚Juden‘ wesentlich mitgetragenen Aggression gegen angloamerikanische Südstaatler_innen veranlasste Watson zu einer Analyse, nach der sich der Süden im Fadenkreuz einer „Leo Frank League“ befände. Diese Organisation habe wesentlich die Angriffe auf den Süden koordiniert, weswegen ihr mit einer „Gentile League“ entgegenzutreten sei. Deren Aufgabe sah der Herausgeber des The Jeffersonian primär darin, die angloamerikanischen Frauen des Südens vor sexuellen Übergriffen von „lüsternen jungen Juden“ zu beschützen.163 In zeitgenössischen Bedrohungswahrnehmungen entwickelte also die Vorstellung einer erneuten Invasion des Südens durch den Norden große Wirkmacht. Sie brachte die Reaktivierung und Modifizierung der Figuration des Carpetbaggers hervor. Die Furcht vor einer Subordination, Ausplünderung und Entehrung des Südens durch aus dem Norden stammende ‚Juden‘ stellte auch eine bedeutende Motivation für die Gründung des zweiten Klans dar. Dieser Sachverhalt wirft einige Fragen auf, deren Beantwortung für das Verständnis des Leo FrankCase von großer Bedeutung sind: Wie kam es zur engen Verflechtung der Figuration des Carpetbaggers mit ‚Juden‘? Inwieweit ermöglichte die Konstruktion des Carpetbaggers während der Reconstruction Era eben diese Verknüpfung, das heißt inwieweit ähnelten sich Konstruktionen des Carpetbaggers und des ‚Juden‘ strukturell? Diese Fragen zur Verschmelzung des Ressentiments gegen Yankees/Carpetbagger mit Antisemitismus sucht das Kapitel zwei zu beantworten.
1.5 Kapitelfazit Der Leo Frank-Case hat die USA über zwei Jahre in Atem gehalten und für heftige Kontroversen zwischen den sich gegenüberstehenden Lagern gesorgt. 162 [Thomas Watson?], „Mayor Woodward’s Speech in San Francisco, Slaton’s Venomous, Forked Tongue: The Jew Started This Fight, and They Are Keeping It Up.“ In: The Jeffersonian, 2.9.1915, S. 1+7–9, hier S. 1. 163 [Thomas Watson?], „When Are the Northern Jews Going to Let Up on Their Insane Attempt to Bulldoze the State of Georgia?“ In: The Jeffersonian, 2.9.1915, S. 1.
Kapitelfazit
Zeitgenoss_innen entwarfen dabei fundamental entgegengesetzte Lesarten des Falls. Für die unheimliche Dynamik, die der Fall entwickelte, wurden verschiedenste Erklärungen angeboten. Scharfe Auseinandersetzungen entfalteten sich zum einen um die zentrale Funktion Conleys innerhalb des Prozesses und zum anderen um die Frage, ob Antisemitismus für den Verlauf des Falls bedeutsam gewesen sei. Dabei wurden beide Punkte von Zeitgenoss_innen miteinander verknüpft und jeweils in unterschiedliche Perspektiven auf gesellschaftliche Zustände in den Vereinigten Staaten von Amerika im Allgemeinen und in den Südstaaten im Speziellen integriert. Vor dem Hintergrund der immensen Wirkmacht, die die White Supremacy zu dem Zeitpunkt in den Südstaaten entfaltete, sah das Pro-Frank-Lager die Rolle Conleys als Hauptbelastungszeugen der Anklage als Beweis für einen rabiaten Antisemitismus, der auf den Verlauf und den Ausgang der Affäre wesentlichen Einfluss ausgeübt habe. Das Anti-Frank-Lager wiederum kehrte diesen Vorwurf um. Nicht mehr Antisemitismus spielte in diesem Narrativ die Triebkraft des Falles, sondern ein ‚Juden‘ zugeschriebenes Streben nach einer gesellschaftlichen Sonderstellung, das sich angeblich in einer Negation der Allgemeingültigkeit des Rechts äußern würde. ‚Juden‘ seien bestrebt gewesen, innerhalb des Rechtssystems eine Sonderstellung einzunehmen, die ‚jüdische‘ Straftäter davor schütze, für die von ihnen begangenen Straftaten zur Verantwortung gezogen zu werden. Die Imagination einer ‚jüdischen‘ Verschwörung führte zu der Wahrnehmung, dass der Kampf gegen Leo Frank als legitimer Widerstand gegen eine fundamentale, von ‚Juden‘ ausgehende Gefahr zu verstehen sei. Die Vorstellung einer Bedrohung der Südstaatenordnung beschränkte sich dabei nicht bloß auf die vermeintliche Aushebelung des Rechtssystems. Vielmehr wurden ‚Juden‘ auch mit anderen als bedrohlich wahrgenommenen gesellschaftlichen Phänomenen verknüpft. Insbesondere lassen sich drei Felder identifizieren, in denen derartige Verbindungen etabliert wurden. Interessanterweise lässt sich in Bezug auf alle drei ein Zusammenhang mit dem sich langsam vollziehenden Aufstieg der kapitalistischen Moderne diagnostizieren. Darüber hinaus lassen sich ebenfalls manifeste, auf angloamerikanische Männer bezogene Bedrohungswahrnehmungen beziehungsweise Krisendiskurse angloamerikanischer Männlichkeit feststellen. Von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Leo Frank-Case sind zum einen zeitgenössische Einstellungen zur Industrialisierung und Urbanisierung und, hiermit verbunden, der Expansion weiblicher Lohnarbeit. Unter Verweis auf den Mord an Phagan wurde im Verlaufe der Affäre Lohnarbeit als gefährlich für angloamerikanische Frauen entworfen. Das Anti-Frank-Lager machte
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‚Juden‘ für die mit den sozioökonomischen Transformationen verbundenen Verschiebungen innerhalb des Geschlechterverhältnisses verantwortlich. Der Kampf gegen ‚Juden‘ bildete somit eine Strategie zur Rekonstitution des als ideal tradierten, strikt hierarchischen Geschlechterverhältnisses. Der zweite Strang der antisemitischen Weltsicht, der für den Verlauf des Leo Frank-Case von essentieller Bedeutung war, konstruierte ‚Juden‘ als fundamentale Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung der USA. ‚Juden‘ wurden hier als Initiatoren einer gegen das republikanische System gerichteten Verschwörung verstanden. Durch den Einsatz ihres angeblichen Reichtums übten sie in der antisemitischen Weltsicht Einfluss auf Politik und Medien aus. Auf diesem Weg beschnitten sie die Souveränität des Volkes, das heißt der angloamerikanischen Staatsbürger. Da angloamerikanische Männlichkeit eng mit dem Konzept der Staatsbürgerschaft verwoben war, wurde das imaginierte Streben von ‚Juden‘ nach Errichtung einer „jüdischen Aristokratie“ und die damit verbundene Subordination angloamerikanischer Männer als schwere Bedrohung der eigenen gesellschaftlich dominanten Position verstanden. Die Erosion jener privilegierten Stellung wurde als ein von ‚Juden‘ ausgehender Akt der Versklavung verstanden. Neben diesen beiden Strängen lässt sich in der Weltsicht des Anti-FrankLagers ein dritter identifizieren, in dem ‚Juden‘ als fundamentale Gefahr für die Gesellschaft der Südstaaten hergestellt wurden: die enge Verflechtung von ‚Juden‘ mit der Figuration des Carpetbaggers. Letztere wurde im Verlauf der Reconstruction Era in den Südstaaten als zentraler Akteur der Erosion der gesellschaftlichen Ordnung und der Prosperität sowie der Unterwerfung des Südens unter den Norden begriffen. Während diese Figuration während der Reconstruction Era noch nicht mit ‚Juden‘ verknüpft worden war, brachten Watson und seine Anhänger_innen im Verlauf des Leo Frank-Case den Jew Carpetbagger hervor. Die Konstruktion wurde von ihnen in einen kausalen Zusammenhang mit der wahrgenommenen Krisenhaftigkeit der Südstaaten nach der Niederlage im Civil War gestellt. Die Jew Carpetbagger wurden als treibender Motor der Urbanisierung und Industrialisierung sowie der erneuten Unterwerfung des Südens unter den Norden verstanden. Um eine Genealogie der im Leo Frank-Case wirkmächtigen antisemitischen Weltsicht zu entwerfen, soll jeweils einem der drei Stränge in den folgenden drei Kapiteln nachgespürt werden.
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2 Krisendiskurse angloamerikanischer Männlichkeit, die Figuration des Carpetbaggers und ‚Juden‘ in der Reconstruction Era Am 15. Mai 1895 veröffentlichte der Charleston Daily Observer Ausschnitte einer Rede von John G. Evans, dem damaligen Gouverneur von South Carolina. In dieser wandte sich Evans der Geschichte der Südstaaten in den Jahren nach dem Bürgerkrieg zu. Die Jahre der Reconstruction entwarf er dabei als Jahre eines großen Leides, das über angloamerikanische Südstaatler_innen hereingebrochen sei.1 Manipuliert und verführt von über den Süden einfallenden Carpetbaggern hätten die als „ignorant“ beschriebenen befreiten Sklav_innen die Angloamerikaner_innen unterdrückt.2 Erst im Jahre 1876 sei die Verzweiflung angloamerikanischer Zeitgenoss_innen derartig groß geworden, dass sie der „Tyrannei“ der Carpetbagger ein Ende bereitet hätten. Die vermeintliche Befreiung von deren Herrschaft las Evans dabei unter Einsatz einer stark verge1
2
Mit dem Begriff der Reconstruction wird in der Regel die Zeit zwischen 1865 und 1877 gefasst. Allerdings existieren in der Historiographie unterschiedliche zeitliche Eingrenzungen dieser historischen Phase. Die Herausgeber von Eric Foners Werk Reconstruction beschrieben diesen Sachverhalt wie folgt: „Probably no other chapter of American history has been the subject, one might say the victim, of such varied and conflicting interpretations as what attempts to give unity and coherence to the era we call Reconstruction. Even the chronology is chaotic. Did the process begin with the bizarre creation of West Virginia in 1861 – or should that be dated 1863? Did it conclude with the compromise of 1877 or was its true conclusion Brown v. Topeka in 1954?“ (Henry Steel Commager und Richard B. Morris, „Editor’s Introduction.“ In: Eric Foner, Reconstruction: America’s Unfinished Revolution 1863–1877. New York: Harper & Row 1988, S. xvii f., hier S. xvii.) Mit Historikern wie Eric Foner oder Howard N. Rabinowitz wird in der vorliegenden Arbeit die Emancipation Proclamation von 1863 als Anfangspunkt der Reconstruction Era verstanden (Eric Foner, Reconstruction; Howard N. Rabinowitz, „The Limits of Victory.“ In: Norbert Finzsch und Jürgen Martschukat (Hg.), Different Restorations: Reconstruction and „Wiederaufbau“ in the United States and Germany: 1865 – 1945 – 1989. Providence et al.: Berghahn Books 1996, S. 202–229, hier S. 204). Das Hauptaugenmerk der Politik richtete sich in dieser Zeitspanne auf die Wiedereingliederung der vormaligen Konföderierten Staaten in die Union sowie die politische, ökonomische und soziale Neuordnung des Südens. In dieser Phase wurden wichtige politische Maßnahmen, Rechte und Verfassungszusätze beschlossen und versucht eine Neustrukturierung der Südstaaten durchzusetzen. Obwohl die Bezeichnung Carpetbagger in ihrer Aufladung und ihrer Bedeutung sowie der damit verbundenen politischen Stoßrichtung äußerst problematisch ist, findet der Begriff als Quellenbegriff in diesem Kapitel dennoch Verwendung. Damit soll jedoch keineswegs die zeitgenössisch mit diesem Terminus verbundene Sichtweise auf die Politik der Reconstruction Era reproduziert werden.
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schlechtlichten Linse. So beschrieb er das Ende der Regierung der Carpetbagger als längst überfällige Rekonstitution angloamerikanischer Männlichkeit.3 Diese Verknüpfung zwischen der vermeintlichen Krisenhaftigkeit angloamerikanischer Männlichkeit und der Figuration des Carpetbaggers sowie die ihr zugeschriebene Unterminierung der White Supremacy bilden den Gegenstand dieses Kapitels. In diesem Kontext wird folgenden Fragen nachgegangen: Wie wurde die vermeintlich als Übel über den Süden hereinbrechende Herrschaft der Carpetbagger entworfen? Welcher Mittel bedienten sie sich, um angloamerikanische Menschen zu unterwerfen? Als was für ein Subjekttyp wurde der Carpetbagger entworfen? Auf welche Weise wurde diese Figuration in die sich vollziehende, geschlechtlich codierte Neuverhandlung des Verhältnisses zwischen angloamerikanischen und afroamerikanischen Menschen einbezogen?
2.1 Die Figuration des Carpetbaggers Nachdem Robert E. Lee, General der Nord-Virginia-Armee, am 10. April 1865 nach der Niederlage bei Appomattox eine Kapitulationserklärung unterschrieben hatte, die verbliebenen Südstaatentruppen in den folgenden Wochen ihre Waffen niedergelegt hatten und Abraham Lincoln einem Attentat zum Opfer gefallen war, stand der neue Präsident, Andrew Johnson, vor der großen politischen Herausforderung, die Reintegration der ehemaligen konföderierten Bundesstaaten in die Vereinigten Staaten von Amerika zu bewältigen. Auf Grund von Aussagen, die der neue Präsident in der jüngeren Vergangenheit getätigt hatte, wurde von Johnson eine grundlegende Neuordnung der Südstaatengesellschaft erwartet beziehungsweise von angloamerikanischen Südstaatler_innen befürchtet.4 Trotz der starken politischen Aversion Johnsons gegen die alte politische Führungsschicht des Südens, die Klasse der Plantagenbesitzer, war seine Politik gegenüber dem Süden von dem Ziel geprägt, auf möglichst schnellem Wege die Einheit der Vereinigten Staaten von Amerika wiederherzustellen. Politische Interventionen in die gesellschaftlichen Verhältnisse des Südens blieben in der ersten Phase der Reconstruction, die häufig als Presidential Reconstruction bezeichnet wird, weitgehend aus. Bei der Neubesetzung politischer Ämter berücksichtigte Johnson im Wesentlichen die Wünsche angloamerikanischer Südstaatler_innen. Zusätzlich unterließ er es, trotz vehementer Forderungen aus seiner eigenen Partei, 3 4
[Unbekannt], „Gov. Evans Issues an Address.“ In: Charlotte Daily Observer, 15.5.1895, S. 1. Eric Foner, A Short History of Reconstruction. New York: Harper & Row 1990, S. 83.
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durchzusetzen, dass African Americans in den Bundesstaaten der ehemaligen Konföderation zumindest ein beschränktes Wahlrecht gewährt wurde.5 Insgesamt war die Politik Johnsons während der Presidential Reconstruction von einem derartig südstaatenfreundlichen Kurs geprägt, dass, laut Eric Foner, angloamerikanische Südstaatler_innen in dem Präsidenten zunehmend einen Verbündeten sahen.6 Während unter Angloamerikaner_innen in den Südstaaten große Erleichterung über und Zufriedenheit mit dem Kurs des neuen Präsidenten herrschte, nahm die Unzufriedenheit über Johnsons Politik in dessen eigener Partei dramatisch zu. Selbst moderate Republikaner waren äußerst besorgt über die hohe Anzahl an Sezessionisten in Regierungsämtern. Die von angloamerikanischen Südstaatlern kontrollierten Legislativen restaurierten die gesellschaftliche Unterordnung von Afroamerikaner_innen. Es kam zur Wiedereinführung der sogenannten Black Codes, die wie bereits während der Sklaverei auf die Disziplinierung afroamerikanischer Menschen zielten.7 Mit diesen Gesetzen wurde die Bewegungsfreiheit von Afroamerikaner_innen einer strikten Reglementierung unterworfen und ihnen ein Arbeitszwang auferlegt. Nur ein Jahr nach Abschaffung der Sklaverei wurden afroamerikanischen Menschen die gerade erst erlangten Rechte wieder entzogen und ihre gesellschaftliche Subordination wiederhergestellt.8 Nachdem Präsident Johnson im Jahr 1866 wichtige politische Projekte der Republikanischen Partei wie die Civil Rights Bill mit einem Veto zu verhindern suchte, kam es zu heftigen politischen Auseinandersetzungen zwischen dem Präsidenten und der Mehrheit der Kongressabgeordneten seiner Partei. Aus diesen ging die parteiinterne Opposition gegen Johnson nach einem komfortablen Sieg bei den Wahlen von 1866 deutlich gestärkt hervor. In den folgenden Jahren wurde der Kurs der Politik gegenüber dem Süden nun vornehmlich durch den Kongress und das Joint Committee on Reconstruction, das zusammen von Senat und Kongress eingesetzt wurde, bestimmt. In Abgrenzung zur Presidential Reconstruction wird diese Phase in der Historiographie als Radical Reconstruction oder Congressional Reconstruction bezeichnet.9 Mit dem Wechsel der Hauptakteure 5 6 7 8 9
Rabinowitz, „Limits of Victory“, S. 206 f. Foner, A Short History, S. 89. Rogers M. Smith, Civic Ideals: Conflicting Visions of Citizenship in U. S. History. New Haven et al.: Yale University Press 1997, S. 253. Evelyn Nakano Glenn, Unequal Freedom: How Race and Gender Shaped American Citizenship and Labor. Cambridge: Harvard University Press 2002, S. 94 f. Michael Prince, „War, Defeat, and Occupation: Historical Experience and National-Political Identity.“ In: Finzsch und Martschukat (Hg.), Different Restorations, S. 315–351, hier S. 323–325.
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war auch eine grundlegende Neujustierung der Politik verbunden. Die bisherige Stoßrichtung, die auf die Aussöhnung des Nordens mit dem Süden und die möglichst rasche Rekonstituierung einer vereinten Nation zielte, wurde durch eine Politik abgelöst, die auf eine soziale, kulturelle und ökonomische Neustrukturierung des Südens ausgerichtet war.10 Hatte noch 1857 der US-Supreme Court im Dred Scott Case geurteilt, dass kein African American die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten von Amerika besitzen könne, wurden nun afroamerikanische Männer mit ebensolchen Rechten versehen.11 Um die Bedeutung dieser Maßnahmen verständlich zu machen, werde ich im Folgenden kurz auf einige historische Aspekte von Staatsbürgerschaft in den USA eingehen. Mit dem Sieg im Unabhängigkeitskrieg kam auf die neu gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika die Herausforderung zu, eine neue politische Ordnung aufzubauen, die eines der zentralen Versprechen der Aufklärung, die Gleichheit aller Menschen, einlösen sollte. Die Realisierung dieses Vorhabens setzte neue Formen des Regierens und der Disziplinierung der staatsbürgerlichen Subjekte voraus. Es bedurfte eines neuen Subjekttypus, der sowohl zu Unabhängigkeit wie auch Selbstregierung fähig war.12 Menschen, denen die Fähigkeit zu einer solchen Lebensführung abgesprochen wurde, wurden aus dem Kreise der Träger der politischen Ordnung und somit aus dem Staatsbürgerkörper ausgeschlossen.13 Lange Zeit wurden lediglich angloamerikanische 10 11
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Zitiert nach: Smith, Civic Ideals, S. 281. Timothy Huebner, „Roger B. Taney and the Slavery Issue: Looking beyond – and before – Dred Scott.“ In: The Journal of American History, Jg. 97, Nr. 1 ( Juni 2010), S. 17–38, hier S. 27; Smith, Civic Ideals, S. 306. Jürgen Martschukat, „Vaterfigur und Gesellschaftsordnung um 1800.“ In: Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz (Hg.), Väter, Soldaten, Liebhaber: Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas. Bielefeld: transcript Verlag 2007, S. 83–100, hier S. 83 f.; Philip Gleason, „American Identity and Americanization.“ In: William Peterson, Michael Novak und Philip Gleason (Hg.), Concepts of Ethnicity. Cambridge: The Belknap Press of Harvard University Press 1982, S. 57–143, hier S. 60; Matthew Frye Jacobson: Whiteness of a Different Color: European Immigrants and the Alchemy of Race. Cambridge: Harvard University Press 1998, S. 26. Auch Frauen wurde als Republican Mothers ein Anteil an dem Projekt des Aufbaus und der Stabilisierung der neuen republikanischen Ordnung zugesprochen. Als Mütter mit der Sozialisierung ihrer Kinder betraut, lag es in ihrer Verantwortung, diese zu republikanischen Subjekten zu erziehen. Trotz ihrer politischen Entmündigung und der Unterordnung unter den jeweiligen Familienpatriarchen wurde ihnen für den Erhalt der gesellschaftlichen Ordnung eine wichtige Funktion fern der öffentlichen Sphäre übertragen. Frauen erhielten somit eine neue Aufgabe, ohne damit das patriarchale Geschlechterverhältnis zu unterminieren (Rosemarie Zagarri, „Morals, Manners, and the Republican Mother.“ In: American Quarterly, Jg. 44, Nr. 2 ( Juni 1992), S. 192–215, hier S. 192).
Die Figuration des Carpetbaggers
Männer, die über (Grund-)Besitz verfügten, als zur Selbstregierung befähigt verstanden. Folglich kamen zunächst nur sie in den Genuss der ‚vollen‘ Staatsbürgerschaftsrechte. Der Zugang zur Staatsbürgerschaft war unter anderem an die Klasse, die ‚Rasse‘ und das Geschlecht, denen ein Menschen zugeordnet wurde, gekoppelt.14 Die erste Ausweitung des Staatsbürgerrechts über die Gruppe der über Besitz verfügenden, angloamerikanischen Männer hinaus vollzog sich in den 1820ern. Im Zuge des starken Anwachsens der angloamerikanischen Arbeiterklasse wurde das Wahlrecht nun auch besitzlosen angloamerikanischen Männern eingeräumt.15 Auch grundlegende bürgerliche Freiheiten, wie die freie Wahl des Arbeitsplatzes, wurden angloamerikanischen Arbeitern erst ab diesem Zeitpunkt zugestanden. Zuvor war es Arbeitern, die einen Arbeitsvertrag mit einer Laufzeit von einem Jahr unterschrieben hatten, nicht möglich, diesen straffrei aufzukündigen.16 Während also die Grenzziehung entlang der Scheidelinie Klasse verflüssigt oder aufgehoben wurde, blieb sie jedoch entlang der Kategorien Race und Geschlecht bestehen. Auch weiterhin setzte sich der Staatsbürgerkorpus lediglich aus angloamerikanischen Männern zusammen. Insofern stellten die während des Civil War und der Radical Reconstruction vorgenommenen legislatorischen Maßnahmen eine Zäsur in der Geschichte der USA dar. Mit der Verabschiedung des 13th Amendment wurde die Sklaverei abgeschafft. Der Civil Rights Act von 1866 wiederum setzte der Beschränkung der US- Staatsbürgerschaft auf angloamerikanische Männer ein Ende. So heißt es in dem Gesetz: All persons born in the United States and not subject to any foreign power, excluding Indians not taxed, are hereby declared to be citizens of the United States; and such citizens, of every race and color … shall have the same right, in every State and Territory in the United States, to make and enforce contracts, to sue, be parties, and give evidence, to inherit, purchase, lease, sell, hold, and convey real and personal property, and to full and equal benefit of all laws and proceeding for the security of person and property, as is enjoyed by white citizens, […].17 14 15 16 17
Mark E. Kann, A Republic of Men: The American Founders, Gendered Language, and Patriarchal Politics. New York et al.: New York University Press 1998, S. 1 f. William E. Forbath, „Caste, Class, and Equal Citizenship.“ In: Michigan Law Review, Jg. 98, Nr. 1 (Oktober 1999), S. 1–91, hier S. 19–20. Linda K. Kerber, „The Meanings of Citizenship.“ In: The Journal of American History, Jg. 84, Nr. 3 (Dezember 1997), S. 833–854, hier S. 844. US-Kongress, Civil Rights Act of 1866, 14 St. 27–30, URL: http://www.legisworks.org/sal/ 14/stats/STATUTE-14-Pg27.pdf, letzter Zugriff am 13.4.2015.
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Die ehemaligen Sklaven wurden also ihren vormaligen Mastern rechtlich gleichgestellt und erhielten die für das bürgerliche Subjekt konstitutiven Rechte. Aus den vormaligen Sklaven, die dem Handeln ihrer Master rechtlos ausgeliefert waren, wurden auf diesem Wege Staatsbürger, die zumindest de jure vor Übergriffen ihrer ehemaligen Master geschützt waren. Das 14th Amendment wiederum verankerte den Staatsbürgerstatus von African Americans mit einigen kleineren Modifikationen in der Verfassung der USA. Allerdings blieb die Frage nach dem Wahlrecht afroamerikanischer Männer von diesem Verfassungszusatz ausgespart. Dies sollte sich mit der Verabschiedung des dritten und letzten Reconstruction Amendment, dem 15th Amendment, ändern. In diesem wurde festgelegt, dass das Wahlrecht in den USA nicht wegen der „Rasse, Hautfarbe, oder des vorherigen Status als Sklave“ eingeschränkt werden dürfe.18 Diese politischen Maßnahmen und die von Afroamerikaner_innen geführten Kämpfe für Freiheit und volle Staatsbürgerschaft sorgten zumindest für einige Jahre in den 1860er und 1870er Jahren für eine deutliche Veränderung der politischen Landschaft im US-Süden.19 Auf Grund des starken Rückhalts unter afroamerikanischen Wählern ging die Republikanische Partei in fast allen Bundesstaaten im Süden als Siegerin aus den im Jahr 1868 abgehaltenen Wahlen hervor.20 Daraus resultierte eine grundlegend veränderte Zusammensetzung der Abgeordnetenschaft. Vor dem Civil War rekrutierte sich die politische Klasse im Süden primär aus der Klasse der Plantagenbesitzer (und war folglich von einer zeitgenössisch als aristokratisch-ritterlich kategorisierten Attitüde geprägt).21 Während der Reconstruction Era wurden Afroamerikaner erstmals zu einem wichtigen politischen Faktor in den USA. Wichtige politische Ämter wurden nun von afroamerikanischen Männern besetzt. Zwar blieben afroamerikanische Amtsträger in der Minderheit, aber zwischen 1867 und 1869 zogen immerhin 265 Afroamerikaner in die zehn verfassungsgebenden Versammlungen der ehemaligen konföderierten Staaten ein.22 Diese sichtbare Umformung der Machtverhältnisse zwischen anglo- und afroamerikanischen Menschen stieß auf heftigen und brutalen Widerstand an18 19 20 21 22
Smith, Civic Ideals, S. 308–314. Ders., S. 286. Foner, Reconstruction, S. 332 f. Ders., S. 2. Ders., 318.
Die Figuration des Carpetbaggers
gloamerikanischer Südstaatler_innen.23 Die von der Republikanischen Partei verfolgte Politik wurde als ‚Zersetzung‘ des Südens begriffen. So beklagte das New Orleans Bulletin: „From the time the Republican party obtained control of the State government, the decadence of the country began. As it riveted its hold upon the people, so did it hasten their ruin and bring them down to the most deplorable condition of poverty and distress.“24 Um dieser vermeintlichen Zerstörung der Südstaaten zu begegnen, überzogen Angloamerikaner, wie bereits in Kapitel 1.1. erwähnt, den Süden mit einer primär gegen afroamerikanische Männer gerichteten Gewalt- und Terrorwelle. Afroamerikaner_innen wurden ausgepeitscht, zusammengeschlagen und ermordet, wenn sie in ihrem Auftreten gegenüber Angloamerikaner_innen die im Old South gängigen Verhaltensweisen der Unterwürfigkeit missen ließen, stattdessen als gleichberechtigte Bürger auftraten und ihre Freiheit und Unabhängigkeit von ihren ehemaligen Mastern durchzusetzen suchten. Allein in Texas wurden nach einer statistischen Auflistung von Mitarbeitern des Freedmen’s Bureau in dem Zeitraum zwischen 1865 und 1868 mehr als 1000 African Americans von Angloamerikanern ermordet.25 Diese historischen Entwicklungen und die daran gekoppelten Bedrohungswahrnehmungen bildeten den Entstehungskontext für die Figuration des Carpetbaggers, die in einen breiteren, gegen Yankees gerichteten Diskurs eingebettet war.26 Als Carpetbagger wurden nach dem Bürgerkrieg angloamerikanische Nordstaatler bezeichnet, die sich nach dem Bürgerkrieg in den Südstaaten niederließen und dort in irgendeiner Weise in den (politischen) Betrieb der Re23 24
25
26
Michael J. Martinez, Carpetbaggers, Cavalry and the Ku Klux Klan: Exposing the Invisible Empire during Reconstruction. Lanham et al.: Rowman & Littlefield Publishers 2007, S. 54. Zitiert nach: [Unbekannt], „‚He Was an Unwelcome Intruder‘: An Attack on the Ex. Governor, 1874.“ In: Richard N. Current (Hg.), Reconstruction [1865–1877]. Englewood Cliffs: Prentice-Hall 1965, S. 129–132, hier S. 129. Foner, Reconstruction, S. 119–123. Zu rassistischer Gewalt im Süden während der Reconstruction Era siehe u. a. Gregg Cantrell, "Racial Violence and Reconstruction Politics in Texas, 1867-1868." In: The Southwestern Historical Quarterly, Jg. 93, Nr. 3 ( Januar 1990), S. 333-355; Allen W. Trelease, White Terror: The Ku Klux Klan Conspiracy and Southern Reconstruction. Westport et al.: Greenwood Press 1971. Zum Zusammenhang zwischen rassistischer Gewalt, afroamerikanischer Staatsbürgerschaft und Geschlechter- bzw. Sexualitätskonstruktionen s. Hannah Rosen, Terror in the Hear of Freedom: Citizenship, Sexual Violence, and the Meaning of Race in the Postemancipation South. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 2009, insbes. Kapitel 5 und 6. Zur Entstehungsgeschichte der Figuration des Yankees siehe u. a. Michael Koch, „Slavocrat“ und „Yankee“: Feindbilder und der Amerikanische Bürgerkrieg, 1830–1865. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014.
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construction involviert waren.27 Der Begriff fasste also nicht bloß eine regionale Zugehörigkeit und damit alle Nordstaatler_innen per se, sondern er zielte auf eine Verquickung von Raum (dem Norden), politischer Zugehörigkeit (der Anhängerschaft zur republikanischen Partei) und Handlungsweisen (politisches und wirtschaftliches Agieren). Die Figuration des Carpetbaggers gewann nach dem Übergang zur Radical Reconstruction in den Südstaaten deutlich an Wirkmacht. Eine der Ursachen dafür lag in den veränderten Auswahlkriterien, die maßgeblich bei der Neubesetzung zahlreicher öffentlicher Ämter waren. Während in der Presidential Reconstruction die Akzeptanz unter angloamerikanischen Südstaatler_innen ein gewichtiges Kriterium darstellte, wurde in der Radical Reconstruction die parteipolitische Ausrichtung zum entscheidenden Merkmal. Politische Ämter wurden nun fast ausschließlich mit Republikanern oder Sympathisanten der Republikanischen Partei besetzt. Obwohl die Mehrzahl der Ämter von aus dem Süden stammenden Republikanern besetzt wurde, ging der Großteil der hochrangigen Ämter an Republikaner aus dem Norden.28 Daraus resultierte eine hohe Sichtbarkeit der republikanisch eingestellten Menschen aus dem Norden. Die daran gekoppelte Vorstellung der Fremdherrschaft führte zusammen mit der während der Radical Reconstruction erfolgten Durchsetzung afroamerikanischer Bürgerrechte zum Anschwellen des Diskurses über Yankees/Carpetbagger.29 Zeitgenoss_innen verliehen ihrer Verachtung für Carpetbagger Ausdruck, indem sie sie als „Geißel Gottes“ bezeichneten.30 Andere wiederum konstruierten sie als Ausgeburt der Hölle, sahen in ihnen eine „Seuche des Südens“ oder be27
28 29
30
Randolph B. Campbell, „Carpetbagger Rule in Reconstruction Texas: An Enduring Myth.“ In: Southwestern Historical Quarterly, Jg. 97, Nr. 4 (April 1994), S. 587–596, hier S. 587; William Warren Rogers, Black Belt Scalawag: Charles Hays and the Southern Republicans in the Era of Reconstruction. Athens et al.: University of Georgia Press 1993, S. x. Foner, Reconstruction, S. 296 f. Allerdings bildeten der Norden und der Süden keine homogenen Blöcke, die sich feindlich gegenüberstanden. Eine signifikante Anzahl angloamerikanischer Südstaatler_innen stand während der Reconstruction Era auf Seiten der Republikanischen Partei. Von konservativen angloamerikanischen Südstaatler_innen wurden sie despektierlich als Scalawags bezeichnet. Andererseits wurden konservative angloamerikanische Südstaatler_innen auch aus dem Norden, insbesondere aus der Demokratischen Partei, unterstützt ( James Harris, „A Critical View of ‚Stunde Null‘ in Comparative Historical Perspectives: 1865, 1945, 1990.“ In: Finzsch und Martschukat (Hg.), Different Restorations, S. 27–47, hier S. 31–42). Richard Taylor, Destruction and Reconstruction: Personal Experiences of the Late War. New York: D. Appleton and Company 1879, S. 236.
Der Carpetbagger in der Historiographie
schrieben sie als „ordinäre, rücksichtslose, charakterlose, feige, unchristliche und mittellose Halunken“.31 Allerdings erregten Carpetbagger nicht nur während der Reconstruction Era große Aufmerksamkeit. Vielmehr lösten sie auch unter Historiker_innen großes Interesse aus. Im Folgenden sollen diese historiographischen Auseinandersetzungen kurz skizziert und die vorliegende Arbeit innerhalb der bisherigen Forschung verortet werden.
2.2 Der Carpetbagger in der Historiographie Anyone who claims to know anything about American history can tell you who the carpetbaggers were. They were, of course, Northerners who went south after the Civil War to take advantage of the Negro vote, gain election to office, and get rich by plundering the Southern people. Having waited for the real soldiers to subdue the South, these soldiers of fortune followed a safe distance, like jackals in track of a lion. They were as poor as they were greedy and unscrupulous, each of them managing to carry all he owned in a carpetbag, a popular kind of valise made of carpeting material. Hence the name and byword of carpetbagger.32
Mit diesen Worten beschreibt der Historiker Richard Nelson Current das breit gestreute Wissen über diese Figuration. Eine Ursache für dessen große Verbreitung bildet die in der Historiographie über Dekaden hegemoniale Sichtweise auf die im Zuge der Reconstruction Era in den Süden gekommenen Republikaner. Seit über hundert Jahren bilden sie den Gegenstand historiographischer Studien. Dabei verstanden Historiker_innen, ähnlich wie zeitgenössische angloamerikanische Südstaatler_innen, Carpetbagger als Aggressoren gegenüber der Bevölkerung des Südens. Eine einflussreiche Vertreterin dieser Perspektive stellte die Dunning School dar, die nach dem an der Columbia University lehrenden Historiker Archibald Dunning benannt wurde. Ihre Vertreter_innen konstruierten die Reconstruction Era als eine Zeit, in der angloamerikanische Menschen durch Republikaner und 31
32
[Unbekannt], „Immigrants vs. Carpet-Baggers.“ In: The Daily Picayune, 26.11.1872, S. 1; [unbekannt], „Carpetbagger vs. Scalawag.“ In: Columbus Daily Enquirer, 21.4.1870, S. 2; [unbekannt], „Emigrants and Carpet-Baggers.“ In: The Daily Picayune, 27.11.1872, S. 4. Richard Nelson Current, Those Terrible Carpetbaggers. New York et al.: Oxford University Press 1988, S. xi.
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‚Afroamerikaner‘ unterdrückt worden seien.33 Dabei wurde ein hierarchisiertes Verhältnis zwischen den beiden Unterdrückergruppen ausgemacht, in dem die Republikaner als Aufrührer fungierten. Um sich die Stimmen von African Americans und darüber vermittelt den Zugang zur politischen Macht in den Südstaaten zu sichern, hätten Republikaner ‚afroamerikanische‘ Menschen gegen angloamerikanische Südstaatler_innen aufgehetzt und damit das vormals harmonische Verhältnis zwischen beiden Gruppen zerrüttet.34 Die Unterdrückung, die Angloamerikaner_innen erlitten hätten, legitimiert in diesem Narrativ den brutal geführten Kampf angloamerikanischer Südstaatler_innen gegen die gesellschaftlichen Umwälzungen. So beschrieb Archibald Dunning den gegen afroamerikanische Menschen und politische Opponent_innen gerichteten Terror als einen Kampf, der die permanente Unterordnung der angloamerikanischen Südstaatler_innen unter ‚Afroamerikaner‘ verhindert habe.35 Innerhalb dieses Narrativs verkörperte der Carpetbagger das sich über den Süden ergießende Unrecht. Verarmt und bar jeglicher Zukunft seien Carpetbagger in den Süden gekommen, um sich durch Betrug auf Kosten der angloamerikanischen Bevölkerung zu bereichern.36 Diese Charakterisierung als verkommen, unmoralisch und sich an der darniederliegenden Südstaatenbevölkerung bereichernd war jedoch keineswegs auf die Dunning School beschränkt.37 So beschrieb zum Beispiel auch Frank Tannenbaum Carpetbagger im gleichen Stile.38 Laut Eric Foner und Christopher Bean blieb diese Perspektive auf die Reconstruction Era im Allgemeinen und Carpetbagger im Speziellen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts dominant.39 Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts 33
34 35 36 37
38 39
William Archibald Dunning, Essays on the Civil War and Reconstruction and Related Topics. New York: Macmillan 1897; Walter L. Fleming, „Immigration to the Southern States.“ In: Political Science Quarterly, Jg. 20, Nr. 2 (1905), S. 276–297; ders., Documentary History of Reconstruction: Political, Military, Social, Religions, Educations & Industrial 1865 to the Present Time. Gloucester: Peter Smith 1960. William Archibald Dunning, Reconstruction. Political and Economic, 1865–1877. New York et al.: Harper & Brothers Publishers 1907, S. 111. Ders., S. xv. Ders., S. 116, 121, 250. Christopher B. Bean, „Death of a Carpetbagger. The George Washington Smith Murder and Stockade Trial in Jefferson, Texas, 1868–1869.“ In: The Southwestern Historical Quarterly, Jg. 112, Nr. 3 (2009), S. 262–292, hier S. 265. Frank Tannenbaum, Darker Phases of the South. New York et al.: G. P. Putnam’s Sons 1924, S. 6. Bereits vor den 1960er Jahren existierten historiographische Werke, die eine Sichtweise lieferten, die der der Dunning School diametral entgegenstanden. Siehe u. a. W. E. B. Du Bois, Black Reconstruction in America, 1860–1880. New York: Simon and Schuster 1935.
Der Carpetbagger in der Historiographie
habe sich eine revisionistische Sichtweise zunehmend Gehör in der Historiker_innenzunft verschaffen können.40 Zu den herausragenden Vertretern dieser Strömung gehören Allan W. Trelease, Richard Nelson Current sowie Eric Foner. Auf unterschiedliche Art und jeweils verschiedene Aspekte der Reconstruction Era fokussierend entzogen sie der bis dato hegemonialen historiographischen Perspektive das Fundament. Mit seinem grundlegenden Werk über den Ku-Klux-Klan (KKK) der Reconstruction Era widersprach Allan W. Trelease der von der Dunning School und anderen Historiker_innen vertretenen Sichtweise, dass es sich bei dem Klan um eine Selbstschutzorganisation angloamerikanischer Südstaatler_innen gehandelt habe. Stattdessen beschreibt er den KKK als eine Organisation, die den Süden mit einer Terrorwelle überzogen und rassistische Gewalt als Strategie eingesetzt habe, um die White Supremacy und die daran gekoppelte gesellschaftliche Dominanz von Angloamerikaner_innen zu erhalten beziehungsweise zu restaurieren.41 Richard Nelson Current wiederum widerlegte in Those Terrible Carpetbaggers überzeugend das über Dekaden dominante Narrativ über aus dem Norden stammende Republikaner, die in die Politik der Reconstruction Era involviert waren. Er untersuchte das (politische) Handeln von zehn Männern, die lange Zeit als besonders verrufene Carpetbagger galten. Dabei versuchte er das historische Geschehen aus der Perspektive dieser Männer zu beleuchten, um dem lange Zeit dominanten Narrativ, das von den Opponenten der Carpetbagger geprägt worden sei, zu begegnen.42 Current kam zu dem Schluss, dass der Begriff des Carpetbaggers mit den ihm inhärenten Bedeutungen als Kampfbegriff zu verstehen sei, der weder das Wirken noch den Charakter der damit bezeichneten Menschen realitätsgetreu widerspiegele.43 Auch Eric Foner hat mit Reconstruction, dem Standardwerk zu dieser Phase der US-Geschichte, einen enormen Beitrag zur Widerlegung des über Dekaden dominanten historiographischen Narrativs geleistet. Foner widmete dabei einen wichtigen Teil seiner Untersuchung den Erfahrungen und Kämpfen afroamerikanischer Menschen. Auf diesem Weg dekonstruierte er das von der Dunning School hergestellte hierarchisierte Verhältnis zwischen angloamerikanischen Republikanern und afroamerikanischen Menschen. Foner wandte sich aber auch 40 41 42 43
Bean, „Death of a Carpetbagger“, S. 264 f.; Foner, Reconstruction. Trelease, White Terror, S. xli–xlvi. Current, Terrible Carpetbagger, S. xii. Ders., S. 422–425.
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dem Wirken sowohl afro- als auch angloamerikanischer Menschen zu, die als Carpetbagger kategorisiert wurden. Als Triebkraft für die in den Süden gezogenen Republikaner aus dem Norden machte Foner eine Mischung aus politischem Idealismus und Streben nach finanziellen Vorteilen aus.44 Die Figuration des Carpetbaggers mit den vielfältigen, im Verlauf des Kapitels ausführlicher dargelegten negativen Zuschreibungen sieht er als Resultat des Zusammenwirkens von sektionalen und klassistischen Vorurteilen mit einer negativen Sicht auf die sich vollziehenden Veränderungen im Verhältnis zwischen angloamerikanischen und afroamerikanischen Menschen.45 Diese unter anderem von Trelease, Current und Foner betriebene Perspektivverschiebung hat unter Historiker_innen enorme Wirkmacht entwickelt und historiographische Arbeiten zur Reconstruction nachhaltig beeinflusst.46 Das maßgeblich von der Dunning School verbreitete Narrativ wird in der Historiographie nun als ein Mythos beschrieben, der von angloamerikanischen Südstaatler_innen genutzt wurde, um die White Supremacy zu erhalten.47 Obwohl somit wichtige Arbeiten zur Reconstruction und zum Carpetbagger vorliegen, ist eine umfangreiche diskursanalytische Untersuchung dieser Figuration sowie ihrer zeitgenössischen Zuschreibungen im Allgemeinen und ihrer geschlechterhistorischen Dimensionen im Besonderen bisher nicht geleistet worden. Eine solche ist jedoch notwendig, um die historischen Entstehungsbedingungen der im Verlauf des Leo Frank-Case hervorgebrachten Figuration des Jew Carpetbaggers zu verstehen. Wie bereits im vorherigen Kapitel dargelegt, stellte die zeitgenössische Wahrnehmung von ‚Juden‘ als Jew Carpetbagger während des Leo Frank-Case eine der Triebfedern des Hasses gegen den jüdischen Fabrikleiter dar. Trotz dieser enormen Wirkmacht, die die hergestellte Verbindung zwischen Carpetbaggern und ‚Juden‘ in der Geschichte des Südens entwickelt hat, hat die Historiographie diese Verknüpfung bis zum jetzigen 44 45 46
47
Ders., S. 294–296. Foner, Reconstruction, S. 294. Siehe u. a. Cantrell, „Reconstruction Politics in Texas“; Laura F. Edwards, Gendered Strife and Confusion: The Political Culture of Reconstruction. Urbana et al.: University of Illinois Press 1997; Martha Hodes, „The Sexualization of Reconstruction Politics: White Women and Black Men in the South after the Civil War.“ In: Journal of the History of Sexuality, Jg. 3, Nr. 3 (1993), S. 402–417; Sonya Michel, „The Reconstruction of White Southern Manhood.“ In: Finzsch und Martschukat (Hg.), Different Restorations, S. 140–164; Rogers, Black Belt Scalawag; Rosen, Terror in the Heart. Siehe u. a. Campbell, „Carpetbagger Rule“; Charles Reagan Wilson, „Reconstruction.“ In: Charles Reagan Wilson und Ferris William (Hg.), Encyclopedia of Southern Culture, Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 1989, S. 658 f.
Reconstruction
Zeitpunkt nur äußerst rudimentär beleuchtet. Zwar beschäftigen sich einige Arbeiten mit jüdischen Carpetbaggern sowie mit antijüdischer Gewalt während der Reconstruction und verweisen in diesem Zusammenhang auf Analogien zwischen ‚Juden‘ und der Figuration des Carpetbaggers beziehungsweise Yankees.48 Allerdings untersuchen sie die Überschneidungen zwischen diesen zeitgenössischen Konstruktionen nicht tiefergehend. Insofern sollen in diesem Kapitel Leerstellen in der bisherigen Forschung zur Geschichte des Antisemitismus geschlossen werden, die für das Verständnis des Leo Frank-Case von großer Bedeutung sind.
2.3 Reconstruction, Carpetbagger und angloamerikanische Männlichkeit Die mit der Reconstruction verbundenen vielfältigen sozialen, kulturellen und ökonomischen Transformationen wurden, wie bereits dargestellt, von angloamerikanischen Südstaatler_innen als tiefgreifende Krise des Südens verstanden. Als treibende Kraft der Destruktion der gesellschaftlichen Ordnung des Old South galt ihnen der Carpetbagger beziehungsweise der durch diese Figuration emblematisch verkörperte Yankee-Norden. Der Macon Telegraph konstruierte in der Ausgabe vom 10.2.1881 den Carpetbagger als Importeur gesellschaftlicher Ideen, die dem Süden wesensfremd gewesen seien: There was a class of Northern men who came among us, and who did receive a very different treatment from that accorded to the carpet-bagger and public plunderer, and they are with us still. They did not come, however, to indoctrinate us with New England ideas or Northern 48
Zu jüdischen Carpetbaggern siehe Benjamin Ginsberg, Moses of South Carolina: A Jewish Scalawag during Radical Reconstruction. Baltimore: The John Hopkins University Press 2010; Stuart Rockoff, „Carpetbaggers, Jacklegs, and Bolting Republicans: Jews in Reconstruction Politics in Ascension Parish, Louisiana.“ In: American Jewish History, Jg. 97, Nr. 1 (2011), S. 39–64; Clive Webb, „Jewish Merchants and Black Customers in the Age of Jim Crow.“ In: Southern Jewish History, Jg. 2 (1999), S. 55–80; Daniel R. Weinfeld, „Samuel Fleishman: Tragedy in Reconstruction-Era Florida.“ In: Southern Jewish History, Jg. 8 (2005), S. 31–76. Hinweise auf die analoge Wahrnehmung von ‚Juden‘ und Yankees bzw. Carpetbaggern liefern Anton Hieke, Jewish Identity in the Reconstruction South: Ambivalence and Adaption. Berlin et al.: De Gruyter 2013, S. 130; Adam Mendelsohn und Jonathan D. Sarna, „Aftermath.“ In: dies (Hg.), Jews and the Civil War: A Reader. New York et al.: New York University Press 2010, S. 385 f., hier S. 386; Thomas D. Clark, „The Post-Civil War Economy in the South.“ In: Mendelsohn und Sarna (Hg.), Jews and the Civil War, S. 387–397, hier S. 393.
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methods of civilization. … In almost every case, they have allied themselves with the intelligence of the South, adopted our methods of thought.49
Die vermeintliche Durchdringung des Südens mit Zivilisationskonzepten des Nordens sowie die mit der Reconstruction verbundenen Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse wurden von Südstaatler_innen rassifiziert und vergeschlechtlicht gelesen. Zeitgenoss_innen sahen in diesen Transformationen die Ursache einer fundamentalen Krise angloamerikanischer Männer. Wie auch im obigen Zitat anklingt, waren diese Krisenwahrnehmungen eng mit Vorstellungen verbunden, dass angloamerikanische Männer im Süden durch Carpetbagger unterdrückt würden. Ebenso stellte die Emanzipation afroamerikanischer Menschen einen elementaren Bestandteil dieser Krisendiskurse dar. Diese als bedrohlich wahrgenommenen Veränderungen wurden aufs engste mit der Figur des Carpetbaggers verknüpft. Im Folgenden werde ich zum einen diesem Krisendiskurs angloamerikanischer Männlichkeit nachgehen sowie zum anderen die Position, die Carpetbagger oder Yankees in diesen Krisendiskursen einnahmen, rekonstruieren. Dazu bedarf es zunächst einer kurzen Darstellung der bereits vor dem Bürgerkrieg zur Verteidigung der Sklavenhaltergesellschaft ins Feld geführten Argumente.
2.3.1 Sklaverei, Freiheit und Männlichkeit im Old South
Eine aufschlussreiche Quelle für die Rekonstruktion zeitgenössischer Entwürfe angloamerikanischer und ‚afroamerikanischer‘ Subjektivität im Old South bildet das 1854 von George Fitzhugh publizierte soziologische Werk Sociology for the South or the Failure of Free Society. Darin verteidigte Fitzhugh die Sklavenhaltergesellschaft im Vergleich zur liberal-kapitalistischen Ordnung als die humanere Gesellschaftsformation.50 Als charakteristisch für den Old South beschreibt er eine angloamerikanische Männlichkeit, die von solidarischen, am Gemeinwohl orientierten Einstellungen geprägt sei. Dieser altruistischen Männlichkeit stellte er Formen des Mannseins gegenüber, die für ihn das Resultat liberal-kapitalistischer Vergesellschaftung darstellten. Bürgerliche Subjekte seien von einem unbedingten Streben nach Nutzenmaximierung und der Anbetung des Mam49 50
[Unbekannt], „It Is Not True.“ In: Macon Telegraph, 10.2.1881, S. 2. George Fitzhugh, Sociology for the South: or the Failure of Free Society. London et al.: Routledge 2005, S. 246–248.
Reconstruction
mons geprägt. Als Ursache der von Egoismus geleiteten Formen menschlicher Interaktion in kapitalistischen Gesellschaften versteht er die dortige Freiheit der Individuen. Diese zerstöre die Beziehungen und Bande zwischen den Menschen. Die Vergesellschaftung erfolge ausschließlich über die Teilnahme an dem über die freien Märkte organisierten Konkurrenzkampf um materielle Werte. In Fitzhughs Konzeption von Freiheit gerät diese, zumindest innerhalb einer liberalkapitalistischen Gesellschaftsformation, zur Freiheit der Subjekte, sich gegenseitig aus Eigennutz zu übervorteilen.51 Die fatalen Auswirkungen der liberal-kapitalistischen Ordnung betrafen laut Fitzhugh allerdings nicht nur Menschen, die im Konkurrenzkampf unterlegen und deshalb zu einem Leben in Armut und Elend verurteilt waren. Vielmehr identifizierte er auch eine von Gewalt durchzogene Beziehung zwischen Regionen, die auf unterschiedliche Weise in die kapitalistische Ordnung eingebunden waren. Er konstruierte das Verhältnis zwischen agrarisch geprägten Regionen und Zentren des Handels als eines, das durch eine zunehmende Heteronomie der ersteren charakterisiert sei.52 Sowohl das gewaltvolle Verhältnis zwischen Menschen wie auch zwischen Regionen verknüpfte Fitzhugh mit einer spezifischen Form männlicher Subjektivität, die in liberalen Systemen hergestellt werde. Auf einer Mikroebene, also der Ebene einzelner Subjekte, verunmögliche das permanente Ringen um den eigenen Vorteil die Ausbildung einer moralischen Männlichkeit.53 Auf einer Makroebene verband er das Streben der Menschen nach Freiheit mit dem Rückfall der Gesellschaft auf eine ‚unzivilisierte‘ Entwicklungsstufe. Diese gesellschaftliche Regression interpretierte er als Konsequenz einer angeblich in liberal-kapitalistischen Ordnungen unvermeidbar eintretenden Erosion der Institution Ehe. Die dort vorherrschende Ideologie der Freiheit und der Gleichheit bedinge das Ende der Sakralität der Ehe und reduziere diese zu einem bloßen Kontrakt, der jederzeit durch Einverständniserklärung der Vertragspartner_innen aufgelöst werden könne. Auf diesem Wege verfalle das Heim als zentraler Ort des Familienlebens zu einem „den of prostitutes“.54 Diese Vorstellung des Niedergangs der patriarchalisch organisierten Familie verknüpfte Fitzhugh mit dem Verfall der gesellschaftlichen Ordnung. Da die patriarchale Organisation der Familie den Archetypus und die Keimzelle des zivilisierten gesellschaft51 52 53 54
Ders., S. 20–23. Ders., S. 17. Ders., S. 24 f. Ders., S. 195.
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lichen Zusammenlebens bilde, entziehe deren Zerstörung jeglicher Zivilisation das Fundament.55 Jedoch war Fitzhugh nicht nur die mit der Möglichkeit zur Scheidung verbundene Zunahme weiblicher Autonomie ein Dorn im Auge, sondern er verstand prinzipiell jegliche Form der Freiheit als negativ. In seiner Weltsicht verhielten sich Freiheit und Zivilisation reziprok zueinander: „As civilization advances, liberty recedes: and it is fortunate for man that he loses his love of liberty just as fast as he becomes more moral and intellectual.“56 Folglich malte Fitzhugh die liberalkapitalistische Gesellschaft in den schwärzesten Farben. Er wähnte die Free Society im Kriegszustand mit der christlichen Moral und bezeichnete sie als „Wüste der Verbrechen“, in der lediglich unmoralische Männlichkeiten gedeihen könnten.57 Diesem Entwurf der liberal-kapitalistischen Gesellschaft des Nordens stellte George Fitzhugh ein Bild des Südens, also der Sklavenhaltergesellschaft, gegenüber, das von gegenseitiger Rücksichtnahme und Solidarität geprägt war. Die Conditio sine qua non für eine solidarische Gesellschaft bildete nach Fitzhugh eine strikte gesellschaftliche Hierarchie mit bestehenden Abhängigkeitsverhältnissen zwischen den unterschiedlichen sozialen Gruppen.58 Diese hierarchische Form gesellschaftlicher Organisation wiederum setzte Fitzhugh mit der Ausbildung einer edlen Form von Männlichkeit in Verbindung. The institution of slavery gives full development and full pay to the affections. Free society chills, stints and eradicates them. In a homely way the farm will support all, and we are not in a hurry to send our children into the world, to push their way and make their fortunes, with a capital of knavish maxims. We are better husbands, better fathers, better friends, and better neighbors than our Northern brethren.59
Wie das Kapitel im weiteren Verlauf zeigen wird, spielt diese Vorstellung einer aus dem Gesellschaftssystem des Nordens resultierenden tugendlosen Männlichkeit für das Verständnis der Figuration des Carpetbaggers eine wichtige Rolle. Der Carpetbagger wurde von angloamerikanischen Südstaatler_innen als Subjekt konstruiert, dessen Handeln einzig und allein auf die Maximierung des eigenen Nutzens ausgerichtet sei. Die konkreten Ausformungen der Subjektivität, 55 56 57 58 59
Ders., S. 213–218. Ders., S. 30. Ders., S. 200. Ders., S. 246 f. Ders., S. 248.
Reconstruction
die dem Carpetbagger zugeschrieben wurde, sowie die daran geknüpften Bedrohungswahrnehmungen bilden den Gegenstand des folgenden Unterkapitels.
2.3.2 Die ‚Verschwörung‘ der Carpetbagger gegen den Süden
Zeitgenoss_innen beschrieben Carpetbagger als Menschen, die Macht und Kontrolle sowohl über Afroamerikaner_innen als auch über die im Süden stationierten föderalen Truppen ausübten und auf diesem Wege die Geschicke des Südens kontrollierten.60 Andere wiederum sahen in ihnen die neuen Aristokraten des Gebietes südlich der Mason-Dixon-Linie.61 Jedoch sahen Südstaatler_innen in Carpetbaggern nicht bloß die neuen illegitimen Machthaber. Nach Ansicht einiger Zeitgenoss_innen übten sie zusätzlich die Kontrolle über die Zentralregierung in Washington aus.62 Es zeigt sich also, dass viele Südstaatler_innen Carpetbaggern eine gesellschaftliche und politische Allmacht zuschrieben. Einige angloamerikanische Südstaatler_innen sahen den Grund für die Omnipotenz der Carpetbagger in einer vermeintlichen numerischen Überflutung des Südens. Am 29.2.1868 publizierte der in Augusta, Georgia, erscheinende Daily Constitutionalist einen Artikel, in dem der Vorstellung der Allgegenwärtigkeit von Carpetbaggern Ausdruck verliehen wurde.63 Ebenso wusste der Anderson Daily Intelligencer Folgendes zu berichten: „They [die Carpetbagger, K. K.] swarmed over all the States from the Potomac to the Gulf, and settled in hordes, not with intent to remain here, but merely to feed on the substances of a prostrate and defenseless people.“64 Jedoch blieb die Verbreitung dieses Erklärungsansatzes beschränkt. Eine deutlich größere Wirkmacht erzielte ein Narrativ, in dem die gesellschaftliche Dominanz von Carpetbaggern vielmehr als Resultat ihres Handelns im Verborgenen galt.65 60 61 62 63 64 65
J. S. Black, „The Electoral Conspiracy.“ In: Anderson Daily Intelligencer, 12.7.1877, S. 1; [unbekannt], „To the People of Alabama.“ In: Mobile Register, 9.9.1870, S. 2. B. F. Perry, „Letter from Ex-Gov. Perry.“ In: The Daily Phoenix, 29.10.1872, S. 2. [Unbekannt], „The General Recourse of the Carpet-Bagger.“ In: General Picayune, 2.1.1873, S. 1. [Unbekannt], „Political Terms in Vogue at the South.“ In: Daily Constitutionalist, 29.2.1868, S. 2. Black, „Electoral Conspiracy“, 12.7.1877. Bereits vor Ausbruch des Bürgerkriegs zirkulierten in den Südstaaten Vorstellungen von Yankees als Verschwörern. Siehe dazu u. a. Koch, „Slavocrat“ und „Yankee“, S. 53–75.
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Few know where they come from; nobody knows how they live – perhaps nothing but an itemized account on the secret service money of the Reconstruction Committee of Congress could tell that – but here they are buzzing about like gad-flies, and seeking the weak points in the country with the unerring instinct of carrion crows.66
In zahlreichen zeitgenössischen Darstellungen wurde diese Vorstellung mit einer angeblich von Carpetbaggern ausgehenden Verschwörung gegen den Süden in Verbindung gesetzt.67 Die New Orleans Times berichtete am 11.7.1868 von einem vermeintlichen Komplott, der sich gegen den Bundesstaat Louisiana gerichtet hätte. Als zentrale Akteure identifizierte der Verfasser Carpetbagger, denen er folgende Motivation für ihr Handeln zuschrieb: To degrade and humiliate the people of Louisiana, and to obtain by force and fraud control of their affairs, and especially the management of their taxes, is gradually working itself out into the issues of successful development. Never was a plot more ignoble planned; never were wrongs more shameful perpetrated against a free-born people.68
Das gleiche Narrativ erfreute sich auch noch Jahrzehnte nach Ende der Reconstruction Era einer enormen Wirkmacht. Noch im Jahr 1910 weigerte sich der Demokrat William Walton Kitchen, der zwischen 1909 und 1913 Gouverneur von North Carolina war, Teile der aus der Reconstruction Era stammenden Schulden anzuerkennen. Als Begründung verwies er auf den vermeintlich verschwörerischen Charakter des Carpetbagger-Regimes.69 Diese Wahrnehmungen einer gegen den Süden gerichteten Verschwörung wiesen häufig geschlechtlich codierte Bedeutungsebenen auf. Vorstellungen von Carpetbaggern als neuen Machthabern wurden mit Aspekten einer empfundenen Krisenhaftigkeit angloamerikanischer Männlichkeit verknüpft. Die Niederlage im Bürgerkrieg, die anschließende Besetzung des Südens durch Unionssoldaten, der Verlust der absoluten Verfügungsgewalt über die ehemaligen Sklav_innen sowie deren rechtliche Gleichstellung mündeten in einem Gefühl der Erosion der hegemonialen gesellschaftlichen Position angloamerikanischer 66 67
68 69
[Unbekannt], „Political Terms in Vogue“, 29.2.1868, S. 2. Robert Alan Goldberg beschreibt in Enemies Within die Vorstellung einer von Carpetbaggern betriebenen Verschwörung als charakteristisch für das Weltverständnis des Ku-KluxKlan während der Reconstruction Era (Robert Alan Goldberg, Enemies Within: The Culture of Conspiracy in Modern America. New Haven et al.: Yale University Press 2001, S. 11 f.). [Unbekannt], „The Radical Conspiracy.“ In: New Orleans Times-Democrat, 11.7.1868, S. 4. [Unbekannt], „North Carolina to Resist Payment.“ In: Atlanta Constitution, 14.1.1910, S. 4.
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Männer. Für angloamerikanische Männlichkeiten im Old South waren, wie bereits kurz in der Einleitung beschrieben, die patriarchale Autorität und die damit verbundene Verfügungsgewalt über die zum Haushalt dazugehörigen Personen – afroamerikanische Sklav_innen sowie angloamerikanische Frauen und Kinder – von fundamentaler Bedeutung. Die Emanzipation der Sklav_innen führte folglich nicht nur zu Verschiebungen innerhalb des gesellschaftlichen Machtgefüges, sondern wirkte sich auch auf die (männliche) Identitätsbildung aus.70 Die Erosion der gesellschaftlich dominanten Stellung angloamerikanischer Männer während der Radical Reconstruction brachte Diskurse der Unterdrückung angloamerikanischer Männlichkeit hervor. 1868 beschrieb der Macon Telegraph angloamerikanische Männer als an Händen und Füßen gefesselt.71 Auch die New Orleans Times verwob die politischen Umwälzungen mit Vorstellungen einer unterdrückten angloamerikanischen Männlichkeit. Die während der Reconstruction Era durchgesetzten politischen und sozialen Maßnahmen wurden als Versklavung der Südstaatenmänner begriffen; eine Versklavung, schlimmer und despotischer als die bis zur Niederlage im Bürgerkrieg existierende Sklaverei jemals gewesen sei.72 Das Verschwinden der Carpetbagger aus dem Süden galt Angloamerikaner_innen somit als Conditio sine qua non für die Rekonstitution der Männlichkeit oder wie es die Galveston News ausdrückte: „To be once more American freeman, governing ourselves as we have shown we have the ability to do.“73 Nach den Wahlen von 1874, bei denen die Republikanische Partei sowohl im Norden als auch im Süden hohe Verluste hinnehmen musste, frohlockte ein Zeitgenosse, dass das Wahlergebnis das Ende für die vermeintlich von Carpetbaggern und Scalawags gehegte Hoffnung bedeute, die „weiße Rasse“ im Süden in eine Position der permanenten Unterwerfung zu zwingen.74 Auch andere Angloamerikaner_innen zelebrierten die Verluste der Republikanischen Partei als empfindlichen Rückschlag für die Machtbestrebungen von Carpetbaggern. Der Georgia Telegraph beschrieb seine Sichtweise auf das Wahlergebnis mit folgenden Worten: „Not more will the oily-tongued carpetbagger put foot upon her [des Südens, K. K.] soil, to elevate himself to place and power by dragging down 70
71 72 73 74
Edwards, Gendered Strife, S. 6–9; Bertram Wyatt-Brown, The Shaping of Southern Culture: Honor, Grace, and War, 1760s–1890s. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 2001, S. 199–200. J. M. F., „Save the Country.“ In: Macon Telegraph, 24.4.1868, S. 1. [Unbekannt], „Local Intelligence.“ In: New Orleans Times-Democrat, 13.8.1868, S. 2. [Unbekannt], „Too Much Politics.“ In: Galveston News, 7.8.1871, S. 2. [Unbekannt], „The Blacks Emancipated.“ In: Georgia Telegraph, 17.11.1874, S. 2.
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her people and seeking to degrade them to the base level of an ignorant and inferior race.“75 Auch nach der Reconstruction Era lebten die Vorstellungen einer von Carpetbaggern ausgehenden Unterdrückung angloamerikanischer Männer fort. Benjamin F. Grady, der zwischen 1891 und 1895 den Bundesstaat North Carolina für die Demokratische Partei im US-Repräsentantenhaus vertrat, analysierte in dem 1899 publizierten Buch The Case of the South against the North die historische Ausbildung des im Bürgerkrieg mündenden sektionalen Konfliktes. Er interpretierte die Geschichte der USA als eine der Verschwörung des Nordens gegen den Süden. Eine dieser Konspirationen bildete die während der Reconstruction verfolgte Politik, als deren finale Stoßrichtung er die Erniedrigung angloamerikanischer Männer ausmachte: And all their dealings, with the race question since the war have had a common object in view – the degradation of the descendants of the men who, in 1765, compelled the stamp master at Wilmington to resign, and extorted from Governor Tyron a promise not to attempt to enforce the Stamp Act; […] Such was the object of making voters, over the veto of President Johnson, of the ex-slaves in 1867, before the Fourteenth Amendment was declared to have been, and of disfranchising thousands estimated at 30,000 in North Carolina – of hereditary voters in the Southern States. Such was the object of subjecting the Southern States, in spite of the President’s veto, to the domination of the ex-slaves of the South and the ‚Carpetbaggers from the North.‘76
2.3.3 Carpetbagger, African Americans und White Supremacy
In zeitgenössischen Krisendiskursen galt die Politik gegenüber ‚Afroamerikanern‘ als zentrales Instrument der Verschwörung. Carpetbagger hätten deren Wildheit entfesselt, um die dabei freigesetzten destruktiven Kräfte zu ihren konspirativen Zwecken zu nutzen. Die Konstruktion von ‚Afroamerikanern‘ als wild und animalisch stellte allerdings keine Erfindung aus der Zeit der Reconstruction Era dar. Vielmehr war 75 76
[Unbekannt], „The Georgia Election.“ In: Georgia Telegraph, 20.10.1874, S. 4. Benjamin Franklin Grady, The Case of the South against the North: or Historical Evidence Justifying the Southern States of the American Union in Their Long Controversy with the Northern States. Raleigh: Edwards & Broughton Publishers 1899, S. 314 f., Dolph Briscoe Center for American History (im Folgenden: DBC), The Littlefield and Rare Book Pamphlet Collection (im Folgenden: LRPC).
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dieses Wissen bereits im Old South unter angloamerikanischen Menschen weit verbreitet und diente als Legitimation der Sklaverei. So erschienen zum Beispiel 1854 mit Josiah C. Notts Types of Mankind sowie dem bereits erwähnten Werk Sociology for the South von George Fitzhugh zwei breit rezipierte wissenschaftliche Werke, in denen die Subordination afroamerikanischer Menschen legitimiert wurde.77 In Sociology for the South rechtfertigte Fitzhugh die Herrschaft über ‚Afroamerikaner‘, indem er diese mit Kindern gleichsetzte. Nach Fitzhugh seien Menschen im Kindesalter völlig der Natur und damit der Herrschaft ihrer Leidenschaften und Lüste unterworfen. Sie bedürften deshalb der Kontrolle und Anleitung durch ihre Eltern. Übertragen auf die politische Sphäre verunmögliche es die kindliche Wesenshaftigkeit ‚afroamerikanischen‘ Menschen, den an die staatsbürgerlichen Rechte gekoppelten Pflichten nachzukommen. Vor diesem Hintergrund stelle die Sklaverei eine notwendige Institution dar, die die Wildheit ‚afroamerikanischer‘ Menschen zügele und die damit einhergehenden Bedrohungen für eine zivilisierte Gesellschaft einhege. Diese temporäre Zähmung und Zivilisierung regrediere jedoch unmittelbar wieder zu Natur, sobald ‚afroamerikanische‘ Menschen aus der Sklaverei entlassen und ein Leben in Freiheit führen würden. Die Versklavung afroamerikanischer Menschen stelle folglich eine permanente Notwendigkeit dar, die sowohl angloamerikanischen wie auch ‚afroamerikanischen‘ Menschen zum Vorteil gereiche.78 Die von Fitzhugh vorgenommenen fundamental divergierenden Konstruktionen angloamerikanischer und ‚afroamerikanischer‘ Menschen ließ ihn zu folgendem Schluss kommen: „[It is] very unwise and unscientific to govern white men as you would negroes.“79 Während der Reconstruction Era entfaltete diese rassistische Konstruktion ‚afroamerikanischer‘ Subjektivität eine enorme Wirkmacht. Eine Vielzahl angloamerikanischer Südstaatler_innen verstand die Verleihung bürgerlicher Rechte an die befreiten Sklav_innen als Zerstörung einer gesellschaftlichen Ordnung, die ein harmonisches Zusammenleben von ‚afroamerikanischen‘ mit angloamerikanischen Menschen ermöglicht habe.80 Allerdings wurden Carpetbagger nicht bloß als Widersacher der Herrschaft angloamerikanischer Menschen über ‚afroamerikanische‘ wahrgenommen. Vielmehr wurde ihnen gar vorgeworfen, die 77 78 79 80
Fitzhugh, Sociology; Josiah C. Nott, Types of Mankind: or Ethnological Researches. Philadelphia: Lippincott, Grambo & Co. 1854, S. 260. Fitzhugh, Sociology, S. 82–95. Ders., S. 94. Myrta Lockett Avary, Dixie after the War: An Exposition of Social Conditions Existing in the South, during the Twelve Years Succeeding the Fall of Richmond. New York: Doubleday, Page & Company 1906, S. 179.
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‚natürliche‘ Ordnung zwischen diesen beiden Gruppen komplett auf den Kopf zu stellen, also die Subordination von Angloamerikaner_innen unter ‚Afroamerikaner‘ zu betreiben. In diesem Sinne wurde Carpetbaggern nachgesagt, dass sie die Überlegenheit ‚afroamerikanischer‘ Männer über angloamerikanische propagiert hätten.81 In zeitgenössischen Vorstellungen resultierte das Wirken von Carpetbaggern in Gewalt zwischen Angloamerikanern und ‚Afroamerikanern’. Mit der rechtlichen Emanzipation der ehemaligen Sklav_innen sei die vormalige Harmonie zwischen den beiden Gruppen unter dem Einfluss der Carpetbagger in ihr Gegenteil umgeschlagen. Die Memphis Avalanche beschrieb in diesem Sinne die Organisierung ‚afroamerikanischer‘ Menschen durch republikanische Politiker als einen Akt der Aufwiegelung zu Gewalt gegen angloamerikanische Menschen: On Saturday, the 19th instant, it was made known to the citizens of Camilla that John Murphy of Albany, Georgia, has issued his circular and secretly circulated the same among the colored men of this county, ordering them to bring their arms with them to the political meeting advertised for that day at this place. The information was corroborated by statements made by Robert Cochran, sr., Thomas Jones, and others, who came from the road in the direction of Albany, stating that armed negroes were assembling in large numbers at China Grove Church, waiting for the delegation from Albany, headed by said Murphy, and Pierce, the candidate for Congress, who were to be the speakers for the occasion. … Seven negroes [sic!] were killed, all of whom were genteelly buried by a committee for that purpose. From the best information we have been able to procure, between thirty and forty were wounded, all of whom have been properly cared for.82
Die von African Americans geführten Kämpfe für ein selbstbestimmtes Leben wurden somit auf das vermeintlich aufrührerische und egoistische Verhalten von Carpetbaggern zurückgeführt, das letztlich zum Tode ‚afroamerikanischer‘ Menschen geführt hätte.83 Eine große Bedeutung innerhalb des Konspirationsnarrativs nahm die Verleihung staatsbürgerlicher Rechte an Afroamerikaner ein. Diese Maßnahme mitsamt des damit verbundenen Zugangs zu bedeutenden gesellschaftlichen 81 82 83
Avary, Dixie, S. 232 f. [Unbekannt], „Georgia.“ In: Memphis Avalanche, 25.9.1868, S. 1. Zu der Rolle von African Americans in den politischen und sozialen Auseinandersetzungen während der Reconstruction Era siehe u. a. Roberta Sue Alexander, „Presidential Reconstruction: Ideology and Change.“ In: Eric Anderson und Alfred A. Moss (Hg.), The Facts of Reconstruction: Essays in Honor of John Hope Franklin. Baton Rouge et al.: Louisiana State University Press 1991, S. 29–51; Foner, Reconstruction; Rogers, Black Belt Scalawag.
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Ressourcen wurde als Angriff auf die gesellschaftliche Hegemonie angloamerikanischer Männer wahrgenommen. Als Triebkräfte dieser Veränderungen galten Carpetbagger.84 Ähnlich wie George Fitzhugh in Sociology for the South stellten angloamerikanische Südstaatler_innen in ihrem Kampf gegen diese politischen Entwicklungen ‚afroamerikanische‘ Menschen als unfähig zu einem selbstbestimmten Leben dar. Sie galten gar als unfähig, sich überhaupt bloß einen Begriff vom Dasein in Freiheit zu machen. They [African Americans, K. K.] did not understand that strange, sweet word – freedom. Poor things! the [sic!] English language had never brought to them the faintest definition of liberty – that most glorious gift of God. They were stunned. What were they to do [sic!] Where should they go? What would become of them? Who would feed and clothe them, and care for them in sickness, when they went out from ‚marster‘ [sic!] free?85
Eine zentrale Rolle nahm in diesem Kontext die Frage nach der Ausgestaltung des Wahlkörpers, also die Verleihung des Wahlrechts an männliche African Americans ein. Die Politologin Judith Shklar verortet das Wahlrecht im Zentrum des Konzeptes Staatsbürgerschaft. Allerdings trug das Wahlrecht nach Shklar diese herausragende Bedeutung nicht in sich selbst. Die Bedeutsamkeit bestand nicht etwa (alleinig) in der Möglichkeit der Stimmabgabe an Wahltagen. Vielmehr erhielt es seine gesellschaftliche Relevanz vor allem durch die mit ihm vorgenommene Grenzziehung zwischen wahlberechtigten und nicht-wahlberechtigten Menschen, also in dem Einschluss oder Ausschluss in den beziehungsweise aus dem Staatsbürgerkörper.86 Es diente angloamerikanischen Männern zur Distinktion und somit zur gesellschaftlichen Stratifizierung und Hierarchisierung.87 Frederick Douglas, einer der führenden afroamerikanischen Abolitionisten, beschrieb in diesem Sinne die Bedeutung des Wahlrechts als abhängig von der Staatsform, in der die Menschen jeweils lebten. In einer Gesellschaftsform, in der das allgemeine Wahlrecht für Männer 84 85 86 87
[Unbekannt], „Down with the Carpet-Baggers.“ In: The Charleston Daily News, 4.10.1872, S. 2. Belle Kearney, A Slaveholder’s Daughter. New York: The Abbey Press Publishers 1900, S. 13. Judith N. Shklar, American Citizenship: The Quest of Inclusion. Cambridge: Harvard University Press 1991, S. 27. Das Frauenwahlrecht wurde in den USA erst 1920 mit dem 19th Amendment in der Verfassung verankert. Zu den Auseinandersetzungen um die Einführung des Frauenwahlrechts siehe u. a. Susan E. Marshall, Splintered Sisterhood: Gender and Class in the Campaign against Woman Suffrage. Madison et al.: University of Wisconsin Press 1997; Katie Marsico, Women’s Right to Vote: America’s Suffrage Movement. New York: Cavendish Benchmark 2011; Marjorie Spruill Wheeler (Hg.), Votes for Women!: The Woman Suffrage Movement in Tennessee, the South, and the Nation. Knoxville: The University of Tennessee Press 1995.
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existiere, ziele die Exklusion afroamerikanischer Männer aus dem Kreise der Wahlberechtigten darauf ab, sie mit dem Stigma der Minderwertigkeit zu versehen.88 Die Aufnahme afroamerikanischer Männer in den Staatsbürgerkörper wurde unter Einsatz einer strikt rassifizierten und vergeschlechtlichten Linse gelesen. Da die Subordination von African Americans konstitutiv für angloamerikanische Südstaatenmännlichkeiten war, wurde die Verleihung der Staatsbürgerschaft an Afroamerikaner als ein Angriff auf angloamerikanische Männer und darüber vermittelt auf die gesellschaftliche Ordnung des Südens verstanden. So schrieb der Memphis Public Ledger zu der während der Reconstruction Era vorgenommenen Umformung des Wahlkörpers: Nearly half a million of the most intelligent and industrious men of the South are disfranchised and denied any participation in the government, while a horde of ignorant blacks are clothed with citizenship, and have been suddenly transformed by this Radical Jove from plantation hands to legislators and judges. The Radical leaders […] seek to degrade the intelligence of the country by polluting the ballot-box with an infusion of the basest ignorance to be found on the continent […].89
In diesem Narrativ beraubte die von Carpetbaggern zu ihren eigenen Vorteilen vorgenommene Umstrukturierung des Wahlkörpers die angloamerikanischen Männer ihrer politischen Potenz, unterwarf sie der Herrschaft unfähiger ‚Afroamerikaner‘ und beraubte den Süden so seiner besten (Führungs-)Kräfte. Diese vermeintliche politische Subordination wurde als Angriff auf die dem angloamerikanisch-männlichen Subjekt zugeschriebene manly Independence wahrgenommen.90 Die angloamerikanischen Männer seien durch diese Maßnahmen ihrer Funktion als Versorger und Beschützer des Südens enthoben und die Sektion somit dem Handeln der Carpetbagger und ihrer Hilfstruppen, den ‚Afroamerikanern‘, ausgeliefert gewesen. Diese vermeintliche Unterwerfung von Angloamerikanern unter ‚Afroamerikaner‘ wurde als eine Technik verstanden, mit der die Herrschaft des Nordens über den Süden durchgesetzt werden sollte. Der Anderson Intelligencer beschrieb das an ‚afroamerikanische‘ Männer verliehene Wahlrecht als Schlüssel zur Ausbeutung des Südens durch auswärtige Interessen: 88 89 90
Zitiert nach: Shklar, American Citizenship, S. 57. A. L. S., „The Republic or the Empire.“ In: Memphis Public Ledger, 13.5.1869, S. 2. Mrs. S. E. F. Rose, The Ku Klux Klan: or Invisible Empire. New Orleans: L. Graham Co. 1914, S. 30–33.
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Negro suffrage has proved to be a great evil, chiefly on account of the divorce effected in the South between numbers and intelligence. The Southern blacks have been formed into a political party under outside guidance and control – a party which had a set of interests, or supposed interests, separate from the general interests of the Southern community.91
Die Verleihung des Wahlrechts an ‚afroamerikanische‘ Männer geriet damit zum von Carpetbaggern im Verbund mit anderen Radicals geleiteten Angriff auf die politische Ordnung und Stabilität des Südens. Die Aufhebung des Wahlrechts für ‚Afroamerikaner‘ und darüber vermittelt die Befreiung von den Carpetbaggern galt somit als wichtiger Schritt bei der Überwindung des als krisenhaft wahrgenommenen Zustandes des Südens. Auch in diesem Zusammenhang griffen die Verfechter_innen der White Supremacy auf vergeschlechtlichte und rassifizierte Schablonen der Subjektkonstruktion zurück. Seit dem 19. Jahrhundert fand die Gleichsetzung von Frauen mit als ‚rassisch minderwertig‘ typologisierten Menschen weite Verbreitung. Es kam zu Analogiebildungen hinsichtlich der Physiologie, Psychologie und der kognitiven Fähigkeiten. Nancy Leys Stepan beschrieb diesen hergestellten Zusammenhang mit den folgenden Worten: „In short, lower races represented the ‚female‘ type of the human species, and females the ‚lower race‘ of gender.“92 In diesem Sinne begriffen Zeitgenoss_innen den durch Terror erzwungenen Verzicht afroamerikanischer Männer auf die Stimmabgabe bei den in South Carolina stattfindenden Wahlen im Jahr 1877 als Ausdruck der „Feigheit“ der ehemaligen Sklaven. Angloamerikanischen Männern hingegen wurde kontrastiv dazu Furchtlosigkeit bei der Ausübung ihrer politischen Pflichten attestiert.93 Mit der Vorstellung, dass die Verleihung des Wahlrechts an ‚Afroamerikaner‘ die Unterdrückung angloamerikanischer Männer bedeute, waren Wahrnehmungen der Entehrung und somit der Entmännlichung politischer Institutionen verflochten.94 Wie bereits dargelegt, war das politische System in den Vereinig91 92
93 94
[Unbekannt], „Are Negro Rights Put in Jeopardy by the Democratic Victories?“ In: The Anderson Intelligencer, 19.11.1874, S. 2. Nancy Leys Stepan, „Race and Gender: The Role of Analogy in Science.“ In: David Theo Goldberg (Hg.), Anatomy of Racism. Minneapolis: University of Minnesota Press 1990, S. 38–57, hier S. 40. Black, „Electoral Conspiracy“, 12.7.1877. Wie Bertram Wyatt-Brown in The Shaping of Southern Culture darlegt, waren die Konzepte ‚Ehre‘ und ‚Männlichkeit‘ in ihrer Bedeutung und ihren Zuschreibungen in den Südstaaten für den Zeitraum seiner Untersuchung von den 1760ern bis zu den 1880ern weitgehend identisch (Wyatt-Brown, Southern Culture, S. xii).
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ten Staaten von Amerika seit der Gründung vergeschlechtlicht. Männlichkeit galt als Garant der Stabilität des politischen Systems. Die Verknüpfung zwischen Männlichkeit und politischer Sphäre führte folglich zu einer Maskulinisierung politischer Institutionen.95 Die Partizipation von ‚Afroamerikanern‘ an politischen Willensbildungsprozessen wurde vor diesem Hintergrund als Angriff auf deren männlichen Charakter verstanden. Auf der Folie dieses vergeschlechtlichten Verständnisses politischer Institutionen wurden beispielsweise die im Jahr 1868 in vielen Bundesstaaten der ehemaligen Konföderation abgehaltenen Wahlen gelesen, die, wie bereits dargelegt, mit dem Sieg der Republikanischen Partei und dem Einzug afroamerikanischer Männer in die Parlamente endete. Gegner_innen der Emanzipation von African Americans polemisierten gegen die neue Zusammensetzung der politischen Institutionen. ‚Afroamerikanische‘ Amtsträger wurden als „völlig ungebildet und direkt von den Baumwollfeldern kommend“ beschrieben. Die politischen Institutionen seien zu „kunterbunten Versammlungen“ herabgesunken, die sich aus Tagelöhnern und Carpetbaggern zusammengesetzt hätten.96 Andere Zeitgenoss_innen brachten ihre Ansicht über die Entweihung der politischen Sphäre durch die Partizipation ‚afroamerikanischer‘ Männer durch die Verknüpfung ‚afroamerikanischer‘ Politiker mit karnevalesken Gelagen und Alkoholexzessen zum Ausdruck. Die Publizistin Myrta Avary beschrieb politische Versammlungen von Afroamerikaner_innen wie folgt: The Southern ballot-box was the new toy of the Ward of the Nation: the vexation of housekeepers and farmers, the despair of statesmen, patriots, and honest men generally. Elections were preceded by political meetings, often incendiary in character, which all one’s servants must attend. With election day, every voting precinct became a picnic ground, to say no worse. All sexes and ages came afoot, in cars, in wagons, as to a fair or circus. Old women set up tables and spread out ginger-cakes [sic!] and set forth buckets of lemonade. One famous campaign manager had all-night [sic!] picnics in the woods, with bonfires, barrels of liquor, darkeys sitting around drinking, fiddling, playing the banjo, dancing. … Fights were plentiful as ginger-cakes. The all-day [sic!] picnic ended only with closing of polls, and not always then, darkeys hanging around and carrying scrapping and jollification into the night.97
95 96 97
Kann, Republic of Men, S. 1 f. Kearney, Slaveholder’s Daughter, S. 15. Avary, Dixie, S. 282.
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Durch die Teilnahme von ‚Afroamerikanern‘ am politischen Geschehen schienen sich also die klar gezogenen Grenzen zwischen privat-femininer („Picknick“) und öffentlich-männlicher Sphäre („Wahlbezirk“) zu verflüchtigen, sich der männliche Charakter der politischen Institutionen aufzuheben und somit das republikanische System ins Wanken zu geraten. Die Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung manifestiert sich in der oben zitierten Textstelle unter anderem in den Kämpfen zwischen ‚Afroamerikanern‘. Einen anderen Aspekt dieser an die vorgenommene Ausweitung des Staatsbürgerkorpus gekoppelten Bedrohungswahrnehmungen stellte die Bildung von Milizverbänden dar, die sich aus African Americans rekrutierten. Diese wurden während der Reconstruction Era unter Beteiligung republikanischer Politiker aufgestellt und waren in zahlreiche bewaffnete Auseinandersetzungen mit Anhängern der White Supremacy verwickelt. Seit der Gründung waren in den USA das Recht auf Waffenbesitz sowie die Ausübung des Kriegshandwerks mit dem Zugang zu staatsbürgerlichen Rechten verknüpft.98 So wird Sarah Livingston, der Ehefrau von John Jay, der folgende Toast zugeschrieben: „May all our Citizens be Soldiers, and all our Soldiers Citizens.“99 Historisch bildete das von Machiavelli propagierte Modell des Bürgersoldaten, das einen signifikanten Einfluss auf das Staatsbürgerschaftsverständnis in den Vereinigten Staaten ausübte, den Ausgangspunkt dieser Verbindung. Danach ist das staatsbürgerliche Subjekt idealiter durch eine Kampfbereitschaft für sein Heimatland gekennzeichnet. Diese absolute Opferbereitschaft wurde und wird häufig als männlich kategorisiert.100 Gruppen, denen das Recht auf die Kampfeinsätze untersagt wurde, waren in ihrer Staatsbürgerlichkeit herabgesetzt.101 Männer wiederum, denen der Zugang zum Militär oder das Tragen von 98
Norbert Finzsch und Michaela Hampf, „Männlichkeit im Süden, Männlichkeit im Norden: Zur Genese moderner amerikanischer Männlichkeitskonzepte in der Epoche des Bürgerkriegs.“ In: WerkstattGeschichte, Nr. 29 (2001), S. 34–59, hier S. 46. 99 Linda K. Kerber, „May All Our Citizens Be Soldiers and All Our Soldiers Citizens: The Ambiguities of Female Citizenship in the New Nation.“ In: Jean Bethke Elshtain und Sheila Tobias (Hg.), Women, Militarism, and War: Essays in History, Politics, and Social Theory. Savage: Rowman & Littlefield Publishers 1990, S. 89–103, hier S. 90. 100 Shklar, American Citizenship, S. 31. 101 Daraus ergibt sich im Umkehrschluss allerdings nicht, dass alle sozialen oder ethnischen Gruppen, die für eine Nation Kriegsdienst versehen, auch die jeweilige Staatsbürgerschaft und die dazugehörigen Rechte erhalten (Nira Yuval-Davis, „Militär, Krieg und Geschlechterverhältnisse.“ In: Christine Eifler und Ruth Seifert (Hg.), Soziale Konstruktionen – Militär und Geschlechterverhältnis. Münster: Westfälisches Dampfboot 1999, S. 18–43, hier S. 19–22).
