Welt- und Staatsauffassung des deutschen Liberalismus: Eine Untersuchung über die Preußischen Jahrbücher und den konstitutionellen Liberalismus in Deutschland von 1858 bis 1863 [Reprint 2019 ed.] 9783110668117, 9783110668094


173 34 19MB

German Pages 319 [328] Year 1919

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Einleitung. Der Gegenstand und seine Betrachtung
Erstes Kapitel. Die Entstehungsgeschichte
Zweiter Abschnitt. Die Mitarbeiter
Drittes Kapitel. Die Politik
Viertes Kapitel. Das Menschentum
Anlage I. Aufruf zur Begründung der Preußischen Jahrbücher
Anlage II. Rundschreiben des Herausgebers an die Mitarbeiter der „Preußischen Jahrbücher"
Anlage III. Briefe an den Herausgeber
Anlage IV
Recommend Papers

Welt- und Staatsauffassung des deutschen Liberalismus: Eine Untersuchung über die Preußischen Jahrbücher und den konstitutionellen Liberalismus in Deutschland von 1858 bis 1863 [Reprint 2019 ed.]
 9783110668117, 9783110668094

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Historische Bibliothek Herausgegeben von der

Redaktion der Historischen Zeitschrift

41. Band:

Welt- und Staatsauffassung des deutschen Liberalismus von OTTO W E S T P H A L

München und Berlin 1919 Verlag von R. Oldenbourg

Welt- und Staatsauffassung des deutschen Liberalismus Eine Untersuchung über die Preußischen Jahrbücher und den konstitutionellen Liberalismus in Deutschland von 1858 bis 1863 von

OTTO WESTPHÄL

München und Berlin 1919 Verlag von R. Oldenbourg

Für den Zuspruch und die dauernde gütige Teilnahme, die er meiner Arbeit, deren erste zwei Kapitel der philosophischen Fakultät der Universität München im März 1917 als Dissertation vorlagen, zugewandt hat, darf ich Herrn Geheimrat M a r e k s meinen warmen Dank aussprechen und mich neben ihm zu den besonderen Anregungen bekennen, die ich von Herrn Qeheimrat M e i n e c k e und Herrn Geheimrat L e n z empfangen habe. M ü n c h e n , April 1918.

Inhalt. Die Preußischen Jahrbücher von 1858—1863. Seite

E i n l e i t u n g . D e r G e g e n s t a n d und s e i n e B e t r a c h t u n g 5 Erstes Kapitel. Die Entstehungsgeschichte . . . 13 Zur Entwicklung der deutschen Parteien 13 Verhältnisse des Vormärz 18 Die Revolution 21 Die Reaktion 25 Die liberale Presse 28 Die Begründung der Jahrbücher 32 Literarische Vorläufer 37 Das Programm 44 Prinzipien der Redigierung 47 Äußeres 50 Zweites Kapitel. Die Mitarbeiter 52 Rudolf Haym 52 Max Duncker 64 Karl Neumann . 7 0 Theodor v. Bernhardi 74 Anton Springer 81 Heinrich v. Treitschke 87 Die übrigen Mitarbeiter 94 Drittes Kapitel. Die Politik 97 Grundlagen der preußischen Politik 97 Beginn der Neuen Ära 101 Blick auf das übrige Deutschland und auf Österreich .106 Der italienische Krieg 112 Die Einbringung der Armeereform 128

Inhalt.

2

Seite

Deutsche und europäische Politik 1860. 1861 . . . . Ausgang der Neuen Ära

140 164

Der Ausbruch des Konfliktes

173

Ministerium Bismarck

181

Viertes Kapitel. Das Mensphentum

195

Die idealistische Einheit

195

Der Begriff der Totalität Antinomien des Liberalismus

199 203

Die geschichtliche Totalität

207

Der geschichtliche Charakter des Staates (Der preußische Staat. — Die Monarchie. — Die Parteien) . . . .

207

Der Begriff einer allgemeinen Kultur (Erdmannsdörffer) . Der Begriff einer geschichtlichen Kultur (Haym) . . .

220 226

Der Begriff einer dualistischen Kultur (Dilthey) Geschichtsschreibung und Politik

236 248

.

.

.

Die systematische Totalität

254

Das vernünftige System des Staates (Das Programm der moralischen Eroberung. — Der Parlamentarismus) . .

255

Die ästhetische Totalität

269

Die politische Persönlichkeit

278

Der Staat als moralische Anstalt (Staat und Bürgertum. — Staat und Nation) Grenzen des Historismus Anlagen I. Aufruf zur Begründung der Preußischen Jahrbücher .

291 303 307 307

II. Aus dem Rundschreiben des Herausgebers an die Mitarbeiter III. Briefe an den Herausgeber

310 313

IV. Verzeichnis der Autoren anonym gebliebener Beiträge

319

„Die Ideen, deren Manifestation die Geschichte ist, sind, ohne Rücksicht auf ihren Nutzen, unserem eigenen Wesen verwandt, sie berühren sich mit allem, was wir selbst sind, sie sind ohne weiteres wichtig und bedeutsam für uns, weil sie dem Menschen die Natur des Menschen enthüllen." H a y m , Preuß. Jahrb. VI, 385.

Einleitung.

Der Gegenstand und seine Betrachtung. ilhelm von Humboldt bemerkt einmal von der Aufgabe des Geschichtsschreibers, er müsse „jede einzelne Begebenheit als Teil eines Ganzen, oder, was dasselbe sei, an jeder die Form der Geschichte überhaupt darstellen." Der Geschichtsschreibung der Gegenwart, die im breiten Strome technisch-methodischer Traditionen ihren Fortgang nimmt, gereichen die mächtigen reinen Gedanken, die die Kant, Wilhelm von Humboldt, Hegel der werdenden Wissenschaft aufgeprägt haben, wieder zur Erfrischung; — so wie auch der Mensch dem sachlichen Zug des Schaffens einmal Einhalt gebietet und sich mit dem Gebot der reinen Form erfüllt. Jene suchten dem historischen Stoff seine innere Form abzusehen. Noch fand man ihn nicht in der methodischen Zubereitung vor, die es zu erlauben scheint, ihn zu irgendwie zusammengefaßten Einheiten, einer Biographie, einer Wissenschaftsgeschichte, aufzugreifen,- sondern man ließ sich von den Notwendigkeiten der inneren Auffassung anregen, man suchte jener wirkenden Einheiten des universalen Lebens inne zu werden, die erst die Geschichte gestalten, die selbst ganz in den Bereich der Erkenntnis, die nach Durchdringung des historischen Objektes strebt, hineingehören. — Studien zur Geschichte der öffentlichen Meinung in Deutschland sind gerade für die uns beschäftigende Zeit, die Jahre zwischen Revolution und Reichsgründung, neuerdings häufig an den Tag getreten. Die meisten geben sich als Beiträge zu einer allgemeinen Geschichte der Zeit; sie ordnen sich als Einzel"

6 Untersuchungen in ein größeres Ganzes, etwa in die Geschichte Bismarcks, ein. Sie untersuchen die öffentliche Meinung in ihrem Verhältnis zu einem bestimmten Gegenstande der allgemeinen Geschichte oder in einem durch diese bestimmten Augenblick ihrer Entwicklung. Behalten sie als Wege zur Orientierung über den Massenstoff ihren Wert, so rufen sie doch vielfach das Bedauern hervor, daß nicht auch über diese Epoche deutscher Geschichte, wie über die erste Hälfte des Jahrhunderts, gleich die Hand eines Meisters gekommen ist, der den Strom des öffentlichen Meinens nicht bloß ausbreitet, sondern zugleich bändigt, der ihn durch die Einführung des politischen Zuges aus der Gesamtbewegung der Zeit erst belebt. Treitschkes Deutsche Geschichte ist gerade für die Behandlung der öffentlichen Meinung ein in aller Geschichtsschreibung unerreichtes Muster. Sie blieb recht eigentlich das, als was sie dem Verfasser bereits zu Beginn der Studien, die er ihr widmete, erschienen war: eine Geschichte nicht so sehr politischer Aktionen wie des V o l k s g e i s t e s 1 ) . Hinter der Verarbeitung, die die öffentliche Meinung in dem Treitschkeschen Werke erfahren hat, bleiben manche der neueren Einzeluntersuchungen in p r i n z i p i e l l bedenklicherWeise zurück. Selbst wo die p h i l o l o g i s c h e Richtigkeit der Inhaltsangaben von Broschüren und Artikeln nicht zu beanstanden ist — bei der geübten summarischen Durchsicht des weitschichtigen Stoffes laufen zwar leicht die bedenklichsten Unstimmigkeiten unter — machen sie die historische Wahrheit, die „Form der Geschichte", oft doch nicht deutlich. Die öffentliche Meinung kann in ihrer Stellungnahme zu den einzelnen Begebenheiten ihrer Zeit, nach ihren inhaltlichen Nuancen nur unmittelbar aus dem Rahmen der allgemeinen Geschichte der Zeit selbst verstanden werden. Eine Geschichte der Meinungen über die Tatsachen neben die über ] ) H. v. Treitschkes Briefe 11,208: „Der Kern der Sache liegt nicht in den Kongressen und Ständeversammlungen, sondern in der wahrhaft erstaunlichen Entwickelung der öffentlichen Meinung oder der Volksseele oder wie sonst Du das nennen willst" (an Bachmann 25. III. 62); in gleichem Sinne II, 1 4 1 , 162, 280, 365, 4 3 4 („Ich darf mich nicht binden an den Namen ,Staatengeschichte'" — an Pauli 1 4 . XI. 65).

/

die Tatsachen selbst zu stellen, wozu in der neueren Forschung gelegentlich aufgefordert wurde, kann nicht zum Ziele führen. Will man vielmehr die öffentliche Meinung als besonderes geistig-politisches Gebilde für sich verstehen, so begeht man, wie wir meinen, einen Fehler prinzipieller Natur, wenn man eine Einstellung auf den I n h a l t des Meinens versucht. Populäre geistige Bewegungen für sich wollen nicht von oben, auf die Abwandlungen der Gedanken und Vorstellungen hin, sondern von innen heraus, mehr als ein Ausdruck von Wille, Leidenschaft, Stimmung als von gedanklicher Abklärung angesehen, nicht von ihrer objektiven, sondern ihrer subjektiven Seite erfaßt werden. Eine Epoche regen öffentlichen Meinens, subjektiver Bewegtheit unterscheidet sich so von jener, in der die großen objektiven Klärungen vollbracht wurden. Man erkennt, wie nicht mehr die große Einzelpersönlichkeit, sondern die Masse, nicht mehr erhabene geistige Freundschaften, sondern Parteien regieren, wie das absolute Denken von dem politisch-geschichtlichen abgelöst wird. Läßt sich denn dieses in analoger Weise wie jenes an und für sich darstellen ? Wenn sich die Form der Darstellung nicht nach diesen Unterschieden modelt, vergreift sie sich an der inneren Wahrheit des Stoffes. Auf die subjektive Einheit muß sich eine h i s t o r i s c h e Schilderung, die die öffentliche Meinung als ein Thema für sich behandelt, anlegen und von ihr aus die G e s a m t h e i t der Probleme, so wie sie sich wechselseitig erläutern, aufnehmen. Diese subjektive Einheit wiederum gilt es nicht allgemein, sondern historisch zu setzen, aus der Struktur der Zeit zu gewinnen: man findet sie in unserer Epoche weder bei dem einzelnen Denker — auch dieser will in einer Zeit, da die Völker von unten herauf erregt sind, mit der Gesamtheit fühlen 1 ) — noch über das ganze Land verbreitet, 2 ) sondern es sind lokale, soziale, Parteikreise, von denen ') Treitschke, „Die Freiheit" (Pr. Jb. VII, 399): „Wahrlich, es ist keine Schande für die Gegenwart, daß wir endlich die uns gemeinsamen A n gelegenheiten auch du ch gemeinsames Denken und Handeln fördern, daß wir willig unser Belieben dahingehen, wo es sich handelt um unser Volk oder die Partei, von der wir das Heil des Staates erwarten." 2 ) S o scheint mir die im Titel ausgesprochene Beschränkung des

8 man ausgehen, deren öffentliches Meinen man in seiner Wurzelhaftigkeit, im Zusammenhang seiner Probleme abschildern muß. Eine so begründete, wahrhaft historische Darstellung erhebt sich aus der neueren Literatur: das Buch Adolf Rapps über die Württemberger und die nationale Frage 1 ). Es übertrifft an historischem Gehalte selbst einen von so viel innerer Wärme erfüllten biographischen Versuch, wie es das Denkmal ist, das Haym seinem Freunde Duncker gesetzt hat. Wie erfährt man doch erst auf diese Weise den Reichtum, die Innigkeit und die Strenge des deutschen genossenschaftlichen Lebens! Es ist nicht eine vegetativ-landschaftliche, sondern eine bewußt-politische Einheit, deren Zusammenhänge die vorliegende Arbeit aufzeigen möchte: eine Einheit, geschlossen von Männern, deren Fühlen und Denken in seiner ganzen geschichtlich-persönlichen Ausweitung nur dahin geht, einen gemeinsamen Willen über sich anzuerkennen, im Dienst der Zeit und der Nation zusammenzustimmen. Der Gemeinschaftsgedanke ist ganz in ihnen rege. Sie stehen auf dem Boden einer Partei: doch noch mit der Aufgabe, diese erst recht zu bilden, die Gemeinschaft zu erwecken; die Führer kommen aus verwandter Atmosphäre, aus der Atmosphäre der Wissenschaft zusammen: doch sie suchen auch zu den Praktikern eine Brücke zu schlagen, die realistische Bewegung der Zeit in sich aufzunehmen, Schule und Leben zu verbinden; sie begründen nach Überwindung mannigfacher innerer und äußerer Schwierigkeiten ein eigenes Organ, die Preußischen Jahrbücher; sie bieten ihre ganze geistige Habe in einer Zeitschrift dar — Themas in Scheffers Schrift über die preußische Publizistik im Jahre 1859 (1902) nicht glücklich zu sein. Für jene schon durch die durchgehende nationale Bewegung charakterisierte Zeit macht sie eine Einheit des historischen Bildes unmöglich. ') Ad.Rapp, Die Württemberger und die nationale Frage 1863—1870. Darstellungen aus der Württembergischen Geschichte IV (1910). Für ein größeres Territorium hat K. A. v. Müller die Gesichtspunkte einer analogen Darstellung reich und umfassend entwickelt: „Probleme der neuesten bayerischen Geschichte (1799—1871)''. Hist Ztschr. 118 (1917). '

9 den reifen Niederschlag ihrer Auseinandersetzung mit den großen Potenzen des deutschen Geistes, des preußischen Staates die einen; jugendliche Begeisterung,hier inhochgemutem Fortschreiten, dort in grüblerischem Sicherweitern, die andern; der persönliche Stolz auf die Zeit und schon der verborgene innere Protest gegen ihre Allmacht kommen zu Worte; und für das alles leihen sie den eigenen Namen nicht her; sie geben ihre Bekenntnisse anonym heraus, damit nur die Sache rein und stark hervortrete. Ein Mann von geprägtester literarischer Bildung, ein geistiger Bildhauer, führt die Redaktion: so darf man versuchen, aus dieser Zeitschrift die Einheit eines Lebens herauszuheben.



Goethe hat einmal den eigenen Wert der Biographie gegenüber der allgemeinen Geschichtsschreibung geltend gemacht. „Die Biographie sollte sich einen großen Vorrang vor der Geschichte erwerben, indem sie das Individuum lebendig darstellt und zugleich das Jahrhundert, wie auch dieses lebendig auf jenes einwirkt. Die Lebensbeschreibung soll das Leben darstellen, wie es an und für sich und um seiner selbst willen da ist. Dem Geschichtsschreiber ist nicht zu verargen, daß er sich nach Resultaten umsieht, aber darüber geht die einzelne Tat sowie der einzelne Mensch verloren." Goethe verteidigte damit — er spricht sich so in einer Vorrede zu Dichtung und Wahrheit aus — das Recht d e r Biographie, die auf die Herausstellung der inneren, dem Flusse des Geschehens eigentümlich enthobenen Einheit eines Menschentumes zielt. Er wollte damit n i c h t s t o f f l i c h e Entwickelungen, die in keinen universalgeschichtlichen Rahmen eingehen, Details eines Lebenslaufes geben, die nur ein philologisches Interesse beanspruchen, auch nicht überlebensgroße Momente, die Geschichte einer ganzen Zeit, in den biographischen Rahmen einspannen, sondern er hatte, wenn er die Isolierung eines bestimmten Gegenstandes aus dem universalhistorischen Verlaufe forderte, dessen innerstes Leben, seinen Zug zur Einheit im Auge. Um ihn lohnt es, zu ringen! Ein Menschenleben hebt sich aus dem universalen Verlaufe des Geschehens und aus seiner Verankerung in kausalen Zusammenhängen heraus; ein allgemeines Weltverhalten wird von ihm ausgesprochen, das es nach eigenen Begriffen zu verstehen

10 gilt. Auch diese Begriffe freilich gilt es aus der lebendigen Individualität, aus dem geschichtlichen Menschen selbst, nicht aus einem System transzendenter Werte zu entwickeln. Nur die Ideen i m m a n e n t zu verstehen, nur von dem konkreten Leben auszugehen, es für sich zu nehmen und auf seine innere Form, auf den Grund seines Verhaltens zu den Mächten des Daseins zurückzuführen, gibt eine zusammenhängende Erkenntnis. Es bleibt dabei durchaus h i s t o r i s c h e Erkenntnis. Dilthey, der eine Geschichte der inneren Formen des Menschentumes geschrieben hat 1 ), und Ranke, der den Charakter in der Berührung mit der durchgehenden politischen Bewegung faßte, gingen auf letzten parallelen Wegen der Erkenntnis. Die vorliegende Arbeit versucht im ersten Kapitel die Ents t e h u n g s g e s c h i c h t e der Preußischen Jahrbücher zu erläutern, indem sie die Zeitschrift als Organ des signifikativen Individuums der Zeit, einer politischen Partei, kennzeichnet und die Form, die sie annimmt, literarisch entwickelt; im zweiten Kapitel persönlichkeitsgeschichtlich, durch die Verfolgung des inneren Bildungsg r n g e s der führenden M i t a r b e i t e r , zu dem geistigen Hintergrund der Partei vorzudringen; im dritten Kapitel die P o l i t i k der Jahrbücher in ihren ersten sechs Jahren darzulegen (von 1 8 5 8 bis 1 8 6 3 ) 2 ) ; um auf Grund der besonderen politischen, literarischen,

') V e r g l . v o r allem d i e G e s a m m e l t e n Schriften B d . II (1914). ) H i e r f ü r w u r d e n . a u c h d i e a n d e r w e i t i g e n Ä u ß e r u n g e n d e r Mit-

2

a r b e i t e r h e r a n g e z o g e n . B c r n h a r d i s T a g e b ü c h e r g e b e n den lebendigsten E i r b ! ck in die Gesch.chte d e r N e u e n Ä r a . D e n Jahrbüchern, die, o b wohl in Halle h e r a u s g e g e b e n , iir.irer F i h l u n g mit den V o r g ä n g e n

in

Berlin suchten, war Berr.hardi ein wichtiger, wenn schon nicht d a u e r n d sich verpfi chtender Vermittler. S o e r g ä n z e n seine T a g e b i c h e r die Einsicht in die Politik, die die Jahrbi'cher vertraten, organisch. S e i n e Neig u n g , ü b e r d e m A l l g e m e i n e n d i e Einwirkungen d e s Einzelnen, P e r s ö n li chen zu beachten, die in d e r Zeitschrift w e n i g e r hervortrat, k ö n n e n wir s o m i t f a s s e n . — Einen wesentlich arideren K o m m e n t a r g e b e n B r i e f e T r e i t s c h k e s . Können

d a auch d i e Urteile, ü b e r d i e

die

politischen

M o m e n t e d e s T a g e s nur mit Vorsicht v e r w a n d t werden, s o wie e s briefiche Ä u ß e r u n g e n zulassen, s o erlaubt die frühzeitige H e r a u s b i l d u n g d e r p o l i t i s c h e n Grundansichten bei Treitschke doch, seine politische H a l t u n g

11 persönlichen Voraussetzungen im vierten Kapitel ein Bild des l i b e r a l e n d e u t s c h e n M e n s c h e n in seinen inneren Zusammenhängen, nicht so sehr in der Ausprägung, die einzelne objektive Mächte (Staat, Geschichte, Kunst) in seinem Denken gefunden haben, als in der Struktur dieses Denkens selbst, in seinem Erleben der Objektwelt zu geben. Die Möglichkeiten eines Menschentumes, die inneren Voraussetzungen für dessen geschichtliche Auswirkung möchten dargetan werden. Die äußere Begrenzung des Stoffes auf die ersten sechs Jahrgänge (Bd. I—••-XII) rechtfertigt sich aus der zugrunde liegenden Absicht. Das Schwergewicht sollte auf die Neue Ä r a fallen als auf eine Epoche, in der der Liberalismus, wie nie wieder, an der Regierung

des preußischen Staates beteiligt gewesen

ist:

der Augenblick ist kostbar, er wird den Gemäßigten zum Erlebnis, sie prüfen ihre K r ä f t e am Staate; dann werden sie von den Radikalen zurückgeworfen, sie erkennen ihre A r t in ihren Grenzen und gelangen

dazu, am W e r k e

eines Größeren

mit-

in den Briefen mit derjenigen der Zeitschrift, an der selbst er in jenen Jahren vornehmlich nur a h Ästhetiker beteiligt war, zu vergleichen, Unterschiede des Temperamentes zu erfassen. — Die erste zusammenfassende kritische Verarbeitung der liberalen Politik jener Jahre bot Baumgartens großer 1866 in den Jahrbüchern erschienener Aufsatz: „Der deutsche Liberalismus, eine Selbstkritik", eines der schcnsten Beispiele für die Strenge und Weite der den deutschen Liberalismus auszeichnenden Gesinnung. Uber Baumgartens Briefe aus den Jahren der Neuen Ära, in denen er, wie Mareks nachgewiesen hat, seine spätere Kritik schon vielfach antizipiert, konnte mir leider keine Auskunft mehr gegeben werden. — Endlich gibt Hayms Dunckerbiographie, noch aus starkem Mitgefühl mit den Problemen jener Zeit geschrieben, eine Geschichte der liberalen Politik, soweit sie sich auf die Person Dunckers, des leitenden politischen Kopfes der Jahrbücher, beziehen läßt. — Von besonderem Werte waren mir zahlreiche ungedruckte Briefe der Mitarbeiter an Haym, deren Benutzung ich der Güte der Witwe Hayms, Frau Minna Haym in Halle, verdanke, sowie die Briefe Hayms an seinen Verleger Georg Reimer, die mir Herr Dr. de Gruyter freundlichst einzusehen gestattete Mit ihrer Hilfe war es möglich, für eine Reihe wichtiger Beiträge, deren Verfasser bisher ungenannt geblieben waren, die Verfasser zu ermitteln (s. Anlage IV).