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Waffen verweigert wurde, galten auf Grund des hergestellten Zusammenhangs zwischen Männlichkeit und dem Recht auf Waffenbesitz als effeminiert.102 Aus diesem Grund bildete das Recht auf Ausübung des Kriegshandwerkes einen bedeutsamen Gegenstand der zwischen verschiedenen Gruppen ausgefochtenen Kämpfe um die Ausweitung beziehungsweise Restriktion der Staatsbürgerschaft. Führende Abolitionisten wie Frederick Douglas verstanden Kampfeinsätze von African Americans im Civil War als Nachweis ihrer Tauglichkeit zu voller Staatsbürgerschaft: „Let him get an eagle on his button, and a musket on his shoulder, and bullets in his pocket, and there is no power on the earth […] which can deny that he has earned the right of citizenship in the United States.“103 Der Ausschluss von Frauen und anderen Gruppen aus (para-)militärischen Verbänden gewährte angloamerikanischen Männern einen exklusiven Zugriff auf die mit der Staatsbürgerschaft verbundenen Rechte. Die während der Reconstruction Era vorgenommene Aufstellung von Milizen, die sich wesentlich aus afroamerikanischen Männern zusammensetzten, wurde von angloamerikanischen Männern als Angriff auf ihre gesellschaftlich hegemoniale Stellung verstanden und aufs Heftigste bekämpft.104 Zeitgenoss_innen beschrieben die Aufstellung ‚afroamerikanischer‘ Milizen explizit als ein Instrument der Carpetbagger in ihrem Kampf gegen die gesellschaftliche Ordnung des Old South und für die Durchsetzung der „sozialen Gleichheit“ und die „Miscegenation“.105 In die gleiche Richtung zielte die New Orleans Daily Picayune in einem Artikel über die als „The Battle of Liberty Place“ bekannt gewordenen gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Republican Metropolitan Police und Kräften der White League, die sich im September 1874 in New Orleans ereigneten. Nach stundenlangen, heftigen Kämpfen gelang es der White League die Republican Metropolitan Police in die Flucht zu schlagen. Wenige Tage später jedoch wurde die neu errichtete Regierung der White League durch das Eingreifen föderaler Einheiten wieder abgesetzt und William Pit Kellogg, ein aus dem Norden stammender Politiker der Republikanischen Partei, der zwischen 1873 und 1877 Gouverneur von Louisiana war, wieder in sein Amt eingesetzt. Aber auch nach der vorübergehenden Niederlage setzte die White League ihre 102 Frank J. Barrett, „Die Konstruktionen hegemonialer Männlichkeit in Organisationen: Das Beispiel der US-Marine.“ In: Eifler und Seifert (Hg.), Soziale Konstruktionen, S. 71–91, hier S. 71–72. 103 Zitiert nach: Smith, Civic Ideals, S. 281. 104 Kearney, Slaveholder’s Daughter, S. 14. 105 [Unbekannt], „A Real Radical Grievance.“ In: New Orleans Times-Democrat, 15.8.1868, S. 4.
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Kampagne gegen Kellogg fort.106 Kellogg wurde als „Usurpator“ diskreditiert, der dem Recht auf Selbstbestimmung angloamerikanischer Männer ein Ende gesetzt habe. In Kooperation mit seinen „barbarischen Gefolgsleuten“ habe Kellogg angloamerikanischen Männern ihr qua Verfassung garantiertes Recht auf Waffenbesitz genommen und sie damit vollends ihres staatsbürgerlichen Rechtes beraubt, als „freie Männer“ ihr Heim, ihren Besitz und ihre Familie vor Übergriffen zu beschützen.107 Vor diesem Hintergrund wurde folgender Schluss gezogen: No situation can be imagined more desperate than that of the people of the whites of that State, who, after, submitting with shame-bowed heads to years of spoliation, saw their houses searched by blacks and the arms, hidden as their last resources, wrested from them. Deprived of the right to bear arms, they were no longer freeman. And against what has that ultimate right of manhood been invoked!108
Da die Autorität über das Heim als konstitutiv für angloamerikanische Männlichkeit verstanden wurde und eine patriarchalische Organisation der Familie als Keimzelle der republikanischen Ordnung galt, stellte der vermeintliche Angriff ‚afroamerikanischer‘ Männer auf die heimische Sphäre in zweifacher, miteinander verwobener Hinsicht einen Angriff auf die gesellschaftlich dominante Position angloamerikanischer Männer dar: zum einen auf ihren Status als Staatsbürger und zum anderen auf ihre Funktion als Familienpatriarchen.109 Von großer Bedeutung für diese Krisendiskurse, die sich um die Verleihung der Staatsbürgerrechte und die Bewaffnung von ‚Afroamerikanern‘ rankten, waren Konstruktionen rassifizierter Sexualitäten. Die seit der Kolonialzeit verbreitete Vorstellung, dass ‚afroamerikanische‘ Männer eine Bedrohung für angloamerikanische Frauen darstellten, gewann während der Reconstruction Era enorm an Wirkmacht. Bevor ich mich der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Krisenwahrnehmungen angloamerikanischer Männlichkeit und der Figuration des Black Beast Rapists zuwende, werde ich in einem ersten Schritt kurz die Konstruktion ‚afroamerikanischer‘ Männer als hypersexualisiert historisieren. 106 Zur Battle of Liberty Place siehe u. a. Justin Nystrom, New Orleans after the Civil War: Race, Politics, and a New Birth of Freedom. Baltimore: The John Hopkins University Press 2010, insbes. Kapitel sieben und acht. 107 [Unbekannt], „The White Slaves of Louisiana.“ In: Daily Picayune, 26.9.1874, S. 2. 108 Ders. 109 Edwards, Gendered Strife, S. 6–9.
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Bereits zu Zeiten der Sklaverei gab es im Süden eine Fülle von Gesetzen – sowohl Miscegenation Laws wie auch Rape Laws – die sexuelle Beziehungen zwischen angloamerikanischen Frauen und ‚afroamerikanischen‘ Männern unterbinden sollten. Die Grundlage dieser Gesetze bildete die Vorstellung, dass ‚afroamerikanische‘ Männer von einem Verlangen nach angloamerikanischen Frauen beherrscht würden. Die Konstruktion ‚afroamerikanischer‘ Männer als Black Beast Rapists, also als potenzielle Vergewaltiger angloamerikanischer Frauen, diente angloamerikanischen Männern in zweifacher Hinsicht als Strategie, um ihre gesellschaftlich dominante Position zu (re-)produzieren. Die angloamerikanischen Frauen und ‚afroamerikanischen‘ Männern zugeschriebenen Sexualitäten machten in zeitgenössischen Sichtweisen deren jeweilige Unterordnung unter die Autorität angloamerikanischer Männer notwendig.110 Da angloamerikanischen Männern der Schutz weiblicher Tugendhaftigkeit zukam, ehrbare Männlichkeit also an eine ‚reine‘ weibliche Sexualität gekoppelt war, wurden (vermeintliche) sexuelle Übergriffe auf angloamerikanische Frauen als Angriff auf die Ehre der männlichen Familienmitglieder verstanden.111 Gesteigert wurde diese vermeintliche Aggression, wenn es sich bei dem angeblichen Täter um einen afroamerikanischen Mann handelte. Vor dem Hintergrund der institutionalisierten Subordination afroamerikanischer Menschen wurde ein solcher Akt als Angriff auf die als natürlich verstandene und entlang der Kategorie Race strikt hierarchisierte Ordnung des Südens begriffen.112 110 Die männlichen Besitzansprüche über angloamerikanische Frauen und die damit verbundene Disziplinierung angloamerikanischer weiblicher Sexualität wurden auch durch Gerichtsurteile hergestellt und stabilisiert. Siehe dazu u. a.: Peter W. Bardaglio, „Rape and the Law in the Old South: ‚Calculated to Excite Indignation in Every Heart‘.“ In: The Journal of Southern History, Jg. 60, Nr. 4 (November 1994), S. 749–772, hier S. 765–769; Victoria E. Bynum, Unruly Women: The Politics of Social and Sexual Control in the Old South. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 1992, S. 109. 111 Bardaglio, „Rape and the Law“, S. 755; Bynum, Unruly Women, S. 97; Edwards, Gendered Strife, S. 8. 112 Bardaglio, „Rape and the Law“, S. 756. Grundlegend anders fiel die Beurteilung sexueller Übergriffe aus, wenn es sich bei dem Opfer um eine afroamerikanische Frau handelte. Da Sklavinnen rechtlich ein Objektstatus zugeschrieben wurde, wurden an ihnen verübte Übergriffe vor Gericht generell nicht als solche anerkannt. Zusätzlich wurde afroamerikanischen Frauen eine unstillbare sexuelle Lust zugeschrieben, so dass sie jederzeit zu sexuellen Akten bereit gewesen seien (Rosen, Terror in the Heart, S. 9–11). Von angloamerikanischen Männern verübte Übergriffe auf Sklavinnen, die im Besitz eines anderen Sklavenhalters waren, wurden als Vergehen gegen das Eigentum des jeweiligen Master gewertet (Bardaglio, „Rape and the Law“, S. 757–760).
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Mit der Abschaffung der Sklaverei nahm die Bedeutung, die Zeitgenoss_innen derAufrechterhaltungderColorLinebeimaßen,rasantzu.113 Derzumindestpartielle Kontrollverlust angloamerikanischer Männer über ihre ehemaligen Sklav_innen ging mit einer Explosion des Diskurses über ‚afroamerikanische‘ Sexualität einher. ‚Afroamerikanische‘ Sexualität beziehungsweise die Kontrolle der ihr zugeschriebenen Gefahren wurden zu einem wichtigen Thema. In diesem Kontext erfuhr die Figuration des Black Beast Rapists einen dramatischen Bedeutungszuwachs.114 Zu Zeiten der Sklaverei zumindest graduell tolerierte sexuelle Beziehungen zwischen angloamerikanischen Frauen aus unteren sozialen Klassen und Afroamerikanern wurden seit der Abschaffung der Sklaverei unnachgiebig und mit brutaler Gewalt verfolgt. Während auch afroamerikanische Frauen sowie Angloamerikaner_innen Opfer dieser rassistischen Raserei wurden, zielte die von Organisationen wie dem Ku-Klux-Klan ausgeübte Gewalt primär auf afroamerikanische Männer. Exemplarisch für die Verwobenheit von Bedrohungswahrnehmungen angloamerikanischer Männer, zeitgenössischen Vorstellungen rassifizierter Sexualitäten sowie der gegen afroamerikanische Männer gerichteten Gewalt steht der Fall von Henry Lowther. Lowther, ein ehemaliger Sklave aus Georgia, wurde im Zuge der Ermittlungen eines vom Kongress und vom Senat eingesetzten Komitees zur Untersuchung des vom Ku-Klux-Klan ausgeübten Terrors als Opfer befragt. Eine Schar KKKler hatte den ökonomisch relativ erfolgreichen Lowther eines Nachts überfallen und kastriert. Als Begründung gaben die Männer an, dass Lowther eine Beziehung mit einer angloamerikanischen Frau führen würde. Lowther negierte dies während der Befragung und äußerte, von der Frau lediglich dazu engagiert worden zu sein, ihr Land zu hüten.115 Die Kastration Lowthers, also die (symbolische) Auslöschung seiner aus dem neuen Staatsbürgerstatus resultierenden Männlichkeit, bildete während der Reconstruction Era keinen Einzelfall.116 113 Ann Holder, „What’s Sex Got to Do with It? Race, Power, Citizenship, and ‚Intermediate Identities‘ in the Post-Emancipation United States.“ In: The Journal of African American History, Jg. 93, Nr. 2. (2008), S. 153–173, hier S. 155; Peter W. Bardaglio, Reconstructing the Household: Families, Sex and the Law in Nineteenth-Century South. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 1995, insbes. Kap. 6. 114 Hodes, „Sexualization of Reconstruction“, S. 415; Michel, „White Southern Manhood“, S. 143. 115 Hodes, „Sexualization of Reconstruction“, S. 402–408. 116 Der Schutz weiblicher Tugendhaftigkeit und damit verflochten der Racial Purity vor vermeintlichen Übergriffen afroamerikanischer Männer stellte nicht nur ein Instrumentarium zur Rekonstitution der Subordination afroamerikanischer Männer dar, sondern produzierte ein über alle Klassengrenzen hinweg einigendes Band zwischen angloamerikanischen Männern (Nell Irvin Painter, Southern History Across the Color Line. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 2002, S. 117).
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In diesen sexualisierten Bedrohungswahrnehmungen nahmen Carpetbagger häufig eine zentrale Stellung ein. Sie galten als Kräfte, die dem Black Beast Rapist mit ihren politischen Ideen und Taten den Weg zu angloamerikanischen Frauen gebahnt hätten. Myrta Avary schrieb in diesem Sinne: „He [der Black Rapist, K. K.] came into life in the abnormal atmosphere of a time rife with discussions of social equality theories, contentions for coeducation and intermarriage.“117 Die Aufstellung ‚afroamerikanischer‘ Milizverbände wurde als eine Maßnahme identifiziert, mittels derer Carpetbagger ‚afroamerikanischen‘ Männern den Zugang zu Frauen der angloamerikanischen Gesellschaft ermöglicht hätten. ‚Afroamerikanisches‘ Soldatentum und Waffenbesitz wurden unmittelbar mit Vorstellungen vom Black Beast Rapist verknüpft. Mit der Waffe in der Hand hätten ‚Afroamerikaner‘ jederzeit direkten Zugriff auf angloamerikanische Frauen gehabt. Avary kam deshalb zu folgendem Schluss: „The rapist is a product of the reconstruction period. … His chrysalis was a uniform; as a soldier he could force his way into private homes, bullying and insulting white women; he was often commissioned to tasks involving these things.“118 Wie gezeigt, wurde die Figuration des Carpetbaggers auf vielfältige Weise für die Unterminierung der als natürlich verstandenen Hierarchisierung zwischen angloamerikanischen und ‚afroamerikanischen‘ Menschen und der daran gekoppelten dominanten gesellschaftlichen Stellung angloamerikanischer Männer verantwortlich gemacht beziehungsweise die Verleihung der Staatsbürgerschaft an ‚afroamerikanische‘ Menschen als Instrument der Carpetbagger verstanden, um den Süden zu unterwerfen. Dieses derartig destruktive Handeln, das Carpetbaggern zugeschrieben wurde, wirft Fragen auf, welche Antriebskräfte und Motivationen Zeitgenoss_innen als Wurzel dieser Handlungen identifizierten. Welche Ursachen machten Südstaatler_innen für das vermeintlich verschwörerische Treiben von Carpetbaggern aus? Mit was für einer Subjektivität statteten Angloamerikaner_innen diese Figuration aus?
2.3.4 Zeitgenössische Subjektkonstruktionen des Carpetbaggers
Eingebettet in breitere Debatten, in denen Südstaatler_innen argumentierten, dass der mit der im Norden herrschenden ökonomischen Ordnung verbun117 Avary, Dixie, S. 377. 118 Dies., S. 377.
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dene Materialismus die Ausbildung einer tugendhaften, für Südstaatenmänner charakteristischen Subjektivität verunmögliche, wurden Carpetbagger mit einer tugendlosen Männlichkeit versehen.119 Dabei wurde dieser negative Männlichkeitsentwurf eng mit den gesellschaftlichen Veränderungen, die nach dem Bürgerkrieg im Süden durchgesetzt wurden, in Verbindung gesetzt. So koppelte die Daily Picayune die Existenz des Carpetbaggers an den vermeintlichen gesellschaftlichen Niedergang des Südens. A carpet-bagger is nothing more nor less than a human maggot – he is the spontaneous outgrowth of corruption. His moral nature is the creature of decay. His whole character is built up out of the elements of corruption, and like the maggot in a rotting cheese, he feeds upon and destroys whatever of healthy matter he finds remaining amid the general destruction. From this definition it appears plainly enough that the carpet-bagger is not the cause of our troubles. He is the outgrowth of those troubles.120
An anderer Stelle wurde die Verantwortung für das Entstehen der Carpetbagger expliziter benannt und im Umfeld der Republikanischen Partei verortet. Die Vertreter der Radical Ideology, also die Befürworter der rechtlichen und politischen Gleichstellung von Afroamerikanern, wurden als die Väter der Carpetbagger bezeichnet.121 Carpetbagger wurden bar jeglicher Moral und Tugend entworfen. Als alleinige Antriebskraft ihrer Handlungen identifizierten Südstaatler_innen eine hemmungslose Gier. Geleitet von einem unersättlichen Streben nach materiellen Reichtümern seien Carpetbagger bereit gewesen, die Prosperität des Südens ihren egoistischen Motiven zu opfern. Der frühere Gouverneur von South Carolina, Benjamin Franklin Perry, brachte diesen vermeintlichen Mammonismus zum Ausdruck, indem er Carpetbagger mit der antisemitisch konnotierten Judas-Figuration verknüpfte.122 I know that the negroes [sic!] are banded together, as a race, under the lead of vile carpetbaggers and infamous scalawags, who would as quickly sell their God for thirty pieces of silver 119 Rev. B. M. Palmer, The Present Crisis and Its Issues: An Address Delivered Before the Literary Society of Washington and Lee University. Baltimore: John Murphy & Co. 1872, S. 22, LRWL, SPC. 120 [Unbekannt], „Carpet-Bagger“, The Daily Picayune, 28.10.1873, S. 4. 121 [Unbekannt], „Letter from Mack.“ In: Georgia Telegraph, 22.1.1869, S. 2. 122 Zur Judas-Figuration und ihrer häufigen Verwendung in antisemitischen Diskursen siehe u. a. Hyam Maccoby, Judas Iscariot and the Myth of Jewish Evil. London: Peter Halban 1992.
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as they have betrayed their race and country for office, promotion and the hope of stealing, swindling and plundering!123
Der Wahrnehmung von Carpetbaggern als Subjekte, die auf Grund ihres Materialismus die Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung betrieben, wurde häufig mittels animalisierender Metaphern Ausdruck verliehen. Auf diesem Weg wurden Carpetbagger als Kräfte markiert, die auf die Destabilisierung einer als ‚gut‘ verstandenen Ordnung abzielten und gegen die deshalb die Anwendung von Gewalt legitim sei.124 Allerdings stellte die Entmenschlichung von Carpetbaggern kein singuläres Phänomen dar. Vielmehr wurden im US-Süden zum Beispiel auch ‚Afroamerikaner‘ mit Tiermetaphern versehen. Während man vor diesem Hintergrund vorschnell zu dem Schluss kommen könnte, dass Carpetbagger und ‚Afroamerikaner‘ gleichartig konstruiert wurden, verweisen die Unterschiede zwischen den verwendeten Metaphern auf die Andersartigkeit der Subjektivitäten, die den beiden Gruppen jeweils zugeschrieben wurden.125 ‚Afroamerikaner‘ wurden im rassistischen Diskurs der USA zumeist mit körperlich starken, schwer zu bändigenden und kräftigen Wesen aus der Wildnis gleichgesetzt. Josiah C. Nott verglich in Types of Mankind „Neger“ mit wilden Pferden, Rindern und Eseln.126 Auf die gleichen Tiere griff auch der Soziologe George Fitzhugh zur Charakterisierung ‚afroamerikanischer‘ Menschen zurück.127 Die Verwendung dieser Metaphern konstruierte diese als Wesen, deren Gefahr für angloamerikanische Menschen von ihrer Kraft und Wildheit, also von ihrer körperlichen Stärke, ausging. Mit fundamental anderen Tiergruppen wurden Carpetbagger verknüpft. Sie wurden als Vampire, Geier, Blutegel oder wahlweise als Maden bezeichnet.128 All diesen Wesen ist eine Lebensweise gemein, die sich entwe123 Perry, „Ex-Gov. Perry“, 29.10.1872, S. 2. 124 Harumi Befu, „Demonizing the ‚Other‘.“ In: Robert Wistrich (Hg.): Demonizing the Other: Antisemitism, Racism and Xenophobia. Amsterdam: Harwood Academic Publishers 1999, S. 16–30, hier S. 20–22; Robert Wistrich, „The Devils, The Jews, and Hatred of the ‚Other‘.“ In: Wistrich (Hg.), Demonizing the Other, S. 1–15, hier S. 8–9. 125 Nicoline Hortzitz, „Die Sprache der Judenfeindschaft.“ In: Julius H. Schoeps und Joachim Schlör (Hg.), Antisemitismus: Vorurteile und Mythen. München et al.: Piper 1995, S. 19–40, hier S. 21. 126 Nott, Types of Mankind, S. 260. 127 Fitzhugh, Sociology, S. 89. 128 A. L. S., „The Republic“, 13.5.1869; Black, „Electoral Conspiracy“, 12.7.1877; [unbekannt], „Carpet-Baggers.“ In: Richmond Whig, 29.12.1871, S. 2; [unbekannt], „Carpet-Bagger“, Daily Picayune, 28.10.1873.
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der durch Parasitismus oder durch die Ernährung von verstorbenen Lebewesen auszeichnet. Allerdings wurden Carpetbagger nicht nur durch die Verknüpfung mit bestimmten Tierarten als ausbeuterische und zersetzende Wesen entworfen, sondern auch durch Vergleiche mit Naturkatastrophen. In dem im Süden breit rezipierten Artikel „The Electoral Conspiracy“, der in der North American Review publiziert wurde, hieß es: „A general conflagration, sweeping over all the State from one end to the other, and destroying every building and every article of personal property, would have been a visitation of mercy in comparison to the curse of such a government.“129 Diese zeitgenössische Konstruktion von Carpetbaggern als unproduktive Kräfte, die sich das Produkt der Arbeit Anderer einverleiben und so den Süden ausplündern, nahm auch der Richmond Whig in einem Artikel mit dem Titel „Carpet-Baggers“ vor.130 So schrieb der Autor über aus den Nordstaaten stammende Republikaner: This class consists of mere adventurers, who have gone to the South to plunder the offices, and at the same time, the money of the people; to fasten like leeches, on the blood vessels of the body politic, and never to drop off except from repletion; and, instead of adding to the productive industry of the people, to consume and squander the fruits of the industry without even as much as making an effort to render any return.131
Als eine Strategie der Ausplünderung identifizierten Zeitgenoss_innen die Besetzung politischer Ämter sowie die damit verbundene Okkupation der politischen Macht. Unter der Herrschaft der Carpetbagger sei das politische Amt von einer ehrwürdigen, der Allgemeinheit dienenden Institution zu einem Instrument des Raubes und der Bereicherung einiger Weniger geraten. In zeitgenössischen Sichtweisen pressten Carpetbagger aus den von ihnen besetzten Ämtern derartig viel Geld, dass Südstaatler_innen zu folgendem Schluss kamen: „Out of office he is a beggar; in office he grows rich till his eyes stick out with fatness.“132 Um ihre Widersacher, die angloamerikanischen Männer, unschädlich zu machen, hätten sich Carpetbagger der vermeintlich einfältigen ‚Afroamerikaner‘ bedient. Die Daily Picayune schrieb in diesem Sinne: 129 J. S. Black, „The Electoral Conspiracy.“ In: North American Review, Jg. 125, Nr. 257 ( Juli 1877), S. 1–35, hier S. 7. 130 [Unbekannt], [kein Titel]. In: The Daily Picayune, 16.2.1869, S. 4. 131 [Unbekannt], „Carpet-Baggers“, Richmond Whig, 29.12.1871. 132 [Unbekannt], „The Carpet-Bagger as Described by Senator Norwood.“ In: Georgia Telegraph, 10.11.1874, S. 2.
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The result of the war was, however, for a long time an effectual check to the further triumphs of Southern statesmanship. […] As a general thing he [der Carpetbagger, K. K.] was himself wholly untrained in statesmanship. His opportunity was the ignorance of the negroes and the powerlessness of the whites. The new order of things led to the invention of an entirely new system of political management, and the shrewd trickster took the place of the orator, the diplomatist and the jurist. Office was sought not for patriotic service, and not so much for personal distinction as for the chances it afforded for the rapid accumulation of wealth. Our Legislatures became open markets, where votes were bought and sold, and legislative bonanzas were knocked down to the highest bidders.133
Die Abschaffung der Sklaverei sowie die Verleihung bürgerlicher Rechte an afroamerikanische Männer wurde nicht etwa als Resultat einer politischen Überzeugung begriffen, sondern einzig und allein als Strategie zur Ausbeutung des Südens, als Instrumentarium, die eigene Herrschaft und damit auch die Voraussetzung für die parasitäre Aneignung des Reichtums des Südens zu perpetuieren. ‚Afroamerikaner‘ wiederum wurden in dieser Lesart wie folgt beschrieben: „[They are, K. K.] slave[s] to selfish and corrupt party demagogues, who make him the instrument of plunder, and, as far as possible, the shield of their own corruption.“134 Das ganze Ausmaß der Heimtücke und Verschlagenheit, das Carpetbaggern zugeschrieben wurde, manifestierte sich in zeitgenössischen Erklärungsversuchen zum gegen afroamerikanische Menschen gerichteten Terror. Zeitgenoss_innen identifizierten Carpetbagger als die Initiatoren der gewaltsamen Übergriffe auf African Americans. Der Daily Phoenix konstruierte einen Zusammenhang zwischen den Gewalttaten, der politischen Macht der Radicals/Carpetbagger und dem Wahlverhalten ‚afroamerikanischer‘ Männer: Many poor negroes had been killed most wantonly, indignation ran high among decent people, and the perpetrators of the bloody deeds deserved and would have received swift, stern punishment had civil law been permitted to act. But this did not suit the purposes of the radicals, who rejoiced as Torquemada might have done when the discovery of a score of heretics furnished him an excuse to torment and destroy a province. Applying the theory of the detective police, that among the beneficiaries of crime must be sought the perpetrators, one would conclude that the radical leaders prompted the assassination of Lincoln and the murder of negroes; for they alone derived profit from these acts.135
133 [Unbekannt], „Return to Statesmanship.“ In: The Daily Picayune, 10.8.1883, S. 4. 134 [Unbekannt], „The Status of the Negro.“ In: New Orleans Times-Democrat, 20.8.1868, S. 4. 135 Taylor, Destruction, S. 249.
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Die Befürworter eines gleichberechtigten Zusammenlebens von anglo- und afroamerikanischen Menschen gerieten in diesem Narrativ zu den eigentlichen, aber durch den Einsatz von List unerkannt bleibenden Feinden der als ignorant und ungebildet beschriebenen ‚Afroamerikaner‘.136 Diese würden auf Grund ihrer kognitiven Beschaffenheit nicht realisieren, dass das Handeln der Carpetbagger lediglich einem Ziel folge: „To flatter and promise and make fools of the colored people while they use their political power for their own promotion and profit.“137 Von einigen Südstaaler_innen wurde der Ku-Klux-Klan, der im Süden während der Reconstruction Era Angst und Schrecken unter African Americans verbreitete, gar als Instrument von Carpetbaggern und Radicals wahrgenommenen, um die (politische) Macht über den Süden zu bewahren.138 Das im Norden vorherrschende Bild vom Klan wurde als Resultat einer tendenziösen, von Carpetbaggern beeinflussten medialen Berichterstattung verstanden. Diese hätten dem Ku-Klux-Klan viele der von ihnen selbst initiierten oder verübten Verbrechen zugeschrieben und sich auf diesem Wege sowohl den politischen Rückhalt unter ‚Afroamerikanern‘ als auch die Unterstützung vieler Nordstaatler_innen gesichert.139 Richard Taylor, ein ehemaliger Senator in Louisiana und Sohn des früheren US-Präsidenten Zachary Taylor, beschrieb in seinem Werk über die Zeit der Reconstruction den KKK gar als eine Erfindung der durch Radicals kontrollierten Zeitungen. From this time forth the entire white race of the South devoted itself to the killing of negroes [sic!]. It appeared to be an inherent tendency in a slave-driver to murder a negro [sic!]. It was a law of his being, as of the monkey’s to steal nuts, and could not be resisted. Thousands upon thousands were slain. Favorite generals kept lists in their pockets, such was the ferocity of the slave-drivers, that unborn infants were ripped from their mothers’ wombs. … Thus „Ku-Klux“ originated, and covered the land with a network of crime. Earnest credulous women in New England had their feelings lacerated by these stories, in which they as fondly believed as their foremothers in Salem witches. As crocodiles conceal their prey until it becomes savory and tender and ripe for eating, so the Radicals kept these dark corpses to serve up to the public when important elections approached, or some especial villainy was to be enacted by the Congress. People who had never been
136 [Unbekannt], „Why Immigrants Do Not Come to South Carolina.“ In: Daily Phoenix, 19.9.1869, S. 2. 137 [Unbekannt], „Radical Patriotism.“ In: The Daily Picayune, 1.5.1873, S. 4. 138 Rabinowitz, „Limits of Victory“, S. 211. 139 Avary, Dixie, S. 318.
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south of the Potomac and Ohio Rivers knew all about this „Ku-Klux“; but I failed after many inquiries, to find a single man in the South who ever heard of it, saving in newspapers.140
Neben der Okkupation politischer Ämter galten die Finanzsphäre und dazugehörige Instrumente wie Spekulation und Zins als weitere Mittel, um den Süden auszuplündern. Die mit der Niederlage im Bürgerkrieg einhergehenden sozialen, politischen und ökonomischen Veränderungen bedingten zum einen den Niedergang der auf Arbeit von Sklav_innen basierenden Plantagenwirtschaft sowie zum anderen unter angloamerikanischen Farmern den Übergang von einem System der Subsistenz und des lokalen Tausches hin zu einer auf den Markt ausgerichteten Produktionsweise. Der Aufstieg des Sharecroppings, der Bedeutungsgewinn der Tenantry, die Aufgabe der Subsistenzwirtschaft unter Yeomen und die Ausrichtung der agrarischen Produktion auf den Markt veränderten grundlegend und nachhaltig die Struktur der Ökonomie und brachten neue ökonomische Akteure wie zum Beispiel die Zwischenhändler hervor oder stärkten deren Bedeutung.141 Zusammen mit den aus dem Bürgerkrieg resultierenden Kosten sorgten diese ökonomischen Entwicklungen sowie der erforderliche Ausbau der Infrastruktur für einen Anstieg der Verschuldung der privaten wie auch öffentlichen Haushalte.142 Zusätzlich stieg der Schuldenstand auch in Folge von Korruption, die wie im gesamten 19. Jahrhundert auch während der Reconstruction Era stark verbreitet war.143 Mit dieser expandierenden Finanzsphäre wurden Carpetbagger verknüpft. Als vermeintliche Akteure und Profiteure der zunehmenden Verschuldung des Südens wurden sie den Produzenten, die mit ‚ehrlicher‘ Arbeit Werte herstellten, gegenübergestellt. In zeitgenössischen Sichtweisen bildeten die von Carpetbaggern vorgenommenen Investitionen ein Mittel der Expropriation des Südens. „His investments, when analyzed, are fictitious only. He seeks to make his fortune by the manipulation of stocks or railroads. If he puts in $5,000 of his own money, it is to take out $20,000 of ours.“144 Für einige Südstaatler_innen mach140 Taylor, Destruction, S. 249 f. 141 Stephen A. West, From Yeoman to Redneck in the South Carolina Upcountry, 1850–1915. Charlottesville et al.: University of Virginia Press 2008, S. 101. 142 Ulrike Skorsetz, „Agricultural Changes Following the American Civil War and in the German Democratic Republic Following Reunification.“ In: Finzsch und Martschukat (Hg.), Different Restorations, S. 125–139, hier S. 130 f. 143 Zu Korruptionsvorwürfen gegenüber Carpetbaggern und Scalawags siehe u. a. Current, Terrible Carpetbagger; Ginsberg, Moses of South Carolina, S. 125. 144 [Unbekannt], „Carpetbaggers vs. Settlers.“ In: Daily Phoenix, 28.1.1871, S. 2.
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te die Spekulation einen solch charakteristischen Bestandteil der CarpetbaggerPersönlichkeit aus, dass sie diese in seinem Körper verankerten. Die Neigung zu „grenzenloser Spekulation“ materialisierte sich nach Ansicht dieser Zeitgenoss_innen in seinen Augen.145 Das zweite Instrumentarium der Finanzsphäre, das zeitgenössisch mit Carpetbaggern verknüpft wurde, bildeten öffentliche Kredite und Bonds. Generell war im Süden die Ansicht verbreitet, dass Kredite und das daraus resultierende Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner ein Mittel des Nordens darstellten, um den Süden ökonomisch zu kolonialisieren und sich die dort produzierten Waren und Werte anzueignen. Die Aufnahme von Krediten führte nach Ansicht von Südstaatler_innen zu folgender Konstellation: „We are the mere agents of Northern capitalists to till these lands for their benefit, until we become absolute serfs and quasi slaves.“146 Als vermeintliche Agenten des Kapitals aus dem Norden wurden Carpetbagger als Triebkräfte dieser finanziellen Verschwörung entworfen. Sie wurden als Strohmänner von Kapitalist_innen aus dem Nordens konstruiert, die vor Ort die dauerhafte politische Entmachtung und Unterwerfung des Südens organisierten und damit den reibungslosen Kapitalabfluss gewährleisteten. Zeitgenoss_innen beschrieben Carpetbagger in diesem Sinne als „monkey [sitting] on a handorgan, watching the keenest eyes of the whip of his master [‚der Kapitalist‘, K. K.]“.147 Während Carpetbaggern in dieser Sichtweise lediglich eine untergeordnete Rolle in der vermeintlichen Ausbeutung des Südens attribuiert wurde, sahen andere Südstaatler_innen in ihnen die primären Akteure einer über die Finanzsphäre organisierten Ausplünderung. Die Ausgabe von Bonds wurde in diesem Kontext zu einem speziellen, erstmalig von Carpetbaggern eingesetzten Werkzeug, das es ihnen ermöglicht habe, die Ausplünderung einer Region auf ein bis dahin in der Weltgeschichte unbekanntes Niveau zu heben. Selbst die von den gierigsten Prokonsuln des antiken Roms, von Normannen oder von Puritanern unter Cromwell verübten Raubzüge und Plünderungen hätten nicht den Charakter und vor allem nicht die Tragweite der von den Carpetbaggern verübten Verbrechen aufgewiesen. Letzteren sei es nämlich gelungen, die Ausbeutung, vermittelt über die Ausgabe von Bonds, über die Gegenwart hinaus in die Zukunft zu perpetuieren. 145 [Unbekannt], „Truthful Description of the Carpet-Bagger.“ In: The Anderson Intelligencer, 19.11.1874, S. 1. 146 F. Cuthbert, „Agricultural Economy – No. 2.“ In: Georgia Telegraph, 25.9.1868, S. 6. 147 [Unbekannt], „What Reconstruction Means.“ In: Columbus Daily Enquirer, 12.5.1870, S. 2.
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Die Carpetbaggern zugeschriebene neue Form der Exploitation überschritt jedoch nicht nur bisherige vermeintliche Grenzen der Zeit, sondern unterschied sich auch in anderer Hinsicht von den Methoden, die „altmodische Räuber“ verwendet hätten. Während diese ihre Beutezüge unmittelbar auf kriegerische Gewalt gestützt hätten, würden sich Carpetbagger der Mittelbarkeit der List und Tricks bedienen: But the American carpet-bagger has an invention unknown to those old-fashioned robbers, which increases his stealing power as much as the steam-engine adds to the mechanical force of mere natural muscles. He makes negotiable bonds of the State, signs and seals them „according to the forms of law,“ sells them, converts the proceeds to his own use, and then defies justice „to go behind the returns.“ By this device his felonious fingers are made long enough to reach into the pockets of posterity; he lays his lien on property yet uncreated; he anticipates the labor of coming ages and appropriates the fruits of it in advance; he coins the industry of future generations into cash, and snatches the inheritance from children whose fathers are unborn. Projecting his cheat forward by this contrivance and operating laterally at the same time, he gathers an amount of plunder which no country in the world would have yielded to the Goth or the Vandal.148
Während Südstaatler_innen Carpetbagger also auch der über die Finanzsphäre realisierten Ausbeutung ziehen, nahm diese Methode in zeitgenössischen Sichtweisen jedoch eine nachgeordnete Bedeutung gegenüber der Carpetbaggern ebenfalls zugeschriebenen Ausplünderung des Südens durch die Besetzung politischer Ämter ein. Die Idee einer durch Materialismus verdorbenen Subjektivität manifestierte sich auch in zeitgenössischen Vorstellungen von den Köpern der verhassten Nordstaatler. Um die vermeintliche Moral- und Tugendlosigkeit der Carpetbagger sichtbar zu machen, wurde ihnen die als Gefahr für die Südstaaten identifizierte, verdorbene Subjektivität auf die Haut geschrieben. Sie wurden wiederholt als nicht-weiß konstruiert, als „Beduin“, „Nigger“ oder als „schwarzer Teufel“ beschrieben.149 Belle Kearney, Verfechterin der White Supremacy, Suffragistin und späteres Mitglied im Senat von Mississippi, schrieb in ihrem autobiographischen Buch A Slaveholder’s Daughter über ihr erstes Zusammentreffen mit Republikanern aus dem Norden: 148 Black, „Electoral Conspiracy“, Juli 1877, S. 7 f. 149 [Unbekannt], [kein Titel]. In: The Daily Picayune, 16.2.1869, S. 4; [unbekannt], „An Unhappy Citizen.“ In: Charlotte Daily Observer, 10.10.1894, S. 2; [unbekannt], „Local Intelligence“, 13.8.1868.
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I was growing up like a weed, and heard nothing discussed but Republicans. Conjectures began to inform in my brain as to what sort of creatures they could be. I heard them called „black,“ but one day a Northern man, who was said to be a Republican, passed sufficiently near for me to discern that he was as fair as the proverbial lily and shaped like Apollo.150
Andere Zeitgenoss_innen kategorisierten die Hautfarbe von Carpetbaggern zwar als weiß, stellten aber dennoch deren Whiteness in Frage. Der ihnen zugeschriebene Charakter schied sie in den Augen von Südstaatler_innen fundamental von angloamerikanischen Männern und machte sie zu einer Art hybriden Wesen, die in ihrer körperlichen Materialität die Grenze zwischen angloamerikanischen und ‚afroamerikanischen‘ Menschen verflüssigten. Der Daily Phoenix schrieb in diesem Sinne, dass der Carpetbagger zwar einerseits eine weiße Haut habe, aber andererseits über ein „schwarzes Herz“ verfüge.151 Der New Orleans TimesDemocrat wiederum publizierte einen Artikel mit dem Titel „The Radical Conspiracy“, in dem der Verfasser Folgendes über Carpetbagger zu berichten wusste: This can be looked upon by no white man, with a white man’s feeling, as anything but an infamous outrage. If all men, regardless of previous condition, are entitled to the same courtesies and […] be treated in the same manner, the penitentiary convict and the woman of the town can properly claim the same high respect which we pay to the virtuous, the honest and the honorable. […] Our people are long-suffering enough, but they will not patiently permit themselves to be ground down by Sambo’s sable heel, at the bidding of conspirators who have robbed them all but honor. That this is a white man’s government has been inscribed on the Democratic banner.152
Die von Carpetbaggern betriebene Politik und die darin zum Vorschein kommenden gesellschaftlichen Vorstellungen wurden als unvereinbar mit Whiteness gesetzt. Durch die Konstruktion als nicht-weiß wurden sie deutlich im Lager der Widersacher_innen angloamerikanischer Südstaatler_innen verortet und ihnen außerdem die Fähigkeiten und der Charakter zu einer verantwortungsbewussten Regierung des Südens abgesprochen. Als Folge des ‚Blackening‘ der Carpetbagger schlugen einige Südstaatler_innen vor, die von ihnen identifizierte ‚Carpetbagger-Frage‘ mit den gleichen Mitteln zu lösen, mit denen sie auch die vermeintliche ‚Negro Question‘ zu be150 Kearney, Slaveholder’s Daughter, S. 30. 151 [Unbekannt], „The Carpet-Bagger.“ In: The Daily Phoenix, 10.9.1868, S. 2. 152 [Unbekannt], „Radical Conspiracy“, 11.7.1868.
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wältigen suchten. Seit der Gründung der Vereinigten Staaten bis in die Zeit nach der Aufhebung der Sklaverei beschäftigte die Frage nach dem Umgang mit ‚Afroamerikanern‘ angloamerikanische Menschen. Eine große Anzahl Angloamerikaner_innen war überzeugt, dass ein friedliches und solidarisches Zusammenleben zwischen beiden Gruppen innerhalb einer Nation nicht zu realisieren sei. Als Lösung dieses vermeintlichen Dilemmas schwebte ihnen, darunter auch herausragenden Persönlichkeiten wie den ehemaligen US-Präsidenten Thomas Jefferson und James Madison, die Migration respektive Deportation der ‚Afroamerikaner‘ nach Afrika vor.153 Diese Forderung fand im Verlauf der Reconstruction Era auch Anwendung auf Carpetbagger. So berichtete der New Orleans Times-Democrat mit folgenden Worten von einer politischen Versammlung: On defeating the carpet-baggers and the scalawags, prosperity would dawn, and peace smile over the land. On asking the question what we were to do with the carpet-baggers, a voice cried out, ‚Send them to Africa.‘ Another voice in the crowd said, ‚The dead will rise out of their graves agin’ them black devils yet [sic!].‘154
Vor dem Hintergrund der sich durch die Geschichte der USA ziehenden Verknüpfung von politischer und sozialer Macht mit angloamerikanischer Männlichkeit sind die multiplen zeitgenössischen Konstruktionen von Carpetbaggern als nicht-weiß als eine Strategie zu verstehen, die Besetzung politischer Ämter und die damit verknüpfte Machtausübung von Carpetbaggern zu delegetimieren und deren Entmachtung den Weg zu bereiten.
2.4 Carpetbagger, ‚Juden‘ und der Jew Carpetbagger im Leo FrankCase Wie sich bisher gezeigt hat, wurde die Figuration des Carpetbaggers in vielfacher Hinsicht von angloamerikanischen Südstaatler_innen als Akteur der sozialen, kulturellen und auch ökonomischen Transformationen des Südens konstruiert. Sie wurde als Triebkraft der Erosion und Unterminierung der sozial dominanten gesellschaftlichen Position angloamerikanischer Menschen im Allgemeinen und angloamerikanischer Männer im Besonderen wahrgenommen. Folglich muss 153 Eric Burin, Slavery and the Peculiar Solution: A History of the American Colonization Society. Gainesville et al.: University Press of Florida 2008, S. 6–33. 154 [Unbekannt], „Local Intelligence“, 13.8.1868.
Carpetbagger
der Kampf, den Angloamerikaner_innen während der Reconstruction Era gegen Carpetbagger führten, als ein Kampf angloamerikanischer Südstaatler_innen für die Restauration der dominanten Position, die sie zuvor im Old South inne gehabt haben, verstanden werden. Die Untersuchung zeitgenössischer Konstruktionen der Figuration des Carpetbaggers hat deutlich gemacht, dass Südstaatler_innen den Carpetbagger mit einer Subjektivität versehen haben, die während des Leo Frank-Case auch ‚Juden‘ zugeschrieben wurde. Obwohl einige Unterschiede dahingehend existierten, wie Carpetbagger und ‚Juden‘ entworfen wurden – zum Beispiel imaginierten Zeitgenoss_innen Carpetbagger als vor der Ausplünderung des Südens in bescheidenen oder gar ärmlichen Verhältnissen lebend, während ‚Juden‘ materieller Reichtum zugeschrieben wurde –, wiesen die ihnen jeweils attribuierten Subjektivitäten und Handlungsweisen eine Vielzahl bedeutsamer Ähnlichkeiten auf: beide wurden mit Aspekten des Niedergangs der agrarischen Gesellschaftsformation im Süden verknüpft beziehungsweise mit Facetten des Aufstiegs einer kapitalistischen Moderne, beide wurden als parasitäre Subjekte hergestellt, beide galten Zeitgenoss_innen als Triebkräfte einer Verschwörung gegen den Süden, beiden wurde ein skrupelloses und allein an der Maximierung ihres Profits ausgerichtetes ökonomisches Handeln angeheftet sowie ihre Whiteness in Zweifel gezogen oder gar negiert. Diese Parallelen und Überschneidungen in zeitgenössischen Subjektkonstruktionen werfen Fragen auf, ob angloamerikanische Südstaatler_innen bereits Verknüpfungen zwischen Carpetbaggern und ‚Juden‘ hergestellt haben, bevor während des Leo Frank-Case der Jew Carpetbagger konstruierte wurde? Der renommierte, aus dem Norden stammende Soziologe Edward A. Ross gab in dem breit rezipierten, 1914 publizierten Werk The Old World in the New eine Antwort auf diese Fragen. Er diagnostizierte eine weitgehende Wesensgleichheit von ‚Juden‘ und Yankees und stellte sie der im Süden hegemonialen Vorstellung angloamerikanischer Männlichkeit gegenüber. The good will of a Southern gentleman takes set forms such as courtesy and attention, while the kindly Jew is ready with any form of help that may be needed! So the South looked askance at the Jews as ‚no gentleman.‘ … On the other hand the Yankees have for the Jews a cousinly feeling. Puritanism was a kind of Hebraism and throve most in the parts of England where centuries before, the Jews had been thickest. With his rationalism, his shrewdness, his inquisitiveness and acquisitiveness, the Yankee can meet the Jew on his ground.155 155 Edward A. Ross, The Old World in the New: The Significance of Past and Present Immigration to the American People. London et al.: Routledge 2005, S. 160–161.
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Ross stellte also zur Zeit des Leo Frank-Case eine Verbindung zwischen der vermeintlich tugendhaften angloamerikanischen Männlichkeit im Süden und einer dort vorherrschenden Aversion gegen ‚Juden‘ und Yankees her. Wie jedoch konstruierten zeitgenössische Südstaatler_innen selbst das Verhältnis zwischen ‚Juden‘ und Carpetbaggern oder Yankees? Bereits in den Dekaden vor dem Leo Frank-Case stellten Südstaatler_innen Verbindungen zwischen Carpetbaggern und Yankees sowie ‚Juden‘ her. In einer Vielzahl zeitgenössischer Äußerungen identifizierten sie Analogien in dem jeweiligen ökonomischen Verhalten und Gebaren von Yankees und ‚Juden‘. In einem Artikel über die spezifischen ökonomischen Talente verschiedener Gruppen schrieb die Zeitung Peninsula Enterprise ‚Juden‘ und Yankees eine weitgehende Wesensgleichheit zu: „Twist a Yankee and you make a Jew.“156 Diese Verknüpfungen zwischen ‚Juden‘ und Carpetbaggern beziehungsweise Yankees wurden bereits zu Zeiten des Bürgerkriegs hergestellt. Zwischen 1861 und 1865 gewann Antisemitismus im Süden deutlich an Wirkmacht. ‚Juden‘ wurden für ökonomische Probleme verantwortlich gemacht, als „jüdische Shylocks“ der Ausbeutung des Südens geziehen und als Verräter ihrer Heimat gebrandmarkt.157 Ebenso wurden Yankees als Menschen wahrgenommen, die als Schmuggler und listige Händler am Krieg verdienten. Die in zentralen Punkten identische Konstruktion der beiden Gruppen zeigte sich auch in zeitgenössischen Beschreibungen von ‚Juden‘ als Spekulanten und von Yankees als „berechnende, das Geld anbetende, feige Rasse“.158 Andere Zeitgenoss_innen schrieben ‚Juden‘ und Yankees nicht nur eine weitgehende Wesensgleichheit zu, sondern stellten explizit Verbindungen zwischen ihnen her. Der Historiker John Simon schrieb, dass Südstaatler_innen annahmen, dass die während des Bürgerkriegs hoch rentable Baumwollspekulation Yankees und ‚Juden‘ gleichermaßen 156 [Unbekannt], „The Yankees of the Orient.“ In: Peninsula Enterprise, 22.11.1890, S. 4. 157 Zu Antisemitismus im Süden während des Bürgerkriegs siehe u. a. Gary L. Bunker und John J. Appel, „‚Shoddy‘ Antisemitism and the Civil War.“ In: Mendelsohn und Sarna (Hg.), Jews and the Civil War, S. 311–334; Leonard Dinnerstein, Antisemitism in America. New York et al.: Oxford University Press 1994, S. 32–34; Bertram Korn, American Jewry and the Civil War. Philadelphia: The Jewish Publication Society 2001, S. 208–224; Robert Michael, A Concise History of American Antisemitism. Lanham et al.: Rowman & Littlefield Publishers 2005, S. 88–90. 158 Cornelius Burckmyer, „Brief an seine Frau vom 20.12.1863.“ In: Charlotte R. Holmes (Hg.), The Burckmyer Letters, March, 1863–June, 1865. Columbia: The State Company 1926, S. 236; Charlotte Burckmyer, „Brief an ihren Mann vom 10.7.1863.“ In: Holmes, Burckmyer Letters, S. 76.
Carpetbagger
anzöge.159 Laut einer Zeitung aus Virginia waren die Händler, die die Kriegsengpässe nutzten, um ihre Waren zu deutlich gesteigerten Preise anzubieten, entweder ‚Juden‘, Yankees oder aber „Teufel“.160 Catherine Hopley, eine Britin, die im Zeitraum zwischen 1860 und 1862 im Süden der USA verweilte, fasste die im Süden zirkulierenden Vorstellungen von ‚Juden‘ und Yankees zusammen, indem sie darauf verwies, dass sowohl „Nordstaatler“ wie auch „deutsche Juden“ im Süden als „Wucherer“ bekannt gewesen seien.161 In ihrem Werk, in dem sie sich deutlich auf Seiten des Südens positionierte, kam sie deshalb zu folgendem Schluss: „No perquisites, no money-making contracts and frauds [were] heard of in the South, but such as were traced to Jews or Yankees.“162 Diese Vorstellungen, in denen ‚Juden‘ sowie Yankees oder Carpetbagger mit ähnlichen Subjektivitäten versehen wurden, überlebten den Bürgerkrieg und strukturierten auch zeitgenössische Weltwahrnehmungen während der Reconstruction Era. So monierte ein Zeitgenosse unmittelbar nach Kriegsende, dass Memphis zunehmend von Deutschen, Italienern, Freedman sowie „deutschen Juden“ und „radikalen puritanischen Yankees“ heimgesucht werde. Er charakterisierte diese Gruppen als „sharp-cutting, deep-gouging, devil-take-the-hindmost, almighty-dollar worshippers“.163 Auch der konkrete Kriegsverlauf wurde mitunter in Zusammenhang mit ‚Juden‘ gestellt. Militärische Operationen der Nordstaatenarmee galten als Resultat eines von ‚Juden‘ ausgeübten Einflusses. Interessanterweise erregten dabei auch militärische Operationen des Oberbefehlshabers der Unionstruppen und späteren US-Präsidenten Ulysses Grant, der während des Bürgerkriegs die antisemitische General Order Number Eleven erlassen hatte, diesen Verdacht.164 Einige Jahre nach Ende des Bürgerkriegs schrieb die Charleston Daily News über die Ursachen für eine militärische Operation Grants ins Mississippi Valley: „Henry [Henry Mack, der zuvor in dem Artikel als „liberaler Jude“ vorgestellt wurde, K. K.] had ‚monish‘ and Mr. Grant had ‚influence.‘“165 159 John Simon, „That Obnoxious Order.“ In: Mendelsohn und Sarna (Hg.), Jews and the Civil War, S. 353–361, hier S. 356. 160 Meshach Horner, „Horner’s Letters – No. 1.“ In: The Abingdon Virginia, 12.12.1862, S. 2. 161 Catherine Hopley, Life in the South: From the Commencement of the War, Vol. II. London: Chapman and Hall 1863, S. 41. 162 Dies., S. 187 f. 163 [Unbekannt], „Dab at Memphis.“ In: The Bolivar Bulletin, 26.1.1867, S. 2. 164 Zur General Order Number Eleven siehe u. a. Dinnerstein, Antisemitism in America, S. 32; Michael, American Antisemitism, S. 90–92; Simon, „Obnoxious Order.“ In: Mendelsohn und Sarna (Hg.), Jews and the Civil War, S. 353–361. 165 [Unbekannt], „Family Government. Jesse R. Grants Part in the Administration.“ In: The Charleston Daily News, 25.12.1869, S. 8.
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Zusätzlich wurden ‚Juden‘ wie auch Yankees als Menschen wahrgenommen, die in den Süden kamen und dort Läden eröffneten, um zu Wohlstand zu gelangen.166 Diese zeitgenössische Sichtweise manifestierte sich auch in Concerning the Jews, einem 1898 in Harper’s Monthly publizierten Essay von Mark Twain. In dieser Schrift, in der Twain den Ursachen für den sich in den 1890er Jahren ausbreitenden Antisemitismus nachspürte, setzte er ‚Juden‘ mit Yankees gleich. Analog zu zeitgenössischen Vorstellungen vom Carpetbagger beschrieb er ‚Juden‘ zusätzlich als Menschen, die nach dem Ende des Bürgerkriegs zahlreich in den Süden gekommen seien, um Südstaatler_innen mit ihrer Schläue, Hinterlist und ökonomischen Versiertheit auszuplündern.167 Auch in The Scattered Nation, einer philosemitischen Rede, die Zebulon Vance, der 37. und 43. Gouverneur von South Carolina, in den letzten Dekaden des l9. Jahrhunderts hunderte Mal im Süden hielt, wurde eine Verknüpfung zwischen ‚Juden‘ und Yankees hergestellt: Is there any man who hears me to-night who, if a Yankee and a Jew were to ‚lock horns‘ in a regular encounter of conmiercial [sic!] wits, would not give large odds on the Yankee? My own opinion is that the genuine ‚guessing‘ Yankee, with a jack-knife and a pine shingle, could in two hours time whittle the smartest Jew in New York out of his homestead in the Abraham covenant.168
Auch innerhalb populistischer Weltsichten, die den Gegenstand des nächsten Kapitels bilden, wurden ‚Juden‘ häufig als Kräfte konstruiert, die aus dem Norden über den Süden herfielen. Das zur Zeit des Populismus im Süden extrem verbreitete Gefühl erneut unter die Dominanz des Nordens zu geraten, die Verortung von ‚Juden‘ im Nordosten der USA sowie deren Verknüpfung mit Yankees stellten ‚Juden‘ nicht nur als der Südstaatengesellschaft fremd und bedrohlich her, sondern unterfütterten und stärkten im Süden zirkulierende Vorstellungen einer engen Verflochtenheit von ‚Juden‘ und Yankees. Trotz dieser bereits zu Zeiten des Bürgerkriegs hergestellten Verflechtungen zwischen ‚Juden‘ und Yankees beziehungsweise Carpetbaggern entwickelte diese Verknüpfung in der Reconstruction Era und in den folgenden Dekaden bei weitem nicht die Wirkmacht, die sie später während des Leo Frank-Case ausüben sollte. Obwohl die bisherige historiographische Forschung zu Antisemitismus während der Reconstruction Era im Allgemeinen und zu jüdischen Carpetbaggern 166 Clark, „Post-Civil War Economy“, S. 390–392. 167 Mark Twain, Concerning the Jews. New York: Harper & Brothers 1934, S. 10 f. 168 Zebulon Baird Vance, The Scattered Nation. New York: The Wolfer Press 1916, S. 60.
Carpetbagger
im Besonderen äußerst überschaubar ist, haben die wenigen Arbeiten gezeigt, dass der unter angloamerikanischen Südstaatler_innen verbreitete Hass auf Carpetbagger die Aversion gegen ‚Juden‘ deutlich überlagert hat. So haben Studien dargelegt, dass jüdische Carpetbagger während der Reconstruction Era zwar das Ziel (politischer) Angriffe bildeten und gegen jüdische Republikaner vereinzelt brutale Gewalttaten verübt wurden, allerdings scheint Antisemitismus für diese Akte nicht die primäre Antriebskraft dargestellt zu haben. Stattdessen wurden die betroffenen jüdischen Republikaner fast ausschließlich als Carpetbagger oder Radicals attackiert und nur selten als ‚Juden.‘169 Während also Südstaatler_innen bereits in den Dekaden vor dem Leo FrankCase Verbindungen zwischen ‚Juden‘ und Yankees oder Carpetbaggern herstellten, wurden diese Verknüpfungen im Verlauf der zweijährigen antisemitischen Raserei befeuert und gewannen deutlich an Wirkmacht. Der vom Frank-Lager engagierte Detektiv William J. Burns identifizierte Frank als „rassischen Nachfahren der Carpetbagger“ und traf damit auf Zustimmung innerhalb des Anti-Frank-Lagers.170 Bereits in den Jahren vor der Affäre waren unter angloamerikanischen Südstaatler_innen Wahrnehmungen einer erneuten Unterdrückung des Südens unter den Norden verbreitet.171 Während des Leo Frank-Case wurde diese Ima169 Ginsberg, Moses of South Carolina; Rockoff, „Carpetbaggers, Jacklegs“, S. 39–64; Webb, „Jewish Merchants and Black Customers“, S. 65. Zu Philosemitismus bzw. Antisemitismus während der Reconstruction siehe Anton Hieke, Jewish Identity in the Reconstruction South: Ambivalence and Adaption. Berlin et al.: De Gruyter 2013, insbes. Kapitel 2. 170 Zitiert nach: Jeffrey Melnick, Black-Jewish Relations on Trial: Leo Frank and Jim Conley in the New South. Jackson: University Press of Mississippi 2000, S. 34 f.; General Jackson, „Let Jew Libertines Take Notice.“ In: The Jeffersonian, 7.10.1915, S. 11. 171 Damit muss zumindest für den Kern des Anti-Frank-Lagers die Einschätzung des Historikers Jeffrey Melnick hinsichtlich der zeitgenössischen Bedeutung des Sektionalismus im USSüden modifiziert werden. Melnick versteht die enorme Bedeutung, die dem Sektionalismus während des Falls zukam, als Bruch mit einem Dekaden zuvor einsetzenden Prozess der Versöhnung zwischen dem Norden und dem Süden (Melnick, Black-Jewish Relations, S. 7). Allerdings berichtete The Jeffersonian bereits in den Jahren vor dem zweijährigen antisemitischen Furor von einer vermeintlichen erneuten Unterjochung des Südens durch den Norden bzw. von einer erneuten Ausplünderung des Südens durch Yankees (Buelah Johnson, „The Socialist Tramp.“ In: The Jeffersonian, 13.4.1911, S. 5; W. G. Kell, „Convict Lease System: Abuses.“ In: The Jeffersonian, 9.7.1908, S. 10; E. L. Thacker, „Cotton and Compulsory School Laws.“ In: The Jeffersonian, 11.1.1912, S. 4; [Thomas Watson?], „Drive the Highwaymen off the Public Road.“ In: Watson’s Weekly Jeffersonian, 18.4.1907, S. 9; ders., „Railroad Diplomacy.“ In: Watson’s Weekly Jeffersonian, 27.6.1907, S. 9; ders., „Mr. Bryan, Mr. Watson, Judge Parker, and the Campaign of 1904.“ In: Watson’s Weekly Jeffersonian, 19.9.1907, S. 9; ders., „First Blood for Harriman.“ In: The Jeffersonian, 12.8.1909, S. 8; ders., „If You Want to Make a Georgia Democrat Mad.“ In: The Jeffersonian, 23.3.1911, S. 9).
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gination aufs engste mit ‚Juden‘ verflochten. Im Vergleich zur Reconstruction Era kam es dabei zu bedeutsamen Verschiebungen in den Vorstellungen zum Verhältnis zwischen Carpetbaggern und ‚Juden‘. Während, wie bereits dargestellt, zu Zeiten der Reconstruction Era (jüdische) Carpetbagger und Scalawags fast ausschließlich als Republikaner attackiert wurden, wurden während des Leo FrankCase Carpetbagger retrospektiv als ‚Juden‘ entworfen. Auf diesem Weg wurden ‚Juden‘ nachträglich zu wichtigen Akteuren der sich angeblich während dieser Zeit vollziehenden Subordination des Südens gemacht. Nach der Niederlage im Bürgerkrieg hätten sich viele Plantagenbesitzer und Farmer in den Südstaaten in einem Zustand der Verarmung befunden. Auf Grund des Mangels an liquiden Mitteln seien sie zur Bewirtschaftung ihrer Güter und zum Erwerb der für die Kultivierung benötigten Werkzeuge auf die Aufnahme von Fremdkapital angewiesen gewesen. ‚Juden‘ hätten in dieser Situation den Kauf der dringend benötigten Waren gegen hoch verzinste Kredite ermöglicht und im Gegenzug das Land der Plantagenbesitzer und Farmer mit einer Hypothek belegt. Durch „gerissene Geschäftspraktiken“ sei es ‚Juden‘ also gelungen, Plantagenbesitzer und Farmer in ihre Abhängigkeit zu bringen, sich deren Besitz anzueignen und diese somit ihrer dominanten gesellschaftlichen Position zu berauben.172 Während ‚Juden‘ auf diese Weise mit dem während der Reconstruction Era voranschreitenden Niedergang der agrarischen Ordnung des Old South verknüpft wurden, assoziierte Thomas Watson ‚jüdische‘ Menschen durch ihre Beschreibung als Carpetbagger auch mit anderen Aspekten der sozioökonomischen und kulturellen Transformation des Südens. Nachdem General William Sherman Atlanta im Bürgerkrieg bis auf die Grundmauern zerstört habe, seien viele Carpetbagger in die Stadt gekommen, um deren Bevölkerung auszuplündern. Einen signifikanten Anteil unter ihnen hätten „die Nachfahren von Abraham, Isaak, und Jakob“ gebildet. ‚Juden‘ seien so zu einer die Geschicke und Entwicklung Atlantas dominierenden Gruppe geworden. Oder um es in den Worten Thomas Watsons auszudrücken: „The Jew carpet-bagger became the Mighty Man of Atlanta.“ Sie hätten sowohl Banken, Fabriken, Zeitungen wie auch Teile der Politik beherrscht.173 Auf diesem Weg verknüpfte Watson ‚Juden‘ mit der Durchsetzung der kapitalistischen Moderne im Süden sowie der dazugehörigen Industrialisierung und Urbanisierung. Auch in anderen Beschreibungen von ‚Juden‘ als Carpetbagger wurden diese häufig mit der kapitalistischen Moderne beziehungsweise mit Aspekten der sich 172 Jackson, „Jew Libertines“, 7.10.1915. 173 [Thomas Watson?], „The State versus John M. Slaton.“ In: The Jeffersonian, 23.9.1915, S. 1.
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vollziehenden gesellschaftlichen Umbrüche verbunden. So identifizierte Watson New York als den Ort, aus dem das Kapital und die großen Konzerne den Süden beherrschen würden.174 New York wiederum galt Watson und seinen Anhänger_innen als von ‚Juden‘ (im Verbund mit ‚Katholiken‘) beherrscht.175 In anderen Artikeln beschrieb Watson ‚Juden‘ als Kapitalisten, die mit den von ihnen gesteuerten Unternehmen den Süden ausbeuten würden.176 Institutionen wie die Atlanta Chamber of Commerce, die den Weg zur Durchsetzung industriell-kapitalistischer Verhältnisse bereiten halfen, wurden als Repräsentanten „fremder Money Lords“ wahrgenommen oder als „Jew-bootlicks“ bezeichnet.177 Verbunden mit dieser Konstruktion von ‚Juden‘ als vermögenden Kapitalisten war auch ein Wandel in den Methoden, derer sich die Jew Carpetbagger im Unterschied zu den Carpetbaggern der Reconstruction Era bedienten. So schrieb Watson in The Jeffersonian: It is no longer a question of Blue coats and bayonets. It is no longer a question of Republican Carpet-Baggers and Scalawags. It is no longer a question of the Federal Government trampling upon a State. No! It is a question of trampling upon the laws of the State for a price – a price paid by rich Jews, and accepted by rotten Gentiles.178
Während Watson Geld beziehungsweise die Finanzsphäre als Instrumente von ‚Juden‘ darstellte, um den Süden zu unterwerfen und auszurauben, hätten sich die Carpetbagger in der Reconstruction Era auf die Macht der Waffen gestützt. Diese Verschiebung stand in engem Zusammenhang mit veränderten Bedrohungswahrnehmungen angloamerikanischer Südstaatler_innen. Wurden Carpetbagger 174 Ders., „Make a Georgia Democrat Mad“, 23.3.1911. 175 Ders., [kein Titel]. In: The Jeffersonian, 9.9.1915, S. 1. 176 Ders., „The Leo Frank Case: Does the State of Georgia Deserve this Nation-Wide Abuse?“ In: The Jeffersonian, 9.4.1914, S. 1+6 f., hier S. 1; ders., „Glorious Achievement of the Haas Finance Committee.“ In: The Jeffersonian, 2.9.1915, S. 4 f., hier S. 4. 177 Zum Agieren der Atlanta Chamber of Commerce als Kraft der Industrialisierung und Urbanisierung siehe u. a. Atlanta Chamber of Commerce, Atlanta – A Twentieth-Century City. Atlanta: The Byrd Printing Company 1904, S. 6 f.; Atlanta City Council und Atlanta Chamber of Commerce, Hand Book of the City of Atlanta. Atlanta: The Southern Industrial Publishing Company 1898. [Thomas Watson?], „Here Is the Positive Evidence against John M. Slaton.“ In: The Jeffersonian, 9.9.1915, S. 1 f., hier S. 2; ders., „Mayor Woodward’s Speech in San Francisco, Slaton’s Venomous, Forked Tongue: The Jews Started This Fight, and They Are Keeping It Up.“ In: The Jeffersonian, 2.9.1915, S. 1+7–9, hier S. 7. 178 Ders., „Aftermath of Slaton’s Treachery in the Frank Case.“ In: The Jeffersonian, 8.7.1915, S. 1.
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während der Reconstruction überwiegend als eine den Old South zerstörende Kraft verstanden, wurde der Jew Carpetbagger primär mit Aspekten der fortschreitenden Expansion des industriellen Kapitalismus im Süden und der damit verbundenen Ausweitung urbanisierter und industrialisierter Räume verknüpft. Die rassifizierte Variante des Carpetbaggers wurde also im Gegensatz zu dem Carpetbagger der Reconstruction nicht zuvörderst als Aggressor gegenüber dem Old South, sondern vielmehr als Verkörperung des aufsteigenden New South gehasst.
2.5 Kapitelfazit Wie das Kapitel gezeigt hat, wurde die Figuration des Carpetbaggers während der Reconstruction Era und in den Dekaden danach als Triebkraft der Zerstörung der sozialen Ordnung des Old South entworfen. Sie wurde zum Knotenpunkt des unter vielen Südstaatler_innen herrschenden Ressentiments gegenüber dem Norden und der mit dem Ausgang des Bürgerkriegs verbundenen gesellschaftlichen Transformationen. Insbesondere die Aufhebung der Sklaverei, die Verleihung von Staatsbürgerrechten an afroamerikanische Männer sowie die Bildung republikanischer Regierungen, in denen Republikaner aus dem Norden und Afroamerikaner stark vertreten waren, verursachten fundamentale Bedrohungswahrnehmungen unter angloamerikanischen Südstaatler_innen. Dabei wurden diese vermeintlichen Gefahren unter einer rassifizierten und vergeschlechtlichten Linse gelesen. Es entstanden dichte Krisendiskurse angloamerikanischer Männlichkeit, die den Verlust der gesellschaftlich dominanten Position angloamerikanischer Männer mit dem Niedergang der republikanischen Ordnung des Südens verknüpften und die zu einer primär gegen afroamerikanische Männer gerichteten Terrorwelle führten. Als verantwortliche Akteure der als Bedrohung wahrgenommenen gesellschaftlichen Veränderungen identifizierten Zeitgenoss_innen Carpetbagger. Zeitgenössische Narrative konstruierten diese als Menschen, die aus dem Norden gekommen seien, um den am Boden liegenden Süden auszuplündern. Zu diesem Zweck hätten sie sich einer Verschwörung bedient. Diese Konspiration habe sich zum einen auf die Waffengewalt der im Süden stationierten föderalen Truppen und zum anderen auf die als ignorant und zur Selbstregierung unfähig entworfenen ‚Afroamerikaner‘ gestützt. Auf diesem Weg sei es den Carpetbaggern gelungen, die politische Macht sowie die daran gekoppelten politischen Ämter an sich zu reißen und sich die im Süden produzierten Werte anzueignen, ohne selbst produktiv tätig zu sein. Diese Wahrnehmung von Carpetbaggern als Menschen, die angloamerikanischen
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Männern unter Einsatz skrupelloser Mittel die gesellschaftliche Hegemonie entrissen sowie deren ökonomische Unabhängigkeit zerstörten, waren häufig eng mit der Vorstellung verwoben, dass Carpetbagger die Versklavung angloamerikanischer Männer betreiben würden. Vor diesem Hintergrund ist die Figuration des Carpetbaggers und der Kampf gegen die dieser Gruppe zugerechneten Menschen als eine Strategie angloamerikanischer Menschen zu verstehen, die gesellschaftlich dominante Stellung, die angloamerikanische Menschen im Allgemeinen sowie angloamerikanische Männer im Besonderen im Old South innehatten, zu restaurieren. Wie das Kapitel gezeigt hat, stellten angloamerikanische Südstaatler_innen bereits während des Civil War und in den anschließenden Dekaden Verflechtungen zwischen Carpetbaggern/Yankees und ‚Juden‘ her. Zeitgenössische Konstruktionen vom Carpetbagger/Yankee zum einen und ‚Juden‘ zum anderen wiesen vielfältige Parallelen, Analogien und Überschneidungen auf. Beiden wurde eine weitgehend identische Subjektivität zugeschrieben. Während die Wirkmacht und die Effekte dieser Verknüpfungen jedoch während der Reconstruction relativ gering waren, verdichteten sich diese hergestellten Verbindungen während des Leo Frank-Case massiv. Die Figuration des Jew Carpetbaggers entstand. In ihr verband sich der Hass auf den Norden beziehungsweise auf die Yankees oder Carpetbaggern zugeschriebene Unterminierung der gesellschaftlichen Ordnung des Südens mit dem während der Affäre wirksamen rabiaten Antisemitismus. Der im Lynching des jüdischen Fabrikleiters mündende Antisemitismus speiste sich somit auch aus der zu diesem Zeitpunkt im Süden seit Dekaden verbreiteten Vorstellung der Unterwerfung und Ausbeutung des Südens durch den Norden. Allerdings stellte der Jew Carpetbagger nicht bloß eine rassifizierte Reproduktion des Carpetbaggers aus Zeiten der Reconstruction Era dar. Vielmehr führte die immense Bedeutung, die die fortschreitende Industrialisierung und Urbanisierung des Südens innerhalb der Affäre einnahm, dazu, dass der Jew Carpetbagger primär als Akteur des Aufstiegs der kapitalistischen Moderne konstruiert wurde, während der Carpetbagger der Reconstruction hauptsächlich als eine Triebkraft verstanden wurde, die den Niedergang des Old South vorangetrieben habe. Während beide Figurationen also aufs engste mit denselben gesellschaftlichen Transformationen verwoben wurden, unterschieden sie sich darin, welche Seite dieses Wandels, also der Niedergang des Old South oder der Aufstieg des New South, primär mit ihnen verknüpft wurde. Ebenso wie der Carpetbagger stellte also die Konstruktion des Jew Carpetbaggers eine Strategie angloamerikanischer Menschen dar, die an den gesellschaftlichen Wandel geknüpften Krisenwahrnehmungen angloamerikanischer Männlichkeiten zu überwinden und die gesellschaftlich dominante Position angloamerikanischer Männer wiederherzustellen.
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3 „The Rothschilds’ world with its Shylock children are laughingatusAmericansheep“:Angloamerikanische Männlichkeit und Antisemitismus im Populismus Am 15. April 1896 veröffentlichte Sound Money, eine Zeitschrift der populistischen Bewegung, eine Karikatur von Watson Heston mit dem Namen „History Repeats Itself.“1 Die Zeichnung zeigt einen leidenden und ans Kreuz gebundenen Uncle Sam, der von vier Männern gequält und ausgeplündert wird. Zwei repräsentieren die beiden großen Parteien der USA, die Republikanische sowie die Demokratische. Hinter ihnen steht jeweils ein ‚Jude‘, der als „Wall St. Pirate“ bezeichnet wird. Sie halten eine Lanze mit der Aufschrift „Single Gold Standard“ respektive einen Essigschwamm mit der Aufschrift „Interest on Bonds“ in der Hand, mit denen sie Uncle Sam Verletzungen zufügen und seine Qualen und Leiden vergrößern. Wie sowohl eine über dem Kopf von Uncle Sam angebrachte Tafel mit dem Schriftzug „This Is US in the Hands of the Jews“ als auch die Inszenierung von ‚Juden‘ als treibenden Kräften hinter den beiden großen Parteien deutlich machen, wähnte der Karikaturist die Vereinigten Staaten von Amerika unter der Kontrolle von ‚Juden‘.2 Allerdings identifizierte er nicht nur eine Krise der USA im Allgemeinen und der durch Uncle Sam emblematisch dargestellten angloamerikanischen Männlichkeit im Besonderen, sondern er präsentierte auch eine Lösung für die von ihm identifizierten gesellschaftlichen Probleme. So ist in der Karikatur darüber hinaus ein Mann zu sehen, der stranguliert an einem Baum hängt. Die Unterschrift zu dieser Sequenz der Zeichnung lautet: „[W]hat Judas ought to do.“ Obwohl Heston nicht explizit zur Ermordung von ‚Juden‘ aufforderte, stellte die Karikatur vor dem Hintergrund der weit verbreiteten Lynchings afroamerikanischer Menschen im US-Süden, bei denen die Opfer oftmals erhängt wurden, Verbindungen zwischen ‚Juden‘ und ‚Afroamerikanern‘ her, beziehungsweise entwarf erstere als eine 1
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Watson Heston, „History Repeats Itself.“ In: Sound Money, 15.4.1896, [keine Seitenangabe], URL: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:18960415_antisemitic_political_ cartoon_in_Sound_Money.jpg, letzter Zugriff am 22.03.2015. Zu Karikaturen der populistischen Bewegung siehe Worth Robert Miller, Populist Cartoons: An Illustrated History of the Third-Party Movement of the 1890s. Kirksville: Truman State University Press 2011. Die Karikatur rekurriert zusätzlich auf in den USA weit verbreitete antijudaistische Elemente wie z. B. den Vorwurf, dass ‚Juden‘ Christus ermordet hätten (siehe u. a. Jeremy Cohen, Christ Killers: The Jews and the Passion from the Bible to the Big Screen. Oxford et al.: Oxford University Press 2007). Da die Arbeit auf Grund ihres Forschungsinteresses, wie in der Einleitung dargelegt, Aspekte des Antijudaismus weitgehend unberücksichtigt lässt, werden diese auch an dieser Stelle nicht tiefergehend analysiert.
Die ‚Krise‘ des Agrarsektors
Bedrohung für die angloamerikanische Mehrheitsgesellschaft, der mit den gleichen Methoden zu begegnen sei wie den von ‚Afroamerikanern‘ ausgehenden Gefahren. Abb. 1: Watson Heston, „History Repeats Itself.“ In: Sound Money, 15. 4. 1896.
Die in der Karikatur vorgenommene Konstruktion von ‚Juden‘ als treibende Kräfte einer Aggression gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika sowie gegenüber angloamerikanischer Männlichkeit bildet den Untersuchungsgegenstand dieses Kapitels. Dabei soll zum einen danach gefragt werden, welche historischen Entwicklungen von Zeitgenoss_innen mit einer Krise angloamerikanischer Männlichkeit in Verbindung gesetzt wurden, zum anderen soll untersucht werden, auf welche Art und Weise ‚Juden‘ mit dieser vermeintlichen Krisenhaftigkeit verknüpft wurden. Um den Verflechtungen zwischen (vergeschlechtlichten) Bedrohungswahrnehmungen und der Konstruktion von ‚Juden‘ als Verantwortliche für die Probleme weiter Teile des Agrarsektors nachzuspüren, werde ich in einem ersten Schritt die zeitgenössischen Krisendiskurse in ihren historischen Kontext einbetten.
3.1 Die‚Krise‘desAgrarsektorsundderAufstiegderFarmers’Alliance In den Dekaden nach dem Bürgerkrieg vollzog sich in der ökonomischen Struktur des Südens ein tiefgreifender Wandel. Die Industrialisierung, die langsam aber stetig voranschritt, brachte, wie bereits erwähnt, eine steigende Anzahl an Industriearbeiter_innen hervor. Damit verbunden war die Expansion urbaner Räume. Jedoch stellten diese Veränderungen nicht die einzigen Transformationen innerhalb der Südstaatenökonomie dar.3 Vielmehr kam es auch in weiten 3
Zur Industrialisierung und Urbanisierung des Südens und den daran gekoppelten, vergeschlechtlichten und rassifizierten Krisenwahrnehmungen angloamerikanischer Südstaatler_innen siehe das anschließende Kapitel der vorliegenden Arbeit.
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Teilen des Agrarsektors zu bedeutsamen Veränderungen, die in einer deutlich sinkenden Zahl von Yeomen resultierten und bei vielen angloamerikanischen Südstaatler_innen tiefgreifende Ängste auslösten.4 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation für viele Farmer im Süden drastisch. Hohe, aus Monopolstellungen von Eisenbahngesellschaften resultierende Transporttarife sowie hohe Zinssätze verschlechterten die ökonomischen Rahmenbedingungen für viele Farmer.5 Zusätzlich hatten weite Teile des Agrarsektors im Süden mit den Folgen der Einführung des Crop Lien System zu kämpfen. Ende der 1860er Jahre wurde das Lien System implementiert, um Farmer mit dem dringend benötigten Kapital für den Wiederaufbau der durch den Bürgerkrieg zerstörten Agrarökonomie zu versorgen. Es bot ihnen die Möglichkeit, zukünftige Ernteerträge gegen Kredit zu verpfänden.6 Als Unterstützung für den Agrarsektor intendiert, initiierte es jedoch einen Prozess der zunehmenden Verschuldung und Überschuldung. Wurde im Süden bis zum Bürgerkrieg auf der Mehrheit der Farmen Subsistenzwirtschaft betrieben, erzwang das Crop Lien System eine zunehmende Ausrichtung auf den Markt.7 Die Aufnahme von Krediten machte 4 5
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Eric Foner, A Short History of Reconstruction, 1863–1877. New York: Harper & Row Publishers 1990, S. 169 f. Matthew Hild, Greenbackers, Knights of Labor and Populists: Farmer-Labor Insurgency in the Late-Nineteenth-Century South. Athens et al.: The University of Georgia Press 2007, S. 10. Eine fundierte Analyse der Geschichte des Lien System liefert u. a. Harold D. Woodman, New South – New Law: The Legal Foundations of Credit and Labor Relations in the Postbellum Agricultural South. Baton Rouge et al.: Louisiana State University Press 1995. Edward Ayers, The Promise of the New South: Life after Reconstruction. New York et al.: Oxford University Press 1992, S. 13; Donna A. Barnes, Farmers in Rebellion: The Rise and Fall of the Southern Farmers’ Alliance and People’s Party in Texas. Austin: University of Texas Press 1984, S. 1–3; Bruce G. Carruthers und Sarah Babb, „The Color of Money and the Nature of Value: Greenbacks and Gold in Postbellum America.“ In: American Journal of Sociology, Jg. 101, Nr. 6 (Mai 1996), S. 1556–1591, hier S. 1562; Lawrence Goodwyn, The Populist Moment: A Short History of the Agrarian Revolt in America. New York et al.: Oxford University Press 1978, S. 20–25; William F. Holmes, „The Southern Farmers’ Alliance: The Georgia Experience.“ In: The Georgia Historical Quarterly, Jg. 72, Nr. 4 (Winter 1988), S. 627–652, hier S. 628; Robert McMath, American Populism: A Social History, 1877–1898. New York: Hill and Wang 1993, S. 31 f.; Stephen A. West, From Yeoman to Redneck in the South Carolina Upcountry, 1850–1915. Charlottesville et al.: University of Virginia Press 2008, S. 109; Woodman, New South – New Law, S. 5–7; C. Vann Woodward, Origins of the New South, 1877–1913: A History of the South. Baton Rouge: Louisiana State University Press 1971, S. 181. Neben der Einführung des Lien System waren auch noch andere Faktoren wie der Ausbau der Infrastruktur oder eine freiwillig vorgenommene Ausrichtung der
Die ‚Krise‘ des Agrarsektors
es für Farmer in steigendem Umfang notwendig, Cash Crops wie beispielsweise Baumwolle anzubauen. Im Zuge dieser Entwicklung kam es in den Dekaden nach dem Bürgerkrieg zu einer rapiden Ausdehnung der Baumwollproduktion. Zusammen mit dem erhöhten Einsatz von Düngemitteln sowie gestiegenen Ernteerträgen in anderen Erdteilen führte dies zu einer Überproduktionskrise und damit zu einem drastischen Preisverfall.8 Während in den frühen 1870er Jahren der Erlös für ein Pfund Baumwolle 20,5 Cent betrug, sank er bis 1893 auf 4,59 Cent pro Pfund. In den 1890ern lag der Ertrag mit Ausnahme eines Jahres immer unter den Produktionskosten.9 Das Lien System kreierte somit einen Kreislauf der zunehmenden Verschuldung.10 Verschärft wurde die ökonomische Situation vieler Farmer durch geld- und währungspolitische Maßnahmen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgeführt wurden und die einer internationalen Entwicklung folgten, in der Großbritannien als Vorreiter agierte.11 Mit dem National Banking Act von 1863, der 1873 im Zuge des Fourth Coinage Act durchgesetzten Demonetisierung des Silberdollars sowie dem Resumption Act von 1875, mit dem der Goldstandard festgesetzt wurde, kam es zu weitreichenden Veränderungen innerhalb des Geld- und Währungssystems.12 Diese Maßnahmen führten dazu,
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agrarischen Produktion einer wachsenden Zahl an Farmern auf den Markt relevant für diese Entwicklung (Ann Paton Malone, „Piney Woods Farmers of South Carolina, 1850–1900: Jeffersonian Yeomen in an Age of Expanding Commercialism.“ In: Agricultural History, Jg. 60, Nr. 4 (Herbst 1986), S. 51–84, hier S. 56. Steven Hahn, The Roots of Southern Populism: Yeoman Farmers and the Transformation of the Georgia Upcountry, 1850–1890. New York et al.: Oxford University Press 1983, S. 145–149; Harold D. Woodman, „Class, Race, Politics, and the Modernization of the Postbellum South.“ In: The Journal of Southern History, Jg. 63, Nr. 1 (Februar 1997), S. 3–22, hier S. 3 f. Connie L. Lester, Up from the Mudsills of Hell: The Farmers' Alliance, Populism, and Progressive Agriculture in Tennessee, 1870–1915. Athens et al.: University of Georgia Press 2006, S. 23. Don Doyle, New Men, New Cities, New South: Atlanta, Nashville, Charleston, Mobile, 1860–1910. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 1990, S. 8. Eine auf Frankreich ausgerichtete Analyse des Bimetallismus sowie des internationalen Aufstiegs des Goldstandards liefert Marc Flandreau, The Glitter of Gold: France Bimetallism and the Emergence of the International Gold Standard 1848–1873. Oxford et al.: Oxford University Press 2004. Zum National Banking Act siehe u. a. John A. James und David F. Weiman, „The National Banking Acts and the Transformation of New York City Banking during the Civil War Era.“ In: The Journal of Economic History, Jg. 71, Nr. 2 ( Juni 2011), S. 338–362; Matthew Jaremski, „State Banks and the National Banking Acts: Measuring the Response to Increased Financial Regulation, 1860–1870.“ In: Journal of Money, Credit and Banking, Jg. 45, Nr. 2–3 (März–April 2013), S. 379–399; George A. Selgin und Lawrence H. White, „Monetary Re-
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dass die US-Regierung deutlich an Einfluss auf die Geld- und Währungspolitik verlor und somit ein bedeutendes Instrument der ökonomischen Krisenpolitik preisgab.13 Mit diesen währungspolitischen Veränderungen war eine zunehmende Verknappung der sich im Umlauf befindlichen Geldmenge verbunden. Zirkulierten 1865 noch $30,35 pro Kopf, sank der Betrag bis 1880 auf $19,36.14 Dadurch kam es in den USA zwischen 1875 und 1896 durchschnittlich zu einer jährlichen Deflationsrate von 1,7 Prozent, wobei der Preisverfall für Agrarprodukte mit etwa 3 Prozent pro Jahr überproportional hoch war. Das Absinken des Preisniveaus bedeutete für Farmer nicht nur sinkende Erträge, sondern auch real einen Anstieg ihres Verschuldungsgrades.15 Als Reaktion auf anhaltende Proteste gegen die Durchsetzung des Goldstandards wurde 1890 der Sherman Silver Purchase Act verabschiedet. Dieser sah vor, dass die Bundesregierung jeden Monat 4,5 Millionen Unzen Silber ankaufte. Ziel dieses Gesetzes war es, zum einen der anhaltenden Deflation ein Ende zu setzen und zum anderen den unter Druck geratenen Preis für Silber zu stabilisieren. Die Effekte fielen jedoch geringer als erwartet aus, sodass das Gesetz bereits Ende 1893 wieder aufgehoben wurde.16 Ab 1893 führte eine schwere Finanzkrise verbunden mit einer ökonomischen Depression zu einer weiteren Zuspitzung der wirtschaftlichen Lage in Teilen des
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form and the Redemption of National Bank Notes, 1863–1913.“ In: The Business History Review, Jg. 68, Nr. 2 (Sommer 1994), S. 204–243. Zur Demonetisierung von Silber, der Einführung des Goldstandards und den sich um diese Maßnahmen entspinnenden gesellschaftlichen Debatten und Kämpfen siehe u. a. Milton Friedman, „The Crime of 1873.“ In: The Journal of Political Economy, Jg. 98, Nr. 6 (Dezember 1990), S. 1159–1194; Jason Goodwin, Greenback: The Almighty Dollar and the Invention of America. New York: Henry Holt and Company 2003; Hild, Greenbackers, Knights of Labor, S. 20 f.; Perry Mehrling, „Retrospectives: Economists and the Fed: Beginnings.“ In: The Journal of Economic Perspectives, Jg. 16, Nr. 4 (Herbst 2002), S. 207–218; Gretchen Ritter, Goldbugs and Greenbacks: The Antimonopoly Tradition and the Politics of Finance in America, 1865–1896.Cambridge et al.: Cambridge University Press 1997; Selgin und White, „Monetary Reform“, S. 205; Heinz Tschachler, The Greenback: Paper Money and American Culture. Jefferson et al.: McFarland & Company, Inc., Publishers 2010; Irwin Unger, The Greenback Era: A Social and Political History of American Finance, 1865–1879. Princeton: Princeton University Press 1964. Hild, Greenbackers, Knights of Labor, S. 21. Friedman, „Crime of 1873“, S. 1170–1172. McMath, American Populism, S. 184; Bruce Palmer, „Man over Money“: The Southern Populist Critique of American Capitalism. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 1980, S. 148.
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primären Sektors.17 Die (Krisen-)Politik und die Rhetorik der Regierung schürten zusätzlich die Wut und Unzufriedenheit der Farmer.18 Der Agrarminister des Kabinetts von Präsident Grover Cleveland führte die dramatische Situation vieler Farmer auf ihr individuelles Versagen zurück: „The intelligent, practical, and successful farmer needs no aid from the government. The ignorant, impractical, and indolent farmer deserves none.“19 Als Reaktion auf die ökonomische Situation vieler Farmerhaushalte entstanden im Süden Organisationen, die darauf abzielten, den Interessen von Farmern Nachdruck zu verleihen. Eine ihrer zentralen Forderung war unter anderem die Abkehr vom eingeschlagenen Kurs in der Währungs- und Geldpolitik. Sie propagierten die unbegrenzte Prägung von Silberdollars, also eine Rückkehr zum Bimetallismus und somit eine strikt inflationäre Geldpolitik.20 Die einflussreichste Vereinigung von Farmern gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Farmers’ Alliance, in der einige andere agrarische Organisationen aufgingen.21 1877 in Lampasas County, Texas, unter dem Namen Knights of Re17
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Zur Finanzkrise von 1893 und der damit verbundenen Depression siehe u. a. Charles Hoffmann, The Depression of the Nineties: An Economic History. Westport: Greenwood Publishing Corporation 1970; Douglas W. Steeples und David O. Whitten, Democracy in Desperation: The Depression of 1893. Westport et al.: Greenwood Press 1998; Gerald T. White, The United States and the Problem of Recovery after 1893. Tuscaloosa: The University of Alabama Press 1982; Elmus Wicker, Banking Panics of the Gilded Age. Cambridge et al.: Cambridge University Press 2000. McMath, American Populism, S. 181–184. Zitiert nach: McMath, American Populism, S. 182. Carruthers und Babb, „The Color of Money“, S. 1564 f.; Hild, Greenbackers, Knights of Labor, S. 21; Michael Kazin, The Populist Persuasion: An American History. New York: Basic Books 1995, Kap. 2; Kathryn Morse, The Nature of Gold: An Environmental History of the Klondike Gold Rush. Seattle et al.: University of Washington Press 2003, S. 28–36; Michael Perman, The Road to Redemption: Southern Politics, 1869–1879. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 1984, S. 273 f.; Catherine McNicol Stock, Rural Radicals: Righteous Rage in the American Grain. Ithaca: Cornell University Press 1996, S. 65; Tschachler, The Greenback, S. 172 f. William F. Holmes, „The Southern Farmers’ Alliance and the Georgia Senatorial Election of 1890.“ In: The Journal of Southern History, Jg. 50, Nr. 2 (Mai 1984), S. 197–224, hier S. 197. Bevor sich die Southern Farmers’ Alliance gründete und zu einer führenden Kraft der populistischen Bewegung in den 1890er Jahren wurde, existierten mit den Patrons of Husbandry, die weitläufig unter der Bezeichnung The Grange Bekanntheit erlangten, und mit The Agricultural Wheel im Süden bereits Farmerorganisationen, die die unbegrenzte Prägung von Silberdollars als wichtige Maßnahme zur Überwindung der ökonomischen Probleme weiter Teile des Agrarsektors des Südens verstanden (siehe u. a. Ayers, New South, S. 214–216; Hild, Greenbackers, Knights of Labor, S. 12–20). Innerhalb der Grange existierte allerdings
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liance gegründet, hatte sie in ihren Anfangsjahren mit Problemen zu kämpfen. Dies sollte sich jedoch gegen Mitte der 1880er Jahre rapide ändern. Mit der Wahl von Charles W. Macune zum Vorsitzenden der Southern Farmers’ Alliance im Jahr 1886 begann ein rasanter, wenn auch nur wenige Jahre anhaltender Aufstieg der Organisation zu einem wichtigen und einflussreichen Akteur in der politischen Arena der Südstaaten. Unter der Ägide von Macune weitete die Farmers’ Alliance ihr Betätigungsfeld über die Grenzen der ehemaligen Südstaaten auf die gesamten Vereinigten Staaten von Amerika aus. Insbesondere in Staaten wie Kansas und den beiden Dakotas stellte die Allianz gegen Ende der 1880er Jahre einen signifikanten politischen Einflussfaktor dar und war in diesen Staaten stärker organisiert als die Northern Farmers’ Alliance, mit der sich die Southern Alliance 1889 letztendlich zusammenschloss. Während in den Südstaaten im Jahr 1890 852.000 Farmer über eine Mitgliedskarte der Farmers’ Alliance verfügten, waren es bundesweit im selben Jahr insgesamt über 1,2 Millionen. Der Großteil ihrer Mitglieder rekrutierte sich aus Yeomen, also aus unabhängigen Farmern, die ihren eigenen Grund und Boden bewirtschafteten.22 Während ihrer Hochphase in den späten 1880er und frühen 1890er Jahren konnte die Organisation erfolgreich Aktionen wie beispielsweise den Jute-Boykott durchführen.23 Auch in der Politik erzielte die Allianz in diesen Jahren in einigen Bundesstaaten große Erfolge. Bei den Wahlen von 1890 gingen sechs der zehn Sitze, die im US-Kongress von Abgeordneten aus Georgia besetzt wurden, an Mitglieder der Farmers’ Alliance, die auf dem Ticket der Demokratischen Partei zur Wahl angetreten waren. Unter ihnen befand sich auch Thomas Watson, der spätere Mastermind des Anti-Frank-Lagers. Auf bundesstaatlicher Ebene sicherten sich Kandidaten der Farmers’ Alliance im gleichen Jahr in Georgia 30 von 40 Senatssitzen und 138 der 175 Sitze im Abgeordnetenhaus. Insgesamt wurden acht der 1890 gewählten Abgeordnetenhäuser im Süden von Mitgliedern oder Sympathisanten der Farmers’ Alliance dominiert.24
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auch ein mächtiger Flügel, der die Demokratische Partei unterstützte und die Forderungen der Silverites ablehnte (Hild, Greenbackers, Knights of Labor, S. 13 f.; McMath, American Populism, S. 61). William F. Holmes, „Populism: In Search of Context.“ In: Agricultural History, Jg. 64, Nr. 4 (Herbst 1990), S. 26–58, hier S. 27–31; ders., „Georgia Experience“, S. 627; Lester, Mudsills of Hell, S. 63; McMath, American Populism, S. 66–72; Ritter, Goldbugs, S. 210–226. Zum Jute-Boykott siehe William F. Holmes, „The Southern Farmers’ Alliance and the Jute Cartel.“ In: The Journal of Southern History, Jg. 60, Nr. 1 (Februar 1994), S. 59–80; McMath, American Populism, S. 95–97. Holmes, „Georgia Senatorial Election“, S. 206; McMath, American Populism, S. 147–149.
Die ‚Krise‘ des Agrarsektors
Allerdings fand der Aufstieg der Farmers’ Alliance bereits 1891 wieder ein Ende. Die Mitgliederzahlen begannen zu sinken und Wahlerfolge wie 1890 konnten nicht mehr wiederholt werden. Jedoch bedeutete der Niedergang der Farmers’ Alliance nicht das Aus der von ihr vertretenen gesellschaftspolitischen Ideen und Vorstellungen; vielmehr lebten diese während der 1890er Jahre in der populistischen Bewegung fort.25 Während der Populismus seinen Rückhalt primär unter Farmern verzeichnen konnte und die Farmers’ Alliance einen zentralen Akteur der populistischen Revolte bildete, waren außerdem auch Arbeiterorganisationen stark in der populistischen Bewegung vertreten.26 Programmatisch zielten Populist_innen auf die Beseitigung von Monopolstellungen, die Trusts in unterschiedlichen ökonomischen Zweigen eingenommen hatten. Anhänger_innen des Populismus identifizierten deren daraus resultierende Machtposition als eine Wurzel der Pauperisierung wie auch der wahrgenommenen politischen Entmündigung vieler Farmer_innen und Arbeiter_innen.27 1891 gründete sich mit der People’s Party eine eigenständige populistische Partei, die allerdings bereits 1900 wieder aufgelöst wurde.28 Ebenso interessant wie die Ursachensuche für den Niedergang der Farmers’ Alliance und später des Populismus ist jedoch die Frage, warum die Organisation innerhalb einer derartig kurzen Zeit einen solch rasanten Aufstieg vollziehen konnte. Wieso konnte sie für so viele kleine, unabhängige Farmer dermaßen attraktiv und verheißungsvoll sein? Bevor im weiteren Verlauf des Kapitels Antworten auf diese Frage gegeben werden, werden zunächst die bisherigen historiographischen Auseinandersetzungen mit der populistischen Bewegung 25
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Zur Geschichte der populistischen Bewegung siehe u. a. Gene Clanton, Populism: The Humane Preference in America, 1890–1900. Boston: Twayne Publishers 1991; Goodwyn, Populist Moment; Hild, Greenbackers, Knights of Labor; Richard Hofstadter, The Age of Reform: From Bryan to F. D. R. New York: Alfred A. Knopf 1955; McMath, American Populism; Jeffrey Ostler, Prairie Populism: The Fate of Agrarian Radicalism in Kansas, Nebraska, and Iowa, 1880–1892. Lawrence: University Press of Kansas 1993. Donna A. Barnes, „People’s Party.“ In: Handbook of Texas Online. URL: http://www. tshaonline.org/handbook/online/articles/wap01, letzter Zugriff am 31.5.2014; Hild, Greenbackers, Knights of Labor; ders., „‚Workingmen’s Democracy‘ in the Deep South: The Knights of Labor in Georgia Politics, 1884–1892.“ In: James M. Beeby (Hg.), Populism in the South Revisited: New Interpretations and New Departures. Jackson: University Press of Mississippi 2012, S. 36–55; Michael Pierce, „Agrarian Rebel, Industrial Workers: Tom Watson and the Prospects of a Farmer-Labor Alliance.“ In: Beeby (Hg.), Populism in the South, S. 82–100. McMath, American Populism, S. 51 f.; Ritter, Goldbugs, S. 93–96, 181. McMath, American Populism, S. 8; Alicia O. Rodriquez, „‚Of Whom Shall the Third Party Be Composed?‘: Urban Laborers and the Origins of the People’s Party in Dallas, Texas.“ In: Beeby (Hg.), Populism in the South, S. 56–81.
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dargestellt. Dabei gehe ich insbesondere der Frage nach, ob und in welcher Form Antisemitismus zum einen und geschlechtergeschichtliche Aspekte zum anderen in der historiographischen Forschung Aufmerksamkeit fanden.
3.2 Historiographische Perspektiven auf Antisemitismus und Geschlechterkonstruktionen im Populismus 1931 veröffentlichte der Historiker John D. Hicks das bis heute rezipierte Werk The Populist Revolt.29 Gut zwanzig Jahre später erschien mit The Age of Reform von Richard Hofstadter ein weiterer Klassiker zur populistischen Bewegung.30 Die beiden Werke gaben der Historiographie zur populistischen Bewegung auf unterschiedliche Art Anstöße und provozierten in den anschließenden Jahrzehnten Widersprüche unter Historiker_innen. Auch mehr als fünfzig Jahre nach der Veröffentlichung diskutieren Historiker_innen die Bedeutung der beiden Werke für die Geschichtsschreibung des Populismus.31 Dabei unterscheiden sich beide in ihrer Stoßrichtung sowie in der Einschätzung und Beurteilung der populistischen Bewegung fundamental. In Populist Revolt untersuchte Hicks die Geschichte der Farmers’ Alliance und der Populist Party. Als eine zentrale Ursache für die Entstehung des Populismus beschrieb er die dramatische Verschlechterung der ökonomischen Situation der Farmer.32 Nach seiner Ansicht hätten Farmer zu Recht das Agieren von Kapitalst_innen aus dem Nordosten als Ursache für ihre sozioökonomischen Probleme identifiziert.33 1955, also gut zwanzig Jahre später, erschien die mit dem Pulitzer-Preis gekrönte Arbeit The Age of Reform von Richard Hofstadter. Im Gegensatz zur affirmativen Haltung von Hicks vertrat Hofstadter eine deutlich kritischere 29 30 31
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John D. Hicks, The Populist Revolt: A History of the Farmers’ Alliance and the People’s Party. Minneapolis: The University of Minnesota Press 1955. Hofstadter, Age of Reform. Peter H. Argersinger, David D. Danbom, Connie L. Lester et al., „‚Agricultural History‘ Roundtable on Populism: Robert C. McMath Jr., Peter H. Argersinger, Connie L. Lester, Michael F. Magliari, Walter Nugent and David Danbom.“ In: Agricultural History, Jg. 82, Nr. 1 (Winter 2008), S. 1–35. Hicks, Populist Revolt, S. 36–53. Ders., S. 81. Dass Hicks die Analysen und Position der populistischen Bewegung zumindest teilweise teilt, manifestiert sich u. a. in der von ihm verwendeten Terminologie. Analog zu der Rhetorik der Populist_innen bezeichnet er z. B. Investor_innen und Spekulant_innen als „land sharks“ (Hicks, Populist Revolt, S. 104).
Historiographische Perspektiven
Position. Er konstruierte Populist_innen als Vertreter_innen einer rückwärtsgewandten Utopie, die mit den zeitgenössischen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht mehr kompatibel gewesen sei.34 Jedoch erschien ihm die populistische Perspektive nicht bloß als ein aus der Zeit gefallenes Relikt. Vielmehr identifizierte er gesellschaftlich gefährliche Potenziale innerhalb der populistischen Rhetorik und Analysen. So machte Hofstadter bei Populist_innen eine allgegenwärtige Neigung zu verschwörungstheoretischen und, damit verbunden, zu antisemitischen Weltsichten aus. Er produzierte damit ein Narrativ, mit dem er der bisherigen Historiographie zum Populismus, die den Antisemitismus ignoriert habe, ein Korrektiv zur Seite stellen wollte.35 Folglich nimmt die Untersuchung verschwörungstheoretischer Elemente sowie antisemitischer Rhetorik einen hohen Stellenwert innerhalb seines Werkes ein. Hofstadter kam dabei zu folgendem Schluss: „For many silverites the Jew was an organic part of the conspiracy theory of history.“36 Während er betonte, dass der Antisemitismus der Populist_innen zwar nicht zur Gewalt geschritten sei, konstruierte er den Populismus als Wegbereiter des modernen Antisemitismus in den USA.37 Hofstadters Lesart löste in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zum Teil heftige Kritik aus. Historiker_innen monierten, dass Hofstadters Narrativ die Bedeutung des Antisemitismus überhöhe. Tatsächlich scheint die von Hofstadter vorgenommene Charakterisierung der populistischen Bewegung als im Kern antisemitisch schwer haltbar zu sein. Dennoch darf diese Erkenntnis nicht – wie es bei vielen Historiker_innen der Fall war und ist – dazu führen, sich gänzlich einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit den antisemitischen Elementen populistischer Weltwahrnehmungen zu verschließen oder gar zu der Annahme verleiten, unter Populist_innen habe es keine nennenswerte Verbreitung antisemitischen Wissens gegeben. Vielmehr machen die Fehleinschätzungen Hofstadters eine erneute Auseinandersetzung mit antisemitischen Einstellungen innerhalb der populistischen Bewegung notwendig. Diese hat sich unter anderem mit den Einschätzungen Hofstadters zu den von Populist_innen häufig vorgenommenen Rückgriffen auf die Figur Shylock auseinanderzusetzen. Für Hofstadter stellte die Anrufung dieser Figur innerhalb des zeitgenössischen Kontextes nicht per se einen antisemitischen Akt dar. Erst durch Verknüpfungen mit der ebenfalls von Populist_innen verwendeten antise34 35 36 37
Hofstadter, Age of Reform, S. 23–30. Ders., S. 60 f. Ders., S. 78. Ders., S. 80.
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mitischen Figur ‚die Rothschilds‘ sei Shylock antisemitisch aufgeladen worden.38 Im Verlauf des Kapitels wird jedoch deutlich, dass Shylock in zeitgenössischen Vorstellungen nicht bloß als skrupellos und versessen nach Geld konstruiert wurde. Vielmehr war die Figuration auch mit rassifizierten Bedeutungsinhalten versehen. Zeitgenoss_innen verknüpften Shylock eng mit ‚Juden‘. Trotz dieser Fehleinschätzungen leistete Hofstadter jedoch einen wichtigen Beitrag zu der Auseinandersetzung mit dem unter Historiker_innen des Populismus missliebigen Thema des Antisemitismus. Dies zeigen auch die scharfen Auseinandersetzungen mit Hofstadters Arbeit in den folgenden Jahrzehnten. Die Zentralität von Verschwörungstheorien und Antisemitismus in Hofstadters Ansatz wurde dabei häufig einer fundamentalen Kritik unterzogen.39 In Konsequenz entschwanden Antisemitismus, aber auch der Hang zu verschwörungstheoretischen Erklärungsansätzen zunehmend aus dem Blickfeld von Historiker_innen. Jeffrey Ostler fasste diese historiographische Entwicklung wie folgt zusammen: „However, as study after study over the next decades failed to yield even a scrap of evidence to support the revisionists, a consensus developed that, as Lawrence Goodwyn recently wrote, ‚the world of populism constructed by Hofstadter now languished in ruin.‘“40 Als prominente Kritiker Hofstadters agierten in den 1960er und 1970er Jahren Lawrence Goodwyn, Walter Nugent und Norman Pollack.41 Während sich ihre Kritiken sowohl inhaltlich wie auch in ihrer Vehemenz stark unterschieden, warfen sie Hofstadter allesamt vor, die populistische Bewegung durch das Aufbauschen ihres Antisemitismus zu diskreditieren. Die zurückhaltendste Kritik übte Walter Nugent in The Tolerant Populist. Er gestand Hofstadter zu, in verschiedenen Aspekten eine produktive Perspektive auf den Populismus entwickelt zu haben, kritisierte jedoch die Charakterisierung der Populist_innen als antisemitisch und zu Verschwörungstheorien neigend. Er selbst kam zu folgendem Schluss: „[Ignatius, K. K.] Donnelly, the ‚K. Gold Isaacs‘ series, and 38 39 40 41
Ders., S. 78. Robert M. Collins, „The Originality Trap: Richard Hofstadter on Populism.“ In: The Journal of American History, Jg. 76, Nr. 1 ( Juni 1989), S. 150–167. Jeffrey Ostler, „The Rhetoric of Conspiracy and the Formation of Kansas Populism.“ In: Agricultural History, Jg. 69, Nr. 1 (Winter 1995), S. 1–27, hier S. 2. Goodwyn, Populist Moment; Walter T. K. Nugent, The Tolerant Populists: Kansas Populism and Nativism. Chicago et al.: The University of Chicago Press 1963; Norman Pollack, The Populist Response to Industrial America: Midwestern Populist Thought. New York: W. W. Norton & Company 1962.
Historiographische Perspektiven
references in other writings may be ‚ambiguous‘ in their attitude toward the Jew, but that is the worst that can legitimately be said, and it is probably too much.“42 Sowohl Lawrence Goodwyn als auch Norman Pollack betrachteten die Charakterisierung der populistischen Bewegung als antisemitisch als dermaßen unzutreffend, dass sie eine thematische Auseinandersetzung mit diesem Thema für überflüssig erachteten. In The Populist Moment gebrauchte Goodwyn nicht ein einziges Mal die Worte ‚Jude‘, ‚Rothschild‘, ‚Shylock‘ oder ‚Antisemitismus‘.43 Auch Pollack kam fast vollständig ohne sie aus. Er verwendete lediglich einmal den Begriff des Antisemitismus; und das auch nur, um das Narrativ Hofstadters zu skizzieren, dessen Dekonstruktion ein zentrales Anliegen seines Werks The Populist Response to Industrial America bildete.44 Diese Negierung antisemitischer Einstellungen innerhalb der populistischen Bewegung war Teil einer umfassenden Neubewertung des Populismus innerhalb der Historiographie in den 1960er und 1970er Jahren. Während Hofstadter und andere Wissenschaftler_innen wie Peter Viereck in den 1950er Jahren den Populismus in gewisser Hinsicht als Wegbereiter der faschistischen Bewegung in den USA begriffen, entwarfen Goodwyn, Nugent und Pollack ihn als progressive politische Kraft, die ihnen in mancher Hinsicht als Leitbild für angestrebte politische Modifizierungen der US-Gesellschaft diente.45 Goodwyn verstand den Populismus als „die größte demokratische Massenbewegung in der Geschichte der USA“.46 Norman Pollack wiederum begriff die populistische Bewegung als einen Versuch, sozialistische Elemente in die US-Gesellschaft zu implementieren.47 Vor diesem Hintergrund sahen Kritiker_innen in Hofstadters Narrativ den Versuch, radikale politische Strömungen zu diskreditieren und dadurch den gesellschaftlichen Status quo zu konservieren.48 Auch wenn die politische Brisanz der Kontroverse mit dem Abflauen der Protestbewegungen der Neuen Linken abnahm, scheinen die Lesarten von Goodwyn, Nugent und Pollack die Deutungshoheit errungen und damit die Frage nach der Bedeutung von Antisemitismus für das Verständnis des Populis42 43 44 45 46 47 48
Nugent, Tolerant Populist, S. 113. Goodwyn, Populist Moment. Pollack, Populist Response, S. 6. Peter Viereck, „The Revolt against the Elite.“ In: Daniel Bell (Hg.), The New American Right. New York: Criterion Books 1955, S. 91–116, hier S. 94 f. Goodwyn, Populist Moment, S. vii. Pollack, Populist Response, S. 12. Collins, „Originality Trap“, hier S. 152.
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mus beantwortet zu haben. Während die teilweise emphatische Perspektive auf die populistische Bewegung zunehmend verblasste, ist das Thema ‚Antisemitismus‘ fast vollständig aus dem Blickfeld der jüngeren Historiographie geraten. Neuere Monographien messen der vor einigen Jahrzehnten leidenschaftlich diskutierten Frage nach Antisemitismus innerhalb der populistischen Bewegung keinerlei nennenswerte Bedeutung mehr zu.49 Der Historiker Joe Creech handelt in Righteous Indignation die Frage in einer Fußnote ab. Ohne weitere Ausführungen stellt er die Hypothese auf, dass antisemitische Einstellungen unter Populist_innen nicht existent gewesen seien und lediglich die Shylock-Metapher gelegentlich verwendet worden sei.50 Grundlegend anders wird die Frage nach Vorkommen, Verbreitung und Wirkmacht antisemitischen Wissens unter Populist_innen von Historiker_innen beantwortet, die zur Geschichte des Antisemitismus in den USA arbeiten. Sie verweisen auf die weite Verbreitung antisemitischer Elemente unter Populist_innen und Farmern.51 Allerdings verbleiben diese Arbeiten auf Grund ihres Überblickscharakters häufig im Thesenhaften und es fehlt ihren Analysen mitunter an Tiefenschärfe.52 Während Antisemitismus innerhalb der populistischen Bewegung also bisher noch nicht zufriedenstellend untersucht worden ist, bildet auch die Kategorie Geschlecht weitgehend eine Leerstelle innerhalb der Forschung zum Populismus. Zwar sind in den letzten Jahren einige Arbeiten entstanden, die wichtige Fragen zu Geschlechterkonstruktionen innerhalb des Populismus zu beantworten suchen, jedoch bleibt in diesen Arbeiten die Verwobenheit von
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Siehe u. a. James M. Beeby, Revolt of the Tar Heels: The North Carolina Populist Movement, 1890–1901. Jackson: University Press of Mississippi 2008; ders. (Hg.): Populism in the South Revisited: New Interpretations and New Departures. Jackson: University Press of Mississippi 2012; Clanton, Populism; Joe Creech, Righteous Indignation: Religion and the Populist Revolt. Urbana et al.: University of Illinois Press 2006; Kazin, Populist Persuasion, Kap. 2; McMath, American Populism; Ritter, Goldbugs. Creech, Righteous Indignation, S. 204. Leonard Dinnerstein, Antisemitism in America. New York et al.: Oxford University Press 1994, S. 49–51; Robert Michael, A Concise History of American Antisemitism. Lanham et al.: Rowman & Littlefield Publishers 2005, S. 93–95; Howard Rabinowitz, „Nativism, Bigotry and Anti-Semitism in the South.“ In: Jeffrey S. Gurock (Hg.), Anti-Semitism in America, Part Two. New York: Routledge 1998, S. 647–661, hier S. 652. So beschreibt Robert Michael die Funktionsweise der zeitgenössischen antisemitischen Rhetorik, ohne diesen Zusammenhang weiter auszuführen oder gar Quellenbelege anzuführen, lediglich mit dem folgenden Satz: „Moneychangers and moneylending class were code words for Shylocks, and Shylocks was a code word for Jews“ (Michael, American Antisemitism, S. 93).
Der Niedergang der Yeomanry
Geschlecht mit anderen Kategorien weitgehend unbeachtet.53 Eine Ausnahme hiervon bildet Stephen Kantrowitz, der den Zusammenhang zwischen Männlichkeit und gegen Afroamerikaner_innen gerichtetem Rassismus untersucht hat.54 Vor diesem Hintergrund soll in diesem Kapitel untersucht werden, inwieweit geschlechtlich codierte Krisenwahrnehmungen angloamerikanischer Farmer mit ‚Juden‘ verknüpft wurden. Dafür werden in einem ersten Schritt zunächst Konzepte wie Producerism oder Jeffersonian Democracy skizziert, die für das Verständnis des Populismus von wesentlicher Bedeutung sind. Darüber hinaus werden die mit diesen Konzepten verwobenen Männlichkeitskonstruktionen nachgezeichnet.
3.3 Der Niedergang der Yeomanry und angloamerikanische Männlichkeit Für das Verständnis populistischer Welt- und Krisenwahrnehmungen sind das Konzept der Jeffersonian Democracy und der ihr zugrundliegende Producerism von zentraler Bedeutung.55 Vor dem Hintergrund der ökonomischen Schwierigkeiten vieler Yeomen verstand sich die Farmers’ Alliance als Kraft, die die Werte von 1776 und die damit verbundene republikanische Ordnung verteidigen sowie den Lehren Jeffersons unter den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen neue Wirkmacht verleihen wollte.56 Thomas Jefferson sah in unabhängigen Farmern das Fundament einer republikanischen Gesellschaftsordnung. In Notes on the State of Virginia entwickelte er das Konzept der Agricultural Virtue, das einen Zusammenhang zwischen dem ökonomischen Status und dem moralischen Zustand von Männern postulierte. 53
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Marion Knox Barthelme (Hg.), Women in the Texas Populist Movement: Letters to the Southern Mercury. College Station: Texas A & M University Press 1997; Brooke Speer Orr, „Mary Elizabeth Lease: Gendered Discourse and Populist Party Politics in Gilded Age America.“ In: Kansas History, Jg. 29, Nr. 4 (Winter 2006–2007), S. 246–265; dies., The ‚People’s Joan of Arc‘: Mary Elizabeth Lease, Gendered Politics and Populist Party Politics in GildedAge America. New York: Peter Lang Publishing Inc. 2014. Stephen Kantrowitz, Ben Tillman and the Reconstruction of White Supremacy. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 2000; ders., „Ben Tillman and Hendrix McLane, Agrarian Rebels: White Manhood, ‚The Farmers,‘ and the Limits of Southern Populism.“ In: The Journal of Southern History, Jg. 66, Nr. 3 (August 2000), S. 497–524. Hofstadter, Age of Reform, S. 23–25. [Unbekannt], „1790–1890 – Then and Now.“ In: Southern Mercury, 12.1.1893, S. 3; [unbekannt], „Which Side Are You On!“ In: Southern Mercury, 27.4.1893, S. 3.
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Nach Jefferson verhinderte die Kultivierung des eigenen Bodens die Entstehung tugendloser Männlichkeit, die Korrumpierung des Staatswesens und damit die Unterminierung der republikanischen Ordnung. Als Voraussetzung für die Ausbildung des idealen staatsbürgerlichen Subjekttypus sah Jefferson jedoch nicht nur die Ausübung manueller Arbeit sowie eine ländliche Lebensweise an. Vielmehr bedurfte es zusätzlich der ökonomischen Unabhängigkeit des männlichen, angloamerikanischen Subjektes.57 Nach Jefferson sollte jeder Staatsbürger frei jeglicher Abhängigkeit von Anderen sein.58 Yeomen bildeten folglich in der Jeffersonian Democracy die Keimzelle der Republik.59 Ihnen kam die Aufgabe zu, durch die Ausübung von Autorität und Kontrolle über die Angehörigen des Haushaltes wie auch über afroamerikanische Menschen die gesellschaftliche Ordnung zu (re-)produzieren. Die Verfügungsgewalt über weibliche Haushaltsangehörige sowie über African Americans war somit, wie bereits in den beiden vorherigen Kapiteln erwähnt, konstitutiv für das durch den Yeoman verkörperte Ideal angloamerikanischer Männlichkeit.60 Dem Konzept der Jeffersonian Democracy lag also eine vergeschlechtlichte und rassifizierte Konstruktion des staatsbürgerlichen Subjektes, das als männlich und angloamerikanisch konzipiert wurde, zugrunde. 57 58
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Linda K. Kerber, Women of the Republic: Intellect and Ideology in Revolutionary America. Chapel Hill et al.: University of North Carolina Press 1980, S. 34. Colin Bonwick, „Jefferson as Nationalist.“ In: Gary McDowell und Sharon L. Noble (Hg.): Reason and Republicanism: Thomas Jefferson’s Legacy of Liberty. Lanham et al.: Rowman & Littlefield Publishers 1997, S. 149–167, hier S. 153. William E. Forbath, „Caste, Class, and Equal Citizenship.“ In: Michigan Law Review, Jg. 98, Nr. 1 (Oktober 1999), S. 1–91, hier S. 14; Evelyn Nakano Glenn, Unequal Freedom: How Race and Gender Shaped American Citizenship and Labor. Cambridge: Harvard University 2002, S. 27; Hofstadter, Age of Reform, S. 23–36; Mark E. Kann, A Republic of Men: The American Founders, Gendered Language, and Patriarchal Politics. New York et al.: New York University Press 1998, S. 36 f.; Lester, Mudsills of Hell, S. 10; Tarla Rai Peterson, „Jefferson’s Yeoman Farmer as Frontier Hero: A Self Defeating Mythic Structure.“ In: Agriculture and Human Values, Jg. 7, Nr. 1 (Winter 1990), S. 9–19, hier S. 13; Jeffrey Leigh Sedgwick, „Jeffersonianism in the Progressive Era.“ In: McDowell und Noble (Hg.): Reason and Republicanism, S. 189–204, hier S. 192 f. Stephanie McCurry, „The Politics of Yeoman Households in South Carolina.“ In: Catherine Clinton und Nina Silber (Hg.), Divided Houses: Gender and the Civil War. New York et al.: Oxford University Press 1992, S. 22–38, hier S. 25; dies., Masters of Small Worlds: Yeomen Households, Gender Relations and the Political Culture of the Antebellum South Carolina Low Country. New York et al.: Oxford University Press 1995, S. 72; dies., „Producing Dependence: Women, Work, and Yeoman Households in Low-Country South Carolina.“ In: Susanna Delfino und Michelle Gillespie (Hg.), Neither Lady Nor Slave: Working Women of the Old South. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 2002, S. 55–71.
Der Niedergang der Yeomanry
Dieser Entwurf des unabhängigen, angloamerikanischen Farmers als Idealtypus des Staatsbürgers entwickelte in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts eine große Wirkmacht.61 Südstaatler_innen stellten Verbindungen zwischen der Lebensweise, die dem Yeoman zugeschrieben wurde, und einer spezifischen Männlichkeitskonfiguration her.62 Alfred H. Colquitt, der 49. Gouverneur von Georgia, sah in der „unbeugsamen Unabhängigkeit“ von Yeomen den Ausweis eines „wahren Mannes“.63 Ebenso betrachtete Charles W. Macune, der Vorsitzende der Southern Farmers’ Alliance, den völlig auf sich zurückgeworfenen Mann an der Frontier, der der Natur seine Existenz abringt, als ideale Verkörperung männlicher Unabhängigkeit.64 John Brown Gordon, ein ehemaliger General der Konföderierten Armee, US-Senator für die Demokratische Partei sowie 53. Gouverneur von Georgia, verknüpfte die ländliche Lebensweise im Süden mit der Ausbildung einer männlichen Subjektivität, die er durch folgende Eigenschaften charakterisiert sah: „personal courage, personal independence, personal dignity, personal honor, and the manliest virtues“.65 Henry W. Grady, einer der herausragenden Vertreter des New South, sprach Farmern einen tugendhaften und ehrbaren Charakter zu. Als Kontrastfolie dienten ihm dabei die Berufe des Händlers, des Staatsmannes, des Soldaten und des Spekulanten: If the ideal man at work is to be painted, where would he be selected? Would it be the merchant at his store or the statesman in the senate, or the soldier at the cannon’s mouth, or the speculator in the exchange? Would it be any of these men, who, warring with each other, profiting each other by the other’s weakness, measure their strength daily in the fierce carnage of the conflict that has waged since Christ scourged the money changers from the temple? None of them; but rather the farmer in his field, measuring strength, not with men, but with 61 62
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[Unbekannt], „Women’s Work in the Alliance.“ In: Southern Mercury, 19.1.1893, S. 16. E. O. Flower, „Are We a Prosperous People.“ In: Southern Mercury, 19.1.1893, S. 1–3, hier S. 2; Hon. J. Z. George, Speech by Hon. J. Z. George, of Mississippi, in the Senate of the United States, December 31, 1890, January 19 and 20, 1891. Washington: [Selbstverlag] 1891, S. 76, Briscoe Center for American History, Austin (im Folgenden: DBC), The Littlefield Rare Book and Pamphlet Collection (im Folgenden: LRPC). [Unbekannt], Proceedings of the Inter-State Convention of Farmers: Held in DeGive’s Opera House, Atlanta, Ga., 16, 17, 18, 1887. Atlanta: Jas. P. Harrison & Co., Printers 1887, S. 43 f., Louis Round Wilson Special Collection Library, Chapel Hill (im Folgenden: LRWL), Southern Pamphlet Collection (im Folgenden: SPC). Ders., S. 50. John B. Gordon, Address of Governor John B. Gordon, Delivered in Market Hall, 26.4.1887. Augusta: [Selbstverlag] 1887, DBC, LRPC.
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the seasons; living not by percentage but by creation; striking his fortunes from the amplitude of nature, exhaustless to those who tap her wisely, and free as the waters that rushed from Horebs’ rock. The farmer standing there profiting by no man’s misfortune; rising no man’s ruin, strengthening in no man’s adversity, but striking earth on her springing breast, and filling his veins from her flowing fountains, not disturbed by passion fevered by envy, or poisoned by malice, but tranquilly patient as the seasons themselves, orderly as nature, slow-pulsed, and deep-breathed, pure of heart and clear of head, standing stalwart and independent in the sweat of his brow, as he locks the sunshine in the golden glory of his harvest and spreads the showers in the verdure of his fields, conscious of the integrity of his labor that enriches man while it honors God.66
Häufig beschrieben Zeitgenoss_innen die mit der Lebensweise des Farmers verknüpfte Form des Mann-Seins als Existenzbedingung für republikanische Ordnungen. Marion Butler, ein führender Vertreter der Farmers’ Alliance in North Carolina sowie US-Senator der People’s Party, verstand die Existenz einer zahlenmäßig ausgeprägten Yeomanry als Conditio sine qua non für die Prosperität der US-Gesellschaft. Er koppelte das dauerhafte Bestehen einer Gesellschaft an den „beständigen Zufluss reinen Blutes aus der Yeomanry“.67 Leonidas Polk, eine weitere führende Persönlichkeit der Farmers’ Alliance in North Carolina, bezeichnete die Yeomanry 1889 als „gewaltiges Bollwerk der Freiheit, den großen Bewahrer der höchsten Zivilisationen der Menschheitsgeschichte“.68 Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass Zeitgenoss_innen der Existenz von Familienfarmen eine immense, strikt vergeschlechtlichte Bedeutung zuschrieben.69 Der Verlust des eigenen Bodens und der damit einhergehende Abstieg zu einer Existenz als Tenant waren mit Bedrohungswahrnehmungen angloamerikanischer Männlichkeit verknüpft.70 Nach Ansicht von 66 67 68
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[Unbekannt], Inter-State Convention of Farmers, S. 6 f. Marion Butler, A Marvelous Superstructure and a Crumbling Foundation, S. 4 f., LRWL, Marion Butler Papers (im Folgenden: MBP), Box 47, Folder 643. [Unbekannt], Address of Col. L. L. Polk Delivered at the Piedmont Exposition at Atlanta, Georgia, October 24th, 1889. S. 9, LRWL, L. L. Polk Papers (im Folgenden: LLPP), Box 7, Folder 95. Thomas L. Nugent, „The Current Reform Movements: An Address before the San Marcos Chantanqua by Hon. Thos. L. Nugent, of Fort Worth, Texas.“ In: Southern Mercury, 3.8.1893, S. 1–4, hier S. 3; [unbekannt], „The Condition and the Remedy.“ In: Southern Mercury, 2.2.1893, S. 2; [unbekannt], „The Farmer’s Home.“ In: The Clarion-Ledger, 26.9.1889, S. 2. McCurry, Masters of Small Worlds, S. 14–17. Als Tenants wurden Farmer bezeichnet, die gepachtetes Land kultivierten.
Der Niedergang der Yeomanry
Zeitgenoss_innen hatte der sozioökonomische Abstieg es vielen angloamerikanischen Männern zunehmend verunmöglicht, ihren Aufgaben in der Familie nachzukommen, nämlich den Schutz und die Versorgung der übrigen Familienangehörigen zu gewährleisten.71 In den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts kollidierte dieses Verständnis des Yeoman als mustergültiger Staatsbürger und Fundament einer republikanisch verfassten Gesellschaftsformation mit der sozio-ökonomischen Realität und den Problemen, die weite Teile des Agrarsektors im Süden erfasst hatten. Die sich verschärfenden ökonomischen Bedingungen innerhalb des Agrarsektors machten es einer wachsenden Zahl angloamerikanischer Männer unmöglich, ihren Status als Yeoman zu erhalten. Zusätzlich erschwerte die hohe Geburtenrate in ländlichen Regionen des Südens den Aufbau einer Existenz als Yeoman. Trotz der Migrationsbewegung in urbane Räume führte ein starkes Bevölkerungswachstum in den ländlichen Gebieten zur stetigen Verknappung der Ackerfläche, die pro Kopf zur Verfügung stand.72 Als Konsequenz stieg in den Staaten der ehemaligen Konföderation der Anteil von Pächtern unter Farmern rapide an. Machten sie im Jahr 1880 37 Prozent der Farmer aus, stieg ihr Anteil über 39,1 Prozent im Jahr 1890 auf 47,2 Prozent zur Jahrhundertwende. Insbesondere die 1890er Jahre waren also von einem drastischen Anstieg charakterisiert.73 Der Historiker Stephen A. West sieht den quantitativen Rückgang des Anteils der Yeomen vor dem Hintergrund der zunehmenden Herausbildung urbaner Berufsgruppen wie Händler und Banker sowie eines Proletariats auch von einem ideologischen Bedeutungsverlust begleitet.74 Dennoch löste der Niedergang der Yeomanry dichte Krisendiskurse aus.75 1880 wurden aus diesem Grund bei der Volkszählung zum ersten Mal auch Daten über die Verbreitung der Tenancy erhoben.76 Der Southern Mercury, der mit einer Auflage von 40.000 Mitte der 1890er Jahre das mediale Flaggschiff der Farmers’ Alliance im Südwesten der USA bildete, beschrieb den Rückgang von Yeomen als alarmierend.77 71 72 73 74 75 76
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Geo C. Ward, „A Sad Picture.“ In: Southern Mercury, 6.4.1893, S. 2. Ayers, New South, S. 198. Palmer, „Man over Money“, S. xiv f.; West, Yeoman to Redneck, S. 110. Ders., S. 98 f. Lester, Mudsills of Hell, S. 2. Lee J. Alston und Kyle D. Kauffmann, „Agricultural Chutes and Ladders: New Estimates of Sharecroppers and ‚True Tenants‘ in the South, 1900–1920.“ In: The Journal of Economic History, Jg. 57, Nr. 2 ( Juni 1997), S. 464–475, hier S. 464; Lester, Mudsills of Hell, S. 36; Woodman, „Class, Race, Politics“, S. 5. Bruce Palmer, „Southern Mercury.“ In: Handbook of Texas Online. URL: http://www. tshaonline.org/handbook/online/articles/ees12, letzter Zugriff am 25.4.2014. Jedoch galt
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Nach Ansicht zeitgenössischer Beobachter unterminierte diese Entwicklung die Unabhängigkeit des angloamerikanischen, männlichen, staatsbürgerlichen Subjektes und damit die Existenzgrundlage der republikanischen Ordnung.78 Sie sahen die Vereinigten Staaten von Amerika am Scheideweg zwischen demokratischer oder aristokratischer Ordnung. Eine der zentralen Passagen der Gettysburg Address aufgreifend brachte Leonidas Polk diese Wahrnehmung mit folgenden Worten zum Ausdruck: „We must decide whether this is really a government ‚of the people, by the people and for the people,‘ whether the citizen or the dollar is sovereign in this country, whether we shall have an aristocracy of wealth or an aristocracy of manhood and merit.“79 Andere wiederum beschrieben die republikanische Ordnung bereits als durch ein autokratisches Regime abgelöst, das in seinem Despotismus auf eine Stufe mit dem russischen Zarismus zu stellen sei.80 Wie bereits in Kapitel 2.3.1 unter dem Aspekt der Wahrnehmung finanzieller Abhängigkeit erwähnt, führten die an den Verlust ihrer Farm geknüpften vergeschlechtlichten Krisenwahrnehmungen oftmals zu Vergleichen mit der Institution der Sklaverei.81 Auf der 1887 stattfindenden Inter-State Convention of Farmers wurde mit folgenden Worten ein Szenario entworfen, in dem die große Mehrheit angloamerikanischer Männer in die Abhängigkeit einer kleinen Minderheit geraten sei: We are becoming like another nation of the earth, where out of a population of thirty or forty millions of people the lands are all owned by thirty thousand individuals and the masses are but slaves and serfs. … The issue is solidly between democracy and aristocracy, that is the real
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der Status des Tenant nicht per se als bedrohlich für die gesellschaftliche Ordnung. Vielmehr beurteilten viele Zeitgenoss_innen diesen Status unter Einsatz einer rassifizierten Linse. Auf Grund der rassistischen Konstruktion afroamerikanischer Subjekte als faul, unselbstständig und kognitiv minderwertig galt die mit der Tenancy einhergehende eingeschränkte Autonomie als für afroamerikanische Farmer angemessen und wurde als Wohltat diesen gegenüber verstanden (Lester, Mudsills of Hell, S. 32; Woodman, „Class, Race, Politics“, S. 18–21). C. E. Fenner, State-Landlordism and Liberty. Seawanee: University of the South Press 1888, S. 15, LRWL, SPC. [Unbekannt], Col. L. L. Polk. S. 12. Ward, „Sad Picture“, S. 2. Sklaven wurden nicht nur in den USA, sondern auch in vielen anderen Gesellschaften als entmännlicht konstruiert (Bertram Wyatt-Brown, The Shaping of Southern Culture: Honor, Grace, and War, 1790s–1890s. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 2001, S. 18).
Der Niedergang der Yeomanry
issue; that is the mighty problem to be solved; and the question is, is man competent for selfgovernment or not?82
Andere Zeitgenoss_innen wählten eine ähnliche Terminologie, um ihren Vorstellungen der eigenen Subordination Ausdruck zu verleihen. Die Farmer seien zu „Sklaven und Knechten des Geldadels“ herabgesunken.83 Häufig wurde die Situation angloamerikanischer Farmer auch explizit mit der ‚afroamerikanischer‘ Sklav_innen vor dem Bürgerkrieg verglichen.84 Die bis zum Bürgerkrieg herrschende Sklaverei sei durch eine neue, schlimmere Form der Versklavung durch „gierige, habsüchtige, reiche Monopolisten“ abgelöst worden.85 Während die ‚afroamerikanischen‘ Sklav_innen unter der Obhut eines wohlmeinenden Patriarchen gestanden hätten, seien diejenigen, die der „Finanzsklaverei“ unterworfen wurden, völlig schutzlos ihrem Schicksal bis hin zum Tod durch Verhungern oder Erfrieren ausgeliefert.86 An die Stelle der Fürsorge für die Sklav_innen seien völlige Kälte und Rücksichtslosigkeit getreten.87 Um der von ihnen identifizierten Krisenhaftigkeit zu begegnen, propagierten Populist_innen die Revitalisierung des Agrarsektors und der ländlichen Lebensweise.88 Nach Ansicht der Farmers’ Alliance kam den Farmern beziehungsweise der von ihnen verkörperten Männlichkeit eine Schlüsselfunktion bei der Überwindung der bedrohlichen gesellschaftlichen Situation zu.89 „Southern wealth producers, Georgians, rise in your might and manhood and hurl you [sic!] sala82 83 84
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[Unbekannt], Inter-State Convention of Farmers, S. 25. Ders, S. 25. ‚Afroamerikanische‘ Männer wurden von Zeitgenoss_innen als unmännlich oder, wie Glenda E. Gilmore es ausdrückt, als „half devil and half child“ verstanden (Glenda Elizabeth Gilmore, Gender and Jim Crow: Women and the Politics of White Supremacy in North Carolina, 1896–1920. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 1996, S. 64). James H. Oliphant, „Hon. Thos. E. Watson, of Thomson, Ga.“ In: Southern Alliance Farmer, 20.12.1889, S. 1. Der Southern Alliance Farmer bezeichnete sich selbst als „The Official Organ of the Georgia State Alliance.“ [Unbekannt], „The Leaven Working.“ In: Southern Mercury, 23.3.1893, S. 4. Oliphant, „Thos. E. Watson“, 20.12.1889. [Unbekannt], „The Gold Bug Conspiracy Exposed.“ In: Southern Mercury, 20.4.1893, S. 4. Marion Butler, Addresses of Marion Butler, President, and Cyrus Thompson, Lecturer, to the North Carolina Farmers’ State Alliance at Greensboro, N. C., Aug. 8, 9, and 10, 1983, at Its Seventh Annual Session. Raleigh: Barnes Bros., Book & Job Printers 1893, S. 2, LRWC, North Carolina Collection (im Folgenden NCC); D. S. Coe, „Kennesaw Alliance.“ In: Southern Alliance Farmer, 20.12.1889, S. 1; [unbekannt], „Don’t Do It!“ In: Southern Mercury, 13.4.1893, S. 8.
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ried bosses from power. Prove yourselves free men and save the republic from the hands of plutocracy and ruin“, forderte der Southern Alliance Farmer in einem Artikel mit dem Titel „We’ll Whip Them Back“.90 Ein anderer Zeitgenosse beschrieb die Farmer als die einzige Kraft, die die republikanische Freiheit vor dem Untergang retten könne: The main hope of the country is now in the tillers of the soil, who, if united in solid phalanx, can place in the halls of legislation men from their own ranks, who know the needs of the labor classes, and who will place upon the statute books a code of laws that will restore peace and prosperity to this now unhappy country. In all previous crises of the country the farmers have come to the rescue, and have guided the nation into safe harbors. Then again I say, unite your forces, beat back the tide of corruption and profligacy which is fast undermining every vestige of liberty.91
Die Farmer wurden in diesem Narrativ also als starke, aufrechte und der Gefahr trotzende Männer entworfen, deren Kräfte und Fähigkeiten ausreichten, um ganze Nationen vor dem Untergang zu bewahren. Dennoch ließen sie sich dem populistischen Narrativ gemäß von einem vermeintlichen „Geldadel“ ihrer Rechte berauben und unterdrücken. Welcher Mittel und Instrumentarien sich die vermeintlichen Feinde der republikanischen Ordnung dabei bedienten, bildet den Untersuchungsgegenstand des folgenden Unterkapitels.
3.4 Krisenwahrnehmungen angloamerikanischer Männlichkeit und Vorstellungen einer Verschwörung des „Geldadels“ Vorstellungen, dass die republikanische Ordnung von aristokratischen oder monarchistischen Verschwörungen bedroht werde, zirkulierten in den USA seit ihrer Gründung. In der Phase der Jacksonian Democracy wurde dieses Narrativ um eine weitere Variante bereichert: die Idee, dass eine Konspiration einer aus Monopolen und Trusts bestehenden Aristokratie im Gange sei. Der Aristokratiebegriff, der dieser Wahrnehmung zugrunde lag, war eng mit finanziellem Reichtum verbunden. Allerdings wurden nicht sämtliche über Reichtümer verfügende Personen oder Gruppen als aristokratisch kategorisiert, sondern le90 91
[Unbekannt], „We’ll Whip Them Back.“ In: Southern Alliance Farmer, 28.6.1892, S. 4. Vera Pro Grattis, „Canoochee Sub-Alliance.“ In: Southern Alliance Farmer, 20.12.1889, S. 1.
Krisenwahrnehmungen
diglich diejenigen, die ihre finanziellen Mittel vermeintlich zur Korrumpierung der Politik nutzten.92 Für die Rekonstruktion populistischer Weltsichten ist dieser Aristokratiebegriff von großer Bedeutung. Populist_innen sahen in den ökonomischen Schwierigkeiten sowie der daran gekoppelten vermeintlichen gesellschaftlichen Krise das Resultat des Wirkens einer „money aristocracy“ beziehungsweise von „money kings“, „gold bugs“, einer „class of money hoarders“ oder von „Wall Street gold barons“.93 Als Repräsentanten dieser „Plutokratie“ galten insbesondere Banken, die Wall Street, Trusts und Unternehmenskorporationen sowie (ausländische) Spekulanten. Ihnen wurde vorgeworfen, sich die von Farmern und anderen manuell arbeitenden Menschen produzierten Werte anzueignen, ohne selbst produktiv tätig zu werden.94 Wie es im Southern Alliance Farmer hieß, würden Banken, da sie zwangsläufig einen „Geldadel“ hervorbrächten, der sich über die demokratisch legitimierte Regierung hinwegsetze, das Volk als Souverän ausschalten und stattdessen eine kleine Gruppe moralisch korrumpierter Menschen zu Herrschern über das Volk machen.95 So sah der Southern Mercury Cleveland gemeinsam mit englischen und amerikanischen Banken eine Verschwörung aushecken, „um die arbeitende Bevölkerung zu Grunde zu richten und zu versklaven“.96 Wie einige Dekaden zuvor während der Reconstruction Era oder auch zwei Jahrzehnte später während des Leo Frank-Case war die Vorstellung, dass eine Verschwörung der Ausplünderung und Unterjochung des Südens den Weg bereitet 92 93
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Judith Shklar, American Citizenship: The Quest for Inclusion. Cambridge: Harvard University Press 1991, S. 66–73. G. W. White, „Brother G. W. White. On the Money Question of Today.“ In: Southern Alliance Farmer, 2.8.1892, S. 1; Oliphant, „Thos. E. Watson“, 20.12.1889; L. H. Hand, „What Are the Issues of the Day.“ In: Southern Alliance Farmer, 2.8.1892, S. 1; Leonard Brown, „American Slavery: Its Causes, and Its Cure.“ In: Southern Mercury, 13.4.1893, S. 1 f., hier S. 1. Verschwörungstheoretische Erklärungsansätze waren nicht nur unter Populist_innen des Südens weit verbreitet, sondern wurden auch auch von Populist_innen im Norden und insbesondere im Mittleren Westen in ihre Weltsichten integriert (Robert Allen Goldberg, Enemies Within: The Culture of Conspiracy in Modern America. New Haven et al.: Yale University Press 2001, S. 12; Hofstadter, Age of Reform, S. 34 f.; Ostler, „Rhetoric of Conspiracy“). P. I. Rawl, „What Has the Alliance Done!“ In: Southern Mercury, 16.3.1893, S. 1 f., hier S. 1; Brown, „American Slavery“, 13.4.1893, S. 1; [unbekannt], „Behind the Times.“ In: Southern Alliance Farmer, 11.3.1890, S. 4. Den Hintergrund dieser Einschätzung bildete die physiokratische Sichtweise, die manuelle Arbeit als alleinige Quelle von Wert beschrieb (vgl. Lester, Mudsills of Hell, S. 58). White, „Brother G. W. White“, 2.8.1892. Jacob Nelson, „A Call to Action.“ In: Southern Mercury, 20.7.1893, S. 5.
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hätte, in populistischen Analysen allgegenwärtig.97 Durch den Einsatz immenser finanzieller Mittel sei es der „Geldaristokratie“ gelungen, wichtige Institutionen und damit die gesellschaftliche Entwicklung der Vereinigten Staaten in ihrem Sinne zu manipulieren. In dem Verschwörungsnarrativ wurden insbesondere die Politik sowie die Presse als Instrumente der Feinde der republikanischen Ordnung identifiziert. Der Southern Alliance Farmer beschrieb die vermeintliche Usurpation gesellschaftlicher Machtzentren wie folgt: A majority of the members of the national legislative body seem to be controlled, by a class of money hoarders who have grown under special class legislation, like mush roons [sic!] in a dark forest. This special class is grasping insatiable rapacious and dictatorial controlling the legislation, executive and judicial branches and powers of the government. […] We charge that under the present discriminative system, we are made to pay tribute unjustly out of the products of their labor to a band of foreign and domestic conspirators and gambling speculators. It is an invasion of the rights of freeman, destruction to their prosperity and threatening the existence of the republic. The subsidized press and hired attorneys of the unscrupulous and corrupt band of conspirators and gamblers would mislead, deceive and divide you. They already have followers in every city, town and village in the county. […] They and the stump orators are laboring energetically for the fees and the approbation of their bosses, the gold-bugs. Take heed, bread winner, lest you be deceived by the plausibility, sophistry and hypocrisy of the false issues thrust before you by the conspirators.98
Populist_innen verstanden die Regeln, nach denen in demokratischen Systemen um die politische Macht gerungen werde, als vollständig außer Kraft gesetzt. An die Stelle einer demokratisch legitimierten Regierung sei eine Regierung getreten, die von den im Hintergrund wirkenden Verschwörern eingesetzt und jederzeit wieder abgesetzt werden könne, sobald sie nicht den Interessen der „Geldaristokratie“ diene. Die in politischen Ämtern befindlichen Politiker oder zumindest eine große Mehrheit unter ihnen seien zu Dienern einiger Weniger geworden und hätten somit die Souveränität des Volkes außer Kraft gesetzt.99 Nach Ansicht des Southern Mercury seien Wahlen zu einem schmückenden 97 98 99
[Unbekannt], Inter-State Convention of Farmers, S. 48. Hand, „Issues of the Day“, 2.8.1892. Rawl, „Alliance Done“, 16.3.1893, S. 1; [unbekannt], „Both Gold Trust Servants.“ In: Southern Alliance Farmer, 2.8.1892, S. 6.
Krisenwahrnehmungen
Lorbeerblatt verkommen, deren einzige Funktion darin bestehe, den aristokratischen beziehungsweise monarchistischen Charakter des politischen Systems in den USA zu eskamotieren. Thomas Watson schrieb Wahlen lediglich noch folgenden Zweck zu: „[to] aid in the grand coronation, to crow him lord of all, whosoever Wall street [sic!] dictates“.100 Der Southern Mercury brachte diese Vorstellung einer vollständigen Heteronomie der gewählten Politiker mit folgenden Worten zum Ausdruck: The many are slaves to the few and the American government is no longer a republic. It is an oligarchy of money lenders. The banker’s congress that meets regularly every fall is the defacto [sic!] congress of the United States, and the president of the banker’s congress is the defacto [sic!] president of the United States.101
Jedoch konstruierten Populist_innen nicht nur Politiker als von Akteuren der Finanzsphäre fremdbestimmt. Vielmehr verstanden sie die politische Allmacht der im Hintergrund Agierenden als umfassender. So seien auch die beiden großen Parteien, die demokratische sowie die republikanische, in all ihren Entscheidungen letztlich durch die Initiatoren der Verschwörung kontrolliert. Damit sei die für demokratische Systeme essentielle Pluralität innerhalb der politischen Parteienlandschaft zerstört worden. In diesem Sinne begriff ein Zeitgenosse die beiden Parteien als Bestandteile eines hydraartigen Wesens. Unter der Dominanz der „money power“ seien sie zu einer einzigen „money power party“ mit zwei Köpfen, einem demokratischen und einem republikanischen, verschmolzen. Jeder dieser beiden Köpfe sei mit einem Auge ausgestattet, das in Permanenz auf die Interessen der „money power“ gerichtet sei. Zusammen würden die beiden Köpfe lediglich über ein Gehirn verfügen, das nach den Vorgaben der Wall Street programmiert sei.102 Als wesentliches Instrumentarium der Konspiration identifizierten Populist_innen die Währungs- und Geldpolitik, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den USA umgesetzt wurde. Insbesondere die im Zuge des Fourth Coinage Act durchgesetzte Demonetisierung des Silberdollars im Jahre 1873 sowie der mit dem Resumption Act von 1875 implementierte Goldstandard 100 Thomas Watson, „Why the People’s Party Should Elect the Next President.“ In: The Arena, Jg. 1, Nr. 5 (August 1892), S. 35–38, hier S. 36. 101 Brown, „American Slavery“, 13.4.1893, S. 2. 102 J. P. Austin, „John Bull Rules. Brother Austin Gives So-Called Democracy a Lick.“ In: Southern Alliance Farmer, 28.6.1892, S. 6.
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wurden von ihnen als Resultat einer Verschwörung verstanden und vehement bekämpft. Die 1893 vorgenommene Aufhebung des Sherman Silver Purchase Act of 1890 befeuerte zusätzlich zeitgenössische Vorstellungen einer sich über die Finanzsphäre realisierenden Verschwörung gegen die Bevölkerung der USA. Bereits in den 1870er Jahren wurde im Kampf gegen die Entwertung des Silbers auf verschwörungstheoretische Narrative zurückgegriffen. In ihnen identifizierten Vertreter_innen des Bimetallismus immer wieder ‚Juden‘ als Triebfeder der vermeintlichen Konspiration. So machte die Zeitung The Nation Ernest Seyd, einen jüdischen Banker aus London, der als „Geheimagent ausländischer Pfandbriefinhaber“ vorgestellt wurde, als entscheidenden Kopf bei der Verabschiedung des Gesetzes aus.103 Dazu habe er wichtige Mitglieder des Kongresses bestochen.104 Ebenfalls in den 1870ern beschrieb der im Hardeman County, Tennessee, publizierte Bolivar Bulletin die „großen jüdischen Banker der Welt“ oder die „reichen jüdischen Kapitalisten“ als die Hauptverantwortlichen für die Demonetisierung von Silber. Der Preisverfall, der durch die Kontraktion der sich im Umlauf befindlichen Geldmenge ausgelöst worden sei, würde von ‚Juden‘ genutzt, um Waren günstig einzukaufen. Im Anschluss daran würden sie die Remonetisierung von Silber betreiben und die Waren mit deutlichem Gewinn wieder veräußern.105 Während Zeitgenoss_innen also bereits in den Jahren unmittelbar nach der Durchsetzung der umstrittenen geld- und währungspolitischen Maßnahmen ‚Juden‘ als Motoren dieser Veränderungen identifizierten, erfuhr dieses Narrativ in den späten 1880er sowie in den 1890er Jahren unter Farmern und anderen Widersachern der Demonetisierung von Silber eine deutliche Steigerung seiner Verbreitung und Wirkmacht.
3.4.1 Die ‚Krise‘ der Yeomanry und Antisemitismus
„The Jew is not a producer, he is merely a consumer, or only a middleman.“ Diese Worte schrieb der bekannte Rabbi Frederick de Sola Mendes in dem Artikel 103 Zitiert nach: Friedman, „Crime of 1873“, S. 1165. 104 Paul Barnett, „The Crime of 1873 Re-Examined.“ In: Agricultural History, Jg. 38, Nr. 3 (1964), S. 178–181; Friedman, „Crime of 1873“, S. 1165; Marshall Gramm und Phil Gramm, „The Free Silver Movement in America: A Reinterpretation.“ In: The Journal of Economic History, Jg. 64, Nr. 4 (Dezember 2004), S. 1108–1129. 105 [Unbekannt], „Great Hebrew Bankers and the Silver Question.“ In: The Bolivar Bulletin, 19.7.1877, S. 1.
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„Jews and Work“, der in einer Sonderausgabe der jüdischen Wochenzeitschrift The American Hebrew mit dem Titel „Prejudice against the Jews: Its Nature, Its Causes and Remedies“ erschien. Damit drückte er jedoch nicht seine eigene Einschätzung zu den ökonomischen Tätigkeiten von Juden und Jüdinnen aus. Vielmehr setzte sich de Sola Mendes in dem Artikel unter anderem damit auseinander, mit welchen Berufsfeldern Juden und Jüdinnen in Wahrnehmungen der angloamerikanischen Mehrheitsbevölkerung verknüpft wurden. Er kam zu dem Schluss, dass viele Zeitgenoss_innen die Ansicht verträten, dass ‚Juden‘ keiner wertproduzierenden Tätigkeit nachgingen, sondern ihr Geld primär durch Handel und Spekulation verdienen würden.106 Auch andere jüdische Zeitungen nahmen die zeitgenössisch hergestellten Verknüpfungen zwischen ‚Juden‘ und der Finanzsphäre als dermaßen weit verbreitet wahr, dass sie sich darum bemühten, dieser Sichtweise ein Korrektiv entgegenzusetzen. So erschien 1901 in der in Atlanta publizierten Zeitung Jewish Sentiment and Echo ein Beitrag mit dem Titel „Wall Street and the Jew“. Der Verfasser kritisierte das Handeln der Wall Street und beschrieb es als nicht-jüdisch: Wall street handles little but paper, representing about as much property as the cards of the gambler, and its transactions are controlled just as much by the proper rules of trade as the dealings of the light-fingered gentry. Jews have been bankers, not brokers. They have been financiers, not financial promoters.107
Diese Interventionsversuche jüdischer Medien verweisen auf die große Verbreitung, die Vorstellungen von einer engen Verflochtenheit von ‚Juden‘ mit der Finanzsphäre gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlangt hatten. ‚Juden‘ galten häufig als Triebkräfte der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgesetzten geld- und währungspolitischen Maßnahmen. Diese Meinung war dabei keineswegs auf judenfeindliche Weltwahrnehmungen beschränkt, sondern durchzog auch philosemitische Perspektiven. Den Boden dafür bereiteten Imaginationen, nach denen ‚Juden’ ökonomisch äußerst versiert und deshalb reich seien.108 Als Quellen ihres Reichtums wurden zum einen ein ausgeprägter Sinn für lukrative Handelsgeschäfte sowie zum anderen ihre vermeintliche Dominanz in der Finanzsphäre ausgemacht. Der populäre Autor Thomas Dixon, Verfasser 106 Frederick de Sola Mendes, „Jews and Work.“ In: The American Hebrew, 4.4.1890, S. 176. 107 [Unbekannt], „Wall Street and the Jew.“ In: Jewish Sentiment and Echo, 24.5.1901, S. 3. 108 [Unbekannt], „The Russian Jew Again.“ In: The Richmond Times, 24.11.1891, S. 4.
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des rassistischen Erfolgsbuchs The Clansman, sah in ‚Juden‘ die ökonomisch erfolgreichste, leistungsstärkste und einflussreichste ‚Rasse‘. In der ihnen zugeschriebenen ökonomischen Potenz sah Dixon die Ursache für den gegen Ende des 19. Jahrhunderts um sich greifenden Antisemitismus, dem er selbst ablehnend gegenüberstand. Als Wurzel des Judenhasses identifizierte er eine unter Nichtjuden verbreitete Angst vor den wirtschaftlichen Fähigkeiten sowie der daraus resultierenden gesellschaftlichen Macht von ‚Juden‘.109 In gleichem Sinne äußerte Dixon zwei Jahre später: „Our prejudice against the Jew is not because of his inferiority, but because of his genius.“110 Auf Grund dieser ‚Juden‘ zugeschriebenen ökonomischen Fähigkeiten verstanden zeitgenössische Philosemit_innen den Zuzug von ‚Juden‘ in eine Region als Indikator für einen dortigen ökonomischen Aufschwung.111 Auch Mark Twain sah ‚Juden‘ durch eine ökonomische Superiorität charakterisiert. In Concerning the Jews, einem Essay, den er 1898 als Intervention gegen die um sich greifende Judenfeindschaft in den USA verfasste und der 1899 erstmals in Harper’s Weekly gedruckt wurde, führte er dieses vermeintliche ökonomische Geschick von ‚Juden‘ auf eine Überlegenheit ihres Gehirns zurück.112 109 [Unbekannt], „The Negro a Menace Says Thomas Dixon: He Would Quote Lincoln to President Roosevelt.“ In: New York Times, 9.6.1903, S. 2. 110 [Unbekannt], „An Impudent Nigger.“ In: The Jewish Ledger, 22.9.1905, S. 12. In der Sichtweise Dixons spiegelten sich auch die unterschiedlichen zeitgenössischen Vorstellungen ‚jüdischer’ und ‚afroamerikanischer’ Subjektivität wider. So schrieb Dixon: „To compare the Jew, who occupies the highest pinnacle of human superiority and intellectual attainment, with the Negro, who forms the mud at its base, is something which only a Negro with more than the usual vanity and impudence of his race could attempt“ ([unbekannt], „Impudent Nigger“, 22.9.1905). 111 Leonard Dinnerstein, The Leo Frank Case. Athens et al.: The University of Georgia Press 2008, S. 67; [unbekannt], „Revival of Business.“ In: Richmond Dispatch, 12.4.1891, S. 2; [unbekannt], „Judenhetze.“ In: Richmond Times, 17.8.1890, S. 2. 112 Sander L. Gilman, „Mark Twain and the Diseases of the Jews.“ In: American Literature, Jg. 65, Nr. 1 (1993), S. 95–115, hier S. 96. Die Konstruktion eines spezifischen ‚jüdischen’ Körpers stellte nicht die einzige Analogie zwischen Twains Perspektive auf ‚Juden‘ und der von Antisemit_innen dar. In Concerning the Jews versah Twain ‚Juden’ auch mit anderen Charakteristika, wie z. B. dem Mangel an Patriotismus, die ihnen auch im antisemitischen Diskurs zugeschrieben wurden (Louise A. Mayo, The Ambivalent Image: Nineteenth-Century America’s Perception of the Jew. Rutherford: Farleigh Dickinson University Press 1988, S. 138). Somit zeigten sich auch in Twains Haltung gegenüber Juden die enge Verwandtschaft zwischen philosemitischen und antisemitischen Denkmustern sowie die daraus resultierende Gefahr, dass Philosemitismus potenziell jederzeit in Judenfeindschaft umschlagen kann. Als Ursache für die ambivalente Haltung Twains zu Juden beschreibt Robert Michael die ländliche Sozialisation Twains. Antisemitismus sei in vielen ländlichen Regionen des Südens im
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Diesen in den Körpern von ‚Juden‘ verankerten ausgeprägten ökonomischen Sinn verstand Twain, ebenso wie Dixon, als ursächlich für die feindliche Haltung vieler Südstaatler_innen gegenüber ‚Juden‘. Wie bereits in dem vorherigen Kapitel geschrieben, verortete er die Anfänge dieser Aversion in der Zeit nach dem Bürgerkrieg und machte die vermeintliche Rolle von ‚Juden‘ innerhalb der Agrarökonomie als Ursache dafür aus.113 Häufig verknüpften philosemitisch eingestellte Zeitgenoss_innen die ‚Juden‘ zugeschriebene ökonomische Potenz mit einem daraus resultierenden gesellschaftlichen Einfluss. ‚Juden‘ hätten ihren Reichtum genutzt, um politische Entscheidungen in ihrem Interesse zu modifizieren. In Differenz zu judenfeindlichen Konstruktionen schrieben Philosemit_innen dem ‚Juden‘ unterstellten Einfluss allerdings häufig positive Effekte zu. So berichtete der Richmond Dispatch, dass der russische Zar wegen einer Intervention aus dem Hause Rothschild judenfeindliche Edikte aufgehoben habe. So, it was a Rothschild’s threat that prevented the application of the Russian edicts against the Jews! We took it for granted that some such halt at this would be called to the Czar’s unwise as well as most unjust proceeding. The Russians should by this time know the power of the purse as well as that of the press. The Jews are thrifty everywhere, and that the great Hebrew bankers of Europe have promptly exercised their influence to the rescue of a part of the people of their race from persecution is in the highest decree creditable to them as a class and to human nature.114
Auch in anderen Kontexten wurde bewundernd darüber berichtet, dass ‚Juden‘ ihre Macht in den Kämpfen gegen Judenfeindschaft fruchtbar gemacht hätten.115 Jedoch zeigt sich auch in diesen eher wohlwollenden Berichten erneut die enge Verwobenheit von philosemitischen und antisemitischen Sichtweisen. So hieß es über ‚Juden‘ in Marokko einerseits, dass diese durch den Einsatz ihrer finanziellen Mittel die ihnen auferlegten gesellschaftlichen Diskriminierungen alltäglichen Leben derart präsent gewesen, dass Twain trotz seines Vorhabens, für Juden und gegen Antisemitismus Partei zu ergreifen, selbst auf antisemitische Stereotype zurückgegriffen habe (Michael, American Antisemitism, S. 111–114). 113 Mark Twain, Concerning the Jews. New York et al.: Harper & Brothers Publishers 1934, S. 10 f. 114 [Unbekannt], [kein Titel]. In: Richmond Dispatch, 19.8.1890, S. 2. 115 [Unbekannt], „Rich Jews.“ In: The Anderson Intelligencer, 29.9.1870, S. 4; [unbekannt], „Hebrew Progress.“ In: The Ouachita Telegraph, 21.4.1888, S. 4; [unbekannt], „Jews Leaders of London Society.“ In: Daily Times, 10.11.1889, S. 3.
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hätten umgehen können. Andererseits hätten sie sich auf diesem Weg selbst zu den Herren ihrer (vormaligen) Herren aufgeschwungen.116 Sowohl in zeitgenössischen philosemitischen wie auch judenfeindlichen Weltwahrnehmungen wurden ‚Juden‘ also in zentralen Aspekten identisch konstruiert. Häufig unterschieden sich die beiden Perspektiven nur in der Beurteilung der Eigenschaften, die ‚Juden‘ attribuiert wurden. Insofern bereiteten auch die philosemitischen Verknüpfungen von ‚Juden‘ mit Ökonomie und Macht potenziell der antisemitischen Imagination einer ‚jüdischen‘ Verschwörung den Boden. Viele Südstaatler_innen integrierten diese Vorstellung in ihre Bedrohungswahrnehmungen und identifizierten ‚Juden‘ als (partiell) verantwortlich für die sich vollziehenden gesellschaftlichen Veränderungen. In der Satirezeitung The Mascot, die Ende des 19. Jahrhunderts in New Orleans erschien, wurden ‚Juden‘ wiederholt mit der Finanzsphäre verknüpft und als eine Ursache der sozioökonomischen Probleme ausgemacht. So zeigt das Titelblatt der Ausgabe vom 11. September 1886 eine Karikatur, in der eine kräftige und überdimensionierte Frau mit einem Blasebalg, der die Aufschrift „Popular Uprising“ trägt, zu sehen ist.117 Mit diesem entfacht sie einen gewaltigen Wirbelsturm und bläst die als Übel ausgemachten gesellschaftlichen Zustände von dannen, und mit ihnen die für die unterschiedlichen Missstände als verantwortlich identifizierten gesellschaftlichen Gruppen. Als eines dieser Übel wird das „Brokerage System“ benannt. Verkörpert wird dieses System in der Karikatur durch einen Mann, der einen Sack mit Dollars in den Händen hält und durch seine physiognomischen Merkmale als ‚Jude‘ markiert wurde. Die Hakennase sowie die schwarzen, krausen Haare und sein großer Mund mit dicken Lippen machten ihn als ‚Jude‘ kenntlich.118 ‚Juden‘ waren also in zeitgenössischen Wahrnehmungen dermaßen 116 [Unbekannt], „The Jews of Morocco: A Most Interesting and Most Trying Race of People.“ In: Daily Times, 25.6.1888, S. 3. 117 [Unbekannt], „The Equinoctial – An Impending Cyclone.“ In: The Mascot, 11.9.1886, S. 1. 118 In Artikeln und Karikaturen, die in The Mascot publiziert wurden, wurden Juden häufig mit diesen physiognomischen Attributen versehen und damit ihr Judesein sichtbar gemacht. Siehe u. a. [unbekannt], „A Recent Club Scene.“ In: The Mascot, 1.12.1888, S. 8; [unbekannt], „Our Licensed Bunco Steering – Bud Renaud, Levy & Co., Sole Managers.“ In: The Mascot, 16.2.1889, S. 8; [unbekannt], „Their Trials and Tribulations.“ In: The Mascot, 17.8.1889, S. 1; [unbekannt], „Acute Gastritis: A Recent Happening at the Sakesides.“ In: The Mascot, 23.8.1890, S. 8; [unbekannt], „‚Thrown Him Down, Levy.‘“ In: The Mascot, 4.10.1890, S. 8; [unbekannt], „Another Sheenie in Trouble.“ In: The Mascot, 1.8.1891, S. 8; [unbekannt], „Maurice Hart and the Citizen.“ In: The Mascot, 5.12.1891, S. 1; [unbekannt], „Natural Distrust.“ In: The Mascot, 2.4.1892, S. 14; [unbekannt], „Jews on the Strike.“ In: The Mas-
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eng mit Brokertum verknüpft, dass sie als die ideale Verkörperung dieser Berufsgruppe galten.119
Abb. 2: „The Equinoctial – An Impending Cyclone.“ In: The Mascot, 11. 9. 1886, Louisiana Research Collection, Tulane University.
cot, 12.11.1892, S. 6. Während Eric Goldstein und Leonard Rogoff gezeigt haben, dass die Mehrheit der angloamerikanischen Südstaatengesellschaft Juden als weiß wahrnahm, verweisen die Konstruktionen des Körpers von Juden darauf, dass judenfeindliche Teile der Bevölkerung die Whiteness von Juden zumindest anzweifelten (Eric Goldstein, The Price of Whiteness: Jews, Race, and American Identity. Princeton et al.: Princeton University Press 2006; Leonard Rogoff, „Is the Jew White? The Racial Place of the Southern Jew.“ In: Mark K. Bauman (Hg.), Dixie Diaspora: An Anthology of Southern Jewish History. Tuscaloosa: University of Alabama Press 2006, S. 390–426). 119 [Unbekannt], „The Equinoctial“, 11.9.1886.
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Abb. 3: Vergrößerter Ausschnitt aus der Karikatur „The Equinoctial – An Impending Cyclone“, der den dargestellten ‚Juden‘ fokussiert.
Auch in anderen Ausgaben von The Mascot wurde diese Gleichsetzung von ‚Juden‘ mit Spekulantentum betrieben. Am 25.5.1889 erschien auf der Titelseite eine Karikatur mit dem Titel „Why the Cotton Trade is Disappearing“, in der die für den Niedergang des Baumwollhandels ausgemachten Faktoren und Kräfte benannt wurden. Als eine Ursache wurden vermeintliche Baumwollspekulanten identifiziert, die in der Zeichnung als ‚Juden‘ dargestellt wurden.120 Am 18.1.1890 veröffentlichte die gleiche Zeitung die Karikatur „The Commandment Breakers“, in der ‚Juden‘ als Akteure des Kreditwesens und der damit häufig einhergehenden Pfändung von Grund und Boden angeklagt wurden.121 Auch andere Zeitungen wie The Louisiana Populist setzten ‚Juden‘ mit Bankern gleich.122 Im Southern 120 [Unbekannt], „Why the Cotton Trade Is Disappearing.“ In: The Mascot, 25.5.1889, S. 1. 121 [Unbekannt], „The Commandment Breakers.“ In: The Mascot, 18.1.1890, S. 1. 122 [Unbekannt], [kein Titel]. In: The Louisiana Populist, 2.11.1894, S. 4.
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Mercury wiederum war im Februar 1893 Folgendes zu lesen: „It is astonishing with what success the lineal descendants of the money changers and bird sellers of the temple that Christ applied the front end of his sandals to still ply their avocation of skinning the people through the bonding system.“123 Die Konstruktion von ‚Juden‘ als Akteure der Finanz- und Zirkulationssphäre wurde häufig mit dem ihnen attribuierten unmoralischen und unbedingten Streben nach Reichtum in Verbindung gebracht und eine ‚jüdische‘ Verschwörung gegen das arbeitende Volk ausgemacht. Vor allem die Imagination, dass der Resumption Act und die damit verbundene Implementierung des Goldstandards das Resultat einer ‚jüdischen‘ Verschwörung gewesen seien, hatte während der 1880er und 1890er Jahre, und insbesondere während der Depression von 1893, Hochkonjunktur.124 Im Southern Mercury, aber auch in anderen Zeitungen und Publikationen der populistischen Bewegung, wurde dieses Verschwörungsnarrativ in unterschiedlichen Varianten verbreitet. Häufig wurde dabei im stark religiösen Süden auf religiös konnotierte Metaphern zurückgegriffen.125 So veröffentlichte der Louisiana Populist einen Artikel mit dem Titel „Letter from the Devil“, in dem der anonyme Verfasser auf die biblische Geschichte vom Goldenen Kalb rekurrierte: „On the other hand there is an instance in the Bible where God’s chosen people adopted the single gold standard. It was when they built the golden calf.“126 Außerdem rekurrierten Zeitgenoss_innen in diesem Kontext auf den weit verbreiteten Vorwurf, dass ‚Juden‘ für die Kreuzigung von Jesus verantwortlich gewesen seien.127 In Silver Siftings and Short Sayings verglich der Autor J. R. Sovereign, ein führender Repräsentant
123 [Unbekannt], „Still Plying Their Trade.“ In: Southern Mercury, 2.2.1893, S. 3. 124 Ellison S. Keitt, „The Sage of Enoree.“ In: The Newberry Herald and News, 4.7.1894, S. 1. 125 Michael, American Antisemitism, S. 93; Robert Rockaway und Arnon Gutfeld, „Demonic Images of the Jew in the Nineteenth Century United States.“ In: American Jewish History, Jg. 89, Nr. 4 (Dezember 2001), S. 355–381, hier S. 379. Zur Bedeutung von Religion für die populistische Bewegung siehe u. a. Creech, Righteous Indignation; Rhys H. Williams und Susan M. Alexander, „Religious Rhetoric in American Populism: Civil Religion as Movement Ideology.“ In: Journal for the Scientific Study of Religion, Jg. 33, Nr. 1 (März 1994), S. 1–15. 126 [Unbekannt], „Letter from the Devil.“ In: The Louisiana Populist, 12.2.1897, S. 3. 127 Charles Carroll, „The Negro a Beast“ or: „In the Image of God“: The Reasoner of the Age, the Revelator of the Century! The Bible as It Is! The Negro and His Relation to the Human Family! […] The Negro not the Son of Ham […]. St. Louis: American Book and Bible House 1900, S. 252; Michael, American Antisemitism, S. 94; Rockaway und Gutfield, „Demonic Images“, S. 370–373; [unbekannt], „The Sunday School.“ In: The Abbeville Press and Banner, 25.5.1904, S. 6.
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der Knights of Labor, die Situation der Gegner_innen des Goldstandards mit der von Jesus.128 Christ would never have been crucified if He had confined His teachings to theological questions, but he took up social questions as well. He rebuked the rich. He denounced usury. He scourged the thieves from the temple and dignified labor. And somehow it seems to me that Christ would be crucified for the same reasons if he were on earth today.129
Das bekannteste zeitgenössische Beispiel für die Verbindung zwischen religiös motiviertem Antijudaismus und Elementen antisemitischer Weltsichten stellt die Cross of Gold Speech des demokratischen Präsidentschaftskandidaten William Jennings Bryan dar.130 Als zentrale Akteure der ‚jüdischen‘ Verschwörung wurden häufig ‚die Rothschilds‘ ausgemacht.131 Populist_innen schrieben ‚den Rothschilds‘ eine Allmacht zu, die es ihnen erlaubt habe, die politischen Geschicke Europas und 128 Die Knights of Labor bildeten zusammen mit der Farmers’ Alliance das Rückgrat der populistischen Bewegung. Zur Zusammenarbeit von Farmer- und Arbeiterorganisationen siehe u. a. Hild, Greenbackers, Knights of Labor. 129 J. R. Sovereign, Silver Siftings and Short Sayings. Carthage: The Silver Review Press [o. J.], S. 5, LRWL, MBP, Box 55, Folder 769. 130 Rockaway und Gutfeld, „Demonic Images“, S. 381. 131 Rothschilds waren eine jüdische Familie von erheblichen Reichtümern und gesellschaftlichem Einfluss. Ihre Geschichte lässt sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen (Derek Wilson, Die Rothschilds: Eine Geschichte von Ruhm und Macht bis in die unmittelbare Gegenwart. München: Wilhelm Heyne Verlag 1994, S. 17). Bis zum Sturz der französischen Monarchie im Jahre 1848 war James de Rothschild innerhalb der Pariser Finanzkreise führend. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts begannen einige Rothschilds auch innerhalb des Londoner Finanzgewerbes Fuß zu fassen. Bereits in den 1810ern agierte Nathan Mayer Rothschild als Kreditgeber der britischen Regierung, wobei er auf Grund dieses stark risikobehafteten Geschäfts auf großen Widerstand seiner Brüder stieß. Trotz dieser durchaus beachtenswerten Erfolge blieben die Brüder Nathan, Salomon, Amschel, James und Carl zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei ihren Finanzgeschäften im Schatten von Konkurrenten wie John Charles Herries. In der Konkurrenzsituation mit nicht-jüdischen Bankhäusern machten ihnen auch immer wieder antisemitische Einstellungen zu schaffen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also vor der Zeit des Populism, endete bereits wieder die Hochzeit der Rothschild-Banken, die zunehmend von den neu gegründeten, als Aktiengesellschaften firmierenden Banken abgelöst wurden (Fritz Backhaus, „Die Rothschilds und das Geld.“ In: Johannes Heil und Bernd Wacker, Shylock?: Zinsverbot und Geldverleih in jüdischer und christlicher Tradition. München: Wilhelm Fink Verlag 1997, S. 147–170, hier S. 152; Stanley D. Chapman, „Die Etablierung der Rothschilds im englischen Bankgewerbe.“ In: Georg Heuberger (Hg.), Die Rothschilds: Eine europäische Familie. Frankfurt: Jan Thorbecke Verlag 1994, S. 71–87).
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auch Nordamerikas nach ihrem Gusto zu gestalten. Sie galten als Herrscher über das „Finanzimperium der Welt“.132 Die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen von Politikern unterschiedlichster Couleur wurden als von ‚den Rothschilds‘ diktiert verstanden, die federführend an der Durchsetzung des Goldstandards beteiligten Politiker somit als ausführende Marionetten wahrgenommen. John Sherman, ein führender Politiker der Republikanischen Partei und späterer Finanz- und Außenminister, war 1873 als Vorsitzender des Senate Finance Committee maßgeblich in die Ausarbeitung des Gesetzesentwurfes involviert gewesen. In populistischen Verschwörungsnarrativen wurden dieser Handlungsspielraum und die bewusste Entscheidung Shermans für die Demonetisierung des Silbers jedoch negiert. Er erschien lediglich als korrumpierter Befehlsempfänger einer Kraft, die aus dem Hintergrund das arbeitende amerikanische ‚Volk‘ ausplünderte. So hieß es im Southern Mercury: He [‚Rothschild‘, K. K.] made it so by buying John Sherman to sneak a silver killing bill through congress in 1873. By this time the Rothschilds have been able to sock it to the American producer, as is shown by the table that bonds this article. His dollar will buy twice as much to day as it did twenty years ago.133
Jedoch wurde nicht nur John Sherman, sondern die gesamte Regierung der USA als von ‚den Rothschilds‘ ferngesteuert wahrgenommen. Nicht weniger als die Unabhängigkeit und die nationale Souveränität der USA galten in Folge der angeblichen Dominanz ‚der Rothschilds‘ als verloren gegangen. Einige sahen die Vereinigten Staaten gar wieder in ihre eigene koloniale Vergangenheit zurückgeworfen und zur „Satrapie Europas“ verkommen.134 Währungskonferenzen wurden in diesem Zusammenhang als Veranstaltungen verstanden, auf denen die Aushöhlung der US-Unabhängigkeit betrieben werde.135 132 [Unbekannt], „‚Make Us a King to Judge Us like All the Nations,‘ Said the Jews.“ In: The Louisiana Populist, 6.9.1895, S. 1. 133 [Unbekannt], „Interesting Comparisons.“ In: Southern Mercury, 5.1.1893, S. 11. 134 Brown, „American Slavery“, 13.4.1889, S. 1. Allerdings bedrohten in populistischen Verschwörungsnarrativen „die Rothschilds“ nicht nur die Unabhängigkeit der USA. Auch die europäischen Staaten befänden sich in der Abhängigkeit „der Rothschilds“ ([Unbekannt], „Hebrew Progress“, 21.4.1888). 135 Ders., S. 1; Tennessee Silver Campaign Committee, Democracy and Free Silver: An Address to Tennesseans, Issued by the Tennessee Silver Campaign Committee. Nashville: [Selbstverlag] 1895, S. 23, LRWC, SPC.