12 zu wirken. So haben sie, durch sich selbst und die Ereignisse erzogen, das Beste, was sie in sich trugen, ein inniges, selbständiges Verhältnis zu unserem idealistischen Zeitalter und ein zugleich leidenschaftliches und maßvolles Bekenntnis zu unseren nationalen Idealen, hineingebildet in unseren geistigen Besitz. Die Neue Ära ist für den Nationalliberalismus nach seiner Geburtsstunde in der Revolution die eigentliche Schule geworden, nach deren Durchgang er sein Manneswerk von 1 8 6 6 bis 1 8 7 8 vollbringen konnte. Anfang 1 8 6 2 nahm sie ihr Ende. Wir sehen noch, wie die Jahrbücher sich zum Eintritt Bismarcks verhalten; wir begleiten sie noch auf die Höhe des Konfliktes, wie sie hinter die fortschrittliche Presse zurücktreten, ihren besten Mitarbeiter in scharfem Zusammenstoß mit dem Herausgeber verlieren, um erst, als der Konflikt durch die positive Staatsleistung Bismarcks überwunden war, als Organ der Mitte wieder den Platz vor den Extremen einzunehmen. Damals, 1866, bekamen sie einen neuen Führer, den Mann, der 1 8 6 3 im Zorn von ihnen zu den Demokraten gegangen war und dann als einer der ersten den Staatsmann in Bismarck erkannt hatte, Heinrich von Treitschke. Wir schließen unsere Betrachtung mit dem Jahre 1 8 6 3 , vor dem ersten großen Erfolge, mit dem sich die Bismarckische Politik in Deutschland einführte, dem schleswig-holsteinischen Kriege. Es ist zugleich eine innere Periodisierung: 1864 trat Haym von der Redaktion, die der Zeitschrift das einheitliche Gepräge ihrer ersten Jahre gegeben hatte, zurück. Und auch der Kreis der Mitarbeiter wechselte bald zu neuen Namen hinüber. Auch in ihm deutet sich die große Wandlung an. Ein neues Deutschland hatte begonnen.

Erstes

Kapitel.

Die Entstehungsgeschichte. Zur E n t w i c k l u n g d e r d e u t s c h e n P a r t e i e n , ollen wir das Bewußtsein, in dem die Jahrbücher sich geschrieben haben, verstehen, so gilt es zunächst die Wurzeln aufzusuchen, aus denen sie entstanden sind. Es ist das Schöne an unserem Gegenstande, daß die Struktur der wirklichen politischen Gewalt einer Zeit — und eine solche stellt zwar nicht der einzelne Mitarbeiter der Jahrbücher, wohl aber der ganze Kreis und sein Organ dar — uns zu den Grundfragen hintreiben muß, die den Wandel der Epochen durchziehen und bezeichnen. Die Preußischen Jahrbücher sind als Parteiorgan begründet worden. Parteiwille hat sie — in der Zeit, der wir unsere Betrachtung widmen — geleitet. Ein Wille zur Partei freilich, der gesättigt war von weiteren geistigen Antrieben, der von ursprünglich unpolitischen Bestrebungen gemildert und doch recht eigentlich erst lebensfähig gemacht wurde. So haben wir zuerst zu fragen: wie hat sich dieser Parteiwille gebildet, welche Stellung nimmt er in der Entwicklung des Liberalismus überhaupt ein, wie drückt er sich in der Presse aus? Mit solchen Fragen rühren wir an eines der schwierigsten, weder in der Methode noch in den Ergebnissen sichergestellten Kapitel der neueren Forschung. „Die Heereslager unserer politischen und geistigen Parteien sind nicht so einfach und faßlich von einander geschieden, wie gemeinhin in anderen Ländern. Darum wird es auch dem Aus-

14 länder so schwer, sich in den krausen Linien unserer Entwicklung zurecht zu finden 1 )." Nicht nur ihm; auch die deutsche Forschung ist sich über die Probleme der deutschen Parteigeschichte, vornehmlich der Vorgeschichte der Parteien, vielfach noch nicht klar geworden. Wir gehen davon aus, daß politische Parteien Willensgemeinschaften sind. Ihre Entstehung werden wir also zunächst aus konkreten geschichtlichen Situationen zu erklären haben. Ein Moment der inneren oder der äußeren Lage treibt die Parteien hervor, teilt alte, begründet neue: man denke an die Erbkaiserlichen, die Wochenblattspartei, die Junglithauer, an die Absprengung der Freikonservativen von der konservativen, der sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft von der sozialdemokratischen Partei. Das Willensmoment bleibt für die Erkenntnis des Parteiwesens wie für die jedes politischen Wesens grundlegend. Oft springt es aus taktischen Erwägungen am deutlichsten hervor. In Ländern ohne beherrschende prinzipielle Auffassungen können sich die Parteiunterschiede schon an diesem Moment, an dem bloßen Machtverhältnis, ersättigen. Solche Parteien bilden sich ein Bewußtsein von ihrem empirischen Dasein und behaupten sich, indem sie, wie Staaten und Völker, für sich selbst da sind. Sie sind ihrem Sinne nach nicht so sehr kastenmäßige Interessengemeinschaften oder Verfechter absoluter Doktrinen, als Olganisationen der Macht an sich, Verhältnisse, in denen ein elementarer Wille sich auswirken kann; so stehen sich in der Hauptsache Republikaner und Demokraten in den Vereinigten Staaten von Nordamerika gegenüber. Die denkbar entgegengesetztesten Verhältnisse bietet Deutschland dar. Hier wirkt auf das Parteileben das soziale Sonderinteresse ebenso wie der allgemeine Gesichtspunkt — eine abstrakte Ansicht oder auch eine historische Empfindung — bindend ein. Diese unpolitischen Zusammenhänge nähren in Deutschland stark das politische Treiben, beeinflussen die Willensrichtungen, die Parteientscheidungen

u n d -Scheidungen

we-

') Meinecke, „Radowitz und die deutsche Revolution" (1913), S. 1.

15 sentlich. Sie sind, im Zusammenhang mit dem Gesamtleben

der

Nation, in stetem Wechsel begriffen, und dieser W e c h s e l

der

Standesinteressen

wie

der

zeichnet sich entsprechend

prinzipiellen

Anschauungen

in der gesellschaftlichen

kenn-

Zusammen-

setzung und in den ideellen Programmen der Parteien. Er kennzeichnet sich darin, ohne jedoch den Parteicharakter allein durch sich zu bestimmen. meinschaften, dualitäten, großen trinen

Die Parteien

Traditionen trotzen.

So

nicht

doch dem G a n g nung

ihrer

mehr

aufgeben,

gefestigt fühlen, stellen

heutigen Nationalliberalen

vielmehr Willensge-

immer mehr zu historischen

sie werden

die sich

bleiben

die

dem

die

sich

Wandel

ehemaligen

Indivi-

in

ihren

der

Dok-

Gothaer

und

die

eine kontinuierliche Kraft dar, ohne

der Ereignisse g e g e n ü b e r an derselben

politischen Überzeugungen

festgehalten

zu

Ordhaben.

W i e hat der Freisinn sein Verhältnis zu den militärischen Notwendigkeiten Wille,

entwickelt!

Auf

die

subjektiven

Stimmung, geschichtliches Bewußtsein

Parteigeschichte

vorab

reflektieren.

Sie

muß

Verhältnisse, daher

darf nie und

eine

nimmer

zu einer reinen Ideengeschichte werden, sie darf nicht bestimmte Vorstellungen

vom S t a a t e , die sie schon a n s i c h , nach ihrem

Ideengehalt, als konservativ, liberal oder demokratisch bezeichnet, zur Klassifizierung der Parteien verwenden. Für die Zeit, in der bereits ausgebildete Parteien auftreten, werden diese durch ihre der

Betrachtung

steuern.

konkrete Mächtigkeit solchen Fehlern Aber

gerade

die neuerdings bevor-

zugte, sogenannte „Vorgeschichte" der Parteien, die Verfolgung der Parteien in die vorrevolutionäre Zeit, gerät leicht auf diese W e g e 1 ) . W o z u führt es, den Liberalismus als eine „mehr von dem Seinsollenden, dem absolut Guten a u s g e h e n d e " , dem Konservatismus

als einer

„von

dem

Seienden

ausgehenden

und

') So gehen vor: Wahl, „Beiträge zur deutschen Parteigeschichte im 19. Jahrhundert" (Hist. Ztschr. 104, 1910) und, in der prinzipiellen Grundlegung ihn vielfach wiederholend, E. Müsebeck, „Die ursprünglichen Grundlagen des Liberalismus und des Konservativismus in Deutschand" (1915).

16 dessen Verbesserung erstrebenden" Denkart entgegenzusetzen 1 )? Dahin, daß Schiller, Schleiermacher, Hardenberg 2 ) im liberalen, Stein 3 ), v. d. Marwitz 4 ), Dahlmann 5 ) im konservativen Lager aufmarschieren müssen! menhänge

jene Männer können eben noch

W i e werden hier die historischen Zusam-

von einer leblosen Konstruktion nicht anders

politischen

in

in dem die

dieser ihrer Reinheit,

reinen

Nein,

parteimäßig

nicht ausgeprägten Zeit verstanden werden 7 ).

entschließe sich, das Zeitalter, herrschen,

zerrissen 6 )!

als aus einer

Man

Gedanken

ohne bestimmten

partei-

Bezug, zu analysieren, die Ideen als das, was sie

waren, als ein unmittelbar Lebendiges, zu fassen.

Wohl

setzt

die deutsche Parteigeschichte eine Ideengeschichte voraus, aber ' ) Wahl, S. 539, Müsebeck, S. 7. 5 ) Müsebeck, S. 7. ' ) Wahl, S. 553. 4 ) Wahl, S. 553 ff., Müsebeck, S. 7. ' ) Wahl, S. 557. Wobei denn allerdings für Marwitz und Dahlmann „die Zuweisung schwierig bleibt" (S. 543). ' ) Wie leblos und unhistorisch solche Konstruktionen bleiben, zeigen die Kriterien, die nach Wahl Dahlmann zu einem Konservativen stempeln: die Ablehnung der Gleichheit, das Ausgehen von dem historisch Gegebenen, die Ablehnung der Volkssouveränität, die Bewunderung der englischen Verfassung — alles Kriterien, die eben für den Liberalismus auf seiner Höhezeit (nach 1848) — freilich nicht für den Radikalismus — bezeichnend sind. Wenn man den ausgereiften, sich seiner Bildungselemente vollbewußten gemäßigten Liberalismus derart an den „ursprünglichen Grundlagen" des Konservatismus orientiert, kann man freilich dazu kommen, ihn als eine „abbröckelnde Staatsauffassung" (S. 545) anzusehen. — Mit der faktischen Stellung Dahlmanns auf liberaler Seite kann sich Wahl dann nur durch die charakteristische Bemerkung abfinden, man sei „erstaunt zu lesen", daß Dahlmann sich über die Julirevolution gefreut habe (S. 566). " 7 ) Selbst wenn Dahlmann 1815 Ideen, die später die Konservativen aufnahmen, vertreten haben sollte (z. B. eine ständische Vertretung), so wäre er damit noch lange kein Konservativer. Die an sich gewiß sehr interessante Frage, wie weit die konstitutionellen Probleme in der Zeit nach den Befreiungskriegen schon geklärt waren, sollte erst einmal unabhängig davon, wie sie sich später zu Parteianschauungen verdichteten, behandelt werden.

17 diese stelle man in ihrer eigenen Struktur dar. Die Parteigeschichte selbst setzt mit einem entscheidenden Faktor ein: der Bildung des Partei w i l l e n s . Eine „Vorgeschichte" der Partei hat sich vorab mit der allmählichen Bildung dieses Willens zu befassen. Auch den gedanklichen Hintergrund wird sie doch nie so stark hereinzuziehen haben, daß sie aus ihm selbst, aus den ideellen Abwandlungen, schon die Merkmale entwickelt, durch die sie die späteren Parteien bestimmt 1 ). Will man die Gestalten der vorangegangenen, parteimäßig noch nicht ausgebildeten Zeit in bestimmte politische Lager einfügen, so darf das nicht vorblickend, sondern nur rückblickend, vom Standpunkt der fertigen Partei aus geschehen — dadurch, daß man fragt, wo die Parteien ihre Helden selbst gesehen, wen sie als ihren Ahnen, wen sie als ihren Antipoden betrachtet haben; wobei sich dann wohl erweisen wird, in welchem (Lager Stein, um dessen Reformwerk Konservative und Liberale in der Reaktionszeit stritten, und Dahlmann, der Führer der „Revolutionäre" im Frankfurter Parlament, lebendig waren 2 ). Es macht sich hier wieder der Unterschied auf das Objekt und auf das Subjekt reflektierender Geschichtsbetrachtung in seiner Bedeutung für die Scheidung der Epochen geltend. Man kann den Liberalismus nicht wie den absoluten Idealismus als ein Ideensystem •darstellen, sondern man faßt ihn als geschichtliche Kraft ijur, wenn man bedenkt, daß er sich als Partei, Wille, Subjekt fühlte, und diesem Fühlen in seiner inneren Gesamthaltung den Platz anweist. i ') Brandenburg will Liberalismus und Demokratie in den zwanziger Jahren dahin unterscheiden, daß „das oberste Ziel des Liberalismus die politische Freiheit, das Grundmotiv der Demokratie die Gleichheit aller oder die Herrschaft des Mehrheitswillens sei" („Die Reichsgründung" [1916] I, 126). Das Beispiel Rottecks jedoch, des hervorragendsten Führers der „Entschiedenen", von dem Brandenburg zugeben muß, daß er weder für allgemeines Wahlrecht noch für Nationalsouveränität gewesen sei, zeigt dabei deutlich, wie wenig das BegrifflichProgrammatische an sich ausreicht, als Grundlage für die Scheidung der Parteien verwertet zu werden. 2 ) Den „hochverehrten Altmeister des deutschen Liberalismus" nennt cTreitsdike Dahlmann („Die Gesellschaftswissenschaft", S. 107). Westphal 2

18 Verhältnisse des Vormärz. Die erste große Frage, an der sich in Deutschland nach 1815 die Geister schieden, entsprang dem Umschwung der Zeiten, der sich auf dem Wiener Kongreß vollzog. Hier die Nachwirkungen des Befreiungskampfes, dort die Tendenzen der Restauration — sie stritten um den modernen Staat, den Verfassungsstaat. Es war ein europäisches, ein kosmopolitisches Problem. Die Julirevolution gab ihm neue Nahrung. Noch nahm der Liberalismus der dreißiger Jahre die nationale Differenzierung nicht an. Sie war es, für die damals Ranke mit seiner historisch-politischen Zeitschrift eintrat 1 )- Er brachte sich noch nicht zu Gehör. Dem kosmopolitischen Charakter entsprach die Ungeklärtheit der Begriffe. So gingen die Begriffe ständischer und repräsentativer Vertretung noch durcheinander. Der langsamen gedanklichen Durchdringung entsprach die Undifferenziertheit der Lager: die Phraseologie der Zeit unterschied noch nach Legitimisten und Jakobinern. Zur Ausbildung eines Partellebens fehlte eben das Elementarste, der Boden solchen Lebens selbst: nur in den Mittel- und Kleinstaaten war es zur Verleihung von Verfassungen gekommen. Doch vermochte der Partikularismus kein wirkliches konstitutionelles Leben auf seinen Bühnen zu erzeugen; selbst nicht in Baden, wo die Verhältnisse am fortgeschrittensten waren. Nur eben die Gegensätze, Regierungspartei und Opposition, zeichneten sich ab. Vielfach wurden sie noch von provinziellen Fragen beherrscht. So stritt die rheinische Opposition in Preußen um die Wahrung ihres besonderen Rechtes, des Code Napoléon. Und ebenso kam ein Heinrich von Gagern als Führer der oppositionellen Rheinhessen gegen die Starkenburger in Sachen der Erhaltung des französischen Rechtes in Rheinhessen auf. Diese unausgebildeten Verhältnisse beleuchtet grell die parteiische, aber bei oder richtiger infolge der unerbittlichen ') Vergl. besonders seinen Aufsatz Deutschland und Frankreich (1832), Werke Bd. 49. Über den Beginn der nationalen Einstellung des Liberalismus und Biedermanns Deutsche Monatsschrift (1842), vergl. S . 40f •