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Während Populist_innen ‚die Rothschilds‘ als treibende Kraft der Unterdrückung identifizierten, zielte diese Figur aber nicht auf Mitglieder der Familie Rothschild alleine, sondern auf ‚Juden‘ insgesamt. So hieß es in diesem Sinne im Southern Mercury: „The Rothschilds’ world with its Shylock children are laughing at us American sheep.“136 Die Rothschilds‘ diente als Codewort für ‚jüdische‘ Macht und Einfluss. Ein anonym bleibender Zeitgenosse fasste ‚Juden‘ unter Rückgriff auf modernes rasseantisemitisches Wissen, das sich in Begriffen wie „Semiten“ und „Ariern“ manifestierte, zu einem durch die ‚Blutsbande‘ verbundenen Kollektiv zusammen, dem ‚die Rothschilds‘ als Anführer dienten: I have never found a Jew who did not follow Lord Rothschild, and whether a citizen of America or not, whether sworn to obey our constitution or not, he wants the money of the constitution overthrown. For a long time I thought that a new era in the history of the Jews had come. We had treated them exactly like other people, made them citizens, let them share in the rights that we had won by hard fighting, although there is not 1 inch per mile of fighting material among them and we must always do their share of the fighting for them. The unanimity with which they obey Rothschilds shows that blood is still thicker than water and for the advantage of the leader of their race they will even give up their own.137
Eine zweite zentrale antisemitische Figur stellte Shylock dar.138 In den Südstaaten, und insbesondere unter Populist_innen, war der Gebrauch dieser dämonisierenden Figur in den 1880er und 1890er Jahren weit verbreitet.139 Mit ihr wurden 136 [Unbekannt], „Rothschilds at the Bottom of it!“ In: Southern Mercury, 19.1.1893, S. 5. 137 [Unbekannt], „Is It Not True.“ In: Southern Mercury, 26.1.1893, S. 2 f., hier S. 2. 138 Zur Figuration Shylock und ihrem Verhältnis zu judenfeindlichen und antisemitischen Diskursen im Allgemeinen siehe u. a. D. M. Cohen, „The Jew and Shylock.“ In: Shakespeare Quarterly, Jg. 31, Nr. 1 (Frühling 1980), S. 53–63; Anat Feinberg-Jütte, „Siebtes Bild: Shylock.“ In: Julius H. Schoeps und Joachim Schlör (Hg.), Antisemitismus: Vorurteile und Mythen. München et al.: Piper 1995, S. 119–126; Michael, American Antisemitism, S. 33. 139 I. E. Deen, „Save the American Home.“ In: Southern Mercury, 6.7.1893, S. 1–3; A. O. Leary, „The Real Cause.“ In: Southern Mercury, 23.2.1893, S. 1 f., hier S. 1; Charles H. Otken, The Ills of the South: Related Causes Hostile to the General Prosperity of the Southern People, New York et al.: G. P. Putnam’s Sons 1894, S. 8 f., S. 151 f.; C. F. Turner, „The Time Has Come: C. F. Turner, of Monroe, Announces Ready for the PEOPLE’S PARTY CANDIDATE.“ In: Southern Alliance Farmer, 28.6.1892, S. 1; [unbekannt], „The Campaign Opened.“ In: The Pickens Sentinel, 15.3.1894, S. 1+4. Siehe auch Oscar Handlin, „American Views of the Jew at the Opening of the Twentieth Century.“ In: Jeffrey S. Gurock (Hg.), Anti-Semitism
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Menschen oder Geschäftspraktiken bezeichnet, die als besonders raffgierig und ausbeuterisch wahrgenommen wurden.140 So galt Shylock als typischer „moneyshark“.141 Populist_innen integrierten diese Figur in ihre Analysen gesellschaftlicher Verhältnisse. Sie verstanden ihren Kampf gegen die Demonetisierung des Silbers als einen Kampf „für die Humanität und gegen die Shylocks Englands und der Wall street [sic!]“.142 Trotz des häufigen Rekurses auf diese Figur in der Gesellschaft des Südens im Allgemeinen und unter Populist_innen im Besonderen sehen Historiker_innen in dieser breiten Rezeption häufig keine Manifestation antisemitischen Wissens.143 Selbst Richard Hofstadter galt die häufig von Populist_innen vorgenommene Anrufung der Shylock-Figur nicht per se als antisemitisch. Erst die Verknüpfung von Shylock mit der vermeintlich von ‚den Rothschilds‘ ausgehenden Verschwörung habe die Figuration deutlich antisemitisch aufgeladen.144
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in America, Part One. New York et al.: Routledge 1998, S. 187–208, hier S. 191–193; John Higham, „Anti-Semitism in the Gilded Age: A Reinterpretation.“ In: Gurock (Hg.), AntiSemitism, Part One, S. 209–228, hier S. 214; ders., „Social Discrimination against Jews in America, 1830–1930.“ In: Gurock (Hg.), Anti-Semitism, Part One, S. 229–261, hier S. 237 f.; Michael, American Antisemitism, S. 93. Anteil an dieser Verbreitung hatten u. a. die vielen Aufführungen von Shakespeares Der Kaufmann von Venedig, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zahlreich im Süden stattfanden ([unbekannt], „Amusements.“ In: Memphis Daily Appeal, 29.10.1880, S. 4; [unbekannt], „Amusements.“ In: Memphis Daily Appeal, 2.11.1882, S. 4; [unbekannt], „Here and There.“ In: Semi-Weekly South Kentuckian, 17.2.1885, S. 3; [unbekannt], „Capturing the Crowd.“ In: The Manning Times, 10.11.1886, S. 1; [unbekannt], „Booth’s Best Character.“ In: Edgefield Advertiser, 1.9.1892, S. 4; [unbekannt], „Walter Whiteside Arrived.“ In: The Evening Bulletin, 8.1.1894, S. 3; [unbekannt], „Whiteside as Shylock.“ In: Daily Public Ledger, 9.1.1894, S. 1). W. H. Malone, „The Silver Question – No. 3.“ In: Asheville Daily Citizen, 1.8.1893, S. 2; [unbekannt], „A Political Anecdote.“ In: The Charlotte Democrat, 13.6.1890, S. 2; [unbekannt], „Hon. W. M. Robbins’ Speech.“ In: The Charlotte Democrat, 28.8.1891, S. 2; [unbekannt], „About Some Things.“ In: The Durham Daily Globe, 6.4.1892, S. 2; [unbekannt], „A Sorry Mess.“ In: The Durham Daily Globe, 2.9.1893, S. 2; [unbekannt], „The Issue of Bonds.“ In: The Durham Daily Globe, 18.1.1894, S. 2; [unbekannt], „Tillman Talks!“ In: The Durham Daily Globe, 10.4.1894, S. 1; [unbekannt], „A Daniel Come to Judgment.“ In: Watauga Democrat, 24.1.1895, S. 1. Semphronicus, „The Georgia Scenes, a Book Every Edgefield Boy Should Read – ‚Semphronicus‘ Delighted with Its Quaint and Queer Olla Podrida.“ In: Edgefield Advertiser, 20.2.1895, S. 2. J. W. Bowden, „The Silver Slogan Sounded: To Organize South Carolina.“ In: People’s Journal, 5.3.1896, S. 4; [unbekannt], „Silver Men: Called Together for the Campaign.“ In: The Watchman and Southron, 11.3.1896, S. 7. Creech, Righteous Indignation, S. 204. Hofstadter, Age of Reform, S. 78.
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Durch die Untersuchung zeitgenössisch hergestellter Verknüpfungen zwischen Shylock und ‚Juden‘ werde ich im Folgenden zeigen, dass diese Einschätzungen einer Revision bedürfen. Die Shylock-Figur war in den Südstaaten gegen Ende des 19. Jahrhunderts, wie bereits dargelegt, weit verbreitet. Allerdings fungierte diese Figur nicht bloß als generelle Bezeichnung für gierige und skrupellose Menschen. Vielmehr verknüpften Südstaatler_innen Shylock auf mannigfaltige Weise mit ‚Juden‘. Die Anrufung der Shylock-Figuration stellte also eine rassifizierte Aussage dar. Dieses rassifizierte Verständnis manifestierte sich in zahlreichen Zeitungsartikeln, in denen Shylock explizit als ‚Jude‘ markiert wurde: Gegner_innen des Ausbaus des öffentlichen Schulwesens wurden geziehen, von einem größeren Geiz und Egoismus als „Shylock, der Jude“, geprägt zu sein; europäischen ‚Juden‘ wurde vorgeworfen, das größtmögliche Pfund Fleisch aus dem Leib ihrer Schuldner zu schneiden; die Eigenschaft, unversöhnlich zu sein, wurde als unchristlich und als auf ideale Art und Weise von „Shakespeares Juden, Shylock“, verkörpert benannt; der in den gesamten USA bekannte Publizist Charles Henry Smith, der unter dem Pseudonym Bill Arp schrieb, verglich den vermeintlichen Hass von Nordstaatler_innen gegenüber dem Süden mit dem Verhalten Shylocks gegenüber Christ_innen.145 Eine weitere Strategie, Shylock als ‚jüdisch‘ zu markieren, bildete die Verwendung antijudaistischer Metaphern, die vor dem Hintergrund der zeitgenössisch weiten Verbreitung eines religiösen Antijudaismus in den USA leicht decodierbar waren.146 In „The Honest Dollar“, einem Artikel, der zuerst im Alliance Advocate aus Lewisville, Tennessee, erschien und der sich der Kritik der nationalen Währungs- und Finanzpolitik widmete, wurde Shylock mit „plutokratischen Pharisäern“ gleichgesetzt.147 Auch Winfield Scott Morgan, eine bedeutende Persönlichkeit der Farmerorganisation Agricultural Wheel, griff auf diese Technik zurück. In History of the Wheel and Alliance and the Impending Revolution konstruierte Morgan ein Narrativ, in dem sämtliche vermeintlich oder real über die Farmer und die ‚arbeitenden Menschen‘ hereinbrechenden Übel mit der Shylock-Figur verknüpft wurden. Ohne dass in dem Buch Shylock explizit als 145 [Unbekannt], „To the Friends of Education in Sumter County.“ In: The Watchman and Southron, 31.7.1889, S. 4; [unbekannt], „Brabster West’s Letter.“ In: The Louisiana Populist, 3.7.1896, S. 2; [unbekannt], „The Law of Forgiveness.“ In: The Anderson Intelligencer, 7.6.1888, S. 1; [unbekannt], „Bill Arp’s Talk.“ In: The Anderson Intelligencer, 22.8.1889, S. 1. 146 Naomi W. Cohen, „Antisemitism in the Gilded Age: The Jewish View.“ In: Jewish Social Studies, Jg. 41, Nr. 3/4 (1979), S. 187–210, hier S. 190. 147 [Unbekannt], „The Honest Dollar.“ In: Indian Chieftain, 23.7.1891, S. 1.
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‚jüdisch‘ benannt wurde, stellte Morgan zum einen durch die Verwendung einer religiös aufgeladenen Rhetorik und zum anderen durch die Verknüpfung mit ‚den Rothschilds‘ Verbindungen zwischen Shylock und ‚Juden‘ her: Here we have a part of the hellish conspiracy ‚conceived in sin and born in iniquity,‘ that was destined to rob the people of their just rewards by being empowered to put a price upon their labor – a league between the devil and the money gods of Europe and America; the golden calf in the wilderness of sin as compared with the tablets of the law guaranteeing equality and justice to a free and liberty loving people. England’s opportunity to humble a proud and free race whose liberty was enlightening the world and giving the lie to the old barbarian doctrine that kings ruled by divine right. Bunker Hill, Trenton, Yorktown, and a hundred victories of a brave people avenged by the success of this hellish plot; the victory of New Orleans wiped out by the money of the Rothschilds. But it ‚would not do to let the greenback circulate as money for any length of time, for we cannot control them,‘ said Shylock of England to Shylock of America [sämtliche Hervorhebungen durch K. K.]; and the American banker issued the following circular.148
Neben ‚den Rothschilds‘ und der Teufelsmetapher, die in der Geschichte häufig Anwendung auf ‚Juden‘ fand, assoziierte auch die Anrufung der Goldenes-KalbMetapher die Shylocks mit ‚Juden‘.149 Vereinzelt manifestierte sich die von Zeitgenoss_innen hergestellte enge Verknüpfung von Shylock mit Juden in den physiognomischen Eigenschaften, die der Figuration zugeschrieben wurden. In einem Zeitungsartikel, in dem eine zu Besuch in Frankfort, Kentucky, weilende Zirkusgruppe sowie die physischen Merkmale der einzelnen Mitglieder beschrieben wurden, hieß es über einen dazugehörigen Hindu, dass er ein Gesicht wie ein Shylock habe.150 Eine genauere Vorstellung des Gesichts eines Shylock, aus der die Verknüpfung dieser Sozialfigur mit ‚Juden‘ deutlich hervorgeht, lieferte ein Bericht über eine Begegnung mit einem Geldverleiher: 148 W. Scott Morgan, History of the Wheel and Alliance and the Impending Revolution. St. Louis: C. B. Woodward Company 1891, S. 428 f. 149 Cohen, „Antisemitism in the Gilded Age“, S. 198. Zur „Goldenes-Kalb“-Metapher und ihrer Rezeption in antisemitischen Diskursen siehe u. a. Johannes Heil, „Das Geld und das Gold des Kalbes.“ In: Heil und Wacker (Hg.), Shylock?, S. 35–58, hier S. 35 f.; Tobias Jaecker, Hass, Neid, Wahn: Antiamerikanismus in den deutschen Medien. Frankfurt et al.: Campus Verlag 2014, S. 359 f. 150 [Unbekannt], „Barnum and the White Elephant.“ In: Frankfort Roundabout, 4.10.1884, S. 1.
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It was a quaint little old man whom I met some days ago in a little, foreign looking money changer’s shop near Bowling Green. He might have played Shylock without making up, with his patriarchal white beard and hair, his keen black eyes and curved nose, but a very amicable and good natured Shylock I found him, with not a suggestion in his manner of any desire to exact even an ounce of flesh for the time I took in asking curious questions about the currencies of all nations.151
Zu der idealen Verkörperung eines Shylock gehörte für den Verfasser des Zeitungsartikels neben weißem Haar und schwarzen, stechenden Augen auch eine gekrümmte Nase. Gerade die ‚Hakennase‘ galt als ‚jüdisches‘ Attribut par excellence.152 Die Ausstattung Shylocks mit vermeintlich ‚jüdischen‘ körperlichen Merkmalen verweist auf die in zeitgenössischen Sichtweisen vorgenommene Verschmelzung dieser Figur mit ‚Juden‘. Die antisemitische Aufladung der Shylock-Figur verdeutlicht sich auch ex negativo in unterschiedlichen Versuchen, das hegemoniale Shylock-Narrativ umzuschreiben und der Figur auf diesem Wege die antisemitische Stoßrichtung zu nehmen. In einer dieser Interventionen wurde der shakespearsche Shylock als eine Reinterpretation eines weiter zurückliegenden Ereignisses zwischen einem Juden, Samson Cenada, und einem Christen, Paul Secchi, dargestellt. Der Verfasser kam zu dem Schluss, dass der „eigentliche Shylock“ nicht etwa ein Jude, sondern vielmehr ein Christ gewesen sei.153 Andere Zeitgenoss_innen versuchten die Entstehung von Shylock zu historisieren und beschrieben die Entstehung der Figur als Resultat eines ungerechten Zufalls.154 It is one of the greatest misfortunes of the Jewish race – a part of the tragic inheritance of the Hebrew people – that it should have attracted Shakespeare’s attention at the moment of its deepest degradation in his own day, when a Jewish physician of Elizabethan London, Dr. Ro-
151 [Unbekannt], „Money in Many Lands.“ In: The Evening Bulletin, 6.3.1890, S. 1. 152 Siehe insbesondere das Kapitel „The Jewish Nose“ In: Sander Gilman, The Jew’s Body. New York et al.: Routledge 1991. 153 [Unbekannt], „Shylock Not a Jew.“ In: The Charleston Daily News, 31.1.1873, S. 2; [unbekannt], „Was Shylock a Jew?“ In: Memphis Daily Appeal, 7.3.1880, S. 2; [unbekannt], „The Original Shylock.“ In: The Ouachita Telegraph, 12.2.1887, S. 1; [unbekannt], „The Story of Shylock.“ In: Newberry Herald and News, 31.1.1894, S. 4. 154 [Unbekannt], „A Defense of Shylock: Urgent Plea for the Jew that Shakespeare Drew.“ In: The Richmond Times, 14.6.1891, S. 8; [unbekannt], „The Unhistoric Shylock.“ In: The Richmond Times, 1.12.1891, S. 4.
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derigo Lopez, had just been executed for treason against the Queen. A year later appeared the play ‚The Merchant of Venice,‘ and Shylock became an immortal type of the Jew.155
Das zufällig erweckte Interesse Shakespeares habe dazu geführt, dass das einmalige Handeln eines einzelnen Juden zu einem spezifischen historischen Zeitpunkt sich zum „unsterblichen Typus des Juden“ verewigt habe. Sowohl die unterschiedlichen Strategien der Markierung von Shylock als ‚jüdisch‘ wie auch die Versuche, die Verknüpfung von ‚Juden‘ mit dieser Figur zu dekonstruieren, machen deutlich, dass diese für Zeitgenoss_innen eng mit ‚Juden‘ verbunden war. Somit transportierte die Verwendung der Shylock-Figur, entgegen der Annahme Hofstadters, an sich schon antisemitische Inhalte und nicht erst, wenn sie noch zusätzlich mit ‚den Rothschilds‘ verwoben wurde.
3.4.2 ‚Juden‘ und die Unterwerfung des Südens
Wie zuvor während der Reconstruction Era und später während des Leo FrankCase wurde das Zentrum der vermeintlich über den Süden (und den Westen) hereinbrechenden Konspiration außerhalb der betroffenen Sektion verortet. Erneut galt der Nordwesten der USA, und insbesondere New York, als ein gewichtiger Ausgangspunkt der Subordination des Südens. ‚Juden‘ wurden häufig als aus dem Norden operierende Kräfte konstruiert. Südstaatler_innen sahen sich Attacken des „Northern Shylock“ ausgesetzt oder versuchten den Agrarsektor aus dessen Umklammerung zu befreien.156 Häufig wurden ‚Juden‘ dabei eng mit New York verwoben und mit den „Brokern der Wall Street“ gleichgesetzt.157 Andere Zeitgenoss_innen verknüpften ‚Juden‘ mit Yankees und verorteten beide wiederum in New York. In diesem Sinne identifizierte ein Populist im Southern Mercury die vermeintlichen Hintermänner des Handelns von Präsident Cleveland mit folgenden Worten: Mr. Cleveland is a man who never changes his mind. He made up his mind in the first place that New York City is the United States, and that the Jew and Yankee bank ring and the Jewish
155 [Unbekannt], [kein Titel]. In: Tensas Gazette, 8.5.1896, S. 2. 156 [Unbekannt], „Campaign Opened“, 15.3.1894, hier S. 1; [unbekannt], „The Abbeville Meeting.“ In: The Watchman and Southron, 14.3.1894, S. 1; [unbekannt], „Senator J. G. Evans’ Speech.“ In: The People’s Journal, 27.9.1894, S. 2. 157 Brown, „American Slavery“, 13.4.1893, S. 1.
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importers are New York. So he has made himself a sort of Launcelot Gobbo, a hired man for the Jews, and put the policy of this government at whatever they want.158
Es zeigt sich also, dass die bereits während des Bürgerkriegs hergestellten Verknüpfungen zwischen ‚Juden‘ und Yankees, die während des Leo Frank-Case eine der wesentlichen Triebkräfte der antisemitischen Raserei bildeten, auch populistische Weltwahrnehmungen strukturierten, wenn auch nicht mit der gleichen Intensität und Wirkmacht wie in den Jahren zwischen 1913 und 1915. Allerdings wurden ‚Juden‘ nicht nur als aus dem Nordosten der USA operierend entworfen. Vielmehr war in populistischen Verschwörungsnarrativen neben der Nord-Süd-Konfliktlinie noch eine zweite historische Kampflinie von großer Bedeutung: die zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien. Zeitgenoss_innen verknüpften die Einführung des Goldstandards, der zuerst in Großbritannien durchgesetzt wurde, mit der Idee, dass die Vereinigten Staaten von Amerika wieder unter die Herrschaft der ehemaligen Kolonialmacht geraten seien. Britischen Banken und Spekulanten nahmen innerhalb dieses Verschwörungsnarrativs eine zentrale Rolle ein. Sie wurden als wichtige Akteure der vermeintlichen, gegen die USA gerichteten Verschwörung identifiziert.159 Politiker der beiden großen Parteien, weite Teile der Presse wie auch bedeutende politische Institutionen galten als vom Willen britischer Verschwörer abhängig. Präsident Cleveland wurde als „Englands Präsident der Vereinigten Staaten“ bezeichnet, der US-Kongress als ein Organ wahrgenommen, das auf Wunsch englischer „Goldverschwörer“ zusammenkomme, um das US-amerikanische ‚Volk‘ in Handschellen zu legen, und eine „englische Aristokratie“ als die wahre Regentin der USA ausgemacht.160 Teile der Agrarianist_innen identifizierten ‚Juden‘ als Akteure dieser angeblich von Großbritannien ausgehenden Verschwörung gegen die USA. ‚Juden‘ galten als im Bündnis mit der englischen Aristokratie stehend. Sie wurden als „Londoner Judenbanker“ bezeichnet, die Macht über Präsident Cleveland ausübten, oder gar als die heimlichen Regenten des Vereinigten Königreichs und 158 [Unbekannt], „Not True“, 26.1.1893, S. 2. 159 Austin, „John Bull Rules“, 28.6.1892; Nelson, „Call to Action“, 20.7.1893. 160 Harry Hinton, „An Open Letter.“ In: The Progressive Farmer, 4.7.1893, S. 1; [unbekannt], „Combined Capital“, 8.8.1893; [unbekannt], [kein Titel]. In: Southern Mercury, 17.8.1893, S. 8.
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somit als die Hauptverantwortlichen der Verschwörung.161 Die Situation der Bürger Großbritanniens diente in diesem Narrativ als Warnung an US-amerikanische Staatsbürger vor dem Wirken von ‚Juden‘.162 Über die Effekte der Etablierung des Goldstandards hieß es in diesem Sinne im Southern Mercury: It was a plain, cold robbery of the money and the rights of the English people by the Semitic parasites whom they had given a home and a shelter from a destruction that they had themselves invited according to their own accounts. How those subtle sons of subtle Jacob must have chuckled and laughed in their sleeves when they heard the stupid Saxons boast about their laws and their Magna Charta and their liberties.163
Die Konzeption des Verhältnisses zwischen Briten und ‚Juden‘ als eines zwischen wohlmeinenden, vor der Verfolgung Zuflucht gewährenden Engländern und diese Situation parasitär ausnutzenden, die britischen Staatsbürger ihrer Rechte beraubenden ‚Juden‘ stellte nicht bloß einen deskriptiven Versuch dar, eine historische Konstellation in Großbritannien zu schildern, sondern ist als Intervention in die zeitgenössischen gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA und insbesondere in die Debatten um Zuwanderungspolitik zu verstehen. Die Immigration der in Europa, und insbesondere im zaristischen Russland, in ihrer körperlichen Unversehrtheit bedrohten Juden und Jüdinnen stellte in dieser Perspektive den Ausgangspunkt des Niedergangs staatsbürgerlicher Rechte und Freiheiten in den USA dar. Die Rettung von ‚Juden‘ aus ihrer verzweifelten Lage würde auf lange Sicht den Sturz der US-Bürger in die sowohl ökonomische wie auch politische Abhängigkeit bedeuten. Allerdings galt nicht nur Großbritannien als unter Kontrolle ‚jüdischer‘ Banker stehend, sondern auch weitere europäische Staaten. Zur Unterwerfung 161 [Unbekannt], [kein Titel]. In: The Louisiana Populist, 2.8.1895, S. 1; [unbekannt], [kein Titel]. In: The Louisiana Populist, 9.4.1897, S. 1. 162 Zeitgenoss_innen verstanden z. B. die Demonetisierung von Silber in Großbritannien als Resultat des Einflusses eines „Semitic member of the Sodomitic English aristocracy“ ([unbekannt], „Not True“, 26.1.1893, S. 2). Interessant ist an dieser Textstelle nicht bloß die Konstruktion von ‚Juden‘ als Bestandteile der britischen Aristokratie, sondern auch die damit verbundene Zuschreibung einer als ‚sodomistisch‘ kategorisierten Sexualität. Diese Vorstellung einer rassespezifischen Sexualität von ‚Juden‘ sollte gut zwei Dekaden später während des Leo Frank-Case eine herausragende Rolle einnehmen. Während Vorstellungen einer ‚perversen‘ ‚jüdischen‘ Sexualität in der populistischen Bewegung bzw. in Textproduktionen von Populist_innen nicht von großer Bedeutung waren, wird dennoch an diesem Zitat ersichtlich, dass ‚Juden‘ bereits Ende des 19. Jahrhunderts eine solche Form der Sexualität zugeschrieben wurde. 163 [Unbekannt], „Not True“, 26.1.1893, S. 2.
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dieser Staaten mittels des Goldstandards hätten sich die Juden ihrer starken Position im Finanzsektor und im Geldverleih bedient. Die Versorgung der öffentlichen Hand mit Krediten galt somit als eine Technik von ‚Juden‘, um Abhängigkeiten zu produzieren und sich die von anderen Menschen produzierten Werte anzueignen. Um ein solches kreditvermitteltes Abhängigkeitsverhältnis herzustellen, hätten ‚Juden‘ die Länder in Kriege gestürzt. Die daraus resultierende hohe öffentliche Verschuldung hätten sie dann dahingehend genutzt, um Einfluss auf Politiker auszuüben. So kam der Verfasser dieses in der Zeitung Natchitoches Populist erschienenen Artikels zu dem Schluss: „The Jews of London, Paris and Berlin can bankrupt the government of any of those countries any day.“ Von Europa aus setze nun die „Tory-Jew money power“ zum Angriff auf die USA an und verfolge dabei folgendes Ziel: „To rob and plunder them [‚das amerikanische Volk‘, K. K.] of their industrial liberty and make them debts serfs like the people of Europe.“164 Eine ähnliche Situation diagnostizierte auch der Southern Mercury, als er in rasseantisemitischer Sprache zu berichten wusste, dass sich „die tyrannischen und tigerhaften Instinkte der die Nichtjuden hassenden Semiten“ nun gegen die Vereinigten Staaten von Amerika richten würden.165
3.5 Antisemitische Gewalt in ländlichen Regionen des Südens Wie das Kapitel bisher gezeigt hat, war das Weltverständnis von Teilen der populistischen Bewegung in den Südstaaten von antisemitischen Elementen und Versatzstücken durchzogen und strukturiert. Gleichzeitig kam es in dieser Zeit trotz der Identifizierung von ‚Juden‘ als eine fundamentale Bedrohung für die republikanische Ordnung jedoch nur relativ selten zu gegen ‚Juden‘ gerichteten Gewaltakten.166 Obwohl die populistische Bewegung zur Streuung 164 O. D. Jones, „To Rule the World. This Seems to Be the Destiny of Israel.“ In: Natchitoches Populist, 24.2.1899, S. 1. 165 [Unbekannt], „Not True“, 26.1.1893, S. 2. 166 Die Diskrepanz zwischen der von antisemitischen Versatzstücken durchzogenen Weltwahrnehmung vieler Populist_innen einerseits und dem weitgehenden Ausbleiben antisemitischer Gewalttaten war beileibe kein Phänomen, das auf die 1890er Jahre beschränkt war, sondern war nach Jonathan D. Sarna vielmehr charakteristisch für den Antisemitismus des 19. Jahrhunderts in den USA ( Jonathan D. Sarna, „The ‚Mythical Jews‘ and the ‚Jew Next Door‘ in Nineteenth-Century America.“ In: David A. Gerber (Hg.), Anti-Semitism in American History. Urbana et al.: University of Illinois Press 1986, S. 57–78).
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judenfeindlichen Wissens beitrug, nahm Antisemitismus verglichen mit dem gegen ‚Afroamerikaner‘ gerichteten Rassismus auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine deutlich nachgeordnete Bedeutung ein. Dies zeigte sich unter anderem an der signifikant unterschiedlichen Quantität und Qualität der antisemitisch beziehungsweise rassistisch motivierten Gewalttaten. Während der gegen ‚Afroamerikaner‘ gerichtete rassistische Terror Ende der 1880er und Anfang der 1890er Jahre in den Südstaaten sich alltäglich in brutalen Gewaltakten niederschlug, kam es (lediglich) zu vereinzelten gewaltsamen Übergriffen auf jüdische Kaufleute und Händler. Insbesondere Louisiana und Mississippi erwiesen sich als Hochburgen judenfeindlicher Gewalt. Die in Cincinnati, Ohio, herausgegebene Wochenzeitung The American Israelite berichtete am 25.3.1887 von einem unter der ländlichen Bevölkerung im Süden weit verbreiteten antisemitischen Ressentiment, das in einigen Landkreisen Louisianas zu gewalttätigen Übergriffen auf jüdische Kaufleute geführt habe.167 Einige Monate später berichtete dieselbe Zeitung unter der Überschrift „The Louisiana Outrage“ von Morden an zwei Juden in Evergreen, Louisiana. Der Verfasser beklagte eine vermeintliche Lethargie der Ermittler und identifizierte die Tatsache, dass es sich bei den Opfern um Juden handelte, als Ursache für den angeblichen mangelnden Ermittlungseifer.168 Die Zeitung New Orleans Times-Democrat berichtete Anfang des Jahres 1890 von Übergriffen in Delhi, East Carroll und Richland.169 Es kam wiederholt zu Schüssen auf die Läden jüdischer Kaufleute, um die Inhaber zur Aufgabe ihres Geschäftes und gar zum Verlassen des Ortes zu zwingen. Mitunter forderten die Aggressoren auch von den jüdischen Händlern, die bei ihnen beschäftigten Juden zu entlassen und durch Nichtjuden zu ersetzen.170 Vor dem Hintergrund dieser Übergriffe kam die New Orleans TimesDemocrat zu folgendem Schluss: „There is a strong anti-semitic feeling among certain classes in portions of North Louisiana.“171 Andere Zeitungen berichteten 167 [Unbekannt], „Anti-Semitic Outrages.“ In: The American Israelite, 25.3.1887, S. 7. 168 [Unbekannt], „The Louisiana Outrage.“ In: The American Israelite, 17.6.1887, S. 6. 169 [Unbekannt], „Delhi Troubles: The Threat Against Jewish Merchants.“ In: New Orleans Times-Democrat, 2.1.1890, S. 2; [unbekannt], „Revival of Anti-Jew Outrages.“ In: New Orleans Times-Democrat, 4.1.1890, S. 4; [unbekannt], „Jewish Merchants to Remain.“ In: New Orleans Times-Democrat, 24.1.1890, S. 8. 170 [Unbekannt], „MORE THREATS AT DELHI.“ In: New Orleans Times-Democrat, 22.1.1890, S. 4; [unbekannt], [kein Titel]. In: The Louisiana Democrat, 29.1.1890, S. 2; [unbekannt], „Anti-Semitic.“ In: The Mascot, 11.11.1893, S. 8. 171 [Unbekannt], „East Carroll Outrages: Merchants Receive Anonymous Letters, Ordering Them to Leave – Stein & Co. to Comply with the Mandate.“ In: New Orleans Times-Democrat, 4.12.1890, S. 1.
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von ähnlichen Einschüchterungsversuchen in anderen Countys Louisianas.172 Allerdings waren diese Aktionen keineswegs auf die frühen 1890er Jahre beschränkt. Noch zum Abschluss der Dekade berichtete The Weekly Messenger, der in St. Martinsville, Louisiana, publiziert wurde, in affirmativer Weise über die Vertreibung des Händlers Frank Potock, der als „der Jude aus Louisville“ und „Wandervogel“ beschrieben wurde. Die Verantwortung für diesen Akt schrieb der Verfasser dabei Potock zu, da sich dieser an den wenig gebildeten Leuten des Bezirkes bereichert habe.173 Auch in Mississippi kam es im Verlauf der 1890er Jahre zu ähnlichen Übergriffen auf jüdische Händler und Kaufleute. Seit den 1890ern hatten sich in diesem Bundesstaat hunderte verarmter Farmer zu Geheimbünden zusammengeschlossen, die unter dem Namen Whitecaps rassistisch motivierte Gewalttaten verübten. Die von ihnen ausgeübte Gewalt zielte primär auf Afroamerikaner_innen. Allerdings gerieten auch ‚Juden‘, die über Grund und Boden verfügten und diesen von afroamerikanischen Sharecroppern kultivieren ließen, ins Fadenkreuz der Whitecaps. Durch Gewaltandrohungen versuchten Whitecaps afroamerikanische Sharecropper zum Verlassen dieser Farmen zu bewegen. Verweigerten sich Afroamerikaner_innen diesen Forderungen, wurden sie des Nachts überfallen und ausgepeitscht. In einigen Fällen feuerten Whitecaps mit Gewehren in die Hütten von Sharecroppern und erschossen so einige von ihnen im Schlaf.174 An manchen Orten wurden die Whitecaps derart stark, dass sie nach Verhaftungen von Gesinnungsgenossen nicht davor zurückscheuten, die Repräsentanten der Staatsmacht zu bedrohen.175 Wie in einer in der Zeitung Magnolia Gazette abgedruckten Erklärung ersichtlich wird, bildete die Furcht angloamerikanischer Männer vor dem Verlust ihrer gesellschaftlich dominanten Stellung eine bedeutsame Triebkraft für das gewalttätige Handeln der Whitecaps. So hieß es in diesem Schreiben u. a. über die Effekte des Handelns von ‚Juden‘: The conditions which surround us justify our cooperation. We meet in a state brought to the verge of ruin by European and Wall Street gold-bugs, backed by a corrupt class who dominate the ballot box, the legislature and congress and even touch the ermine of the bench. This 172 [Unbekannt], „Jewish Stores Damages.“ In: The Clarion Ledger, 6.11.1889, S. 4; [unbekannt], [kein Titel]. In: The Meridional, 13.12.1890, S. 2. 173 [Unbekannt], [kein Titel]. In: The Weekly Messenger, 16.12.1899, S. 3. 174 William F. Holmes, „Whitecapping: Anti-Semitism in the Populist Era.“ In: American Jewish Historical Quarterly, Jg. 63, Nr. 3 (März 1974), S. 244–261, hier S. 249. 175 [Unbekannt], „Crushing White Capping.“ In: The Manning Times, 26.6.1895, S. 1.
Antisemitische Gewalt
demoralizes the white farmer and laborer. Most of the states have been compelled to isolate the voting places to prevent universal intimidation and bribery. Our homes are covered with mortgages and our lands are fast concentrating in the hands of syndicates, Wall Street and European gold-bugs. Pauperized Jews are imported here who use every damnable idea conceivable to obtain possession of our lands. The farmers are denied the right to organization for self-protection; consequently the earnings of millions are boldly stolen to build up colossal fortunes for a few, which is unprecedented in the history of mankind and the possessors of these fortunes in turn despise the Republic and endanger liberty. […] The accursed Jews and others own two thirds of our land. They control and half bind the negro laborers who partly subsist by thefts from the white farmers; thereby controlling prices of Southern produce. We therefore pray the white farmers to combine forces and gain control of the negro labor, which is by right ours, that we may tend the soil under white supremacy, and under no circumstances will the negro be allowed to cultivate the Jew’s or syndicate’s land, unless such lands are bought and will be shortly be paid for. Our first object is to control negro laborers by mild means, if possible; by coercion if necessary. Second, to control Jews and Gentile land speculators, and, if necessary, force them to abandon our country and confiscate their lands for the benefit of the white farmers.176
‚Juden‘ wurden in diesem Schreiben in doppelter Hinsicht verantwortlich für die Situation angloamerikanischer Farmer gemacht. Zum einen als Kräfte, die sich den Boden und damit, wie zuvor in dem Kapitel gezeigt, das Fundament angloamerikanischer Männlichkeit angeeignet hätten. Zum anderen, und dieser Aspekt war eng mit der Frage nach den Eigentumsrechten über den Boden verbunden, höhlten ‚jüdische‘ Grundbesitzer die Verfügungsgewalt angloamerikanischer Männer über afroamerikanische Menschen aus, indem sie über das System des Sharecroppings selbst Macht über Afroamerikaner_innen ausübten. Die feindliche Haltung angloamerikanischer Farmer gegenüber ‚Juden‘ sowie die damit verbundenen Gewaltakte stellten also zumindest partiell das Resultat einer wahrgenommenen Krise der White Supremacy dar. Die Judenfeindschaft zielte in diesem Zusammenhang auf die Restauration der hierarchisierten Beziehungen zwischen Angloamerikaner_innen und Afroamerikaner_innen. Der Angriff von Whitecaps auf ‚Juden‘ ist somit als eine Strategie zu verstehen, die auf die Aufhebung einer Situation zielte, die als Erosion der Macht und 176 Zitiert nach: Holmes, „Whitecapping“, S. 247 f.
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Kontrolle angloamerikanischer Männer über Afroamerikaner_innen verstanden wurde.177 Inwieweit diese während der 1880er und 1890er Jahre gegen ‚Juden‘ verübten Gewalttaten als direkte Konsequenz der von Teilen der populistischen Bewegung verbreiteten judenfeindlichen Weltsichten zu begreifen sind, lässt sich schwer beurteilen. So hat der Historiker William F. Holmes darauf hingewiesen, dass es zwar personelle Überschneidungen zwischen Populisten und Whitecaps gegeben habe und die Whitecaps in den Regionen besonders stark gewesen seien, in denen auch die populistische Bewegung über einen großen Rückhalt verfügt habe. Trotz dieser Überschneidungen dürften die Whitecaps aber nicht mit der populistischen Bewegung gleichgesetzt werden.178 Trotz dieser wichtigen Differenzierung lassen sich auch auf der inhaltlichen Ebene Überschneidungen zwischen beiden Gruppen diagnostizieren. So lassen sich antisemitische Elemente populistischer Weltsichten auch bei den Whitecaps feststellen. Analog zu den Populist_innen gingen auch sie von einer Verschwörung gegen Farmer aus und identifizierten „Wall Street gold bugs“ als Motor dieser Konspiration.
3.6 Antisemitische Elemente populistischer Weltsichten im Leo Frank-Case Auch wenn sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen populistischen Weltwahrnehmungen und judenfeindlicher Gewalt in den 1880ern und 1890ern nicht abschließend beantworten lässt, kann mit Bestimmtheit festgehalten werden, dass die antisemitischen Elemente des Populismus halfen, dem Leo FrankCase den Boden zu bereiten. Durch den Populismus wurde im Süden ein Wissen 177 Der Vorwurf, dass ‚Juden‘ die White Supremacy gefährden würden, wurde jedoch nicht nur von Whitecaps erhoben, sondern zirkulierte auch in populistischen Kreisen (M. L. Swords, „In Reply to ‚a Jew‘.“ In: St. Landry Clarion, 8.9.1894, S. 1). Auch über die nicht immer scharf von einander zu trennenden Zirkel der Whitecaps und Populist_innen hinaus wurde, laut dem Historiker Clive Webb, im Süden die Geschäftstätigkeit ‚jüdischer‘ Kaufleute argwöhnisch beäugt. Ihr freundlicher und respektvoller Umgang mit afroamerikanischen Kunden galt Südstaatler_innen als Verletzung der Color Line und damit als (potenzielle) Ursache für Verschiebungen innerhalb des Machtverhältnisses zwischen angloamerikanischen und afroamerikanischen Menschen (Clive Webb, „Jewish Merchants and Black Customers in the Age of Jim Crow.“ In: Southern Jewish History, Jg. 2 (1999), S. 55–80, hier S. 55–61). 178 Holmes, „Whitecapping“, S. 248 f.
Antisemitische Elemente
gestreut, das ‚Juden‘ mit einer Verschwörung gegen den Agrarsektor verknüpfte, sie somit als Feinde der agrarischen Lebensweise herstellte und sie außerdem mit einer unfassbaren Macht versah. Der Entwurf des Yeoman als idealer Staatsbürger überlebte die 1890er Jahre und blieb über die ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts hinaus wirkmächtig. Auch Teile der urbanen Bevölkerung hielten an der Idealisierung des Landlebens sowie der daran gekoppelten Männlichkeit des Yeoman fest.179 In der von Thomas Watson herausgegebenen Zeitung Watson’s Weekly Jeffersonian, die während des Leo Frank-Case unter dem Namen The Jeffersonian die mediale Speerspitze des Anti-Frank-Lagers bildete, wurde diese agrarisch-männliche Subjektivität im Jahr 1907 wie folgt umrissen. Zu Friedenszeiten nehme sich der Farmer „mit männlichem Herzen“ der Aufgabe des Ackerbaus an und stelle damit die Existenzgrundlage der gesamten Nation sicher, während er dem Vaterland in Kriegszeiten als unerschrockener und aufopferungsvoller Soldat diene.180 ‚Juden‘ wiederum wurden während des Leo Frank-Case analog zu den Sichtweisen von Populist_innen generell auf der Seite von Spekulanten und Kapitalisten verortet und damit als Feinde der arbeitenden Bevölkerung dargestellt. Über drei Mitglieder des Haas Finance Committee, einem Unterstützungskomitee für Leo Frank, hieß es: „Three men of Jerusalem [who] came into Georgia, to get rich on the heathens who devour swineflesh: and in due time, they waxed fat.“181 Ebenso wie die „Geldaristokratie“ in den Augen der Populist_innen auf eine Konspiration zurückgriff, um die gesellschaftlichen Verhältnisse nach ihrem Gusto einzurichten, bedienten sich auch die „verlogenen Kapitalisten“ in zeitgenössischen Vorstellungen zur Ausbeutung und Unterdrückung der „aufrechten Farmer“ einer Verschwörung. Gleich der populistischen Vorstellungen 179 Diese tiefe Verankerung der Idealisierung des Landlebens in der Gesellschaft des Südens zeigt sich z. B. an Einträgen in dem Tagebuch eines jungen Mädchens namens Josephine Heyman. In dem Tagebucheintrag vom 16. Januar 1915 berichtet sie mit folgenden Worten von ihren Erlebnissen in der Schule: „Guess what has happened, my diary. We are going to have a debate at school. I’m leader of the negative side, […]. The subject is ‚Resolved that the farmer is more a benefactor to the community than the manufacturer.‘ I’m the manufacturer“ ( Josephine Heyman, Diaries of Josephine Heyman, 1914–1917. Eintrag vom 16.1.1915, Cuba Archives and Genealogy Center, Atlanta (im Folgenden: CAGC), Herman Heyman Family Papers, 1886–1983 (im Folgenden: HHFP), Box 3, Folder 5). 180 L. T. Travis, „The Farmer.“ In: Watson’s Weekly Jeffersonian, 30.5.1907, S. 6. 181 [Thomas Watson?], „Glorious Achievement of the Haas Finance Committee.“ In: The Jeffersonian, 2.9.1915, S. 4 f., hier S. 4.
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der 1890er Jahre schrieb das Anti-Frank-Lager ‚Juden‘ die Kontrolle über Politik und Presse zu.182 So hieß es in The Jeffersonian: „[The] Jew-made Money Trust […] rule[s] the country.“183 Und auch zwanzig Jahre nachdem die populistische Bewegung die politische Landschaft in den USA kurzzeitig erschüttert hatte, wurde erneut auf die Geld- und Finanzpolitik der Regierung verwiesen, um den Nachweis für eine solche Verschwörung zu liefern. So fasste Watson den im antisemitischen Lager imaginierten Zusammenhang zwischen der von der Regierung verfolgten Geldpolitik und einer jüdischen Verschwörung wie folgt zusammen: „All men must bow to this new Money System“; wobei sich nach Watson hinter dem „Money System“ ein vermeintlich vom ‚Juden‘ Paul Warburg geführter „Money Trust“ verbarg.184 Ähnlich wie im Populismus verstanden Zeitgenoss_innen während des Leo Frank-Case den Niedergang des Agrarian Way of Life nicht nur als Angriff auf die ökonomische Prosperität des Yeoman. Vielmehr sahen sie darin eine Attacke auf die strikt vergeschlechtlicht gedachte republikanische Ordnung der USA. Das vermeintliche Streben von ‚Juden‘ nach einer exklusiven gesellschaftlichen Stellung führte nach Ansicht des Anti-Frank-Lagers zu einer Vielzahl an von ‚Juden‘ begangenen Verstößen gegen die republikanische Ordnung.185 Ihnen wurde vorgeworfen, das auf formaler Gleichheit (angloamerikanischer Männer) beruhende Rechtssystem zu unterminieren. Es kursierten Gerüchte, dass ‚Juden‘ einen Fonds angelegt hätten, um durch Korruption das Leben des Angeklagten, schuldig oder unschuldig, zu retten.186 Thomas Watson beschrieb die Auswirkung dieses unbedingten Strebens nach juristischer Sonderbehandlung wie folgt: Now, in the State of Georgia, we are doing our level best to prove that the law treats all men alike, and the Pulitzer paper is doing its best to defeat our equitable aim. 182 Ders., „Governor Harris Willing to Sign a Ship Subsidy Bill the Legislature Passes it?“ In: The Jeffersonian, 5.8.1915, S. 7; ders., „Mayor Woodward’s Speech in San Francisco, Slaton’s Venomous, Forked Tongue: The Jew Started This Fight, and They Are Keeping It Up.“ In: The Jeffersonian, 2.9.1915, S. 1+7–9, hier S. 1. 183 Ders., „Refreshing the Memory of the Farmer as to How He Was Treated Last Fall.“ In: The Jeffersonian, 9.9.1915, S. 7. 184 Ders., S. 7. 185 Mrs. L. Slappey, „A Governor Who Forgot.“ In: The Jeffersonian, 29.7.1915, S. 10; [Thomas Watson?], „Slaton’s Home-Coming and Some Questions that He Must Be Prepared to Answer.“ In: The Jeffersonian, 29.7.1915, S. 1–3, hier S. 3. 186 [Unbekannt], The Frank Case: Inside Story of Georgia’s Greatest Murder Mystery. Atlanta: The Atlanta Publishing Company 1913, S. 41.
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The Pulitzer paper has never before sought to dictate to our courts. Neither have the other Hebrew papers of the North done so. From year to year, we had crimes, and have punished some of them without raising all the racket this Frank has raised.187
Allerdings hätten ‚Juden‘ die Durchsetzung ihres privilegierten Status vor dem Gesetz nicht bloß mittels journalistischer Interventionen und Bestechungsversuche verfolgt, sondern sie seien auch nicht vor physischer Gewalt zurückgeschreckt. So sei über Hugh Dorsey, den Chefankläger im Leo Frank-Case, und Thomas Watson seit dem Lynching eine Flut an Todesdrohungen hereingebrochen, die von ‚Juden‘ ausgesprochen worden seien.188 Als zweites Instrument, dessen sich die vermeintlichen Verschwörer bedienten, identifizierten Zeitgenoss_innen, ebenso wie zu Zeiten des Populismus, die vermeintliche Macht von ‚Juden‘ über Politiker. So habe die „Rothschild-Belmont corporation“ ihre Tentakeln um Politiker geschlungen und somit zumindest partiell die Kontrolle über die legislative und exekutive Gewalt erlangt. Als Beleg für die ‚jüdische‘ Einflussnahme betrachtete das antisemitische Lager die Umwandlung der gegen Frank verhängten Todesstrafe in lebenslange Haft.189 In einem in der Wochenzeitung The Jeffersonian veröffentlichten Leserbrief wurde deshalb die Forderung geäußert, John M. Slaton in „Jew Money Slaton“ umzubenennen.190 Als dritter Pfeiler ‚jüdischer‘ Macht galt in dem antisemitischen Narrativ die vermeintliche Macht von ‚Juden‘ über die Presse.191 Dabei wurde deren Kontrolle über die Presselandschaft als dermaßen absolut konstruiert, dass die Herausgabe einer unabhängigen, die Verschwörung aufdeckenden Zeitung als Unmöglichkeit verstanden wurde.192 187 [Thomas Watson?], „Leo Frank, As a Regular Newspaper Contributor.“ In: The Jeffersonian, 3.12.1914, S. 1+8, hier S. 1. 188 [Thomas Watson?], „Dorsey and Watson Threatened with Assassination by Infuriated Jews.“ In: The Jeffersonian, 9.9.1915, S. 5. 189 [Thomas Watson?], „As to a Daily Paper in Atlanta.“ In: The Jeffersonian, 8.7.1915, S. 7; ders., „Mayor Dorsey of Athens, Georgia, Goes into the North-West and Talks about the Frank Case.“ In: The Jeffersonian, 29.7.1915, S. 5. 190 Elijah Patterson, „An Atlanta Man Writes.“ In: The Jeffersonian, 5.8.1915, S. 12. 191 T. Benson, „An Episcopalian Lashes the Episcopal Minister, C. B. Wilmer.“ In: The Jeffersonian, 30.9.1915, S. 11; Foster, „Modest Jew“, 4.11.1915; Franklin Steiner, „How an Illinois Man Changed His Views.“ In: The Jeffersonian, 30.9.1915, S. 11; [Thomas Watson?], „Regular Newspaper Contributor“, 3.12.1914, S. 1; ders., „Why Do They Keep Up the Big Money Campaign against the People and the Courts of Georgia?“ In: The Jeffersonian, 12.8.1915, S. 1–3. 192 [Thomas Watson?], „Daily Paper in Atlanta“, 8.7.1915.
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‚Juden‘ und die ihnen zugeschriebenen Handlungsweisen wurden also als eine schwerwiegende Gefahr für das demokratische System ausgemacht. Sie galten als aristokratisch und als Triebkräfte der Versklavung angloamerikanischer Männer.193 Als Quelle dieses ‚Juden‘ zugeschriebenen undemokratischen Verhaltens wurden eine „monströse Theorie einer schäbigen Aristokratie“ und „wirtschaftlicher Snobismus“ identifiziert.194 Die vermeintliche Gegnerschaft von ‚Juden‘ zum republikanischen System wurde auch in der ihnen zugeschriebenen Subjektivität verankert. Diese habe es ihnen unmöglich gemacht, die mit der Staatsbürgerschaft verknüpften Pflichten und Anforderungen zu erfüllen. Ex negativo wurde dieser Sichtweise in einem Leserbrief in The Jeffersonian mit folgenden Worten Ausdruck verliehen: „I have absolutely no prejudice against the Jew in so far as he is willing to be just an American citizen and not claim special immunities and privileges by virtue of his being what he considers of the ‚elect people‘.“195 Es lässt sich also festhalten, dass zentrale Elemente des populistischen Verschwörungsnarrativs eine signifikante Wirkmacht während des Leo Frank-Case entfalteten und zeitgenössische Sichtweisen auf die zweijährige Affäre und auf ‚Juden‘ (mit-)strukturierten. Von Populist_innen hergestellte Verknüpfungen von ‚Juden‘ mit einer gegen die Producer gerichteten Verschwörung und Vorstellungen eines Angriffs auf die republikanische Ordnung wurden zwei Jahrzehnte später reproduziert. Wie in populistischen Imaginationen wurden während des Leo Frank-Case Politik und Presse als von ‚Juden‘ kontrolliert entworfen. Zu beiden Zeiten verstanden sich Zeitgenoss_innen Unterwerfungsbestrebungen von ‚Juden‘ ausgesetzt. Analog zu populistischen Verortungen von ‚Juden‘ in einer ‚aristokratischen‘ Oberklasse imaginierte das Anti-Frank-Lager ‚Juden‘ als reiche Kapitalisten oder „Money-Bags“. Einerseits lassen sich also offensichtliche Kontinuitäten und Verflechtungen zwischen antisemitischen Elementen populistischer Wahrnehmungen und 193 [Thomas Watson?], „Georgia Stands Disgraced!“ In: The Jeffersonian, 5.8.1915, S. 4 f., hier S. 4; ders., „The State versus John M. Slaton.“ In: The Jeffersonian, 23.9.1915, S. 1. 194 Thomas Watson, „The Leo Frank Case.“ In: Watson’s Magazine, Jg. 20, Nr. 3 ( Januar 1915), S. 139–163, hier S. 152. Zur antisemitischen Konnotation des Begriffs ‚shoddy‘ in den USA während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe Gary L. Bunker und John J. Appel, „‚Shoddy‘ Antisemitism and the Civil War.“ In: Adam Mendelsohn und Jonathan D. Sarna (Hg.), Jews and the Civil War: A Reader. New York et al.: New York University Press 2010, S. 311–334. 195 Al H. Foster, „The Modest Jew.“ In: The Jeffersonian, 4.11.1915, S. 3.
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zeitgenössischen Sichtweisen während des Leo Frank-Case diagnostizieren. Andererseits erfuhr das von Populist_innen gestreute antisemitische Wissen im Verlauf der zwei Jahrzehnte und insbesondere während der zweijährigen Affäre bedeutsame Modifikationen. Zum einen verdichtete sich das antisemitische Wissen massiv und erhielt somit eine signifikante Steigerung seiner Wirkmacht. Zum anderen kam es aber auch zu qualitativen Veränderungen. Die im populistischen Weltverständnis hergestellten Verknüpfungen zwischen ‚Juden‘ und einer Verschwörung gegen den Agrarsektor sowie die republikanische Ordnung wurden mit anderen antisemitischen Versatzstücken verwoben, die zuvor in den Weltbildern der populistischen Bewegung nicht existent waren oder zumindest nicht formuliert wurden. Wahrnehmungen einer ‚Juden‘ zugeschriebenen Unterminierung der gesellschaftlichen Verhältnisse wurden beispielsweise mit der Figuration des Black Beast Rapist verknüpft. In der Perspektive von Thomas Watson erwuchs aus der von ‚Juden‘ betriebenen Aushebelung des Rechtssystems eine unmittelbare, von ‚afroamerikanischen‘ Männern ausgehende Gefahr für angloamerikanische Frauen. If every young negro buck should get the idea in his head that his race would place its secret societies behind him – as the Jews did for Frank – and could spin out his case in the courts, for two years, as Frank’s was spun out; and then degrade a Governor into annulling the decisions of all the courts, no white woman would be safe! The raging lusts of black men, for white women, would overleap all restraints, and a Black Peril would shadow every man’s door.196
Durch die Verflechtung von vermeintlich ‚jüdisch-aristokratischen‘ Bestrebungen mit den vom Black Beast Rapist ausgehenden Gefahren wurden zuvor unverbunden nebeneinander existierende Versatzstücke zusammengeknüpft. Auch auf weiteren Ebenen wurden judenfeindliche Elemente populistischer Weltsichten mit anderen antisemitischen Imaginationen verwoben. So wurde zum Beispiel der vermeintliche Einfluss auf die Presse und die daraus resultierende Kontrolle über die Berichterstattung mit Vorstellungen von ‚Juden‘ als Akteuren der White Slavery in Verbindung gesetzt.197 Ein Zeitgenosse identifizierte die ‚Juden‘ 196 [Thomas Watson?], „Stands Disgraced”, 5.8.1915, S. 4. 197 Während der Progressive Era waren in den USA White Slavery-Narrative weit verbreitet. In zeitgenössischen Vorstellungen, die häufig rassifiziert und vergeschlechtlicht waren, lauerten zumeist einer anderen Ethnie zugeschriebene Männer in Städten auf angloamerikanische junge Frauen, um diese zur Prostitution zu zwingen. In dem 1906 veröffentlichten Aufsatz „The Daughters of the Poor“ des Journalisten George Kibbe Turner oder aber auch in dem
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zugeschriebene Macht über Medien als ein Instrument, mit dem sie zu verschleiern versuchten, dass sich beinahe die komplette Zuhälterschaft in den USA aus ‚jüdischen‘ Männern rekrutiere.198 Thomas Watson wiederum konstruierte die Dominanz von ‚Juden‘ über die relativ neuen Motion Pictures als ein von ihnen eingesetztes Mittel, um die vermeintlich ‚perverse‘ Sexualität ‚jüdischer‘ Männer zu eskamotieren.199
3.7 Kapitelfazit Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stellte die Figuration des Yeoman im Süden der USA das hegemoniale Männlichkeitsideal dar. Zeitgenoss_innen schrieben ihm auf Grund seiner vermeintlich unabhängigen Lebensweise sowie der von ihm verrichteten, als produktiv kategorisierten manuellen Arbeit eine tugendhafte und ehrbare Männlichkeit zu. Er galt als idealer Familienpatriarch. Allerdings wurde er nicht nur als die Kraft konstruiert, die die Ordnung innerhalb der als Keimzelle der Republik imaginierten Familie durchsetzte. Die ihm attribuierte Männlichkeitskonfiguration machten ihn auch zum Fundament der republikanischen Ordnung der USA. Befürworter_innen des Agrarian Way of Life verstanden die Existenz einer breiten und prosperierenden Yeomanry als Existenzgrundlage der gesellschaftlichen Ordnung und der sie vermeintlich charakterisierenden Freiheit. Als Reaktion auf die vielfältigen Probleme des Agrarsektors, die in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts zur Überschuldung vieler Yeomen und bereits erwähnten Werk von Edward A. Ross wurden ‚Juden’ als bedeutende Akteure der Zwangsprostitution benannt (Ross, Old World in the New, S. 156; George Kibe Turner, „The Daughters of the Poor.“ In: McClure’s Magazine 34 (November 1909), S. 45–61). Zu White-Slavery-Diskursen siehe u. a. Christopher Diffee, „Sex and the City: The White Slavery Scare and Social Governance in the Progressive Era.“ In: American Quarterly, Jg. 57, Nr. 2 ( Juni 2005), S. 411–437; Brian Donovan, White Slave Crusades: Race, Gender, and AntiVice Activism, 1887–1917. Urbana et al.: University of Illinois Press 2006; David J. Langum, Crossing over the Line: Legislating Morality and the Mann Act. Chicago et al.: The University of Chicago Press 1994. Zum Zusammenhang von weiblicher Lohnarbeit und WhiteSlavery-Diskursen siehe u. a. Lara Vapnek, Breadwinners: Working Women and Economic Independence, 1865–1920. Urbana et al.: University of Illinois Press 2009, S. 34–65. Zum Zusammenhang von White Slavery und Denunziation siehe Olaf Stieglitz, Undercover: Die Kultur der Denunziation in den USA. Frankfurt et al.: Campus Verlag 2013, S. 114–129. 198 Steiner, „Illinois Man“, 30.9.1915, S. 11. 199 [Thomas Watson?], „Big Money Campaign“, 12.8.1915, S. 1.
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zum Anschwellen der Zahl der Pächter führten, kam es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Gründung einiger Farmerorganisationen, die sich die Überwindung der tiefgehenden Probleme des primären Sektors zum Ziel gesetzt hatten. Unter ihnen befand sich auch die Farmers’ Alliance, die Ende der 1880er und in den 1890er Jahren zu einem einflussreichen politischen Akteur und zu einer zentralen Triebkraft der populistischen Bewegung wurde. In den Analysen der Farmers’ Alliance und anderer Populist_innen waren die Ende des 19. Jahrhunderts rapide steigende Zahl an Verpfändungen von Familienfarmen und die zunehmende Anzahl an Pächtern aufs engste mit vergeschlechtlichten, fundamentalen Bedrohungswahrnehmungen verknüpft. Der Verlust der eigenen Farm wurde als Angriff auf die Funktion des Patriarchen als Versorger und Beschützer der (weiblichen) Familienmitglieder verstanden. Allerdings wurde der Verlust des Status als Yeoman nicht bloß als krisenhafte Situation des jeweiligen Mannes und seiner als von ihm abhängig gedachten Familie wahrgenommen. Vielmehr wurden die Schwierigkeiten der Yeomanry als eine existenzielle Krise der republikanischen Ordnung der Vereinigten Staaten von Amerika konstruiert. Als Ursache dieser bedrohlichen Situation identifizierten Populist_innen eine gegen Farmer und Arbeiter gerichtete Verschwörung. Deren Ziel sei die Aneignung der von ‚produktiv‘ tätigen Menschen hergestellten Werte gewesen. Als zentrale Instrumente der Expropriation galten währungs- und geldpolitische Maßnahmen wie die Demonetisierung von Silber und die Implementierung des Goldstandards, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den USA umgesetzt wurden. Neben Yankees, der Wall Street, einer „Geldaristokratie“ und britischen Aristokraten wurden ‚Juden‘ als Triebkräfte der Konspiration ausgemacht.200 Zeitnoss_innen imaginierten eine weitgehende Kontrolle ‚der Rothschilds‘ und Shylocks sowohl über die Politik als auch über die Presse. Dabei nahm die vermeintliche Abhängigkeit führender Politiker, wie die des damaligen Präsidenten der USA Grover Cleveland, derartige Ausmaße an, dass sie als bloße Marionetten der im Hintergrund agierenden ‚Juden‘ wahrgenommen wurden. Die Demonetisierung des Silbers sowie die Einführung des Goldstandards wurden letztlich auf ein verborgenes Handeln von ‚Juden‘ zurückgeführt. ‚Die Rothschilds‘ und Shylocks wurden auf diesem Weg als Akteure der Zerstörung der republikanischen Ordnung und der damit aufs engste verflochtenen 200 Diese hier aufgelisteten verschiedenen Kräfte der Konspiration waren in populistischen Vorstellungswelten mitunter eng miteinander verwoben. So wurden zum Beispiel die Wall Street oder die „Geldaristokratie“ partiell mit ‚Juden‘ verknüpft.
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Männlichkeitskonfiguration des Yeoman konstruiert. Sie galten als Initiatoren der vermeintlichen Unterwerfung und Versklavung angloamerikanischer Männer. Vor diesem Hintergrund sind die antisemitischen Elemente populistischer Weltsichten als eine Strategie zu verstehen, um die vorgebliche Aggression seitens der ‚Juden‘ zurückzuschlagen, die als versklavt wahrgenommene angloamerikanische Männlichkeit aus ihrer angeblichen Krise zu befreien und damit die dominante gesellschaftliche Position angloamerikanischer Männer in der USGesellschaft zu rekonstituieren beziehungsweise zu erhalten. Das in populistischen Sichtweisen (re-)produzierte antisemitische Wissen entfaltete während des Leo Frank-Case eine große Wirkmacht. Zentrale judenfeindliche Elemente populistischer Weltsichten strukturierten die Wahrnehmungen des Anti-Frank-Lagers. Analog zu Populist_innen schrieb das antisemitische Lager ‚Juden‘ während der Affäre ein Streben nach Unterminierung der gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA zu. Weiterhin den Yeoman als Männlichkeitsideal ansehend, wurden ‚Juden‘ als ausbeuterische Non-Producer konstruiert, die zur Durchsetzung ihrer Interessen die Politik und die Presse einem Diktat unterworfen hätten. Jedoch wurden die antisemitischen Versatzstücke populistischen Wissens während der Affäre nicht einfach bloß reproduziert, gestreut und verdichtet. Vielmehr erfuhren sie durch die Verknüpfung mit anderen antisemitischen Elementen auch qualitativ eine Modifikation. Die antisemitische Konstruktion von ‚Juden‘ als Feinden der Yeomen wurde mit anderen Versatzstücken zu einem engmaschigeren Netz verwoben und damit zu einem Bestandteil der während des Falls hergestellten modernen und kohärenten antisemitischen Weltsicht.
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4 Industrialisierung, Urbanisierung, angloamerikanische Männlichkeit und Antisemitismus von den 1880er bis in die 1910er Jahre Am 17. August 1889 eröffnete die in New Orleans erscheinende Wochenzeitung The Mascot ihre Ausgabe mit dem Cartoon „Their Trials and Tribulations“. Dieser widmete sich der Lebenssituation junger Frauen, die ihr Geld als Saleslady verdienten.1 Der Cartoon setzt sich aus fünf Szenen zusammen, die scheinbar für das Leben von Verkäuferinnen als charakteristisch angesehen wurden. Das erste Bild zeigt eine verzweifelte junge Frau, die ihren Kopf auf den Arm gestützt an einem Bett, vermutlich ihrer Mutter, sitzt. Mit dieser bespricht sie die finanzielle Situation ihres kleinen Haushalts. Unterschrieben ist diese Szene mit den Worten: „We are starving, I must find work.“ Die Situation der beiden Frauen ist durch die Abwesenheit eines Breadwinners charakterisiert, die die junge Frau zwingt, einer Lohnarbeit nachzugehen. Das zweite Bild zeigt die Tochter in einem Gespräch mit einem Mann. Die Physiognomie, insbesondere die Form der Nase sowie die gelockten, dunklen Haare, markieren den Mann als ‚Juden‘. Das Machtverhältnis zwischen den beiden wird als asymmetrisch dargestellt. Die Frau schaut zu dem Mann hinauf und scheint von diesem etwas mit offener Hand zu erbitten. Der Untertitel des Bildes „Wages for Saleslady: $3.00 per Week“ verknüpft die Unterordnung der Verkäuferin mit den schlechten Arbeitsbedingungen und der daraus resultierenden ökonomischen Abhängigkeit. Eine Szene später sieht man die junge Frau engagiert ihrer neuen Tätigkeit nachgehen. Sie ist elegant gekleidet und trägt Armreifen sowie eine Halskette. Auf dem vierten Bild sieht man die junge Frau in einem Laden auf der Suche nach einem schicken Kleid, das als Voraussetzung für die Ausübung ihrer neuen Arbeit beschrieben wird. Die Kosten für ein solches Kleid werden mit $45 veranschlagt, belaufen sich also auf die Höhe von 15 Wochengehältern. Im letzten und fünften Bild ist die Verkäuferin nicht mehr zu sehen. Stattdessen wird ihr, offensichtlich in Saratoga, Kalifornien, lebender oder Urlaub machender Chef in Begleitung einer Frau in einer Kutsche dargestellt. Er trägt einen eleganten Anzug, einen Zylinder und raucht eine Zigarre, ist also mithin als wohlhabend inszeniert. Die 1
[Unbekannt], „Their Trials and Tribulations.“ In: The Mascot, 17.8.1889, S. 1.
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Industrialisierung, Urbanisierung, angloamerikanische Männlichkeit Abb. 4: „Their Trials and Tribulations.“ In: The Mascot, 17. 8. 1889, Louisiana Research Collection, Tulane University.
ihm in den Mund gelegten Worte „Monish vas no obshegd mit me“ unterstreichen das in seiner Physiognomie bereits sichtbar gemachte Judesein.2 Der Cartoon thematisierte das vermeintliche Schicksal junger Verkäuferinnen, die, auf Lohnarbeit angewiesen, in die Abhängigkeit von angeblich egoistischen, kaltherzigen und unmoralischen Laden- oder Fabrikbesitzern gerieten. Allerdings lauerte nach Ansicht von Zeitgenoss_innen auf als Verkäuferinnen tätige junge Frauen nicht nur ein Leben in Armut. Vielmehr war Lohnarbeit junger Frauen zeitgenössisch mit Vorstellungen eines moralischen Niedergangs verwo-
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Zur antisemitischen Markierung von ‚Juden‘ durch die ihnen zugeschriebene Sprache und Stimme siehe u. a. Sander L. Gilman, The Jew’s Body. New York et al.: Routledge 1991, S. 10–37.
Industrialisierung, Urbanisierung, angloamerikanische Männlichkeit
ben.3 Als ideale Verkörperung der Figur des gefühlskalten Vorgesetzten, der junge Frauen ins Verderben stürzte, galt dem Verfasser des Cartoons ein ‚Jude‘. Vorstellungen, dass Lohnarbeit die Tugendhaftigkeit angloamerikanischer junger Frauen gefährde, waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Südstaaten weit verbreitet. Die Industrialisierung und die damit verwobene Urbanisierung wurden als einschneidende Transformation des Alltagslebens aufgefasst. Die aus weiblicher Lohnarbeit resultierende gesteigerte Autonomie angloamerikanischer Frauen, neuartige, sich in urbanen Räumen entwickelnde Formen der Interaktion zwischen Menschen unterschiedlicher sozialer und ethnischer Gruppen sowie die deutlich vergrößerten Möglichkeiten der Freizeitgestaltung lösten eine Vielzahl an Bedrohungswahrnehmungen aus. Zeitgenoss_innen verstanden die im Agrarian Way of Life strikt regulierten und hierarchisierten Umgangsformen, sowohl zwischen Anglo- und Afroamerikaner_innen als auch zwischen angloamerikanischen Männern und Frauen, als in Auflösung begriffen. In Fabriken, aber auch in Kaufhäusern und in anderen Berufen fanden Frauen zunehmend Zugang zu Lohnarbeit, was ihnen ein höheres Maß an Autonomie gegenüber dem Familienpatriarchen ermöglichte. Diese Entwicklung wurde von vielen Männern in den Südstaaten als zweifacher Angriff auf ihre Männlichkeit wahrgenommen: auf ihre Funktion als Breadwinner wie auch ihre Aufgabe, die Ehre der Familie, die ganz wesentlich auf der ‚Tugendhaftigkeit‘ und ‚Reinheit‘ der Frauen basierte, zu bewahren.4 Zusätzlich gingen mit der Industrialisierung und Urbanisierung auch Veränderungen im Verhältnis zwischen afroamerikanischen und angloamerikanischen Menschen einher, die von letzteren als bedrohlich empfunden wurden. Die Organisation der industriellen Produktion nach den Prinzipien des Industriekapitalismus unterminierte mitunter die rassische Hierarchisierung entlang der Color Line.5 In einigen Fabriken gingen afroamerikanische Arbeiterinnen den gleichen Tätigkeiten wie angloamerikanische Arbeiterinnen nach. Südstaatler_innen sa3 4
5
[Unbekannt], „Cartoon Comment: Their Trials and Tribulations.“ In: The Mascot, 17.8.1889, S. 2. Mary E. Odem, Delinquent Daughters: Protecting and Policing Adolescent Female Sexuality in the United States, 1885–1920. Chapel Hill et al.: University of North Carolina Press 1996, S. 24. Trotz der Free-Labor-Rhetorik nutzten und verstärkten jedoch viele Industrielle die existierenden Spaltungen der Arbeiterschaft entlang der Scheidelinie Race, um die verschiedenen Gruppen gegeneinander auszuspielen (Mary E. Frederickson, Looking South: Race, Gender, and the Transformation of Labor from Reconstruction to Globalization. Tallahassee et al.: University Press of Florida 2011, S. 13).
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hen darin einen Angriff auf die Tugendhaftigkeit angloamerikanischer Frauen und letztendlich auf den Erhalt der White Supremacy.6 Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozesse reizten also Neuverhandlungen der Formen und Strukturen des Zusammenlebens unterschiedlicher Menschen an und riefen damit erbitterte Kämpfe angloamerikanischer Männer für den Erhalt ihrer gesellschaftlich dominanten Stellung hervor.7 Während dabei primär Frauen und ‚Afroamerikaner‘ in ihr Blickfeld gerieten, wurden auch ‚Juden‘ oder ‚Katholiken‘ zum negativen Bestandteil dieser Krisendiskurse. Dem Zusammenhang zwischen den sich vollziehenden sozioökonomischen und kulturellen Transformationsprozessen, den daran gekoppelten Bedrohungswahrnehmungen angloamerikanischer Männer sowie der Expansion antisemitischen Wissens nachzuspüren, bildet das Vorhaben dieses Kapitels. In einem ersten Schritt wird dafür der spezifische Kontext der Industrialisierung und Urbanisierung in den Südstaaten skizziert.
4.1 Urbanisierung und Industrialisierung im US-Süden Die im Süden seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnenden Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozesse erfuhren in den 1880er Jahren eine Beschleunigung. Die Zahl der industriellen Unternehmen wuchs derart drastisch an, dass der Historiker Dan Doyle die Entwicklung als Explosion industrieller Aktivitäten charakterisierte.8 Die Kapazitäten der Textilindustrie 6
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Als Reaktion auf die Beschäftigung afroamerikanischer Arbeiterinnen in gleichen Positionen kam es z. B. 1897 in den Fulton Bag and Cotton Mills in Atlanta zu einem Streik angloamerikanischer Arbeiterinnen. Die angloamerikanischen Arbeiterinnen forderten die Entlassung ihrer afroamerikanischen Kolleginnen. Gleichzeitig billigten sie den Afroamerikanerinnen als minderwertig kategorisierte Arbeiten zu, wie z. B. solche als Reinigungskräfte. Schnell schlossen sich andere Arbeiterinnen, Gewerkschaften und angloamerikanische Arbeiter der Arbeitsniederlegung an. Arbeiter, die sich der Streikbewegung angeschlossen hatten, gaben als Beweggründe den Schutz angloamerikanischer Weiblichkeiten vor der Gleichsetzung mit Afroamerikanerinnen an. Unterstützung fand die Forderung nach Entlassung der afroamerikanischen Arbeiterinnen auch innerhalb einer breiteren Öffentlichkeit in den USA. Zum Race Strike siehe Georgina Hickey, Hope and Danger in the New South City: Working-Class Women and Urban Development in Atlanta, 1890–1940. Athens et al.: The University of Georgia Press 2003, S. 18–23. Evelyn Nakano Glenn, Unequal Freedom: How Race and Gender Shaped American Citizenship and Labor. Cambridge: Harvard University Press 2002, S. 119. Don Doyle, New Men, New Cities, New South: Atlanta, Nashville, Charleston, Mobile, 1860–1910. Chapel Hill: University of North Carolina Press 1990, S. 9.
Urbanisierung und Industrialisierung
wurden seit den späten 1880er Jahren dermaßen ausgebaut, dass der Süden New England als Zentrum der nationalen Textilindustrie ablöste.9 Auch andere industrielle Zweige nahmen eine ähnliche Entwicklung. In Alabama vervierfachte sich die Eisenproduktion innerhalb von sieben Jahren von 203.000 Tonnen im Jahr 1885 auf über 915.000 Tonnen in 1892.10 Mit dieser Entwicklung ging ein rapider Anstieg der im industriellen Sektor Beschäftigten einher. Zwischen 1880 und 1900 verdreifachte sich in neun der elf Staaten der ehemaligen Konföderation die Zahl industrieller Arbeiter_innen. Im Jahr 1910 waren allein in der Textilindustrie South Carolinas mehr als 45.000 Arbeiter_innen beschäftigt.11 Im Zuge des Anwachsens der Arbeiterklasse kam es auch zur rasanten Ausdehnung weiblicher Lohnarbeit. Frauen stellten einen erheblichen Teil der Arbeiter_innenschaft in den neu entstehenden Industrieunternehmen dar. Oder um es mit den Worten von Evelyn Nakano Glenn zu fassen: „White working class women streamed into the textile mills of South Carolina, North Carolina, Georgia, and Virginia and the tobacco factories of Virginia and North Carolina.“12 In North Carolina stieg die Zahl der Arbeiterinnen in den Baumwollfabriken zwischen 1892 und 1900 von unter 1.000 auf 13.973.13 Laut der Historikerin Jacqueline Dowd Hall lagen die Ursachen für diese Entwicklung häufig in der sozioökonomischen Situation der Familien, denen diese Frauen entstammten. Aufgrund der enormen finanziellen Schwierigkeiten vieler Farmerhaushalte und der verwundbaren Position von Frauen innerhalb der agrarischen Ökonomie des Südens seien zuerst Frauen aus verarmten Farmerhaushalten sowie Witwen und alleinstehende Frauen aus ländlichen Regionen in die neu entstehenden industriellen Lohnarbeitsverhältnisse getreten.14 LeeAnn Whites geht davon aus, dass in Augusta, Georgia, über 40 Prozent der Haushalte in den Cotton Mills auf Grund der Abwesenheit eines männlichen Familienpatriarchen eine Frau als Oberhaupt hatten.15 Zu Anfang des 20. Jahrhunderts stieg dann 9 10 11 12 13 14
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Howard N. Rabinowitz, The First New South, 1865–1920. Arlington Heights: Harlan Davidson 1992, S. 45 f. James C. Cobb, Industrialization and Southern Society, 1877–1984. Lexington: The University Press of Kentucky 1984, S. 19. Rabinowitz, First New South, S. 45. Glenn, Unequal Freedom, S. 120. Dies., S. 121. Jacquelyn Dowd Hall; James Leloudis; Robert Korstad et al., Like a Family: The Making of a Southern Cotton Mill World. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 1987, S. 33. LeeAnn Whites, „Paternalism and Protest in Augusta’s Cotton Mills: What’s Gender Got to Do with It?“ In: Edward J. Cashin und Glenn T. Eskew (Hg.), Paternalism in a Southern
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zwar das Kontingent von Männern innerhalb der Belegschaft der Industrieunternehmen, der Anteil von Frauen blieb allerdings nach wie vor hoch.16 In Atlanta, der New South City, stellten Frauen um 1910 mehr als ein Viertel der Fabrikarbeiterschaft.17 Während Vertreter_innen der New-South-Ideologie die Industrialisierungsund Urbanisierungsprozesse als zivilisatorischen Fortschritt und Überwindung der ökonomischen Rückständigkeit des Südens priesen, sah sich die im Entstehen begriffene Arbeiterklasse katastrophalen Arbeitsbedingungen ausgesetzt. Die zum Teil horrenden Renditen, die auf das investierte Kapital erzielt werden konnten, ließen sich nur zu Lasten der sozio-ökonomischen Situation der Arbeiterklasse realisieren. Lange Arbeitszeiten von bis zu 70 Stunden pro Woche, niedrige Löhne, die zum Teil nicht über $2,50 in der Woche lagen sowie ein Entlohnungssystem, das den Arbeiter_innen ihren Lohn in Form von Schecks auszahlte, die ausschließlich in unternehmenseigenen Läden eingelöst werden konnten, sorgten für desaströse Lebensbedingungen unter den Arbeiter_innen und deren Familien. Zum Überleben waren viele Familien darauf angewiesen, dass die Kinder ebenfalls einer Lohnarbeit nachgingen. 1900 waren mehr als ein Viertel der Arbeiter_innen in der Textilindustrie jünger als 16 Jahre.18 Obwohl die Industrialisierung gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Süden deutlich an Geschwindigkeit aufnahm, konnte sie mit der rasanten Industrialisierung im Norden nicht Schritt halten. Anstatt, wie von den Befürworter_innen des New South erhofft, den Rückstand gegenüber den Nordstaaten zunehmend zu verringern, vergrößerte sich dieser fortlaufend.19 Waren unmittelbar vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges über 17,2 Prozent des produzierenden Gewerbes und über 11,5 Prozent des Kapitals der Vereinigten Staaten von Amerika im Süden angesiedelt beziehungsweise gebunden, sank der Anteil bis 1904 auf 15,3 beziehungsweise 11 Prozent.20 Trotz der sich beschleunigenden Urbanisierung
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City: Race, Religion, and Gender in Augusta, Georgia. Athens et al.: The University of Georgia Press 2001, S. 68–84, hier S. 70. Frederickson, Looking South, S. 222. Hickey, New South City, S. 26. William E. Forbath, „Caste, Class, and Equal Citizenship.“ In: Michigan Law Review, Jg. 98, Nr. 1 (Oktober 1999), S. 1–91, hier S. 29 f.; Rabinowitz, First New South, S. 47, 163. Zu Kinderarbeit in den neu entstehenden Industrien siehe insbesondere James D. Schmidt, Industrial Violence and the Legal Origins of Child Labor. Cambridge et al.: Cambridge University Press 2010. James C. Cobb, Industrialization and Southern Society, 1877–1984. Lexington: The University Press of Kentucky 1984, S. 10. Rabinowitz, First New South, S. 48.
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und Industrialisierung war der Süden in seiner ökonomischen Struktur auch um die Jahrhundertwende weiterhin überwiegend agrarisch geprägt. Howard Rabinowitz kommt deshalb zu dem Schluss, dass die industrielle Revolution im Süden eigentlich eine industrielle Evolution dargestellt habe.21 Für den Ausbau des industriellen Sektors war der Süden auf einen erheblichen Kapitalstrom aus dem Norden angewiesen. Die agrarische Struktur und die lange Zeit weitgehend auf Subsistenzwirtschaft ausgelegte Ökonomie des Südens hatten eine Kapitalakkumulation in ausreichendem Maße verunmöglicht. Während das Vermögen pro Kopf im Jahr 1880 im Norden bei $1.086 lag, verfügte ein/e Südstaatler_in zu diesem Zeitpunkt im Durchschnitt über gerade einmal $376.22 Folglich stellte die Industrialisierung des Südens ein Projekt dar, dessen Realisierung wesentlich von Kapitalzufluss abhängig war. In Konsequenz befand sich eine Vielzahl der neu entstehenden Industrien, Fabriken, Eisenbahngesellschaften, aber auch ein steigender Anteil des Grund und Bodens in der Hand von Investoren aus dem Norden.23 Viele Südstaatler_innen empfanden die Besitzverhältnisse als Ausdruck einer weiteren, sich von der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Leo Frank-Case ziehenden Beherrschung und Ausbeutung des Südens durch den Norden.24 Die Ansicht, dass die ehemaligen konföderierten Staaten der ökonomischen Kolonialisierung durch den Norden unterworfen seien, wurde auch über die frühen Dekaden des 20. Jahrhunderts hinaus von vielen Südstaatler_innen geteilt, unter anderem auch von C. Vann Woodward, dem Verfasser des historiographischen Klassikers Origins of the New South, 1877–1913.25 Eng mit der zunehmenden Industrialisierung war auch die drastische Ausweitung urbaner Räume verbunden. Lebten 1860 nur 6,9 Prozent der Bevölkerung im Süden in städtischen Gebieten, stieg dieser Anteil über 12,8 Prozent im Jahre 1880 auf knapp ein Fünftel der Bevölkerung im Jahre 1910.26 Einige Städte erlebten gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine wahre Explosion 21
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Cobb, Industrialization, S. 24; Gaines M. Foster, Ghosts of the Confederacy: Defeat, the Lost Cause, and the Emergence of the New South, 1865–1913. New York et al.: Oxford University Press 1987, S. 79 f.; Rabinowitz, First New South, S. 48. C. Vann Woodward, Origins of the New South, 1877–1913: A History of the South. Baton Rouge: Louisiana State University Press 1971, S. 111. Rabinowitz, First New South, S. 31. William A. MacCorkle, „Baltimore, the South’s Financier.“ In: Manufacturers’ Record, 14.12.1899, S. 70–74, hier S. 72 f. Woodward, Origins, S. 114–124. Doyle, New Men, S. 9–11.
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ihrer Einwohner_innenzahlen. Greensboro in North Carolina wuchs zwischen 1870 und 1900 von 497 auf 10.035 Bewohner_innen, während sich die Bevölkerung von Charlotte, North Carolina, im gleichen Zeitraum von 4.473 auf 18.091 vervierfachte.27 Trotz des stetigen und sich seit den 1870er Jahren beschleunigenden Wachstums der urbanen Bevölkerung nahm jedoch ebenso wie beim Industrialisierungsgrad der Rückstand des Südens gegenüber den anderen Sektionen der USA weiter zu anstatt sich zu verringern. 1920 lebten nur 22 Prozent der Menschen im Süden in Gemeinden oder Städten mit mehr als 2.500 Einwohner_innen, während es in den USA insgesamt knapp über 50 Prozent waren.28 Die anwachsende städtische Bevölkerung setzte sich vor allem aus vormaligen Bewohner_innen ländlicher Gebiete zusammen. Während zunächst häufig Frauen aus verarmten ländlichen Familien in die Städte zogen, um ihre Familien ökonomisch zu entlasten beziehungsweise zu unterstützen, speisten gegen Ende des 19. Jahrhunderts insbesondere verarmte angloamerikanische Farmer mitsamt ihren Familien das Wachstum der Städte im US-Süden.29 Die Historikerin Jacquelyn Dowd Hall bezeichnet aus diesem Grund die Pauperisierung der Farmer als Antriebsfeder der Industrialisierung und Urbanisierung.30 Als Konsequenz dieser Land-Stadt-Migration stieg der Anteil der angloamerikanischen Bevölkerung in den Städten des Südens von 50,7 Prozent im Jahre 1880 auf 61,7 Prozent am Ende der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts. Afroamerikaner_innen wiederum bildeten gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa ein Drittel der städtischen Bevölkerung.31 In Großstädten wie Atlanta, Richmond, Nashville, Montgomery oder Raleigh lag ihr Anteil jedoch mitunter deutlich höher. Unter anderem wegen des etwas größeren Schutzes, den ihnen die Großstädte vor der direkten Kontrolle und der Gewalt durch Angloamerikaner_innen boten, machten sie dort zeitweise zwischen 39–59 Prozent der Einwohner_innen aus.32 27
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Glenda Elizabeth Gilmore, Gender and Jim Crow: Women and the Politics of White Supremacy in North Carolina, 1896–1920. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 1996, S. 65 f. Rabinowitz, First New South, S. 48–56. Jacquelyn Dowd Hall; Robert Korstad und James Leloudis, „Cotton Mill People.“ In: The American Historical Review, Jg. 91, Nr. 2 (April 1986), S. 245–286, hier S. 249; Gerald Friedman, „The Political Economy of Early Southern Unionism.“ In: The Journal of Economic History, Jg. 60, Nr. 2 ( Juni 2000), S. 384–413, hier S. 385. Hall; Korstad und Leloudis, „Mill People“, S. 245. Doyle, New Men, S. 13; Rabinowitz, First New South, S. 43, 57. Glenn, Unequal Freedom, S. 106.
Historiographische Arbeiten zur Industrialisierung
Das Zusammenleben von Angloamerikaner_innen und Afroamerikaner_innen innerhalb der urbanen Gebiete unterschied sich in bedeutender Hinsicht von dem in ländlichen Gebieten. Die veränderten Formen und Strukturen, in denen sich der Alltag abspielte, evozierten unter angloamerikanischen Menschen Befürchtungen, ihre dominante gesellschaftliche Stellung zu verlieren. Um die als verflüssigt empfundenen Grenzen zwischen afro- und angloamerikanischen Menschen zu restabilisieren und auf diesem Weg die Hierarchisierungen zwischen ihnen aufrechtzuerhalten, kam es seit der Reconstruction Era zur Herausbildung segregierter Räume innerhalb der Städte.33 Die mit der Urbanisierung und Industrialisierung verflochtenen gesellschaftlichen Veränderungen sowie die an diesen Wandel gekoppelten Bedrohungswahrnehmungen bilden den Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Im Folgenden werde ich die vorliegende Arbeit und die darin aufgeworfenen Fragen innerhalb der bisherigen historiographischen Forschung verorten. Dabei werde ich auf Grund des spezifischen Untersuchungsgegenstandes den Fokus einerseits auf geschlechterhistorische Arbeiten richten und andererseits auf Studien, die den Zusammenhang zwischen Industrialisierung- und Urbanisierungsprozessen sowie Antisemitismus analysieren.
4.2 Historiographische Arbeiten zur Industrialisierung und Urbanisierung des Südens Zur Geschichte der Industrialisierung und Urbanisierung des US-Südens ist eine Vielzahl an historiographischen Werken publiziert worden, die sich in ihren Herangehensweisen, Perspektiven, ihren spezifischen Fragestellungen und ihren Schlussfolgerungen stark unterscheiden.34 Insbesondere um die Fragen, in welchem Ausmaß sich der von Vertreter_innen des New South vorangetriebene 33 34
Eric Foner, Reconstruction: America’s Unfinished Revolution, 1863–1877. New York: Harper & Row Publishers 1988, S. 82; Glenn, Unequal Freedom, S. 118. Siehe u. a. Edward L. Ayers, The Promise of the New South: Life after Reconstruction. New York et al.: Oxford University Press 1992; Cobb, Industrialization; ders., Redefining Southern Culture: Mind and Identity in the Modern South. Athens et al.: The University of Georgia Press 1999; Doyle, New Men; Douglas Flamming, Creating the Modern South: Millhands and Managers in Dalton, 1884–1984. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 1995; Rabinowitz, First New South; George Brown Tindall, The Emergence of the New South, 1913–1945. Baton Rouge et al.: Louisiana State University Press 1967; Woodward, Origins; Phillip J. Wood, Southern Capitalism: The Political Economy of North Carolina, 1880–1980. Durham: Duke University Press 1986.
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wirtschaftliche Wandel gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts im Süden vollzog, beziehungsweise inwieweit sich der Süden tatsächlich von einer agrarischen in eine industrialisierte und urbanisierte Gesellschaftsformation transformierte, entspannten sich unter Historiker_innen Debatten.35 Einen Klassiker zu dieser Thematik stellt Origins of the New South, 1877–1913 von C. Vann Woodward dar. In dem erstmals 1951 veröffentlichten Buch diagnostiziert Woodward einen sich in den Dekaden nach dem Bürgerkrieg vollziehenden fundamentalen Wandel des Südens, der sich nicht bloß auf die Ökonomie reduzierte, sondern auch die Kultur tiefgreifend verändert habe.36 Nicht mehr Großgrundbesitzer, sondern Geschäftsmänner und Industrielle seien im New South tonangebend gewesen.37 Woodwards These einer fundamentalen Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Anschluss an den Bürgerkrieg traf auf Widerspruch unter Historiker_innen.38 Jonathan M. Wiener beschrieb in Social Origins of the New South die Großgrundbesitzer auch für die Zeit nach dem Bürgerkrieg als die gesellschaftlich dominante Gruppe.39 Auch neuere Arbeiten wie The Promise of the New South von Edward L. Ayers, Howard N. Rabinowitz’ The First New South oder New Men, New Cities, New South von Don Doyle betonen stärker als Woodward die Kontinuitäten zwischen dem Old South und dem New South.40 Auch wenn Woodwards These zum New South von vielen Historiker_innen nicht geteilt wird, wird in zahlreichen Arbeiten die ab den 1880er Jahren sich beschleunigende Industrialisierung und Urbanisierung als eine für die Südstaaten bedeutsame Veränderung verstanden. Die im Zuge dieser Entwicklungen sich wandelnden Lebenswelten bilden den Untersuchungsgegenstand einiger historiographischer Studien.41 Dabei werden in ihnen unterschiedliche Aspekte der 35 36 37
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Zu diesen Debatten siehe u. a. Cobb, Southern Culture, S. 5–24. Woodward, Origins, S. 142–174. Zu den zahlreichen mit dem Begriff New South verbundenen Problemen siehe u. a. Paul M. Gaston, The New South Creed: A Study in Southern Mythmaking. New York: Alfred A. Knopf 1970, S. 4–6. Siehe u. a. Dwight B. Billings, Planters and the Making of a „New South“: Class, Politics, and Development in North Carolina, 1865–1900. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 1979; Jonathan M. Wiener, Social Origins of the New South: Alabama, 1860–1885. Baton Rouge et al.: Louisiana State University Press 1978. Wiener, Social Origins, S. 4 f. Ayers, New South; Doyle, New Men; Rabinowitz, First New South. Siehe u. a. Flamming, Modern South; Hall; Leloudis; Korstad et al., Family; I. A. Newby, Plain Folk in the New South: Social Change and Cultural Persistence, 1880–1915. Baton Rouge et al.: Louisiana State University Press 1989.
Historiographische Arbeiten zur Industrialisierung
mit den sozioökonomischen Transformationen verbundenen gesellschaftlichen Umbrüche fokussiert. Einige widmen sich der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Industriellen und Arbeiter_innen.42 Melton McLaurin untersucht in diesem Zusammenhang die Organisierungsversuche sowie die Kämpfe der Arbeiterklasse für verbesserte Lebensbedingungen.43 Andere wiederum richten ihren Blick auf die eng mit dem Ausbau des industriellen Sektors verbundene Expansion der Kinderlohnarbeit.44 Für das Verständnis der sich vollziehenden Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse und die mit der Transformation verbundenen Effekte auf die Südstaatengesellschaft bildet Geschlecht eine wichtige Erkenntniskategorie. Dennoch ist dieser Gegenstand in der Historiographie bisher nicht auf große Aufmerksamkeit gestoßen. Michelle Brattain kommt deshalb zu folgendem Schluss: „At times the new southern labor history also seemed to have a gender problem.“45 Trotz der weitgehenden Nichtbeachtung der Kategorie Geschlecht durch die Labor History sind seit den 1980er Jahren einige Arbeiten entstanden, die die Bedeutung von Geschlecht für die sich vollziehenden Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse beziehungsweise die durch diese Prozesse ausgelösten Neuverhandlungen von Männlichkeits- und Weiblichkeitsentwürfen untersucht haben.46 Einige von ihnen thematisieren die harten Arbeits42 43 44 45
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Hall, Korstad und Leloudis, „Mill People“. Melton Alonza McLaurin, Paternalism and Protest: Southern Cotton Mill Workers and Organized Labor, 1875–1905. Westport: Greenwood Publishing Corp. 1971. Schmidt, Industrial Violence. Michelle Brattain, „The Pursuits of Post-Exceptionalism: Race, Gender, Class, and Politics in the New Southern Labor History.“ In: Glenn T. Eskew (Hg.), Labor in the Modern South. Athens et al.: The University of Georgia Press 2001, S. 1–46, hier S. 9. Auch in zahlreichen geschlechterhistorischen Arbeiten, die Urbanisierung und Industrialisierung nicht explizit zum Untersuchungsgegenstand erhoben haben, werden diese Prozesse häufig thematisiert. In Gender and Jim Crow untersucht Glenda E. Gilmore im Kontext ihrer geschlechtergeschichtlichen Analyse der White Supremacy in North Carolina zwischen den 1890ern und 1920ern den Einfluss urbaner Räume auf das Bemühen angloamerikanischer Männer, die Sexualität angloamerikanischer Frauen zu kontrollieren (Gilmore, Gender and Jim Crow, S. 72–76). Arbeiten wie Plain Folk in the New South von I. A. Newby wiederum liefern interessante Erkenntnisse über die Alltagserfahrungen von Frauen der neu entstehenden Arbeiterklasse, über das paternalistische Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeiter_innen sowie über das sich wandelnde Alltags- und Familienleben, ohne jedoch die Kategorie Geschlecht explizit zu berücksichtigen (Newby, Plain Folk, insbesondere Teil II und Teil III). Zahlreiche Artikel, die das Leben von Arbeiterinnen im Old South zum Gegenstand haben, bietet der Sammelband Neither Lady Nor Slave (Susanna Delfino und Michelle Gillespie (Hg.), Neither Lady Nor Slave: Working Women of the Old South. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 2002).
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und Lebensbedingungen der rasant wachsenden Gruppe an Industriearbeiterinnen und analysierten in diesem Kontext die angewandten Strategien und Kämpfe der Lohnabhängigen für eine Verbesserung ihrer Situation.47 Eine umfangreiche Studie zum Alltagsleben von Arbeiterklassefrauen in Atlanta liefert das Buch Hope and Danger in the New South City von Georgina Hickey. In dieser äußerst erkenntnisreichen Arbeit betrachtet Hickey nicht nur angloamerikanische Arbeiterinnen, sondern widmet sich ebenso ausführlich den Lebensund Arbeitsverhältnissen afroamerikanischer Frauen. Sie untersucht also nicht nur den Einfluss von Geschlecht auf die Arbeitsverhältnisse, sondern auch die Wirkmacht, die rassistisches Wissen auf die Strukturierung der Arbeitswelt in urbanisierten und industrialisierten Räumen entfaltete.48 In welcher Weise die Herausbildung einer industriellen Produktionsform und die damit verbundenen spezifischen Formen der Arbeitsorganisation Auswirkungen auf die Ordnung der Familie ausübten, untersucht Jacquelyn Dowd Hall in Like a Family. In diesem Zusammenhang beleuchtet sie das in den Baumwollfabriken häufig praktizierte Family Labor System. Sie kam dabei zum einen zu dem Ergebnis, dass Frauen und auch Kinder dadurch, dass sie in den Baumwollfabriken einer Lohnarbeit nachgingen, zum Familieneinkommen beitrugen und somit den Status angloamerikanischer Männer als Breadwinner bedrohten. Zum anderen schlussfolgerte sie, dass das Fabriksystem durch ein vergeschlechtlichtes und rassifiziertes Entlohnungssystem und den über die Kategorien Geschlecht und Race regulierten Zugang zu bestimmten Berufen die sozialen Hierarchisierungen unter veränderten Bedingungen reproduzierte.49 47
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Victoria Byerly, Hard Times Cotton Mill Girls: Personal Histories of Womanhood and Poverty in the South. Ithaca: ILR Press 1986; Jacquelyn Dowd Hall, „Disorderly Women: Gender and Labor Militancy in the Appalachian South.“ In: The Journal of American History, Jg. 73, Nr. 2 (September 1986), S. 354–382; Tera W. Hunter, „‚The Women Are Asking for BREAD, Why Give Them STONE?‘: Women, Work, and Protests in Atlanta and Norfolk during World War I.“ In: Eskew (Hg.), Labor, S. 62–82; Gretchen Maclachlan, „Atlanta’s Industrial Women, 1879–1920.“ In: Atlanta History, Jg. 36, Nr. 4 (Winter 1993), S. 16–23; LeeAnn Whites, „The De Graffenried Controversy: Class, Race, and Gender in the New South.“ In: The Journal of Southern History, Jg. 54, Nr. 3 (August 1988), S. 449–478. In United Apart fokussiert Ileen A. Devault zwar nicht primär den Süden, geht aber partiell auf die Verhältnisse in den Südstaaten ein und liefert somit wichtige Erkenntnisse zu der Bedeutung von Geschlecht für von Gewerkschaften geführte Kämpfe (Ileen A. Devault, United Apart: Gender and the Rise of Craft Unionism. Ithaca et al.: Cornell University Press 2004). Hickey, Hope and Danger. Hall, Family, S. 67. Zur Bedeutung von Whiteness innerhalb der Textilindustrie des Südens siehe u. a. Michelle Brattain, The Politics of Whiteness: Race, Workers, and Culture in the Modern South. Princeton et al.: Princeton University Press 2001.
Historiographische Arbeiten zur Industrialisierung
In eine ähnliche Richtung zielen Arbeiten von Douglas Flamming. Allerdings fokussieren sie stärker die Situation junger Lohnarbeiterinnen, die noch im elterlichen Haushalt lebten. Ihre Situation charakterisierte er auf Grund ihrer gleichzeitigen, innerfamiliären Stellung als „Geldverdienerinnen und Abhängige“ als ambivalent.50 LeeAnn Whites, Gary R. Freeze und Michael Kimmel wiederum haben das Verhältnis von industrieller Lohnarbeit und Männlichkeit untersucht. Sie sind der Frage nachgegangen, inwieweit die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen eine Bedrohung für die patriarchale Position angloamerikanischer Männer darstellten. Während Freeze und Kimmel die sich vollziehenden Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse mit Krisenwahrnehmungen angloamerikanischer Männer in Verbindung setzen, betont Whites die von Arbeiterklassemännern angewendeten Strategien, ihre Position als Familienpatriarchen zu erhalten. In diesem Zusammenhang versteht sie die in den 1880er und 1890er Jahren geführten Arbeitskämpfe innerhalb der Textilindustrie als ein Element zeitgenössischer Neuverhandlungen angloamerikanischer Männlichkeit.51 Eine andere Strategie zur Überwindung der vermeintlich durch die Ausweitung industrieller Arbeitsverhältnisse ausgelösten Krise angloamerikanischer Männer stellte der gegen Afroamerikaner_innen gerichtete Rassismus dar. Nach Bryant Simon verstanden angloamerikanische Arbeiter die mit der industriellen Produktion verbundenen neuartigen Arbeitsorganisationsformen als Angriff auf ihre männliche Unabhängigkeit. Gleichzeitig nahmen sie ‚afroamerikanische‘ Männer als zunehmend unabhängig wahr. Diese als Angriff auf die White Supremacy im Allgemeinen und die dominante gesellschaftliche Position angloamerikanischer Männer im Besonderen empfundene Entwicklung versuchten 50
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Douglas Flamming, „Daughters, Dollars, and Domesticity: Family Wages and Female Autonomy in American Textiles, Evidence from the Federal Survey of 1908.“ In: Humanities Working Paper 153, September 1992, URL: http://authors.library.caltech.edu/39685/1/ HumsWP-0153.pdf, letzter Zugriff am 22.11.2014; ders., „‚Give Her Some out of That‘: Cotton Mill Girls, Family Wages, and the Question of Female Independence in the New South.“ In: Eskew (Hg.), Labor, S. 47–61, hier S. 48. Gary R. Freeze, „Patriarchy Lost: The Preconditions for Paternalism in the Odell Cotton Mills of North Carolina, 1882–1900.“ In: Gary M. Fink und Merl E. Reed (Hg.), Race, Class, and Community in Southern Labor History. Tuscaloosa: The University of Alabama Press 1994, S. 27–40; Michael Kimmel, Manhood in America: A Cultural History. New York et al.: Oxford University Press 2012, 80–82; LeeAnn Whites, „Paternalism and Protest in Augusta’s Cotton Mills: What’s Gender Got to Do with It?“ In: Edward J. Cashin und Glenn T. Eskew (Hg.), Paternalism in a Southern City: Race, Religion, and Gender in August, Georgia. Athens et al.: The University of Georgia Press 2001, S. 68–84.
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Angloamerikaner mit rassistischen Instrumenten zu bekämpfen.52 Auch andere historiographische Arbeiten widmen sich dem Zusammenhang zwischen Rassismus und den durch Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse ausgelösten Bedrohungswahrnehmungen angloamerikanischer Männer.53 Allerdings führten die mit den Transformationsprozessen verbundenen Krisendiskurse nicht nur zu rassistischer Gewalt gegenüber Afroamerikaner_innen. Vielmehr stellten Zeitgenoss_innen auch Verknüpfungen zwischen der vermeintlichen Krisenhaftigkeit und ‚Juden‘ her. In der Historiographie zur Geschichte des Antisemitismus in den USA wurde wiederholt auf das Verhältnis von Industrialisierung, Urbanisierung und Antisemitismus hingewiesen.54 Insbesondere Arbeiten zum Leo Frank-Case betonen diesen Zusammenhang.55 Während viele von ihnen dabei zumindest implizit auf die Bedeutung von Veränderungen innerhalb des Geschlechterverhältnisses verweisen, verfolgen bisher lediglich die Arbeiten von Nancy MacLean und Jeffrey Melnick den Zusammenhang zwischen Industrialisierung/Urbanisierung, daraus resultierenden Veränderungen innerhalb des Geschlechterverhältnisses und Antisemitismus tiefergehend. Sie liefern, wie bereits in der Einleitung ausgeführt, wichtige Erkenntnisse zum Konnex zwischen vergeschlechtlichten Krisenwahrnehmungen und antisemitischen Konstruktionen von ‚Juden‘. Allerdings beschränken sich ihre Analysen weitgehend auf die Jahre des Leo Frank-Case.56 Eine genealogische Untersuchung der Entstehungsbedingungen der enormen Wirkmacht, die die antisemitische Verknüpfung von ‚Juden‘ mit Industrialisierungsprozessen während der zweijährigen Affäre entfaltete, steht bisher also noch aus. Eine solche zu liefern, stellt das Vorhaben dieses Kapitels dar. Um das Verhältnis von Industria52
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Bryant Simon, „The Appeal of Cole Blease of South Carolina: Race, Class, and Sex in the New South.“ In: Martha Hodes (Hg.), Sex, Love, Race: Crossing Boundaries in North American History. New York et al.: New York University Press 1999, S. 373–398. Siehe u. a. Gregory Mixon, The Atlanta Race Riot: Race, Class, and Violence in a New South City. Gainesville et al.: The Unversity Press of Florida 2005. Siehe u. a. Steven Hertzberg, Strangers within the Gate City: The Jews of Atlanta, 1845–1915. Philadelphia: The Jewish Publication Society of America 1978, S. 85. Leonard Dinnerstein, The Leo Frank Case. Athens et al.: The University of Georgia Press 2008, S. 32; Jeffrey Melnick, Black-Jewish Relations: Leo Frank and Jim Conley in the New South. Jackson: University Press of Mississippi 2000, S. 63 f.; Steve Oney, And the Dead Shall Rise: The Murder of Mary Phagan and the Lynching of Leo Frank. New York: Pantheon Books 2003, S. 71–73. Nancy MacLean, „The Leo Frank Case Reconsidered: Gender and Sexual Politics in the Making of Reactionary Populism.“ In: The Journal of American History, Jg. 78, Nr. 3 (Dezember 1991), S. 917–948; Melnick, Black-Jewish Relations.
Industrialisierung
lisierung und Urbanisierung, vergeschlechtlichten Bedrohungswahrnehmungen sowie Antisemitismus nachzuzeichnen, werden im Folgenden zunächst zeitgenössische Krisendiskurse rekonstruiert.
4.3 Industrialisierung, weibliche Lohnarbeit und angloamerikanische Männlichkeit Trotz der verhältnismäßig langsam voranschreitenden Urbanisierung und Industrialisierung waren diese Veränderungen von bedeutendem Einfluss sowohl auf die Südstaatengesellschaft wie auch auf das Selbstverständnis von Südstaatler_innen. Prominente Vertreter_innen des New South wie die Zeitungsherausgeber Henry Grady von der Atlanta Constitution, William Mahone vom Richmond Whig oder Richard H. Edmonds vom Manufacturers’ Record strebten eine rasche Industrialisierung an, um den Rückstand gegenüber dem Norden zu verringern.57 Sie erhofften sich davon die Überwindung der wahrgenommenen ökonomischen wie auch politischen Subordination des Südens.58 Die Herausbildung und Ausbreitung urbanisierter und industrialisierter Gebiete wurde von ihnen auf der Folie eines fortschrittsgläubigen Geschichtsverständnisses als gesellschaftliches Voranschreiten des Südens und als Erklimmen einer neuen Zivilisationsstufe verstanden.59 In gewisser Weise wurde in diesem Narrativ die Industrialisierung als ein die menschliche Gattung transzendierendes Moment konstruiert. So beschrieb James A. Greer, Herausgeber des Textile Manufacturer, in einem offenen Brief an die Zeitung Atlanta Georgian die sich neu herausbildenden gesellschaftlichen Verhältnisse als Voraussetzung zur Ausbildung einer ‚zivilisierten‘ Männlichkeit: 57 58 59
Rabinowitz, First New South, S. 29 f. [Unbekannt], „The Lusty South.“ In: Manufacturers’ Record, 14.12.1899, S. 1–7, hier S. 7; Cuyler Smith, „Organization of Cotton Mills.“ In: Manufacturers’ Record, 14.12.1899, S. 26. Edward K. Graham, „Culture and Commercialism.“ In: The South Atlantic Quarterly, Jg. 2, Nr. 2 (April 1908), S. 114–129, hier S. 121–123; Thomas F. Parker, „The South Carolina Cotton Mill – A Manufacturer’s View.“ In: The South Atlantic Quarterly, Jg. 8, Nr. 4 (Oktober 1909), S. 328–337, hier S. 330–334; ders., „The South Carolina Cotton Mill Village – A Manufacturer’s View.“ In: The South Atlantic Quarterly, Jg. 9, Nr. 4 (Oktober 1910), S. 349–357, hier S. 351; Charles Lee Raper, The South and the Manufacture of Cotton. [o. O.]: [Selbstverlag] [o. J.], S. 8, LRWL, North Carolina Collection (im Folgenden: NCC); D. A. Tompkins, Manufactures: An Address Made by D. A. Tompkins at the First Annual Dinner of the Progressive Association of Edgecombe County, Hotal Farrar, Tarboro, North Carolina, December 28, 1899. Charlotte: Observer Printing and Publishing House 1900, S. 3 u. 22, LRWL, NCC.
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Industrialisierung, Urbanisierung, angloamerikanische Männlichkeit
Having come from the farms, poor and ignorant, they brought the ‚snuff dipping,‘ ‚tobacco chewing‘ and general shiftless habits with them. Some wag has said: ‚You can take people out of the country, but you can’t take the country out of the people‘ and this applies to many of the cotton mill operatives. They are, however, going through a state of evolution, rising gradually to a higher plane of living. Our cotton mill owners are to be highly commended for furnishing the means for bringing about this evolution. The cotton mills of the south are now, and have been for years exerting a great civilizing and Christianizing influence. They have been a GodSend to thousands of poor people.60
Richard H. Edmonds, Herausgeber des Manufacturers’ Record, knüpfte an eine baldige und umfassende Industrialisierung die Hoffnung auf eine Revitalisierung der Südstaatengesellschaft und der angloamerikanischen Männer, die wieder zu den Schrittmachern der Nation werden sollten. Als Vorbild galt Edmonds das von zahlreichen Vertreter_innen des agrarischen Südens verachtete New England, über das er folgendes Urteil fällte: „It [New England] is a rare illustration of energy and activity not only in the building of material wealth, but in everything which makes for human progress.“61 Den Zusammenhang zwischen einem hohen regionalen Industrialisierungsgrad und einer virilen Männlichkeit stellten auch andere Zeitgenoss_innen wie der ehemalige Commissioner of Agriculture von Tennessee, J. B. Killebrew, her. So beschrieb Killebrew den Ausbau der Eisenindustrie in den Südstaaten als Resultat einer „unzähmbaren Energie“ und eines „geschäftlichen Scharfsinns“ der Geschäftsmänner des Südens.62 Den enthusiastischen Anhänger_innen der Industrialisierung stand in den Dekaden um die Jahrhundertwende jedoch eine starke Kohorte von Skeptiker_innen und entschiedenen Gegner_innen gegenüber. Von zentraler Bedeutung für deren Haltung waren Vorstellungen, dass die Industrialisierung und Urbanisierung eine Gefahr für den Erhalt der Geschlechterordnung des Südens darstelle.63 Zeitgenoss_innen verstanden den gesellschaftlichen Wandel als Be60 61 62 63
[Unbekannt], „Child Labor Tactics Misleading.“ In: Charlotte News, 8.8.1914, S. 10. Richard H. Edmonds, The Summons of the South. Baltimore: Manufacturers’ Record Publishing Company 1905, S. 11 f., LRWL, SPC. J. B. Killebrew, „Destiny of the South Revealed in Its Resources.“ In: Manufacturers’ Record, 14.12.1899, S. 8–12, hier S. 9 f. John B. Gordon und Charles C. Jones, The Old South: Addresses Delivered before the Confederate Survivors’ Association in Augusta, Georgia, on the Occasion of Its Ninth Annual Reunion, on Memorial Day, April 26th, 1887, by His Excellency, Governor John B. Gordon, and by Col. Charles C. Jones. Augusta: Chronicle Publishing Company 1887, S. 13, 17 f., Dolph Briscoe Center for American History, UT Austin (im Folgenden: DBC), The Littlefield
Industrialisierung
drohung für die Institution Familie. Sie konstruierten einen Gegensatz zwischen der Lohnarbeit, der das männliche Familienoberhaupt nachzugehen hatte, und den patriarchalen Pflichten gegenüber Familie und Heim.64 So wurde die Expansion industrieller Lohnarbeit als Angriff auf die Funktion des Patriarchen, die Familie zu versorgen, kritisiert. Das niedrige Lohnniveau, das es vielen Arbeitern verunmöglichte, ihre Familie aus ihrem Einkommen zu versorgen, wurde somit als Angriff auf deren Männlichkeit verstanden.65 Neben den negativen Effekten auf die Ausübung der Funktion als Familienvorstand schrieben Südstaatler_innen industrieller Lohnarbeit weitere negative Auswirkungen auf die Ausbildung und den Erhalt einer tugendhaften Männlichkeit zu. Sie begriffen die Form der Arbeitsorganisation innerhalb des expandierenden industriellen Sektors als unvereinbar mit der für angloamerikanische Männlichkeit als konstitutiv gesetzten Unabhängigkeit. Robert L. Dabney, einer der führenden Vertreter der presbyterianischen Kirche im Süden, verknüpfte das industrielle System mit dem Abstieg von ehemals freien, über Besitz verfügenden Staatsbürgern zu Tagelöhnern.66 Auf einer 1909 an der Universität von Virginia abgehaltenen Konferenz zu ländlichem Leben wurde industrielle Lohnarbeit scharf dafür kritisiert, dass sie angloamerikanische Männer im besten Falle zum kleinen Rädchen im Getriebe degradiere.67 Andere Kritiker_innen wiederum beschrieben die Fabrikbesitzer als „Könige der Industrie“. Sie diagnostizierten folglich ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Industriellen und der Arbeiterschaft und ordneten damit den Status des Fabrikarbeiters als konträr zu männlicher Freiheit und Mündigkeit an.68
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and Rare Book Pamphlet Collection (im Folgenden: LRPC); Rev. B. M. Palmer, The Present Crisis and Its Issues: An Address Delivered Before the Literary Society of Washington and Lee University. Baltimore: John Murphy & Co. 1872, S. 22–26, LRWL, SPC. Mildred Lewis Rutherford, The Civilization of the South. Athens: The Mc Gregor Co. Printers 1916, S. 42, LRWL, SPC. Men and Religion Forward Movement, Men and Religion Bulletin No. 126: Workingmen Unite, 3.7.1914. The Georgia University of Technology Archives (im Folgenden: GUTA), Fulton Bag and Cotton Mills Record (im Folgenden: FBCMR), Box 4, Folder 12; dies., Men and Religion Bulletin No. 120: Sanity and Safety, 12.6.1914. GUTA, FBCMR, Box 4, Folder 12. R. L. Dabney, The New South. Raleigh: Edwards, Broughton & Co., Stream Printers and Binders 1883, S. 5 f., LRWL, SPC. Bristow Adams, „Rural Life Attractiveness.“ In: Rural Life Conference (Hg.), Conference for the Study of the Problems of Rural Life. Charlottesville: The University of Virginia Press 1909, S. 19–23, hier S. 20, LRWL, SPC. Dabney, New South, S. 6.
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Industrialisierung, Urbanisierung, angloamerikanische Männlichkeit
Ähnlich wie viele Farmer ihre zunehmende Abhängigkeit von Kapitalgebern als Versklavung wahrnahmen, verstanden Zeitgenoss_innen auch die im industriellen Kapitalismus existierenden Abhängigkeiten der Arbeiter_innen als eine neue Form der Sklaverei, die nun auch angloamerikanische Menschen in die Unfreiheit zwinge.69 Der New Orleans Times-Democrat beurteilte die aus der industriellen Lohnarbeit resultierende Unfreiheit der Arbeiter_innen als umfassender als die der afroamerikanischen Sklav_innen im Old South.70 Die Publizistin Myrta Avary Lockett beschrieb Arbeiter_innen in Dixie after the War als „gebeugte, runzelige, weiße Sklaven“ und ordnete sie den „standhaften schwarzen Bauern“ unter.71 In der Gewerkschaftszeitung The Journal of Labor wurden die Lebensverhältnisse von Industriearbeitern durch ihre Armut und ihre vollständige Heteronomie charakterisiert. So schrieb der/die Verfasser_in: „[They] are owned body, soul and boots by the mill owner, and exploited to the utmost from the day of their birth to the silence of the grave.“72 Auf Grund der im vorherigen Kapitel dargelegten Vorstellung, dass angloamerikanische Männlichkeit das Fundament der republikanischen Ordnung bilde, verstanden Zeitgenoss_innen die vermeintliche Versklavung von Lohnarbeitern nicht nur als Aggression gegenüber der Männlichkeit des jeweiligen Mannes, sondern ebenso als eine fundamentale Bedrohung für das politische und gesellschaftliche System des Südens. Die Industrialisierung und die ihr zu69
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Richard Barry, „Slavery in the South To-Day.“ In: Donald P. DeNevi and Doris A. Holmes (Hg.): Racism at the Turn of the Century: Documentary Perspectives 1870–1910. San Rafael: Leswing Press 1973, S. 129–139, hier S. 129 f. [Unbekannt], „The Status of the Negro.“ In: New Orleans Times-Democrat, 20.8.1868, S. 4. Myrta Lockett Avary, Dixie after the War: An Exposition of Social Conditions Existing in the South, during the Twelve Years Succeeding the Fall of Richmond. New York: Doubleday, Page and Company 1906, S. 393. [Unbekannt], „Does Industrial White Slavery Prevail in the South?“ In: The Journal of Labor, 24.7.1914, S. 2. Diese reservierte bzw. ablehnende Haltung gegenüber der Beschäftigung als Lohnarbeiter im industriellen Sektor bestand auch über die Zeit des Leo Frank-Case hinaus. Holland Thompson beschrieb in seinem 1919 erschienenen Werk The New South die sich im Zuge der Industrialisierung ausbreitende Lohnarbeit als problematisch für den Familienpatriarchen und insbesondere für den Erhalt seines Status als Versorger der Familie. Zum einen bedeute industrielle Lohnarbeit für die Arbeiter, in ein ökonomisches Abhängigkeitsverhältnis einzutreten, und zum anderen sei der Übergang von der Farmarbeit zur Fabrikarbeit für viele Familienväter nicht zu bewältigen, sodass sie in die „parasite class“ abstiegen. Anstatt ihre männliche Aufgabe als Ernährer der Familie zu erfüllen, verbrächten sie stattdessen den Tag nutzlos und lebten von dem Geld, das ihre Kinder verdienten (Holland Thompson, The New South: A Chronicle of Social and Industrial Evolution. New Haven et al.: Yale University Press 1919, S. 90, 108 f.).
Industrialisierung
geschriebene Erosion der manly Independence wurden somit als Angriff auf das Fundament des gesellschaftlichen Systems verstanden. Südstaatler_innen verflochten das dem Lohnverhältnis inhärente hierarchisierte Verhältnis zwischen Industriellen und Lohnarbeiter_innen mit Vorstellungen der politischen Entmündigung angloamerikanischer Arbeiter. Da die Existenz des Arbeiters und seiner Familie unmittelbar vom Arbeitgeber abhängig sei, verfüge dieser uneingeschränkt über seine Arbeiter_innenschaft. Dabei beschränke sich die vermeintliche Herrschaft nicht bloß auf die im Tausch gegen den Lohn für einen definierten Zeitraum erkaufte Arbeitskraft, sondern umfasse darüber hinaus weitere Lebensbereiche der Arbeiter. Diese Macht würden Industrielle nutzen, um Einfluss auf politische Entscheidungen der Arbeiter zu nehmen.73 Der industrielle Kapitalismus stellte somit für viele Südstaatler_innen eine sozioökonomische Ordnung dar, die der Natur angloamerikanischer Männer zuwiderlaufe, galten diese doch als prädestiniert für eine demokratische Selbstregierung.74 Neben der vermeintlichen Heteronomie der Arbeiter identifizierten Südstaatler_innen eine zweite mit der sozioökonomischen Transformation des Südens verknüpfte Veränderung angloamerikanischer Männlichkeit, die als Bedrohung für die gesellschaftlichen Verhältnisse gesehen wurde. Da industriellkapitalistische Gesellschaften durch ein absolutes Primat der Ökonomie charakterisiert seien, würden sich angloamerikanische Männer zunehmend auf Gelderwerb und damit auf die Reproduktion ihrer Arbeitskraft beschränken, zögen sich also aus der politischen Sphäre zurück und träten ihre politische Partizipation an Berufspolitiker ab.75 Allerdings produzierten nicht nur die veränderten Beziehungen zwischen Männern unterschiedlicher sozialer Gruppen Krisendiskurse angloamerikanischer Männlichkeit, sondern auch die mit der Expansion industrieller Arbeitsverhältnisse einhergehende Ausweitung weiblicher Lohnarbeit.76 So schildert 73 74 75
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Isaac Erwin Avery, Idle Comments. Charlotte: The Avery Publishing Company 1905, S. 2 f., LRWL, NCC. Robert Bingham, The New South. [o. O.]: [Selbstverlag] [1884?], S. 4; L. C. Brogden, The Hebrew and His Religion. [o. O.]: [Selbstverlag] 1895, S. 3, LRWL, NCC. John Munroe, „Social and Economic Life in Town and Country.“ In: Rural Life Conference (Hg.), Rural Life Conference. Charlottesville: The University of Virginia Press 1912, S. 427–438, hier S. 430 f., LRWL, SPC. Diese in hegemonialen Geschlechterentwürfen begründete Aversion gegen die Beschäftigung von Frauen als Arbeiterinnen konnte in den Südstaaten eine Tradition aufweisen, die bis weit vor den Bürgerkrieg zurückreichte (Victoria E. Bynum, Unruly Women: The Politics
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Industrialisierung, Urbanisierung, angloamerikanische Männlichkeit
Belle Kearney, eine bekannte Suffragette, erste Frau im Senat von Mississippi und Rassistin, in ihrem autobiographischen Werk A Slaveholder’s Daughter die im Süden weit verbreitete Aversion gegenüber weiblicher Erwerbsarbeit mit folgenden Worten: If the thought of working to continue my education had entered my brain, which it did not, it would have been throttled at its inception, for my family would have considered it an eternal disgrace for me to have worked publicly. It is true that for four years I had been in a pitiless treadmill, but it was at home; the world did not know of it; and money, the degrading substance, had not been received for my labor. Household drudgery and public work were very different questions. The former was natural and unavoidable; the latter was monstrous and impossible.77
Während Arbeiten von Frauen im Haushalt als selbstverständlich galten, war das mit Lohnarbeit verbundene Eindringen von Frauen in die öffentliche Sphäre vielen Südstaatler_innen ein Dorn im Auge. Auch führende Vertreter_innen der New-South-Ideologie wie Henry Grady, die mit ihrem Eintreten für die Industrialisierung dem rasanten Anwachsen der Zahl an Arbeiterinnen den Weg bereiteten, positionierten sich ablehnend zu der Frage nach weiblicher Erwerbsarbeit.78 Ursächlich für diese Haltung waren die aus dem Eintritt in ein Lohnverhältnis resultierende Steigerung weiblicher Autonomie und Agency sowie die damit verbundenen Verschiebungen innerhalb des Geschlechterverhältnisses.79 Zeitgenoss_innen sahen in der Erwerbstätigkeit von Frauen eine Unterminierung der Patria Potestas.80 Insbesondere die Funktionen angloamerikanischer Männer als Familienversorger und Beschützer der weiblichen Tugend kollidierte mit der erhöhten
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of Social and Sexual Control in the Old South. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 1992, S. 6 f.). Belle Kearney, A Slaveholder’s Daughter. New York: The Abbey Press Publishers 1900, S. 41. Ayers, New South, S. 21; Marjorie Spruill Wheeler, New Women of the New South: The Leaders of the Woman Suffrage Movement in the Southern States. New York et al.: Oxford University Press 1993, S. 8. Barbara Antoniazzi, „Mothering the Nation, Unmothering the Self: New Women and Maternal Narratives in the Progressive Era.“ In: Isabel Heinemann (Hg.): Inventing the Modern American Family: Family Values and Social Change in 20th Century United States. Frankfurt et al.: Campus Verlag 2012, S. 82–102, S. 98. Im Übrigen verstanden auch viele junge Frauen Fabrikarbeit als degradierend, da sie es als unmoralisch ansahen, Seite an Seite mit jungen Männern zu arbeiten. Die Aversion junger Frauen gegenüber Fabrikarbeit führte mitunter dazu, dass einige Fabriken außerstande waren, die erwünschte Anzahl an jungen Arbeiterinnen zu rekrutieren (siehe u. a. Broadus Mitchell, The Rise of Cotton Mills in the South. Baltimore: The John Hopkins Press 1921, S. 195).
Industrialisierung
Autonomie der Lohnarbeiterinnen.81 Zeitgenössisch drückte sich dieses Unbehagen häufig in der Kopplung weiblicher Lohnarbeit an Diskurse ausschweifenden Verhaltens, sexueller Morallosigkeit und der White Slavery aus. Fabrikarbeiterinnen und Angestellte in Kaufhäusern wurden als moralisch verkommen oder als wehrlose Opfer der Gelüste ihrer Vorgesetzten oder anderer Männer, denen sie an ihrem Arbeitsplatz begegneten, konstruiert.82 Es kursierten Geschichten über junge Frauen, die ihre Familien auf dem Land verließen, allein in die Stadt gingen, um einer Lohnarbeit nachzugehen, und dort auf tragische Art und Weise zugrunde gingen.83 Insbesondere der Beruf der Verkäuferin war stigmatisiert. Aufgrund ihres gepflegten Äußeren und der niedrigen Gehälter, die in der Branche gezahlt wurden, wurde der Beruf von Südstaatler_innen häufig mit Prostitution assoziiert.84 Diese Sichtweise auf weibliche Lohnarbeit manifestierte sich unter anderem in einer Karikatur in The Mascot. Innerhalb von vier Jahren wurde der gleiche Cartoon sowohl zum Thema Arbeitsvermittlung und Erwerbsarbeit von Frauen als auch zum thematischen Komplex der Prostitution und des Menschenhandels auf der Titelseite der Satirezeitschrift abgedruckt.85 Die Karikatur zeigt eine wohlbeleibte Frau hinter einem Pult sitzend, der mit der Aufschrift „Female Intelligence Office“ versehen ist. Um den Tisch haben sich einige Frauen unterschiedlichen Alters versammelt, die zum Teil Geld von der Frau der Labor Agency entgegennehmen. Die Anordnung der Frauen macht deutlich, dass sich ein Handel zwischen der Dame hinter dem Pult und der älteren Frau zu ihrer Linken ereignet. Während die Vertreterin des Female Intelligence Office ihrer Handelspartnerin Geldscheine überreicht, übergibt diese ihr im Tausch dafür eine junge Frau, die verschämt zu Boden schaut. Im Hintergrund sieht man einen Mann, der junge Frauen in Richtung eines Zuges führt. Ein zweiter Mann, der einen Geldbeutel in der Hand hält, steht hinter der Repräsentantin der Labor Agency. Die Dame, die die Verhandlungen mit den übrigen Frauen führt, streckt ihre geöffnete rechte Hand dem im Hintergrund 81 82
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A. T. E., „The Business Woman – Is She Marriageable?“ In: The Keystone, Nr. 7 (Dezember 1899), S. 7 f. Bridget Magee, „Miss Bridget Magee’s Society Notes.“ In: The Mascot, 30.3.1888, S. 4; [unbekannt], „The Devil.“ In: The Mascot, 26.1.1895, S. 1; [unbekannt], „Less than $5 a Week for over 50,000 Women.“ In: Atlanta Constitution, 7.3.1913, S. 1. George Augustin, „Stephanie’s Legacy: A Reminiscence from a Reporter’s Note Book.“ In: Men and Matters, November 1895, S. 71–81, LRWL, SPC; Avery, Comments, S. 110–114. Magee, „Magee’s Society News“, 30.3.1888; Mitchell, Rise of Cotton Mills, S. 194; [unbekannt], „Their Trials“, 17.8.1889, S. 1; [unbekannt], „Cartoon Comment“, 17.8.1889. [Unbekannt], „Sinning for Silk.“ In: The Mascot, 22.11.1890, S. 1; [unbekannt], „Labor Agencies: How Procuresses Get Their Work in.“ In: The Mascot, 15.12.1894, S. 1.
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Industrialisierung, Urbanisierung, angloamerikanische Männlichkeit
Abb. 5: Die Karikatur wurde innerhalb von vier Jahre zweimal in The Mascot abgedruckt. Zunächst am 22. 11. 1890 unter dem Titel „Sinning for Silk“ und erneut am 15. 12. 1894 unter „Labor Agencies“ („Sinning for Silk.“ In: The Mascot, 22. 11. 1890, Louisiana Research Collection, Tulane University).
stehenden Mann entgegen, um von ihm Geld in Empfang zu nehmen. Damit wird dieser als der eigentlich Verantwortliche hinter dem Geschäft identifiziert. Auch der zur Karikatur „Labor Agencies“ abgedruckte Kommentar verknüpfte explizit weibliche Lohnarbeit mit Prostitution und Menschenhandel. Menschen, die Arbeitsstellen an junge Frauen vermittelten, wurden unter Verdacht gestellt, Akteur_innen in Menschenhändlerringen zu sein.86 Allerdings stellten der Cartoon und der dazugehörige Kommentar nicht bloß eine Verbindung zwischen weiblicher Lohnarbeit und Prostitution her, sondern sie trafen ebenso rassifizierte Aussagen über die vermeintlichen Akteure des Menschenhandels. Sie wurden als „land sharks yclept, labor agents“ 86
[Unbekannt], „Labor Agencies: The City Ordinance Regulating Them Should Be Strictly Enforced.“ In: The Mascot, 15.12.1894, S. 2.
Industrialisierung
bezeichnet.87 Damit wurde auf eine Terminologie zurückgegriffen, die auch Populist_innen und verarmte Farmer zur Charakterisierung von ‚Juden‘ verwendeten. Ebenso macht die Physiognomie das Judesein des als ‚Drahtzieher‘ des Handels inszenierten Mannes ersichtlich. Er ist mit großen, langen und spitz zulaufenden Ohren, Hufen, einer großen, gebogenen Nase sowie einem Beutel mit einem großen Dollarzeichen ins Bild gesetzt (siehe Abb. 6). Sowohl die ‚Hakennase‘ als auch die Form der Ohren und die Hufe, die an Darstellungen des Teufels erinnern (siehe Abb. 7), markieren den Mann als ‚Juden‘.88 Abb. 6: Vergrößerter Ausschnitt aus der Abbildung 5.
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Ders/Dies. Wie Naomi Cohen gezeigt hat, wurden Juden vor dem Hintergrund der großen Wirkmacht antijudaistischen Wissens in den USA zeitgenössisch häufig mit der Figuration des Teufels in Verbindung gesetzt (Naomi W. Cohen, „Antisemitism in the Gilded Age: The Jewish View.“ In: Jewish Social Studies, Jg. 41, Nr. 3/4 (1979), S. 187–210, hier S. 190).
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Industrialisierung, Urbanisierung, angloamerikanische Männlichkeit Abb. 7: Vergrößerter Ausschnitt aus der Abbildung 5.
Aber auch in anderer Hinsicht verknüpften Zeitgenoss_innen Lohnarbeit angloamerikanischer Frauen mit rassifizierten Bedrohungswahrnehmungen. Die Fabrik galt ihnen als Ort, an dem es zu sexuellen Kontakten zwischen jungen, angloamerikanischen Frauen und ‚afroamerikanischen‘ Arbeitskollegen kam und damit die Color Line unterlaufen wurde.89
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[Unbekannt], „He’s Black: but That Don’t Matter If He Pleases the Girls.“ In: The Mascot, 19.1.1895, S. 4. Zum Zusammenhang von Sexualität und White Supremacy siehe u. a. Eileen Boris, „‚Arm and Arm‘: Racialized Bodies and Colored Lines.“ In: Journal of American Studies, Jg. 35, Nr. 1 (April 2001), S. 1–20, hier S. 2; Glenda Elizabeth Gilmore, Gender and Jim Crow: Women and the Politics of White Supremacy in North Carolina, 1896–1920. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 1996; Martha Hodes, „The Sexualization of Reconstruction Politics: White Women and Black Men in the South after the Civil War.“ In: Journal of the History of Sexuality, Jg. 3, Nr. 3 ( Januar 1993), S. 403–417, hier S. 403.
Urbane Räume
4.4 Urbane Räume und angloamerikanische Männlichkeit Wie die Industrialisierung brachten auch die damit aufs engste verflochtenen Urbanisierungsprozesse multiple Bedrohungswahrnehmungen hervor. In zeitgenössischen Vorstellungen manifestierten sich die negativen Effekte des Stadtlebens sowohl in den Körpern als auch im Charakter von Menschen. Stadtbewohner galten als einem körperlichen Verfall unterworfen.90 Der Präsident der State Normal School of Georgia und spätere Leiter des Programms für ländliche Ökonomie an der renommierten University of North Carolina in Chapel Hill, Eugene Cunningham Branson, der sich in zahlreichen Schriften affirmativ mit dem Landleben auseinandersetzte, beschrieb Stadtbewohner als zwergenhaft. Die aus dem Leben in einer städtischen Umgebung resultierende Schwächung der Körper verstand Branson als eine reale Gefahr für das Fortbestehen urbanisierter Gesellschaften. Die Körper eines steigenden Anteils der Männer seien derart entkräftet, dass sie nicht mehr zum Militärdienst taugen würden. Die enorme destruktive Wirkung, die Branson Städten zuschrieb, zeigt sich in folgender Einschätzung: „The large town is an abyss, in which the population that pours in from the whole country and from foreign lands oozes and trickles away.“91 Allerdings entwickelte das städtische Leben in zeitgenössischen Vorstellungen nicht auf alle Menschen die gleiche destruktive Wirkung. Vielmehr machten Zeitgenoss_innen Differenzen entlang der Color Line aus. Die Wochenzeitung The Jeffersonian berief sich 1908 auf wissenschaftliche Ergebnisse, die einwandfrei ergeben hätten, dass „dunklere Rassen“ die schlechte Luft der Städte besser vertrügen als „helle“. Dementsprechend interpretierte der Autor die Urbanisierung, die er bezeichnenderweise als die Aufgabe „gesunder Felder für vergiftete Straßen“ verstand, als eine Form des „rassischen Selbstmordes“ und kam zu folgendem Schluss: „The fair type must die out if deprived of fresh air, while the dark suffers comparatively little. It is a striking example of natural selection and the survival of the fittest under an unnatural state of things.“92 Zeitgenoss_innen sahen die vermeintlich natürliche Ordnung und die daraus 90
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E. M. Pendleton, Agriculture as a Pursuit: Being the Introductory Lecture before the Agricultural Class of the State University of Georgia. Atlanta: Plantation Publishing Company’s Press 1873, S. 6, LRWL, SPC. E. C. Branson, „The State Normal School.“ In: Bulletin of the University of Georgia, Jg. 13, Nr. 2, (Oktober 1912), S. 9, LRWL, NCC. [Unbekannt], „Are the Fair Races Dying out? Can Not Survive Urban Live, Says Science.“ In: The Jeffersonian, 4.6.1908, S. 2.
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Industrialisierung, Urbanisierung, angloamerikanische Männlichkeit
resultierende White Supremacy durch die Expansion urbaner Räume vom Untergang bedroht. Allerdings wurden Städte nicht nur als Gefahr für die menschliche Physis dargestellt, sondern in wiederkehrender Regelmäßigkeit auch als Orte des moralischen Zerfalls.93 Faulheit, Trunksucht und andere Laster galten als Charakteristika vieler Stadtbewohner_innen. Das Bild, das sich Zeitgenoss_innen vom städtischen Leben machten, baute auf einer deutlichen Unterscheidung zwischen ‚natürlichem Landleben‘ und ‚künstlichem Stadtleben‘ auf. Die Ausformung des menschlichen Charakters wurde in dieser Sichtweise von der Existenz in einem natürlichen beziehungsweise künstlichen Raum determiniert. In einem Buch über die Whitecaps führte E. W. Crozier diesen Zusammenhang in folgenden Worten aus: The hardy mountaineer, whose life is spent wrestling with the forces of nature and who comes in daily contact with nature’s works, may have ideas, though in a crude state, of more intrinsic value than he who knows only the artificial life of the city and the intrigues and turmoils of an artificial humanity which ‚Never uses God’s name except for gain, And therefore never takes His name in vain,‘ and which finds that philanthropy converted into five per cent bonds is a paying investment. Crime in the country, to a great extent, is the result of unrestrained natural propensities – the animal in man – while crime in the city, in too many cases, is the fruit of minds diseased by pampered living and a false education, which ‚Hamper and entangle our souls and hinder their flight upwards.‘94
In den Augen zeitgenössischer Beobachter_innen waren Morallosigkeit und Verdorbenheit dermaßen mit urbanen Räumen verwoben, dass es den Bewoh93 94
S. M. Byrd, „The Southerner’s Home-Love.“ In: Daily Picayune, 31.1.1908, S. 28. E. W. Crozier, The White-Caps: A History of the Organization in Sevier County. Knoxville: Bean, Warters & Gaut, Printers and Binders 1899, S. 5. Interessant und von großem Aufschluss ist die in der zitierten Passage zum Ausdruck kommende Perspektive auf städtisches Leben auch für das Verständnis der enormen Dynamik, die der Leo Frank-Case gut 15 Jahre später genommen hat. Zwar ist die Textpassage von Crozier nicht als antisemitisch zu bewerten, da sie keinerlei Verbindung zu Juden herstellt und diese in dem gesamten Buch keinerlei Bedeutung einnehmen. Dennoch wird in dem Zitat eine Sichtweise auf urbane Räume ausgedrückt, die in gewisser Weise dem Hass, der dem jüdischen Fabrikbesitzer
Urbane Räume
ner_innen, insbesondere jungen Männern, nahezu unmöglich war, sich den negativen Einflüssen des städtischen Lebens zu entziehen.95 Das machte Städte auch für Frauen, vor allem für junge Frauen, die gerade vom Land kamen, zu einem hochgradig bedrohlichen Ort. Urbane Räume verkehrten angloamerikanische Männer von Beschützern zu einer in allen Winkeln der Stadt lauernden Gefahr, die nach dem höchsten Gut der Frauen trachtete: ihrer Keuschheit und Unschuld.96 Neben dieser von ehrlosen Männern ausgehenden Gefahr für Weiblichkeit wurden Städten auch Potenziale zugeschrieben, die unmittelbar auf die Zerstörung weiblicher Tugendhaftigkeit zielten. Zeitgenoss_innen verflochten die New Woman, die sie als Maskulinisierung von Frauen begriffen, eng mit Städten.97 Dies zeigt sich zum Beispiel an der Karikatur The Women’s Club, die am 25. September 1886 in der in New Orleans publizierten Zeitung The Mascot erschien. Die Karikatur besteht aus zwei Teilen. Die linke Zeichnung zeigt fünf Männer, die sich um den Haushalt, die Essenszubereitung und die Kinder zu kümmern versuchen. Der zerbrochene Schrank im Hintergrund des Bildes sowie das schier heillose Durcheinander, das unter anderem in dem trommelnden kleinen Jungen, den schreienden und weinenden Kindern sowie den verzweifelt
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während der zweijährigen Affäre entgegenschlug, den Weg bereitete. Die Differenzierung zwischen ‚ländlicher Natürlichkeit‘ und ‚städtischer Künstlichkeit‘ sowie die Verknüpfung eines ‚städtischen Subjekttypus‘ mit einem jegliche Menschlichkeit über Bord werfenden Materialismus ähneln auf augenscheinliche Weise den Vorwürfen, die Leo Frank später gemacht wurden. Wie bereits kurz angerissen, wurden ‚Juden‘ von Thomas Watson und seinen Anhänger_innen als urbane ‚Rasse‘ konstruiert und mit Mammonismus assoziiert. Zusätzlich wurde der jüdische Fabrikant als ‚überzivilisiert‘ dargestellt. Diese ‚Überzivilisierung‘ Franks sahen seine zeitgenössischen Widersacher_innen als Wurzel seiner vermeintlichen sexuellen Perversion und somit letztendlich auch als verantwortlich für die Ermordung von Mary Phagan an. Wie sich anhand des Texts von Crozier zeigte, kursierte die Verknüpfung von Urbanität, ‚Überzivilisation‘, ‚Degeneration‘ und spezifischen Verbrechen bereits in den Jahrzehnten vor dem Leo Frank-Case. Diese zuvor häufig nicht antisemitisch motivierte Abneigung gegen die gesellschaftliche Transformation wendete sich im Verlauf der Affäre mit aller Macht und Gewalt gegen den jüdischen Fabrikleiter und schlug in Antisemitismus um. Geo E. Williams, Advice to Young Men: and Nagooghee and Its Surroundings. Charleston: Walker, Evans & Cogswell Co., Printers, 1896, S. 7, Special Collections and University Archives, Vanderbilt University (im Folgenden: SCU), Sam Fleming Southern Civilization Collection (SFC). Avery, Comments, S. 108 f. Ders., S. 93 f.
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Industrialisierung, Urbanisierung, angloamerikanische Männlichkeit
dreinblickenden Männern zum Ausdruck kommt, entwerfen Männer als unfähig zu häuslicher Arbeit.
Abb. 8: „The Women’s Club.“ In: The Mascot, 25. 9. 1886, Louisiana Research Collection, Tulane University.
Die rechte Hälfte der Karikatur steht, wie die Bildunterschriften deutlich machen, in einem logischen Verhältnis zur linken Seite und bietet somit eine Erklärung für die wahrgenommene ‚Effeminierung‘ der Männer. Sie zeigt acht elegant gekleidete Frauen, die sich in einem „Women’s Club“ versammelt haben. Sie unterhalten sich angeregt, rauchen Zigaretten und konsumieren Alkohol. Die Existenz eines Frauen vorbehaltenen Raumes in der zeitgenössisch als männlich codierten öffentlichen Sphäre sowie das Rauchen und Trinken, mithin männliche Praktiken, bringen die Vorstellung einer Inversion von Männlichkeit und Weiblichkeit in der sich ausbreitenden städtischen Lebensweise zum Ausdruck. Wie deutlich geworden ist, standen viele Südstaatler_innen den Urbanisierungsprozessen ablehnend gegenüber und sahen in ihnen eine Bedrohung für
Angloamerikanische Männlichkeit
das Geschlechterverhältnis. Auf der Suche nach den Ursachen für die verachteten gesellschaftlichen Transformationen griffen sie auf jenes Erklärungsmuster zurück, das Catherine McNicol Stock als charakteristisch für den Umgang mit gesellschaftlichem Wandel in den Südstaaten zwischen 1890 und 1915 beschreibt. Jegliche in diesem Zeitraum vonstattengehende Transformation ist laut McNicol unter Rückgriff auf die Kategorien Geschlecht und Race verhandelt worden.98 Von dieser Annahme ausgehend gehe ich im Folgenden der Frage nach, in welcher Form ‚Juden‘ mit den an Industrialisierung und Urbanisierung gekoppelten Bedrohungswahrnehmungen angloamerikanischer Männlichkeit verknüpft wurden.
4.5 Angloamerikanische Männlichkeit und Antisemitismus Viele Südstaatler_innen sahen in ‚Juden‘ eine ‚industrielle‘ und ‚urbane Rasse‘.99 Ihr gesamtes Wesen, physiologisch wie mental, galt als auf ein Leben im städtischen Umfeld ausgerichtet. Die in Louisiana publizierte Zeitung The True Democrat entwarf ‚Juden‘ als Stadtbewohner, die jeglicher körperlichen Arbeit wie auch Freizeitbeschäftigung in der Natur ablehnend gegenüberstünden und stattdessen ihr Einkommen aus geistiger Arbeit bestritten. Diese enge Verbindung zwischen ‚Juden‘ und Stadtleben führte in den Augen des Verfassers dazu, dass ‚Juden‘ fast ausschließlich in Großstädten lebten.100 Eine aus heutiger Sicht besonders absurd anmutende Erklärung für die vermeintliche Affinität von ‚Juden‘ zum Stadtleben lieferte Arthur T. Abernethy in seinem Buch The Jew a Negro?. Den Hintergrund dieses Erklärungsansatzes bildeten Theorien, die eine Kausalität zwischen den physischen und kognitiven Eigenschaften einer ‚Rasse‘ und den in der ‚Herkunftsregion‘ der jeweiligen ‚Rasse‘ vorherrschenden klimatischen Bedingungen herstellten.101 Nach Ansicht Abernethys habe die vermeintliche Herkunft von ‚Juden‘ aus dem Orient dazu geführt, dass sie anfälliger für Kälte gewesen seien als etwa „Arier“. Aus diesem Grund sah er in 98
Catherine McNicol Stock, Rural Radicals: Righteous Rage in the American Grain. Ithaca: Cornell University Press 1996, S. 124 f. 99 Dinnerstein, Leo Frank Case, S. 32; [unbekannt], [kein Titel]. In: The True Democrat, 22.10.1898, S. 6; [unbekannt], „Jews in Poland.“ In: Roanoke Times, 25.11.1891, S. 2. 100 [Unbekannt], „Jews Long-Lived.“ In: The True Democrat, 1.12.1900, S. 4. 101 Zu der Idee, dass das jeweilige Klima einen Einfluss auf die Entwicklung einer ‚Rasse‘ ausübe, siehe u. a. Benjamin Isaac, The Invention of Racism in Classical Antiquity. Princeton et al.: Princeton University Press 2004, S. 79–114.
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Großstädten, wo die Temperaturen einige Grad über denen in ländlichen Regionen lägen, das natürliche Habitat von ‚Juden‘.102 In zeitgenössischen Vorstellungen manifestierte sich die enge Verbindung zwischen ‚Juden‘ und urbanen Räumen in der Materialität ‚jüdischer‘ Körper. ‚Juden‘ wurden in Darstellungen und Beschreibungen häufig als klein, nervös und von schwächlicher Statur beschrieben.103 In Beschreibungen physischer Auseinandersetzungen, in die ‚Juden‘ involviert gewesen sein sollen, wurden sie als schwach und feige inszeniert. Sie wurden von Frauen geschlagen, flüchteten vor ihnen, kratzten und stießen sich wie alte Frauen oder sie bezogen Prügel von Patienten eines Krankenhauses, die, obwohl von einer Krankheit geschwächt, immer noch kräftiger und mutiger agierten als ‚Juden‘.104 Ein weiteres physisches Attribut, mit dem ‚Juden‘ häufig in Karikaturen versehen wurden und das deren Körper als deformiert markierte, stellten O-Beine dar.105 Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Verknüpfung zwischen Stadtleben und körperlichem Verfall bildeten diese Imaginationen entmännlichter ‚jüdischer‘ Körper Materialisierungen der Vorstellung von ‚Juden‘ als Stadtmenschen. Dieses zeitgenössische Verständnis führte, wie die folgenden Abschnitte zeigen werden, dazu, dass ‚Juden‘ mit zahlreichen unterschiedlichen und als negativ bewerteten Aspekten der Urbanisierung sowie der Industrialisierung in Verbindung gesetzt wurden. 102 Arthur T. Abernethy, The Jew a Negro?: Being a Study of the Jewish Ancestry from an Impartial Standpoint. Moravian Falls: Dixie Publishing Company, S. 81. Zur Einbettung dieses Verständnisses in zeitgenössische wissenschaftliche Diskurse siehe: Leonard Rogoff, „Is the Jew White?. The Racial Place of the Southern Jew.“ In: Mark K. Bauman (Hg.), Dixie Diaspora: An Anthology of Southern Jewish History. Tuscaloosa: University of Alabama Press 2006, S. 390–426. 103 Robert W. Chambers, „Cardigan.“ In: The Paducah Sun, 13.1.1905, S. 7; Will N. Harben, „From Clue to Climax.“ In: The Bourbon News, 30.11.1897, S. 3; [unbekannt], „Stories of Seekers.“ In: Atlanta Constitution, 30.8.1896, S. 4; [unbekannt], „Adah Isaacs Menken.“ In: Memphis Daily Appeal, 6.7.1880, S. 2; [unbekannt], „Evening Session.“ In: Memphis Daily Appeal, 17.1.1882, S. 2; [unbekannt], „Why the Cotton Trade Is Disappearing.“ In: The Mascot, 25.5.1889, S. 1; [unbekannt], „Not Wisely, but Too Well.“ In: The Mascot, 30.11.1889, S. 9; [unbekannt], „A Signal Failure.“ In: The Mascot, 15.7.1893, S. 8; [unbekannt], „Mr. Taft’s Decision.“ In: The Ocala Evening Star, 3.3.1909, S. 1; Arthur Henry Vesey, „The Castle of Lies.“ In: The Citizen, 31.10.1907, S. 2; H. G. Wells, „A Deal in Ostriches.“ In: The Bourbon News, 7.7.1897, S. 3; Zeke Yocum, „Harper’s Ferry, Ky, July, 1886.“ In: The Frankfort Roundabout, 17.7.1886, S. 4. 104 Mrs. Mulcahey, „Mrs. Mulcahey’s Contribution.“ In: The Mascot, 4.2.1888, S. 3; [unbekannt], „Thrown Him Down, Levy.“ In: The Mascot, 4.10.1890, S. 8; [unbekannt], „A Very Jealous Jew.“ In: The Mascot, 27.8.1892, S. 8. 105 [unbekannt], „Our Licensed Bunco Steering: Bud Renaud, Levy & Co., Sole Managers.“ In: The Mascot, 16.2.1889, S. 8; [unbekannt], „As in a Looking Glass.“ In: The Mascot, 19.1.1895, S. 1.
Angloamerikanische Männlichkeit
4.5.1 AngloamerikanischeWeiblichkeitundKonstruktionen‚jüdischer‘Sexualität
Für das Verständnis zeitgenössischer rassistischer oder antisemitischer Weltbilder sind Sexualitätskonstruktionen von fundamentaler Bedeutung. Historiographische Arbeiten haben den Zusammenhang zwischen dem gegen Afroamerikaner_innen gerichteten Rassismus und Konstruktionen ‚afroamerikanischer‘ Sexualität betont.106 Um diese Verwobenheit von Sexualität und Rassismus zu fassen, hat Abdul JanMohamed das Konzept der Racialized Sexuality entworfen. Nach JanMohamed besteht eine unauflösliche Beziehung zwischen den Prozessen der Sexualisierung und Rassifizierung: „The process of racialization is always a process of sexualization, and the process of sexualization is also always already – or at least functions as if it were – a process of racialization.“107 Das in rassistischen oder antisemitischen Diskursen konstruierte Subjekt ist also immer auch ein sexualisiertes. Bereits für die letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts lassen sich Vorstellungen von einer ‚jüdischen‘ Sexualität finden. Philosemitische Diskurse entwarfen ‚Juden‘ als Verkörperungen höchster Moral und Fürsorge für die eigene Familie und schrieben ihnen somit eine für Angloamerikaner_innen vorbildliche Sexualität zu.108 In diesem Sinne betonte der ehemalige Gouverneur von North Carolina, Zebulon Baird Vance, in seiner breit rezipierten Rede The Scattered Nation, dass das „jüdische Volk“ allen anderen „Völkern der Welt“ an Sittlichkeit überlegen sei.109 Mark Twain wiederum kam in dem kurz vor der Jahrhundert106 Gail Bederman, Manliness and Civilization: A Cultural History of Gender and Race in the United States, 1880–1917. Chicago et al.: The University of Chicago Press 1995, s. inbes. S. 46–53; Gilmore, Gender and Jim Crow, s. insbes. S. 82–89; Hodes, „Sexualization of Reconstruction“, S. 402–417; Sonya Michel, „The Reconstruction of White Southern Manhood.“ In: Norbert Finzsch und Jürgen Martschukat (Hg.), Different Restorations: Reconstruction and „Wiederaufbau“ in the United States and Germany: 1865 – 1945 – 1989. Providence et al.: Berghahn 1996, S. 140–164. 107 Abdul JanMohamed, „Sexuality on/of the Racial Border: Foucault Wright, and the Articulation of ‚Racialized Sexuality‘.“ In: Donna C. Stanton (Hg.), Discourses of Sexuality: From Aristotle to Aids. Ann Arbor: The University of Michigan Press 1992, S. 94–116, hier S. 112. 108 [Unbekannt], „The Jew in the South.“ In: Richmond Times, 28.1.1891, S. 2; [unbekannt], „Tabernacle Talk.“ In: Atlanta Constitution, 13.1.1895, S. 24; George R. Wendling, „AntiJudaism Unamerican.“ In: Roanoke Times, 16.2.1892, S. 2. 109 Zebulon Baird Vance, The Scattered Nation. New York: 1916, S. 49. Zu der Rede und ihrer weiten Rezeption siehe u. a. Leonard Dinnerstein, Antisemitism in America. New York et al.: Oxford University Press 1994, S. 177 f.; Leonard Rogoff, Down Home: Jewish Life in North Carolina. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 2010, S. 83.
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wende publizierten Essay Concerning the Jews zu folgendem Schluss: „The Jewish home is a home in the truest sense.“110 Andere Zeitgenoss_innen wiederum identifizierten eine deviante, gefährliche ‚jüdische‘ Sexualität, verknüpften sie mit als bedrohlich wahrgenommenen Phänomenen urbanen und industrialisierten Lebens und konstruierten so ‚jüdische‘ Männer als Gefahrenquelle für angloamerikanische Frauen. ‚Jüdische‘ Männer wurden in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts als tugendlos im Umgang mit nicht-jüdischen Frauen beschrieben. The Mascot berichtete am 20. Juli 1889 von einer hübschen, blonden Frau, die aus einer ehrbaren Familie stammte und sich, nach außen den Schein einer respektablen Lebensführung aufrecht haltend, heimlich mit einer „gang av Shanies“ amüsierte.111 Oftmals wurde die vermeintlich von ‚Juden‘ ausgehende Zerstörung weiblicher Reinheit allerdings explizit als ein Akt der Gewalt konstruiert. Dabei bedienten sich ‚Juden‘ in zeitgenössischen Vorstellungen eher der Hinterlist, der Täuschung und der Erpressung als des Einsatzes roher physischer Gewalt. Sie galten als listige Verführer, als grausame Menschenhändler und Zuhälter, als unmoralische Lüstlinge oder aber als verderbende Chefs und Vorgesetzte. Als Quelle der sexuellen Devianz identifizierten Zeitgenoss_innen ein starkes Begehren nach nicht-jüdischen Frauen, das ‚jüdische‘ Männer vollends zu beherrschen schien. In diesem Sinn beschrieb The Mascot das Verhaltensmuster eines ‚jüdischen‘ Angestellten in New Orleans wie folgt: Sobald eine Frau den Laden passiere, laufe er wie vom Blitz getroffen zur Tür des Geschäfts, blase dort in eine Pfeife, um die Aufmerksamkeit der Vorbeikommenden auf sich zu ziehen und präsentiere sodann seine „Hakennase“, sein schwarzes, krauses Haar und seinen „wassermelonenförmigen Mund“, die in dem Artikel höhnisch als „süße“ physische Attribute ‚jüdischer‘ Männer verspottet werden.112 Diese Unfähigkeit zur Selbstdisziplinierung und Kontrolle ihrer sexuellen Begierden markierte ‚jüdische‘ Männer zum einen im Vergleich zu Angloamerikanern als defizitär, zum anderen als Bedrohung für angloamerikanische Frauen. Zudem wurde die Sexualität ‚jüdischer‘ Männer auch durch die Frauen, auf die sich ihr sexuelles Begehren angeblich richtete, als ‚anders‘ beziehungsweise als deviant entworfen. So wurden ‚jüdischen‘ Männern Affären mit deutlich 110 Mark Twain, Concerning the Jews. New York et al.: Harper & Brothers Publishers 1934, S. 4 f.; [unbekannt], „Mark Twain on the Jews.“ In: The Meridional, 30.9.1889, S. 4. 111 Bridget Magee, „Miss Bridget Magee’s Society Notes.“ In: The Mascot, 20.7.1889, S. 4. „Sheeny“ ist eine pejorative Bezeichnung für Juden, die in den USA im 19. und 20. Jahrhundert weit verbreitet war. 112 [Unbekannt], „Ain’t this Sheenie Purty?“ In: The Mascot, 25.4.1891, S. 8.
Angloamerikanische Männlichkeit
älteren Frauen nachgesagt.113 Ein Zeitungsjournalist schrieb in einem irischamerikanisch anmutenden Akzent über das sexuelle Begehren von ‚Juden‘ in New Orleans: „The young sheenies of our city was the divil afther all the ould strate walkers, organ chasers and dirty ould prostitutes.“114 Gleichzeitig wurde ihnen aber auch eine Neigung zu sehr jungen Frauen zugeschrieben, deren vermeintliche Naivität sie zur Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse auszunutzen gewusst hätten.115 In den Augen von Zeitgenoss_innen war die ‚jüdische List‘ also nicht nur eine Technik, um die Gier nach Geld, sondern auch um ihr Begehren nach nicht-jüdischen Frauen zu stillen. Die vermeintliche Verstrickung in Prostitution und Menschenhandel bildete eine weitere Facette der Tugendlosigkeit, die ‚jüdischen‘ Männern im Umgang mit nicht-jüdischen Frauen zugeschrieben wurde. Sie galten zum einen als Freier junger angloamerikanischer Frauen, zum anderen als bedeutende Akteure und Hintermänner des Frauenhandels.116 Bereits in den 1870er Jahren stellten Südstaatler_innen Verknüpfungen zwischen ‚Juden‘ und Zwangsprostitution her. Die Charleston Daily News berichtete am 25. September 1872 von einem Ehepaar namens Behrendsohn, das in Parma tief in das Geschäft der Zwangsprostitution verwickelt gewesen sein soll und das im Verlauf des Artikels wiederholt als ‚jüdisch‘ benannt wurde. Als Inhaber eines großen Hutgeschäfts habe Jacob Behrendsohn eine Vielzahl junger Frauen beschäftigt. Seine aus dieser Position resultierende Macht und Autorität habe er dazu genutzt, die Attraktivsten von ihnen über einen aus reichen ‚Juden‘ bestehenden Menschenhändlerring in die Prostitution zu zwingen und gar an „Afrikaner“ zu verkaufen.117 Die Vorstellung, dass ‚Juden‘ als zentrale Hintermänner der White Slavery agierten, lebte, wie bereits dargelegt, auch in den 1890er Jahren fort.118 Der Artikel in der Charleston Daily News inszenierte ‚Juden‘ jedoch nicht nur als Menschenhändler. Vielmehr machte er sie durch den Verkauf angloamerikanischer Frauen an „Afrikaner“ auch zu einer akuten Gefahr für den Erhalt der White Supremacy. Diese Vorstellung manifestierte sich auch in dem ‚Juden‘ 113 Mrs. Mulcahey, „Mrs. Mulcahey’s Contribution.“ In: The Mascot, 27.10.1888, S. 3. 114 Dies., „Mrs. Mulcahey’s Contribution.“ In: The Mascot, 25.8.1888, S. 3. 115 Bridget Magee, „Miss Bridget Magee’s Society Notes.“ In: The Mascot, 21.10.1893, S. 4; [unbekannt], „A Vile Scoundrel.“ In: The Mascot, 23.8.1890, S. 5. 116 Magee, „Magee’s Society Notes“, 21.10.1893; [unbekannt], „A Signal Failure.“ In: The Mascot, 15.7.1893, S. 8; [unbekannt], „Spiders and Flies.“ In: The Mascot, 24.11.1894, S. 2. 117 [Unbekannt], „Diabolism in Italy.“ In: Charleston Daily News, 25.9.1872, S. 3. 118 [Unbekannt], „Sinning“, 22.11.1890.
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zugeschriebenen sexuellen Begehren. Wiederholt wurde über Beziehungen von ‚jüdischen‘ Männern zu afroamerikanischen Frauen berichtet.119 In diesem Sinne schrieb The Mascot am 10. September 1892 in einem Artikel: In New Orleans, upon the way called Canal and not far from the mighty river, there was a Jew named Emile, who dealt in merchandise. Now Emile loved strange women and above all one named Victoria, who came out Iberia, and was dark-skinned. So much of that many said she was of negro blood, but she claimed to be of the Spanish, as do many others of color.120
In einem fingierten Leserinbrief, der in The Mascot publiziert wurde und in dem allgemein die verlotterten Zustände in New Orleans beklagt wurden, wurden ‚jüdische‘ Männer gewarnt, ihren Umgang mit „Quadroons“ fortzusetzen.121 Neben rein sexuellen Beziehungen wurde ‚jüdischen‘ Männern auch nachgesagt, in eheähnlichen Beziehungen mit Afroamerikanerinnen zu leben.122 Die Figur des ‚jüdischen‘ Vorgesetzten oder Arbeitgebers, der über die bei ihm angestellten angloamerikanischen Lohnarbeiterinnen verfügen konnte, bildete eine weitere Facette der gegen Ende des 19. Jahrhunderts zirkulierenden Vorstellungen von ‚jüdischer‘ Sexualität. Eingebettet in einen breiteren Diskurs zu weiblicher Lohnarbeit erregte das Verhältnis zwischen jüdischen Vorgesetzten/Arbeitgebern und Lohnarbeiterinnen die Aufmerksamkeit von Südstaatler_innen. Nur wenige Tage vor dem Weihnachtsfest veröffentlichte die Atlanta Constitution 1903 einen Artikel über die herrschenden Arbeitsbedingungen in den Fulton Bag and Cotton Mills, eine Fabrik, die sich im Besitz des Juden Jacob Elsas befand. Die Arbeitsbedingungen wurden als vorbildlich gepriesen und der dortigen Arbeit positive Effekte auf die Persönlichkeitsentwicklung und die Ausbildung der Geschlechteridentität der Beschäftigten, darunter auch zahlreiche Kinder, zugeschrieben. Die dort beschäftigten Mädchen trügen „hübsche Schleifen und Rüschen“, während die Jungen wie für ihr Alter üblich durch die Gegend toben würden. Zusätzlich berichtete der/die Verfasser_in von der Fürsorge, die sich zwischen den Arbeiter_innen ausgebildet habe. Dabei schloss der/die Autor_in auch die jüdischen Manager und 119 120 121 122
Mulcahey, „Contribution“, 25.8.1888. [Unbekannt], „Sheeney Emile’s Pants.“ In: The Mascot, 10.9.1892, S. 6. Mulcahey, „Contribution“, 4.2.1888. [Unbekannt], „Signal Failure“, 15.7.1893.
Angloamerikanische Männlichkeit
Besitzer, die er/sie als „hebräische Ehrenmänner“ bezeichnete, in das die Fabrik durchziehende System der sozialen Fürsorge ein. Er/sie schilderte den Fall einer verzweifelten Witwe eines Bürgerkriegsveteranen, die, um ihre kleine Tochter zu versorgen, händeringend nach einer Arbeitsstelle suchte. Obwohl kein Bedarf nach zusätzlicher Arbeitskraft bestanden habe, habe Jacob Elsas ihr aus Mitgefühl eine Stelle angeboten, bei der sie gleichzeitig ihre kleine Tochter betreuen konnte. Jacob Elsas wurde in dem Artikel also als ein Industrieller entworfen, der sich ganz im Sinne der zeitgenössisch hegemonialen Männlichkeitsvorstellung paternalistisch um das Wohlergehen der bei ihm beschäftigten Arbeiterinnen sorgte.123 Andere Zeitgenoss_innen sahen jedoch in ‚jüdischen‘ Arbeitgebern vielmehr eine Quelle der Gefahr für angloamerikanische Weiblichkeit.124 1888 monierte eine Südstaatlerin, dass der Arbeitsalltag der Arbeiterinnen in von ‚Juden‘ geleiteten Fabriken wegen des starken ‚jüdischen‘ Begehrens nach nicht-jüdischen Frauen einem Leben in der Hölle gleichkomme.125 Im gleichen Jahr widmete sich The Mascot den vermeintlichen Arbeitsbedingungen angloamerikanischer Verkäuferinnen, die in einem von ‚Juden‘ geleiteten Kaufhaus angestellt waren. In den Augen des Verfassers gingen von den ‚jüdischen‘ Vorgesetzten, die er als „schmutzige, verachtenswerte Shylocks“ titulierte, permanente Angriffe auf die Tugendhaftigkeit der Arbeiterinnen aus: The poor girls being under his [ihres ‚jüdischen‘ Vorgesetzten, K. K.] orders have to go about in the building wherever he sends them and he, the dirty cur, taking advantage av [sic!] this, sends them up to where the great piles of pants are stored, and once there, he outrageously insults them by his villainous and obscene proposals. If the poor girls threaten to complain av [sic!] him, he in turn threatens to have them discharged; and shure [sic!] the outrage has grown so bad that some av [sic!] the insulted girls complained to Mr. Wolfe, proprietor av [sic!] the factory, but so far they have failed to get any satisfaction.126
Aufschlussreich an dieser Textstelle ist auch das dem Besitzer Mr. Wolfe zugeschriebene Verhalten. Anstatt die Tugendhaftigkeit seiner Arbeiterinnen zu beschützen, ließ er die permanenten Übergriffe des ‚jüdischen‘ Vorgesetzten auf die Frauen ungehindert geschehen. Auf diesem Weg verhielt sich nicht nur der 123 124 125 126
[Unbekannt], „A Countryman in Town.“ In: Atlanta Constitution, 20.12.1903, S. A6. [Unbekannt],„TrialsandTribulations“,17.8.1889;[unbekannt],„LaborAgencies“,15.12.1894. Melnick, Black-Jewish Relations on Trial, S. 58. Mrs. Mulcahey, „Mrs. Mulcahey’s Contribution.“ In: The Mascot, 1.9.1888, S. 3.
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eigentliche Täter als Aggressor gegenüber der Weiblichkeit, sondern auch der tatenlose Besitzer des Kaufhauses hatte seinen Anteil an diesem Akt.
4.5.2 Alkohol, Prohibition und Antisemitismus
Alkoholkonsum wurde in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts in den Südstaaten als ein dramatisches gesellschaftliches Problem wahrgenommen. Während Menschen bereits vor dem Bürgerkrieg für das Verbot jeglichen Alkoholkonsums eintraten, gewann die Prohibitionsbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts deutlich an Aufwind. In den 1880er Jahren konnten in einigen Bundesstaaten auf lokaler Ebene erste Alkoholverbote durchgesetzt werden. Größere Erfolge feierte die Bewegung dann zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Zwischen 1907 und 1909 entschieden sich im Süden insgesamt fünf Bundesstaaten dazu, das Verbot jeglichen Alkoholkonsums einzuführen. Einen wichtigen Akteur stellte dabei die Anti-Saloon League dar.127 Allerdings waren die Erfolge zunächst nur von kurzer Dauer.128 Ab 1910 sprachen sich die Wähler in Florida, Missouri, Texas sowie Arkansas in Referenden gegen die Einführung von Prohibitionsgesetzen aus. 1911 hob Alabama das lediglich vier Jahre zuvor eingeführte Alkoholverbot wieder auf.129 Prohibitionist_innen bekämpften Alkohol nicht bloß als eine die physische Gesundheit beeinträchtigende Substanz. Vielmehr identifizierten sie den Konsum alkoholischer Getränke als die Wurzel einer Vielzahl sozialer Probleme. Die angestrebte Verbannung alkoholischer Getränke wurde folglich als Lösung unterschiedlicher gesellschaftlicher Missstände propagiert. In ihrem Feldzug gegen den „Erzengel des Todes“ verbanden Prohibitionist_innen Alkohol mit vermeintlich in urbanen Gebieten vorherrschenden Problemen.130 127 Zur Rolle und Bedeutung der Anti-Saloon League für die Prohibitionsbewegung siehe Thomas Welskopp, Amerikas große Ernüchterung: Eine Kulturgeschichte der Prohibition. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, S. 20–32. 128 Ders., S. 21. 129 Robert A. Hohner, „Prohibition.“ In: David C. Roller und Robert W. Twyman (Hg.), The Encyclopedia of Southern History. Baton Rouge et al.: Louisiana State University Press 1979, S. 1009; Hertzberg, Strangers, S. 160. 130 Millard A. Jenkins, The Archangel of Death: Delivered in the Chapel of Mercer University, Macon Georgia, while Pastor of the Tattnall Square Baptist Church, during the Memorable Prohibition Campaign of Bibb County in 1898. Macon: The J. W. Burke Company 1901, S. 13; E. O. Flower, „Are We a Prosperous People.“ In: Southern Mercury, 19.1.1893, S. 1–3, hier S. 2.
Angloamerikanische Männlichkeit
Gemäß Richmond P. Hobson, der von 1907 bis 1915 als Abgeordneter der Demokratischen Partei den Bundesstaat Alabama im US-Repräsentantenhaus vertrat, hatte die Verstädterung zu einem dramatischen Anstieg des Alkoholkonsums und damit zur „Degeneration“ der dortigen Bevölkerung geführt.131 Im Prohibitionsdiskurs wurden der städtische Raum, Alkoholkonsum sowie die daraus resultierenden Charakterdeformierungen dermaßen eng miteinander verflochten, dass ein Mensch, der sich dauerhaft in städtischen Gebieten niederließ, als beinahe zwangsläufig dem Untergang entgegengehend wahrgenommen wurde. Städte wurden als ‚Infektionsherde‘ verstanden. Es bedurfte einer enormen Tugendhaftigkeit und Widerstandskraft, um sich den Einflüssen von Städten zu entziehen. All diejenigen jungen Männer, die diesen Widerstandsgeist nicht aufbringen konnten, wurden in dieser Sichtweise zunächst von ihrer verdorbenen Umgebung infiziert und gerieten dann selbst zu Quellen der ‚Ansteckung‘.132 Jedoch stellte die Stadt nicht die einzige Größe dar, der die Befürworter_innen der Prohibition besondere Aufmerksamkeit schenkten. Auch die Kategorie Geschlecht nahm innerhalb der Prohibitionsdiskurse eine große Bedeutung ein. Das Trinken von Alkohol wurde in erster Linie als ein Problem von Männern beziehungsweise von Männlichkeit verstanden. Darüber vermittelt ging vom Alkoholkonsum allerdings auch eine Bedrohung für das Geschlechterverhältnis und die ganze Nation aus.133 Der ehemalige Präsident des renommierten Emory College in Atlanta und Bischof der Methodist Episcopal Church im Süden, Atticus G. Haygood, fasste die Kausalität zwischen einem trinkenden Familienvater
131 Richmond P. Hobson, The Great Destroyer: Speech of Hon. Richmond P. Hobson of Alabama in the House of Representatives, February 2, 1911. Washington: Government Printing Office 1911, S. 9–15, LRWL, SPC. 132 Williams, Advice to Young Men, S. 7. 133 Anti-Saloon League of Charlotte, N. C., It Helps Business and Is a Blessing: What Leading Business Men, Bankers, Farmers, Laborers and Others Say about Prohibition in Charlotte, N. C.. Charlotte: [Selbstverlag] [1908?], S. 23, LRWL, NCC; Atticus G. Haygood, Close the Saloons: A Plea for Prohibition. Macon: J. W. Burke & Company 1880, S. 6, LRWL, SPC; ders., Save Our Homes: A Prohibition Sermon. Macon: J. W. Burke, Printers and Binders 1884, S. 14, LRWL, SPC; Richmond P. Hobson, Great Destroyer, S. 1; Jenkins, Archangel of Death, S. 13; Granville Jones, Prohibition and Democracy. North Waco: [Selbstverlag] 1904, S. 1, DBC, LRPC; Clarence Hamilton Poe, The Case of Prohibition in North Carolina. Raleigh: Mutual Pub. Co. 1908, S. 12 f.; [unbekannt], Prohibition or Saloons and Distilleries: which? [Cumberland County?]: [Selbstverlag] [1902?], S. 11 f., LRWL, NCC; [unbekannt], „Strong Sermon on Temperance by Dr. Lofton.“ In: The Nashville Tennessean, 15.6.1908, S. 1.
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und dem zwangsläufigen Fall der Familie ins Elend bereits 1884 in einem Pamphlet mit dem bezeichnenden Titel Save Our Homes:134 Put husbands and wives, fathers and mothers and children on the stand; what will they say to us? There is nothing in the home that does not protest against the liquor business. Wife-hood, mother-hood, father-hood, child-hood, all cry to heaven against it. Some of you are dying of broken hearts to-day for loved ones slain by this pestilence. … We have seen such women – pale, sad-eyed, their hungry children pulling at their tattered garments and crying for bread. Nay more; we have seen them bruised and bloody – trampled under a drunken husband’s heel. O pitiful God! Help these women who are helpless, and shield these little ones, laughing in the sweet sunlight of to-day.135
Die zentrale Funktion, die dem Familienpatriarchen für den Erhalt und die Prosperität der Familie zugeschrieben wurde, und die damit einhergehende Abhängigkeit der Familienmitglieder vom Funktionieren des Mannes als Breadwinner ließen dessen Scheitern als Niedergang der Familie und, damit verwoben, der ganzen Nation erscheinen.136 Prohibitionist_innen zielten also weniger darauf ab, das Wohlbefinden des einzelnen Alkohol trinkenden männlichen Individuums wiederherzustellen. Vielmehr wollten sie dessen Fähigkeit rekonstituieren, den angloamerikanischen Männern attribuierten gesellschaftlichen Funktionen nachzukommen. John E. White, ein baptistischer Pastor aus Atlanta, brachte diese Stoßrichtung mit folgenden Worten zum Ausdruck: It [die Prohibitionsbewegung, K. K.] is not an effort to make men good by law. Of course it purposes to create conditions which will assist men to be sober who want to be sober and will make it difficult for men to get drunk who want to get drunk. But a study of the controlling motive of public sentiment will reveal that its spirit is mainly what may be characterized as the higher social selfishness. The drunkard and the drunkard’s interests are not the chief con-
134 Zum Leben von Atticus G. Haygood siehe: Frederick V. Mills, „Atticus G. Haygood (1839–1896).“ In: New Georgia Encyclopedia, URL: www.georgiaencylopedia.org/articles/arts-culture/atticus-g-haygood-1839-1896, letzter Zugriff am 25.8.2014. 135 Haygood, Save Our Homes, S. 19 f. 136 Avery, Comments, S. 101 f.; Elder Lee Hanks, Conflicts of a Poor Sinner: Church Identity – Doctrine and Practice of the Apostolic Church. Martin: Cayces & Turner, Printers, 1906, S. 127, LRWL, SPC; Haygood, Save Our Homes, S. 13; Edward L. Ogilby, A Clear Statement for Thinking Men: An Address Delivered in Charlotte, N. C.. [o. O.]: [Selbstverlag] [1908?], S. 2 f., LRWL, NCC; [unbekannt], „Woman’s Woe and Man’s Wicked Work.“ In: The Mascot, 29.6.1889, S. 1 f.