19

philosophischen Einstellung wirklich parteikräftige Kritik eines Arnold Rüge. Dem letzten Bande seiner Hallischen Jahrbücher (1843) schrieb er zum Vorwort „eine Selbstkritik des Liberalismus" — das sehr merkwürdige Gegenstück zu dem klassischen Aufsatze, den Baumgarten 23 Jahre später unter fast gleichem Titel in die Preußischen Jahrbücher schrieb. Wie soll, so heißt es da, das deutsche Volk zu wahrer Freiheit, „zu seinem Begriff", gelangen? „Dazu müßte es den ungeheuren Schritt tun, alle Herrlichkeiten des befreiten Innern, alle Schätze der protestantischen Gedankenwelt, zur Genuß- und Willenssache, zur Religion und zur weltbewegenden Leidenschaft zu verdichten." Nur wissenschaftliche, keine politischen Parteien gäbe es in Deutschland. „Und dürfen wir denn sagen, daß eine liberale Partei in Deutschland existiert, da kein politisches Deutschland existiert, sondern nur, wenn wir nicht irren (und wer dürfte sich In diesem Punkt nicht irren?) 37 Territorien?" „Was könnte auch eine deutsche liberale Partei wollen? Doch wohl nur ein Problem der politischen Freiheit unserer Zeit in einem souveränen Staate lösen! Kann sie also die Provinz wollen?" Ein echter Hegelianer hatte Rüge bereits eine tiefe natürliche Einsicht in die Notwendigkeit der Ergänzung von Macht und Freiheit. In den Kleinstaaten helfe aller guter Wille zur Freiheit nichts; denn: „sie sind nicht autonom, d. h. nicht souverän nach außen". Und er sprach dem Liberalismus überhaupt die Möglichkeit ab, Partei werden zu können; er sei „die Freiheit eines Volkes, welches in der Theorie stecken geblieben". Eine feine Sprachkritik übt er, wenn er in dem damaligen Deutschland keine Freiheit, sondern nur eine „Freisinnigkeit" blühen sah: „Die Sympathie aber kann oder will nicht selber etwas tun 1 )." So gipfeln seine Ausführungen denn in der Forderung: der Liberalismus muß zum Demokratismus werden! Die damaligen deutschen Parteizustände hat Ruges feurige ' ) Der Begriff des „Freisinns" ebenso wie der später durch A. L. v. Rochau aufgekommene der „Realpolitik" sind in der Tat bezeichnende sprachliche Hinweise auf den Weg-, auf dem die deutschen Liberalen zur Politik gekommen sind. 2*

20 Kritik wirklich nach ihrem Gehalt an Leben geschieden. Seine Wege, Macht zu entwickeln, die immer die philosophischen blieben, haben zwar nicht zum Ziele geführt. Aber er wollte doch Macht und wußte, daß man sie den Deutschen jener Tage predigen müsse. Seine Doktrin von dem „in vernünftigen Formen sich bewegenden Volk", das souverän sei „wie die Vernunft des Rationalismus in ihrer methodischen Bewegung", war doch aus einem divinatorischen Gefühl für die Gewalten der Zeit geboren. Die Revolution von 1848 lag ganz auf seinem Wege. Und wäre der gemäßigte Liberalismus, ohne einmal vom Demokratismus abgelöst worden zu sein, ohne den Ansturm der Demokratie von 1848, zu der Auswirkung gelangt, die ihm in unserer Geschichte beschieden war? Es war der Eintritt Friedrich Wilhelms IV., der in das nationale Leben jene Bewegung gebracht hatte, der Rüge das Horoskop stellte. Von der Huldigung der ostpreußischen Stände in Königsberg an wurde die preußische Verfassungsfrage das eigentlich kritische Moment in der öffentlichen Meinung. „Überall, im Osten wie im Westen waren unter dem aufregenden Regimente neue politische Ideen erwacht, aus denen leicht große gesamtpreußische Parteien hervorgehen konnten 1 )." Auf dem Vereinigten Landtag, den Friedrich Wilhelm IV. 1847 nach Berlin berief, überwog bereits das allgemeine staatliche Interesse die provinziellen Angelegenheiten durchaus. Allein der Eigenwille des Königs, der dem Wunsche der Mehrheit auf periodische Berufung der vereinigten Landstände nicht stattgeben und die konstitutionelle Idee nicht sanktionieren wollte, ließ die Opposition in negativer und deshalb undifferenzierter Haltung verharren; ihm gegenüber galten ein Dahlmann und ein Jakoby noch als oppositionelle Gesinnungsgenossen. Treitschke, am Ende seiner Deutschen Geschichte, die den Fluß der Probleme mit wundervoller Weisheit zur Anschauung bringt, macht einen interessanten Moment namhaft, in dem bereits vor der Revolution ein tieferes Parteileben zutage ge') Treitschke, Deutsche Geschichte V, 615.

21 treten sei, die erste Trennung von Liberalen und Demokraten sich vollzogen habe 1 ). Es war in Baden, wo das reaktionäre Ministerium Nebenius endlich einer heftigen Opposition erlag und ein Ministerium Bekk, dessen Präsident aus dem liberalen Beamtentume hervorgegangen war, gebildet wurde. Eben dieser Vorgang führte zur Scheidung der Geister. Dem Liberalismus, der wirklich zu regieren berufen war, setzte sich der Radikalismus bewußt entgegen: so deutet auch dies Ereignis daraufhin, daß es die besondere politische Konstellation, der Kampf um die Verantwortung ist, aus dem die Parteien erst in eigentlicher Bildung, als greifbare Wesenheiten heraustreten 2 ). Doch erst als die Nation den revolutionären Schritt tat, die Gestaltung ihrer Geschicke selbst in die Hand zu nehmen, als sie sich unmittelbar den großen, Vergangenheit und Zukunft ihres Daseins bewegenden Fragen gegenübergestellt fühlte, erst in der Paulskirche wurde ein deutsches Parteileben

geboren.

Die Revolution. Das erste deutsche Parlament hat aus seiner eigenen Mitte eine fesselnde Selbstdarstellung hervorgebracht. Der junge Rudolf Haym bewährte in seinen „Berichten aus der Partei des rechten Centrum" 3 ), deren erster noch zur Zeit des Parlaments selbst abgefaßt wurde, seine eigentümliche Gabe, die großen Parteibewegungen seiner Zeit gleichsam als persönliche Einheiten zu fassen und lebendig zu machen. Seine Schilderung der Nationalversammlung wurde zum ersten großen schriftstellerischen Ausdruck der liberalen Partei. Sie ist ganz der vernünftigen Selbstbetrachtung voll, die einen Rüge auszeichnete; aber es war nicht mehr die philosophische, sondern die historische Vernunft, zu der ') Ebd. 679. ) Vergl. auch die Abhandlung Bergsträssers, „Die parteipolitische Lage beim Zusammentritt des Vorparlaments" (Ztschr. f. Politik VI, 1913), die die Ausführungen Treitschkes quellenkundlich belegt. s

3 ) Haym, „Die deutsche Nationalversammlung", 1—III. Frankfurt und Berlin 1848—1850.

22 sich Haym bekannte. So ist es Erfahrung und Reflexion zugleich, was aus seinem Bericht spricht und ihn zu einem überaus wertvollen Zeugnis für die Anfänge des deutschen Parteiwesens macht1). Verweilen wir einen Augenblick bei der Schilderung, die der spätere Herausgeber der Preußischen Jahrbücher hier von dem Stand der Dinge entwirft. Er schildert, wie sich zuerst die Extreme zu Parteien absonderten, wie die Linke sich „auf Grund eines freien Credo" zusammenschloß und sich zuerst als Partei einlebte: „immer geschlagen, mußte sie sich immer wieder aufraffen". Weniger einheitlich war die Rechte gebildet, in der neben Radowitz, dem heimlichen Absolutisten, wie Haym ihn auffaßte, Vincke, einer der Wortführer der liberalen Opposition auf dem Vereinigten Landtag und ein Vorkämpfer des konstitutionellen Rechtes, saß — die Gesellschaft vom „Steinernen Hause". Als Gesellschaften werden die Parteien bei Haym überhaupt noch häufig bezeichnet 2 ), wie denn ihr allmähliches Zusammenwachsen in Frankfurt darin ausgedrückt blieb, daß sie von den Lokalen, in denen sie außerhalb des Parlamentes tagten, ihren Namen erhielten. Am schwersten konstituierte sich die Mitte, eben weil von ihr die Hauptarbeit zu leisten, und das Gefühl der Verantwortung für das Ganze in ihr am lebendigsten war. Haym hat auf die Herausarbeitung dieser Entwicklung, der er selbst innerlich zugehörte, in seiner Schilderung besonderes Gewicht gelegt. Noch ist die Stimmung in der Versammlung „zum großen Teile weich und flüssig". Wohl geht ein Gefühl der Zusammengehörigkeit durch die Mitte. Aber die theoretischen Deutschen suchen vergeblich nach einem Symbol, einem Programm, auf das sie eine Partei des Zentrums gründen könnten. Halbmonarchische, halbrepublikanische Richtungen finden sich in einem linken Zentrum unter dem — nicht eben eindeutigen — Banner ') Vergl. für die nachfolgenden Probleme bei ihm besonders die Abschnitte Bd. I, S. 1 8 ff., 38 ff., 145 ff. und Bd. II, S. 135 ff., 272 ff. 2 ) So in den Vorschlägen, die G. Beseler machte, um die Zentren zu festeren Parteien zusammenzuschließen (I, 156).

23 der Nationalsouveränität der Vereinbarung

zusammen, setzen sich dem Prinzip

der Nationalversammlung

mit den

Einzel-

regierungen, wie es auf der Rechten vertreten wurde, entgegen. „Die Meinungen verbinden und trennen sich, die Parteien wandeln und verschieben sich, und entscheidende Ereignisse gehen durch die Versammlung nicht hindurch, ohne in einer neuen Gruppierung der . Parteien

ihre Spuren zu hinterlassen." Ein

entscheidendes Ereignis, der Beschluß über die Zentralgewalt, ist es denn auch, was die Partei des rechten Zentrums entstehen läßt, was diese der „selbstgeschaffenen Not um ein Prinzip" überhob. Heinrich von Gagern hatte den „kühnen Griff" getan, die Nationalversammlung zur Wahl eines Reichsverwesers aus eigener Befugnis aufzufordern. Die Mitte glaubte nicht ohne Einbringung eines besonderen Amendements zustimmen zu können, durch das das Einverständnis mit den Einzelregierungen vorbehalten wurde. Allein tumultuarischer Einspruch der Linken verhinderte die Einbringung

des Amendements. Sollte dasselbe

nicht durchgehen, so hatte man sich in der Mitte verpflichtet, den Gagernschen Vorschlag abzulehnen. So kam es zur Abstimmung: „Es geschah noch einmal, was überall in dieser Angelegenheit zum Vorschein gekommen war: mehr gezogen als geführt, mehr geführt als selbst entscheidend, so gingen wir einem Moment entgegen, welcher durch die kühnste Auffassung unserer Aufgabe der glänzendste in dem bisherigen Leben der Versammlung gewesen ist. So sehr hatte Gagern das Wort der Notwendigkeit ausgesprochen." Die Männer, die, trotz jener Verpflichtung, von der Gewalt der Stunde hingerissen, ihre Zustimmung zu der Wahl des Reichsverwesers gegeben hatten, waren wie von selbst zur Partei zusammengeführt. „Eine entscheidende Abstimmung hatte eine längst angelegte Parteibildung zur Reife getrieben." Haym zählt wohl rasch die Punkte auf, die der Partei zur Richtschnur dienten; doch er unterbricht sich und sucht die Fundamente der Partei an ganz anderer Stelle: „in dem lebendigen Geiste der Freiheit, in der edlen Begeisterung für den Gedanken

nationaler Einheit, in

24 dem politischen Taktgefühl" — in Dingen also, für die nicht ein „Bekenntnis", sondern für die „Personen" Bürgschaft gäben. Es finden sich bei Haym dann weiter die feinsten parteipsychologischen Entwicklungen. Ein „gewisser Latitudinarismus" in der Politik des rechten Zentrums führte zu Bestrebungen, den Parteibegriff zu läutern. Eine Gruppe forderte die Aufstellung eines bestimmten,

dem

des linken Zentrums

ange-

glichenen Programms. „Es ward erwidert, was sich erwidern ließ": nicht die „Ansicht", sondern die „Gesinnung" verbände, „ein prinzipielles Credo" zerstöre

die

Gesellschaft. Dennoch

löste sich der „Landsberg" los. Sehr charakteristisch, wie die Gruppe hier erst, „um sich selbst zu motivieren", dazu kam, eine prinzipielle Unterscheidung eintreten zu lassen! nach den Septemberereignissen, schien

Später,

dann der Gesamtheit

des rechten Zentrums doch auch ein programmatisches Bekenntnis nötig, um eine feste Frontbildung gegen links zu erreichen. In die mittlere Richtung, zu der sich so beide Zentren zusammenfaßten, gerieten aber dadurch

stärkere Einflüsse aus

dem linken Zentrum hinein. Hatte doch Gagern selbst auf die Betonung der Volkssouveränität nicht verzichten mögen! Eben daran scheiterte Radowitz' von rechts her entgegenkommender Versuch, den Schwerpunkt der Frankfurter Politik in das Vereinbarungsprinzip zu verlegen. Der Gegensatz zwischen liberaler und demokratischer Strömung wirkte sich nicht an der Stelle parteibildend aus, an der er ihn mit scharfem Blicke vorgezeichnet fand: zwischen dem rechten und dem linken Zentrum 1 ). Das ist für die weitere Entwicklung des Liberalismus verhängnisvoll geworden; er hat, nachdem er es diesmal versäumt hatte, freiwillig und selbständig mit dem Einzelstaat Preußen zu paktieren, nie wieder Gelegenheit bekommen, von seinem ursprünglichen Boden aus die nationalen Geschicke zu gestalten. In Frankfurt sah sich die Versammlung vor neue Fragen gestellt, die auch die Parteien wieder zu neuen Beziehungen untereinander treiben mußten, als sich der konstitutionell-radi') Meinecke, Radowitz, S. 108 ff.

25 kale Gegensatz abgestumpft und die Demokratie an Agitationsfrische verloren hatte. Der großdeutsch-kleindeutsche Gegensatz trat, seit dem Rücktritt Schmerlings und der Übernahme des Reichsministeriums durch Gagern, an seine Stelle. Das rechte Zentrum hielt dieser Frage gegenüber nicht zusammen, der Pariser Hof — Österreich, Bayern und sonstige Gegner Preußens — trennte sich von ihm. Doch gerade diese Durchkreuzung der Probleme, diese Doppeleinstellung der Partei sowohl auf die Freiheits- wie auf die Einheitsfrage, brachte den Charakter der Partei, den Charakter der „Erbkaiserlichen", recht eigentlich erst hervor; gerade diese doppelte Stellungnahme, die sich später in dem Namen der „Nationalliberalen" wieder ausprägte, haben sie als eine dauernde politische Tradition hinterlassen — trotz des Mißgeschickes, das Friedrich Wilhelm IV. ihnen mit der Ablehnung der Kaiserkrone bereitete. Die Paulskirche scheiterte daran, daß ihre Gewalt und die des preußischen Staates sich noch als heterogene Mächte begriffen. Darin lag es begründet, daß Gagern und Radowitz nicht wirklich zu einander kommen konnten. Ein tiefes schmerzliches Erlebnis der Nation; jedoch von erzieherischer Kraft. In Gotha versagten sich die Erbkaiserliqhen dem Reichsgründungsversuch, den Radowitz nun von Preußen aus unternahm, nicht; unter dem Spott und Hohn der Demokraten traten sie auf den preußischen Boden über. Wir werden später sehen, inwieweit sie das ohne Bruch in ihrem politischen Innern tun konnten. Das Entscheidende blieb doch ihr Entschluß. Die

Reaktion.

In Preußen selbst war das Klima von vornherein ein anderes als am Main. Gesinnungen und Aufgaben waren andere. Hatte bei den Wahlen zur deutschen Nationalversammlung die Unbestimmtheit der dort zu lösenden Aufgaben „ d i e jeder egoistischen

Rücksicht

begünstigt" 1 ),

so

Fernhaltung machten

sich

in den preußischen Parlamenten der Revolutionszeit die großen Interessenvertretungen, ') Haym I, 7.

die

rheinischen

und schlesischen Indu-

26 striellen, der ostelbische Adel, stärker geltend. Die Verhältnisse in Berlin waren von vornherein einfacher und gröber. Hier war der preußische Staat unmittelbar Gegenwart, das Erlebnis der Revolution in der Hauptstadt noch frisch und entscheidend. Das bestimmte die Scheidungen der Parteien nach rechts und links; zu so reichen und innerlich bedeutenden Schattierungen wie in Frankfurt war hier kein Raum. In der preußischen Nationalversammlung hielten sich die gemäßigten Liberalen, wie sie im Vereinigten Landtag die Opposition gebildet hatten, mit den —

allerdings nicht zahlreich

vertretenen — Konservativen zur Rechten, gegenüber dem immer radikaler werdenden Zuge der Versammlung, der schließlich (Nov. 1 8 4 8 ) zu ihrer Sprengung führte. Und ebenso bildeten im ersten preußischen Landtage, der, nach der Oktroyierung der Verfassung im Dezember 1848, vom Februar bis zum April 1 8 4 9 tagte, in der zweiten Kammer die Auerswald, Saucken, Schwerin, Camphausen, Harkort, Vincke, Grabow, Wentzel die Rechte, in der außerdem die Bismarck, Kleist, Arnim-Boytzenburg saßen, während die Unruh, SchulzeDelitzsch, Waldeck, Jacoby Führer der Linken waren. Der eigentliche Kampf ging damals zwischen Konstitutionellen und Demokraten; die entscheidende Frage war die der unbedingten oder der bedingten Annahme, bez. Verwerfung der oktroyierten Verfassung. Die hierbei zutage tretende Scheidung der Geister war für die Entwicklung der preußischen Parteien definitiv; die Linie zwischen gemäßigtem

und fortgeschrittenem

Liberalismus,

die hier gezogen wurde, wird bei allen folgenden Momenten der Entwicklung immer wieder sichtbar. Die Partei, zu der sich später die Jahrbücher bekannten, ist hier ganz in der Rechten inbegriffen. Auch die Rechte freilich mußte sich noch differenzieren. Bezeichnend für die preußische Parteibildung war es, daß die subtilere, von Frankfurt kommende Frage nach der Anerkennung der Reichsverfassung die Gruppierung der

Parteien

noch einmal wieder verschob: mit der gesamten Linken stimmte der größere Teil der Fraktion Wentzel, der kleinere der Fraktion Harkort — beides Teilbildungen aus der Rechten — für

27 die Annahme, die übrige Rechte — die äußerste Rechte (Kreuzzeitungspartei) und die Gruppen Arnim und Schwerin — dagegen. In der T a t waren die preußischen Liberalen zum großen Teil preußisch und nicht frankfurtisch gesinnt. S o beriet Hansemann, auf dem Vereinigten L a n d t a g einer der Führer der Opposition, 1 8 4 8 als preußischer Minister, den jungen Haym in Frankfurt, um mäßigend auf die Partei Gagern einzuwirken 1 ); so sprach der Ostpreuße v. Brünneck einmal die Erwartung aus, daß Droysen „gewiß nicht zu den Gothaern gehöre, die Preußen in Deutschland aufgehen lassen wollten" 2 ). Im zweiten L a n d t a g von 1 8 4 9 bis 1 8 5 2 konnten denn auch die Gothaer die äußerste Linke der Zweiten Kammer bilden ( 1 /s), die preußischen Liberalen um Auerswald, Schwerin, Camphausen, Milde sowie die Katholiken

um Reichensperger

die Mitte ( 2 /s), während

die

feudale Rechte, nach dem Scheitern des Einheitswerkes, infolge einer verbreiteten Agitation auf dem Lande, ihrerseits auf stieg. D i e Demokraten

2

/s

aber hatten auf einer von Unruh ge-

leiteten Versammlung Wahlenthaltung beschlossen. Von diesem Köthener T a g e (11. Juni 1 8 4 9 ) an haben sie die Waffen über ein Jahrzehnt ruhen lassen. Der eigentliche Sinn ihrer

Aus-

schaltung, der doch wohl nur zum Teil ein freiwilliger war, lag darin, daß in dem nun hereinbrechenden

feudal-bürokratischen

Parteiregiment für ein lebendiges Neben- und

Gegeneinander

links stehender Oppositionsparteien so wenig Raum wie in den vorrevolutionären T a g e n war; natürlich daß die radikalere Partei die Enttäuschung am schwersten zu kosten hattej Als die neue Ä r a einsetzte und die Gemäßigten, die bis dahin in der Opposition ausgehalten hatten, zur Regierung kamen, konnte sich dann alsbald auch der Fortschritt mit eigenen Kampfzielen wieder anmelden. S o g a b es auf den beiden folgenden preußischen Landtagen ( 1 8 5 2 — 1 8 5 5 und 1 8 5 5 — 1 8 5 8 ) für die reaktionären Parteien ') A. Bergengrün, „David Hansemann" (1901), S. 566 ff. 2 ) P. Herre, „Von Preußens Befreiung^- und Verfassungskampf" (1914), S. 455.