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sideration, though these things are not lost sight of. It is the drinker as a husband, a father, a voter, a worker, a citizen – the man as a social factor, who is being considered.137
Während sich also die Prohibitionsbewegung auf einem Feldzug zur Rettung angloamerikanischer Männlichkeit und der daran gekoppelten gesellschaftlichen Ordnung wähnte, stieß ihr Unterfangen in der Gesellschaft der USA auf breiten und vehementen Widerstand. Es entspannten sich hitzige Debatten und Auseinandersetzungen. Um die ihnen entgegenschlagende Gegenwehr zu verstehen, griffen Prohibitionist_innen zunehmend auf verschwörungstheoretische Erklärungsansätze zurück. Um die Jahrhundertwende war laut der Historikerin Marni Davis die Weltsicht von Prohibitionist_innen, analog zu populistischen Sichtweisen, von der Idee einer vom „Liquor Trust“ ausgehenden Konspiration gegen die republikanische Ordnung durchzogen.138 Während auf einer Mikroebene der Alkoholkonsument in Abhängigkeit vom Saloonbesitzer stehe und dieser ihm die Wahlentscheidung diktiere, befände sich auf einer Makroebene die Politik unter der Kontrolle des Liquor Business.139 Politikern, die sich der Einführung eines strikten Alkoholverbots widersetzten, wurde eine „sklavische Unterwürfigkeit gegenüber der Liquor Power“ vorgeworfen.140 137 John E. White, „Prohibition: The New Task and Opportunity of the South.“ In: The South Atlantic Quarterly, Jg. 7, Nr. 2 (April 1908), S. 130–142, hier S. 134. 138 Marni Davis, „The ‚Jew Saloon‘ and the American City.“ Vortrag auf der Jahreskonferenz der American Jewish Society, Dezember 2010. Siehe u. a. auch Richmond P. Hobson, The Truth about Alcohol: Speech of Hon. Richmond P. Hobson of Alabama in the House of Representatives, 22.12.1914. Washington: [Selbstverlag] 1914, S. 22, LRWL, SPC. Allerdings stellte die Wahrnehmung einer Konspiration gegen die US-Bevölkerung keine Erfindung der Jahrhundertwende dar. Bereits Ende der 1860er Jahre kursierten im Umfeld der Prohibition Party Karikaturen, die die Gesellschaft als von einem den Saloon symbolisierenden Kraken beherrscht entwarfen (Welskopp, Amerikas große Ernüchterung, S. 34). Zum Antisemitismus in der Prohibitionsbewegung siehe: Marni Davis, Jews and Booze: Becoming American in the Age of Prohibition. New York et al.: New York University Press 2012, S. 104–135. 139 Charles Brantley Aycock, Aycock on Prohibition: Extracts from the Speech of Ex-Gov. Charles Aycock at Fayetteville, March 29, 1908. [o. O.]: [Selbstverlag] [1908?], S. 3, LRWL, NCC; Haygood, Plea for Prohibition, S. 13; ders., Save Our Homes, S. 9–11; Hobson, Great Destroyer, S. 8 f.; ders., Truth about Alcohol, S. 15; [unbekannt], Prohibition or Saloons, S. 9; [unbekannt], „Liquor Traffic Strongly Denounced.“ In: Nashville Tennessean, 19.6.1908, S. 2; H. Wellington, „Nursery Rhymes Revised, No. 8.“ In: Nashville Tennessean, 2.6.1908, S. 1; ders., „Song Hits Revised, No. 5.“ In: Nashville Tennessean, 7.6.1908, S. 1; ders., „Song Hits Revised, No. 7.“ In: Nashville Tennessean, 10.7.1908, S. 1. 140 [Unbekannt], „Shall Liquor Rule?“ In: Nashville Tennessean, 19.6.1908, S. 4.
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Wie Marni Davis gezeigt hat, kam der Kategorie Race innerhalb des Prohibitionsdiskurses im Süden eine größere Bedeutung zu als im Norden.141 Zeitgenoss_innen stellten einen Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum, einer vermeintlichen Krise angloamerikanischer Männlichkeit und dem Niedergang der White Supremacy her.142 Mitunter verknüpften sie dabei die verschiedenen an Alkoholkonsum gekoppelten Bedrohungswahrnehmungen auch mit ‚Juden‘. Während ‚Juden‘ im 19. Jahrhundert von Prohibitionist_innen wegen ihres angeblich moderaten Konsums als vorbildlich im Umgang mit Alkohol dargestellt wurden, wurden sie gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend als skrupellose, unmoralische und geldgierige Alkoholhändler verstanden.143 Ein weit verbreitetes Topos judenfeindlicher Narrative reproduzierend, warfen Prohibitionist_innen ‚Juden‘ vor, sich zur Durchsetzung ihrer Interessen einer Verschwörung bedient zu haben. So hieß es im Watauga Democrat: Are our Legislatures run by whiskey lobbies? It looks a little like it since our present Legislature pigeon-holed petitions by the whole-scale. Those petitions came from good, sober industrious people of the State. They want protection against those whiskey-shops, shy-locks [sic!] and blood-suckers but they can’t get it now. Are there not 400.000 Christians in the old North State? Are they asleep?144
Diese der „Whiskey Lobby“ und den ihr zugerechneten ‚Juden‘ zugeschriebene Verschwörung bedeutete die politische Entmachtung der angloamerikanischen Bevölkerung und unterwarf sie dem Willen der Shylocks. Auch in anderer Hinsicht verknüpften Südstaatler_innen die Alkoholindustrie und damit auch die ihr zugerechneten ‚Juden‘ mit dem vermeintlichen Niedergang der White Supremacy. Alkohol wurde die Wirkung zugeschrieben, die ‚afroamerikanischen‘ Männern nachgesagte Lust nach angloamerikanischen Frauen zu befeuern und somit die vom Black Beast Rapist ausgehenden Gefahren zu vergrößern.145 Als vermeintliche Akteure des Alkoholgeschäfts wurden ‚Juden‘ für diese gesteigerte Bedrohungssituation mit in Haftung genommen und 141 Davis, Jews and Booze S. 98. 142 Hobson, Great Destroyer, S. 17. 143 Davis, Jews and Booze, S. 120; [unbekannt], „How the Jews Vote.“ In: Jewish Sentiment and Echo, 21.6.1901, S. 4. Siehe auch [unbekannt], [kein Titel]. In: Memphis Daily Appeal, 10.8.1871, S. 4; [unbekannt], „Jews Long-Lived“, 1.12.1900. 144 Jehu, [kein Titel]. In: Watauga Democrat, 13.3.1889, S. 1. 145 Joe L. Coker, Liquor in the Land of the Lost Cause: Southern White Evangelicals and the Prohibition Movement. Lexington: The University Press of Kentucky 2007, S. 158.
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für angebliche sexuelle Übergriffe (mit-)verantwortlich gemacht.146 Ihnen wurde somit zumindest eine Mitverantwortung für den vermeintlichen Kontrollverlust über afroamerikanische Menschen zugeschriebenbezichtigt. Auf diesem Weg wurden sie zu einem Hindernis für das Bemühen, die White Supremacy wiederherzustellen bzw. zu erhalten. Diese Entwicklung wurde unter anderem durch den Atlanta Race Riot und die sich ihm anschließenden Debatten vorangetrieben.147 In zeitgenössischen Analysen wurden ‚Juden‘ als Alkoholhändler, Saloonbetreiber und konsequente 146 Davis, „The ‚Jew Saloon‘“, Dezember 2010. 147 Zwischen dem 22. und dem 24. September 1906 kam es in Atlanta zu schweren rassistischen Ausschreitungen, die sich gegen ‚Afroamerikaner‘ richteten. Dutzende Afroamerikaner_innen wurden während dieser rassistischen Raserei ermordet. Als Auslöser dieses Pogroms wirkten Gerüchte über vermeintliche sexuelle Übergriffe ‚afroamerikanischer’ Männer auf angloamerikanische Frauen. Nach den rassistischen Ausschreitungen wurde Alkoholkonsum, insbesondere der von ‚Afroamerikanern’, häufig in zeitgenössische Analysen integriert. Das Trinken von Alkohol sowie die zur Kultur des Alkoholkonsums gehörigen Räume wie Saloons, Dives oder Dens wurden als die gesellschaftliche Ordnung gefährdend begriffen (siehe u. a. Alfred Holt Stone, „The Responsibility of the Southern White Man to the Negro.“ In: [unbekannt] (Hg.): Lectures and Addresses on the Negro in the South. Charlottesville: The Michie Company, Printers 1915, S. 15–18, hier S. 16, LRWL, SPC). Dem Genuss alkoholischer Getränke wurde eine tiefgreifende Wirkung auf die ‚afroamerikanische‘ Subjektivität zugeschrieben. Alkohol zerstöre das bisschen Kultur und Zivilisiertheit, das zeitgenössische Angloamerikaner_innen meinten, ‚Afroamerikanern‘ durch Sklaverei und White Supremacy vermittelt zu haben, entfessele die animalischen Tendenzen und Triebe der ‚Afroamerikaner‘ wieder vollkommen von ihrer Zivilisierung und werfe sie somit in die absolute Wildheit zurück (White, „Prohibition“, April 1908, S. 136). Die Vorstellung einer durch Alkoholkonsum vollends enthemmten ‚afroamerikanischen‘ Sexualität zeigte sich deutlich in den zeitgenössischen Analysen (siehe u. a. Thomas Gibson, „The Anti-Negro Riot in Atlanta.“ In: Harper’s Weekly, 13.10.1906, S. 1457–1459, hier S. 1457; [unbekannt], „Drive Out the Dives.“ In: The Atlanta Constitution, 31.8.1906, S. 6; [unbekannt], „Girls Appeal to Police for Better Protection.“ In: Atlanta Georgian and News, 2.4.1907, S. 3). Insbesondere eine Gegend wurde wiederholt als Brutstätte der zum Atlanta Race Riot führenden gesellschaftlichen Missstände benannt: die Decatur Street. Die an die Decatur Street gekoppelte Bedrohungswahrnehmung rückte jedoch nicht nur African Americans in den Blickwinkel, sondern auch andere Menschen, die in das Alltagsleben und die Ökonomie der Amüsiermeile integriert waren. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden ‚Juden‘ mit den Ereignissen und dem Leben auf der Decatur Street verknüpft (Robert E. Adamson, „Character in Police Court.“ In: The Atlanta Constitution, 20.8.1893, S. 5; Henry Grady, „The Pathos and the Humor of a Pawnshop.“ In: The Atlanta Constitution, 8.1.1899, S. 9; Alan Rogers, „True Stories of Atlanta: Decatur Street’s Ghetto.“ In: The Atlanta Constitution, 22.1.1906, S. 4; [unbekannt], „Under Bridget Lights.“ In: The Atlanta Constitution, 5.8.1895, S. 7; [unbekannt], „Was Held Up Twice.“ In: The Atlanta Constitution, 15.11.1902, S. 2).
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Widersacher der Prohibition konstruiert, die zugunsten ihres alle moralischen Grundsätze torpedierenden Mammonismus die Tugendhaftigkeit angloamerikanischer Frauen sowie die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung opfern würden.148 Ein in Harper’s Weekly abgedruckter Bericht mit dem Titel „The Anti-Negro Riots in Atlanta“ stellte einen Zusammenhang zwischen Alkoholhandel, durch Alkoholkonsum vollends enthemmten ‚Afroamerikanern‘ und ‚Juden‘ her: Thoughtful people say there is one thing to be done about it, and it is being done. The district in Atlanta, previously mentioned as the gathering and hatching-place of criminal negroes [sic!], must be cleaned out. … The walls of some dives are covered with pictures which do not admit of even a suggestion of a description. … As to white foreigners [russische Juden und Griechen, K. K.] who cater to Negro [sic!] trade and Negro [sic!] vice in this locality, it is left to the judgement of the reader which is of the higher grade in the social scale, the proprietors or their customers. That this plague-spot is responsible for much crimes is unquestionably the case. The very lowest class of blacks gather there, and their minds are inflamed by cocaine, the miserable stuff called whiskey, bad pictures and gross talk.149
‚Jüdischen‘ Saloonbetreibern wurde in dieser Sichtweise die Mitverantwortung für die von ‚afroamerikanischen‘ Männern angeblich verübten Übergriffe zugeschrieben und mit der rassistischen Figuration des Black Beast Rapist in Zusammenhang gebracht. In Konsequenz dieser Bedrohungswahrnehmungen kam es im Anschluss an den Race Riot zu Schließungen einiger von Juden betriebener Lokale und Saloons.150 Diese sich im Nachspiel des Atlanta Race Riot deutlich artikulierende Verknüpfung ‚jüdischer‘ Alkoholhändler mit der vermeintlichen Kriminalität von ‚Afroamerikanern‘ war auch in den politischen Kämpfen um die Einführung der Prohibition von großer Bedeutung. Das über Tage anhaltende rassistische Pogrom machte das gesetzliche Verbot des Alkoholkonsums zu einer der zentralen politischen und sozialen Fragen. Bereits wenige Tage nach den rassistischen Morden frohlockte ein Befürworter der Prohibition, dass die zurückliegenden 148 Davis, Jews and Booze, S. 134 f.; dies., „The ‚Jew Saloon‘“, S. 10; Hertzberg, Strangers, S. 161 f.; Albert S. Lindemann, The Jew Accused: Three Antisemitic Affairs (Dreyfus, Beilis, Frank). Cambridge: Cambridge University Press 1991, S. 232; Melnick, Black-Jewish Relations, S. 32 f. 149 Gibson, „Anti-Negro Riots“, 13.10.1906, S. 1458. 150 Clive Webb, „Jewish Merchants and Black Customers in the Age of Jim Crow.“ In: Southern Jewish History, Jg. 2 (1999), S. 55–80, hier S. 65.
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Ereignisse einen „Sieg für die Prohibition“ bedeuten würden.151 Nachdem das Repräsentantenhaus von Georgia am 30. Juli 1907 ein Gesetz verabschiedet hatte, das die Herstellung sowie den Verkauf alkoholischer Getränke untersagte, feierten einige Prohibitionist_innen ihren Erfolg als einen Sieg über ‚Juden‘.152 Ein Evangelikaler namens J. N. T. Cawhern verbreitete ein Pamphlet, in dem er ‚Juden‘ als „flat headed, flat nosed, coarse haired, cross eyed, slew footed Russian Jew whiskey venders“ beschrieb. Er warf ihnen vor, die (alkoholische) Vergiftung – eine in der Geschichte des Antijudaismus beziehungsweise des Antisemitismus tief verwurzelte Anschuldigung – sowohl anglo- wie auch afroamerikanischer Südstaatler zu betreiben und auf diesem Weg die christliche Männlichkeit und Zivilisation zu zerstören.153 Die Vorstellung, dass ‚Juden‘ mitverantwortlich für vermeintliche sexuelle Übergriffe ‚afroamerikanischer‘ Männer seien, beschränkte sich in den Jahren nach dem Atlanta Race Riot nicht nur auf Atlanta oder Georgia, sondern fand eine weite Verbreitung im gesamten Süden.154 Exemplarisch zeigt sich dies an der Berichterstattung zu einem Mord an einer jungen, angloamerikanischen Frau. Ein am 16. Juni 1908 im Nashville Tennessean abgedruckter Artikel beschreibt den vermeintlichen sexuellen Angriff auf die damals 14jährige Margaret Lear. Als Täter wurde ein afroamerikanischer Mann namens Coleman identifiziert, der sich vor der Tat mit billigem Gin betrunken haben soll. Der Artikel wird mit zwei Fotos eröffnet, die mit lektürelenkenden Bildunterschriften versehen sind. Das erste zeigt einen Mann im Profil, der mit der Unterschrift „The Gin Maker“ vorgestellt wird. Zusätzlich wird er den Leser_innen mit folgenden Worten präsentiert: „Lee Levy of Lee Levy & Co., makers of vile, obscenely labeled gin, largely sold to negroes.“ Das zweite Bild zeigt einen afroamerikanischen Mann und setzt ihn durch die Bildunterschrift „His Ignorant Prey“ in Relation zu Lee Levy. Konkretisiert wird diese Beziehung durch den die Unterschrift vervollständigenden Zusatz: „A type of the negro laborers, who are the principal buyers of such gin as Levy sells.“ Das hier hergestellte Verhältnis, das die Verantwortung eindeutig auf Seiten des ‚Juden‘ 151 [Unbekannt], „No Hasty Fight on Liquor-Sale: Anti-Saloonists Advise Course of Deliberation.“ In: The Atlanta Constitution, 29.9.1906, S. 5. 152 Cocker, Liquor in the Land, S. 1. 153 J. N. T. Cawhern, State Prohibition Souvenir of Georgia’s Victory. [o. O.]: [Selbstverlag] [o. J.], American Jewish Historical Society, New York (im Folgenden: AJHS), Antisemitic Literature Collection, 1869–1993 (im Folgenden: ALC), Box 33, Folder 330. 154 [Unbekannt], „Liquor Rule“, 19.6.1908, S. 4; [unbekannt], „Dealer in Obscenely Labeled Gin Arrested.“ In: Nashville Tennessean, 19.6.1908, S. 1.
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Levy verortete, wurde in dem Artikel weiter ausgeführt und präzisiert. Der Verfasser identifizierte die Ginproduzenten unter anderem auf Grund obszöner Markennamen und Labels, auf denen nackte angloamerikanische Frauen zu sehen gewesen seien, sowie sexualisierter Werbung als die Verantwortlichen für die angeblichen Übergriffe ihrer ‚afroamerikanischen‘ Kunden. Als Movens der ‚jüdischen‘ Händler machte er allerdings nicht bloß das ihnen zugeschriebene schnöde Streben nach Profit aus. Vielmehr verstand er ihr Handeln als eine bewusste Aufstachelung der ‚Afroamerikaner‘ gegen die Ordnung des Südens: The primitive negro field hand, a web of strong, sudden impulses, good and bad, comes into town or settlement on Saturday afternoon and pays his fifty cents for a pint of Mr. Levy’s gin. He absorbs not only its toxic heat, but absorbs also the suggestion, subtly conveyed, that it contains aphrodisiacs. He sits in the road or in the alley at the height of his debauch, looking at that obscene picture of a white woman on the label, drinking in the invitation which it carries [Kursivierung jeweils durch K. K.]. And then comes – opportunity. There follows the hideous episode of the rope or the stake.155
Die Formulierungen „drinking in the invitation which it carries“ oder an anderer Stelle „the suggestion that he do the nameless crime“ sowie das vermeintliche Beimengen von Aphrodisiaka in den Gin verweisen auf eine Sichtweise, die das Verhalten der Ginproduzenten nicht bloß als Gleichgültigkeit begriff. Vielmehr erschienen die aus dem Ginkonsum resultierenden Übergriffe ‚afroamerikanischer‘ Männer als von ihnen intendiert.156 Während in dem Artikel die Ginproduzenten nicht explizit als ‚Juden‘ benannt wurden, vollzog sich die Rassifizierung über die Namen der als besonders gefährlich identifizierten Menschen im Gingeschäft: Levy is not the only one of his kind although he is probably the worst. Bluthental, Bickart & Company, heavily involved in the South Carolina tangle, make a brand whose name is only a little less obscene than that of Levy’s; only there is no picture of a white woman on their label. They belong to the Model License League. Dreyfuss, Weil & Company, of Paducah, Kentu155 Will Irwin, „Who Killed Margaret Lear?“ In: Nashville Tennessean, 16.6.1908, S. 1. 156 Deutlicher formuliert wird dieser Verdacht in einem anderen Artikel, der in der gleichen Zeitung publiziert wurde. In jenem hieß es über billigen Gin mit vermeintlich sexualisierter Aufmachung und Werbung, dass er mit folgendem Versprechen verkauft werde: „It will bring white virtue into the black brute’s power“ (H. M. Du Bose, „The Model Saloon License League.“ In: Nashville Tennessean, 14.6.1908, S. 4).
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cky, manufacture ‚Devil’s Island Endurance Gin,‘ the only brand whose name I can give here, and the only one which compares with Levy’s for popularity. Dreyfuss, Weil & Company are more restrained and clever in their work.157
Zwei Tage zuvor war in der gleichen Zeitung bereits ein Artikel erschienen, der sich ebenso mit dem Thema der Prohibition auseinandersetzte. Der Verfasser richtete seinen Blick auf das Vorgehen der Model Saloon License League, einer Gruppe, die ein gesetzliches Alkoholverbot zu verhindern suchte. Dabei bezeichnete er Ginproduzenten als „ordinäre europäische Brut“, was vor dem Hintergrund der damaligen Debatten um Immigration eine leicht zu decodierende Terminologie darstellte.158 ‚Jüdische‘ Ginproduzenten wie auch ‚jüdische‘ Saloonbetreiber wurden von Zeitgenoss_innen also mit Wahrnehmungen einer von ‚Afroamerikanern‘ ausgehenden Bedrohung für die gesellschaftliche Ordnung verflochten. Diese Verknüpfung stellte eine Facette der gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreiteten Vorstellung dar, dass ‚Juden‘ die Erosion der sozialen, ökonomischen und kulturellen Verhältnisse betreiben würden. Aspekte der Urbanisierung und der Industrialisierung wie die Ausbreitung von Lohnarbeitsverhältnissen im Allgemeinen und weiblicher Lohnarbeit im Speziellen oder die neuen, durch urbane Räume hervorgebrachten Formen der Interaktionen zwischen unterschiedlichen Subjekttypen wurden als ein Angriff auf den Southern Way of Life verstanden. Die Konstruktion einer bedrohlichen ‚jüdischen‘ Männlichkeit diente Südstaatler_innen bereits in den Dekaden vor dem Leo FrankCase als Strategie, die gesellschaftlich dominante Position angloamerikanischer Männer unter den sich verändernden Bedingungen zu reproduzieren, indem sie auf die Subordination ‚jüdischer’ Männer und auf die Restabilisierung des Geschlechterverhältnisses zielte. Diese verschiedenen, dem thematischen Komplex von Urbanisierung und Industrialisierung zugehörigen diskursiven Stränge entfalteten ihre Wirkmacht während des Leo Frank-Case in unterschiedlicher Intensität. Den unterschiedlichen Aspekten und ihrer Relevanz während der zweijährigen Affäre nachzuspüren, bildet das Vorhaben der abschließenden Unterkapitel. 157 Irwin, „Killed Margaret Lear“, 16.6.1908. 158 Du Bose, „Model Saloon License League“, 14.6.1908; Roger Daniels, Coming to America: A History of Immigration and Ethnicity in American Life. New York: HarperCollins Publisher 1990, S. 223 f.; Barbara Lüthi, Invading Bodies: Medizin and Immigration in den USA 1880–1920. Frankfurt: Campus Verlag 2009, S. 202–205.
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4.6 Weibliche Lohnarbeit, angloamerikanische Männlichkeit, Sexualität und ‚jüdische Kapitalisten‘ im Leo Frank-Case Im Gegensatz zum gemächlichen Tempo, mit dem sich die Urbanisierung und Industrialisierung im Süden generell vollzog, schritten selbige Transformationsprozesse in Atlanta in atemberaubender Geschwindigkeit voran. Es kam zu signifikanten Verschiebungen innerhalb der ökonomischen Struktur Atlantas. War die Ökonomie auf Grund der günstigen geographischen Lage Atlantas und der daraus resultierenden Anknüpfung ans Eisenbahnnetz bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts primär von Handel geprägt, kam es in den anschließenden Dekaden, und insbesondere seit den 1880ern, zum weitreichenden Ausbau der in Atlanta ansässigen Industrien, des Finanzsektors sowie des Tourismus. Die 1881 in Atlanta stattfindende International Cotton Exposition, die erste auf dem Boden der ehemaligen Konföderation ausgerichtete Messe, symbolisierte diesen Wandel zu einer industriell geprägten Wirtschaft Atlantas und verdeutlichte die Vorreiterrolle, die diese Stadt bei der Urbanisierung und Industrialisierung des Südens einnahm.159 Mit der Industrialisierung ging eine Explosion der Bevölkerungszahl einher. Lebten unmittelbar vor Ausbruch des Bürgerkrieges 9.554 Menschen in Atlanta, waren es nur fünfzig Jahre später, im Jahr 1910, 154.839 Menschen. Bis 1920 wuchs die „New South City“ gar auf über 200.000 Einwohner_innen.160 Im Zuge dieses rasanten Wachstums kam es auch zum signifikanten Anstieg der nichtangloamerikanischen Bevölkerung. Während Afroamerikaner_innen im Jahre 1860 lediglich 20 Prozent der Bewohner_innen Atlantas ausmachten, stellten sie 1890 mit 43 Prozent beinahe die Hälfte der Einwohner_innen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch sank ihr Anteil wieder und lag im Jahr 1910 nur noch bei 34 Prozent.161 Auch der jüdische Bevölkerungsanteil wuchs gegen Ende des 19. und in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts deutlich an. Insbesondere aus Russland stammende Jüdinnen und Juden siedelten sich zahlreich in der wachsenden Metropole an. In den 1910er Jahren bildeten sie die größte Gruppe im Ausland geborener Menschen in Atlanta.162 Aus ökonomischen Gründen kamen die neu 159 Hickey, New South City, S. 13. 160 Doyle, New Men, S. 15; Hickey, New South City, S. 9. 161 Clifford Kuhn, Contesting the New South Order: The 1914–1915 Strike at Atlanta’s Fulton Mills. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 2001, S. 34. 162 Hertzberg, Strangers, S. 203.
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eingetroffenen osteuropäischen Juden und Jüdinnen verstärkt mit afroamerikanischen Menschen in Kontakt. Sie betrieben Läden oder Saloons, in denen sie Afroamerikaner_innen empfingen und bedienten. Die daraus resultierenden häufigen Kontakte zwischen Juden und Jüdinnen und African Americans produzierten, wie unter anderem die Debatten im Anschluss an den Atlanta Race Riot gezeigt haben, Misstrauen und Unmut unter vielen Angloamerikaner_innen.163 Die sich in Atlanta massiv vollziehenden Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozesse und die damit einhergehenden neuen Formen der sozialen Beziehungen und Interaktionen zwischen Menschen verschiedener sozialer und ethnischer Gruppen unterschieden diese Stadt von weiten Teilen des Südens. Bereits 1875 monierte deshalb ein Journalist des Louisville Courier-Journal, dass sich die gesellschaftliche Stratifizierung und Hierarchisierung Atlantas auf Grund des rapiden Wachstums und der damit verbundenen sozialen Dynamik in Auflösung befinde.164 40 Jahre später beklagte Thomas Watson während des Leo Frank-Case: „Atlanta is not truly a Southern city: it is cosmopolitan; and if Satan were to locate there, with a million dollars, he’d be the guest of honor at a Chamber of Commerce banquet.“165 Diese kurz umrissenen Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozesse sind für das Verständnis des Leo Frank-Case von enormer Bedeutung. In den vorherigen Dekaden hergestellte Verknüpfungen von ‚Juden‘ mit an Industrialisierung und Urbanisierung gekoppelten Bedrohungswahrnehmungen wurden auf vielfältige Weise in die zeitgenössischen Auseinandersetzungen integriert. In unterschiedlichem Maße strukturierten diese antisemitischen Versatzstücke während der zweijährigen Affäre die Weltwahrnehmungen des Anti-Frank-Lagers. Im Verlauf des Leo Frank-Case wurde auf das in den Jahrzehnten zuvor von Prohibitionist_innen verbreitete Wissen, das ‚Juden‘ als tugendlose Akteure des Alkoholhandels entwarf, zurückgegriffen. Zeitgenoss_innen verwiesen auf die vermeintlich energische Gegnerschaft von ‚Juden‘ gegen das Alkoholverbot und verstanden dies als Ausdruck von deren Tugend- und Morallosigkeit.166 Zusätzlich wurde die zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Wirkmacht gewinnende 163 Dinnerstein, Leo Frank Case, S. 71; Hertzberg, Strangers, S. 161 f.; Webb, „Jewish Merchants and Black Customers“, S. 55–80. 164 Hertzberg, Strangers, S. 203. 165 [Thomas Watson?], „Here Is the Positive Evidence against John M. Slaton.“ In: The Jeffersonian, 9.9.1915, S. 1 f., hier S. 2. 166 Thomas Watson, „A Full Review of the Leo Frank Case.“ In: Watson’s Magazine, Jg. 20, Nr. 3 (März 1915), S. 235–278, hier S. 236; Men and Religion Forward Movement, „Men and Religion Bulletin No. 104: ‚A Proof ‘.“ In: Atlanta Constitution, 7.3.1914, S. 5.
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Vorstellung einer Verschwörung des Liquor Trust vom Anti-Frank-Lager aufgegriffen. The Jeffersonian identifizierte eine „Liquor Dealer’s Association“ als eine von mehreren Kräften, die die Politik, die Wirtschaft und das Justizwesen im Süden dominieren würden: The North can rail itself hoarse, if it chooses to do so; but if the L. & N. Railroad, the Atlanta Chamber of Commerce, the Roman Catholic School-Book Trust, the Liquor Dealer’s Association, and the Paul Warburg Money Trust, doesn’t quit meddling with our business, increasing offices, raising taxes, and getting pardons and commutations for assassins, prisoners, and rapists who have a ‚pull,‘ another Ku Klux Klan may be organized to restore Home Rule.167
Die im Prohibitionsdiskurs vorgenommene Konstruktion von ‚Juden‘ als Triebkräfte der Zerstörung der republikanischen Ordnung wurde also während der zweijährigen Affäre aufgegriffen und mit anderen (antisemitischen) Verschwörungsvorstellungen verwoben. Der Verweis auf den „Paul Warburg Money Trust“ beispielsweise erinnert stark an in populistischen Diskursen generiertes Wissen über ‚Juden‘. Eine größere Wirkmacht als die Verknüpfung von ‚Juden‘ mit der Alkoholindustrie entwickelten während der Affäre jedoch Imaginationen ‚jüdischer‘ Männer als sexuelle Gefahr für angloamerikanische Frauen, die bereits in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts im Kontext der Industrialisierung und Urbanisierung hervorgebracht wurden. Im Zuge der rasanten Industrialisierung Atlantas hatte sich die Zahl der Industriearbeiterinnen zwischen 1900 und 1919 auf über 4.000 verdoppelt.168 Diese Entwicklung stieß innerhalb des Anti-FrankLagers auf scharfe Kritik. Wie viele Südstaatler_innen in den Dekaden zuvor verstanden sie Frauen, die einer entlohnten Tätigkeit außerhalb des eigenen Haushaltes nachgingen, als von ihrem weiblichen Wesen und ihrer eigentlichen Bestimmung, der Mutterschaft, entfremdet.169 Sie entwarfen ein Ideal angloamerikanischer Weiblichkeit, das die Frau auf die häusliche Sphäre reduzierte. In Abgrenzung zu zeitgenössischen Feministinnen und Suffragetten definierten sie die „wirklichen Frauenrechte“ wie folgt: „the right to home, protection, the affection of an honest man, the care of her own children“.170 Die öffentliche 167 [Thomas Watson?], „Mayor Woodward’s Speech in San Francisco: Slaton’s Venomous, Forked Tongue.“ In: The Jeffersonian, 2.9.1915, S. 1+7–9, hier S. 7. 168 MacLean, „Frank Case Reconsidered“, hier S. 922. 169 L. A. L., „The Mother as a Wage-Earner.“ In: The Jeffersonian, 15.10.1915, S. 10. 170 Ders., „The Other Side of Suffrage.“ In: The Jeffersonian, 15.7.1915, S. 10.
Weibliche Lohnarbeit
Sphäre wurde hingegen als verderbend und gefährlich für junge, angloamerikanische Frauen entworfen. Als Ursache für die Diskrepanz zwischen diesem Weiblichkeitsideal und der hohen Anzahl an Arbeiterinnen identifizierten Zeitgenoss_innen die schwierige ökonomische Situation vieler Haushalte von Farmern und Industriearbeitern.171 Auf diesem Weg negierten sie die (partielle) Entscheidungsfreiheit junger Arbeiterinnen, die zum Teil, wie eben auch Mary Phagan, freiwillig in Lohnarbeitsverhältnisse eintraten, um auf diesem Weg ihre Autonomie und Agency zu erhöhen. Da sich die 170 Köpfe starke Belegschaft der Atlanta’s National Pencil Company überwiegend aus jungen Frauen zusammensetzte, entwickelte diese Haltung zu weiblicher Lohnarbeit während des Leo Frank-Case eine große Bedeutung.172 Wie bereits in Kapitel 1.4.1 angesprochen, geriet das Schicksal Mary Phagans in der Lesart des Anti-Frank-Lagers zum Resultat der mit der Industrialisierung verbundenen Umformungen der sozialen Strukturen und Verhältnisse und der ihnen angeblich inhärenten Angriffe auf weibliche Tugendhaftigkeit. Zeitgenoss_innen konstruierten Phagan als eine Ikone der Reinheit, die den in den Fabriken lauernden Gefahren zum Opfer gefallen sei. Wieder und wieder wurde Mary Phagan mit Begriffen der Reinheit und der christlichen Tugend assoziiert. Sie galt als regelmäßige Teilnehmerin der Sonntagsschule, die bei ihren dortigen Besuchen „so frisch und rein wie eine Frühlingsblume“ ausgesehen habe.173 Im gleichen Sinne entwarf Thomas Watson die junge Frau als ein „little innocent Christian girl whose last act on this earth was to iron with her own hands the white dress that she expected to wear, next day, at the Bible School of First Christian Church“.174 Die Konstruktion Phagans als keusch und rein ging so weit, dass Zeitgenoss_innen ihr Tod als Resultat ihres bedingungslosen und heroischen Eintretens für den Erhalt ihrer Jungfräulichkeit erschien.175 Auf diesem Wege wurde Mary Phagan als Modell femininer Tugendhaftigkeit erschaffen, das anderen jungen angloamerikanischen Frauen in Zeiten sich ausweitender 171 [Unbekannt], „The Mary Phagan Side of It.“ In: Columbus Record, 9.6.1915, [keine Seitenangabe], American Jewish Archives (im Folgenden: AJA), Leo M. Frank Papers (im Folgenden: LFP), Box 4, Folder 5. 172 Oney, Dead Shall Rise, S. 16. 173 T. T. G. Linkous, „From the Christian Minister Who Officiated at Mary Phagan’s Funeral.“ In: The Jeffersonian, 29.7.1915, S. 8. 174 [Thomas Watson?], „Gentile Put to Death“, 5.8.1915, S. 2. 175 Mr. und Mrs. J. W. Coleman, „The Mother and the Stepfather of Mary Phagan Write.“ In: The Jeffersonian, 15.7.1915, S. 9.
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Industrialisierung, Urbanisierung, angloamerikanische Männlichkeit
weiblicher Autonomie als Leitbild dienen und sie somit von einem Eintritt in Lohnarbeitsverhältnisse abhalten sollte. Der Modellcharakter Phagans materialisierte sich unter anderem auch in der Errichtung eines Denkmals. Auch in diesem Projekt manifestierte sich die Stoßrichtung des Anti-Frank-Lagers, die zunehmende weibliche Autonomie zurückzudrängen beziehungsweise das vermeintlich durch die Industrialisierung beschädigte Geschlechterverhältnis wiederherzustellen. Bezeichnenderweise wurde das im Gedenken an die von Mary Phagan personifizierte weibliche Reinheit errichtete Monument als im Interesse eines jeden tugendhaften Mannes liegend begriffen.176 In die gleiche Richtung zielten die Feierlichkeiten zur Einweihung des Denkmals. Neben Mary Phagan wurden Veteranen der konföderierten Armee ins Zentrum des Ereignisses gerückt. Zum einen wurden sie in der Öffentlichkeit als die Finanziers des Mahnmals zelebriert, zum anderen wurde die feierliche Enthüllung des Denkmals von einem kriegsversehrten Bürgerkriegsveteranen namens James Saules vorgenommen.177 Der Rekurs auf die Figur des Veteranen, die im Süden der Postbürgerkriegszeit als Emblem einer heroischen, die Weiblichkeit beschützenden angloamerikanischen Männlichkeit fungierte, zielte folglich auf die Restabilisierung der durch die Ausweitung weiblicher Lohnarbeitsverhältnisse unterminierten Position des Familienpatriarchen.178 Zusätzlich implizierte das Mary-Phagan-Narrativ eine an angloamerikanische Frauen gerichtete Warnung vor den Gefahren weiblicher Lohnarbeit: nämlich vor die Wahl gestellt zu werden, entweder die Tugendhaftigkeit und damit den Kern der Weiblichkeit oder aber das Leben zu opfern. Als Lösung für dieses Dilemma wurde die Rückbesinnung auf die Rolle als Ehefrau und damit die Restauration der Patria Potestas unter veränderten Rahmenbedingungen propagiert. So habe Phagans heroisches und mit dem Leben bezahltes Streben nach dem Erhalt ihrer Tugendhaftigkeit dem folgenden Ziel gedient: „To save herself to be some good man’s wife.“179 176 C. W. Arnes, [kein Titel].“ In: The Jeffersonian, 8.7.1915, S. 12. 177 [Thomas Watson?], „While Leo Frank Is Loafing at the State Farm, the Rich Jews Continue to Defame the People and the Court of Georgia.“ In: The Jeffersonian, 15.7.1915, S. 1–6, hier S. 1. 178 Gordon und Jones, Old South, S. 14; Benjamin Franklin Grady, The Case of the South against the North: or Historical Evidence Justifying the Southern States of the American Union in Their Long Controversy with the Northern States.Raleigh: Edwards & Broughton Publishers 1899, S. 308 f., DBC, LRPC; [unbekannt], A Gentleman of Verona. Berryville: Blue Ridge Press of Hughes 1903, S. 8 f., LRWL, SPC. Zur Bedeutung der Figuration des Bürgerkriegsveteranen siehe u. a. auch Sonya Michel, „White Southern Manhood.“ 179 Watson, „Leo Frank Case“, Januar 1915, S. 157.
Weibliche Lohnarbeit
Diese negativen Vorstellungen von weiblicher Lohnarbeit spiegelten sich auch in dem Bild wider, das von dem Raum gezeichnet wurde, in dem junge Frauen ihrer Tätigkeit nachgingen: der Fabrik. Laut Jeffrey Melnick diente das Gelände der National Pencil Company Zeitgenoss_innen als „perfektes Emblem des Horrors“.180 Zeitgenössische Beobachter_innen verstanden die Fabrik als einen Ort, der von einer klar asymmetrischen Machtstruktur durchzogen sei. Seine große Autorität über die Angestellten ausnutzend, habe Frank seine ‚Perversion‘ ungestört ausleben können. Wiederholt wurde die von Frank geleitete Fabrik als Lasterhöhle beschrieben.181 Zeitgenoss_innen nahmen die Fabrik als einen Ort wahr, der sich nach Produktionsende in ein Bordell verwandeln würde, und Thomas Watson sah in der Fabrik das perfekte Instrument Franks, um seine sexuellen ‚Perversionen‘ auszuleben.182 Im Zentrum der sexuellen Ausschweifungen wurde das Büro Franks verortet. Es kursierten Gerüchte, dass dieses mit Nacktbildern dekoriert gewesen sei und dort Partys stattgefunden hätten, bei denen junge Frauen anwesend waren.183 Der Staatsanwalt Frank Hooper entwarf die Fabrik als einen Ort, in dem nicht etwa die Produktion ökonomischer Werte und damit die Verwertung des investierten Kapitals das oberste Primat darstellten. Vielmehr habe die Befriedigung Franks sexueller Lust oberste Priorität in der Organisation der Fabrikabläufe eingenommen. So habe Frank angloamerikanische Arbeiter entlassen, die sich seinen vermeintlichen Übergriffen auf junge Arbeiterinnen in den Weg gestellt hätten. Die Fabrik erschien während der Affäre also primär als Ort sexueller Übergriffe auf angloamerikanische Frauen und nicht als ein Raum, in dem die maximale Steigerung der Produktivität das alles bestimmende Prinzip darstellte.184 Die Idee, dass der Eintritt in ein Lohnarbeitsverhältnis die angloamerikanische Weiblichkeit bedrohe, wurde während des Leo Frank-Case auf multiple Weise mit ‚Juden‘ in Zusammenhang gebracht. Dabei wurde auf antisemitische Versatzstücke zurückgegriffen, die im Süden bereits in den Dekaden vor der Affäre zirkulierten. Wie bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurden jüdische und 180 Melnick, Black-Jewish Relations, S. 12. 181 [Unbekannt], „Frank Not Apparently Nervous Say Last Men to Leave Factory.“ In: Atlanta Constitution, 1.5.1913, S. 2; Watson, „Leo Frank Case“, S. 145. 182 [Unbekannt], The Frank Case: Inside Story of Georgia’s Greatest Murder Mystery. Atlanta: The Atlanta Publishing Company 1913, S. 109 u. 135; Watson, „Leo Frank Case“, Januar 1915, S. 145; Watson, „Rich Jews Indict a State“, Oktober 1915, S. 325. 183 Ders., S. 97–101. 184 [Unbekannt], The Frank Case: Inside Story of Georgia’s Greatest Murder Mystery. Atlanta: The Atlanta Publishing Company 1913, S. 109 u. 135.
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Industrialisierung, Urbanisierung, angloamerikanische Männlichkeit
angloamerikanische Männer entlang der Scheidelinie „männliche Ehre und Tugend“ gegenübergestellt. Kurz nach der Festnahme Franks kursierten bereits Gerüchte, die allesamt auf die Destruktion der Ehre des ‚jüdischen‘ Fabrikanten zielten. Es hieß, dass Frank vor seiner Ankunft in Atlanta bereits eine Frau in Brooklyn ermordet und er eine Vielzahl an unehelichen Kindern habe.185 Grundsätzlich wurden ‚jüdische‘ Männer während des Leo Frank-Case als dreifache Bedrohung für angloamerikanische Frauen entworfen: als machtvolle und gleichzeitig tugendlose Lüstlinge, als potenzielle Zuhälter und Frauenhändler sowie als Menschen, die die strikte (sexuelle) Segregation zwischen angloamerikanischen Frauen und ‚afroamerikanischen‘ Männern untergruben. Anknüpfend an bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts existierende Vorstellungen, nach denen ‚jüdische‘ Männer von einem enormen sexuellen Verlangen nach angloamerikanischen Frauen charakterisiert seien, wurde die Befriedigung dieses Begehrens als eines der zentralen Ziele ‚jüdischer‘ Männer verstanden.186 In einem Leserbrief, der in The Jeffersonian abgedruckt wurde, hieß es: They [‚jüdische‘ Männer, K. K.] have three great objects in life, the first is to apparently make friends with the gentiles, the second is to swindle him out of his belongings, the third, last but not least, is to disgrace and seduce the wife, the daughter, or sister of the gentile. They are degrading and destroying more than five hundred thousand gentile women each year in the United States.187
Dieses Verständnis von ‚jüdischer‘ Sexualität wurde unter Rekurs auf wissenschaftliche Arbeiten scheinbar objektiviert. Insbesondere das vom einflussreichen Soziologen Edward A. Ross verfasste Werk The Old World in the New wurde von den Gegnern Franks aufgegriffen, um die gegen den ‚jüdischen‘ Fabrikanten vorgebrachten Vorwürfe zu verifizieren.188 In diesem Werk entwickelte Ross eine rassifizierte Typologie der neuen Immigrant_innen. Dabei schrieb er den verschiedenen Gruppen von Immigrant_innen jeweils spezifische Gefahren 185 Manning Jasper Yeomans, Some Facts about the Frank Case. Woodruff Library Special Collections, Emory University, Atlanta (im Folgenden: MARBL), Leo Frank Collection (im Folgenden: LFC), Box 1, Folder 8. 186 Zu den bereits im 19. Jahrhundert vorhandenen Vorstellungen von ‚jüdischer‘ Sexualität siehe das Kapitel 4.5.1. 187 T. Benson: „An Episcopalian Lashes the Episcopal Minister, C. B. Wilmer.“ In: The Jeffersonian, 30.9.1915, S. 11. 188 Watson, „Leo Frank Case“, Januar 1915, S. 143, 160; [Thomas Watson?], „Leo Frank, As a Regular Newspaper Contributor.“ In: The Jeffersonian, 3.12.1914, S. 1+8, hier S. 1.
Weibliche Lohnarbeit
für die US-amerikanische Gesellschaft zu. In diesem Zusammenhang definierte er auch bestimmte Charakteristika ‚jüdischer‘ Menschen. Als eine Eigenschaft ‚jüdischer‘ Männer machte er dabei folgendes Verhalten aus: „Pleasure-loving Jewish business men spare Jewesses but pursue Gentile girls.“189 Während der zweijährigen Affäre wurde dieses sexuelle Begehren als eine die ‚jüdische‘ Geschichte durchziehende Konstante entworfen und somit im ‚jüdischen Wesen‘ verankert. Von ‚Juden‘ seien bereits in der Antike sexuelle Verbrechen gegen Jungfrauen und schwangere Frauen verübt worden, wobei solche Taten durch zentrale Schriften des Judentums wie den Talmud legitimiert würden.190 Dieses ‚jüdischen‘ Männern zugeschriebene spezifische sexuelle Verlangen erhielt im Kontext des Leo Frank-Case eine besondere Brisanz und entwickelte eine enorme Wirkmacht. Zeitgenoss_innen warfen Leo Frank eine Vielzahl unterschiedlicher sexueller Übergriffe auf die in der National Pencil Company beschäftigten Arbeiterinnen vor. Er sei häufig um den Umkleideraum der weiblichen Beschäftigten herumgeschlichen und sogar immer wieder ohne ersichtlichen Grund in diesen eingetreten, habe die Arbeiterinnen ungebührlich berührt und versucht, mit ihnen zu flirten, sowie seine Machtposition als Vorgesetzter dazu genutzt, Druck auf die jungen Frauen auszuüben und sie zu sexuellen Handlungen zu bewegen.191 Ausgestattet mit eben jenem unterstellten unstillbaren sexuellen Verlangen nach angloamerikanischen Frauen sowie mit einer gesellschaftlichen Position, die ihnen Macht und Autorität über Lohnarbeiterinnen gewährte, gerieten ‚jüdische‘ Chefs zum Inbegriff des angloamerikanische Männer verfolgenden Albtraums: der Erosion ihrer eigenen Machtposition und des damit verbundenen Machtverlustes über die Frauen des eigenen Haushaltes. Allerdings wurde Frank nicht nur als Mann wahrgenommen, der angloamerikanische Arbeiterinnen zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse missbraucht habe. Vielmehr erfuhren auch die schon in den Dekaden des 19. Jahr189 Edward A. Ross, The Old World in the New: The Significance of Past and Present Immigration to the American People. London et al.: Rouledge 2005, S. 150. 190 [Thomas Watson?], „The Wages of Sin Is Death.“ In: The Jeffersonian, 26.8.1915, S. 1; ders., „The State versus John M. Slaton.“ In: The Jeffersonian, 23.9.1915, S. 1. 191 [Unbekannt], Frank Case, S. 100; [Thomas Watson?], „Why Do They Keep Up the Big Money Campaign against the People and the Courts of Georgia?“ In: The Jeffersonian, 12.8.1915, S. 3; C. P. Connolly, The Truth about the Leo Frank Case. New York: Vail-Ballou Company 1915, S. 28; N. Christophulos, Argument of Hugh M. Dorsey at the Trial of Leo M. Frank. Atlanta: Press of the Johnson-Dallis Co. 1914, S. 73; [Watson], „Leo Frank Case“, Januar 1915, S. 143 f.
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hunderts hergestellten Verbindungen zwischen ‚Juden‘ und White Slavery, die einen Gegenstand des Kapitels 4.3 gebildet haben, im Verlauf der Affäre eine massive Steigerung ihrer Verbreitung und Potenz.192 In Watson’s Magazine hieß es in diesem Sinne: „[The] white-slaver stands almost openly in crowded streets, in waiting rooms, and at factory doors, with his net in his hands, ready to cast it over some innocent, unsuspecting girl.“193 Allerdings wurde White Slavery im Verlauf des Leo Frank-Case nicht nur mit dem Ort der Fabrik, sondern auch mit ‚Juden‘ verknüpft. Diese wurden als treibende Kraft des Frauenhandels identifiziert. Mitunter wurden sie gar als nahezu einzige Akteure der Zwangsprostitution entworfen. Ein Leser des The Jeffersonian war der Ansicht, dass sich die Berufsgruppe der Zuhälter zu 90 Prozent aus ‚Juden‘ zusammensetze.194 Das Verständnis von Zuhälterei als einer fast ausschließlich von ‚Juden‘ ausgehenden Gefahr wurde auch explizit gegen Frank in Position gebracht. In der Konstruktion Franks als Zuhälter manifestierte sich auch die zuvor skizzierte Zuschreibung einer unheimlichen Macht, die Frank über seine Angestellte ausgeübt hätte. So wurde ihm vorgeworfen, in der National Pencil Company beschäftigte junge Arbeiterinnen zu Prostituierten zu machen.195 Wie bereits vor der Leo-Frank-Affäre verband sich in zeitgenössischen Sichtweisen die Vorstellung, dass ‚Juden‘ angloamerikanische Frauen prostituieren würden, mit der Angst um den Erhalt der Color Line.196 In diesem Sinn bezichtigte Thomas Watson den Besitzer des in New York ansässigen großen Warenhauses R. H. Macy & Co., Nathan Strauss, die bei ihm beschäftigten angloamerikanischen Frauen zu „Dienerinnen afroamerikanischer Männer“ zu machen.197 Von ‚Juden‘ geführte Unternehmen standen unter Verdacht, ihren Arbeiterinnen „soziale Gleichheit mit Negern“ aufzuzwingen, wobei der Terminus der „sozialen Gleichheit“ bis mindestens in die 1940er Jahre von Verfechter_innen 192 Zur Bedeutung der Kategorie Race innerhalb des White-Slavery-Diskurses siehe u. a. Brian Donovan, White Slave Crusades: Race, Gender, and Anti-Vice Activism, 1887–1917. Urbana et al.: University of Illinois Press 2006, S. 75–79; Egal Feldman, „Prostitution, the Alien Woman and the Progressive Imagination, 1910–1915.“ In: American Quarterly, Jg. 19, Nr. 2 (Sommer 1967), S. 192–206, hier S. 194–196. Ausführlichere Angaben zu White Slavery bietet die Arbeit auf Seite 81 in Fußnote 139. 193 Watson, „Leo Frank Case“, Januar 1915, S. 162. 194 Franklin Steiner, „How an Illinois Man Changed His Views.“ In: The Jeffersonian, 30.9.1915, S. 11. 195 [Unbekannt], Frank Case, S. 135. 196 [Thomas Watson?], „When Are the Northern Jews Going to Let Up on Their Insane Attempt to Bulldoze the State of Georgia.“ In: The Jeffersonian, 2.9.1915, S. 1. 197 Ders., „While Leo Frank Is Loafing“, S. 5.
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der White Supremacy als Synonym für Mongrelization (‚Rassendurchmischung‘) verwendet wurde.198 Auch die in Verhören und dem Gerichtsverfahren hergestellte Komplizenschaft zwischen Leo Frank und Jim Conley konstruierte den jüdischen Fabrikleiter als Aggressor gegenüber der Color Line. Indem Frank Conley insofern in seine sexuellen Akte eingebunden habe, als er diesen vor dem Büro habe Wache halten lassen, habe er Conley einen, wenn auch indirekten, Zugang zu angloamerikanischen Frauen ermöglicht. Conley habe durch das Schlüsselloch die Handlungen innerhalb des Büros verfolgen können. Da in den Südstaaten Abbildungen nackter angloamerikanischer Frauen als Auslöser für sexuelle Übergriffe ‚afroamerikanischer‘ Männer angesehen wurden, wird ersichtlich, dass die Passivität Conleys als Gehilfe Franks in den Augen vieler Zeitgenoss_innen das Umschlagen in aktives Handeln, das heißt die Vergewaltigung angloamerikanischer Frauen, bereits in sich trug.199 Franks Handlungen führten also in zeitgenössischen Perspektiven zu einer Steigerung der ‚afroamerikanischen‘ Männern zugeschriebenen Lust nach angloamerikanischen Frauen. Allerdings wurde Franks Handeln nicht nur als ein quantitativer Eingriff in die sexuelle Ökonomie Conleys verstanden, also als eine Entfesselung und Steigerung seines sexuellen Begehrens, sondern auch als ein qualitativer. Jim Conley sei ein Mann gewesen „der das Laster Sodoms nicht gekannt habe, bevor er in der Fabrik durch das Schlüsselloch [vom Büro Franks, K. K.] geguckt hat“.200 Der angeblich von Frank auf die Sexualität Conleys ausgeübte Einfluss wurde also in zweifacher Hinsicht als negativ begriffen: zum einen durch die quantitative Steigerung des sexuellen Verlangens nach angloamerikanischen Frauen, zum anderen durch die Erweiterung des sexuellen Begehrens um eine als widernatürlich kategorisierte Praktik. Der Vorwurf, dass Frank durch sein Verhalten die Sexualität Conleys verändert habe, verweist auf die Vorstellungen rassespezifischer Sexualitäten, die während des Leo Frank-Case eine große Bedeutung entwickelten und von beiden Lagern in ihre jeweilige Sichtweisen und Argumentationen integriert wurden. Die Apologet_innen Franks griffen wiederholt auf die Figuration des Black Beast Rapist zurück und identifizierten sexuelle Gewalt gegen angloame198 Boris, „Racialized Bodies“, S. 11; [Thomas Watson?], „The Boston ‚Review‘ Is Mighty Hard on Us Low-Down Georgians.“ In: The Jeffersonian, 9.9.1915, S. 5. 199 [Unbekannt], „Liquor Traffic Strongly Denounced: Dr. Atkins and Judge Nolen Speak in South Nashville.“ In: The Nashville Tennessean, 19.6.1908, S. 2. 200 [Thomas Watson?], „Glorious Achievement of the Haas Finance Committee.“ In: The Jeffersonian, 2.9.1915, S. 4 f., hier S. 5.
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rikanische Frauen als charakteristisch für ‚afroamerikanische‘ Männer.201 Leo Frank hingegen wurde als unfähig zu solchen Verbrechen beschrieben. Vor dem Hintergrund der in den Südstaaten hergestellten Verbindung zwischen sexueller Gewalt und Nichtweißsein wurde Frank in diesem Narrativ als weiß entworfen.202 Das Anti-Frank-Lager wiederum sah sowohl in Frank wie auch in Conley eine sexuelle Gefahr für angloamerikanische Frauen und markierte somit beide als nicht-weiß. Zu Recht verweist der Historiker Eric Goldstein daher darauf, dass die Leo Frank und Jim Conley jeweils zugeschriebene Sexualität einen Zusammenhang zwischen ‚Juden‘ und ‚Afroamerikanern‘ herstellte.203 Das verbindende Element stellte dabei das sexuelle Objekt dar, an dem sowohl das ‚jüdische‘ als auch das ‚afroamerikanische‘ Begehren festgemacht wurden. Sowohl ‚Juden‘ als auch ‚Afroamerikaner‘ galten als von einem auch in seiner Intensität vergleichbaren Verlangen nach angloamerikanischen Frauen beherrscht.204 Die Konstruktion ‚jüdischer‘ wie auch ‚afroamerikanischer‘ Männer als von Trieben regiert zielte auf deren ‚Entmännlichung‘ und deren daran gekoppelte gesellschaftliche Subordination.205 Zwar galt der Besitz eines starken sexuellen Begehrens als konstitutiv für Männlichkeit, jedoch resultierte nur im Zusammenspiel mit der Fähigkeit, die eigene Natur zu kontrollieren, daraus eine virile und zivilisierte Männlichkeit.206 Während einerseits sowohl ‚jüdische‘ als auch ‚afroamerikanische‘ Sexualität in Kontrast zu angloamerikanischer gesetzt wurde, gestalteten Zeitgenoss_innen die beiden als nicht-weiß markierten Sexualitäten jedoch jeweils höchst unterschiedlich aus. Die Differenzen waren dermaßen fundamental, dass die ‚jüdische‘ und die ‚afroamerikanische‘ Sexualität wie zwei sich gegenüberstehende Pole verstanden wurden. In den unterschiedlichen rassifizierten Sexualitätsentwürfen manifestierten sich Vorstellungen von der Verschiedenartigkeit des ‚jüdischen‘ und des ‚afroamerikanischen‘ Subjektes, die bedeutsame Fragen aufwerfen. Was bildete in den Augen der Zeitgenoss_innen die zentrale Differenz zwischen ‚jüdischer‘ und ‚afroamerikanischer‘ Sexualität? In welches Verhältnis 201 [Unbekannt], Frank Case, S. 132 f.; [unbekannt], „Shame to Civilization.“ In: The Houston Post, 20.6.1915 [keine Seitenangabe]. 202 Melnick, Black-Jewish Relations, S. 59–63. 203 Eric Goldstein, The Price of Whiteness: Jews, Race, and American Identity. Princeton et al.: Princeton University Press 2006, S. 43. 204 Watson, „Leo Frank Case“, Januar 1915, S. 143. 205 D’Emilio und Freedman, Intimate Matters, S. 18. 206 Bederman, Manliness and Civilization, S. 84 f.
Weibliche Lohnarbeit
wurden die beiden Sexualitäten gesetzt? Was sagen die unterschiedlichen Imaginationen ‚jüdischer‘ und ‚afroamerikanischer‘ Sexualität über zeitgenössische Vorstellungen von ‚jüdischer‘ beziehungsweise ‚afroamerikanischer‘ Subjektivität aus? Zur Beantwortung dieser Fragen ist ein knapper Exkurs zu dem seinerzeit äußerst wirkmächtigen Neurastheniediskurs notwendig. ‚Neurasthenie‘ beschäftigte im Zeitraum zwischen 1870 und 1915 eine Vielzahl an Wissenschaftler_innen. Zahlreiche Abhandlungen wurden zu diesem als schwerwiegende Erkrankung des Nervensystems eingeschätzten Phänomen verfasst. Als deren Ursache wurde die Lebensweise in technologisch fortschrittlichen und als ‚überzivilisiert‘ kategorisierten Gesellschaften identifiziert.207 Geschäftsmänner der Mittel- und Oberklasse sowie Menschen, die einer geistigen Tätigkeit nachgingen, galten als besonders durch die neue, vermeintliche Nervenerkrankung bedroht.208 Der Beschleunigung des Geschäftslebens sowie der zunehmenden Abnahme manueller, im Freien verrichteter Tätigkeiten wurden verheerende Auswirkungen auf die männliche Virilität zugeschrieben. Die durch den Verlust männlicher Energie verursachte ‚Effeminierung‘ von Neurasthenikern materialisierte sich nach Ansicht der Expert_innen auch in deren Körpern. Nach George M. Beard, einem damals führenden Neurasthenieexperten, führte die Krankheit zur Nivellierung der körperlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen.209 Eine Unterart der Neurasthenie diagnostizierte Beard in der 1884 publizierten Schrift Sexual Neurasthenia. Mit diesem Begriff fasste er Erscheinungen vermeintlicher sexueller Dysfunktionalität oder Abnormalität, die infolge einer nervösen Erschöpfung auftreten würden.210 Nach Beard sei ‚sexuelle Perversion‘ sowohl mit einer Inversion der eigenen sexuellen Identität als auch einem Wechsel des Sexualobjektes verbunden. Männer würden sich demnach das Verhalten, den Charakter und das Gefühlsleben von Frauen aneignen und diese sich ihrerseits in männliche Wesen verwandeln. Außerdem richte sich das sexuelle Begehren der effeminierten Männer wie auch der maskulinisierten Frauen 207 Kimmel, Manhood, S. 134–136. 208 Bederman, Manliness and Civilization, S. 86. 209 Dies., S. 88. Zur Geschlechterdimension des Krankheitsbildes ‚Neurasthenie“ siehe u. a. Jessica Slijkhuis und Harry Oosterhuis, „‚Paralysed with Fears and Worries‘: Neurasthenia as a Gender-Specific Disease of Civilization.“ In: History of Psychiatry, Jg. 24, Nr. 1 (März 2013), S. 79–93. 210 George M. Beard, Sexual Neurasthenia: Its Hygiene, Causes, Symptoms, and Treatment, with a Chapter on Diet for the Nervous. New York: E. B. Treat 1884, S. 36.
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nun auf Menschen gleichen Geschlechts.211 Als Ursache dieser Verflüssigung der zeitgenössisch klar definierten Grenzen zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit verstand Beard auch hier wieder die Positionierung des jeweiligen Subjektes innerhalb einer ‚zivilisierten‘ Gesellschaft. Er stellte in Sexual Neurasthenia eine kausale Verbindung zwischen ‚Überzivilisierung‘, einem neurasthenischen Wesen und ‚sexueller Perversion‘ her. Während unter ‚wilden‘ und ‚halb-wilden‘ Kulturen sowie unter den manuell und an der frischen Luft arbeitenden Farmern die Existenz ‚sexueller Perversionen‘ negiert werden könne, sei sie ein Phänomen der „delicate, finely-organized lads of our cities and of the higher civilization“.212 Der Zusammenhang zwischen ‚Überzivilisierung‘, ‚Effeminierung‘ und der Ausbildung ‚sexueller Perversionen‘ wurde während des Leo Frank-Case ins Zentrum der ausgemachten Differenz zwischen ‚afroamerikanischer‘ und ‚jüdischer‘ Sexualität gerückt. Die in Griffin, Georgia, herausgegebenen Griffin News and Sun beschrieb die Sexualität Franks als charakteristisch für Mitglieder der oberen Klassen einer ‚zivilisierten‘ Gesellschaft.213 Auch The Jeffersonian verstand die ‚Juden‘ zugeschriebene spezifische Sexualität als Resultat einer bestimmten gesellschaftlichen Position und kontrastierte sie mit der ‚afroamerikanischen‘: Negro men will commit bestiality, but they never commit sodomy, unless they are chained up in convict camps, where they have no access to females. The negro is naturally lustful, and will take a female, even a beast, if it costs his life, but he never takes a woman, UNNATURALLY. […] Is it possible that the Great Detective does not know the vital difference between the crimesof-lust in the barbarian, and the same crimes in the degenerates of civilization? The excited barbarian, like the brutish negro, may commit bestiality; but it is the degenerate of wealth and culture who commits sodomy.214
In zeitgenössischen Vorstellungen war die vermeintlich ‚natürliche‘ ‚afroamerikanische‘ Sexualität also aufs engste an rassistische Vorstellungen gebunden, die 211 212 213 214
Ders., S. 106 f. Ders., S. 102 f. Melnick, Black-Jewish Relations, S. 68. [Thomas Watson?], „The Frank Case; the Great Detective; and the Frantic Efforts of Big Money to Protect Crime.“ In: The Jeffersonian, 30.4.1914, S. 1+9, hier S. 9.
Weibliche Lohnarbeit
‚afroamerikanische‘ Menschen als ‚wild‘ und ‚unzivilisiert‘ entwarfen. Der Unfähigkeit, eine ‚kultivierte‘ Gesellschaft zu erschaffen, also die Verwandlung von ‚Natur‘ in ‚Kultur‘‚ entsprach die Unfähigkeit, die eigene körperliche ‚Natur‘ zu beherrschen. ‚Jüdische‘ Sexualität wurde antipodisch hierzu entworfen. Nicht mehr die völlige Unterwerfung unter die ‚Natur‘ war hier das entscheidende Prinzip, sondern, wie bei den Neurasthenikern, die übermäßige und vollständige Beherrschung und Unterdrückung der ‚Natur‘, die sich in einem Zuviel an Reichtum und ‚Kultur‘ äußerte.215 Sodomie, also die Ausübung als unnatürlich kategorisierter Sexualpraktiken, stellte in den Augen der Zeitgenoss_innen eine „überreife Frucht der Zivilisation“ dar. In agrarischen Gesellschaften hingegen galten ‚sodomistische‘ Praktiken wegen des positiven Effektes manueller Arbeit auf die Homöostase des Nervensystems als ein nicht-existentes Phänomen.216 Die Konstruktion Franks als „Jew Pervert“ verortete ‚Juden‘ also in der nichtmanuell arbeitenden Oberklasse.217 Imaginationen, dass der jüdische Fabrikleiter ‚sexuell pervers‘ sei, entwickelten während des Leo Frank-Case eine große Wirkmacht. Frank wurde der als Norm gesetzten Sexualität angloamerikanischer Männer entgegengesetzt und als ‚abnormal‘ gekennzeichnet.218 Ihm wurde eine gestörte sexuelle Beziehung zu seiner Ehefrau nachgesagt. Statt auf ‚natürliche‘ Art und Weise die sexuellen Begierden innerhalb der Ehe zu befriedigen, habe sich der ‚jüdische‘ Fabrikleiter ‚unnatürlichen‘ Sexualpraktiken hingegeben. So wurde Frank in zeitgenössischen Publikationen als „Sodomite Jew“ oder als ein Mann mit „degenerate proclivities“ bezeichnet.219
215 Die vollständige Naturbeherrschung schlug in den Augen Thomas Watsons jedoch durch die daraus resultierende Schwächung der Männlichkeit letztendlich wieder in eine Form der Unterwerfung unter die ‚Natur‘ um. So habe Leo Frank nicht die Stärke besessen, seine sexuellen Leidenschaften zu kontrollieren (Christophulos, Argument of Hugh M. Dorsey, S. 77). 216 Thomas Watson, „Rich Jews Indict a State“, Oktober 1915, S. 330. 217 Ders., „The Official Record in the Case of Leo Frank, a Jew Pervert.“ In: Watson’s Magazine, Jg. 21, Nr. 5 (September 1915), S. 251–291, hier S. 251. 218 [Unbekannt], Frank Case, S. 128. 219 [Thomas Watson?], „A Gentile Put to Death on the Evidence of a Negro for Killing a Jew.“ In: The Jeffersonian, 5.8.1915, S. 1–3, hier S. 3; [ders.], „Georgia Stands Disgraced!“ In: The Jeffersonian, 5.8.1915, S. 4 f., hier S. 5; [ders.], „Carpet-Bagger Stockbridge, of the Rotten Ruralist, Slanders the Living and the Dead.“ In: The Jeffersonian, 14.10.1915, S. 5. Zur visuellen Herstellung des ‘Jew Pervert’ im Leo Frank-Case siehe: Kristoff Kerl, „Thomas Watson: A Full Review of the Leo Frank Case (1915). Oder: Zur Physiognomie des „jüdischen Perversen” im Leo Frank Case.” In: Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz (Hg.), Race & Sex. Eine Geschichte der Neuzeit. Berlin: Neofelis Verlag 2016, S. 233-231.
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Industrialisierung, Urbanisierung, angloamerikanische Männlichkeit
Unter dem Begriff der Sodomie wurden zeitgenössisch sämtliche sexuellen Praktiken zusammengefasst, die nicht als „natürlicher Geschlechtsverkehr“ kategorisiert wurden.220 ‚Sexuelle Perversion‘ stellte also im zeitgenössischen Verständnis ein polymorphes Phänomen dar. Somit markierte die Bezeichnung ‚Sodomit‘ Leo Frank nicht etwa, wie Jeffrey Melnick argumentiert, als Homosexuellen.221 Stattdessen wurde Frank durch die Bezeichnung ‚Sodomit‘ mit einem breiten Spektrum an ‚unnatürlichen‘ Praktiken assoziiert, die ihn als ideale Kontrastfolie für eine tugendhafte angloamerikanische Männlichkeit herstellten. Die in dem Perversionsvorwurf enthaltene Negation seiner Männlichkeit wurde zeitgenössisch auch im Körper des ‚jüdischen‘ Fabrikanten verankert. Es hieß, dass er nicht wie andere Männer gebaut sei.222 Auf Grund seines körperlichen Defizits habe er sexuelle Praktiken ausgeübt, die „jeder andere Mann, der Kinder habe“, nicht praktizieren würde.223 Die Polymorphie der Frank zugeschriebenen ‚sexuellen Perversion‘ äußerte sich in den changierenden Sexualobjekten, auf die sich laut zeitgenössischen Berichten sein sexuelles Begehren richtete und mit denen auch die angewandte, immer aber ‚unnatürliche‘ Praktik wechselte. Eine dieser angeblich von Frank gefrönten ‚perversen‘ Praktiken stellte die orale Befriedigung junger Arbeiterinnen dar. Über eine Arbeiterin, die im Gerichtsverfahren gegen Frank ausgesagt hatte, hieß es: „She had a scar, on the tenderest part of her thigh, made by the teeth of Leo Frank.“224 Die ‚Abnormalität‘ von Franks Begehrens- und Triebstruktur manifestierte sich nach Ansicht des Anti-Frank-Lagers also nicht bloß in seinen Sexualpraktiken und seinem Körper. Vielmehr hinterließ seine Sexualität auch ihre Spuren in und an den Körpern seiner Sexualpartnerinnen/Arbeiterinnen.225 In diesen physischen Versehrungen, die durch Franks Neigung zum Cunnilingus hervorgerufen worden seien, materialisierten sich die zeitgenössischen Vorstellungen, nach denen vom Eintritt in Lohnarbeitsverhältnisse fundamentale Bedrohungen für angloamerikanische Frauen ausgingen. Die Imagination 220 [Unbekannt], „Sodomy“ In: Webster’s Collegiate Dictionary. Springfield: G. & C. Merriam Company 1919, S. 913. 221 Melnick, Black-Jewish Relations, S. 69–72. 222 [Thomas Watson?], „Carpet-Bagger Stockbridge, of the Rotten Ruralist, Slanders the Living and the Dead.“ In: The Jeffersonian, 14.10.1915, S. 5; [unbekannt], Frank Case, S. 88. 223 Zitiert nach: Dinnerstein, Leo Frank Case, S. 41. 224 [Thomas Watson?], „Gentile Put to Death“, 5.8.1915, S. 3. 225 Die Vorstellung, dass Cunnilingus den Frauen Schaden zufüge, konnte sich auf wissenschaftliche Arbeiten aus dem Bereich der Sexologie stützen. Einige Wissenschaftler schrieben dieser Praktik gar das Potenzial zu, bei den jeweiligen Frauen für einen Erschöpfungstod zu sorgen (Melnick, Black-Jewish Relations, S. 72).
Weibliche Lohnarbeit
einer aus der vermeintlich ‚perversen‘ Sexualität Franks resultierenden Gefährdung angloamerikanischer Arbeiterinnen diente somit dem Unterfangen, der mit weiblicher Lohnarbeit verbundenen Ausweitung der Agency von Frauen und damit der Unterminierung der Verfügungsgewalt angloamerikanischer Männer über Frauen entgegenzuwirken. Die Wahrnehmung Franks als Akteur der Urbanisierung und Industrialisierung sowie die daran gekoppelten Verschiebungen innerhalb des Geschlechterverhältnisses machten ihn, wie bereits dargelegt, nicht bloß zu einer Gefahr für angloamerikanische Frauen. Vielmehr wurde der Ansicht, dass Frank als Triebkraft der wahrgenommenen Krise angloamerikanischer Männlichkeit agiere, auch durch vermeintliche sexuelle Übergriffe auf Männer Ausdruck verliehen. In diesem Zusammenhang waren zeitgenössische Vorstellungen von Homosexualität bzw. gleichgeschlechtlichem Begehren von großer Bedeutung. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt gleichgeschlechtliches Begehren per se als Ausdruck der ‚Effeminierung‘. Damit wurde auch die strikte Abgrenzung zur Homosexualität für die Herstellung einer als ‚normal‘ definierten, virilen Männlichkeit immer bedeutsamer.226 In zeitgenössischen Berichten und Analysen wurde Leo Frank mit einem gleichgeschlechtlichen Begehren ausgestattet. Auf diesem Weg wurde er zu einer potenziellen Quelle der ‚Effeminierung‘ angloamerikanischer Männer. Jedoch drohte der ‚jüdische‘ Fabrikleiter diese nicht nur zu ‚effeminieren‘, sondern sie sich zusätzlich auch unterzuordnen. Dies zeigte sich zum Beispiel an den Darstellungen des Mordanschlags, den ein Mithäftling auf Frank verübte. Die Ursache für diesen Gewaltakt beschrieb Thomas Watson wie folgt: „Frank had tried to sodomize him [den Mithäftling Creen, K. K.].“227 Damit beschrieb Watson Frank als den aktiven Part des vermeintlichen Verführungsversuches. Aktivität, beziehungsweise Passivität bei sexuellen Akten waren zur damaligen Zeit eindeutig vergeschlechtlicht, wobei erstere als männlich und letztere als weiblich galt.228 Nach der Ansicht Watsons wollte Frank den Mann also nicht nur verführen, sondern diesen auch unterwerfen. In dem vermeintlichen Streben Franks, einen angloamerikanischen Mann zu ‚effeminieren‘ und ihn sich unterzuordnen, manifestierten sich zeitgenössische Wahrnehmungen von ‚Juden‘ als ursächliche Triebkräfte des gesellschaftlichen Wandels und damit der Krisenhaftigkeit angloamerikanischer Männlichkeit. 226 Kimmel, Manhood, S. 121–123. 227 [Thomas Watson?], „Gentile Put to Death“, S. 3. 228 D’Emilio und Freedman, Intimate Matters, S. 179.
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Industrialisierung, Urbanisierung, angloamerikanische Männlichkeit
4.7 Kapitelfazit Wie das Kapitel zeigte, entstanden die gegen Leo Frank vorgebrachten Anschuldigungen nicht ad hoc während der zwei Jahre andauernden Affäre. Vielmehr lassen sich einzelne Stränge bis zu dem Zeitpunkt zurückverfolgen, an dem sich die Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse im Süden langsam zu beschleunigen begannen. Die unter Südstaatler_innen zirkulierenden starken Vorbehalte gegenüber industriellen Lohnarbeitsverhältnissen im Allgemeinen und weiblicher Erwerbsarbeit im Speziellen lassen sich bis in die Zeit vor dem Bürgerkrieg zurückverfolgen, bis zu einem Zeitpunkt also, als der Süden fast ausschließlich agrarisch geprägt war und über keinerlei nennenswerte Industrien verfügte. Die nach der Niederlage im Civil War allmählich einsetzenden Prozesse der Industrialisierung und Urbanisierung wurden von vielen Südstaatler_innen als folgenschwere gesellschaftliche Transformation aufgefasst, die zahlreiche Erschütterungen des bisherigen Southern Way of Life mit sich brachte. Das Leben in urbanen Räumen sowie der Eintritt in Lohnarbeitsverhältnisse wurden von Zeitgenoss_innen als die Geschlechterordnung und damit die Ordnung des Südens unterminierend verstanden. Charakteristika wie Unabhängigkeit, Selbstregierung, Versorgung und Schutz der Familie, die als konstitutiv für angloamerikanische Männlichkeit verstanden wurden, galten unter den sich herausbildenden neuartigen gesellschaftlichen Verhältnissen als in ihren Grundfesten bedroht. Die sich in der Figuration des Yeoman manifestierende Idealvorstellung der manly Independence wurde in der Weltsicht vieler Südstaatler_innen durch die gesellschaftliche Transformation auf mannigfaltige Art und Weise ausgehöhlt: durch den Eintritt in ein Lohnarbeitsverhältnis, durch die ‚degenerierenden‘ Auswirkungen urbaner Räume sowohl auf den männlichen Geist wie auch auf die männliche Physis sowie durch den mit städtischen Räumen verknüpften Alkoholkonsum. Ein dramatisches Erosionspotenzial für das Geschlechterverhältnis wurde dem Eintritt angloamerikanischer Frauen in Lohnarbeitsverhältnisse zugeschrieben. Die aus der Kommodifizierung der Arbeitskraft resultierende erhöhte Autonomie gegenüber dem Familienpatriarchen wurde häufig unter Rückgriff auf vermeintlich am Arbeitsplatz oder auf dem Weg zur Arbeit harrende Gefahren rückgängig zu machen versucht. In dieses Bedrohungsszenario wurden auf vielfältige Art und Weise ‚jüdische‘ Männer integriert: ob als tugendlose, lüsterne und einer devianten Sexualität frönende, aber zugleich mächtige Vorgesetzte und Arbeitgeber, als Zuhälter und Menschenhändler oder aber als Menschen,
Kapitelfazit
die, sei es durch Alkoholverkauf oder den Handel mit anderen Gütern, die vermeintlich vom Black Beast Rapist ausgehenden Gefahren potenzierten. Die verschiedenen mit ‚Juden‘ verknüpften und von der gesellschaftlichen Transformation des Südens verursachten Bedrohungswahrnehmungen des Geschlechterverhältnisses entwickelten während des Leo Frank-Case eine zuvor im Süden nicht dagewesene antisemitische Dynamik und Wirkmacht. Die Rahmenbedingungen des Falles, die Ermordung einer jungen angloamerikanischen Arbeiterin auf dem Gelände einer Fabrik, die von einem ‚Juden‘ geleitet wurde und in Atlanta angesiedelt war, sorgten dafür, dass das bereits zuvor in den Südstaaten kursierende Gerücht von verdorbenen, reichen und auf verschiedene Weise mit den gesellschaftlichen Transformationen verwobenen ‚Juden‘ massiv befeuert und verdichtet wurde. Zusätzlich wurden diese Vorstellungen mit anderen antisemitischen Versatzstücken verknüpft. Dies zeigt sich zum einen im Verständnis vom Jew Carpetbagger als Triebkraft der Entwicklung Atlantas, zum anderen in den populistischen Verknüpfungen von ‚Juden‘ mit einem „Money Trust“. Einen wesentlichen Beitrag zur Konstruktion von ‚Juden‘ als Motoren der Industrialisierung leistete im Verlauf der Affäre der rassifizierte, vergeschlechtlichte sowie eine Aussage über die vermeintliche Klassenzugehörigkeit machende Subjektentwurf des „Jew Sodomite“. Bereits in den 1880er und 1890er Jahren existierende Vorstellungen von ‚jüdischen‘ Vorgesetzten als Gefahr für die Tugendhaftigkeit angloamerikanischer Arbeiterinnen wurden im Leo Frank-Case zu einem umfassenden, spezifischen Sexualitätstypus verflochten, in dem sich die mit Industrialisierung und Urbanisierung verknüpften Bedrohungswahrnehmungen materialisierten. Der sich in der Affäre vollziehende Kampf gegen ‚Juden‘ ist somit als Kampf, insbesondere angloamerikanischer Männer, zu verstehen, die durch Industrialisierung und Urbanisierung bedrohte gesellschaftlich dominante Stellung angloamerikanischer Männlichkeit zu (re-)stabilisieren.
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5 Männlichkeit und Antisemitismus bei den Knights of the Ku Klux Klan Am 6. März 1922 suchte eine Gruppe Klansmänner den jüdischen Geschäftsmann Phillip Rothblum in dessen Haus auf, verband ihm die Augen und verschleppte ihn in eine entlegene Gegend in Dallas. Dort prügelten sie ihm mit Fäusten derart brutal in sein Gesicht, dass er zwei Zähne verlor, und schlugen ihn wiederholt mit einer schweren Peitsche. Nachdem sie von ihrem Opfer gelassen hatten, forderten sie Rothblum unter Androhung weiterer Gewalttaten auf, Dallas zu verlassen. Davon eingeschüchtert und verängstigt kehrte er der Stadt den Rücken. Dennoch kam es Ende März zu einem Gerichtsprozess gegen die Gewalttäter, der jedoch trotz zahlreicher Indizien gegen die Angeklagten mit einem Freispruch endete. Im Verlauf des Verfahrens wurde Rothblum wiederholt unmoralischer Handlungen gegenüber Frauen bezichtigt. Die Klanzeitung Texas American denunzierte ihn als Betreiber eines Bordells und versuchte auf diesem Weg die Gewalttat als Aktion zur Verteidigung angloamerikanischer Weiblichkeit zu legitimieren.1 Drei Jahre später ereignete sich in Williamston, North Carolina, eine weitere gegen einen Juden gerichtete Gewalttat. Wieder stellte ein vermeintlicher sexueller Übergriff eines jüdischen Mannes den Beweggrund für das grausame Verbrechen dar. Am 16. März 1925 besuchte Joseph Needleman, ein jüdischer Handlungsreisender, in Begleitung der 19-jährigen Effie Griffin, ihrer Schwester und deren Freund ein Kino in der Nähe von Williamston. Im Verlauf des Abends kam es zwischen Needleman und Griffin zu Geschlechtsverkehr. Eine Woche später wurde der jüdische Vertreter verhaftet und ins Gefängnis von Williamston gesperrt. Auslöser der Verhaftung war die einen Tag zuvor von Griffin gegenüber ihrer Mutter getätigte Aussage, dass Needleman sie vergewaltigt habe. Dieser bestritt den Vorwurf vehement und insistierte darauf, dass sich der Sexakt in beiderseitigem Einvernehmen vollzogen habe. Trotz des unklaren Sachverhalts stand für viele angloamerikanische Männer von Anbeginn Needleman als Vergewaltiger „eines unserer Martin-County-Mädchen“ fest.2 In der Nacht zum 29. März brach eine Gruppe angloamerikanischer Männer in das Gefängnis 1 2
Rosalind Benjet, „The Ku Klux Klan and the Jewish Community of Dallas, 1921–1923.“ In: Southern Jewish History, Jg. 6 (2003), S. 133–163, hier S. 145–149. Zitiert nach: Vann Newkirk, „That Spirit Must be Stamped Out: The Mutilation of Joseph Needleman and North Carolina’s Effort to Prosecute Lynch Mob Participants during the 1920s.“ In: Southern Jewish History, Jg. 13 (2010), S. 45–80, hier S. 55.
Männlichkeit und Antisemitismus
ein, entführte den Inhaftierten und kastrierte ihn auf brutalste Art und Weise.3 Analog zu der während des Leo Frank-Case im Anti-Frank-Lager extrem wirkmächtigen Vorstellung, ‚Juden‘ verfügten über die Macht, die Rechtsprechung in ihrem Interesse zu lenken, rechtfertigten die Vigilanten die Tat unter anderem mit dem Hinweis, dass sie vermeiden wollten, dass Needleman durch das Geld seines Vaters vor der gerechten Strafe bewahrt werde.4 Auch wenn sich die beiden geschilderten Fälle in diversen Aspekten unterscheiden, weisen sie doch wichtige Gemeinsamkeiten auf, die zum einen Aufschluss darüber geben, welchen Gefahren jüdische Männer potenziell ausgesetzt waren, wenn sie in das Fadenkreuz angloamerikanischer Männer gerieten. Zum anderen verdeutlichen sie, welche Bedrohungen in den 1920er Jahren mit ‚Juden‘ assoziiert wurden. Während die Imagination ‚jüdischer‘ Männer als Aggressoren gegenüber weiblicher Tugendhaftigkeit bereits in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts im Süden verbreitet war, zeigte sich in der Brutalität dieser Fälle eine neue Qualität des Antisemitismus, die sich auch in weiteren gewaltsamen Übergriffen manifestierte.5 Es scheint zu einer deutlichen Aufwertung des ‚Juden‘ zugeschriebenen Bedrohungspotenzials gekommen zu sein, was wiederholt zu antijüdischen Gewalttaten führte. Wie in den vorherigen Kapiteln gezeigt, war der Leo Frank-Case für die Befeuerung des antisemitischen Ressentiments von herausragender Bedeutung. Dies zeigte sich unter anderem darin, dass Vorstellungen von einer unmoralischen und bedrohlichen ‚jüdischen‘ Sexualität im Anschluss an die zwei Jahre andauernde Affäre wesentlich dichter und stärker verbreitet waren. Die gesteigerte Bedrohungswahrnehmung gegenüber ‚Juden‘ innerhalb des wiederbelebten Ku-Klux-Klan (KKK) bildet den Gegenstand dieses Kapitels. In diesem Zusammenhang sollen unter anderem folgende Fragen untersucht werden: In welcher Form übte der Leo Frank-Case Einfluss auf den harschen Antisemitismus im zweiten Klan aus? Lassen sich Kontinuitäten zwischen den während der zweijährigen Affäre vorgenommenen Konstruktionen und den im Klan vorhandenen 3 4
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[Unbekannt], „Mob Mutilates Joe Needleman.“ In: The News and Observer, 30.3.1925, S. 1. Bei dem Vater von Joseph Needleman handelte es sich wohlgemerkt um einen armen Immigranten aus Russland (Newkirk, „Spirit Must Be Stamped Out“, S. 55). Die wie selbstverständlich getroffene Annahme, dass ‚Juden‘ über derartige finanzielle Reichtümer verfügen würden, um Träger öffentlicher Ämter zu bestechen und somit in ihrer Entscheidungsfindung zu manipulieren, verweist auf die tiefe Verankerung der antisemitischen Imagination einer von ‚Juden‘ ausgehenden und mit Geld abgesicherten Subversion der republikanischen Ordnung und Institutionen. Für eine detaillierte Schilderung des Falls siehe u. a. Newkirk, „Spirit Must be Stamped Out.“ Ders., S. 53.
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Männlichkeit und Antisemitismus
Vorstellungen von ‚Juden‘ feststellen? In welcher Form unterschied sich der Antisemitismus des Ku-Klux-Klan von dem des Anti-Frank-Lagers? Im Hinblick auf die Untersuchung dieses Komplexes geht die Arbeit von der These aus, dass der Leo Frank-Case der antisemitischen Programmatik der Knights of the Ku Klux Klan den Boden bereitete, da er die Funktion eines Kristallisationspunktes eines modernen Antisemitismus einnahm. Der nur einige Wochen nach dem Lynching Franks gegründete Geheimbund war also bis in seinen programmatischen Kern hinein aufs engste mit der Affäre verflochten. Indem der Leo Frank-Case einerseits die zuvor verstreuten, losen und inkohärenten antisemitischen Stränge und Versatzstücke zu einer modernen antisemitischen Weltsicht synthetisierte und andererseits eine breite Öffentlichkeit über einen Zeitraum von zwei Jahren mit antisemitischen Konstruktionen konfrontierte, wurde es möglich, dass Antisemitismus eine derart zentrale Position innerhalb der Programmatik des KKK einnehmen konnte. Um den Zusammenhang zwischen der Herausbildung eines modernen Antisemitismus zur Zeit des Leo Frank-Case und dem vom KKK vertretenen Antisemitismus genauer zu untersuchen, werde ich in einem ersten Schritt die Verwobenheit des Leo FrankCase mit der Gründung des zweiten Klans analysieren.
5.1 Der Leo Frank-Case und die Neugründung der Knights of the Ku Klux Klan Anfang September 1915, also gut einen Monat nach dem Lynching des jüdischen Fabrikleiters, analysierte Thomas Watson die Situation des Südens. Seine Weltwahrnehmung war nach wie vor von der Idee eines von ‚Juden‘ geführten Feldzugs gegen den Süden geprägt. Fieberhaft suchte er nach Strategien, um dem ‚jüdischen Treiben‘ ein Ende zu setzen und Ehre und Ansehen des Südens wiederherzustellen. So schrieb er in einem Artikel im The Jeffersonian: The Jews of Georgia could not do a wiser thing, right now, than to put a quietus on the Jews of the North. We’ve already stood as much villification [sic!] and abuse as we intend to put up with; and we will meet the ‚Leo Frank League‘ with a Gentile League, if they provoke us much further. WOMANHOOD MUST BE, AND SHALL BE PROTECTED and we mean to have that fact thoroughly understood by lascivious young Jews.6 6
[Thomas Watson?], „When Are the Northern Jews Going to Let Up on Their Insane Attempt to Bulldoze the State of Georgia?“ In: The Jeffersonian, 2.9.1915, S. 1.