28 —

etwa zur Hälfte Feudale (Kreuzzeitungspartei), zur Hälfte

Ministerielle (meist Beamte, 1 8 5 5 allein 7 2 Landräte) — eine sichere starke Mehrheit (bis zu saßen vier Gruppen:

2

/s). In der Opposition dagegen

neben Polen und Katholiken (zusammen

etwa 7 0 Stimmen) die Partei Bethmann Hollweg, die, von konservativer Gesinnung erfüllt, doch das neue Machttreiben der Reaktionäre verurteilte (etwa 2 0 Stimmen), und die eigentlich Liberalen, die „Altliberalen" ( 1 8 5 2

etwa

6 0 Stimmen,

1855

über 2 0 Stimmen weniger), zu denen nun — in eine Fraktion Vincke und eine Fraktion Patow gesondert — sowohl die preußischen Liberalen

um Auerswald, Schwerin, Harkort als

auch

die Gothaer gehörten. Zu produktiver Mitarbeit ließ die Reaktion die Liberalen nicht kommen, obwohl diese unermüdlich in der Einbringung ihrer Forderungen waren. Nur wo die Majorität selbst geteilt war, konnten sie sich geltend machen, so als die Feudalen der Regierung (Landtagssession

die neuen Steuern nicht

bewilligten

1856/57).

S o hatte sich die Partei in Frankfurt und Berlin entwickelt, so war ihre parlamentarische L a g e , als sie sich in den Preußischen Jahrbüchern ein Organ für ihre Anschauungen zu geben beschloß. Die liberale

Presse.

Die Entwicklung der Presse war in Deutschland bereits vor der Konsolidierung der Parteien in vollem G a n g e 1 ) . Der provinzielle Charakter, den die Parteien erst zu überwinden hatten, war für die Presse der gegebene Ausgangspunkt. stimmtheit

der

Doktrinen, das Herumraten

Die Unbe-

an den Einheits-

und Freiheitsfragen, woraus allein noch keine Partei hervorgehen konnte, fand in der Tageszeitung seinen rechten Ort. Drückend freilich lastete, namentlich in Preußen, die Zensur. G e r a d e die bedeutendsten Organe der vorrevolutionären Zeit, die Rheinische Zeitung, die Grenzboten, die Hallischen Jahrbücher, haben auf ') Vergl. L. Salomon, „Geschichte des deutschen Zeitungswesens" III. Bd. (1906), stoffreich, doch nicht ohne Willkür in der — überdies parteiisch radikalen — Beurteilung.

29 preußischem Boden letzteren

nur ein kurzes Dasein fristen können, den

nützte selbst ihre „philosophische

Ortsveränderung",

die Übersiedlung nach Dresden, nichts. Und doch waren diese Preßversuche

echte

Erzeugnisse der

unfertigen, gärenden Zeit,

die Deutschland von 1 8 1 5 bis 1 8 4 8

durchlebte.

Mit der Revolution kam dann auch eine entschiedene Parteipresse auf. Für die Bewegung des gemäßigten Liberalismus sind zwei Blätter

von

leitender Bedeutung

geworden, ein süddeut-

sches und ein norddeutsches, eine gelehrte und eine industrielle Gründung: die von Gervinus redigierte „Deutsche Zeitung" und die „Constitutionelle Z e i t u n g " David Hansemanns. Die Deutsche Zeitung

war bereits 1 8 4 6

ins Leben

geschrittenen badischen Verhältnissen

gerufen, aus jenen

fort-

heraus, die, wie wir ge-

sehen haben, schon vor der Revolution zu einem reicheren Parteileben geführt hatten.

Sie versuchte, neben der großdeutsch-

katholischen Augsburger Allgemeinen Zeitung, zum ersten Male, den provinziellen Charakter abzustreifen und ein Organ für gesamtdeutsche Angelegenheiten

zu werden; ihr Verleger Basser-

mann aus Mannheim war es gewesen, der zwei W o c h e n vor dem Ausbruch der Pariser Revolution in der badischen Kammer den Antrag auf Berufung eines deutschen Parlamentes gestellt hatte 1 ). Auch darin arbeitete die Zeitung

der eigentlichen Parteibildung vor,

daß Gervinus in ihr der liberalen Doktrin eine feste Ausprägung gab. W e n n sich in der Paulskirche die Geister auch nach dem Drang der Umstände schieden, so verdankt das rechte Zentrum, die Professorenpartei, wie Treitschke bezeugt h a t 2 ) , doch dieser ') Treitschke, Deutsche Geschichte V, 681. ! ) Ebd. V, 689. Treitschkes Urteil über die Deutsche Zeitung-, sie habe von vornherein in der Luft geschwebt, weil sie weder einen landschaftlichen Halt noch den eines mächtigen Klasseninteresses hinter sich gehabt habe, ist, noch 1894 gefällt, charakteristisch für ihn. Seine Rüge, daß man vom süddeutschen, statt vom preußischen Boden aus eine nationale Einwirkung versucht habe, zeigt, daß ihm das Landschaftliche, das er für nötig hielt, nichts anderes als das Preußisch-Unitarische war und blieb. In Wahrheit hat die Zeitung gerade durch die Herausarbeitung sowohl des Überlandschaftlichen als auch eines öffentlich auftretenden Gelehrtenstandes der Zukunft gedient. Auch den Preußischen

30 Zeitung einen wichtigen Teil ihrer Schulung. Anderwärts wurde ihr Vorbild maßgebend, so in Braunschweig für Baumgarten und seine „Deutsche Reichszeitung" 1 ). Gervinus selbst wandte sich, bald verärgert über den seinen Erwartungen nicht entsprechenden Gang der Dinge, im Sommer 1848 von der Redaktion ab. Das Blatt wurde dann noch zum Organ der Gothaer, bis es, Ende 1850, mit Hinterlassung einiger tausend Taler Schulden 2 ), sein Erscheinen einstellen mußte. Nicht viel besser erging es der „Constitutionellen Zeitung". Hansemann 3 ) hatte schon 1848 als preußischer Minister über den Mangel einer publizistischen Vertretung des gemäßigten Liberalismus zu klagen gehabt; fast alle Berliner Blätter waren in das demokratische Lager übergegangen. Im Februar 1849 gelang es ihm dann, als Präsidenten der Preußischen Bank, ein reiches Aktienkapital flüssig zu machen — ihm schwebte die Begründung eines großen europäischen Blattes im Stil der Times vor. Als Organ der konstitutionellen Mittelparteien mußte sich das Blatt aber mit einem so unbestimmten Programm begnügen, daß sich gerade die preußischen Kreise, auf deren Heranziehung Hansemann Wert legte, versagten. Graf Arnim-Boytzenburg wies es bestimmt zurück, ein Blatt, mit dessen Grundsätzen sich auch die demokratische Vossische Zeitung einverstanden erklären könnte, zu unterstützen. Und auf der anderen Seite war Hansemann selbst von vornherein 4 ) gegen das Erbkaisertum gewesen und nun vollends gegen den die „konstitutionelle Partei kompromittierenden" Gothaismus. Er überwarf sich mit seinem Redakteur, der die preußische Unionspolitik verteidigte, und ließ es im März 1850 zur Liquidation des Unternehmens kommen. Da Jahrbüchern, die, während sie scheiterte, durchgehalten haben, hat sie in beiden Richtungen vorgearbeitet. ') Mareks, Einleitung zu Baumgartens historischen und politischen Aufsätzen und Reden, S. XXI ff. 2 ) Salomon, S. 430. 3 ) Vergl. Bergengrün, S. 528, 592 ff., 628 f. *) Schon gegen Dahlmanns Siebzehner-Entwurf (Haym, „Aus meinem Leben", S. 185).

31 bemächtigten sich von Erfurt aus die Gothaer desselben. Noch im Juli 1850 wurde es unter dem gleichen Namen neu begründet. Haym übernahm die Redaktion 1 ). Seine Aufgabe war bereits eine wesentlich andere als die, die die Deutsche Zeitung zu erfüllen gehabt hatte. War die Partei zwar gesammelt, so war doch die Zeit selbständiger Politik für sie vorbei. Nur noch in der schleswig-holsteinischen Angelegenheit, in deren Dienst die Führer der Gothaer, die Gagern, Duncker, Droysen sich mit Leib und Seele stellten, drang sie auf eine eigene Lösung, machte sie sich zum „Moniteur, zum entschiedenen Parteiblatt für die Regierung der Statthalterschaft". Als Preußen aber die Unionspolitik aufgab, entfaltete sie, der Verantwortung für den Gang der Dinge überhoben, die ganze agitatorische Kraft, die in ihrem Redakteur steckte: „Bald sturmläutend, bald hochfahrend, bald kalt und boshaft, mit ausgesuchter Rhetorik kritisierte ich die Rüdezugsbewegungen des Ministeriums . . . Ich studierte auf diesen schneidenden Stil und stärkte mich für denselben durch anhaltende Lektüre der Iuniusbriefe": bis die Regierung, nach einer anscheinend fruchtlosen Belehrung Hayms über das Wesen der Injurie durch den Polizeipräsidenten v. Hinkeldey, den Redakteur in Berlin eines Morgens aufhob (Ende 1850). Duncker, unermüdlich, wußte die damit drohende Krise noch von der Zeitung abzuwenden. Zwar der Plan, mit ihren Kräften die zu gleicher Zeit aufgelöste „Deutsche Zeitung" wieder aufleben zu lassen, scheiterte an dem Widerspruch Mathys, der — schon im Sinne jener späteren Treitschkeschen Kritik — eine preußische Zeitung verlangte. Doch wurden Moritz Veit, Aegidi und später Richard v. Bardeleben für sie gewonnen. Audi weiterhin aber erschwerte die Regierung ihr das Leben. Rochau, dessen Eintritt in die Redaktion (im Sommer 1851) einen Schritt weiter nach links bedeutete, wurde, wie vordem Haym, ausgewiesen. Karl Neumann, ihr letzter Redakteur, zog sich über seine Mitwirkung zwei Prozesse zu, die erst nach Jahren durch die Verwendung ') Vergl. die Erzählung seiner Schicksale als Redakteur, „Aus meinem Leben", S. 201—210 und dazu sein „Leben Max Dunckers" (1891), S. 1 1 8 f., 136, 145.

32 des Prinzen Wilhelm ein Ende fanden 1 ). Die Zeitung hörte im Juni 1 8 5 2 zu erscheinen auf;

die konstitutionelle Partei blieb

ohne Organ. An der Unzulänglichkeit der liberalen D o k t r i n

war Ger-

vinus, an der M a c h t , die wieder in die Hände der Reaktionäre gefallen war, war Haym gescheitert. Und Hansemanns nüchtern praktischer Versuch, die realen Standesinteressen von Industrie und Landwirtschaft für ein liberale Politik und Bildung vertretendes Blatt mobil zu machen, vermochte sich nicht mit dem gedankenvollen Bekenntnis zur Nation zu vereinen, durch das die geistigen Kräfte der Zeit in die Öffentlichkeit strebten. Die Geschichte der Presse zeigt eindringlich, wie unausgeglichen und unfähig, eine kräftige Öffentlichkeit

zu bilden, das Leben

der

Nation noch war. Die Begründung der

Jahrbücher.

Die Auflösung der Nationalversammlung einsetzung

des Bundestages

hatten

und die Wieder-

einem wirksamen

gesamt-

deutschen Parteileben ein Ende gemacht. Der Liberalismus hatte die Tribüne verloren; denn sein Wesen war unabtrennbar von der nationalen Idee. Ernst II. von Coburg erkannte richtig, daß der Partikularismus, der jetzt in den 'Mittelstaaten und auch in Preußen wieder seine Nahrung fand, nur den extremen Parteien dienen könnte. Die einen richteten sich mit einem System rücksichtsloser polizeilicher Unterdrückung in der Herrschaft ein, die anderen suchten die revolutionäre Gärung bei den Massen zu erhalten.

Und noch ein tieferes Zeichen illiberalen Geistes er-

kannte der Herzog in der Zeit. „Vergebens — so führt er in einer Denkschrift des Jahres 1 8 5 3

aus — wird, so lange die

beiden extremen Parteien sich allein gegenüber stehen, die Nation erwarten, daß sie endlich einmal von dem

unfruchtbaren

Streit über Verfassungsformen befreit werde. Denn jede Form wird in der Hand dieser Parteien nur eine Handhabe zur Erl ) J . Partsch, „Zur Erinnerung an Carl Neumann", Ztschr. d. Gesellschaft f. Erdkunde zu Berlin XVII, 81 ff. (1882).

33 reichung ihrer Parteizwecke." Treffend sah er es als ein Kriterium des gemäßigten Liberalismus an, daß dieser auf eine Abmilderung, nicht auf eine parteipolitische Herauftreibung der Doktrin bedacht war. Wie sich die liberale Richtung durch diese Jahre durchschlug, dafür haben wir ein interessantes Beispiel an dem „ Litterarisch politischen Verein", den der Coburger Herzog seit 1853 um sich versammelte 1 ). Den Anstoß gab die auswärtige Politik, die 1853 hervortretende orientalische Verwicklung, die zum Krimkriege führte. Fast wie eine Erlösung aus der Klammer der herrschenden Verhältnisse empfanden deutsche Patrioten die Krise. Von den Reaktionären erwartete man eine Politik im Sinne russischer Hegemonie über Europa, den Demokraten traute man ein Paktieren mit dem revolutionären Imperator des Westens zu. So drohten die Deutschland im Inneren zersetzenden Extreme sich auszuwachsen zu einer analogen Gefährdung der auswärtigen Lage, — ein charakteristischer Gedankengang der Liberalen. Dagegen ließ sich dieser Gefahr vorbeugen nur durch einen Zusammenschluß der nationalen Elemente, durch eine Gruppierung um die Mitte. Und die Einwirkung auf die äußere Politik sollte dann wiederum im Inneren das Verhältnis lösen, in dem sich die Nation befand: das Eisen zwischen Hammer und Amboß zweier Parteien zu sein, deren keiner sie mit ihrem Wesen zugehörte. In einer Denkschrift erwog der Herzog die Möglichkeiten für die Bildung einer enggeschlossenen großen Partei, die die Interessen der Nation selbst vertreten sollte. Das Programm, das er aufstellte, fiel ziemlich dürftig aus 2 ). Interessant dagegen waren seine Gedanken, wie die Partei zu organisieren wäre, wie aus „Wohlmeinenden" „einstimmig und gleichmäßig Handelnde" zu machen wären. Er skizzierte einen Hauptverein, einen Ausschuß, eine Generalversammlung und Zweigvereine. Der Gedanke ' ) Vergl. Ernst II., „Aus meinem Leben und aus meiner Zeit" Bd. II, Buch VIII, Kap. I: „Ein litterarisch-politischer Verein" und Haym, „Das Leben Max Dunckers", S. 150 ff., 158 f. ' ) S . 310 f. Westphal

3

34 der Disziplin war ihm das Wesentliche. Nach bestimmtem Plane sollte jedes Mitglied der Aufklärung des Volkes, der Einwirkung auf die Parteien seine Arbeit widmen. „Wir bedürfen zu unserem großen Zweck einer Nötigung, die wir uns selbst auferlegen." Die Neigung des Coburgers, in allen nationalen Bewegungen seine Hände zu haben, der Wunsch des regierenden Herrn, sein kleines Land zu einer ,,Oase des Geistes" in Deutschland zu machen, das Künstliche der ganzen Schöpfung sprach deutlich aus diesen Plänen. Die angeregten Arbeiten, Volksbücher, Broschüren u. a. kamen nicht zur Blüte. „Es zeigte sich, daß dergleichen nicht wie Teilstücke eines großen Haus- und Maschinenbaues in Arbeit gegeben werden kann" (Haym). Die Gelehrten hatten sich von der Politik zurückgezogen, um in großen wissenschaftlichen Darstellungen ihre Ideen auszusprechen. So Droysen; nur Duncker, der allzeit rührige, stellte sich von Halle aus dem Verein zur Verfügung, dessen Preßkomite er zusammen mit Gustav Freytag, dem Herausgeber der Grenzboten, leitete. Seine Broschüre „Preußen und Rußland", in der er den Eintritt Preußens in den Krimkrieg an der Seite der Westmächte forderte, gehörte in diese Richtung. Daneben wirkten Francke und Samwer, die Ernst II. aus Schleswig-Holstein an seinen Hof gezogen hatte; und auch an die im preußischen Landtag gleichfalls in Opposition stehende Partei Bethmann Hollweg suchte man Anschluß 1 ). Bei allem Künstlichen, bei aller Selbsttäuschung über die Möglichkeit publizistischer Einwirkung auf weite Volkskreise war doch etwas von der standhaften Gothaer Parteigesinnung in diesen Bestrebungen, von einer Gesinnung, die im Gefühle der festen inneren Durchbildung ihrer Sache auch das Unzeitgemäße auf sich nimmt. Und so sollte sich auch aus diesen Bemühungen des Vereins, noch bevor in der allgemeinen Politik — mit dem preu') Freilich ließ sich Freytag aus Schlesien und Sachsen schreiben, daß es leichter sein werde, Tausende für ein rein liberales Unternehmen als Hunderte für ein Zusammengehen mit dem Wochenblatt zu erhalten; namentlich mit Bethmanns religiöser Richtung war man vielfach nicht einverstanden.

35 ßischen Regierungswechsel — eine Wendung zum Besseren eingetreten war, ein Unternehmen entwickeln, das wirklich die Geister der Zeit in die ihnen gemäße Richtung führte, politisches und wissenschaftliches Werben um die Nation innerlich zu verknüpfen verhieß. Die größte Sorge des Vereins war die Herausgabe einer neuen Zeitung gewesen, zu der sich, nachdem die ,konstitutionelle Zeitung" eingegangen war, die Partei wieder hätte bekennen können. Den politischen Drude suchte man durch Verbindung mit der Wochenblattspartei, die zum Koblenzer Hofe in nahen Beziehungen stand, zu beheben; im Oktober 1854 verhandelte Duncker in Frankfurt mit den Führern derselben über die Umwandlung des Wochenblattes in eine Tageszeitung, deren Leitung zu übernehmen er wohl selbst bereit war. Die Sache zerschlug sich hauptsächlich an dem Mangel an Geldmitteln — auch ein Beweis dafür, daß es eine feste nationale Partei während der fünfziger Jahre in Deutschland noch nicht gab. Aber auch die polizeilichen Hindernisse waren nicht zu beseitigen 1 ). So riet Duncker, es statt mit einer Tageszeitung mit einer Monatsrevue zu versuchen. Anfang 1 8 5 7 2 ) gewann der Plan nähere Gestalt. Duncker vermochte Haym, den früheren Redakteur der „Constitutionellen Zeitung", zur Übernahme der Redaktion. Zu derselben Zeit erhielt dieser aus Schlesien eine ähnliche Aufforderung; dort hatte der liberale Kreis der Mommsen, Röpell, Molinari gleichfalls die Idee einer Wissenschaft und Politik verbindenden Zeitschrift gefaßt. Man kam zusammen. Durch Mommsen wurde der Bruder des Inhabers der Weidmannsehen Buch') „Wir kleiden uns in diese Rüstung" — einer wissenschaftlichen Revue — „weil es einfach eine Unmöglichkeit ist, die liberal-nationalen Ansichten und Ziele gegenwärtig in Preußen mittels einer Zeitung zu vertreten" (Brief Hayms an den Bremer Gesandten in Washington R. Schleiden v. 10. XII. 1857, den mir mit der Antwort Schleidens v. 8. I. 1858 Herr Prof. Delbrück gütig zur Verfügung stellte). 2 ) Bei Haym, „Aus meinem Leben" (S. 258 f.) kein näheres Datum. Daß der Plan vor dem Mai 1857 fertig war, ergibt sich aus dem Aufruf des Komites (Anlage I).

3*

36 handlung, Georg

Reimer,

zum Verleger

gewonnen.

Ein

Ko-

nnte, das die Haltung der Zeitschrift beaufsichtigen und für die Aufbringung

der Mittel Sorge

Saucken-Julienfelde, Duncker 1 ).

Harkort,

tragen sollte, Mommsen,

bildete sich aus

Röpell, Molinari und

An Häußer, Droysen, Bernhardi trat man heran 2 ).

Auch Demokraten, sofern sie Tüchtiges leisteten, sollten nicht ausgeschlossen sein 3 ). Den Titel für die Zeitschrift setzte Mommsen, anscheinend gegen

mancherlei

Bedenken,

auch

des Herausgebers,

durch 4 ).

' ) Haym an Georg Reimer 30. X. 1860. Das Manifest vom 1. Mai 1857 ist hingegen unterzeichnet von Harkort, Milde, Molinari, SauckenJulienfelde. So werden in der Zusammensetzung des Komites noch Änderungen vorgenommen worden sein. Röpells Teilnahme bei Bernhardi unter dem 11. VIII. 1857 (Tgb. II, 360). 2 ) Bernhardi Tgb. II, 3 5 8 - 3 6 0 . 3 ) Ebd. II, 360.] 4 ) Haym an Schleiden: „Ich habe den Titel, da er zu Mißverständnissen allerdings überreichlich Anlaß zu geben imstande ist, nicht gewählt, ihn aber auch nicht hintertreiben können . . . Auf das Zustandekommen wie auf die Wahl des Titels hat Theodor Mommsen besonders Einfluß geübt. Gern zwar halte ich an der Hoffnung fest, daß die einheitliche Entwicklung Norddeutschlands durch Preußen vor sich gehen werde, allein die scharfe Betonung dieser Hoffnung würde gegenwärtig mehr zu deren Vereitelung als Erfüllung beitragen, und so werden unter meiner Redaktion die Jahrbücher unter allen Umständen mehr deutsche als preußische Jahrbücher sein." Hiernach ist doch wohl die Darstellung, die Haym in seinen „Erinnerungen" gibt, zu korrigieren; dort schreibt er (S. 259): „Der in Vorschlag gebrachte Titel, bei dem mir der Vorgang der Hallischen Jahrbücher vorschwebte, wurde akzeptiert; darüber insbesondere, daß diese Jahrbücher sich Preußische nennen müßten, herrschte Einstimmigkeit." In Wahrheit wird gerade Haym zum mindesten taktische Bedenken gegen den Titel geltend gemacht haben, aber gegenüber Mommsen und Duncker nicht durchgedrungen sein. Darauf führt auch ein Brief Dunckers an Georg Reimer v. 20. XII. 1857, 10 Tage nach jener Erklärung Hayms an Schleiden: „Haym schwankt, wie er mir schreibt, zwischen preußischem und deutschem Gesichtspunkte. Er muß meines Erachtens den preußischen vorwiegen lassen. Preußen ist etwas und Deutschland noch nichts. Man muß den übrigen deutschen Staaten zeigen, daß man deutsche Interessen hat, aber man muß ihnen nicht schmeicheln wollen." Ausstellungen

37 So wurden

die Preußischen Jahrbücher

ins Leben gerufen. Im

Januar 1 8 5 8 erschien das erste Heft. Literarische

Vorläufer.

Aus der Entwicklung der liberalen Partei und ihrer Presse konnten wir die Entstehung der Zeitschrift verfolgen. Ihre Form aber hat

noch eine besondere Geschichte.

Diese

ist nicht so

sehr ein Erzeugnis des politisch-parlamentarischen als des wissenschaftlichen Bodens, auf dem die liberale Partei stand. Bereits hatte sich aus der Bewegung

der deutschen geistigen Parteien

ein mannigfaches Zeitschriftenwesen herausgebildet, zu dem nun die Jahrbücher mit ihrer Form hinzutraten. Wissenschaftliche Parteien,

die

es, wie uns Rüge

hat, vor den politischen in Deutschland gab, reichen Entwicklung

des deutschen

bezeugt

entsprangen der

Geisteslebens

am

Anfang

des 1 9 . Jahrhunderts. Der theoretische Mensch gelangte in der Epoche des deutschen Idealismus zu einer seiner Entfaltungen. Zuletzt

erschien

ihm der Genius,

großartigsten der das Aus-

an dem Titel wurden dann freilich lebhaft genug erhoben. Schleiden selbst erklärte ihn, obwohl er „immer noch auf Preußen hoffe", für „mindestens unzeitgemäß" und wollte sich, auch sonst verhindert, nicht auf ein „politisches Programm." verpflichten, wie er es durch den Titel vorgezeichnet fand. Schärfer noch sah Heinrich v. Arnim in demselben entweder eine „eines Organs der deutschen Partei unwürdige Beschränkung" oder eine „höchst unpolitische und überdies — wie die Dinge sich einmal gestellt haben — ganz unbegründete Anmaßung" (an Haym 29. XI. 57). Auch Treitschke tadelt, in einem Brief an seinen süddeutschen Freund Nokk, den Titel (Briefe I, 453). Julian Schmidt dagegen lobte gerade den spezifisch preußischen Ton und verlangte, als politisches Gegenstück, auch die Begründung „Österreichischer Jahrbücher" (Grenzboten 1858, I, 241 ff.). Die Kontroverse über den Titel igt ein kleiner Beleg für den unausgereiften Stand der deutschen Frage 1857/58. Haym selbst hat bald den großen Gesichtspunkt, die geistige Synthese gefunden, auf die er die Jahrbücher stellte. Im Rückblick auf den ersten Jahrgang erläuterte er den Titel dahin: „Wir sind gut preußisch, weil wir mit unserer Sympathie überall da sind, wo wahrhaft deutsches Leben sich regt, und wo man nach einem Staate und im Staate nach Freiheit und Gerechtigkeit verlangt" (Pr. Jb. III, 14).

38 einanderstrebende in eine Einheit von unerhörter konstruktiver Kraft zusammendachte, die Idee aufnahm und ihr doch die Fülle neuentdeckten Lebens unterwarf, selbst reiner Denker, Absolutist, und doch der Urheber eines mächtigen neuen Bewußtseins, das vorwärtsdrängte, sich erweiterte, überall Bewegung des Ganzen sah: Hegel. Wie sein Geist war, umfassend und organisatorisch zugleich, mußte er recht eigentlich aus dem deutschen geistigen Leben die Parteien hervortreiben. So kam es auch unter Hegels Leitung zu dem ersten bedeutenden Versuche, über die öffentliche Bewegung der Zeit in Zeitschriften von starkem programmatischen Einschlag Rechenschaft zu geben, zu den Berliner „Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik" ( 1 8 2 7 ) E i n Versuch an der Spitze einer langen Reihe analoger, in Stoffen und Anschauung fortschreitender Unternehmungen: keiner Materialsammlungen, keiner Kommentare zu den Interessen des Tages, weder einer Fach- noch einer Unterhaltungsliteratur, sondern Einheiten geistig-politischer Haltung, wie sie in gelehrten Sozietäten, in bestimmten philosophischen oder historischen Schulen, in besonderen örtlichen Verhältnissen, in politischen Parteien zur Entwicklung kamen; es wäre eine reizvolle Aufgabe, die deutsche Zeitschriftenliteratur unter diesem Gesichtspunkt bis zu dessen fast völligem Verlöschen am Ende des Jahrhunderts zu verfolgen. Meist deutet sich bei den hierher gehörenden Journalen die programmatische Richtung bereits im Titel an. So durften die Berliner Jahrbücher die öffentliche Bewegung der Zeit in der Tat noch in der „wissenschaftlichen Kritik" erblicken. Sie errichteten, um diese nach festen Gesichtspunkten auszuüben, bei sich ein Forum, das über die Werke, die der Besprechung würdig waren, entschied. Hegel und die Seinen — Marheineke, *) Über Hegels interessantes, von der geistigen bereits zur politischen Einheit Deutschlands hinstrebendes, dann aber (mit Hilfe von Gans) wesentlich verändert verwirklichtes, Programm vergl. Lenz, „Geschichte der Universität Berlin". Bd. II, 1. HIft., S. 306 ff.

39 Gans, Varnhagen — schalteten da an erster Stelle 1 ).

Später

nahmen sie eine ausgesprochen konservative Haltung an. Leo, Savigny, Hengstenberg wirkten an ihnen mit —

„partikuläre

Berliner Richtungen" und „verwitterte, antiphilosophische Existenzen", wie Rüge, diese Verbildung des Hegeischen Geistes mit Bedauern ansehend, schrieb 2 ). Er selbst in seinen „Hallischen Jahrbüchern" (seit 1838) glaubte das Hegeische Erbe richtig zu wahren, „zu neuen Konsequenzen und immer reineren Formen sich fortbilden zu lassen". In eindrucksvollen Jahres-Vorworten gab er über Entwicklung und Bedeutung seiner — täglich erscheinenden — Blätter Rechenschaft. Aufs engste sind für ihn noch Wissenschaft und allgemeines Leben verbunden. In ihrem Bündnis, in ihrer starken gegenseitigen

Durchdringung erkennt

er den

beherrschenden

Faktor der Zeit. „Die Isolierung der alten Literaturzeitschriften von der wahren Geistesbewegung und ihre abgestorbene Tendenz sollte durch ein Organ aufgehoben werden, dem die Zeitgeschichte

für ein unzertrennliches

Ganze, Wissenschaft

und

Kunst aber für die eigentlichen Nerven ihrer Bewegung gälten." Und dann, mit charakteristischem Vertrauen in die Macht des Gedankens: mit der Ausführung jenes Gedankens müsse „eine gewaltige Zersetzung des alten Chaos, in dem zurzeit weder Eros noch Eris zu rechtem

Leben erwacht seien, eintreten".

„Denn was konnte die Folge sein? Mußte nun nicht überall in die geschichtlichen Zustände und ihre Auflösung das Bewußtsein der Wissenschaft einzudringen streben? Und wenn dies gelang, wurden dann nicht die historischen Existenzen mit einer Klarheit über sich selbst erfüllt, welche man bisher nur in der Philosophie, nicht

einmal

in den empirischen Wissenschaften

hatte dulden wollen?" 3 ) Es ist die Bedeutung Ruges,

dem

') So weigerte Gans sich, auch die Schlußbände von Savignys Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter anzuzeigen, nachdem er an den ersten Bänden die geistlose, unphilosophische Behandlung des herrlichen Stoffes dargetan habe. 2 ) Hall. Jahrb. 1840, Sp. 38/39. s ) Hall. Jahrb. 1841, Vorwort.

40 Hegelianismus und der rein geistigen deutschen Kultur die Richtung auf die Politik mitgewiesen, in die von dem Idealismus postulierte Einheit des vernünftigen und des wirklichen Daseins die Kraft der politischen Agitation hineingeleitet zu haben. Dadurch wurde seine Zeitschrift freilich noch zu keiner politischen. „Die vornehmste Erscheinung des deutschen Journalismus jener Tage" 1 ), blieb sie selbst doch durchaus auf geistigem Boden haften. Die eigentlichen Wesenheiten, die in lebendigen Schilderungen in ihr auftreten, sind nicht die Staaten, sondern die Universitäten; so gleich an der Spitze des ersten Jahrganges die Universität Halle in einer kritisch-historischen Würdigung von Ruges Mitherausgeber Echtermeyer. Es war doch nicht der philosophischen Richtung, sondern der andern, „der Philosophie aufsässigen", der empirischen vorbehalten, politische Organe aus sich zu entwickeln. Einige Jahre nach den Hallischen Jahrbüchern (zuerst 1842) erschien Carl Biedermanns „Deutsche Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben", die ein dem Rugeschen entgegengesetztes Programm vertrat 2 ). Einheit und Fortschritt, Macht und Freiheit werden auch hier verlangt, aber sehr viel nüchterner verstanden. „Die liberale Partei, welche zu lange nur um politische Ideen und Theorien gekämpft hatte, mußte endlich einsehen, daß die politische Freiheit nicht Z w e c k , sondern M i t t e l sei, daß sie einer reellen praktischen Unterlage bedürfe, und daß diese keine andere sein könne als die Freiheit des produktiven Schaffens, der industriellen und kommerziellen Tätigkeit." Die Verweisung der freiheitlichen Ideen auf wirtschaftliche Betätigung gilt dabei nicht nur als eine Forderung des ökonomischen, sondern auch als eine solche des nationalen Geistes. Denn sie nähme dem Liberalismus die doktrinäre kosmopolitische Spitze. Noch bei der Julirevolution habe „die Gleichheit der politischen Prinzipien den Gegensatz der Nationalitäten überwogen". „Die

Haym, „Erinnerungen", S. 104. ) Vergl. den einleitenden Aufsatz „Die Fortschritte des nationalen Prinzips in Deutschland", Bd. I, S. 1. 2

41 Zeiten dieses Liberalismus sind, dem Himmel sei Dank! in Deutschland vorüber . . . Wir haben einsehen gelernt, daß das keine wahre politische Freiheit ist, welche nicht zugleich und vor allen Dingen das Vaterland, die Nation groß, einig und frei macht; wir haben die Täuschungen der französischen Freiheitssympathien in ihrer ganzen Gefährlichkeit und Heimtücke erkannt." So ist es das Bekenntnis zur Nation, die Feindschaft gegen Frankreich, zu der sich der Liberalismus hier gleichsam als zu einer Schutzwehr gegen seine eigenen doktrinären Neigungen getrieben fühlt. Und weiter: wirtschaftlicher Fortschritt vermag bei Biedermann auch erst die Einheit mit der Freiheit zu versöhnen. Die Einheit werde in Deutschland von Preußen dargestellt, aber es sei bisher eine „künstliche" gewesen, „ohne die Initiative der öffentlichen Meinung". „Preußen betrachtet das öffentliche Leben der Nation, die Freiheit des Einzelnen, die rechtlichen und die politischen Institutionen fast nur aus dem Gesichtspunkte der Zentralisation, als Mittel, die Einheit des Staates zu befestigen und die Benutzung der Volkskraft für die Zwecke der äußeren Politik zu erleichtern." „Eine kriegführende, erobernde Nation empfängt den Impuls von ihrem Mittelpunkte, von ihrer Regierung; eine industrielle hat ihre Bewegung in sich selbst, in jedem ihrer Glieder, und ihre Zentralgewalt ist nur eines der Räder, durch welche jene Bewegung reguliert wird." So empfängt die Zeitschrift von dem Hauptproblem der deutschen Entwicklung des Jahrhunderts, von dem Verhältnis des deutschen zu dem preußischen Geiste, ihr Programm: Sie nimmt diesen Gegensatz wahr, aber sie stellt ihn sich nur grob vor, wenn sie den preußischen als den kriegführenden, den deutschen als den industriellen Nationalgeist bezeichnet. So ist sie auch in ihrem Plane angelegt: Von Aufsätzen zur „Politik" unterscheidet sie solche über „Handel und Gewerbe", „Gesetzgebung und Rechtspflege" und ferner über geistige Angelegenheiten. Monatlich gibt sie einfädle Registrierungen der Begebenheiten unter dem Titel „Politische und kommerzielle Übersichten". In ihren monatlichen Notizen berichtet sie durcheinander über Eisenbahnen,

42 Schiffsverkehr, neuere Bücher und dergl. Ihr Versuch, von den wirklichen

Verhältnissen

eine

Anschauung

zu

geben,

blieb

ohne durchbildende Kraft. Ein literarisches Erzeugnis stellt sie nicht dar. Ein Jahr vor der deutschen Monatsschrift (1841) erschienen „Die Grenzboten", von J . Kuranda in Brüssel herausgegeben. Sie nannten sich „Blätter für Deutschland und Belgien" und hatten sich zum Ziel gesetzt, die wesensverwandten Länder einander näher zu bringen. Ein feines Problem! Auch hier lag eine Spitze gegen Frankreich! Kuranda erklärte Belgien für ein durchaus germanisches Land 1 ), die belgische Revolution von 1 8 3 0 wäre nichts weniger als eine Nachahmung der französischen, keine moderne, sondern

eine altgermanische

Erscheinung

gewesen,

eine Auflehnung der alten Kommunalfreiheiten gegen den modernen, von Holland importierten Zentralismus. — Und neben dem Aufgreifen eines großen

europäischen

Problems,

neben

der Einstellung auf das im 19. Jahrhundert zu starker innerer Durchbildung kommende französisch-deutsche, romanisch-germanische Verhältnis erlaubte die im Titel sich ausdrückende örtliche Besonderheit der Zeitschrift dem vielseitigen Herausgeber eine leichte Orientierung inmitten der Stätten des modernen Lebens:

„Wir stehen im Laufe eines einzigen Tages in der

Mitte aller Begebenheiten, die der gestrige in Paris, London, Amsterdam und in den großen Rheinstädten geboren hat." Dieser für den Inhalt einer Revue, die sich auf alle Gebiete der Kultur erstredete, eigenartige und günstige „Grenzboten"Charakter wurde der Zeitschrift gewahrt, als sie, von der preußischen Zensur gleich an der belgischen Grenze bedroht, um wenigstens im übrigen Deutschland Verbreitung zu finden, auf sächsischen

Boden

übersiedelte.

Da rückte

der

Kuranda an Stelle des deutsch-belgischen das

Österreicher österreichische

Problem in den Vordergrund; auf oft abenteuerliche Weise gelangten die Korrespondenzen aus Osterreich über die Grenze nach Leipzig. Freilich konnte Kuranda, vor 1848, die Stellung ) Bd. I, S. 3.

43 zu Österreich noch nicht zu einer alle Fragen des öffentlichen Lebens

umfassenden

Losung werden

wie später den

Groß-

deutschen. Politik und Kultur gingen mehr zufällig nebeneinander her. Und als 1 8 4 9 Kuranda, nach Osterreich eilend, die Leitung des Blattes Gustav Freytag und Julian Schmidt übergab und diese sofort die preußische Führung auf das Programm der „Grenzboten" schrieben, ist es bei einer männlichen, aber aus nicht eben eigenen geistigen Quellen gespeisten Haltung der Wochenschrift geblieben. Wohl spiegelte sie gegenwärtiges und geschichtliches Leben nach mancherlei Richtungen. Doch in der besonders von Julian Schmidt verfochtenen, durchaus unromantischen Haltung -— „wir entsagen dem stolzen

Bewußt-

sein der romantischen Literatur, frei zu sein von den Ereignissen und mit ihnen spielen zu können" — war eben auch die reizlose Art begründet, mit der man sich hier anschickte, „die

wichtigen

politischen,

sozialen

und

künstlerischen

scheinungen . . . vom Standpunkt des gebildeten

Er-

Bewußtseins

zu kritisieren" 1 ). Bereits hatte das Scheitern der Revolution der Nation die Freude an der Gestaltung des öffentlichen Lebens genommen, und es konnte angezeigt erscheinen, die Bildungsfragen in einem alle Politik ausschaltenden Unterhaltungsjournal zu Worte zu bringen. Das leistete George Westermann in Braunschweig mit seinem 1 8 5 7

zuerst erscheinenden

„Jahrbuch der Illustrierten

Deutschen Monatshefte", „einem Familienbuch für das gesamte geistige Leben der Gegenwart". Da erschienen Novellen, Reiseberichte, naturwissenschaftliche Abhandlungen, bildende Kunst, Musik, Theater, literarische Besprechungen, Beiträge zu Handel und Industrie und sogenannte

„Originalkorrespondenzen", ge-

diegene und seichte Ware, bunt durcheinander. Wie ernst hatten die Hallischen Jahrbücher und noch die Grenzboten aus allen Teilen Deutschlands sich über die öffentliche Bewegung unterrichten

lassen!

Die „Originalkorrespondenzen"

dagegen,

die

gleich im ersten Heft aus Berlin, vom Mittelrhein, aus Pest, ') Jg-, 1849, 3, S. 2.