Der Leo Frank-Case
Mit der Forderung nach Gründung einer als Defensivmaßnahme imaginierten Organisation rekurrierte Watson auf die jüngere Geschichte in den Südstaaten, präziser, auf die Geschichte des ersten Ku-Klux-Klan. Als Begründung für dessen Reanimierung bemühte er jedoch nicht, wie der Klan der Reconstruction Era, unmittelbar das Schreckgespenst der vermeintlichen Subordination angloamerikanischer Menschen unter ‚afroamerikanische‘, sondern verwies auf die angebliche Gefahr, die von ‚Juden‘ für den Süden im Allgemeinen und angloamerikanische Frauen im Besonderen ausgehe. Damit trug Watson einer veränderten Bedrohungswahrnehmung Rechnung und propagierte die Wiederbelebung des Ku-Klux-Klan mit einer modifizierten Programmatik und Stoßrichtung. Der von Watson artikulierte Wunsch nach Reaktivierung des Klans war also gekennzeichnet durch eine Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Wandel. Der erste KKK wurde im Mai oder Juni 1868 in Pulaski, Tennessee, von Veteranen der Konföderierten Armee gegründet. Innerhalb kurzer Zeit wurde der Klan zu einer Organisation, die im gesamten Süden, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, aktiv war und terroristische Akte gegen Afroamerikaner_innen und als Carpetbagger respektive Scalawag bezeichnete Republikaner verübte. Insbesondere sexualisierte Gewalt gehörte zum Repertoire der selbst ernannten Beschützer angloamerikanischer Frauen, so dass Kathleen Blee den Männerbund als einen „Experten für die Anwendung sexueller Gewalt“ bezeichnet.7 Während der Klan den Süden mit einer Terrorwelle überzog, die darauf abzielte, die White Supremacy wiederherzustellen, wurde er zeitgenössisch häufig als eine Kraft wahrgenommen, die für das Ende der vermeintlichen Unterordnung angloamerikanischer Südstaatler_innen unter ‚Afroamerikaner‘ sowie die Beendigung der daraus resultierenden Angriffe ‚afroamerikanischer‘ Männer auf angloamerikanische Frauen kämpfe. Als Hauptverantwortliche für diese Entwicklungen wurden, wie bereits dargelegt, Carpetbagger und Scalawags identifiziert. Die ‚Pervertierung‘ einer als in der Natur begründet verstandenen Hierarchie zwischen angloamerikanischen und ‚afroamerikanischen‘ Menschen, so der Vorwurf des ersten Klans, habe ihnen als Instrument gedient, den Süden zu unterwerfen und auszuplündern.8 7 8
Kathleen M. Blee, Women of the Klan: Racism and Gender in the 1920s. Berkeley et al.: University of California Press 2009, S. 13. Zur Konstruktion der Figuration des Carpetbaggers sowie zu zeitgenössischen Vorstellungen einer von ihnen ausgehenden Verschwörung gegen den Süden siehe Kapitel 2 der vorliegenden Arbeit. Siehe u. a. auch Kelly J. Baker, Gospel According to the Klan: The KKK’s Appeal to Protestant America, 1915–1930. Lawrence: University of Kansas Press 2011, S. 7 f.
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Männlichkeit und Antisemitismus
Die Verabschiedung des Ku Klux Klan Act im Jahr 1871 und die damit einhergehende Ausweitung der Befugnisse der Zentralregierung führten zu einer deutlichen Steigerung des Ermittlungsdrucks gegen den Klan.9 Zusätzlich hatte sich der Klan, so argumentieren Michael Newton und Judy Ann Newton, auf Grund der politischen Erfolge der Demokratischen Partei und der Restauration der White Supremacy im Süden überlebt.10 Kathleen M. Blee wiederum sah neben dem von der Bundesregierung ausgeübten Druck die Hauptursachen für den Zerfall des Klans primär in der mangelhaften Organisation und der fehlenden politischen Zielsetzung.11 Wie auch immer die unterschiedlichen Erklärungsansätze zu beurteilen sind, fest steht, dass der Klan in den frühen 1870er Jahren sein vorübergehendes Ende fand.12 Während sich in den anschließenden Dekaden einige Südstaatler_innen kritisch zu dem brutalen Vorgehen des Ku-Klux-Klan äußerten, genoss er bei vielen wegen der ihm zugeschriebenen Verteidigung des Südens gegen Unterdrückung und Ausbeutung hohes Ansehen und hinterließ somit in deren Weltwahrnehmung tiefe Spuren.13 Der Hopkinsville Kentuckian beschrieb am 30. Januar 1908 in der Besprechung des Theaterstücks The Clansman die Taten des rassistischen Männerbundes enthusiastisch als Rettung der „weißen Zivilisation“ vor Barbarei und „negro mongrelism“.14 Zeitgenoss_innen verklärten die Taten des Klans, indem sie die terroristischen Gewaltakte vom 9
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Zum Ku Klux Klan Act von 1871 siehe u. a. Allen W. Trelease, White Terror: The Ku Klux Klan Conspiracy and Southern Reconstruction. Westport et al.: Greenwood Press 1971, S. 388–392. Michael Newton und Judy Ann Newton, „Preface.“ In: dies. (Hg.), The Ku Klux Klan: An Encyclopedia. New York et al.: Garland Publishing Inc. 1991, S. ix. Blee, Women of the Klan, S. 16. Eric Foner, Reconstruction: America’s Unfinished Revolution 1863–1877. New York: Harper & Row Publishers 1988, S. 454–459; Trelease, White Terror, S. 383–423; Lou Falkner Williams, The Great South Carolina Ku Klux Klan Trials, 1871–1872. Athens et al.: The University of Georgia Press 2004. Zur Kritik am Ku-Klux-Klan siehe u. a. [unbekannt], „Settlement of the Race Conflict.“ In: Ocala Banner, 8.11.1907, S. 7; [unbekannt], „Blood and Iron.“ In: The Ocala Evening Star, 21.8.1900, S. 4; William Garrott Brown, The Lower South in American History. New York: The Macmillan Company 1902, S. 191–225; T. W. Gregory, Reconstruction and the Ku Klux Klan: A Paper Read before the Arkansas and Texas Bar Association, July 10, 1906. Library of Congress, Washington, D. C. (im Folgenden LoC), Ku Klux Klan Pamphlets (im Folgenden: KKKP), Box 1, Folder 12; Michael J. Martinez, Carpetbaggers, Cavalry, and the Ku Klux Klan: Exposing the Invisible Empire during Reconstruction. Lanham et al.: Rowman & Littlefield Publishers 2007, S. 213; [unbekannt], „Costumes and the Traitor.“ In: The Pensacola Journal, 25.10.1908, S. 14; W. D. Wood, „The Ku Klux Klan.“ In: The Quarterly of the Texas State Historical Associaton, Jg. 9, Nr. 4 (April 1906), S. 262–268. [Unbekannt], „See ‚the Clansman‘.“ In: Hopkinsville Kentuckian, 30.1.1908, S. 8.
Der Leo Frank-Case
‚eigentlichen‘ Geheimbund abspalteten. Sie identifizierten andere Männer, die sie als Verräter des Südens diffamierten, als die Verantwortlichen und reinigten somit den Ku-Klux-Klan von den von ihm begangenen Morden und anderen Verbrechen.15 Bereits in den 1890ern und 1900ern hatte sich diese revisionistische Perspektive auch in zeitgenössischen wissenschaftlichen Strömungen im Norden verankert. Die nach William Archibald Dunning, einem Geschichtsprofessor an der Columbia University, benannte Dunning School war maßgeblich an der Verbreitung des euphemistischen Bildes vom Ku-Klux-Klan beteiligt. Jedoch stieß dieser Revisionismus nicht nur innerhalb der Community der Historiker_innen auf große Resonanz. Um die Jahrhundertwende war er zu einem Phänomen des Mainstreams geworden.16 Die Verklärung des KKK der Reconstruction Era sowie die ihr zugrundliegende Vorstellung von angloamerikanischen Südstaatler_innen als Opfern von Carpetbaggern, Scalawags sowie ‚Afroamerikanern‘ beeinflussten auch die Auseinandersetzungen mit den Knights of the Ku Klux Klan in den 1920er Jahren. Der Kampf des reanimierten Invisible Empire gegen empfundene gesellschaftliche Missstände wurde auf dieser Folie der Verklärung des ersten Ku-Klux-Klan gelesen. Die positive Perspektive auf die geheimbündlerische Terrororganisation der Reconstruction Era übte somit einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Haltung vieler Zeitgenoss_innen gegenüber deren Nachfolgeorganisation aus. In The Darker Phases of the South (1924), also zur Hochzeit des KKK, beschrieb Frank Tannenbaum, Soziologe und späterer Historiker an der Columbia University, den Terror des ersten Klans gegen das vermeintlich korrupte Regime der Carpetbagger als Fundament des Erfolges des Geheimbundes in den 1920er Jahren: The original Ku Klux Klan was a reflex of the vindictiveness of Northern politicians and of the unscrupulous carpet-bagger who swooped down upon the South as a vulture upon a wounded and stricken victim. It was a desperate act of self-assertion and self-defense. It was an attempt to rescue for the South the remnants of a civilization that was being subverted by coarse hands and without regard for the feelings of an outraged and unhappy community. All of this has given the Ku Klux Klan a sacred place in the storied traditions of the South. It saved its self-
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[Unbekannt], „The Traitor on Nov. 8.“ In: The Pensacola Journal, 27.10.1908, S. 8. Shawn Lay, „Introduction.“ In: ders. (Hg.): The Invisible Empire in the West: Toward a New Historical Appraisal of the Ku Klux Klan of the 1920s. Urbana et al.: University of Illinois Press 2004, S. 1–16, hier S. 3 f.
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Männlichkeit und Antisemitismus
respect, its sense of mastery, its place in the community. It drove the carpet-bagger across the Mason and Dixon’s Line and uprooted his evil influence. This helps to explain the present vogue of the Ku Klux Klan.17
Mit der Ausbreitung der revisionistischen Perspektive vom Süden in den Norden, die sich zum Beispiel in den großen, bundesweiten Erfolgen des von Thomas Dixon 1905 verfassten Buches The Clansman sowie von dessen Verfilmung The Birth of a Nation von D. W. Griffith aus dem Jahre 1915 widerspiegelte, wurde das Fundament für den kometenhaften Aufstieg des Klans als einer über den Süden hinaus agierenden, nationalen Organisation gelegt.18 Während des Leo Frank-Case bezog sich auch das Anti-Frank-Lager wiederholt positiv auf den Klan. Thomas Watson rühmte den Klan in einem Artikel mit dem Titel „‚Success Say We to the Klux!‘“ mit folgenden Worten: „The Ku Klux were the Vigilantes who rose, lawlessly, to defend Southern homes, Southern women, Southern civilization. […] They helped to chase the carpetbaggers away, to subdue the uppity nigger, and to restore Home Rule.“19 Zeitgenoss_innen zelebrierten die dem Klan und ähnlichen Gruppierungen wie den Knights of the White Camelia zugeschriebene Befreiung des Südens von der Herrschaft der Carpetbagger, Scalawags und ‚Afroamerikaner‘ als heroischen Beitrag zur Rettung der republikanischen Ordnung.20 Den Süden in einer ähnlichen Situation wie während der Reconstruction Era wähnend, propagierten sie die Wiederbelebung des terroristischen Geheimbundes, um die wahrgenommene Krise, zu deren Hauptverantwortlichen nun allerdings ‚Juden‘ gemacht wurden, zu überwinden. Zeitgenoss_innen begriffen die Reanimierung des Klans als ideale Strategie, um der wahrgenommenen erneuten Invasion des Südens entgegenzuwirken und deren Repräsentanten, die Carpetbagger beziehungsweise die 17 18
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Frank Tannenbaum, Darker Phases of the South. New York et al.: G. P. Putnam’s Sons 1924, S. 6. Thomas Dixon, The Clansman: An Historical Romance of the Ku Klux Klan. Gretna: Pelican Publishing Company 2005. Zum Erfolg von The Birth of a Nation siehe u. a. Sonya Michel, „The Reconstruction of White Southern Manhood.“ In: Norbert Finzsch und Jürgen Martschukat (Hg.): Different Restorations: Reconstruction and „Wiederaufbau“ in the United States and Germany: 1865 – 1945 – 1989. Providence et al.: Berghahn Books 1996, S. 140–164; Melvyn Stokes, D. W. Griffith’s The Birth of a Nation: A History of the Most Controversial Motion Picture of All Time. New York et al.: Oxford University Press 2007. [Thomas Watson?], „Success Say We to the Klux!“ In: The Jeffersonian, 28.10.1915, S. 5. Ders., „Professor Powell, of Valdosta, Tells Mankind Why the South Is So Lawless, Meany and Abominable.“ In: The Jeffersonian, 11.5.1916, S. 6 f., hier S. 7.
Der Leo Frank-Case
„Jew Carpetbagger“, zu vertreiben.21 So entwarf Watson, von einem Konflikt zwischen einer vermeintlichen „Leo Frank League“ und einer „Gentile League“ ausgehend, die Knights of the Ku Klux Klan bereits Wochen vor deren Neugründung als einen Geheimbund, dem die Aufgabe zukomme, der vermeintlichen Unterdrückung durch ‚Juden‘, ‚Katholiken‘ und Yankees ein Ende zu bereiten und somit die Ehre des Südens und die daran gekoppelte Männlichkeit zu rekonstituieren.22 Da ‚Juden‘ im Gegensatz zur Reconstruction Era als Initiatoren und signifikante, wenn nicht gar dominante Bestandteile dieser Invasion wahrgenommen wurden, galt es, die Stoßrichtung des zukünftigen Klans der zeitgenössischen Bedrohungswahrnehmung anzupassen. Somit nahmen die vermeintlich von ‚Juden‘ ausgehenden und gegen den Süden gerichteten Aktivitäten eine zentrale Rolle in Watsons Begründung der Notwendigkeit einer Wiederbelebung des KKK zur Rettung der Südstaaten ein.23 Auch in der (Populär-)Historiographie wurden der Leo Frank-Case und Thomas Watson mehrfach als Wegbereiter der Knights of the Ku Klux Klan identifiziert. Die Großnichte Mary Phagans, Mary Phagan Kean, verstand in dem von ihr verfassten Buch, The Murder of Little Mary Phagan, den Leo Frank-Case als Impuls für die Neugründung des KKK.24 Auch die Religionswissenschaftlerin Kelly Baker sah in den Knights of Mary Phagan die Wegbereiter für die 21 22
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Ders., „The State versus John M. Slaton.“ In: The Jeffersonian, 23.9.1915, S. 1. Ders., „When Are the Northern Jews Going to Let Up on Their Insane Attempt to Bulldoze the State of Georgia?“ In: The Jeffersonian, 2.9.1915, S. 1; ders, „Mayor Woodward’s Speech“, 2.9.1915, S. 7. Damit soll nicht gesagt werden, dass der zweite Klan ‚Juden‘ letztendlich als Hauptwidersacher begriff. Als mindestens ebenso bedrohlich für die Aufrechterhaltung der politischen, sozioökonomischen und kulturellen Ordnung des Südens wurden ‚Afroamerikaner‘ und ‚Katholiken‘, aber auch protestantische Angloamerikaner_innen, die vermeintlich gegen die evangelikalen Moralvorstellungen verstießen, begriffen. Wie zu Zeiten der Reconstruction richtete sich die Gewalt des Klans sehr häufig gegen African Americans. Aber auch protestantische Angloamerikaner_innen, Katholik_innen und Mormon_innen wurden oft Opfer von gewalttätigen Übergriffen (Betty A. Dobratz und Stephanie L. Shanks-Meile, ‚White Power, White Pride!‘: The White Separatist Movement in the United States. New York: Twayne Publishers 1997, S. 176; Nancy MacLean, Behind the Mask of Chivalry: The Making of the Second Ku Klux Klan. New York et al.: Oxford University Press 1994, S. 149–171). Juden wiederum wurden zumindest im Süden allein wegen ihrer geringen Anzahl relativ selten Opfer von Gewalttaten. Dennoch gerieten auch Juden wiederholt ins Fadenkreuz und wurden zum Ziel physischer Übergriffe. Mary Phagan Kean, The Murder of Little Mary Phagan. Far Hills: New Horizon Press 1987, S. 28, 237.
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Männlichkeit und Antisemitismus
Knights of the Ku Klux Klan.25 Nancy MacLean beschreibt in ihrem Buch Behind the Mask of Chivalry wesentliche Übereinstimmungen zwischen der politischen Agenda Watsons und der Programmatik und Rhetorik des wiederbelebten Geheimbundes. Zusätzlich sah sie den Vorbildcharakter Watsons auch darin zum Ausdruck kommen, dass sich einige Ortsgruppen nach ihm benannten und er unter Klanmitgliedern eine außerordentliche Reputation genoss. Auch habe die Zugehörigkeit zum Pro-Frank- respektive Anti-Frank-Lager ihre Entsprechung in einer jeweils ablehnenden beziehungsweise unterstützenden Haltung gegenüber dem KKK gefunden.26
5.2 Aufstieg und Niedergang des Ku-Klux-Klan Im Oktober 1915 versammelten sich auf Initiative des ehemaligen Pfarrers William J. Simmons 34 angloamerikanische Männer, um an der Neugründung der Knights of the Ku Klux Klan mitzuwirken. Die Verbrennung eines hölzernen Kreuzes auf dem Gipfel des Stone Mountain nahe Atlanta bildete den Auftakt. Die Gründungsmitglieder setzten sich fast ausschließlich aus Männern zusammen, die bereits Teil des Lynchkommandos The Knights of Mary Phagan gewesen waren. Dazu gesellten sich zwei Männer, die bereits im Klan der Reconstruction Era aktiv gewesen waren.27 Atlanta, der Schauplatz des Leo Frank-Case, war jedoch nicht nur der Ort der Neugründung des Klans, sondern auch die Heimat für dessen Hauptquartier. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger blieb der zweite Klan jedoch nicht auf den Süden beschränkt. Vielmehr wurde er zu einer nationalen Organisation mit Chaptern in allen Bundesstaaten der USA. In den ersten Jahren wurden die Knights of the Ku Klux Klan von Simmons geleitet, der auch federführend in die Gründung involviert gewesen war.28 In dieser Zeit hatte die Organisation mit diversen Schwierigkeiten zu kämpfen. Obwohl das gesellschaftliche Klima zur Zeit des Ersten Weltkrieges von einem starken Nativismus geprägt war, konnten die Knights of the Ku Klux Klan anfänglich 25 26 27 28
Baker, Gospel, S. 4. MacLean, Mask of Chivalry, S. 49 f. Wyn Craig Wade, The Fiery Cross: The Ku Klux Klan in America. New York: Simon and Schuster 1987, S. 144 f. Bereits als Kind träumte Simmons von der Wiederbelebung des Klans (David M. Chalmers, Hooded Americanism: The First Century of the Ku Klux Klan, 1865–1965. New York: Doubleday & Company 1965, S. 28).
Aufstieg und Niedergang des Ku-Klux-Klan
nicht davon profitieren.29 Trotz früher Bemühungen, die Organisation auf alle Sektionen der USA auszudehnen, blieben die Mitgliedszahlen auf niedrigem Niveau.30 In den ersten fünf Jahren hatte der Klan nicht mehr als 5.000 Mitglieder und konnte praktisch keinerlei öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Zusätzlich stand der Männerbund in dieser Zeit auch vor dem finanziellen Aus.31 Dies sollte sich jedoch Anfang der 20er Jahre schlagartig ändern. Nachdem Simmons 1920 die erfahrenen PR-Manager_innen Edward Young Clarke und Elizabeth Tyler für den Klan gewinnen konnte, nahm ein rasanter Aufstieg der Organisation seinen Anfang.32 Der KKK konnte in den boomenden Ölstaaten Texas, Oklahoma und Louisiana Fuß fassen und dort bis Anfang 1921 zehntausende Mitglieder hinzugewinnen. Begleitet wurde diese erste Phase der Expansion des Klans über Georgia und Alabama hinaus von einer Reihe brutaler Übergriffe auf Menschen, deren Verhalten im Widerspruch zur Weltsicht des Geheimbundes stand.33 Der massive Einsatz von Gewalt verbreitete unter potenziellen Opfern Angst und Schrecken und brachte den KKK in die Schlagzeilen der nationalen Presse. Angeführt von der New York World druckten viele Zeitungen und Magazine ausführliche Berichte, die den vom Klan ausgehenden Terror thematisierten. Letztendlich kam es auf Grund der Presseberichterstattung im Oktober 1921 zu Anhörungen des Congressional House Rules Committee, in denen untersucht wurde, ob Gründe für eine bundesstaatliche Untersuchung gegen den Klan vorlägen.34 Diese verliefen in den folgenden Monaten jedoch ergebnislos, was nach Ansicht des Historikers Shawn Lay zu einem gewissen Grad als Billigung der Organisation interpretiert werden kann.35
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Michael Newton, The Invisible Empire: The Ku Klux Klan in Florida. Gainesville et al.: University Press of Florida 2001, S. 36. Zu den Ursachen für die verhaltene Resonanz auf den Klan in den ersten Jahren seines Bestehens siehe u. a. MacLean, Mask of Chivalry, S. 14 f. Leonard Dinnerstein, The Leo Frank Case. Athens: The University of Georgia Press 2008, S. 149 f.; John Higham, Strangers in the Land: Patterns of American Nativism, 1860–1925. New Brunswick: Rutgers University Press 1955, S. 288; Lay, „Introduction“, In: ders. (Hg.), Invisible Empire, S. 7; Clement Charlton Moseley, „The Political Influence of the Ku Klux Klan in Georgia, 1915–1925.“ In: The Georgia Historical Quarterly, Jg. 57, Nr. 2 (Sommer 1973), S. 235–255, hier S. 235. Blee, Women of the Klan, S. 20. Charles C. Alexander, The Ku Klux Klan in the Southwest. Lexington: University of Kentucky Press 1965, S. 41–53. Chester L. Quarles, The Ku Klux Klan and Related American Racialist and Antisemitic Organizations: A History and Analysis. Jefferson: McFarland & Company, Inc., 1999, S. 61. Lay, „Introduction.“ In: ders. (Hg.), Invisible Empire, S. 7 f.
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Ende 1922, nachdem der aus Texas stammende Zahnarzt Hiram Wesley Evans nach Konflikten mit Simmons die Führung des Klans übernommen hatte, war der Geheimbund bereits in allen Sektionen der USA verankert.36 Noch einige Jahre zuvor um seine Existenz ringend verfügte er 1923 über eine Million Mitglieder, darunter so prominente und einflussreiche Persönlichkeiten und Politiker wie der damalige Gouverneur von Georgia, Cliff Walker. Den Zenit seiner Macht erreichte der Klan gegen Mitte der 1920er Jahre. Nach Robert Michael belief sich die Mitgliederzahl im Jahr 1924 auf über vier Millionen. Darunter befanden sich nach seinen Angaben mehr als 40.000 Pastoren, denen auf Grund ihrer (moralischen) Position und des daraus resultierenden Einflusses auf ihre jeweiligen Gemeindemitglieder eine große Bedeutung bei der Streuung der Weltsicht des Klans zukam.37 Allan J. Lichtman wiederum geht davon aus, dass der Klan auf dem Höhepunkt seiner Ausbreitung über eine Mitgliederzahl von drei bis sechs Millionen verfügte.38 Im selben Jahr gelang es der streng hierarchisch strukturierten Organisation beinahe, die National Convention der Demokratischen Partei in New York zu dominieren. Auf der Veranstaltung konnten Klanmitglieder oder Sympathisanten beachtliche Kräfte für ihr Anliegen mobilisieren, ein Parteiprogramm zu verhindern, das die Verurteilung von Geheimorganisationen beinhaltete.39 Auch die Verabschiedung des Immigration Restriction Act von 1924 kann als politischer Erfolg des Klans bewertet werden.40 Die Organisation konnte darüber hinaus sowohl auf die Auswahl von Kandidaten wie auch den Ausgang von Wahlen beachtlichen Einfluss ausüben. Zwischen 1922 und 1925 hatte der Ku-Klux-Klan Anteil an der Wahl von sieben Gouverneuren und drei U. S. Senatoren.41 Mitte der 20er Jahre war der Klan nach Ansicht der Historikerin Nancy MacLean zur bis dato größ36
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Blee, Women of the Klan, S. 22; David A. Horowitz, Inside the Klavern: The Secret History of a Ku Klux Klan of the 1920s. Carbondale et al.: Southern Illinois University Press 1999, S. 3; Wade, Fiery Cross, S. 218. Robert Michael, A Concise History of American Antisemitism. Lanham et al.: Rowman & Littlefield Publishers 2005, S. 137. Allan J. Lichtman, White Protestant Nation: The Rise of the American Conservative Movement. New York: Atlantic Monthly Press 2008, S. 42. Yvonne Brown, „Tolerance and Bigotry in Southwest Louisiana: The Ku Klux Klan, 1921–1923.“ In: Louisiana History, Jg. 47, Nr. 2 (Frühjahr 2006), S. 153–168, hier S. 153 f.; Steve Oney, And the Dead Shall Rise. New York: Pantheon Books 2003, S. 615 f.; Rory McVeigh, „Power Devaluation, the Ku Klux Klan, and the Democratic Convention of 1924.“ In: Sociological Forum, Jg. 16, Nr. 1 (März 2001), S. 1–30. Wade, Fiery Cross, S. 195. Horowitz, Inside the Klavern, S. 4.
Aufstieg und Niedergang des Ku-Klux-Klan
ten und mächtigsten rechtsradikalen Organisation in der Geschichte der USA geworden.42 Allerdings war diese Phase des Booms und der Expansion nur von relativ kurzer Dauer. Ebenso schnell wie sich der Klan in der ersten Hälfte der 1920er von einer kleinen Splittergruppe zu einer sich über die gesamten USA erstreckenden Massenbewegung gewandelt hatte, versank er bereits nach einigen Jahren wieder in der Bedeutungslosigkeit. Eine Ursache für diesen rasanten Niedergang bildete die sich 1925 ereignende Oberholtzer-Stephenson-Affäre, die dramatische Effekte auf die öffentliche Wahrnehmung des Männerbundes hatte. Der Skandal um die Entführung, Vergewaltigung und den Tod einer jungen, angloamerikanischen Frau, Madge Oberholtzer, durch D. C. Stephenson, Indianas Grand Dragon und zweitem Kopf des KKK, erschütterte die Glaubwürdigkeit der Organisation, die ihre Gewalt häufig mit dem Schutz angloamerikanischer Frauen legitimiert hatte.43 Der Bestsellerautor Meredith Nicholson beschrieb den Klan im Anschluss an die Affäre als einen „Haufen Abenteurer“.44 Es kam zu massenhaften Austritten. In Indiana verlor der Klan innerhalb eines Jahres über 95 Prozent seiner Mitglieder. Kelly Baker beschrieb die Wirkung, die die Oberholtzer-Affäre entfaltete, wie folgt: „Thus little Mary [Mary Phagan, K. K.] and Madge became the bookends of the Klan’s American saga, idealistic strivings countered by tarnished realities.“45 Weitere Ereignisse wie der Scopes-Trial trugen zusätzlich zum raschen Niedergang des Geheimbundes bei.46 In Georgia, dem Heimatstaat des Klans, wurden im Jahre 1926 sämtliche Kandidaten, die der KKK unterstützte, bereits in den Vorwahlen geschlagen. Von den über vier Millionen Mitgliedern im Jahr 1924 waren sechs Jahre später lediglich 45.000 Klansmen übrig geblieben. 1930 hatte das Invisible Empire im Norden sämtlichen Rückhalt verloren und war wieder zu einer Organisation des Südens geworden.47 Allerdings war sein Niedergang nicht gleichbedeutend mit einem Bedeutungsverlust der vom Klan verfochtenen Werte, Einstellungen und Sichtweisen. Ursächlich dafür war die starke Verankerung zentraler vom Klan vertrete42
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Nancy MacLean, „The Leo Frank Reconsidered: Gender and Sexual Politics in the Making of Reactionary Populism.“ In: The Journal of American History, Jg. 78, Nr. 3 (Dezember 1991), S. 917–948, hier S. 946. Siehe u. a. Baker, Gospel, S. 226–230. Zitiert nach: Wade, Fiery Cross, S. 246. Baker, Gospel, S. 226. Wade, Fiery Cross, S. 248. Blee, Women of the Klan, S. 94–96; Wade, Fiery Cross, S. 239–253.
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ner Einstellungen innerhalb des Mainstreams der US-Gesellschaft. Nativismus, evangelikaler Protestantismus, die Ideologie der White Supremacy, ein rabiater Antikatholizismus und Antisemitismus waren keine Phänomene, die sich auf den Geheimbund begrenzten und mit dessen Untergang wieder verschwanden. Vielmehr waren sie feste Bestandteile der politischen Kultur der 20er Jahre. Insofern lässt sich auch für die Zeit nach dem Untergang des KKK festhalten, dass die von ihm vertretenen gesellschaftlichen Vorstellungen eine immense Wirkmacht innerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika entfalteten.48
5.3 Die Knights of the Ku Klux Klan in der Historiographie Zu den Knights of the Ku Klux Klan sind bisher eine Vielzahl an Monographien und Aufsätzen erschienen, die sich der Entstehung, dem kometenhaften Aufstieg sowie dem ebenso rasanten Niedergang des Geheimbundes widmen. In dem bereits 1955 erschienenen Klassiker Strangers in the Land begriff John Higham die Entstehung und den Aufstieg des KKK als Resultat des zu der Zeit in den USA weitverbreiteten Nativism. Unter Nativism verstand Higham nicht eine bloß nationalistische Einstellung, sondern er fasste damit eine bestimmte Form des Nationalismus, die sich in einer entschiedenen Gegnerschaft der Mehrheitsgesellschaft gegenüber einer oder mehreren Minderheiten äußerte. Dabei wurde/n letztere als fremdartig beschrieben und als eine von innen ausgehende Gefahr für die Nation wahrgenommen.49 Im Verlauf der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts seien auch zunehmend antisemitische Versatzstücke in den Nativismus integriert worden. Laut Higham bereitete diese in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts wirkmächtige Form des Nativism, die er auf Grund der großen Bedeutung antikatholizistischer und antijudaistischer Elemente als religiös eingefärbt beschrieb, den Boden für den raschen Aufstieg des Klans. Dieser deutlich veränderte historische Kontext, in den der zweite Klan eingebettet war, führte in Highams Augen zu starken programmatischen Differenzen zwischen dem ersten und dem zweiten Klan. Während der Klan in der Reconstruction Era die Befreiung des Südens von der Herrschaft des Nordens und damit verbunden die Restauration der White Supremacy angestrebt hatte, habe der zweite die Grenze nicht entlang der Color Line, sondern zwischen protestantischen US-Amerikaner_innen und ‚dem Rest‘ gezogen. Auch ‚Katholiken‘, 48 49
Baker, Gospel, S. 228–231. Higham, Strangers, S. 4.
Die Knights of the Ku Klux Klan
‚Juden‘ und Angloamerikaner, denen deviantes und gegen die protestantische Moral verstoßendes Verhalten vorgeworfen wurde, galten als Feinde der USA.50 Die Annahme einer Verbindung zwischen einer Zunahme an nativistischen Einstellungen und dem Aufstieg der Knights of the Ku Klux Klan wurde von anderen Historiker_innen geteilt und aufgegriffen.51 Trotz der übereinstimmenden Charakterisierung des Klans als einer – um nur einige Eigenschaften zu nennen – nationalistischen, rassistischen, antisemitischen und antikatholischen Organisation werden in der bisherigen Forschung signifikant unterschiedliche Erklärungen für den Erfolg des Männerbundes angeboten. Zusätzlich herrscht in der Historiographie Uneinigkeit darüber, wie der Charakter und die Programmatik des Klans konkret zu verstehen seien. Eine Ursache für diesen Dissens stellt der ambivalente Charakter des Klans dar, oder wie es der Historiker Thomas R. Pegram formulierte: „Its [des Klans, K. K.] mixture of the commonplace and the extreme, its civic expression and violent outbreaks.“52 Leonard J. Moore sieht die historiographischen Auseinandersetzungen mit den Knights of the Ku Klux Klan bis in die 1960er von Erklärungsansätzen dominiert, die bereits in den 1920er Jahren entwickelt worden waren. In diesen Analysen wurden Klanmitglieder als hinterwäldlerisch, ungebildet und ländlich begriffen. Mangelnde Bildung, Armut und andere Umstände zeitgenössischen ländlichen Lebens galten als Ursachen des Hasses gegenüber den Menschen, die der Klan als Widersacher_innen seiner nativistischen und evangelikalen Programmatik und damit als Feinde der USA ausmachte. Die Entstehung des Geheimbundes wurde in diesem Narrativ als eine irrationale Reaktion ungebildeter und rückständiger Bevölkerungsgruppen auf die gesellschaftliche Modernisierung verstanden.53 So charakterisierte der Soziologe John M. Mecklin in seinem 1924 erschienenen Werk The Ku Klux Klan einfache Mitglieder, aber auch führende Personen des Klans wiederholt als „ungebildet“.54 Frank Tannenbaum beschrieb die ländliche oder kleinstädtische Alltagskultur, die er 50 51 52 53
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Ders., S. 287 f. Chalmers, Hooded Americanism, S. 109–114; Wade, Fiery Cross, S. 147–149. Thomas R. Pegram, One Hundred Percent American: The Rebirth and Decline of the Ku Klux Klan in the 1920s. Chicago: Ivan R. Dee 2011, S. 221. Baker, Gospel, S. 8; Leonard J. Moore, „Historical Interpretations of the 1920s Klan.“ In: Lay (Hg.), Invisible Empire, S. 17–38, hier S. 17–19; Pegram, Hundred Percent American, S. 222 f. John M. Mecklin, The Ku Klux Klan: A Study of the American Mind. New York: Russell & Russell 1963, S. 12, 103, 179.
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Männlichkeit und Antisemitismus
durch Langeweile, mangelnde Lebensfreude, Ambitionslosigkeit und Desinteresse charakterisiert sah, als Existenzgrundlage des KKK.55 Drei Jahrzehnte später verknüpfte Richard Hofstadter den Klan mit einem „ländlich-protestantischen Enthusiasmus der 20er Jahre“.56 Auch in der jüngeren Historiographie wurde diese Sichtweise von Historiker_innen wie Wyn Craig Wade oder Catherine McNickol Stock vertreten.57 Allen diesen Arbeiten ist gemein, dass sie den Klan nicht etwa als repräsentativ für große Teile der US-Gesellschaft der 20er Jahre darstellen, sondern ihn als ein aus der Zeit gefallenes Relikt des 19. Jahrhunderts konstruieren.58 Obwohl laut Leonard J. Moore bis in die 1990er Jahre ein Großteil der Arbeiten zum Klan an dem in den 1920er Jahren entstanden Narrativ festhielt, wurde seit den 1960er Jahren eine Vielzahl an Arbeiten publiziert, die diesen Erklärungsansatz hinterfragen. Einige Historiker_innen widersprachen der Verortung des Klans am äußersten Rande der Gesellschaft und beschrieben ihn stattdessen als ein Phänomen des Mainstreams.59 Moore kritisierte, dass die Kategorisierung der Knights of the Ku Klux Klan als gesellschaftliches Randphänomen den die zeitgenössische US-Gesellschaft der 20er Jahre durchziehenden Rassismus, Antisemitismus und Antikatholizismus verschleiere.60 Arbeiten jüngeren Datums, die den sozioökonomischen und kulturellen Hintergrund von Klanmitgliedern untersuchten, haben diese Kritik unterfüttert.61 Nancy MacLean stellte in diesem Zusammenhang fest: „Klan members were not the deranged outcasts of popular imagination.“62 Für das Klan-Chapter von Athens, Georgia, fand sie heraus, dass sich das Gros der Mitglieder aus der Mittelklasse rekrutierte. Ungefähr 63 Prozent der Klansmänner lebten in einem Haus oder auf einer Farm, das/die sich in Familienbesitz befand.63 Ebenso entzog das Erscheinen von Kenneth Jacksons Studie The Ku Klux Klan in the City, 1915–1930 dem Verständnis vom Klan als Produkt ländlicher Ignoranz, Beschränktheit und Rückständig55 56 57 58 59 60 61 62 63
Tannenbaum, Darker Phases, S. 20. Richard Hofstadter, The Age of Reform: From Bryan to F. D. R. New York: Alfred A. Knopf 1955, S. 291. Catherine McNicol Stock, Rural Radicals: Righteous Rage in the American Grain. Ithaca: Cornell University Press 1996, S. 130; Wade, Fiery Cross, S. 219–221. Pegram, Hundred Percent American, S. 222. Lay, „Introduction“, S. 3. Moore, „Historical Interpretations“, hier S. 24. Rory McVeigh, The Rise of the Ku Klux Klan: Right-Wing Movements and National Politics. Minneapolis et al.: University of Minnesota Press 2009, S. 13. MacLean, Mask of Chivalry, S. xii. Dies., S. 53.
Die Knights of the Ku Klux Klan
keit den Boden. Das 1967 publizierte Werk zeigt, dass eine beachtliche Zahl an Klanmitgliedern in großen Städten lebte. Nach Ansicht Jacksons setzte sich der Geheimbund zu gleichen Teilen aus Stadt- und Landbevölkerung zusammen.64 Auch andere Arbeiten verweisen auf einen hohen Anteil von Mitgliedern aus der urbanen Mittelklasse, um den klassischen Erklärungsansatz vom ländlichen Modernisierungsverlierer als typischen Klansman zu widerlegen.65 Als vorrangiges Antriebsmoment des Klans galten Christopher Cocoltchos und Robert Goldberg nicht mehr rassistische oder antisemitische Einstellungen, sondern die Propagierung und Durchsetzung einer evangelikalen Moral und Lebensweise. Auch der Vigilantismus geriet in diesen revisionistischen Studien, zu denen auch Leonard J. Moores Citizen Klansmen zu zählen ist, zu einem nachgeordneten Merkmal der Organisation.66 Aus diesem Grund versteht Moore den KKK als eine soziale Bewegung mit breiter Anhängerschaft und nicht als eine „extremistische“ Organisation.67 Auch in den Arbeiten von Kathleen M. Blee und Kelly J. Baker manifestieren sich diese Verschiebungen innerhalb der Historiographie. Blee verweist in Women of the Klan zu Recht darauf, dass nativistische und rassistische Einstellungen keine ausreichende Begründung für den Aufstieg des Klans darstellen. Bereits vor der Wiedergeburt des KKK und auch nach seinem Niedergang in den 1920er Jahren seien solche Haltungen innerhalb der US-Gesellschaft präsent gewesen. Stattdessen plädiert sie dafür, die Programmatik sowie den raschen Aufstieg des Geheimbunds im Kontext der Werte und Vorstellungen zu verstehen, die Anfang des 20. Jahrhunderts für den US-Protestantismus bedeutsam waren.68 Auch Kelly Baker betont in Gospel According to the Klan die Zentralität eines evangelikalen Protestantismus für das Verständnis der männerbündlerischen Organisation und kritisiert die bisherige Blindheit der historischen Forschung gegenüber dessen enormer Bedeutung für das Verständnis des Geheimbundes. Ihrer Meinung nach 64 65
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Kenneth T. Jackson, The Ku Klux Klan in the City, 1915–1930. New York et al.: Oxford University Press 1967. Chalmers, Hooded Americanism, S. 2; Robert A. Goldberg, „Denver: Queen City of the Colorado Realm.“ In: Lay (Hg.), Invisible Empire, S. 39–66; Christopher N. Cocoltchos, „The Invisible Empire and the Search for the Orderly Community.“ In: Lay (Hg.), Invisible Empire, S. 97–120; Chris Rhomberg, „White Nativism and Urban Politics: The 1920s Ku Klux Klan in Oakland, California.“ In: Journal of American Ethnic History, Jg. 17, Nr. 2 (Winter 1998), S. 39–55. Leonard J. Moore, Citizen Klansmen: The Ku Klux Klan in Indiana, 1921–1928. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 1997. Moore, „Historical Interpretations“, S. 30 f. Blee, Women of the Klan, S. 17.
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handelte es sich beim Klan um einen „religiösen Orden“.69 Die große Aufmerksamkeit, die in jüngeren Arbeiten der evangelikalen Kultur und Moral gewidmet wurde, führte auch dazu, dass zunehmend Themen wie Prohibition, Sexualmoral oder auch die positive Einstellung gegenüber öffentlichen Schulen für das Verständnis der Organisation in den Fokus der historiographischen Auseinandersetzung mit dem zweiten Klan rückten.70 Im Zuge dieser, zumindest partiellen, historiographischen Neuausrichtung, die eine erhöhte Berücksichtigung von Haltungen des zweiten Klans zu kulturellen Themen bedeutete, fand auch die Kategorie Geschlecht verstärkt Beachtung. Seit den 90er Jahren sind Arbeiten entstanden, die die Kategorie Geschlecht als unerlässlich für eine Auseinandersetzung mit dem zweiten Klan postulieren. Michael Kimmel versteht die Wiederbelebung des Geheimbundes als eine Reaktion auf die sich durch die Industrialisierung verändernden gesellschaftlichen Verhältnisse. Rassismus wie auch Evangelikalismus stellen für Kimmel Strategien dar, mittels derer die Klansmänner versuchten, ihre Männlichkeit und damit ihre gesellschaftlich dominante Stellung unter den sich transformierenden sozioökonomischen und kulturellen Bedingungen zu konservieren.71 Auf Grund des Überblickscharakters von Manhood in America, das den Zeitraum zwischen der Gründung der USA und den 1990er Jahren thematisiert, bleibt Kimmels Auseinandersetzung mit dem zweiten Klan jedoch knapp und oberflächlich. Mehr in die Tiefe gehen hingegen die im Folgenden kurz vorgestellten Arbeiten von Kathleen M. Blee, Kelly J. Baker und Nancy MacLean.72 Kathleen M. Blee untersucht in der wichtigen Arbeit Women of the Klan (WKKK) die Frauenorganisation des zweiten Klans, die in den 1920er Jahren über eine halbe Million Mitglieder aufwies.73 Sie argumentiert, dass die Be69 70
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Baker, Gospel, S. 5 f. Adam Laats, „Red Schoolhouse, Burning Cross: The Ku Klux Klan of the 1920s and Educational Reform.“ In: History of Education Quarterly, Jg. 52, Nr. 3 (August 2012), S. 323–350; Pegram, Hundred Percent American, S. 89–118; ders., „Hoodwinked: The Anti-Saloon League and the Ku Klux Klan in the 1920s Prohibition Enforcement.“ In: The Journal of the Gilded Age and Progressive Era, Jg. 7, Nr. 1 ( Januar 2008), S. 89–119; ders., Hundred Percent American, S. 119–156. Michael Kimmel, Manhood in America: A Cultural History. New York et al.: Oxford University Press 2012, S. 127, 130, 142. Baker, Gospel; Blee, Women of the Klan; dies., „Women in the 1920s’ Ku Klux Klan Movement.“ In: Feminist Studies, Jg. 17, Nr. 1 (Frühjahr 1991), S. 57–77; MacLean, Mask of Chivalry; dies., „Frank Case Reconsidered.“ Zu den Women of the Ku Klux Klan siehe auch: William F. Pinar, „WHITE WOMEN in the KU KLUX KLAN.“ In: Counterpoints, Jg. 163, (2001), S. 555-619.
Die Knights of the Ku Klux Klan
rücksichtigung und Analyse der WKKK für das Verständnis des zweiten Klans essentiell seien. Auf Grund des weniger öffentlichen Charakters ihrer Aktionen bilde die Auseinandersetzung mit den Klanfrauen eine wichtige Erweiterung der bisherigen Perspektive auf den Klan. Nach Ansicht Blees erzwinge die Berücksichtigung der vom WKKK durchgeführten Tätigkeiten und Aktionen eine Reevaluation der gesamten Klanbewegung in den 1920er Jahren. Das Handeln der Klanfrauen habe sich komplementär zu den Aktivitäten der Knights of the Ku Klux Klan verhalten und den Einfluss und die Wirkmacht der Organisation deutlich vergrößert.74 Deutlicher als Blee berücksichtigt Nancy MacLean die unauflösliche Verzahnung von Kategorien wie Geschlecht, Sexualität, Race und Religion. Sie beschreibt den Einfluss, den Männlichkeits- und Weiblichkeitsideale sowohl auf die Gedankenwelt wie auch die Praxis des Klans ausübten als derartig bedeutsam, dass sie zu dem Schluss kommt, dass jede Analyse des Geheimbundes, die die Kategorie Geschlecht unberücksichtigt lasse, unvollständig bleiben müsse.75 Unter Rückgriff auf intersektionale Theorien, die es ihr ermöglichen, das scheinbare Spannungsverhältnis zwischen evangelikaler Moral und Rassismus aufzulösen, beschreibt sie die in den konservativen Wertvorstellungen begründete strikte Sexualmoral als einen Motor des Rassismus, Antisemitismus und Antikatholizismus. Wie auch in der von Kimmel entwickelten Lesart stellten die Knights of the Ku Klux Klan für MacLean eine Reaktion angloamerikanischer Männer auf die sich transformierende sozioökonomische und kulturelle Ordnung des Südens dar.76 Kelly Baker wiederum arbeitet in Gospel According to the Klan die Bedeutung des evangelikalen Protestantismus für die im Klan dominanten Geschlechterideale heraus. Ein evangelikaler Protestant zu sein, stellte nach Baker das Fundament dar, um einen ‚wirklichen Mann‘ abzugeben. Auf Grund dieser Konstruktion einer virilen, evangelikalen Männlichkeit verortet Baker die Knights of the Ku Klux Klan in der Tradition zahlreicher Männerbünde, die die Idee einer Muscular Christianity vertraten. In der Lesart Bakers wurde das Christentum vom Klan durch seine Verknüpfung mit einem militaristischen Kämpfertum maskulinisiert und ein physisch starker, harter und viriler Jesus als männlicher Idealtypus gesetzt.77 Während Baker in ihrem Werk eine überzeugende und aus74 75 76 77
Blee, Women of the Klan, S. 1–3. MacLean, Mask of Chivalry, S. xii. Dies., S. 53 f. Baker, Gospel, S. 98–102.
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Männlichkeit und Antisemitismus
führliche Analyse der Verwobenheit zwischen evangelikalem Protestantismus und dem vom Klan vertretenen Männlichkeitsideal gelingt, gerät in ihrem Narrativ die Intersektionalität zwischen Geschlecht und anderen Kategorien wie Race oder Klasse deutlich aus dem Fokus.78 Obwohl die drei angesprochenen geschlechtergeschichtlichen Arbeiten einen wichtigen Beitrag zur Erhellung der in der Historiographie weitgehend unbeleuchtet gebliebenen Kategorie Geschlecht liefern, fehlt es ihren Ausführungen zum Zusammenhang von Männlichkeit und Rassismus, Antisemitismus und Antikatholizismus mitunter an Tiefenschärfe. Während MacLean diese Gruppenfeindlichkeiten zwar zu Recht als Reaktion angloamerikanischer, protestantischer Menschen auf die sozioökonomischen und kulturellen Transformationen der Gesellschaft beschreibt, bleiben die konkreten vom Klan vorgenommenen Konstruktionen von ‚Juden‘, ‚Afroamerikanern‘ oder ‚Katholiken‘ in ihrer Arbeit weitgehend unberücksichtigt. Daraus resultiert die Unfähigkeit, die Funktionen, die jeweils Antisemitismus, Rassismus und Antikatholizismus für die Überwindung des als krisenhaft empfundenen gesellschaftlichen Zustandes zugeschrieben wurden, konkreter zu bestimmen. Eine detailliertere Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Gruppenfeindlichkeiten hätte zu untersuchen, in welcher Weise sich die spezifischen ‚jüdischen‘, ‚afroamerikanischen‘ oder ‚katholischen‘ Subjekttypen unterschieden. Dabei müssten folgende Fragen beantwortet werden: Welche Subjektivitäten wurden ‚Juden‘, ‚Afroamerikanern‘ und ‚Katholiken‘ zugeschrieben? Mit welchen sozialen, ökonomischen oder kulturellen Transformationen oder vermeintlichen Missständen wurden die jeweiligen Gruppen assoziiert? Welche Verbindungen lassen sich zwischen der rassifizierten Perzeption verschiedener Gefahren und der im Klan hegemonialen Männlichkeitsvorstellung aufspüren? Um diese Lücke in der historischen Forschung zum zweiten Klan schließen zu helfen, wird in diesem Kapitel die Verbindung zeitgenössischer Krisenwahrnehmungen angloamerikanischer Männlichkeit mit antisemitischen Vorstellungen untersucht. Dazu werden in einem ersten Schritt das im Klan dominante Verständnis von Männlichkeit rekonstruiert und die Verknüpfungen zwischen gesellschaftlichen Veränderungen und Imaginationen einer Männlichkeitskrise skizziert. 78
Kelly J. Baker geht zwar auf die unter Klansmännern verbreiteten Wahrnehmungen von ‚Fremden‘ oder Immigrant_innen als Gefahr für die US-amerikanische Männlichkeit ein, kommt jedoch über diese an der Oberfläche verbleibenden Feststellungen in ihrer Analyse nicht hinaus (Baker, Gospel).
Krisenwahrnehmungen
5.4 Krisenwahrnehmungen angloamerikanisch-protestantischer Männlichkeit im Ku-Klux-Klan Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen sind für das Verständnis der Knights of the Ku Klux Klan von essentieller Bedeutung. Die Ausbildung einer tugendhaften Männlichkeit galt dem Klan als Basis für positiven gesellschaftlichen Wandel.79 Männlichkeit stellte somit ein zentrales Feld der Auseinandersetzung zwischen dem Klan und seinen Widersacher_innen dar. Während letztere die Mitglieder des Bundes als entmännlicht und große Gefahr für den Fortbestand einer republikanischen Männlichkeit konstruierten, knüpfte der Klan die Durchsetzung seiner politischen Ziele eng an rassifizierte Vorstellungen einer ehrenhaften und ritterlichen Männlichkeit.80 In diesem Sinne entwarf der Imperial Wizard Hiram Evans in einem Gedicht mit dem Titel „God Give Us Men!“ tugendhafte, angloamerikanische Männer als Retter der krisengeschüttelten Nation: GOD GIVE US MEN! „God give us men! The Invisible Empire demands strong Minds, great hearts, true faith and ready hands, Men whom lust of office does not kill; Men whom the spoils of office cannot buy; Men who possess opinions and a will; Men who have honor; men who will not lie; Men who can stand before a demagogue and damn his treacherous flattering without winking! Tall men, sun crowned, who live above the fog In public duty and private thinking; 79
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Brown Harwood, „Introduction.“ In: Ku Klux Klan (Hg.), Knights of the Ku Klux Klan: Papers Read at the Meeting of Grand Dragons at Their First Annual Meeting Held at Asheville, North Carolina, July 1923. [o. O.]: [Selbstverlag] 1923, S. 3–6, hier S. 3, Dolph Briscoe Center for American History (im Folgenden DBC), Littlefield Rare Book and Pamphlet Collection (im Folgenden: LRPC); Grand Dragon of Oregon, „Responsibility of Klankraft to the American Boy.“ In: Klan (Hg.), Ku Klux Klan, S. 81–89; Grand Dragon of the Realm of Oklahoma, „The Definition of Klankraft and How to Disseminate it.“ In: The Imperial Night-Hawk, 7.11.1923, S. 2. Clovis D. Rivers, Pope of America and Wizard of Ku Klux Klan. Summerville: [Selbstverlag] 1925, S. 2, LoC, KKKP, Box 1, Folder 23; John J. Gordon, Unmasked. New York: [Selbstverlag] 1924, LoC, KKKP, Box 1, Folder 11.
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Männlichkeit und Antisemitismus
For while the rabble, with their thumb-worn creeds, Their large professions and little deeds, Mingle in selfish strife, Lo, freedom weeps, Wrong rules the land, and waiting justice sleeps, God give us men! Men who serve not for selfish booty, But real men, courageous, who flinch not at duty; Men of dependable character; men of sterling worth; Then wrongs will be redressed, and right will rule the earth. God give us men!81
Männlichkeit galt dem Klan somit als Mittel zur Genesung der Gesellschaft von ihren Übeln und Missständen sowie zur Wiederherstellung einer als untergegangen verstandenen Freiheit. Die Errichtung einer Gesellschaftsordnung, in der Gerechtigkeit vorherrsche und dem Recht zur Geltung verholfen werde, war für das Invisible Empire fundamental mit dem Zustand angloamerikanischer Männlichkeit verknüpft. Im 1921 publizierten Pamphlet Constitution and Laws of the Knights of the Ku Klux Klan entwarf sich der Geheimbund als Institution der Ritterlichkeit und Gerechtigkeit, die all dasjenige verkörpere, das „chivalric in conduct, noble in sentiment, generous in manhood and patriotic in purpose“ sei, und deren oberstes Ziel der Schutz der Schwachen und Schutzlosen darstelle.82 Auch zahlreiche Schriften, Reden und Artikel in diversen Klanzeitungen und -zeitschriften waren von einer vergeschlechtlichten Rhetorik durchzogen und inszenierten die Klanmitglieder als heroische, aufopferungsvolle Männer, die ihr Leben für den Schutz der vermeintlich Schwachen, also Frauen und Kinder, opferten.83 Dieser maskuline Geist durchzog neben Rhetorik und Programmatik auch die Riten und Praktiken der Organisation.84 Simmons, der erste 81 82
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Hiram W. Evans, Roman Catholic Hierarchy, S. 13. The Knights of the Ku Klux Klan, Constitution and Laws of the Knights of the Ku Klux Klan. Atlanta: The Knights of the Ku Klux Klan Inc. 1921, S. 9, Louis Round Wilson Special Collection Library (im Folgenden: LRWL), Southern Pamphlet Collection (im Folgenden SPC). Grand Dragon of the Realm of Oklahoma, „The Definition of Klankraft“, 7.11.1923; William J. Simmons, The ABC of the Knights of the Ku Klux Klan. Atlanta: [Selbstverlag] 1917, [keine Seitenangabe], LoC, Rare Book Collection (im Folgenden: RBC). Knights of the Ku Klux Klan, Delivery of Charter. Atlanta: The Knights of the Ku Klux Klan Inc. 1923, LoC, KKKP, Box 1, Folder 16; dies., Klorero of Sorrow. Atlanta: The Knights of the Ku Klux Klan Inc. 1925, LoC, KKKP, Box 1, Folder 17; William J. Simmons, Kloran. Atlanta: Ku Klux Press 1916, S. 30–36, LRWL, SPC.
Krisenwahrnehmungen
Imperial Wizard, verlieh dieser Zentralität und Bedeutung von Männlichkeit Ausdruck, indem er den Klan als eine Organisation „WIRKLICHER Männer“ bezeichnete.85 Auf Grund des relationalen Charakters von Geschlecht ging diese Vorstellung von Männlichkeit mit einer bestimmten Idee von Weiblichkeit einher. Der KKK propagierte ein Geschlechterverhältnis, in dem der Mann als Beschützer und Ernährer der Familie auftrat. Damit verbunden war eine klare Hierarchisierung zwischen Mann und Frau. Wie andere Verfechter_innen einer solchen Geschlechterordnung in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts und während des Leo Frank-Case kämpfte der Klan gegen eine Aushöhlung der Verfügungsgewalt und Dominanz angloamerikanischer Männer über die Frauen ihres Haushaltes und damit gegen eine Zunahme weiblicher Autonomie und Agency. Die Knights of the Ku Klux Klan traten also, wie die jüngere Forschung überzeugend gezeigt hat, für die Restaurierung des als ideal tradierten Geschlechterverhältnisses des Old South unter veränderten gesellschaftlichen Umständen ein und kämpften damit für die Rekonstitution vormoderner Zustände.86 Dabei bedienten sie sich jedoch auch, wie das Kapitel im weiteren Verlauf zeigen wird, durch und durch moderner Strategien und Techniken. Obwohl, wie bereits dargelegt, die Erschaffung eines gesellschaftlichen Idealzustands im Verständnis des Klans aufs Engste an Männlichkeit gekoppelt war, galten auch die Tugend und Moral angloamerikanischer Frauen als bedeutsam für das Wohl der Nation. Mutterschaft, weibliche Reinheit und Tugendhaftigkeit sowie das Heim als originär weibliche Sphäre bildeten im Verständnis des Klans wichtige Elemente zur Überwindung gesellschaftlicher Missstände.87 Da in 85 86
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Ders., The Ku Klux Klan. Atlanta: The Knights of the Ku Klux Klan Inc. 1921, [keine Seitenangabe], LoC, KKKP, Box 1, Folder 24. Blee, Women of the Klan, S. 43–48; Glenn Feldman, „Keepers of the Hearth: Women, the Klan and Traditional Family Values.“ In: Bruce L. Clayton und John A. Salmond, „Lives Full of Struggle and Triumph.“ Tallahassee et al.: University Press of Florida 2003, S. 149–180; MacLean, Mask of Chivalry, S. 99. Blee, Women of the Klan, S. 45-48; Hiram W. Evans, The Menace of Modern Immigration. Atlanta: Knights of the Ku Klux Klan Inc. 1923, S. 19, LoC, KKKP Box 1, Folder 8; J. O. Wood, Are You a Citizen? Atlanta: Searchlight Publishing Company 1923, S. 46, LoC, KKKP, Box 1, Folder 26; Pinar, WHITE WOMEN, S. 589-591. Fünf Jahre nach dem Leo Frank-Case wurde in den USA mit dem 19th Amendment das Frauenwahlrecht eingeführt. Nachdem gesellschaftliche Phänomene wie Industrialisierung und Urbanisierung sowie die damit verbundene erhöhte weibliche Autonomie sich bereits zuvor peu à peu vollzogen hatten, kam es damit auch de jure zu einer Veränderung innerhalb des Geschlechterverhältnisses. Gegner_innen des Frauenwahlrechts hatten immer wieder auf die negativen Effekte
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zeitgenössischen Vorstellungen die Ausbildung einer tugendhaften Weiblichkeit jedoch der Existenz beziehungsweise gesellschaftlichen Dominanz einer ritterlichen Männlichkeit bedurfte, der moralische Zustand von Frauen also unmittelbar an die Tugend angloamerikanischer Männer rückgebunden wurde, lässt sich für die Programmatik des Klans ein deutliches Primat des Männlichen über das Weibliche feststellen. Dementsprechend fabulierte der Klan von gefährlichen, nicht-angloamerikanischen Männern, die die angloamerikanische Weiblichkeit und damit die ganze Nation in den Abgrund stürzen würden, während nichtangloamerikanischen Frauen in der Welterklärung des Klans keinerlei oder zumindest keine signifikante Bedeutung zugewiesen wurde. Das Ringen um das Wohl und die Zukunft der Nation stellte in den Augen der Knights of the Ku Klux Klan einen Kampf zwischen unterschiedlich konstruierten Männlichkeiten dar. Während unmoralische Männer, die häufig rassifiziert wahrgenommen wurden, als Quelle der Verderbnis für die gesellschaftlichen Verhältnisse im Allgemeinen sowie angloamerikanische Frauen im Besonderen dargestellt wurden, galt die Ausbildung einer tugendhaften Männlichkeit beziehungsweise die Existenz und gesellschaftliche Dominanz „wirklicher Männer“ als Basis für positiven Wandel.88 Die Verwendung einer derartigen Terminologie, also das Sprechen von ‚richtigen‘, also ‚wahren‘ Männern, verweist auf die dem Denkmuster inhärente Vorstellung von ‚falschen‘, ‚nicht-männlichen‘ Männern. Es stellen sich also folgende Fragen: Welche Eigenschaften mussten Männer aufweisen, um als ‚richtige‘ oder ‚wahre‘ Männer zu gelten? Welche Charakteristika wiesen ‚falsche‘ Männer auf, Männer also, die nicht zum Schutz der Schwachen oder Armen agieren, sondern im
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verwiesen, die ihrer Meinung nach der Eintritt von Frauen in die politische Sphäre auf den Erhalt tugendhafter Weiblichkeit hätte ( John J. Vertrees, „An Address to the Men of Tennessee on Female Suffrage.“ In: Marjorie Spruill Wheeler (Hg.), Votes for Women! Knoxville: The University of Tennessee Press 1995, S. 197–213). Während des Leo Frank-Case und den anschließenden Jahren wurde diese Position vehement von Thomas Watson und dem Anti-Frank-Lager propagiert, aus dem, wie bereits dargelegt, der zweite Klan hervorging ([unbekannt], „A Southern Woman’s Tribute to the ‚Women of Yesterday‘.“ In: The Jeffersonian, 15.6.1916, S. 4). Im Unterschied dazu wurde das Frauenwahlrecht vom Klan akzeptiert und die Stimmabgabe gar als Pflicht der Frau verstanden. Allerdings implizierte diese Haltung keineswegs, dass Frauen als gleichwertige Partner angesehen wurden. Nach Ansicht der Knights of the Ku Klux Klan sollten Frauen ihr Stimmrecht nutzen, um die untergegangenen Verhältnisse zu restaurieren und damit auch die Verfügungsgewalt und Dominanz angloamerikanischer Männer über Frauen wieder zu stärken (Grand Dragon of Arkansas, „A Tribute and Challenge to American Women.“ In: Klan (Hg.), Ku Klux Klan. [o. O.]: [Selbstverlag] 1923, S. 89–93, DBC, LRPC. Harwood, „Introduction“, S. 3; Grand Dragon of Oregon, „Responsibility of Klankraft“, S. 81–89; Dragon of the Realm of Oklahoma, „The Definition of Klankraft“, 7.11.1913.
Krisenwahrnehmungen
Gegenteil eine vermeintliche Gefahrenquelle für diese darstellen würden? Mit welchen gesellschaftlichen Verhältnissen wurden diese vermeintlich gefährlichen und tugendlosen Männer verknüpft, das heißt, welche Verhältnisse wurden dafür verantwortlich gemacht, dass diese Männlichkeiten zu einer Bedrohung der USGesellschaft werden konnten? Bei der Beantwortung dieser Fragen soll der Fokus auf die Konstruktion von ‚Juden‘ durch den Klan gerichtet werden. Bevor ich mich jedoch der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Männlichkeit und Antisemitismus bei den Knights of the Ku Klux Klan zuwende, sollen zuerst durch sozioökonomische und kulturelle Transformationsprozesse ausgelöste Bedrohungswahrnehmungen der Klansmänner näher betrachtet werden. Dabei gehe ich wie Nancy MacLean davon aus, dass die an gesellschaftliche Veränderungen gekoppelten Bedrohungswahrnehmungen als Ängste angloamerikanischer Männer zu verstehen sind, ihre gesellschaftlich dominante Position unter den sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen nicht mehr reproduzieren zu können.89 Die Weltwahrnehmung der Mitglieder des Klans war von einer extrem negativen Sicht auf zeitgenössische gesellschaftliche Verhältnisse geprägt. Der Verfasser des KKK-Pamphlets The Big 3 in One, Geo W. Burrows, beklagte, dass die Welt sich in einem derartig korrupten und vergifteten Zustand wie niemals zuvor befände.90 Dementsprechend zielte die Programmatik des Klans auf eine Restauration untergegangener oder im Untergang begriffener sozialer, ökonomischer und kultureller Zustände. Die Zukunftsvision des Männerbundes führte direkt in die Vergangenheit. Der Historiker Eric L. Goldstein bezeichnete den Klan aus diesem Grunde als eine „der am stärksten rückwärtsgewandten Gruppen“.91 Als ursächlich für die vermeintliche Gesellschaftskrise wurden verschiedene Entwicklungen benannt, die sowohl sozioökonomischen wie auch kulturellen Charakters waren. Der mit den New Women verbundene Feminismus der 1910er Jahre, der durch die Kampferfahrungen im Ersten Weltkrieg intensivierte Widerstand von Afroamerikaner_innen gegen die White Supremacy sowie der fortschreitende Wandel der ökonomischen Ordnung und die damit verbundene Urbanisierung wurden vom Klan als zentrale Aspekte des Niedergangs der USA ausgemacht.92 89 90 91 92
MacLean, Mask of Chivalry, S. 24. Geo W. Burrows, The Big 3 in One. [o. O.]: [Selbstverlag] [o. J.], S. 1, LoC, KKKP, Box 1, Folder 2. Eric L. Goldstein, The Price of Whiteness: Jews, Race, and American Identity. Princeton et al.: Princeton University Press 2006, S. 121. Ben Bogard, Ku Klux Klan Exposed. Little Rock: [Selbstverlag] [o. J.], [keine Seitenangabe], LRWL, SPC; MacLean, Mask of Chivalry, S. 23–51.
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Männlichkeit und Antisemitismus
Eine fundamentale Ursache der identifizierten gesellschaftlichen Misere stellte aus Sicht des Klans die Immigration und damit die Einwanderung als unmoralisch kategorisierter Männer dar. Mit dieser negativen Haltung gegenüber den New Immigrants bildete der KKK jedoch keine radikale Ausnahme in den USA. Vielmehr verband den Klan diese Einstellung mit dem Mainstream der US-Gesellschaft. Zwischen 1880 und 1924, dem Jahr der Verabschiedung des Immigration Act, wanderten insgesamt ungefähr 23,5 Millionen Menschen, zum großen Teil aus Ost- und Südeuropa, in die Vereinigten Staaten ein. Während die Zahl der Immigrant_innen zwischen den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs beständig wuchs, ging sie seit dem Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen merkbar zurück.93 Als Reaktion auf die Migration wurde bereits in den 1880ern eine Vielzahl an Antiimmigrationskampagnen ins Leben gerufen.94 1894 gründete sich auf Initiative einiger junger Harvard-Absolventen die Immigration Restriction League, die in den folgenden Jahrzehnten starken Einfluss auf die gesellschaftlichen Debatten um Immigration beziehungsweise Immigrationsbeschränkungen erlangte. Diese Kampagnen und Organisationen knüpften an nativistische Einstellungen an, die im 19. Jahrhundert in den USA weit verbreitet waren und sich in Gesetzen wie dem Chinese Exclusion Act manifestierten.95 So sprach sich laut dem Historiker Roger Daniels ein großer Teil der US-Bevölkerung dafür aus, die Einwanderung an das Bestehen eines Literacy Tests zu knüpfen.96 Widerstand gegen eine drastische Verschärfung der Einwanderungsgesetze leisteten unter anderem Teile der Wirtschaft, die sich durch den unregulierten Zuzug von Arbeitskräften ein niedriges Lohnniveau erhofften. Unter dem Eindruck des Kriegseintritts 93 94 95
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Barbara Lüthi, Invading Bodies: Medizin und Immigration in den USA 1880–1920. Frankfurt et al.: Campus Verlag 2009, S. 14. Dies., S. 14 f. Roger Daniels, Coming to America: A History of Immigration and Ethnicity in American Life. New York: HarperCollins Publishers 1990, S. 271; Robert Julio Decker: „The Transnational Biopolitics of Whiteness and Immigration Restriction in the United States, 1894–1924.“ In: Ursula Lehmkuhl; Eva Bischoff und Norbert Finzsch (Hg.), Provincializing the United States: Colonialism, Decolonization, and (Post)Colonial Governance in Transnational Perspective. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2014, S. 121–152; Andrew Gyory, Closing the Gate: Race, Politics, and the Chinese Exclusion Act. Chapel Hill et al.: The University of North Carolina Press 1998; Björn Schmidt, „Chinese Exclusion Act (1882), oder: Migration und die Gefährdung der ‚Good Order‘.“ In: Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz (Hg.), Race & Sex. Eine Geschichte der Neuzeit. Berlin: Neofelis Verlag 2016, S. 286–293. Zur Bedeutung von Literacy Tests im Zusammenhang mit Immigrationsbeschränkung siehe u. a. Decker, „Transnational Biopolitics of Whiteness“.
Krisenwahrnehmungen
der USA konnten sich die Befürworter von Literacy Tests letztlich durchsetzen. 1917 verabschiedeten das Abgeordnetenhaus und der Senat, mit überwältigender Mehrheit und gegen das Veto des damaligen Präsidenten Woodrow Wilson, die Einführung dieser Maßnahme.97 Auf Grund der großen Zahl an Jüdinnen und Juden unter den New Immigrants – sie bildeten nach Italiener_innen die zweitgrößte Gruppe – kam ihnen innerhalb des Antiimmigrationsdiskurses eine erhöhte Aufmerksamkeit zu. Viele Befürworter_innen einer strikten Einwanderungspolitik, wie der Arzt Charles E. Woodruff, der Ökonom William Z. Ripley oder der Soziologe Edward A. Ross, beschrieben ‚jüdische‘ Migranten als bedrohlich für die USGesellschaft.98 Henry Adams, der Urenkel des früheren US-Präsidenten John Adams, empfand ein Schaudern beim Anblick der in die USA strömenden ‚Juden‘.99 Der bekannte Eugeniker Madison Grant warnte in seinem breit rezipierten Werk The Passing of the Great Race vor der Nichtassimilierbarkeit osteuropäischer ‚Juden‘ und der zunehmenden Marginalisierung von Angloamerikanern innerhalb der US-Gesellschaft.100 Die vermeintliche Verdrängung des als „native American[s]“ bezeichneten angloamerikanischen Bevölkerungsteils wurde dabei von Grant unter einer vergeschlechtlichten Linse wahrgenommen. So schrieb er aus der Perspektive angloamerikanischer Männer: The man of the old stock is being crowded out of many country districts by these foreigners, just as he is to-day being literally driven off the streets of New York City by the swarms of Polish Jews. These immigrants adopt the language of the native American; they wear his clothes; they steal his name, and they are beginning to take his women, but they seldom adopt his religion or understand his ideals, and while he is being elbowed out of his own home the American looks calmly abroad and urges on others the suicidal ethics which are exterminating his own race.101
Die Sichtweise Grants, in der die Einwanderung von ‚Juden‘ als fundamentales Problem für angloamerikanische Männer dargestellt wurde, war in den Dekaden 97
Daniels, Coming to America, S. 278; Jonathan Peter Spiro, Defending the Master Race: Conservatism, Eugenics, and the Legacy of Madison Grant. Burlington: University of Vermont Press 2009, S. 197–202. 98 Edward A. Ross, The Old World in the New: The Significance of Past and Present Immigration to the American People. London: Routledge 2005; Spiro, Master Race, S. 96, 188. 99 Lüthi, Invading Bodies, S. 208. 100 Madison Grant, The Passing of the Great Race: or the Racial Basis of European History. New York: Charles Scribner’s Sons 1916, S. 14, 80. 101 Ders., S. 81.
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vor der Gründung sowie zur Zeit des Bestehens des zweiten Klans weit verbreitet.102 Im Folgenden wird die Arbeit ihren Fokus auf die Knights of the Ku Klux Klan verengen und untersuchen, inwieweit und auf welche Weise Immigranten, und insbesondere ‚Juden‘, von dieser Organisation mit der diagnostizierten gesellschaftlichen Krise der USA verknüpft und für diese verantwortlich gemacht wurden. Der KKK publizierte zahlreiche Schriften, Zeitungsartikel und Flugblätter, in denen er einen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Problemen und der Immigration als ‚minderwertig‘ kategorisierter Menschen herstellte.103 ‚Immigranten‘, die vom Klan als über die USA hereinbrechende „Ausländerflut“ bezeichnet wurden, würden zunehmend Dominanz in den USA ausüben und Angloamerikaner_innen in die sozioökonomische und politische Peripherie abdrängen.104 Da die ‚Einwanderer‘ als an ein niedriges Lohnniveau gewöhnt galten, wurden sie als große Konkurrenz zu angloamerikanischen Arbeitern gesehen.105 Folglich unterminierten ‚Migranten‘ in der Weltsicht der Klansmänner die Funktion angloamerikanischer Männer als Versorger der Familie.106 Neben dieser ökonomischen Facette der Antiimigrationshaltung verwies der Klan auch auf vermeintlich negative politische Konsequenzen, die aus der Einwanderung resultieren würden. In den Augen des Männerbundes gefährdeten ‚Migranten‘ den Erhalt des demokratischen Systems. Sie wurden als unfähig zur Selbstregierung und darüber hinaus als Importeure radikaler, die repräsentative Demokratie zersetzende politisch-philosophische Ideen charakterisiert.107 Aufgrund der geschlechtlichen Codierung des politischen Systems wurde diese 102 Leonard Dinnerstein, Antisemitism in America. New York et al.: Oxford University Press 1994, S. 68; Spiro, Master Race, S. 197–202. 103 Evans, Roman Catholic Hierarchy, S. 10 f.; ders., The Attitude of the Knights of the Ku Klux Klan toward the Jew. Atlanta: Knights of the Ku Klux Klan Inc. 1923, [keine Seitenangabe], LoC, KKKP, Box 1, Folder 6; Grand Dragon of South Carolina, „The Regulation of Immigration.“ In: Klan (Hg.), Ku Klux Klan, S. 69–74; ders., „Poorly Restricted Immigration Is One of the Greatest Perils Confronting America.“ In: The Imperial Night-Hawk, 29.8.1923, S. 2 f.; [unbekannt], The Attitude of the Knights of the Ku Klux Klan toward Immigration. Atlanta: Knights of the Ku Klux Klan Inc. 1923, LoC, KKKP, Box 1, Folder 5. 104 Knights of the Ku Klux Klan, America for Americans. Atlanta: Ku Klux Klan Inc. 1922, S. 5 f., LoC, KKKP, Box 1, Folder 1; [unbekannt], „Pride of Citizenship.“ In: The Imperial Night-Hawk, 21.11.1923, S. 4. 105 Grand Dragon of South Carolina, „Regulation of Immigration“, S. 70. 106 [Unbekannt], „Abbott Trust Fund Growing Steadily: Now Amounts to $12,487.35.“ In: The Imperial Night-Hawk, 21.11.1923, S. 5. 107 [Unbekannt], „What Shall We Do to Be Saved?“ In: The Imperial Night-Hawk, 21.11.1923, S. 2 f.
Krisenwahrnehmungen
vermeintlich feindselige Einstellung gegenüber der Republik auch als Aggression gegen die daran gekoppelte angloamerikanische Männlichkeit begriffen. Paradoxerweise galten Klansmännern die Bestrebung von ‚Migranten‘, am republikanischen System teilzuhaben, ebenso als Angriff auf ihr Mannsein. Nach Ansicht des Grand Dragon von Colorado gefährdete die Verleihung basaler demokratischer Partizipationsrechte an ‚Immigranten‘ die als fundamental erachtete Vorstellung der Gleichheit zwischen männlichen Staatsbürgern.108 In einer Rede mit dem Titel A Klansman’s Obligation as a Patriot to His God, His Country, His Home, and His Fellowmen fasste er den Zusammenhang zwischen Demokratie, der Gleichheit männlicher Subjekte und der Subordination von ‚Immigranten‘ mit folgenden Worten: The utmost vigilance is required to see that the American Principle of equality is fulfilled to all men, for this is indispensable to true democratic government. The vote is the instrument by which each man exercises his equality. When the vote is given those who are not entitled to it [die Immigranten, K. K.], its values to the real American citizen is depreciated and his equality is encroached upon.109
Das hier vom Klan etablierte Verhältnis zwischen Männlichkeit und der Gleichheit staatsbürgerlicher Subjekte schloss also Menschen aus, die nicht protestantisch und angloamerikanisch waren. Erst über deren Ausschluss stellte sich die für angloamerikanische Männer als fundamental entworfene Gleichheit her. Die mit ‚Immigranten‘ verknüpften ökonomischen wie auch politischen Gefahren wurden vom Klan in einen engen Zusammenhang gestellt. Als Ausgangspunkt der vermeintlichen Erosion des gesellschaftlichen Systems identifizierte Hiram Evans im 1923 publizierten Pamphlet The Menace of Modern Immigration einen Wandel innerhalb der ökonomischen Ordnung in den Vereinigten Staaten. Dieser habe zum einen zur Kommodifizierung der Menschen geführt und zum anderen dafür gesorgt, dass die Einwanderung der „minderwertigsten“ Menschen in die USA befördert würde, um den Bedarf der Industrie nach kostengünstigen Arbeitskräften zu befriedigen. In Evans Sichtweise zerstörte ein mit dem Wandel der Ökonomie einhergehendes absolutes Streben nach Profitmaximierung die republikanische Ordnung.110 Aus Evans Perspektive stellten also 108 Ku Klux Klan, America for Americans, S. 3. 109 Grand Dragon of Colorado, „A Klansman’s Obligation as a Patriot to His God, His Country, His Home, and His Fellowmen.“ In: Klan (Hg.), Ku Klux Klan, S. 59–63, hier S. 63. 110 Hiram W. Evans, Modern Immigration, S. 18.
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nicht nur die als ‚minderwertig‘ kategorisierten ‚Migranten‘ eine fundamentale Bedrohung für das demokratische System dar. Vielmehr ging die Initialzündung zur vermeintlichen Aushöhlung der politischen Ordnung von einigen mächtigen ‚Wirtschaftskapitänen‘ und damit aus dem Inneren der USA aus. Die Klansmänner sahen die Demokratie und damit auch ihre daran gekoppelte Männlichkeit also von zwei Seiten gefährdet. Während die ‚Migranten‘ die Demokratie als moralisch und mental ‚minderwertige Elemente‘ von unten bedrohten, setzten Industrielle die Republik einer Gefahr von oben aus. Die einzelnen Staatsbürger würden ihres demokratischen Mitbestimmungsrechts beraubt und mächtigen „Lehnsherren der Industrie“ untergeordnet.111 Die verwendete Terminologie verweist darauf, dass zeitgenössische gesellschaftliche Machtverhältnisse als vordemokratisch begriffen wurden. Die der Immigration zugeschriebenen Gefahren wurden also in direkte Verbindung mit dem industriell-kapitalistischen Wirtschaftssystem gebracht. Die Brechung der angeblich im republikanischen System herrschenden Gleichheit zwischen Staatsbürgern sowie die Errichtung eines auf einer veränderten Ökonomie fußenden feudalen Machtverhältnisses bereiteten in den Augen des Klans der wahrgenommenen Immigrantenflut den Weg. Auf diese Weise seien die Industriellen in die Lage versetzt worden, ihre eigenen Interessen zum Nachteil der Nation durchzusetzen. Wie die Arbeit im Folgenden zeigen wird, verbanden sich in der Weltsicht des Klans diese zwar miteinander in Relation gesetzten, aber dennoch deutlich voneinander unterschiedenen Gefahren auf eigentümliche Weise in ‚Juden‘. Sie galten einerseits als Unglück bringende ‚Einwanderer‘, die mit der vermeintlichen Flut der New Immigrants über die USA hereinbrachen, andererseits wurde ihnen eine unfassbare Macht zugeschrieben, die sie aus der ihnen zugeschriebenen Position innerhalb des ökonomischen Systems bezogen.
5.5 Der Aufstieg eines modernen Antisemitismus: Kontinuitäten und Modifikationen Die verschiedenen Migrant_innengruppen waren im Weltbild des Klans mit unterschiedlichen Aspekten der vermeintlichen gesellschaftlichen Krise assoziiert. Die Organisation unterschied sowohl hinsichtlich des Bedrohungspotenzials als auch der Art der Gefahren, die von den einzelnen Gruppen ausgingen.112 111 Ders., S. 18. 112 Zum Antikatholizismus beim Klan siehe u. a. Pegram, Hundred Percent American, S. 47–88.
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Die signifikant gesteigerte Aufmerksamkeit, die ‚Juden‘ in der Programmatik des zweiten Klans zuteilwurde, stellt ein Unterscheidungsmerkmal gegenüber seinem Vorgänger dar und muss wesentlich auf die Wirkungen des Leo FrankCase zurückgeführt werden. Waren, wie in den vorherigen Kapiteln deutlich wurde, in der Südstaatengesellschaft bereits vor der Affäre und dem Lynching des jüdischen Fabrikleiters judenfeindliche Vorstellungen verbreitet, so erfuhr der Antisemitismus doch im Verlauf des Leo Frank-Case bedeutsame Veränderungen. Innerhalb der zwei Jahre, die die Affäre währte, wurden, wie bereits erwähnt, antisemitische Vorstellungen zum einen in einer solchen Intensität und Häufigkeit artikuliert, dass der Fall auf quantitativer Ebene für eine massive Verdichtung antisemitischen Wissens sorgte, zum anderen wurden zuvor unverbunden nebeneinander bestehende antisemitische Elemente zu einer umfassenden antisemitischen Weltsicht vereinigt, so dass die Judenfeindschaft auch eine qualitative Veränderung erfuhr. Antisemitische Vorstellungen waren zwar innerhalb der Bevölkerung des Südens, wie die vorherigen Kapiel gezeigt haben, bereits vorher als Alltagswissen weit verbreitet – dies zeigt sich beispielsweise an der Phrase „to jew me down“, mit der das feilschende Herunterhandeln eines Preises bezeichnet wurde –, jedoch stellten ‚Juden‘ in der Weltsicht von Südstaatler_innen bei weitem keine derartige Bedrohung für die gesellschaftliche Ordnung und Prosperität dar wie beispielsweise ‚Afroamerikaner‘.113 Dies zeigt sich zum einen im drastisch divergierenden Ausmaß rassistischer beziehungsweise antisemitischer Gewalt, zum anderen in der fundamental unterschiedlichen Rezeptionsgeschichte rassistischer respektive antisemitischer Publikationen. Während Charles Carrolls Schrift The Negro a Beast, die im Jahr 1900 publiziert wurde, im Süden auf große Resonanz stieß und breit rezipiert wurde, blieb die zehn Jahre später erscheinende Schrift The Jew a Negro? von Arthur T. Abernethy deutlich hinter dem Erfolg der rassistischen Hetzschrift zurück.114 Die wesentlich größere Bedeutung, die der Rassismus gegen ‚Afroamerikaner‘ im Vergleich zum Antisemitismus eingenommen hatte, sollte beim zweiten Klan, zumindest auf ideologisch-programmatischer Ebene, ein Ende finden. Der signifikante Bedeutungszuwachs, den der Antisemitismus insbesondere im Zuge des Leo Frank-Case erfuhr, manifestierte sich auch in der Tatsache, dass 113 [Unbekannt], [kein Titel]. In: Roanoke Times, 24.9.1890, S. 2. 114 Leonard Rogoff, „Is the Jew White?. The Racial Place of the Southern Jew.“ In: Mark K. Bauman (Hg.), Dixie Diaspora: An Anthology of Southern Jewish History. Tuscaloosa: University of Alabama Press 2006, S. 390–426, hier S. 420.
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mit dem Ku-Klux-Klan erstmals in der Geschichte der USA eine antisemitische Massenorganisation entstand. Während, wie zuvor dargelegt, auch unter Populist_innen antisemitische Einstellungen und Denkmuster durchaus weit verbreitet waren, warb deren politische Repräsentanz, die People’s Party, niemals mit einem explizit antisemitischen Programm um die Gunst der Wähler.115 Zusätzlich unterschied sich der moderne Antisemitismus des Klans qualitativ von den vor der zweijährigen Affäre in den Südstaaten zirkulierenden Vorstellungen von ‚Juden‘. Die zuvor mehr oder weniger lose und unvermittelt koexistierenden antisemitischen Stränge und Versatzstücke – also die gleichzeitige Existenz unverbunden nebeneinanderstehender Konstruktionen, beispielsweise von ‚Juden‘ als Finanzakteuren und heimlichen Machthabern sowie von ‚Juden‘ als in Städten lebenden Lüstlingen und Wüstlingen – wurden im Verlauf des zweijährigen antisemitischen Spektakels miteinander in Verbindung gesetzt. Auf diese Weise wurde ein in sich zusammenhängender, moderner antisemitischer Welterklärungsansatz geschaffen. Die Produktion und Verbreitung einer solchen antisemitischen Weltsicht wurde von den Knights of the Ku Klux Klan fortgesetzt. Die veränderte Bedrohungswahrnehmung des zweiten Klans manifestierte sich unter anderem in dem bereits erwähnten Pamphlet The Big 3 in One von Geo W. Burrows. Darin setzte sich der Verfasser ausführlich mit den drei Gruppen auseinander, von denen nach seiner Ansicht die größte Gefahr für die Prosperität und die gesellschaftliche Ordnung der USA ausging. Während Burrows die als bedrohlich ausgemachten Gruppen, ‚Afroamerikaner‘, ‚Katholiken‘ und ‚Juden‘ deutlich unterschiedlich konstruierte, widmete er allen dreien in etwa den gleichen Raum, um die von ihnen ausgehenden spezifischen Gefahren für das protestantische US-Amerika darzulegen. Dabei nahm er keinerlei Hierarchisierungen zwischen den drei Gruppen vor, sodass davon ausgegangen werden kann, dass er sie in gleichem Maße als Gefährdung für die USA wahrnahm.116 Auch Hiram Evans, der Imperial Wizard des Ku-Klux-Klan, maß diesen drei Gruppen besondere Bedeutung zu. Er ging davon aus, dass ‚Afroamerikaner‘ sowie ‚Juden‘ gemeinsam im Bunde mit ‚Katholiken‘ einen Feldzug gegen die Knights of the Ku Klux Klan führen würden.117 115 Hasia Diner, The Jews of the United States, 1654 to 2000. Berkeley et al.: University of California Press, S. 171. 116 Burrows, Big 3 in One, S. 40. 117 Hiram W. Evans, „The Attitude of the Knights of the Ku Klux Klan toward the Jew.“ In: Klan (Hg.), Knights of the Ku Klux Klan. [o. O.]: [Selbstverlag] 1923, S. 117–123, hier S. 118, DBC, LRPC.
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Häufig wurde in Klan-Schriften aus diesem Trio ein Duo bestehend aus ‚Katholiken‘ und ‚Juden‘.118 Diese verkörperten jeweils einen spezifischen Antitypus zum freiheitsliebenden und demokratischen angloamerikanischen Staatsbürger.119 Sie galten jedoch nicht nur als unfähig zu einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung, sondern gar als feindlich gegenüber einer demokratisch verfassten Gesellschaft. Als Hüter der US-Verfassung und der „Zivilisation des weißes Mannes“ sei der Klan deshalb ins Fadenkreuz der Feinde der Freiheit und der republikanischen Ordnung geraten. Die vermeintlich von ‚Katholiken‘ und ‚Juden‘ ausgehende Aggression verlangte nach einer Antwort von Seiten der Protestanten. Die dem Klan nahestehende Zeitung The Texas American rief in der Ausgabe vom 8. Juni 1923 ihre Leser dazu auf, dem vermeintlichen Angriff auf die Rechte von Protestanten entschieden entgegenzutreten.120 Während also ‚Katholiken‘ und ‚Juden‘ sowie ‚Afroamerikaner‘ als große Bedrohung kategorisiert wurden und damit auf den ersten Blick in Pamphleten wie The Big 3 in One als Kräfte, die auf die Zerstörung der US-Gesellschaft zielten, homogenisiert wurden, unterschieden sich die den drei Gruppen zugeschriebenen Gefahren fundamental. Die drei Subjekttypen wurden auf grundlegend verschiedene Art und Weise konstruiert und mit divergierenden Eigenschaften und Fähigkeiten versehen. Auf einem Treffen, auf dem die Grand Dragons des Klans im Juli 1923 in Asheville, North Carolina, zusammenkamen, beschrieb der damalige Grand Dragon von Colorado den Widerstand gegen die sich vermeintlich aus Asien, Europa und Afrika über die USA ergießende ‚Migrantenflut‘ als eine der patriotischen Pflichten eines Klansmannes. In diesem Zusammenhang entwickelte er eine Typologie der drei Gruppen und verortete sie außerhalb einer die protestantischen USA charakterisierenden „weißen Zivilisation“: There is the Jew or the exploiter. His eye is on prosperity, wealth and resources of America. He would have American wealth for his own. There is the Roman Catholic or moral tyrant, fearful of American religious liberties – freedom of speech and press. He would interfere with the sacred right to pass the American love of liberty down to posterity through our truly
118 Grand Dragon of Colorado, „Klansman’s Obligation“, S. 61 f.; Alma White, The Ku Klux Klan in Prophecy. Zarepath: The Good Citizen 1925, S. 26 f., S. 50 f. 119 Hiram W. Evans, „The Attitude of the Knights of the Ku Klux Klan toward the Roman Catholic Hierarchy.“ In: Klan (Hg.), Ku Klux Klan, S. 113–117, hier S. 116 f. 120 [Unbekannt], „Wailing Walls.“ In: The Texas Americans, 8.6.1923, S. 6.