44 Paris, Wien, New York und Honkong einliefen, ergingen sich in einem nichtswürdigen Allerlei 1 ). Nicht umsonst klagte Julian Schmidt 2 ), daß seit den internationalen Verträgen über Nachdruck- und Übersetzungsrecht, aus Frankreich und England herüberkommend, eine starke Verbilligung der Journale und damit die Tendenz auf Massenabsatz, die bequeme Popularisierung rasch um sich gegriffen habe. Audi Westermanns Monatshefte, gewiß nicht die schlechtesten ihrer Art, hatten es in ihr Programm aufzunehmen gewagt, „die Wissenschaft lebendig zu machen und sie ins Leben zu tragen" 3 ). Bestrebungen, die so verstanden wurden, gegenüber begrüßte Schmidt es als „einen unberechenbaren Gewinn", daß in den Preußischen Jahrbüchern nicht nur die konstitutionelle Partei ein Organ erhalten habe, sondern auch die Bildung der Zeit sich wieder um einen lebendigen und bewußten Ausdruck ihrer Art bemühe. Das Programm. Die Idee, die die Preußischen Jahrbücher leitete, hat Haym, dem Zug zu historischer Selbstbetrachtung, der ihn zum klassischen Darsteller der deutschen Nationalversammlung gemacht hatte, folgend, in einem Rückblick auf den ersten Jahrgang in der Zeitschrift selbst noch einmal bekannt — in monumentalen und zugleich eindringlichen Sätzen, die sich wie ein besonderes Kapitel über das Verhältnis von Wissenschaft und Leben ausnehmen 4 ). Wir dürfen seinen Standpunkt, der in diesem Ver') Einige Überschriften aus den Korrespondenzen des ersten Jahrgangs mögen hier folgen: „Vom Mittelrhein (Mitte September): Feste> Bäder, Geldklemme, Kunstverhältnisse." — „Bozen (Oktober): Das Kaiserschießen, die Bedeutung des Tiroler Schützenwesens, Wissenschaftliches, die Berufung des Professors Ficker, die Philosophie in Tirol." — „Athen (Oktober): Literarische und industrielle Zustände, Gastfreundschaften, Räubereien, Ansichten." — „München (November): Das öffentliche Treiben, das Bier, der Adel." -) In seiner Anzeige der Preußischen Jahrbücher, Grenzb. 1858, 1, S. 241 ff. 3 ) Vorwort des 1. Bds. (1857). 4 ) Bd. III, H. 1:' „Vorwort". Daneben kommen als programma-

45 hältnis wurzelt, und den er in den Jahrbüchern Zu vollem Ton gebracht hat, hier in seiner Geschlossenheit auf uns wirken lassen, da wir die in der engeren Parteigeschichte liegenden Momente, die bei Haym, dem Herausgeber, aber nicht dem Begründer der Zeitschrift, etwas zurücktraten, bereits dargelegt haben. Ein bestimmter Gesichtspunkt war es, der den Jahrbüchern Ursprung und Charakter gab: die Beziehung zwischen Wissenschaft und Leben, wie Haym sie erfaßte. Sie war eine Erscheinung der Zeit, ein Erzeugnis aus Revolution und Reaktion. „Ein Stück ihres Herzens ließen die zurück, die sich aus der Praxis auf den Boden geistiger Arbeit zurückgedrängt sahen." Nun aber erhob sie Haym zur bestimmten Richtung, zum klaren Erlebnis. Nicht ein intellektuelles, sondern ein sittliches Anliegen stellte sie ihm dar. Nicht so sehr das Leben sollte durch die Wissenschaft Einsicht, sondern die Wissenschaft durch das Leben Charakter gewinnen. „Das Wirkliche nicht bloß zu denken, sondern es auch zu wollen!" Was aber bildet den Charakter? Die Erfahrung. Erfahrung aber erzeugt Respekt' vor den Tatsachen, geschichtlichen Sinn. So unterlegte Haym der deutschen Geschichtswissenschaft, die eben ihr klassisches Jahrzehnt erlebte, neben Rankes fortschreitenden Arbeiten Mommsens, Häußers, Sybels, Droysens, Dunckers große Werke hervorbrachte, den Sinn, das Ethos der Zeit im Kern zu repräsentieren. „Ihr sittlicher Sinn sollte unser Pathos sein", d. h. ihre Einwirkung auf das Leben sollte zur Geltung gebracht werden. Es war eine innerlich notwendige Beziehung; Haym weist das unfreie Popularisierungs- und Utilitarisierungsbedürfnis von sich ab. Vielmehr, die freie Wissenschaft galt ihm „an sich" als die tische Äußerungen in Betracht: das Manifest des Komites vom 1. Mai 1857 (Anlage I), ein Rundschreiben Hayms an die Mitarbeiter vom Oktober 1857 (Anlage II), eine Denkschrift Hayms an das Komite über die Fortführung der Zeitschrift vom 17. August 1861 (im Archiv des G. Reimerschen Verlages) und eine Anzeige des Verlegers vom September 1861 (den Bdn. VII und VIII der Kgl. Staatsbibliothek München beigebunden). Außerdem Haym, Erinnerungen, S. 258 ff.

46 Bundesgenossin des Fortschritts. Das hätte der Erfolg der Duncker, Häußer, Droysen bei der Nation anschaulich gemacht. Aus diesen Erfolgen durfte er die Erkenntnis ableiten, daß sich die Historie „mit und in der Gegenwart" entwickele, daß sie ein Stück Leben der Gegenwart selbst und deshalb würdig sei, daß ihr auch „die Gestaltung des offentlichen Lebens" anvertraut werde. Zu wirken war das oberste Ziel der Zeitschrift. Wir blicken hinein in eine Art des wissenschaftlichen Menschen, die nur in Reifezeiten der Wissenschaftsgeschichte zu entstehen vermag: es ist der freie und volle persönliche Schwung und die scharfe Beobachtung der Zeit zugleich, was hier in ein Programm gefaßt wird. „Wissenschaft und Leben, Gelehrsamkeit und allgemeine Bildung soll vermittelt werden: so muß diese Verbindung allererst im Umkreise der publizistischen Kräfte selbst sich vollziehen." Der Historiker soll durch Selbsterziehung sich zum Bildner des nationalen Ganzen vorbereiten. Wo ist ihm ein umfassenderer, ein menschlicherer Beruf zugewiesen worden? Die Philosophie selbst unternahm es, aus der Abstraktion herauszutreten und die Historie zum Rang einer Weltanschauung zu erheben, die sich in dem Gesamtleben einer mächtigen Einheit, in dem der Nation, auszuwirken vermochte. Die Fülle der Impulse, die die Zeit beseelten, hat Haym dem historischen Impuls dienstbar gemacht und diesem eine freie Mächtigkeit verliehen, die recht eigentlich seine Kulmination bedeutete. Was er in seinem Buche über Hegel theoretisch ausgesprochen hatte, geschichtliche Welt- und Staatsanschäuung, das hat seine Redaktion der Jahrbücher zu einem lebendigen Beispiel gestaltet. War so der Geist, in dem die Jahrbücher geschrieben wurden, Geschichte, so entsprach es der praktischen Richtung des idealistischen Denkens, daß sich dieser Geist zu bestimmten Zielen faßte, daß er in sich konstruktiv blieb. Geschichte beanspruchte in den Jahrbüchern weder den Wert einer sich an ihrem Selbstzweck genügenden Wissenschaft, noch den bloß literarischer Geltung, wie ihn sonst gerade der — in den Jahrbüchern ab-

47 sichtlich gepflegte — Essay sucht, zu realisieren, erfüllte sich mit einer

„praktischen Tendenz",

Nationalleben ergreifen. Sie durfte sich dabei, der Wissenschaft

selbst

sollte, zu Preußen

damit

bekennen,

ein

sondern sie

sie wollte das ohne

Borussizismus

daß sich

bemächtigen

weil dies Bekenntnis

eben

ein

willensmäßiges war. Es ist ganz wesentlich, dies zu erkennen: die Wissenschaft wurde nicht wie ein Schlagwort in den Dienst der Politik gestellt; es sollte auch nicht das moralisch-praktische, national-politische Moment, wie bei Hegel die Freiheit, zu einem Prinzip

der

Erkenntnis

dieser Weltanschauung standen,

als „eine

werden. gleichsam

Sondern als

Preußen

wurde in

das Fichtesche Ich ver-

praktische Abstraktion".

Schon

in

seiner

Schrift über Feuerbach hatte Haym vor dem Beginnen gewarnt, „das praktisch Reale zu einer theoretischen Energie umschlagen zu lassen 1 )." In Preußen sah die Zeitschrift den berufensten Vertreter der

nationalen

Güter. Wenn

sie solche noch

äußerlich

nebeneinander stellt, äußere und innere Wohlfahrt, Recht, Macht, Ehre, Einigkeit aufzählt, Parole:

Preußen seine

so bekommt all das dann durch die lebendige

Stelle.

Und

nicht

Preußen

überhaupt, sondern das konstitutionelle Preußen ist es, das die Jahrbücher meinen, ein Problem, das noch jung und

bildsam

war und ihnen jene „große nationale Erfahrung", der sie sich von der Wissenschaft her bedürftig fühlten, in Fülle gab.

Prinzipien der

Redigierung.

Haym ist ein unablässig tätiger, einschneidender Redakteur gewesen. Er hat den Jahrbüchern ihren einheitlichen

Charakter

aufgeprägt, sie in scharfem Parteizuge,

in bestimmter wissen-

schaftlicher

und lebendiger

Richtung,

in durchsichtiger

Form

gehalten. Den

Hauptbestandteil der Zeitschrift

bildeten

die

Essays.

Die Darstellungen sollten vor den Erörterungen, die historische

' ) Feuerbach und die Philosophie, S. 25.

48 Kunst vor der politischen und wissenschaftlichen Kritik den Vorrang haben. „Land, und Leute, Zustände und Verhältnisse, Richtungen und Epochen, Parteien und Personen" sollten charakterisiert werden,

fa, ,,historisch und darstellend zu Werke zu

gehen", konnte eben ein Haym auch da verlangen, wo es sich um politische oder literarische Kritik handelte. Auch den Tagesereignissen gegenüber wünschte er „den Charakter der zurückschauenden Übersicht, des kritisch-historischen Berichtes" festgehalten zu sehen 1 ). Nur wo es sich um bestimmte, die öffentliche

Diskussion

beherrschende Fragen

handelte,

wie

einen

besonderen Gesetzesentwurf, eine besondere auswärtige Konstellation, ein Problem der Wissenschaft, sollte eine kritische Erörterung gegeben werden. Die Form der fachlichen Rezension war

ausdrücklich

ausgeschlossen,

um auch

nicht den Schein

einer Isolierung der wissenschaftliche^ von den ethisch-politischen Interessen

der

Nation

besprechungen sind' es „Mitteilungen",

zu

erwecken 2 )!

Neben

den

Bücher-

die Anzeigen von Broschüren,

„Broschürenliteratur",

„Notizen"

unter

zusammen-

gefaßt, die, zum großen Teil von Haym selbst herrührend 3 ), Tagesfragen anregend besprechen. Auch die Pflege der Sprache legte Haym den Mitarbeitern in seinen Prospekten und Vorworten nachdrücklich an das Herz. Er wies auf die klassischen Lehrmeister, die Goethe und Lessing, hin, daneben auch auf die Franzosen und Engländer, bei denen die publizistische Begabung noch mehr zu Hause sei.

„Wir

wollen wirken, — darum müssen wir mit ernstem Anteil, mit hellem Verstände und selbstbewegtem Gemüt: wir wollen in weite Kreise der Bildung wirken, — darum wollen wir einfach und plan, ohne Dünkel und ohne große Voraussetzungen in Sinn und Seele, in Verstand und Gemüt unsres Volkes hineinreden." Stärker freilich als durch die Betrachtung der Formalien 0 III, 13. '-) I, 693. 3 ) Siehe Anlage IV.

49 hat Haym durch die Gestaltung des Inhaltes den

Jahrbüchern

Einheit und Schwung gegeben. Hier verfügte er über ein Mittel, seine Zeitschrift über ihre Vorgänger

ein wesentliches

Stück

hinauszuführen: er vermochte die politische Bewegung ganz in die Jahrbücher einzufangen, durch die tätige Hilfe der Parteifreunde,

sowie

durch

und -formenden Geist.

seinen So

eigenen

die

Zeit

mitlebenden

weit eine Monatsschrift

das

sein

konnte, sind die Jahrbücher immer aktuell geblieben, in Perioden

der Vorbereitung

mit

grundlegenden,

programmatischen

Arbeiten, in Augenblicken der Entscheidung, wie zur Zeit des italienischen Krieges, ganz auf das Nächste gerichtet,

reichlich

mit Miszellen ausgestattet, da es „darauf ankam, die Jahrbücher zu einem recht lauten Organ der deutsch-einheitlichen Agitation zu machen" 1 ). Namentlich die Korrespondenzen, die sich Haym, neben den regelmäßig fortlaufenden aus

Berlin, aus

anderen

deutschen und europäischen Staaten bestellte, waren ganz auf den Augenblick eingestellt, entsprachen ganz dem wechselnden politischen Interesse. S i e nahmen einen anderen Platz im Zusammenhang des Ganzen ein, als in den früheren Zeitschriften, in denen die Mode der „Korrespondenzen" zuerst aufkam und ziemlich wahllos um sich griff. Hier hatte alles das Maß der Zeit und scharfe, sprechende Form 2 ).

') Haym an Reimer, 28. IX. 1859. ) Den Charakter der Politischen Korrespondenzen bezeichnete Haym schön in dem Entwurf zu einer gerichtlichen Verteidigungsrede anlässig der Beschlagnahme eines Heftes durch die Staatsanwaltschaft (Rede am 13. Nov. 1862): „Jede solche Politische Korrespondenz ist ihrem Charakter nach etwas anderes als etwa der Leitartikel einer Zeitung, es ist ein zusammenhängender Rückblick auf die politischen Hergänge des letzten Monats, es ist, wenn ich das Wort gebrauchen darf, ein politischer Essay. Aber mehr als das. Ich berufe mich nicht bloß auf den Charakter dieser und jeder einzelnen Politischen Korrespondenz, sondern auf den Charakter der Zeitschrift. Ein und derselbe Geist geht durch die Zeitschrift hindurch." Jede einzelne Äußerung sei als „integrierender Teil einer an den fortschreitenden Ereignissen stetig und konsequent sich entwickelnden politischen Gesamtanschauung" zu beurteilen. 2

Westphal

4

50 Die eigentliche Handhabe zu dieser strengen Redigierung bot Haym das Prinzip der Anonymität, das Mommsen der Zeitschrift aufgeprägt hatte. Die Partei, nicht der einzelne, noch so glänzende Name sollte das Organ tragen. Fünf Jahre ist dies Prinzip streng durchgeführt worden, dann hat man es, bei bedrängter Finanzlage, allmählich fallen lassen und einzelne Namen von Klang unter dem Text bekannt gegeben. Die Anonymität gab Haym, der die Verantwortung für alle Beiträge trug, die Gelegenheit, diese Verantwortung auch im geistigen Sinne aufzufassen und unermüdlich an den einlaufenden Beiträgen zu formen und zu feilen. So begegnet man denn nicht selten inmitten eines Aufsatzes von fremder Hand einer ungemein charakteristischen Haymschen Stilform. Bernhardi, der mit Rücksicht auf seine Beziehungen gern unveränderten Abdruck forderte, und vor allem Treitschke, der, besonders für nicht rein politische Artikel, die Anonymität überhaupt bekämpfte, haben darüber zu klagen gehabt 1 ). Erst der 1872 dem 25. Bande der Zeitschrift beigegebene Registerband hat, wenn auch lange nicht für alle Fälle, die Namen der Autoren bekannt gegeben 2 ). Äußeres. Die Jahrbücher erschienen einmal monatlich, wechselnd zu Anfang, Mitte oder Ende des Monats. Je sechs Hefte von durchschnittlich sieben Bogen wurden zu einem Bande zusammengefaßt. Der Preis für den Band betrug drei Taler. Die Verbreitung der Jahrbücher ist offenbar, so hoch sie in den Kreisen der Gesinnungsgenossen gewertet wurden 3 ), doch ') Treitschkes Briefe II, 164, 267. Selbst Treitschkes Aufsatz über die „Freiheit" kam nur „gemildert" in die Jahrbücher. 2 ) Nachweise auch in jenem Register ungenannt gebliebener Verfasser siehe Anlage IV. 8 ) „Sie sind ein Stück Nationalleben geworden, durch Sie, allein durch Sie!" (Aegidi an Haym, 18. IX. 60.) — Harkort, Mitglied des Komites, an Haym (17. XI. 60): „Ihre gütige Benachrichtigung über den guten Fortgang der Preußischen Jahrbücher macht mir große Freude und gerne erfülle ich die Pflicht, Ihnen, als dem verdienstvollen Kämpfer gegen die Dunkelmänner, meinen wärmsten Dank zu

51 keine

ausgedehnte gewesen. „Auf

die Höhe vornehmer

und

fesselnder Popularität gestimmt", blieben sie doch eine im ganzen akademische Erscheinung. Bei einem A b s a t z von 1 0 0 0 Exemplaren ¡ährlich, glaubte man, würde die Zeitschrift sich selbst erhalten. Da man indessen einen solchen von vornherein nicht in Aussicht nahm, sondern außerdem einen Garantiefonds forderte, und trotzdem Jahr für Jahr finanzielle Krisen zu überwinden hatte, wird der Absatz der Zeitschrift beträchtlich hinter jener Ziffer zurückgeblieben sein. Dennoch hat sie der Verleger Georg Reimer, der Partei Treue haltend, über alle Krisen hinweggebracht. In Österreich wurde sie gar nicht gelesen, in Deutschland sorgten die Freunde durch Besprechungen in den Tageszeitungen für das Unternehmen 1 ). sagen. Unsere große Partei kann stolz auf diese Vertretung im Gebiete der Wissenschaft und des konstitutionellen Lebens sein; fahren Sie nur tapfer fort, dem Rechte und der Wahrheit eine Hütte zu bereiten." ') So besprach sie Haym selbst in der Magdeburger, Springer in der Kölnischen, Baumgarten in der Süddeutschen Zeitung, Oetker in seinen Kasseler Blättern (Haym an Reimer, 10. XII. 591, Geffcken im Preußischen Wochenblatt (ders. an dens., 7. V. 60), Dilthey in der Sternzeitung (ders. an dens., 29. IX. 61) und in Schmidts Berliner Zeitung (Dilthey an Haym, 29. IV. 62).

4*

Zweiter

Abschnitt.

Die Mitarbeiter.

H

R u d o l f Haym.

aym war 1821 zu Grünberg in Schlesien als Sohn des Konrektors an der Bürgerschule geboren, kam mit 12 Jahren

_ zu Verwandten nach Berlin, um das Gymnasium zu besuchen, und bezog 1839

als Student der Theologie die Universität

Halle. Er promovierte dort, nachdem er der theologischen Laufbahn entsagt hatte, 1 8 4 3 zum Doktor der Philosophie. Wegen des oppositionellen Verhaltens des Studenten zu der im preußischen Kultusministerium herrschenden kirchlichen Richtung — er hatte sich zum Wortführer einer um die Berufung David Friedrich Straußens nach Halle petitionierenden Bewegung gemacht — wurde ihm die venia legendi an jener Universität nicht gewährt. Er lebte, mit philosophischen und publizistischen Arbeiten beschäftigt, in Halle, bis er 1 8 4 8 durch die Empfehlung seines Freundes Duncker das Mandat der Mansfelder Kreise für das Nationalparlament erhielt, als dessen Biographen vom Standpunkt seiner Partei, des rechten Zentrums, aus wir ihm begegnet sind. Nach der Auflösung der Versammlung erwirkte er, noch in der Bewegungszeit, seine Zulassung als Privatdozent in Halle, um gleich darauf als Leiter der „Constitutionellen Zeitung" noch einmal in das politische Leben überzutreten (Juli bis November 1850). Während der Reaktionszeit zog er sich auf seine wissenschaftliche Tätigkeit zurück, deren Ergebnisse die Arbeiten über Gentz (in der Ersch- und Gruberschen

53 Enzyklopädie 1854), über Wilhelm von Humboldt (1856) und über Hegel (1857) waren. Es ist eine stürmische, sowohl von den geistigen wie von den politischen Bewegungen der Zeit erfaßte Entwicklung, die Haym durchgemacht hat, eine Entwicklung, die sich durch ein leidenschaftlich den inneren Mittelpunkt der Kämpfe suchendes Temperament charakterisiert. So haben ihm die geistigen und politischen Mächte dazu gedient, eine sie kräftig umfassende, einheitliche Persönlichkeit auszubilden. Zeigen wir die Elemente, die diesen Prozeß bildeten, auf 1 )! Reizvoll, in einer von feinem Humor durchzogenen Realistik, ganz ohne romantische Verklärung, heben Hayms Alterserinnerungen mit der Darstellung seiner Knabenjahre in der kleinen Provinzstadt des Ostens an. Er war ein aufgewecktes und doch beschauliches Kind, das an den roheren Spielen seiner Gefährten keinen Gefallen fand, sondern gern seinem Hang zu eigenen Ideen lebte. Die Eltern verwöhnten es, zumal der Vater, ein Jünger der Aufklärung in Pädagogik, Politik und Religion, der es mit einer sorgsam auf die Prinzipien achtenden Pflege umgab, es auf Spaziergängen in Fabriken und Handwerksstätten führte, in echt aufgeklärter Weise auf Anschaulichkeit eben des Alltäglichen, auf ein gesundes Wissen — er verpönte das unbelehrende Märchenlesen —, auf Fühlung mit dem Leben haltend. „Ganz unabsichtlich" nahm sein Anschauungsunterricht wohl eine religiöse Wendung, um den Sohn auf die Weisheit des Schöpfers in allen Dingen hinzuleiten. Und neben der Innigkeit die entschiedene Schärfe des rationalistischen Glaubens gegen die gegnerische Richtung, gegen die Supranaturalisten und die Pfaffen; der Vater verwünschte den Sohn, sollte er als Theologe sich je zu den Tholuck und H Engstenberg halten! Er wurde sein Lehrer „in allem, was für die letzte Richtung des Geistes entscheidend ist". 1 ) Vergl. die 1902 aus seinem Nachlaß unter dem Titel „Aus meinem Leben" herausgegebenen „Erinnerungen", in denen wohl das Alter die Jugend kritisiert und — nach Hayms A r t — objektiviert, sich dabei aber auf die reichen Bekenntnisse der Jugendzeit stützen kann, so daß wir eine sehr lebenswahre Quelle vor uns haben.