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American public school system. He would deny you and me the right to worship God in our own way, and have us bow down our heads in worship to his foreign pope. Americans, this is no myth. There is the negro, or race usurper – he would have American civilization and culture. All these, the exploiter, the moral tyrant and the usurper, each seeks for himself some share in America’s birthright.121
‚Juden‘, ‚Katholiken‘ sowie ‚Afroamerikaner‘ wurden also mit unterschiedlichen negativen Eigenschaften versehen. Erstere wurden dabei mit der ökonomischen Sphäre verknüpft.
5.5.1 ‚Juden‘ als Gefahr für die republikanische Ordnung
Wie die Populist_innen und das Anti-Frank-Lager hielt der Klan an der Idealisierung des ländlichen Lebens fest.122 In den Augen der Klansmänner stellten ‚Juden‘ jedoch keinen Bestandteil des Landlebens dar. Vielmehr galten sie ihnen als Akteure, die wesentlich für den Niedergang der ländlichen Gesellschaftsformation verantwortlich gewesen seien. Während die Arbeit nicht-jüdischer Angloamerikaner als eine schöpferische, gestaltende und produktive Tätigkeit charakterisiert wurde, die die Wohlfahrt der US-Gesellschaft als Ganzes fördere und steigere, wurde den vermeintlich von ‚Juden‘ ausgeübten Tätigkeiten jeglicher Beitrag zur Erhöhung des Gemeinwohls abgesprochen. Diese Gegenüberstellung von Wert schaffender, angloamerikanischer Arbeit und der ‚ausbeuterischen‘ Aneignung des Arbeitsproduktes durch ‚jüdische‘ Händler und Banker zog sich durch zahlreiche Schriften und Pamphlete des Klans.123 Dabei bedienten sich ‚Juden‘ in der Vorstellungswelt des Klans diverser Listen, Betrügereien und Täuschungen.124 Als zentrales Instrument von ‚Juden‘, um die US-Gesellschaft zu dominieren und zu unterjochen, identifizierten Klansmänner die Finanzsphäre. Die unter Populist_innen verbreitete und im Verlauf des Leo Frank-Case in einer kohärenten, antisemitischen Weltsicht aufgehende Vorstellung, dass ‚Juden‘ über die Finanzsphäre Produzenten ausbeuten würden, entwickelte auch unter Klansmännern eine große Wirkmacht. ‚Juden‘ wurden als Geld- und Pfandleiher sowie 121 122 123 124
Grand Dragon of Colorado, „Klansman’s Obligation“, S. 60. Evans, „Ku Klux Klan toward the Jew“, S. 119 f.; ders., Modern Immigration, S. 19 f. Ders., Klan toward the Jew, S. 9 f.; ders., „Ku Klux Klan toward the Jew“, S. 121. Burrows, Big 3 in One, S. 37; Evans, „Ku Klux Klan toward the Jew“, S. 119.
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Akteure des Bankwesens wahrgenommen, die die Notsituationen der übrigen Bevölkerung zur eigenen Bereicherung ausnutzen würden.125 In dem 1923 publizierten Pamphlet The Jewish Problem in the United States legte der Verfasser, Sam H. Campbell, seine Sichtweise auf ‚Juden‘ als internationale Banker und auf ihr Streben nach einer über das Finanzkapital vermittelten Weltherrschaft wie folgt dar: Again the Jew is a menace because of his international plots for world control. The existence of this plot is so apparent today, that business men, statesmen, philosophers and preachers are growing alarmed at the condition and some have gone far enough to say, that we no longer have a Government, ‚Of the people and by the people and for the people,‘ but one ‚Of the International Banker, by the International Banker and for the International Banker.‘126
Wie in populistischen Imaginationen ‚die Rothschilds‘ und Shylocks und in Vorstellungen des Anti-Frank-Lagers die „reichen Juden“ oder der „BelmontRothschild-Konzern“ längst zu den, wenn auch verdeckt agierenden, Herrschern über die USA aufgestiegen waren, stellte auch der Klan enge Verflechtungen zwischen einer ‚Juden‘ zugeschriebenen ökonomischen Potenz und politischer Allmacht her.127 Die republikanische Staatsform der Vereinigten Staaten von Amerika bestand nach Ansicht Campbells nur noch pro forma. De facto hätten die als ‚jüdisch‘ gedachten international agierenden Banker längst die Macht an sich gerissen und die Herrschaft des ‚Volkes‘ in eine der ‚jüdischen Banker‘ transformiert. Als Quelle des Herrschaftsstrebens machte Campbell eine Gier nach Reichtum aus, die ‚Juden‘ auf Kosten der nichtjüdischen Bevölkerung zu stillen suchten.128 Die Grenzziehung zwischen Angloamerikanern und ‚Juden‘ entlang der Scheidelinie ‚Werte schaffen‘ versus ‚existierende Werte aneignen‘ und die damit verbundene Konstruktion von ‚Juden‘ als Gefahr für die republikanische Ordnung wurden vom Klan als eine die Geschichte der USA durchziehende Konstante gedacht und auf diesem Wege essentialisiert. Die gesamte als Kulti125 Ders., Klan toward the Jew, S. 9 f. 126 Sam H. Campbell, The Jewish Problem in the United States. Atlanta: Knights of the Ku Klux Klan Inc. 1923, S. 9, LoC, KKKP, Box 1, Folder 15. 127 Mrs. L. Slappey, „A Governor Who Forgot.“ In: The Jeffersonian, 29.7.1915, S. 10; [unbekannt], „Why Do They Keep Up the Big Money Campaign against the People and the Courts of Georgia?“ In: The Jeffersonian, 12.8.1915, S. 1; [unbekannt], „As to a Daily Paper in Atlanta.“ In: The Jeffersonian, 8.7.1915, S. 7. 128 Campbell, Jewish Problem, S. 9.
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vierung beurteilte Eroberung Nordamerikas wurde als ein Projekt entworfen, zu dem ‚Juden‘ keinerlei Beitrag geleistet hätten. Erst nachdem angloamerikanische Protestanten unter Einsatz erheblicher Opfer die Vereinigten Staaten von Amerika errichtet hätten, hätten sich ‚Juden‘ dort niedergelassen. It was only after the white, Gentile Christian had won the American continent by conflict and sacrifice that the Jew began to view America as his Mecca, or more properly speaking, as his latterday land ‚flowing with milk and honey.‘ The Declaration of Independence by Jefferson; the Bill of Rights, by Madison, and the Constitution, by Madison and Jay, had been long organized into ‚agreements of the people, by the people and for the people‘ before the Jew began to flow to this country in great tides of immigration.129
Klansmänner verknüpften also die ‚Juden‘ zugeschriebene Aversion gegen produktive Tätigkeiten mit einer zumindest indifferenten Haltung zur demokratischen Ordnung. Die Errichtung der Republik erscheint als Resultat eines zähen Ringens angloamerikanischer Protestanten, während gleichzeitig jegliche Verbindung von ‚Juden‘ mit diesem Projekt negiert wird. Auf diesem Weg wurden ‚Juden‘ aus der Geschichte und Gründung der republikanisch verfassten USA ausgeschlossen. Sie erscheinen als Fremdkörper, die sich ohne tiefere Bindung zu den USA in dem Land niederließen. Die vom Klan vorgenommene Konstruktion von ‚Juden‘ als Gefahrenquelle für die Demokratie stand in engem Zusammenhang mit der Vorstellung, dass sich ‚Juden‘ durch einen besonderen Zusammenhalt auszeichnen würden. Diese Wahrnehmung, die bereits Bestandteil der während des Leo Frank-Case hergestellten antisemitischen Weltsicht war und sich während der Affäre unter anderem in dem Verdacht geäußert hatte, dass ‚Juden‘ durch das Außerkraftsetzen der Gesetze versuchen würden, den Angeklagten vor der als gerecht erachteten Strafe zu bewahren, war von fundamentaler Bedeutung für die Einstellung des Klans gegenüber ‚Juden.‘ Allerdings wurde dieser angebliche ‚jüdische‘ Zusammenhalt nicht in toto als negativ beurteilt. Vielmehr war die Haltung des Klans dazu von Ambivalenzen gekennzeichnet. Der Imperial Wizard Evans lobte diese ‚jüdischen‘ Menschen attribuierte Eigenschaft, im Klanjargon häufig „clanishness“ oder „Klanishness“ genannt, im Pamphlet The Attitude of the Knights of the Ku Klux Klan toward the Jew:130 129 Evans, „Ku Klux Klan toward the Jew“, S. 119. 130 Ders., Klan toward the Jew, S. 11; Exalted Cyclops of the Order, „Principles and Purposes of the Knights of the Ku Klux Klan.“ In: Klan (Hg.), Ku Klux Klan, S. 123–130, hier S. 125.
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The Jew has maintained his social order without invasion by the white American Christian. He has married among his own, and only in rare and exceptional instances has the Jew intermarried with the Gentile, and then the Orthodox Jew has suffered the terrible penalty of banishment from the Jewish circle, creed and society. Even where Jewish children have been taught in American schools with Christian children, the descendants of Abraham have denied their children the right of intermarriage with the Gentile. The Jew has been careful of his own. He has protected the sanctity of his home with a fidelity that all men respect and admire. He has known for generations what our Western civilization has been slow to learn, and that is: The amalgamation of two dissimilar races produces the inferior qualities of both. No man can become a real American citizen, according to the standards of the Knights of the Ku Klux Klan, until he regards the chastity of woman as a sacred trust, and sanctity of the home as an inviolable obligation.131
Ebenso wie im obigen Zitat wurde die Vorstellung, dass ‚Juden‘ durch einen besonderen Zusammenhalt charakterisiert seien, in zahlreichen Schriften mit einem angeblich besonders stark ausgeprägten ‚Rassebewusstsein‘ verknüpft.132 ‚Juden‘ galten als eine „fremdartige, nicht anpassungsfähige und cliquenhafte […] Rasse“.133 Die Imagination eines besonderen ‚rassischen Zusammenhalts‘ von ‚Juden‘ evozierte unter Klansmännern partielle Bewunderung, wurde doch diese Eigenschaft als Ursache des vermeintlichen weltweiten Erfolgs der ‚Juden‘ identifiziert. Sie galten als Vorbild, dem es in dieser Hinsicht nachzueifern gelte.134 In vielen Pamphleten manifestierte sich diese Anerkennung in der Forderung des Klans, nach dem Vorbild von ‚Juden‘ eine „klanish“ organisierte Gesellschaft zu errichten.135 Die Ausbildung und Durchsetzung einer „ehrbaren Clanishness“ galt als Voraussetzung dafür, dass das Leben eines jeden angloamerikanisch-protestantischen Menschen zu einer „dauerhaften Wohltat“ für die Mitbürger gerate.136 Hier tritt aber auch die Kehrseite der vorgenommenen Konstruktion eines ‚jüdischen Zusammenhalts‘ zum Vorschein. Das narrative Zusammenschweißen von ‚Juden‘ zu einer sich hermetisch von anderen ‚Rassen‘ separierenden Gruppe bedeutete in Konsequenz die frontale Gegenüberstellung von ‚Juden‘ und 131 Evans, Klan toward the Jew, S. 10. 132 Burrows, Big 3 in One, S. 49; Evans, „Ku Klux Klan toward the Jew“, S. 122; ders., Klan toward the Jew, S. 11 f. 133 Cyclops of the Order, „Principles and Purposes“, S. 125. 134 Ders., S. 125. 135 Simmons, Kloran, S. 36; ders., The ABC of the Knights, [keine Seitenangabe]; Ku Klux Klan, Constitution and Laws, S. 4, 6, 8. 136 Ku Klux Klan, America for Americans, [keine Seitenangabe].
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Nichtjuden und letztendlich die Exklusion von ‚Juden‘ aus dem US-Staatsbürgerschaftskörper. So beschuldigte Evans ‚Juden‘, in den USA ein „Judenland“ errichten zu wollen.137 ‚Juden‘ wurden so zu Fremdkörpern in der US-Gesellschaft gemacht, die auf Grund der ihnen zugeschriebenen gleichzeitigen (ökonomischen) Überlegenheit und (moralisch-ethischen) Unterlegenheit eine Gefahr für angloamerikanische Protestant_innen darstellten. Das Lob der ‚jüdischen Clanishness‘ war insofern ein vergiftetes, als es den Grundstein für die Konstruktion von ‚Juden‘ als parasitäre Wesen legte, die auf Kosten der angloamerikanisch-protestantischen Menschen ihre vermeintliche Gier nach materiellen Gütern befriedigten. Das Verständnis von ‚Juden‘ als gefährlicher Fremdkörper manifestierte sich unter anderem in der Verwendung von Metaphern des Aussaugens. Geo W. Burrows schrieb über das Verhältnis zwischen ‚Juden‘ und der prostestantisch-angloamerikanischen Bevölkerung in den USA: The Jew today, I am sorry to say, is a human blood sucker, a leech and a parasite on human society and he is sucking blood and life out of the American people. When you come to realize the fact that he owns eighty to ninety percent of the railroad stocks and bonds and our public utilities. The Jew should feel and realize his responsibility, and should do more for the world of mankind than all the other races of people put together and should really feel that he is indeed and in truth his brother’s keeper.138
Der hier vorgenommene Entwurf von ‚Juden‘ als (animalische) Schädlinge beeinflusste die Einstellung zu der Frage nach der Eignung von ‚Juden‘ zu Staatsbürgern grundlegend. Nach Ansicht des Klans ging die Staatsbürgerschaft sowohl mit Rechten als auch Pflichten einher.139 Der einzelne Staatsbürger hatte der zugehörigen Nation zu dienen und in Notsituationen, wie Kriegen, das eigene Leben dem Wohl der Nation unterzuordnen und notfalls zu opfern.140 Die aus der vermeintlichen ‚Clanishness‘ resultierende Konstruktion von ‚Juden‘ als „Parasiten“ stand diesem Verständnis allerdings diametral entgegen und ließ sie in den Augen des Klans als ungeeignet zur Staatsbürgerschaft erscheinen. Anstatt zum Wohl der USA beizutragen, weigerten sich ‚Juden‘ in diesem Narrativ partout, einen Beitrag zur Prosperität und Sicherheit der Nation zu leisten. 137 Hiram W. Evans, „Where Do We Go from Here?“ In: Ku Klux Klan (Hg.), Knights of the Ku Klux Klan. [o. O.]: [Selbstverlag] 1923, S. 7–13, hier S. 12, DBC, LRPC. 138 Burrows, Big 3 in One, S. 38. 139 Wood, Citizen?, S. 11. 140 Ders., S. 15–17.
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In enger Verbindung zu dem Vorwurf der Clanishness stand ein weiterer Aspekt, der ‚Juden‘ konträr zum Staatsbürgersschaftsverständnis des Klans setzte: die ihnen angeheftete absolute Indifferenz gegenüber den USA. Häufig äußerte sich dieses Verständnis in der Rezeption der Figuration des Wandering Jew.141 Seit ihrer Vertreibung aus Judäa seien ‚Juden‘ ruhelos über die Erde gezogen und hätten sich mal in dem einen, mal in dem anderen Land niedergelassen. Nach Ansicht von Evans war dieser Kosmopolitismus derart tief in ‚Juden‘ verankert, dass ihnen dadurch die Ausbildung eines patriotischen Gefühls unmöglich geworden sei.142 Diese Imagination von ‚Juden‘ als heimatlos und kosmopolitisch wurde auch mit dem ihnen zugeschriebenen Primat des Geldes und des materiellen Wohlstandes verknüpft. … he [‚der Jude‘, K. K.] is making money and grabbing it in anyway [sic!] he can get it, interested only in his own welfare and caring only for himself, and is always taking in but never giving out and for this reason, he is not a true American citizen but just as likely to bow to any flag in the world, as to honor and respect the great old Stars and Stripes. Why? Because he is indifferent to any and all, just so he gets the money.143
Die Gegenüberstellung eines ‚jüdischen‘ Subjekttypus und eines „richtigen amerikanischen Staatsbürgers“ lief letztlich darauf hinaus, ‚Juden‘ das Recht auf gesellschaftliche Partizipation als Staatsbürger abzusprechen. In Kombination mit der ‚Juden‘ attribuierten Überlegenheit in ökonomischen Belangen führte die ihnen zugeschriebene Unfähigkeit, als Staatsbürger einer republikanischen Ordnung zu agieren, zu der Idee, dass die Demokratie durch die Existenz und die Handlungen von ‚Juden‘ fundamental bedroht, beziehungsweise bereits weitestgehend außer Kraft gesetzt sei. Nicht mehr die Herrschaft der als gleichberechtigt imaginierten angloamerikanischen Männer bestimme die Geschicke der Nation, sondern der Mammonismus und die mit ihm verknüpften Morallosigkeiten von ‚Juden‘. Die Wahrnehmung, dass die Entwicklung der Gesellschaft von ‚Juden‘ dominiert sei, zeigte sich zum Beispiel in der bereits erwähnten Sichtweise, dass die USA vom „International Banker“ regiert werde. Besonders offensichtlich manifestierte sich die empfundene ‚jüdische‘ Dominanz in der 141 Zur Rezeption der Figuration des Wandering Jew in den USA siehe u. a. Louis Harap, The Image of the Jew in American Literature: From Early Republic to Mass Immmigration. New York: Syracuse University Press 2003, S. 239–255. 142 Evans, Modern Immigration, S. 22 f. 143 Burrows, Big 3 in One, S. 40.
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Imagination, dass Angloamerikaner von „Mr. Jew“ versklavt würden. Vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Verständnisses von männlichen Sklaven als effeminiert verweist das imaginierte Master-Sklaven-Verhältnis, in dem ‚Juden‘ über Angloamerikaner herrschten, deutlich auf die vergeschlechtlichte Dimension des ‚Juden‘ zugeschriebenen Angriffs auf die demokratische Ordnung. Das Herabsinken auf den Status der eigenen ehemaligen Sklav_innen, also der vollständige Verlust der männlichen Autonomie, bedurfte zur Rekonstitution des eigenen, dominanten gesellschaftlichen Status eines Kampfes gegen ‚Juden‘. I for one, will never slave for Mr. Kike, Mr. Sheeny or Mr. Wandering Jew no more, and he will soon have to go out of business, when you, like myself, quit this sort of foolishness and stop slaving for Mr. Jew. … I said we are going to run the kike out of business and put him back to hard labor, as he once was, making brick of mud and strow the days of his bondage in Egypt, and as the Gentiles will be the taskmasters, and change the tactics and give him evil for evil in a righteous way, as this is nothing but fair play.144
Im Klan-Narrativ standen sich also angloamerikanische Männer als Bewahrer und ‚Juden‘ als Zerstörer der republikanischen Ordnung gegenüber. Der sich in den unterschiedlichen Haltungen zum gesellschaftlichen System begründende Antagonismus bildete in diesem Verständnis eine Wurzel des Konflikts zwischen dem Klan und ‚Juden‘. Nicht etwa der Antisemitismus des Klans galt somit als Ursache für die negative Haltung von ‚Juden‘ zum Geheimbund, sondern dessen Intention, der vermeintlichen ‚jüdischen‘ Herrschaft ein Ende zu bereiten.145 Die populistische Vorstellung einer von ‚Juden‘ betriebenen Ausbeutung und Unterdrückung angloamerikanischer Produzenten über die Finanzsphäre wurde vom Klan, ebenso wie zuvor vom Anti-Frank-Lager, mit antisemitischem Wissen verwoben, das eng an die mit Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozessen einhergehenden gesellschaftlichen Transformationen gekoppelt war. Generell lässt sich für die Knights of the Ku Klux Klan diagnostizieren, dass sie den von New Immigrants bevorzugten Lebensraum als städtisch beschrieben und diese auf diese Weise in Kontrast zur angloamerikanischen Mehrheitsbevölkerung setzten.146 Während Städte mit einer Größe von über 100.000 Einwohner_innen als Habitat von Migranten identifiziert wurden, wurden Angloamerikaner 144 Ders., S. 41. 145 Bogard, Klan Exposed, [keine Seitenangabe]. 146 Grand Dragon of South Carolina, „The Regulation of Immigration“, S. 69 f.; ders., „Poorly Restricted Immigration“, 29.8.1923, S. 2.
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in ländlichen Gebieten lokalisiert.147 Mit diesem Narrativ korrespondierte das schon in den Dekaden zuvor in den USA und den Südstaaten verbreitete Verständnis von ‚Juden‘ als ‚urbane Rasse‘. So stellte der Imperial Wizard Evans mit folgenden Worten einen engen Zusammenhang zwischen Urbanität und ‚Juden‘ her: […], but nearly all the Jews in this country live in large cities. They are generally distributed over the vast area of our common country. This violates a fundamental law of our social life. ‚The city is a cancer on the body on the body politic [sic!],‘ and ‚an illustration of the failure of American democracy.‘ The point, however, is just this: The Jew came to America in considerable numbers only after the great American Republic was established, then for the purpose of taking asylum under the towers of Democratic Government.148
Die Assoziation von ‚Juden‘ mit städtischem Lebensraum diente also als Nachweis für deren Unverträglichkeit mit einer republikanischen Ordnung, die in der Logik des Klans zwangsläufig eine ländliche zu sein hatte. Neben dieser Konstruktion von ‚Juden‘ als Kräfte der Unterminierung einer ländlich-republikanischen Ordnung waren auch andere Aspekte des in den Dekaden zuvor hergestellten, mit der voranschreitenden Industrialisierung und Urbanisierung verwobenen Wissens über ‚Juden‘ Bestandteile der vom Klan verbreiteten antisemitischen Weltsicht. Von zentraler Bedeutung waren dabei Bedrohungswahrnehmungen angloamerikanischer Männlichkeit, die unter anderem eng mit dem Vormarsch weiblicher Lohnarbeit und den damit verbundenen Verschiebungen innerhalb des Geschlechterverhältnisses verflochten waren.
5.5.2 Angloamerikanische Weiblichkeit und die Idee des Jewish Hollywood
Auch in der Konstruktion von ‚Juden‘ als Gefahrenquelle für angloamerikanische Weiblichkeit zeigt sich das Verhältnis zwischen den antisemitischen Versatzstücken, die bereits in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts im Süden zirkulierten, der während des Leo Frank-Case aus diesen hergestellten kohärenten, antisemitischen Weltsicht und dem Antisemitismus des Klans. Analog zu den vorangegangenen Jahrzehnten wurden ‚Juden‘ vom KKK erneut als bedeutende Akteure der Transformationen im Geschlechterverhältnis identifiziert. Im 147 Evans, Menace of Modern Immigration, S. 19 f. 148 Evans, „Ku Klux Klan toward the Jew“, S. 120.
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Unterschied zu den Jahrzehnten vor dem Leo Frank-Case wurde dieses Narrativ nun vom Klan in ein umfassendes antisemitisches Weltbild integriert.149 Wie bereits kurz dargestellt, verknüpfte der Klan Weiblichkeit primär mit der privaten Sphäre. Klansmänner standen Phänomenen wie weiblicher Lohnarbeit, die sie als Aushöhlung männlicher Dominanz verstanden, ablehnend gegenüber. Die als negativ identifizierten Aspekte zunehmender weiblicher Unabhängigkeit und Handlungsmacht bündelten sich nach Ansicht des KKK in den „nackten Flapper Girls“, die als Resultat einer gelockerten Sexualmoral verstanden wurden.150 Als Triebkräfte dieser Entwicklung wiederum wurden ‚Juden‘ identifiziert.151 Wie zuvor während der Frank-Affäre galten sie als lüsterne Vorgesetzte oder aber als Zuhälter. Die Angriffe auf Keuschheit und Moral angloamerikanischer Frauen wurden auch vom Klan nicht als Fehlverhalten einzelner ‚Juden‘ verstanden, sondern galten als Konsequenz der in zentralen Schriften des Judentums propagierten Lehren.152 Auf diesem Weg wurde die feindselige Haltung gegenüber angloamerikanischen Frauen zu einem integralen Bestandteil von ‚Juden‘. Die ‚jüdischen‘ Männern zugeschriebene Aggression gegenüber angloamerikanischen Frauen bot den Klansmännern die Möglichkeit, sich auf der Folie dieses Verhältnisses als gesellschaftlich notwendige Kraft zu inszenieren. So schrieb der Herausgeber der Klanzeitung The Searchlight, J. O. Wood: A Ku Klux is first of all a real man, and as such believes in the chastity of women and the sanctity of home. The times in which we live; the lowering of all moral standards following the world war; the styles of dress; the total absence of respect for American girls by the great majority of foreign-born men and the younger generation of Jews; these all combine to make it difficult for American women to maintain the high ideals of their sainted mothers.153 149 Allerdings galten ‚jüdische‘ Männer nicht per se als unmoralisch in ihrem Verhalten gegenüber Frauen. Vielmehr wurde ihr vermeintlicher Umgang mit diesen in ein direktes Verhältnis zu deren Jüdisch- bzw. Nichtjüdischsein gesetzt. Während der Klan ‚jüdischen Männern‘ einen tugendhaften Umgang mit ‚jüdischen‘ Frauen nachsagte, wurde ihr Verhalten gegenüber protestantischen Angloamerikanerinnen als tugendlos und unehrenhaft charakterisiert (Burrows, Big 3 in One, S. 39). 150 Zu Flapper Girls siehe u. a. Ole Reinsch, „Flapper Girls – Feminismus und Konsumgesellschaft in den Goldenen Zwanzigern.“ In: Feminismus-Seminar (Hg.), Feminismus in historischer Perspektive: Eine Reaktualisierung. Bielefeld: transcript Verlag 2014, S. 103–117; Kelly Boyer Sagert, Flappers: A Guide to an American Subculture. Santa Barbara: Greenwood Press 2010. 151 Burrows, Big 3 in One, S. 8. 152 Ders., S. 37 f.; White, Klan in Prophecy, S. 53 f. 153 Wood, Citizen?, S. 44.
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Während ‚Juden‘ den Erhalt weiblicher Reinheit nahezu verunmöglichten, traten Klansmänner in diesem Narrativ als Akteure auf, die Frauen durch den Kampf gegen ‚Juden‘ wieder ein tugendhaftes, keusches und reines Leben ermöglichen würden. Die vermeintliche Aggression gegenüber angloamerikanischen Frauen diente somit in zweierlei Richtung der Absicherung der gesellschaftlich dominanten Stellung angloamerikanischer Männer: einerseits verlangte die als bedrohlich entworfene ‚jüdische‘ Männlichkeit nach der Kontrolle durch protestantisch-angloamerikanische Männer, andererseits ermöglichte der Schutz weiblicher Tugendhaftigkeit vor Übergriffen die Restabilisierung der durch den gesellschaftlichen Wandel ausgehöhlten Verfügungsgewalt über angloamerikanische Frauen. Das zeitgenössische Verständnis von ‚Juden‘ als sexuelle Aggressoren wurde im Klan-Narrativ eng mit anderen antisemitischen Elementen, wie z. B. der Imagination einer von ‚Juden‘ ausgehenden Kontrolle über Massenmedien, verflochten. Generell nahmen Klansmänner wie der Herausgeber der offiziellen Klanzeitung The Imperial Night-Hawk den Großteil der Presse als unter ‚jüdischem‘ und ‚katholischem‘ Einfluss stehend wahr.154 Andere Klansmänner bezeichneten US-amerikanische Herausgeber von Printmedien als „Callboys“ ‚jüdischer‘ Kaufleute.155 Der Grand Dragon von Colorado forderte deshalb auf einer Versammlung führender Klanmitglieder: „Real American citizens must regain control of the press and motion pictures, and see to it that the American public opinion is never more misled.“156 Häufig verknüpfte der Klan die Idee einer von ‚Juden‘ ausgeübten medialen Macht mit den ihnen zugeschriebenen Angriffen auf die angloamerikanische Weiblichkeit. In diesem Zusammenhang entfalteten Vorstellungen einer von ‚Juden‘ ausgehenden Kontrolle über das damals relativ neue Medium ‚Film‘, die bis zum heutigen Tag in der antisemitischen Phantasie vom ‚jüdischen Hollywood‘ fortleben, eine enorme Wirkmacht.157 Damit trug der Klan signifikant zu einer Verschiebung innerhalb antisemitischer Wahrnehmungen bei. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts löste das Kino beziehungsweise das Medium ‚Film‘ Zeitungen als Quelle des ‚Juden‘ zugeschriebenen unfassbaren Einflusses auf ge154 Editorial Imperial Night-Hawk, „The Klan and the Press.“ In: Klan (Hg.), Ku Klux Klan, S. 93–98, hier S. 95. 155 Burrows, Big 3 in One, S. 50. 156 Grand Dragon of Colorado, „Klansman’s Obligation“, S. 62. 157 [Unbekannt], „Hollwywood No Longer Sexist?“ In: Instauration, Jg. 5, Nr. 4 (März 1980), S. 20; [unbekannt], „Hollywood Bloodlines.“ In: Instauration, Jg. 10. Nr. 8 ( Juli 1985), S. 19; [unbekannt], „Censoring Genetics.“ In: Instauration, Jg. 11, Nr. 9 (August 1986), S. 18.
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sellschaftliche Zustände ab.158 Um der Bedeutung des Klans für die Herstellung und Verbreitung dieser veränderten Variante bestehender antisemitischer Vorstellungen nachzuspüren, werde ich zunächst kurz auf die allgemein mit dem Aufkommen des Kinos verbundenen Bedrohungswahrnehmungen eingehen. NachdemeinigetechnischeInnovationenindenletztenDekadendes19.Jahrhunderts die Voraussetzungen geschaffen hatten, wurden bewegte Bilder um die Jahrhundertwende in den USA zu einem massenkulturellen Phänomen.159 Während die hohen Eintrittspreise Menschen der Arbeiterklasse zunächst aus dem Kreis der Zuschauer_innen ausschlossen und sich das Publikum primär aus der Mittelklasse rekrutierte, veränderte sich die Zusammensetzung der Besucher_innen mit der Ausbreitung des Nickelodeons massiv. Die niedrigen Eintrittspreise – der Besuch kostete in den ersten Jahren lediglich einen Nickel, woraus sich auch die Bezeichnung Nickelodeon ableitete – ermöglichten auch Arbeiter_innen den Zugang zu diesem neuartigen Ort.160 Laut einer 1910 in New York durchgeführten Studie entstammten drei Viertel aller Besucher_innen der Nickelodeons der Arbeiterklasse. Insbesondere eine hohe Zahl an Frauen konnte durch diese neue Form der Massenunterhaltung mobilisiert werden. Ungefähr 40 Prozent der Zuschauer_innen in den Kinos von New York waren weiblich.161 Mit diesen Veränderungen war auch ein rasanter Anstieg der Zuschauer_innenzahlen verbunden. 1910 besuchten 26 Millionen Menschen pro Woche die inzwischen über 10.000 Nickelodeons in den USA.162 Mit der veränderten Zusammensetzung des Publikums ging auch ein Wandel der öffentlichen Haltung gegenüber den Kinos einher. Während einige Reformer_innen das Kino dafür priesen, dass diese Form der Freizeitgestaltung im Gegensatz zum Saloon die Familie zusammenführe und somit diese Institution stärke, riefen die Nickelodeons scharfe Kritik insbesondere aus dem Bürgertum 158 Harold Brackman, „The Attack on ‚Jewish Hollywood‘.“ In: Modern Judaism, Jg. 20, Nr. 1 (Februar 2000), S. 1–19, hier S. 1. 159 Zu den Entwicklungen und Veränderungen des Kinos bis 1907 siehe: Charles Musser, The Emergence of Cinema: The American Screen to 1907. Berkeley et al.: University of California Press 1994. Zu den weiteren Entwicklungen des frühen Kinos siehe u. a. Eileen Bowser, The Transformation of Cinema, 1907–1915. Berkeley et al.: University of California Press 1994; Richard Koszarski, An Evening’s Entertainment: The Age of the Silent Feature Picture. Berkeley et al.: University of California Press 1994. 160 John Belton, American Cinema/American Culture. New York et al.: McGraw-Hill, Inc., 1994, S. 5–19. 161 Kathy Peiss, Cheap Amusements: Working Women and Leisure in Turn-of-the-Century New York. Philadelphia: Temple University Press 1986, S. 146–148. 162 Belton, American Cinema, S. 10.
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hervor. Das Kino wurde als Angriff auf die Moral und damit die gesellschaftliche Ordnung wahrgenommen.163 Es galt als Ort der Promiskuität und der Zerstörung weiblicher Tugendhaftigkeit.164 Durch den Einsatz von Regulationsmethoden wie der Zensur versuchten deshalb unter anderem staatliche Akteure Einfluss auf die neue kulturelle Kraft auszuüben und sie in ihrem Interesse zu lenken.165 Auf Grund des destabilisierenden und destruktiven Potenzials, das dem Medium Film zugesprochen wurde, gerieten nicht nur das Publikum, sondern auch die in die Produktion involvierten Menschen in den Blick besorgter Zeitgenoss_innen.166 Nach Ansicht der Kritiker_innen übte die Filmindustrie einen immensen Einfluss auf die Moral- und Sittlichkeitsvorstellungen der Konsument_innen aus. Dementsprechend war die Imagination, dass einflussreiche Positionen in der Filmindustrie von unmoralischen Menschen besetzt seien, in zeitgenössischen Wahrnehmungen mit bedeutenden Gefahren für die Gesellschaft verbunden. Da ‚Juden‘ in vielerlei Hinsicht als moralisch deviant und bedrohlich konstruiert wurden, nimmt es nicht Wunder, dass die Vorstellung eines ‚jüdischen Einflusses‘ auf die Filmindustrie bei Zeitzeug_innen manifeste Bedrohungswahrnehmungen auslöste. ‚Juden‘ hätten ihre Dominanz genutzt, um Einfluss auf die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft auszuüben, sie in ihrem Interesse zu manipulieren und als protestantisch-angloamerikanisch kategorisierte Wertund Moralvorstellungen zu unterminieren. Die Idee einer Verflochtenheit zwischen Filmindustrie und ‚Juden‘ zeigte sich bereits während des Leo Frank-Case. So integrierte Thomas Watson die Vorstellung eines ‚jüdischen Einflusses‘ auf die Filmbranche in seinen Feldzug gegen Frank, indem er auf Marcus Loew, einen jüdischen Geschäftsmann und Vorreiter der frühen Filmindustrie, verwies und ihn der Manipulation der öffentlichen Meinung zugunsten Franks bezichtigte.167 163 Die Sorge, dass die Unterhaltungskultur einen negativen Einfluss auf die Moral ausübe, stellte keine Reaktion auf den Aufstieg des Kinos zum massenkulturellen Phänomen dar. Bereits zuvor wurde z. B. Kritik am Theater geäußert, weil dieses eine Schwächung der Menschen bedinge, die menschlichen Emotionen aufwühle und schlussendlich der menschlichen ‚Zivilisation‘ das Fundament entziehe (siehe u. a. Rev. W. A. Candler, The Church vs. the Theater. Nashville: Southern Methodist Publishing House 1887, S. 4 f., DBC, LRPC). 164 Peiss, Cheap Amusements, S. 151. 165 Lee Grieveson, Policing Cinema: Movies and Censorship in Early-Twentieth-Century America. Berkeley et al.: University of California Press 2004, S. 3–5. 166 Peiss, Cheap Amusements, S. 159. 167 [Thomas Watson?], „Big Money Campaign“, 12.8.1915, S. 1; Thomas Watson, „The Celebrated Case of the State of Georgia vs. Leo Frank.“ In: Watson’s Magazine, Jg. 21, Nr. 4 (August 1915), S. 182–235, hier S. 198.
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In den 1920er Jahren, und damit zur Hochzeit des zweiten Klans, intensivierte sich die Wahrnehmung einer von ‚Juden‘ ausgeübten Dominanz über die Filmbranche. Zugleich gewann die Vorstellung von ‚jüdischen‘ Filmemachern als Aggressoren gegenüber einer protestantischen Sexualmoral und insbesondere gegenüber angloamerikanischer Weiblichkeit zusätzlich an Wirkmacht. In einer Vielzahl an Filmen, die in den 20er Jahren in Hollywood produziert wurden, manifestierten sich liberale Haltungen des Jazz Age zu Fragen der Moral und Sexualität. Die erotische Zurschaustellung leicht bekleideter, weiblicher Körper in den Filmen provozierte vehemente Kritik, in der die identifizierten Probleme nicht selten unter Einsatz einer rassifizierten Linse analysiert wurden. Nach Harold Brackman verkörperte die Figur des ‚jüdischen‘ Produzenten für viele Zeitgenoss_innen die moralische Verkommenheit der Filmindustrie auf ideale Art und Weise. In diesem Zusammenhang verweist Brackman, wenn auch lediglich in einem Nebensatz, auf die Bedeutung des Leo Frank-Case für die Konstruktion des ‚jüdischen‘ Filmemachers als „Lüstling“.168 Auf Grund seiner großen Bedeutung in den ersten Jahren der 1920er stellte der Klan eine bedeutsame Kraft bei der Herstellung und Streuung dieser neuen Konfiguration der ‚alten‘ antisemitischen Imagination einer ‚jüdischen Kontrolle‘ über Medien dar. ‚Jüdische‘ Menschen wurden wiederholt als Akteure einer über die Filmindustrie vollzogenen Unterminierung von Tugend und Moral konstruiert.169 Alma White, eine dem Ku-Klux-Klan nahestehende Pfarrerin und Publizistin, brachte die Imagination einer ‚jüdischen‘ Dominanz über die Filmindustrie und die daran gekoppelten Gefahren in der Schrift The Ku Klux Klan in Prophecy zum Ausdruck: The great Jewish syndicates, the rulers and promoters of the motion picture industry, are striking death-blows to the morals of society and to American traditions and principles. There is no greater menace of the youth of the country than the ‚movies‘ with their immoral films and evil influences. In many states the Jews are running the theaters and the motion picture shows on Sunday, thus undermining Christianity by luring the multitudes away from the Protestant churches into these vile places of amusement.170 168 Brackman, „Attack on ‚Jewish Hollywood‘“, S. 2–4. 169 Der Klan verknüpfte neben ‚Juden‘ auch ‚Katholiken‘ mit der Filmindustrie. Er verstand die Filmbranche als eine Waffe des Papstes bei seinem Feldzug gegen die Protestant_innen (Tom Rice, „Protecting Protestantism: The Ku Klux Klan vs. the Motion Picture Industry.“ In: Film History, Jg. 20, Nr. 3 (2008), S. 367–380, hier S. 370). 170 White, Klan in Prophecy, S. 53.
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Filme wie The Pilgrim, der von dem als ‚Juden‘ attackierten Nichtjuden Charlie Chaplin produziert wurde, oder Bella Donna, in dem der große Stummfilmstar Pola Negri eine Hauptrolle spielte, wurden als Produkte einer unter der Kontrolle von ‚Juden‘ stehenden Filmindustrie verstanden und angegriffen.171 Die angebliche Dominanz von ‚Juden‘ innerhalb der Filmindustrie, die sich in „schmutzigen, vulgären, ekelhaften, und unmoralischen Bildern“ materialisiert habe, brachte nach Ansicht des Klans eine Vielzahl an negativen Effekten und Konsequenzen mit sich, insbesondere für junge, heranwachsende Angloamerikaner_innen.172 So galt Geo W. Burrows der Film Bella Donna als ein Angriff auf die USA, der von „verdorbenen Secondhandklamottenhändlern, die der US-Bevölkerung den Film untergeschoben hätten,“ ausgeübt worden sei.173 Er identifizierte also das Verhältnis zwischen den vermeintlich ‚jüdischen‘ Filmproduzenten und den angloamerikanischen Zuschauer_innen als eines zwischen Tätern und Opfern. Dabei agierten ‚Juden‘ in der Vorstellung Burrows, wie der Begriff „untergeschoben“ deutlich macht, undurchsichtig und listig. Heftige Kritik entzündete sich an der in Bella Donna inszenierten Affäre zwischen der Protagonistin und dem Protagonisten: Bella Donna, dargestellt durch Pola Negri, und Mahmoud Baroudi, gespielt von Conway Tearle. Im Zentrum der Geschichte steht das Verhältnis von Bella Donna zu unterschiedlichen, auch nicht-weißen Männern. Nachdem sie ihren ersten Ehemann verlassen hat, heiratet sie erneut und reist mit ihrem zweiten Gemahl nach Ägypten, wo sie der Anziehungskraft von Mahmoud Baroudi erliegt. Nachdem sie ihren zweiten Ehemann auf Geheiß des nicht-weißen Baroudi vergiften wollte, um mit ihm eine Beziehung einzugehen, nimmt die Geschichte eine für Bella Donna dramatische Wendung. Baroudi wendet sich von ihr ab und sie begeht zum Ende des Films in der Wüste Selbstmord.174 Die im Film dargestellte Handlungsweise der Protagonistin und ihr Umgang mit Männern lösten im Klan einen Aufschrei der Empörung aus. Das Verhalten Bella Donnas galt als für eine tugendhafte, angloamerikanische Frau völlig unangemessen. Die Klanzeitung The Texas American charakterisierte die Protagonistin als monströs.175 Jedoch störte nicht bloß die Tatsache, dass sich die Protagonistin im Film mit wechselnden Männern vergnügte und sich somit 171 172 173 174
Rice, „Protecting Protestantism“, S. 367–370. Burrows, Big 3 in One, S. 38. Ders., S. 46. [Unbekannt], „Bella Donna.“ URL: www.afi.com/members/catalog/DetailView.aspx?s=&Movie=2799, letzter Zugriff am 3.11.2014. 175 [Unbekannt], „Vice-Breeding Motion Pictures.“ In: The Texas American, 8.6.1923, S. 6.
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von der Autorität ihres Ehemannes emanzipierte. Vielmehr galt die Geschichte auch als Anschlag auf den Erhalt der White Supremacy. Klansmänner sahen in dem Movie und insbesondere in den erotischen Szenen zwischen Bella Donna und Mahmoud Baroudi einen „Affront gegen die kaukasische Rasse“ und „eine Beleidigung Amerikas“.176 An die Vorstellung anknüpfend, die Filmindustrie sei überwiegend von ‚jüdischen‘ Menschen dominiert, setzte der Klan die Verflüssigung der Color Line mit ‚Juden‘ in Verbindung. Burrows beschrieb die vermeintlich zersetzende Wirkung ‚jüdischer‘ Filmproduktionen ausführlich mit folgenden Worten: Those who saw the play [Bella Donna, K. K.] witnessed the horrible and revolting spectacle of a white woman, clinging in the arms of a colored man. The white face of woman [sic!] melting into the passionate countenance of the black man, and those Jews made the Egyptian good and black, as if to vent some ancient grudge. […] I told you some time ago that the depraved and degraded bunch of Kikes who control the movie industry of this country had deliberately and with malice aforethought planned to break down the moral life of Protestant America with the subtle and convincing propaganda of the screen [Kursivierung durch K. K.]. … Already negroes are being given roles in screen plays, more and more they are intruding into the plays, and the latest step is the love affair of a white woman with a black coon. Ye Gods! Is it conceivable that such a play could be presented in the Old South? Worse than that, open insult follows rapidly on the heels of displayed immorality. This bulletin is flashed on the screen. Read, white sons of the South – read it and reflect. Read it again and again, and see to what revolting depths the depraved Jews have dragged the moving pictures: ‚WHITE SKINNED LADIES WILL FLIRT WITH BROWN SKINKED [sic!] MEN WHEN THEIR HUSBANDS ARE AWAY.‘177
Interessant ist an dieser Stelle jedoch nicht nur, wie ‚Juden‘ innerhalb des sich wandelnden Verhältnisses zwischen angloamerikanischen und afroamerikanischen Menschen verortet und als treibende Kraft hinter dem vermeintlichen Angriff auf die dominante gesellschaftliche Stellung angloamerikanischer Männer identifiziert wurden. So erscheint die Verbesserung der gesellschaftlichen 176 Burrows, Big 3 in One, S. 45. 177 Ders., S. 46.
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Situation von Afroamerikaner_innen als Produkt der Handlungen von ‚Juden‘ und nicht als Resultat des Kampfes afroamerikanischer Menschen gegen Rassismus und für ein besseres Leben. Auch die Kontrastierung der zeitgenössischen, als negativ empfundenen Verhältnisse mit dem Old South ist erhellend für das Verständnis des antisemitischen Weltbildes des Ku-Klux-Klan. ‚Juden‘ stellten in dieser Sichtweise eine Kraft dar, die die Rekonstitution eines als Ideal gedachten gesellschaftlichen Zustandes verhinderte, indem sie ‚Afroamerikanern‘ die Idee der „sozialen Gleichheit“ einpflanzten. In den Augen des Klans machten sich ‚Juden‘ schuldig, ‚Afroamerikaner‘ zum „Rassenkrieg“ aufzurufen, um die USA zu zerstören.178 Damit knüpfte der Klan an narrative Muster an, die bereits in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts im Süden vorhanden waren und die während der zwei Jahre, die die Affäre um Leo Frank andauerte, deutlich an Zuspitzung und Wirkmacht hinzugewannen. Analog zum Anti-FrankLager stellte der KKK das Handeln von ‚Juden‘ in einen direkten kausalen Zusammenhang mit dem Wiederaufflammen der vermeintlich vom Black Beast Rapist ausgehenden Gefahr für angloamerikanische Frauen.179 Die unterstellte Aggression seitens der „verdorbenen and gewissenlosen Juden Hollywoods“ ließ ein als Selbstverteidigung verstandenes Vorgehen gegen deren Einfluss und Wirken zwingend notwendig erscheinen. Auch in der Forderung nach Widerstand gegen den ‚jüdischen‘ Einfluss zeigte sich die Verwobenheit von Burrows Weltsicht mit der Welt des Old South. So analysierte er den desolaten Zustand der US-Gesellschaft als Konsequenz der Krisenhaftigkeit beziehungsweise des Untergangs einer von ihm als typisch für den Old South kategorisierten Männlichkeit. Mit der verzweifelten Frage „Wo ist die Männlichkeit des Old South?“, die er im Anschluss an die Schilderung der ‚Juden‘ zugeschriebenen Subversion protestantischer Moral aufwirft, bestimmte er die Männlichkeit des Südens aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg als die Kraft, die den als desolat wahrgenommenen, herrschenden Zuständen ein Ende bereiten könnte.180 Das Weltverständnis des Klans und damit auch dessen Antisemitismus waren also mit Vorstellungen des Old South verflochten. Allerdings manifestiert sich in dem langen Zitat zum Film Bella Donna auch die spezifische Konfiguration der modernen antisemitischen Weltsicht, die im Verlauf des Leo Frank-Case in den 178 Ezra A. Cook, Ku Klux Klan Secrets Exposed: Attitude toward Jews, Catholics, Foreigners, and Masons: Fraudulent Methods Used, Atrocities Committed of Order. Chicago: Ezra A. Cook, Publisher 1922 [?], S. 44. 179 Burrows, Big 3 in One, S. 47. 180 Ders., S. 47.
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Südstaaten hervorgebracht und durch das Invisible Empire in den gesamten USA verbreitet wurde. Indem Burrows eine Aggression von ‚Juden‘ gegenüber angloamerikanischen Frauen mit Vorstellungen der grundlegenden Unterminierung protestantischer Moral, der Unterwanderung einer als natürlich verstandenen Hierarchie zwischen den ‚Rassen‘ und eines bis in die Gegenwart wirksamen Grolls von ‚Juden‘ gegen das Christentum verknüpfte und den von ihm diagnostizierten Zustand der USA mit dem Old South kontrastierte, konstruierte er ein umfassendes Weltbild, in dem ‚Juden‘ einen zentralen Platz einnahmen und für verschiedene, als Übel identifizierte gesellschaftliche Verhältnisse verantwortlich gemacht wurden. Damit bot der moderne Antisemitismus ein deutlich gesteigerteres Welterklärungspotenzial als die vor dem Leo Frank-Case existierenden lose nebeneinander bestehenden judenfeindlichen Elemente. Auch in anderer Hinsicht vollzogen sich durch das Wirken des Klans signifikante Verschiebungen und Modifikationen innerhalb des Antisemitismus. So entfaltete das Agieren des Männerbundes als eine nationale, die Interessen aller tugendhaften Angloamerikaner_innen repräsentierende Organisation Effekte auf die Programmatik des Klans und die von ihm verbreiteten antisemitischen Sichtweisen. Auch wenn im Klan oder zumindest in den Chaptern im Süden an der Verklärung und Idealisierung des Old South festgehalten wurde und zumindest Elemente dieser Gesellschaftsformation als Leitbild dienten, verlor der Nord-Süd-Konflikt auf Grund des nationalen Charakters des Bundes signifikant an Bedeutung. Während Vorstellungen einer Invasion und Subordination des Südens durch den Norden im Leo Frank-Case eine enorme Wirkmacht entfaltet hatten und sich in der während der Affäre hergestellten antisemitischen Figuration des Jew Carpetbaggers manifestierten, war dieses Element im Weltbild des Klans nur mehr am Rande vorhanden. Zwar wurden ‚Juden‘ noch immer vereinzelt mit New York assoziiert, aber diese Verortung wurde nicht mit Vorstellungen sektionaler Konflikte zwischen dem Norden und dem Süden der USA in Verbindung gesetzt.181 Die Figuren des Carpetbaggers und des Jew Carpetbaggers wurden im Kontext des Geheimbundes der 20er Jahre weitgehend unbedeutend.182 Durch die zumindest temporäre Suspendierung des Sektionalismus sowie die Ausrichtung des politischen Handelns und der Programmatik 181 Cook, Ku Klux Klan, S. 44; Evans, „Ku Klux Klan toward the Jew“, S. 119 f.; White, Klan in Prophecy, S. 52. 182 Auf die Figuration des Carpetbaggers wurde zwar vereinzelt zurückgegriffen, jedoch nicht zur Beschreibung des zeitgenössischen Gesellschaftszustandes, sondern lediglich zur Darstellung der historischen Verhältnisse während der Reconstruction Era (Burrows, Big 3 in One, S. 7).
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am modernen, nationalstaatlichen Rahmen modifizierte der Klan das während des Leo Frank-Case hervorgebrachte antisemitische Weltbild in zweifacher Hinsicht: zum einen qualitativ, da einer der zentralen Bestandteile der antisemitischen Wahrnehmung des Anti-Frank-Lagers weitgehend an Bedeutung verlor, und damit verwoben zum anderen quantitativ, da die Überwindung des Sektionalismus dem Klan ermöglichte, sich über die gesamten USA auszudehnen und so den von ihm vertretenen Antisemitismus breit zu streuen. Auch im Umgang mit technischen Innovationen zeigte sich das ambivalente Verhältnis des Klans zur Moderne. Während die Knights of the Ku Klux Klan einerseits eine industrialisierte und urbanisierte Gesellschaftsformation ablehnten und ihr eine ländliche Ordnung gegenüberstellten, griffen sie andererseits zur Streuung und Verbreitung ihrer politischen Vorstellungen und damit zur Erhöhung der Strahlkraft des Männerbundes selbst auf modernste Technologien zurück.183 So führte der KKK zwar einen Feldzug gegen die Filmindustrie der 1920er Jahre und beschuldigte diese, die protestantischen Werte und damit das moralische Fundament der US-Gesellschaft zu erodieren, jedoch implizierte diese Attacke nicht eine grundsätzliche Ablehnung des Mediums ‚Film‘. Vielmehr scheint der Klan dieses Medium prinzipiell als neutral verstanden zu haben. Es konnte sowohl als Träger und Transmitter moralisch verkommener wie auch tugendhafter Botschaften genutzt werden. So versuchte der Geheimbund, durch die Gründung einer eigenen Produktionsfirma mit dem Namen Cavalier Motion Picture Company die große Strahlkraft des neuen Mediums zu nutzen, um den vermeintlich tugendlosen Produktionen der Zeit eigene Filme entgegenzustellen.184 Diese Adaption moderner Technik wurde auch in anderer Hinsicht für die Außendarstellung der Organisation genutzt. Sie diente dazu, Anhänger_innen fester an die Organisation zu binden und eine beeindruckende Wirkung auf andere Zeitgenoss_innen auszuüben. Als Beispiel seien die Nutzung und die dazugehörige Inszenierung von Flugzeugen genannt, die zur Überwindung großer Entfernungen zwischen den unterschiedlichen Regionen und Städten eingesetzt wurden. Allerdings dienten diese modernen Transportmittel nicht nur der raschen Bewältigung weiter Strecken, sondern sie wurden auch dazu eingesetzt, die Organisation mit Macht und Modernität in Verbindung zu setzen. Diese Intention zeigte sich beispielsweise im Rahmen der größten Freiluftveranstal183 Evans, Menace of Modern Immigration, S. 9–20. 184 Tom Rice, „‚The True Story of the Ku Klux Klan‘: Defining the Klan through Film.“ In: Journal of American Studies, Jg. 42, Nr. 3 (Dezember 2008), S. 471–488.
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tung in der Geschichte des Klans, die Anfang Juli 1923 in Kokomo, Indiana, stattfand. Nahezu auf dem Zenit der Macht des Geheimbundes trafen sich zu diesem Anlass über 200.000 Klansmänner samt ihrer Familien zu einer Feier, auf der die formelle Anerkennung von Indiana als ein Realm durch das Imperial Headquarter zelebriert wurde.185 Einen Höhepunkt dieser Veranstaltung bildeten am Nachmittag der Auftritt und die Rede von D. C. Stephenson, dem Grand Dragon in Indiana. Nachmittags versammelte sich die riesige Menschenmenge auf einer Lichtung, um die Ankunft des obersten Klansmannes Indianas zu erwarten. Am Vorabend angeblich zu einem Meeting beim US-Präsidenten geladen, um mit diesem die Lage der Nation zu erörtern und eine vermeintliche Verschwörung der Katholischen Kirche abzuwehren, landete Stephenson mit einiger Verspätung in einem Flugzeug mit vergoldeten Flügeln und den Initialen KKK auf dem Bauch. Der Pilot, der das Flugzeug damals steuerte, erinnerte sich mit folgenden Worten an den Moment der Landung: „We’d circle around over their heads … and they’d be looking up at us as if we came from another world.“186 Die Anziehungskraft, die der Klan auf viele Zeitgenoss_innen ausübte, und damit auch dessen rasanter Aufstieg, resultierten also zumindest partiell aus der Adaption von Elementen der Moderne.
5.6 Kapitelfazit Wie das Kapitel gezeigt hat, bereitete der Leo Frank-Case in vielerlei Hinsicht der Gründung und dem rasanten Aufstieg der Knights of the Ku Klux Klan den Boden. Die sich um den Mord an Mary Phagan rankende zweijährige Affäre befeuerte antisemitische Vorstellungen des 19. Jahrhunderts in den Südstaaten und diente somit der Neugründung des Ku-Klux-Klan als Wegbereiter. Vom Klan in einigen Aspekten modifiziert, wurden diese mannigfaltigen Imaginationen von ‚Juden‘ als Bedrohung für die gesellschaftliche Ordnung der USA zu einem Wissen, das von Millionen US-Amerikaner_innen geteilt wurde und somit eine zuvor nie dagewesene Wirkmacht in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika erreichte. Die immense Strahlkraft, die der Klan ausübte und die auch über dessen kurze Existenz hinaus wirkte, muss unter anderem auch auf den Einsatz verschiedener moderner Technologien und Strategien zurückgeführt werden. 185 Wade, Fiery Cross, S. 215 f. 186 Zitiert nach: ders., S. 217.
Kapitelfazit
Neben der Transmitterfunktion nahm der Klan jedoch eine weitere wichtige Funktion bei der Herstellung und Verbreitung eines modernen Antisemitismus ein. Er knüpfte an die sich bereits während des Leo Frank-Case vollziehende Synthese der unterschiedlichen antisemitischen Stränge und Versatzstücke zu einem kohärenten Weltbild an und setzte diesen Prozess fort. Er verfestigte und verbreitete somit den in den Jahren 1913 bis 1915 hergestellten modernen Antisemitismus, in dem die Idee einer ‚jüdischen‘ Verschwörung gegen die protestantische Mehrheitsbevölkerung als Schlüssel zur Erklärung vieler als negativ kategorisierter gesellschaftlicher Verhältnisse diente. Zusätzlich unterzog er jedoch die vom Anti-Frank-Lager vertretene antisemitische Sichtweise bedeutsamen Modifikationen, indem er zum Beispiel deren sektionalistische Bestandteile weitgehend suspendierte. Die Grundlage für die feindliche Haltung des KKK gegenüber ‚Juden‘ bildete die diesen zugeschriebene Unfähigkeit, als demokratische Staatsbürger zum Wohl der USA beizutragen. Anstatt als patriotische Bürger ihren Pflichten gegenüber der Nation nachzukommen, gerieten sie in der Weltsicht des Klans zu Feinden der republikanischen Ordnung, die ihre ökonomische Potenz und die daraus resultierende Kontrolle über Printmedien und die relativ junge Filmindustrie dazu nutzten, angloamerikanischen Männern ihre dominante Stellung in der Gesellschaft zu entreißen. Diese Angst zeigte sich zum Beispiel in der bereits unter Populist_innen und im Anti-Frank-Lager verbreiteten Vorstellung, dass angloamerikanische Männer von ‚jüdischen‘ versklavt worden seien. In diesem Sinn wurde Antisemitismus als eine Maßnahme zum Schutz des demokratischen Systems und der daran gekoppelten Männlichkeit verstanden. Einen anderen Pfeiler der vom Klan idealisierten gesellschaftlichen Ordnung, an den die vermeintliche ‚jüdische‘ Verschwörung ihre Axt ansetzte, bildete das naturalisiert-hierarchisierte Geschlechterverhältnis. Obwohl der Klan im Vergleich zum Anti-Frank-Lager das 1920 eingeführte Wahlrecht für Frauen akzeptierte, propagierte er ein Geschlechterverhältnis, in dem Männer als Versorger und Beschützer der Frauen agierten und sie somit die Kontrolle und Verfügungsgewalt über ihre weiblichen Familienangehörigen ausübten. Folglich wurde eine gesteigerte weibliche Autonomie vom Klan aufs schärfste bekämpft und stattdessen versucht, Weiblichkeit wieder ans Heim zu koppeln. Selbstbestimmter weiblicher Sexualität, die unter anderem von den Flapper Girls verkörpert wurde, wurde mit der Betonung femininer Keuschheit, Tugendhaftigkeit und Reinheit begegnet. Dieser Kampf zur Restaurierung männlicher Dominanz über Frauen geriet auch zu einem Kampf gegen ‚Juden‘. Diese wurden als unmoralische Chefs und Vorgesetzte sowie als führende Akteure der Filmindustrie auf unterschiedli-
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che Art und Weise mit der Auflösung einer strikten Sexualmoral in Verbindung gebracht. Indem ‚Juden‘ für die Schwächung männlicher Verfügungsgewalt verantwortlich gemacht wurden, geriet der Kampf von Frauen für mehr Autonomie und Selbstbestimmung zu einer gegen die weibliche Natur gerichteten ‚jüdischen‘ Aggression. ‚Juden‘ wurden somit in der Weltsicht des Klans zu einem gemeinsamen Feindbild von angloamerikanischen Männern und Frauen. Die Konstruktion von Frauen als passive Opfer und von Männern als deren heroische Beschützer sollte dabei die Wiederherstellung eines strikt hierarchisierten Geschlechterverhältnisses ermöglichen. Neben der Aushöhlung der Kontrolle über die weiblichen Familienangehörigen stellte die Furcht vor der Erosion der White Supremacy einen weiteren Bestandteil des kohärenten Antisemitismus bei den Knights of the Ku Klux Klan dar. Insbesondere die ‚Juden‘ zugeschriebene Dominanz über die Filmindustrie stellte in der Wahrnehmung des KKK ein Schreckensszenario dar. Wie bereits im Leo Frank-Case wurden ‚Juden‘ verdächtigt, die (sexuelle) Segregation zwischen ‚afroamerikanischen‘ Männern und angloamerikanischen Frauen zu verflüssigen und auf diesem Weg der weißen Suprematie das Fundament zu entziehen. In dieser Hinsicht ist der Antisemitismus des Klans also als Versuch zu verstehen, die als erodiert verstandene Subordination ‚afroamerikanischer‘ Menschen vollständig wiederherzustellen. Es zeigt sich also, dass der Antisemitismus dem Klan in verschiedener Hinsicht als Strategie diente, die wahrgenommene Krisenhaftigkeit angloamerikanischer Männlichkeit zu überwinden. Durch den als Defensivmaßnahme imaginierten Antisemitismus sollte die republikanische Ordnung bewahrt werden, die als Voraussetzung der gesellschaftlichen Dominanz angloamerikanischer Männer verstanden wurde. Die Herausbildung einer kohärenten antisemitischen Weltsicht sowie der Rückgriff auf moderne Technologien und Strategien ermöglichten dem Klan die Verbreitung eines neuartigen antisemitischen Wissens in bis dato unbekanntem Ausmaß.
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Schlussbetrachtungen
Am 9. August 1946 trat Theodore G. Bilbo, ein ehemaliger Gouverneur von Mississippi und Mitglied des US-Senats, als Gast im Radioprogramm Meet the Press auf. Im Rahmen der Sendung fragte der Moderator ihn, ob er jemals Mitglied des Ku-Klux-Klan gewesen sei. Bilbo bejahte die Frage und antwortete mit den häufig aufgegriffenen Worten: „Once a Ku Klux, always a Ku Klux.“1 Auch die politische Programmatik Bilbos stand deutlich unter dem Einfluss der vom Klan in den 20er Jahren propagierten Weltsicht.2 Wie der KKK identifizierte auch Bilbo ‚Katholiken‘ und ‚Juden‘ als Kräfte, deren Wirken auf die Unterminierung der Color Line ziele. So sprach er vor dem Senat folgende Worte: „There are a few Catholic priests in this country, who, along with some Jewish rabbis, are trying to line up with the Negroes teaching social equality.“ Entgegen den Knights of the Ku Klux Klan scheint in Bilbos Sichtweise jedoch Sektionalismus wieder eine größere Bedeutung eingenommen zu haben. So adressierte er seine Rede explizit an Angloamerikaner_innen des Südens.3 Jedoch war Theodore Bilbo beileibe nicht der einzige Politiker, der in den 30er und 40er Jahren einen rabiaten Antisemitismus propagierte. Auch die politischen Karrieren von John E. Rankin, William D. Pelley oder Gerald L. K. Smith gründeten wesentlich auf einer modernen antisemitischen Weltsicht.4 Dem sich in den politischen Erfolgen dieser Politiker manifestierenden Aufstieg einer dezidiert antisemitischen Weltanschauung wurde der Weg durch den Leo Frank-Case sowie durch das Wirken des zweiten Ku-Klux-Klan bereitet. Nur vor dem Hintergrund der sich während der Affäre um den jüdischen Fabrikleiter vollziehenden Synthese einer zusammenhängenden modernen antisemitischen Weltsicht sowie der durch den Klan vorgenommenen Streuung dieses in den 1 2
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Zitiert nach: Michael Newton, Ku Klux Klan in Mississippi: A History. Jefferson: McFarland & Co. 2010, S. 102. Freilich lässt sich der Antisemitismus der 30er und 40er Jahre nicht allein durch die große Strahlkraft des Klans und der damit verbundenen enormen Streuung antisemitischen Wissens erklären. Vielmehr ist der Antisemitismus dieser Dekaden nicht ohne die Great Depression oder, wie sich an Gerald Winrod oder William D. Pelley zeigt, die Übernahme von Elementen der nationalsozialistischen Ideologie zu verstehen (Leonard Dinnerstein, Antisemitism in America. New York et al.: Oxford University Press 1994, S. 105–127, 134). Ders., S. 102. Ders., S. 126; 134–136.
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Schlussbetrachtungen
Südstaaten neuartigen Wissens lässt sich der Erfolg von Politikern wie Bilbo, Rankin oder Smith verstehen. Während des antisemitischen Furors, der zwei Jahre lang Atlanta und darüber hinaus die gesamten Vereinigten Staaten in Atem hielt, wurden verschiedene judenfeindliche Diskursstränge und Versatzstücke zusammengefügt, die im Süden bereits in den Dekaden zuvor zirkulierten. Auf diesem Weg entstand in den Südstaaten erstmals eine kohärente antisemitische Weltsicht. Von großer Bedeutung für die Genese des modernen Antisemitismus waren dabei Krisenwahrnehmungen angloamerikanischer Männlichkeit beziehungsweise damit verwobene Ängste angloamerikanischer Männer, ihre unangefochtene dominante gesellschaftliche Position, die sie im Old South innehatten, zu verlieren. Eine der zentralen Triebkräfte der sich zwischen 1913 und 1915 in Atlanta ereignenden antisemitischen Raserei bildete die analoge Konstruktion der Figuren des Carpetbaggers beziehungsweise Yankees und der ‚Juden‘, die während der Affäre in der Konstruktion des Jew Carpetbaggers mündete. Die Voraussetzung bildete die in vielen Aspekten identische Subjektivität, die angloamerikanische Südstaatler_innen sowohl Yankees beziehungsweise Carpetbaggern wie auch ‚Juden‘ zuschrieben. Bereits während des Bürgerkriegs identifizierten Zeitgenoss_innen eine scheinbar weitgehende Wesensgleichheit und stellten Verknüpfungen zwischen ihnen her. Ebenso wurde die während der Reconstruction kreierte Figur des Carpetbaggers in wesentlichen Aspekten analog zu zeitgenössischen Vorstellungen und Wahrnehmungen von ‚Juden‘ konstruiert. Vor dem Hintergrund strikt vergeschlechtlichter Weltwahrnehmungen wurden sowohl Carpetbagger wie auch ‚Juden‘ als Kräfte wahrgenommen, die die gesellschaftliche Hegemonie angloamerikanischer Männer zu unterminieren drohten. Diese Verknüpfungen entfalteten jedoch nur eine äußerst beschränkte Wirkmacht in den Dekaden vor dem Leo Frank-Case. ‚Jüdische‘ Republikaner und Carpetbagger wurden während der Reconstruction Opfer heftiger Attacken und gewalttätiger Übergriffe. Allerdings war ihr Judesein für diese Übergriffe von deutlich nachgeordneter Bedeutung. Sie wurden primär als Republikaner und Carpetbagger attackiert. Dies änderte sich während des Leo Frank-Case fundamental. Im Anti-Frank-Lager überlagerte nun nicht mehr das Carpetbagger-Sein das Judesein. Stattdessen wurden Carpetbagger (partiell) zu ‚Juden‘ gemacht. Der sich in den Figuren des Carpetbaggers respektive Yankees materialisierende Hass auf den Norden beziehungsweise einer bestimmten mit dem Norden verknüpften Gesellschaftsformation richtete sich somit gegen Leo Frank und inspirierte wesentlich die sich während der Affäre vollziehende Formierung eines kohärenten, modernen antisemitischen Weltverständnisses.
Schlussbetrachtungen
Neben der sich weitgehend entsprechenden Konstruktion von ‚Juden‘ und Carpetbaggern oder Yankees wurden ‚Juden‘ bereits in den Dekaden vor dem Leo Frank-Case in zeitgenössischen Vorstellungen mit verschiedenen Elementen und Aspekten gesellschaftlicher Transformationen und Umbrüche im Süden verknüpft. Sie wurden auf mannigfaltige Weise mit Facetten des Aufstiegs einer kapitalistischen Moderne verwoben. Diese hergestellten Verbindungen beschränkten sich dabei nicht lediglich auf judenfeindliche Diskurse, sondern sie durchzogen ebenso die philosemitischen. Während einige Südstaatler_innen den Zuzug von ‚Juden‘ in den Süden guthießen, da sie diese als ökonomisch versiert wahrnahmen und sie somit mit wirtschaftlicher Prosperität verknüpften, wurden ‚jüdische‘ Menschen von anderen Angloamerikaner_innen wiederum als Akteure des sozioökonomischen, aber auch kulturellen Niedergangs des Südens konstruiert. In diesen judenfeindlichen Lesarten, die vor dem Leo FrankCase einen Höhepunkt während der späten 1880er und 1890er Jahre erlebten, wurden die sich seit dem Bürgerkrieg vollziehenden gesellschaftlichen Umbrüche innerhalb des agrarischen Sektors und die damit verbundenen ökonomischen Probleme einer Vielzahl (angloamerikanischer) Yeomen unter anderem auf Aktivitäten von ‚Juden‘ zurückgeführt. Südstaatler_innen identifizierten eine Verschwörung gegen den Süden, die durch den Einsatz finanzwirtschaftlicher Instrumente wie der Demonetisierung von Silber und der Implementierung des Goldstandards auf die Unterwerfung der Südstaaten gezielt habe. Dieser aus der vermeintlichen Konspiration resultierende Niedergang der Yeomanry wurde unter Einsatz einer strikt vergeschlechtlichten Linse wahrgenommen. Die zunehmende Zahl von Tenants brachte vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Verständnisses des Yeoman als idealen Familienpatriarchen wie auch als Fundament der republikanischen Ordnung des Südens dichte Krisendiskurse angloamerikanischer Männlichkeit hervor. In diese wurden auch ‚Juden‘ integriert und somit als Gefahr für diese Männlichkeitskonfiguration und die daran gekoppelte gesellschaftliche Ordnung hergestellt. Die Konstruktion von ‚Juden‘ als Aggressoren gegenüber des auf einer agrarischen Gesellschaftsformation basierenden Southern Way of Life wurde während des Leo Frank-Case auf vielfältige Art und Weise stimuliert und mit anderen antisemitischen Elementen verknüpft. Zusätzlich zu zeitgenössischen Vorstellungen einer Verflechtung von ‚Juden‘ mit dem Niedergang des agrarischen Südens, wurden sie ebenso als Triebkräfte der sich langsam vollziehenden Urbanisierung und Industrialisierung des Südens wahrgenommen. Obwohl sowohl das Wachstum urbaner Räume als auch die Expansion des industriellen Sektors im Süden auch in den letzten
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Schlussbetrachtungen
Dekaden des 19. Jahrhunderts deutlich hinter diesen Entwicklungen im Norden zurückblieben, lösten die langsam voranschreitenden Veränderungen unter angloamerikanischen Südstaatler_innen Bedrohungswahrnehmungen aus. Die aus den städtischen Lebensformen sowie aus dem Eintritt in ein (industrielles) Lohnarbeitsverhältnis resultierenden neuen Arten der Interaktion zwischen Menschen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen wurden in mannigfaltiger Art und Weise von angloamerikanischen Menschen, und vor allem von angloamerikanischen Männern, als bedrohlich rezipiert. Insbesondere Lohnarbeit angloamerikanischer Frauen und die daran gekoppelte gesteigerte weibliche Autonomie sowie die partielle Erosion der Kontrolle und Verfügungsgewalt über afroamerikanische Menschen wurde von angloamerikanischen Männern als schwerwiegender Angriff auf die eigene gesellschaftliche Position wahrgenommen und aufs schärfste bekämpft. ‚Juden‘ stellten in diesen Krisennarrativen auf Grund der ihnen zugeschriebenen tugendlosen Männlichkeit Aggressoren gegenüber der vermeintlichen Tugendhaftigkeit und Reinheit angloamerikanischer Weiblichkeit dar, die der Gegenwehr durch angloamerikanische Männer bedurften. Diese Konstruktion ermöglichte es angloamerikanischen Männern nicht nur, die Subordination von ‚Juden‘ zu betreiben, sondern ebenso die Abhängigkeit der Frauen von ihrem männlichen Beschützer zu rekonstituieren. Zusätzlich machten die ‚Juden‘ zugeschriebene unstillbare Gier und das daran geknüpfte Verhalten und Auftreten gegenüber ‚afroamerikanischen‘ Menschen sie in den Augen von Südstaatler_innen zu einer Gefahr für das Fortleben der White Supremacy. Diese verschiedenen, bereits in den Dekaden vor dem Leo Frank-Case zirkulierenden antisemitischen Stränge und Elemente entwickelten während der Affäre eine enorme Wirkmacht und wurden breit und vielfältig aufgegriffen. Allerdings wurden diese Versatzstücke im Verlauf des Falls nicht bloß befeuert und intensiviert, sonden vielmehr zu einer kohärenten Weltsicht zusammengefügt, in der ‚Juden‘ als (mit-)verantwortlich für unterschiedliche, als negativ wahrgenommene Aspekte der kapitalistischen Moderne identifiziert wurden. Nicht mehr, wie in populistischen Wahrnehmungen, allein für den Niedergang des Agrarsektors verantwortlich oder wie in Perspektiven anderer Südstaatler_innen mit vereinzelten Aspekten des urbanisierten Lebens verwoben, wurden ihnen während des Leo Frank-Case diese Phänomene allesamt zugeschrieben. Auf diesem Weg wurde eine zusammmenhängende antisemitische Weltsicht hervorgebracht, deren Entwicklung aufs engste mit dem Aufstieg einer kapitalistischen Moderne in den Südstaaten verbunden war. Moderner Antisemitismus stellte also für Südstaatler_innen eine Strategie dar, mittels derer sie die an die industri-
Schlussbetrachtungen
ell-kapitalistische Durchdringung des Südens geknüpften vermeintlichen oder realen Missstände im Allgemeinen und die angebliche Krisenhaftigkeit angloamerikanischer Männlichkeit im Speziellen zu überwinden suchten. Diese für die Südstaaten neuartige Form der Judenfeindschaft wurde von dem nur kurz nach dem Lynching Leo Franks neugegründeten Ku-Klux-Klan aufgegriffen und in dessen Programmatik verankert. Dabei erfuhr das antisemitische Wissen mitunter signifikante Modifikationen. Auf Grund des Selbstverständnisses des Klans als eine national agierende Organisation verlor die während des Leo Frank-Case wirkmächtige Vorstellung einer engen Verwobenheit zwischen ‚Juden‘ und Yankees weitgehend ihre Bedeutung. Unter anderem diese Modifikationen sowie der Einsatz moderner Technologien ermöglichten es dem Klan, das von ihm vertretene antisemitische Wissen über die Grenzen des Südens hinaus in den gesamten Vereinigten Staaten von Amerika zu streuen. Es entstand erstmals eine Massenorganisation mit einer dezidiert antisemitischen Stoßrichtung. Die sich während des Leo Frank-Case vollziehende Formierung eines modernen Antisemitismus wirkte also nicht nur auf die weitere Geschichte des Antisemitismus im Süden ein, sondern beeinflusste in den folgenden Dekaden auch im Norden und Westen die Art und Weise, in der Juden und Jüdinnen wahrgenommen und antisemitisch angegriffen wurden.
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Register
A Abernethy, Arthur T. 43, 233, 297 Adams, Henry 293 Agricultural Wheel 155, 186 Alabama 57, 209, 240f., 277 American Jewish Committee 52 Anti-Defamation League 14, 16 Arnold, Reuben R. 51 Arkansas 240 Arp, Bill (Charles Henry Smith) 186 Asheville, North Carolina 299 Atlanta 12, 20, 49–52, 55, 58, 61, 66, 68, 71–73, 89, 95, 146, 175, 208, 210, 212, 216, 241f., 246, 250–252, 256, 267, 276, 322 Atlanta Chamber of Commerce 147, 252 Atlanta Jewish Federation 14 Atlanta’s National Pencil Company 253 Atlanta Race Riot 20, 61, 245–247, 251 Augusta, Georgia 115, 209 Avary, Myrta 124, 130, 222 Ayers, Edward L. 214
B Baiamonte, John V. 76 Baker, Kelly 275, 279, 283–285 Bean, Christopher 108 Beard, George M. 261f. Behrendsohn, Jacob 237 Bella Donna 313–315 Berlin 192 Bilbo, Theodore G. 22, 321f. Blee, Kathleen M. 271f., 283–285 B’nai B’rith 55
Brackman, Harold 312 Branson, Eugene Cunningham 229 Brattain, Michelle 215 Bryan, William Jenning (Cross of Gold Speech) 83, 182 Burrows, Geo W. 291, 298, 304, 313–316 Butler, Marion 166
C Campbell, Sam H. 301 Carrol, Charles 297 Cavalier Motion Picture Company 317 Cawhern, J. N. T. 247 Chaplin, Charlie 313 Charlotte, North Carolina 212 Chinese Exclusion Act 292 Cincinnati, Ohio 193 Clarke, Edward Young 277 Cleveland, Grover 155, 189f., 203 Cobb, Ned 57 Cocoltchos, Christopher 283 Collins, Patricia Hill 29 Colorado 295, 299 Colquitt, Alfred H. 165 Columbia University 107, 273 CongressionalHouseRulesCommittee277 Conley, James 46, 51, 55f., 58–65, 68–71, 81, 89, 97, 259f. Connolly, C. P. 51, 56, 87 Cornell University 55 Creech, Joe 162 Creen, Bill 70, 265 Crenshaw, Kimberlé 27 Crozier, E. W. 230
Register
Current, Richard Nelson 107, 109f.
D Dabney, Robert Lewis 34, 221 Dallas, Texas 268 Daniels, Roger 292 Davis, Marni 243f. De Sola Mendes, Frederick 174f. Delhi, Louisiana 193 Demokratische Partei 37, 83, 118, 165 Diner, Hasia 17 Dinnerstein, Leonard 20, 77 Dixon, Thomas 175–177, 274 Donnelly, Ignatius 160 Dorsey, Hugh M. 51f., 71, 89, 199 Douglas, Frederick 121, 126 Doyle, Don 208, 214 Dred Scott Case 102 Dunning, Archibald 107f., 273 Dunning School 107-110, 273
E East Carroll, Louisiana 193 Edmonds, Richard H. 219f. Elsas, Jacob 238f. Emory College 241 Erster Weltkrieg 276, 291f. Evangelikalismus 284 Evans, Hiram Wesley 278, 287, 295, 298, 302, 304f., 307 Evans, John G. 99 Evergreen, Louisiana 193
Florida 240 Foner, Eric 101, 108–110 Fourth Coinage Act 153, 173 Frank, Leo 12–17, 46–56, 58–73, 74f., 77–82, 85–95, 97, 145, 197, 199, 255–266, 270, 311, 315, 322, 325 Frankfort, Kentucky 187 Freedmen’s Bureau 105 Freeze, Gary R. 217 Fulton Bag and Cotton Mills 238
G Georgia State Board of Pardons and Paroles 12f. Georgia Supreme Court 53 Glenn, Evelyn Nakano 209 Goldberg, Robert 283 Goldstein, Eric 78, 260, 291 Goodwyn, Lawrence 160f. Gordon, John Brown 165 Grady, Benjamin F. 118 Grady, Henry 165, 219, 224 Grant, Madison 293 Grant,Ulysses(OrderNumberEleven)143 Greensboro, North Carolina 212 Greer, James A. 219 Griffin, Effie 268 Griffin, Georgia 262 Griffith, D. W. 274 Großbritannien 153, 190f.
H
Haas Finance Committee 197 Hall, Jacqueline Dowd 209, 212, 216 Farmers’ Alliance 155–158, 163, 166f., Hardeman County, Tennessee 174 169, 203 Harris, Nathaniel 54 Fitzhugh, George 112–114, 119, 121, 132 Haygood, Atticus G. 241 Flapper Girls 308 Hertzberg, Steven 20, 78
F
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Register
Heston, Watson 150f. Hickey, Georgina 216 Hicks, John D. 158 Higham, John 280 Hobson, Richmond P. 241 Hofstadter, Richard 158–161, 185, 189, 282 Holmes, William F. 196 Hooper, Frank 51, 255 Hopley, Catherine 143
I Immigration Restriction Act 278 Immigration Restriction League 292 Inter-State Convention of Farmers 168 International Cotton Exposition 250
J Jackson, Kenneth 282f. Jacksonian Democracy 170 JanMohamed, Abdul 235 Jay, John 125 Jefferson, Thomas 140, 163f. Jeffersonian Democracy 163f. Jeffersonian, The 40f., 50, 63, 69, 84, 90, 96, 147, 197–200, 229, 252, 256, 258, 262, 270 Johnson, Andrew 100f.
K Kantrowitz, Stephen 163 Kearney, Belle 138, 224 Kellogg, William Pit 126f. Killebrew, J. B. 220 Kimmel, Michael 217, 284f. Kitchen, William Walton 116 Knights of Labor 182 Knights of Mary Phagan 16, 48, 275f.
Krämer, Felix 33 Ku Klux Klan (Reconstruction Era) 109, 129, 135, 271–274 Ku Klux Klan (zweiter) 16, 18, 21f., 39,41f., 45, 48, 94–96, 268–271, 273–320, 321, 325 Ku Klux Klan Act (von 1871) 272
L Lampasas, Texas 155 Lay, Shawn 277 Lear, Margaret 247 Lee, Newt 51 Lee, Robert E. 100 Levy, Lee 247–249 Lewisville, Tennessee 186 Lichtman, Allan J. 278 Lincoln, Abraham 100 Lindemann, Albert 74–77, 81 Livingston, Sarah 125 London 174, 190, 192 Lowther, Henry 129
M MacLean, Nancy 20, 23, 79, 218, 276, 278, 282, 284–286, 291 Mackert, Nina 33 Macune, Charles 156, 165 Madison, James 140 Mahone, William 219 Martschukat, Jürgen 33 McCall, Leslie 27 McKinley, William 83 McLaurin, Melton 215 Mecklin, John M. 281 Meet the Press (Radiosendung) 321 Melnick, Jeffrey 20, 23, 79–81, 218, 255, 264
Register
Memphis, Tennessee 143 Methodist Episcopal Church 241 Michael, Robert 38, 278 Miscegenation Laws 128 Mississippi 138, 143, 193f., 224, 321 Missouri 240 Model Saloon License League 249 Montgomery, Alabama 58, 212 Moore, Leonard J. 281–283 Morgan, Winfield Scott 186f. Moses, Franklin J. 95
N National Banking Act (von 1863) 153 Nashville, Tennessee 212 Needleman, Joseph 268f. Negri, Pola 313 New England 111, 135, 209, 220 New Orleans 126, 187, 205, 231, 236–238 New South City (Atlanta) 210, 216 New York 50, 55, 64, 144, 147, 189f., 278, 310, 316 Newton, Judy Ann 272 Newton, Michael 272 Nicholson, Meredith 279 North Carolina 116, 118, 166, 209, 212, 229, 235, 268, 299 Nott, Josiah C. 119, 132 Nugent, Walter 160f.
Pegram, Thomas R. 281 Pelley, William D. 321 Perry, Benjamin Franklin 131 People’s Party 83, 157, 166, 298 Phagan, Mary 12–14, 16, 45, 50f., 54–56, 59f., 62, 66, 70f., 73, 86, 95, 97, 253f., 275, 279, 318 Phagan Kean, Mary 14, 275 The Pilgrim 313 Polk, Leonidas 166, 168 Pollack, Norman 160f. Potock, Frank 194 Pulaski, Tennessee 271
R Rabinowitz, Howard N. 211, 214 Raleigh, North Carolina 212 Rankin, John E. 22, 321f. Republikanische Partei 104, 117 Resumption Act 153, 181 Richland, Louisiana 193 Richmond, Virginia 58, 212 Ripley, William Z. 293 Roan, Leonard 52 Robertson, Wilmot 11 Ross, Edward A. 141f., 256, 293 Rosser, Luther Z. 51, 59 Rothblum, Phillip 268 Russland 191, 250
O
S
Oberholtzer, Madge 279 Oberholtzer-Stephenson-Affäre 279 Opitz-Belakhal, Claudia 32
Saratoga, Kalifornien 205 Scopes-Trial 279 Selig, Lucille 55 Senate Finance Committee 183 Seyd, Ernest 174 Shakespeare, William 186, 189 Sherman, John 183
P Paris 192 Paris, Texas 55
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Register
Sherman, William 95, 146 Sherman Silver Purchase Act 154, 174 Shklar, Judith 121 Simmons, William J. 276–278 Simon, Bryant 217 Simon, John 142 Slaton, John M. 12, 53f., 61, 91, 199 Smith, Charles Henry (Bill Arp) 186 Smith, Gerald L. K. 22, 321f. South Carolina 95, 99, 123, 131, 144, 209 Southern Farmers‘ Alliance 156, 165 Sovereign, J. R. S. 181 St. Martinsville, Louisiana 194 State Normal School of Georgia 229 Stepan, Nancy Leys 123 Stephenson, D. C. 279, 318 Stieglitz, Olaf 33 Stock, Catherine McNicol 233, 282 Stockbridge, Horace E. 94f. Stone Mountain 276 Strauss, Nathan 82, 258 Supreme Court of the United States 53
T Tannenbaum, Frank 108, 273, 281 Tearle, Conway 313 Texas 55, 105, 155, 240, 277f. Trelease, Allan W. 109f. Twain, Mark (Concerning the Jews) 144, 176f., 235
Tyler, Elizabeth 277
U Universität von Virginia 221
V Vance, Zebulon (The Scattered Nation) 144, 235 Viereck, Peter 161
W Wade, Wyn Craig 282 Walker, Cliff 278 Wall Street 171, 173, 175, 185, 189, 194f., 203 Warburg, Paul 198, 252, Watson, Thomas 21, 40f., 50, 63f., 69–71, 83f., 90–93, 95f., 98, 146f., 156, 173, 197–199, 201f., 251, 253, 255, 258, 265, 270f., 274–276, 311 Watson’s Magazine 40, 50, 84, 258 West, Stephen A. 167 White, Alma 312 Whitecaps 194–196, 230 Whites, LeeAnn 209, 217 Wiener, Jonathan M. 214 Williamston, North Carolina 268 Wilson, Woodrow 293 Wood, J. O. 308 Woodruff, Charles E. 293 Woodward, C. Vann 211, 214
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