54 Von diesem rationalistischen, durch einen orthodoxen Schulund Konfirmationsunterricht in Berlin nicht erschütterten Standpunkt trat Haym in das Universitätsleben über. Es verstand sich, daß ihn der Vater nach Halle gehen ließ, dem Hauptsitz der rationalistischen Theologie seit den Tagen Christian Wolfis. Der historische Charakter der Universität war ein doppelter: ein aufgeklärter und ein preußischer. Im Gegensatz zu dem streng lutherischen, kursächsischen Wittenberg war sie von dem jungen preußischen Königtum gegründet worden. So konnten Rüge und Echtermeyer, als sie — ein Jahr bevor Haym die Universität bezog — ihre Zeitschrift unter dem Namen „Hallische Jahrbücher" herausgaben, einen programmatischen Sinn — Freiheit und Macht — damit verbinden 1 ). Und nicht unschicklich war es, daß später auch die „Preußischen Jahrbücher" eben von dieser Stadt aus ins Leben traten. Was Haym dort zunächst ganz in seinen Bann ziehen sollte, war die Hegeische Philosophie, während die theologischen Studien im engeren Sinn ihn langweilten. Der Jünger des Rationalismus mochte wohl ohne Schwierigkeiten den Eingang zu dem Vernunftsgebäude dieser Philosophie finden und in ihrem Sinne für die „der Theologie voraufliegenden Fragen", voran für den großen Rechtsstreit zwischen Glauben und Wissen, eine Lösung suchen. Doch war es nicht der offizielle Hegelianismus, wie ihn in Halle damals Erdmann, Schaller und Hinrichs vertraten, der ihn zu fesseln vermochte. Ja, er verwünschte diese Philosophie, „die gar keine Probleme kannte oder doch keine übrig ließ". Vielmehr, ihn machte der radikale Junghegelianismus eines Arnold Rüge, wie er in den Hallischen Jahrbüchern verkündet wurde, zu dem seinen. Aus den Hallischen Jahrbüchern entnahm er den Geist der Dialektik, ohne daß er sich in die Hegeischen Werke selbst versenken mochte. Hier gab es Kampf gegen das Unvernünftige, nicht bloß dessen dialektische Auflösung wie auf dem Erdmannschen Katheder. Hier gab es nicht 1 ) Vergl. den Artikel „Die Universität Halle" von Echtermeyer in der ersten Nummer des ersten Jahrganges der Zeitschrift, 1838.

55 nur das Wissen der Wahrheit, sondern auch das W o l l e n d e s W i s s e n s . Diese aktive Seite der Wissenschaft ergriff Haym mit Leidenschaft; das Temperament war es, die lebendige Vertretung, die den Studenten auf den Ruge-Hegel schwören ließ. Denn gleichzeitig mit der Wissenschaft hatte ihn das Leben auf einen neuen Boden gestellt. Die „überschwänglichsten Vorstellungen von Burschenmacht und studentischer Freiheit", mit denen er auf die Universität gezogen war, sollten sich erfüllen. Mit etwa zwölf Genossen gründete er auf die alten burschenschaftlichen Ideale von Freiheit, Vaterland, Wissenschaft einen Bund, in dem sich ihm die erträumten Don Carlos "Freundschaften, „wo die eine Seele mit der anderen ein intimes Gespräch führt über das Eigenste und Höchste", verwirklichten. Ein eigenes Ideal studentischer Geselligkeit suchten die Freunde neben dem „vulgären" auszubauen; in ihren Zusammenkünften mehr als in den Hörsälen gedieh ihre Wissenschaft. In die Wissenschaft trugen sie den burschenschaftlichen Freiheitsgeist, ihre Kampfesfreude und ihren Trieb zu den höchsten Fragen hinein. Wie fühlten sie sich! Dem Kurator, der ihn — wegen der für die Straußische Berufung inszenierten Bewegung — zu sich beschieden und ihn aufgefordert hatte, den Streit der Richtungen lieber der Zeit zur Lösung zu überlassen, hielt Haym als junges Semester vor: „Wir eben sind die Zeit!" Sie hatten in Rüge den Mann ihrer Partei. „Unwiderstehlich . . . von selbst flog uns die neuhegelsche Denkweise an." So leicht aber sollte aus dem Willen zur Freiheit und aus der Hegeischen Weltformel keine Einheit, keine Lebenskraft werden! Eben die konsequente Durchdenkung des Junghegelianismus, wie sie in der „neuen philosophischen Offenbarung", in Feuerbachs „Wesen des Christentums", vorlag, führte Haym an den Abgrund, stellte ihm den Sprung ins Bodenlose als eine Notwendigkeit hin, wo die „Sterne seines kindlichen Glaubens", die sich wohl „in Welten hätten verwandeln" mögen, unterzugehen drohten: den Hegeischen Pantheismus hatte Haym seiner aufgeklärten Religiosität anzugleichen vermocht, nicht aber den Feuerbachschen Anthropomorphismus. Es kam zu einer Be-

56 kehrung des auch körperlich Überanstrengten: am Grabe eines jungen Hausgenossen, an einem kalten Novembertage, arbeitete sich all sein religiöses Bedürfnis wieder durch, klammerte er sich an den Gott, „der sich ihm damit bewies, daß er ihn nicht entbehren konnte": bereits ein für Hayms geistige Art charakteristischer Akt: zuletzt setzte sich bei ihm über alle Spekulation hinweg das Unmittelbar-Wirkliche, das Erfahrungsmäßig-Notwendige durch. Er hat diese Bekehrung später als einen Kompromiß geschildert, als eine bewußte Umdeutung des Verstandesmäßigen in das Gemütlich-Sittliche, als eine Anerkennung des Gebietes des Herzens im Reiche der Religion — ein erster Schritt, das Heterogene, das er durchlebt hatte, nicht sowohl in einer glatten Lösung aufgehen als vielmehr in möglichst lebendiger Spannung in sich zusammenwirken zu lassen, sich nicht radikalisierend, sondern totalisierend einzustellen. Die Beruhigung, die ihn damit ergriff, spiegelte sich auch in der veränderten Richtung wieder, in die er nunmehr seine Studien lenkte. Schon David Friedrich Straußens „Leben Jesu" — das Mittelglied auf seinem Wege von Hegel zu Feuerbach —, das Buch, das er, wie er noch im Alter bekannte, mit größerem Genuß und größerer Gründlichkeit als irgendein anderes gelesen hatte, hatte ihn zu der philologisch-kritischen Wissenschaft hinübergeführt. Der Einfluß des Lehrers, dem er unter den Hallenser Professoren am nächsten stand, des Orientalisten Gesenius, wirkte in gleicher Richtung: „In immer zunehmendem Grade spürte ich die Wirkung davon, daß meine Gedanken nun nicht mehr beständig um das Licht der höchsten Probleme herumflatterten, sondern sich von konkreteren Gegenständen und historischen Fragen angezogen, beim Irdischen und Menschlichen festgehalten fanden." Und aus dem Studium wiederum wurde ihm eine Quelle des Lebens. Sein Lebensgefühl wurde ganz erfüllt von dem Bewußtsein des Geschichtlichen; den Strom des Geschehens, das Werdende, Schreitende erfaßte er als den Rhythmus seines Daseins, erträumte er sich als den Kreis seines Wirkens — wie er es in einem „vertrauten Geständnis" in jugendlich mächtigen

57 Worten aussprach: „Ich möchte ganze Säcula der Zukunft in mich schlingen und mein Zelt von einer Epoche der Menschheit zur nächsten und immer wieder zur nächsten tragen — nicht wie der ewige Jude, sondern wie der ewige Mensch, wie die werdende, schreitende Geschichte der Menschheit selbst." Freilich damals, am Ende seiner Studien, war die Richtung auf die Geschichte durchaus noch nicht vorherrschend in ihm. Vielmehr, eben sein persönliches Erwerben bestand in der Spannkraft, mit der er die entgegengesetzten Elemente, die in ihn einströmten, jedes an seiner Stelle sprechen ließ. So ist denn auch zu fragen, wie weit nicht in ihm Hegel trotz des Kampfes, den er gegen ihn führte, trotz des Buches, mit dem er sich als reifer Mann gegen ihn zur Wehr setzte, immer eine Macht geblieben ist! Hegel behielt eine feste Stellung im Zentrum seines Denkens, mochte nun auch die Empirie, willig eingelassen, ihrerseits ihr Recht daneben fordern. Es ist interessant zu verfolgen, wie sie immer mehr von dem korrekten Hegelianismus in Haym absorbiert. In seiner Dissertation über die äschyleische Weltanschauung erprobte er noch das Hegeische Schema des Verhältnisses von Kunst, Religion und Philosophie zum Absoluten an den Tragödien des Dichters 1 ). Damals erst ging Haym an die Quellen, an Hegels Werke selbst, „dachte er in den Gedanken, schrieb und sprach er in der Sprache der Phänomenologie". In seiner Habilitationsschrift war er dann bereits in einer Kritik Hegels begriffen: an Stelle der Kunst, die ihm die sinnlich-geistige Einheit nicht streng und heilig genug zu repräsentieren schien, setzte er die Sprache, deren Macht ihn seit früher Jugend angezogen, der er sich mit einer schon von dem Vater an dem Knaben bemerkten

stilistischen

Begabung

gewidmet

hatte. Von der Sprache her gewann er sich den Genius, der Hegel am stärksten bei ihm Widerpart leisten sollte: Lessing. Schon als junger Rezensent, als ihn Gesenius an der Halleschen Droysen, dem Äschylusübersetzer und Hegelianer, gefiel eben diese Mischung von philologischer und spekulativer Kritik; er schrieb an Haym einen Brief „voll weiterführender Gesichtspunkte".

58 Literaturzeitung angestellt hatte, hatte er „die Gedanken von Hegel, die Form von Lessing g e b o r g t . " Diese riß ihn hin mit ihrer „stilisierten Natürlichkeit", hinter der Hegels

„undurch-

sichtige Feierlichkeit" zurückbleiben mußte. D a s Entscheidende war aber auch diesmal ein Anstoß von außen, eine Bewegung des allgemeinen Lebens. Zwar fand er den Rationalismus der „Lichtfreunde", die sich damals gegen den strengen kirchlichen Eifer des Kultusministers Eichhorn erhoben, unerleuchtet und bürgerlich genug. Aber hier galt es, „Partei zu ergreifen"! D a konnte er das schwerfällige Hegeische System nicht gebrauchen. Die „menschlichere, gemütlichere Verstandesbegeisterung" in Lessings Nathan hob er auf den Schild; er überwand sich, diese nicht mehr mit Hegel als ein bloßes „aufgehobenes Moment" anzusehen und schrieb sich bewußt mit einer im Geiste Nathans gehaltenen

„Trilogie

von

Bekennt-

nissen" „aus dem Hegeischen Absolutismus heraus und in die populären Stimmungen hinüber". In der Tat ein entscheidender Schritt, bei dem der äußere Anreiz, der Wille zu wirken, mit seiner Zeit mitzuempfinden, ihm die Feder geführt hat. Er w o l l t e sich von Hegel befreien. Und nun wirkten sich die alten Anregungen, die er früher aufgenommen hatte, erst recht aus. In einer großen Arbeit für die Ersch- und Grubersche Enzyklopädie, dem Artikel über Philosophie 1 ),

durfte er wirklich „sein Zelt von einer Epoche zur

anderen tragen", stellte er alle philosophischen Systeme, und zwar das Hegeische und nächst ihm das Feuerbachsche am ausführlichsten, in den Fluß der Geschichte hinein, besorgt nur um das Endziel, „sein eigenes Utopien": „die Geschichte sollte mit einem System enden, und dies System wies doch wieder nur auf die Geschichte zurück". Und neben der Geschichte das persönliche Leben, als dessen Ausdruck er nun auch die Verstandeskultur aufzufassen entschlossen war. Er wollte das christliche Dogma nicht ganz verwerfen, sondern es begreifen, nicht als einen spekulativen Begriff, sondern als eine Geburt aus Phan') III. Section, 24. Teil, S . 1 - 2 3 1 .

59 tasie und Liebe, aus Menschlichkeit1). Christus' Persönlichkeit selbst erschien ihm — unter der von Duncker in ihm angeregten geschichtlichen Betrachtung — als eine praktische, tätige, sittliche Persönlichkeit. Der Philosoph, den er in der Enzyklopädie am höchsten stellte, war Fichte; die Freiheit, die ,,Tathandlung" wurde ihm ,,das einzig schlechthin Gewisse", der „unerschütterliche, für die Empirie absolut unzugängliche Punkt für die Philosophie" 2 ). Es war das Ideal der Humanität, das er sich aus unserer klassischen Epoche eroberte, ein Ideal, in dem spekulative Vernunft und Freiheit ihren Platz behielten, aber in dessen Verfassung Tat, Liebe, Sittlichkeit die regierenden Faktören waren. Mit ihnen strebte er dem Inhalt und dem Kampfe der eigenen Zeit zu; nur im Mitleben und -bekennen der Gegenwart konnte er seine Aufgabe erfüllen. „Wie hätte ich — so meint er noch im Alter — der Versuchung widerstehen können, aus der Studierstube auf den Markt zu treten, von der vorgeschriebenen Marschroute abzuweichen? — Wenn ich mich dadurch aufs neue kompromittierte und mißliebig machte, was tat das? Es war Pflicht, mit dem als recht und wahr Erkannten nicht hinter dem Berge zu halten und Farbe zu bekennen; dies war die Bedingung des Sieges." So trat er als eifriger Publizist in die lichtfreundliche Bewegung ein, feierte in lebhaften Reden auf den abendlichen Zusammenkünften in der „Traube" seine Helden, Lessing, Kant und Hutten: „Wer folgt mir von Ufnau nach Königsberg?" Sehr charakteristisch nun wieder, wie er und seine Freunde (Duncker u. a.)

sich zu dem Entschlüsse eines

massiven Kir-

chenaustritts stellten, zu dem die Uhlich, Wislicenus, Schwetschke drängten. Da schied er sich von den Radikalen; denn mußte er sich auch gestehen, daß sein Neuprotestantismus nur eine akademische Kraft sei und die Massen nicht zu ergreifen vermöge, so war ihm der „hohle und matte" Rationalismus Uhlichs *) „Die Objektivität Gottes für einen Spuk erklären, ist etwas, aber die Objektivität dieses Spuks zu erklären, ist das andre, nicht minder Unerläßliche" (Feuerbach u. d. Ph., S. 13). 4

) S. 229; vergl. Feuerbach u. d. Ph., S. 25.

60 ebenso wie die bloße Bildungsgemeinschaft, die Wislicenus begründen wollte, doch ein zu armes, der religiösen Innerlichkeit entbehrendes Gebilde, als daß er e» zu dem seinen hätte machen können. Die Fülle der lebendigen Antriebe,

denen er durch

eine kampfvolle Entwicklung hin in sich Raum gegeben hatte, wies ihn in die gemäßigte Richtung. Nur dort konnte er den Reichtum und das Maß des erworbenen klassischen Erbes behaupten. Für die große Erscheinung unserer politischen schichte, daß in der Revolution von

Ge-

1848, als, von mannig-

fachen auswärtigen Einflüssen getrieben, die Extreme aufeinanderstießen, zugleich eine starke gemäßigte Partei heraussprang und sich gegen links und rechts als die im tiefsten Sinne nationale behauptete, zeigt uns Hayms Bildungsgeschichte eine der vornehmsten Ursachen auf: die Nachwirkung des humanistischen Geistes, der sich allmählich, wenn auch natürlich nicht überall so ausdrücklich und folgerichtig wie bei Haym, in eine Nationalkultur umgesetzt hatte, und den die Nation nicht anders als auf einer mittleren Linie festhalten konnte. Zur politischen, zur nationalen Öffentlichkeit sollte die kirchlich-liberale, in die Haym in Halle eingetreten war, sich bald umwandeln:

die

preußische Verfassungsfrage,

die

schleswig-

holsteinische, die Frage des deutschen Nationalparlaments mußten auch in der Hochburg des kirchlichen Liberalismus lebhaftesten Widerhall finden. Duncker übernahm die Führung und wurde selbst in Halle nach Frankfurt gewählt. Daß Haym, siebenundzwanzigjährig, in einem benachbarten Kreise gleichfalls gewählt wurde, verdankte er doch hauptsächlich sich selbst, der besonderen Leistung, mit der er sich bereits der Politik zur Verfügung gestellt hatte: es war der Verfasser der „Reden und Redner des Vereinigten Landtags", der in das deutsche Parlament gewählt wurde, der „Gelehrte mit hervorstechendem Beruf zum politischen Schriftsteller", den Hansemann in ihm erkannt, und den er vergebens an sich zu fesseln gesucht hatte. Das Revolutionsjahr stempelte Haym zu dem, was er im innersten Kerne war; im Revolutionsjahr sprang die eigenste Form seines Wesens heraus: der Schriftsteller. Das öffentliche

61 Leben mit starken plastischen Begriffen festzuhalten, es auf den Grund der Ideen, die es beherrschten, zurückzuführen, war seine Lust und ein Ausdruck seiner ganzen geistigen Art. Die Sprache wurde, so wie sie ihn von Hegel abgestoßen und zu Lessing, zu Wilhelm v. Humboldt, dem Sprachphilosophen, hingeführt hatte, ein integrierender Teil seiner Welt- und seiner Geschichtsauffassung. Sie war ihm eine Kraft der Veranschaulichung, die sich zu keiner begrifflichen Leistung in Kant-Hegelscher Art anstrengen mochte. Sie bedurfte lebendiger, im Flusse befindlicher Gegenstände, sie holte recht eigentlich das Geschichtliche aus ihren Stoffen heraus. Nur am Wirklichen konnte sie sich entfalten. „Die humane stilistische Form ist nicht erst zu schaffen: sie ist nur den neuen Stoffen, Zwecken und Interessen dienstbar zu machen 1 )." Steuerte Haym so aus dieser ihm eigenen Kraft seines Geistes bewegten Inhalten, allgemeinen Erlebnissen zu, so blieb nun der Einschlag des Sprachlichen charakteristisch für die Art seiner Wirklichkeitsauffassung; derselbe bezeichnet auch die Schranke seines politischen Denkens. Es war Haym selbst klar, daß er nur soweit Redner und Politiker war, als er Schriftsteller war 2 ). Zum Politiker fehlte ihm sowohl die Vertrautheit mit der Materie wie der äußeren so der inneren Politik 3 ), als auch ') Preuß. Jahrb. III, 6. -— Als etwas Heiliges, Mystisches erschien ihm die Sprache, „nicht als ein bloßes Verständigungs- und Ausdrucksmittel frei erzeugter Gedanken, sondern vielmehr als eine schöpferische Macht, die den Gedanken trägt, indem sie ihn wie eine aus verborgener Tiefe hervordringende Quelle speist" (Erinnerungen, S. 147). Vergl. vollends den enthusiastischen Hymnus auf die Sprache (Feuerbach u. d. Ph., S . 35 f.): „Nun ist sie unser, ist leicht, beweglich, geschmeidig, zutunlich, gehorsam . . . Die Sprache ist Leichtigkeit, Sicherheit und Seligkeit des Lebens, sie fühlt sich als solche, und ihres eigenen ganzen Wesens vergessend, setzt sie auf ihrem eignen Boden die leichtlebenden Götter ab." 2 ) Erinnerungen, S . 181. s ) Das zeigen z. B. die sich stark in allgemeinen Reflexionen ergehenden „Politischen Korrespondenzen", die er 1862 für die Preuß. Jahrb. schrieb.

62 der taktische Verstand, der Sinn für das Nächste 1 ). Er eilte immer den obersten Gesichtspunkten zu. Das ästhetisch-logische Begreifen des Lebens gab seinem Charakter das Gepräge. Er ist der Mann der Wirklichkeit, der Bewegung; überall ist ihm Öffentlichkeit, ist ihm Geschichte Bedürfnis. Ein Agitator, ein Revolutionär steckt in ihm. Aber er ist zugleich der Mann der Form, des Maßes, der Gerechtigkeit. Diese Spannung ist sein eigenstes Wesen. Mit ihr und aus ihr lebte er, seit seiner Studentenzeit immer bemüht, sie ganz ausgeglichen, von innen heraus, darzustellen. Nicht immer ist ihm das gelungen. Oft löste sich das Darstellerische als ein selbständiges Moment von seinem Schaffen ab und bekam einen theatralischen Anstrich. Er hatte dann, wie er sich ausdrückte, „sein Korn vermählen" und „wälzte das Blech wieder zu dünn". Er schien Treitschke bisweilen in die Manier Macaulays zu verfallen 2 ), der Treitschke ein „zudringlicher" Schriftsteller 3 ) war. Wie historisch konnte er sich selbst ansehen! Die Formulierungen seiner seelischen Entwicklung pflegte er als junger Mann der Öffentlichkeit nicht vorzuenthalten; die Bilder, die er von den kirchlichen, politischen, literarischen Bewegungen, an denen er mit teilgenommen hatte, zu entwerfen liebte, haben oft einen etwas zu vollen Ton, typisieren das Detail zu sehr. Seine Leidenschaft, sich in und mit der Zeit zu denken, zu verstehen, tritt uns wechselnd als zum Ernst der Selbsterziehung verfestigt, und als Lust des Rhetors, des Schauspielers entgegen. So erscheint uns noch das Bild des älteren Mannes, das seinen „Erinnerungen" beigegeben ist: die Mischung

*) „Ich würde — so sagte er sich anlässig eines Vorschlages Hansemanns, bei ihm in publizistische Dienste zu treten — meine theoretische Natur so sehr nicht zwingen können, daß sie sich willig in das Joch der wirklichen Verhältnisse, in das Rechnen mit Menschen und Dingen, mit Rechten und Gesetzen füge" (Erinnerungen, S. 175). 2 ) Briefe II, 38. In der Tat finden sich im Haymschen Stil der 50er Jahre starke Macaulayismen; seine Analyse des Macaulayschen Stils (Preuß. Jahrb. VI, 379 ff.) konnte so in echt Haymscher Weise zu einer Selbstanalyse, zu einer Erörterung des eigenen Sprachgebrauchs werden. 3 ) Ebenda 109.

63 aus Wohlwollen und leisem Spott im Auge, die Schlagfertigkeit des schweigenden Mundes, die energische Pose der Figur; Züge, die im Bild des Studenten ins Weiche, Suchende umgesetzt sind, das Auge noch unklar, etwas leidend, doch der Mund ziemlich grob dreinfahrend, ein verwegener Haarbüschel um die Schläfe. Doch gibt

eine

steigende Ausgleichung

dieser

Elemente

seinem Schaffen den Reiz. Wohl seine lebendigsten Arbeiten sind ihm gelungen, als er — als Herausgeber der Preußischen Jahrbücher — „in die Periode seiner essayistischen Schriftstellerei eingetreten"

war. Sein Räsonnement, sein scharf geschliffener

Stil, mit denen er einer ausführlich behandelten Gestalt, seinem Wilhelm v. Humboldt, seinem Hegel leicht etwas zu sehr zusetzte, kommen eben der Form des Essays zustatten 1 ). So stand er damals auf der Höhe seiner Kraft. „Ein herrlicher Mensch", wie Treitschke ihn nannte. In ein und derselben Stadt als Student, als Publizist, als Privatdozent, als Professor, einmal auch als Abgeordneter (zum preußischen Landtag von 1866) tätig, und von diesem Halle aus die Geister der lebendigen

deutschen

Vergangenheit in die Gegenwart hinüberführend, so wird er einen eigenen Platz in der deutschen behaupten. Er

Wissenschaftsgeschichte

ist einer der markantesten

Epigonen

unserer

klassischen Epoche. Die Universalität ihres Geistes hat er nicht mit autonomen Gedanken bereichert, aber er hat sie, indem er sie ¡n die von den Bewegungen der Politik erfüllte Welt hineinwarf, in ihrer Kraft erprobt und als ein Eigenes der Nation erwiesen. ') Er veröffentlichte in den Jahrbüchern 1858—1863 sechs geistesgeschichtliche Abhandlungen: „Ulrich v. Hutten" (1858), „Schiller an seinem hundertjährigen Jubiläum" (1859), „Ernst Moritz Arndt" (1860), „Thomas Babington Macaulay" (1860), „Eine Erinnerung an Johann Gottlieb Fichte" (1861), „Varnhagen v. Ense" (1863); sechs politische Aufsätze: „Der preußische Landtag während der Jahre 1851 — 185V' (1858), „Zu den Wahlen in Preußen" (1858), „Der alte und der neue preußische Landtag" (1858), „Zum Stieberschen Prozeß" (1860), „Die Verordnung vom 1. Juli und die Presse" (1863), „Ein Artikel der Grenzboten" (1863); „Politische Correspondenzen" vom April bis Juli 1862; eine literarische Kritik: „Die Fabier" (1859); zahlreiche kleinere Artikel, Besprechungen usw. s. Anlage IV.

64 Max D u n c k e r . Haym und Duncker gehören zusammen, nicht nur für die Zeit ihres gemeinsamen Wirkens in Halle ( 1 8 4 5 — 1 8 5 8 ) , und nicht nur als nah verbundene persönliche Freunde, sondern auch als zwei geistige Repräsentanten. In ihnen ergänzt sich der gelehrte Liberalismus aus seinen am weitesten auseinanderliegenden Seiten: Haym tritt uns als der Künstler der liberalen Idee, Duncker als ihr Staatsmann entgegen. Unter den liberalen Professoren der Jahrhundertmitte hat keiner auch sein äußeres Dasein so ganz in den Dienst der Politik gestellt und ist keiner in so einflußreiche politische Stellungen gelangt, wie Duncker. Er richtete sich ganz in den einzelnen politischen Situationen ein 1 ). Duncker wuchs, 1811 als Sohn des Inhabers der Verlagsfirma Duncker und Humblot in Berlin geboren, in einem Kreise auf, der ihm politisches und geistiges Leben gleichzeitig zur Anschauung brachte. Die Hauptstadt des Landes war noch voll von den Erlebnissen der Befreiungskämpfe, und mit der Romantik war in sie auch das geistige Deutschland eingezogen. 1821 war Hegel nach Berlin berufen worden und stieg dort auf die Höhe seines Ruhmes. Dunckers Vaterhaus war ein Treffpunkt

des

geselligen Berliner Lebens, in dem die gefeierten Autoren des Verlages, darunter Hegel und Ranke, ein- und ausgingen. Unter dem Rektorate Hegels (1830/31) wurde Duncker an der Universität immatrikuliert, und der junge Historiker besuchte alsbald die Vorlesungen des Philosophen, hörte bei ihm Philosophie der Geschichte und Geschichte der Philosophie. Er nahm ganz die Hegeische Methode an; seine Dissertation „de historia eiusque tractandae varia ratione" entwickelte sie für einen speziellen Fall. Seine Kritiken in den Hallischen Jahr') Duncker haben mehrere seiner Freunde nach seinem Tode (1886) schöne Denkmale gesetzt. An der Spitze steht Hayms ausführliche Erzählung seines Lebens (1891), die Constantin Rößler in der Fragestellung wertvoll ergänzte (Ausgewählte Aufsätze 1902). Weniger aufschlußreich ist Treitschkes Aufsatz (Preuß. Jahrb. Bd. 58, wieder abgedruckt hist. u. polit. Aufs. Bd. IV).

65 büchern und in der im Verlage des Vaters erscheinenden „Allgemeinen Literaturzeitung" verrieten noch bis in die vierziger Jahre den schulmäßig-behende geübten Stil des Meisters. Noch als er selbst zu einer Kritik Hegels fortgeschritten war, noch in der Schrift, die ihn bereits in seiner historisch-politischen Richtung völlig entschieden zeigte, der „Krisis der Reformation" (1845), sah Haym ihn seinen Standpunkt möglichst hoch nehmen „wie einen, der sich durch die Phänomenologie des Geistes hindurchgelesen hat". Was verdankte er Hegel, was führte ihn über Hegel hinaus? Er verdankte ihm vor allem die universalhistorische Richtung seines Geistes, die sich auch in seinen späteren Werken charakteristisch erhielt, nicht nur die Wahl, sondern auch die Auffassung seiner Stoffe bestimmte. Aus der Aufgabe, die der junge Gelehrte im Dienst seines Hauses als Mitarbeiter seines Bonner Lehrers Loebell übernahm, der Neubearbeitung der bei Duncker und Humblot erscheinenden Beckerschen Weltgeschichte, wurde ihm schließlich das wissenschaftliche Hauptwerk seines Lebens, die Geschichte des Altertums, an der die moderne Forschung, über die mehr philologische Vertiefung in die Sondergeschichte der Völker und Kulturen hinaus, wieder die Tendenz zur Gesamtauffassung der antiken, hier insbesondere der orientalisch-griechischen Welt rühmt. Hier blieb Hegel ein lebendiger Ausgangspunkt 1 ). Der Zug zur Idee, zum System verband Duncker mit Hegel. Von Ranke fand er, daß er nur unwillkürlich, aus seiner künstlerischen Anschauung heraus, zu der wahren Geschichtsschreibung, die eine Geschichte nicht der Völ' ) Vergl. seine charakteristische Kritik von Bülaus „Geschichte des europäischen Staatensystems" in den Hall. J b . 1841. Hinter der Hegelschen Terminologie spürt man, in der Beziehung des äußeren auf das innere Staatsleben ( S . 78), in dem Begriff, den er von dem Staatensystem überhaupt faßt, den Atem des universalen Historikers, das Ausgehen vom Ganzen, das Erwägen großer Entwürfe: „Die despotischen Staaten Asiens, j a die wilde Herrschaft und Knechtschaft der Neger sind Momente und Glieder der einen Idee der Freiheit und des Staats, die in keinem Augenblicke ihre Totalität vermißt" ( S . 81). Westphal

5

66 ker und Staaten', sondern der Ideen sei, gelange. Gewiß besteht hier ein großer Abstand zwischen dem Rezensenten der dreißiger und dem Politiker der fünfziger Jahre;

charakteristisch

aber blieb für Duncker gerade gegenüber Ranke und dessen romantischer Intuition für das Reale die Hegeische Art, die Freiheit an die Vernunft zu binden und einem objektiven Gesetze nachzustreben. Sein persönlicher Charakter stimmte damit überein:

der gehaltene Ernst, das Lehrhafte seines Wesens;

„der Tröster und Treiber", als den ihn Constantin Rößler bezeichnet hat. Während Haym aus sich selbst heraus, in einem immer wieder geistige Ringe ansetzenden und von ihnen aus um sich greifenden

Prozesse zum geschichtlichen

Bewußtsein

und zu

öffentlichem Wirken kam, war Duncker von vornherein eine reale historische Anschauung gegeben; er wuchs in festen äußeren Traditionen auf, in den Traditionen des preußischen

Staates.

Hier hatte seine Natur, hier auch seine geschichtliche Richtung ihren eigentlichen Ursprung. Haym berichtet uns von einem Aufsatz, in dem der Frühreife bei seinem Übergang zur Universität sich über sein Streben, besonders über das Studium, das er erwählt hatte, Rechenschaft gibt. Er beginnt in universaler Stimmung: er möchte in der Geschichte positive Beispiele für Tugend, Vernunft, edle Begeisterung, für den Segen einer einfachen christlichen Frömmigkeit finden. Und er schließt ganz entschlossen in nationaler Stimmung: „Damit der Mensch seine Mühe und Arbeit nicht nutzlos verschwende, muß er zuerst nur im Vaterlande tätig sein wollen" 1 ). Dann ist es das Militär gewesen, dem er als Bonner Ulane mit Leidenschaft zugetan war, und die Burschenschaft, in die er gleichfalls in Bonn einsprang, wodurch er in seinem praktisch-politischen Instinkte befestigt wurde. Dort in Bonn nahm er bereits den Gegensatz gegen Frankreich auf, den die Burschenschaft aus den napoleonischen Tagen im Herzen trug, und der ein Grundmotiv seiner politischen Anschauungen werden sollte. Und in Halle, in das ' ) Haym, S . 11.

67 Johannes Schultze den jungen Dozenten als Hegelianer und Widerpart Leos gehen ließ, behielt er gleichfalls die bestimmte politische Richtung im Auge. Wenn er in seiner Vorlesung über Politik (zuerst 1843) auf die Forderung des Repräsentativstaates hinauskam, so entwickelte er dieselbe zwar noch an der Hand einer philosophisch-historischen Konstruktion, aber es handelte sich ihm dabei doch voran um ein politisches Ideal, das er ergriff. Er stellte den Staat als eine religiös-sittliche, nicht als eine spekulative Angelegenheit hin. Von hier aus bekämpfte er Hegel, der zwischen dem kritisch-subjektiv gerichteten Geiste der Aufklärung und dem historisch-objektiv gerichteten der Romantik nur eine „scholastische" Einigung vollzogen habe. An

Stelle

dieser „Scheinversöhnung" müsse eine neue Vermittlung treten: die des „historischen Rationalismus", der dazu fortschreite, aus der Idee Wirklichkeit zu gestalten. Es ist — im Kreise der Hallischen Lichtfreunde — praktisches Christentum, es ist liberale Politik, wozu Duncker auffordert. Auch für ihn, wie für Haym, bleibt die Universalität, die Tendenz zu vermitteln, charakteristisch, wenn man auch bei ihm nicht von einer eigentlich philosophischen Auseinandersetzung mit Hegel sprechen kann. Duncker brachte einfach das Politische in sich zur Vorherrschaft; sehr viel nüchterner und einfacher schied er die Gebiete als Haym, der auch innerhalb

des Geistigen, vom

Philologisch-

Empirischen aus, eine Scheidung von Hegel durchführte, und dann doch wieder, so sehr der Zug zur Gegenwart, zur Aktion bei ihm mitspielte, von der Politik zur Philosophie, zu einer Weltformel, in der viel von Hegel lebendig geblieben war, zurückstrebte. Wie für Haym, so war für Duncker die Revolution die Bewegung, die ihn erst an seinen rechten Platz brachte. In der Paulskirche war er nach Rößlers Urteil der überlegenste Kopf. Wohl mußte er an äußerer Wirkung vor glänzenderen Begabungen, vor den Vincke und Gagern, zurückstehen —

er blieb

immer, auch als politischer Redner, der Dozent — , aber in der Sache sah er klarer und nüchterner als die meisten auch seiner Partei, und in den Beratungen derselben gewann sein 5*

68 politischer Instinkt einen entscheidenden Einfluß. Seine große Leistung für das Frankfurter Parlament war der Bericht über die deutsche Oberhauptsfrage. Auf diesen, der sich für die erbliche Führung Deutschlands durch Preußen entschied, gingen die Beschlüsse der Versammlung, die zur Anerbietung der Kaiserkrone an Friedrich Wilhelm IV. führten, zurück. Man kann Duncker so als den rechten Vater der „Erbkaiserlichen" bezeichnen. Was ihn in dieser Frage und überhaupt in den Frankfurter Verhandlungen auszeichnete, war seine klare Erkenntnis der einzelstaatlichen Macht. An Preußen hing er, mit diesem Staate waren seine Ideale von Jugend auf verwachsen. Mit einer so scharfen dialektischen Konstruktion wie Droysen vermochte er das preußisch-deutsche Verhältnis nicht zu fassen und in seine Antinomien zu verfolgen. Dafür stand ihm das Nächste unmittelbar vor Augen. Er eilte, als die Revolution in Berlin ausbrach, alsbald in die Hauptstadt und reihte sich in die den König schützende Bürgerwehr ein. Er wollte in Frankfurt die Schaffung der Zentralgewalt durch Vereinbarung der Versammlung mit den Einzelstaaten hergestellt wissen. Er stimmte für die Nichtsistierung des Malmöer Waffenstillstandes, den Preußen mit Dänemark geschlossen hatte, durch das Parlament, er verteidigte das preußische Ministerium, als es die radikale Berliner Nationalversammlung auflöste. Von dieser Haltung aus freilich, die Preußen das Seine geben wollte, war er der Einigung der Nation nur um so leidenschaftlicher zugetan. Preußen durfte nicht wieder in seine eigene beschränkte Bahn zurückfallen. So ging er nach Gotha, wurde, neben dem ortsansässigen Becker, der Zweite Präsident der Versammlung; so warf er sich mit seiner ganzen Kraft, als unermüdlicher Werber und Agitator, in die schleswig-holsteinische Bewegung. Er durfte damals von sich sagen: „ohne mich schliefe Deutschland jetzt schon wieder viel fester, als es wirklich der Fall ist". Mit den schärfsten Waffen seiner Publizistik verurteilte er das Versagen der preußischen Politik in Olmütz und Dresden. Er schrieb seine „Vier Monate auswärtiger Politik", ein Buch, für das er zur Feststellung der Tatsachen, so

69 weit nur seine Beziehungen als Mitkämpfer reichten, eindringende historische Studien machte, un?, auf sie gestützt, mit dem System von Olmütz abzurechnen. Der Prozeß, der deswegen gegen ihn eröffnet wurde, kam, da der Verfasser mit weiteren Enthüllungen drohte, nicht zur Durchführung. Es war eine klassische publizistische Leistung, in der der Staatsmann, der Historiker und der Patriot sein bestes Können an den Tag legte, die für die Kritik, die die Allgemeinheit an der Politik von Olmütz vollzog, für das Urteil des Forschers wie für die Bildung der Legende von nachhaltigster Wirkung geworden ist. Es war ein Kapitel zur auswärtigen Politik, das er untersucht hatte. An ihr, an dem Gegensatze Preußens zu Osterreich und Rußland, war das Werk der Revolution und die vorsichtige Umbildung desselben durch Friedrich Wilhelm IV. und Radowitz gescheitert. Duncker hat damals diese Notwendigkeit nicht begriffen und, in seiner Agitation für Schleswig-Holstein, Preußen die Herausforderung auch einer friderizianischen Koalition zugemutet. So viel er damit von Preußen verlangte, so wenig war die Einsicht in die notwendige kriegerische Auseinandersetzung Preußens mit Österreich über die deutsche Frage eine dauernde Errungenschaft für ihn. Im Krimkrieg trat er lebhaft für die Teilnahme Preußens an der Seite der Westmächte gegen Rußland ein: der Gegensatz Preußens zu Österreich verschwand ihm vor dem zu Rußland und Frankreich. Die Konzeptionen, die er damals entwarf, hat Rößler, der schon früh einen eigenen politischen Blick besaß, später als „strotzend von falschen politischen Lehren" bezeichnet. Und doch sollte sein rastloses Bemühen, die auswärtigen Probleme aus dem geschichtlich verstandenen Augenblick abzuleiten, belohnt werden. Noch im italienischen Krieg werden wir ihn in den Bahnen, die Rößler tadelte, sehen; aber dann hat er



gerade als er in die engste Fühlung mit den Preußischen Jahrbüchern getreten war — sich selbst, noch bevor Bismarcks Beispiel mächtig wurde, durchgerungen zu einer freien staatsmännischen Anschauung Europas. Und als Bismarck das Ruder ergriff, war er vielleicht derjenige unter den Liberalen, der seiner

70 Politik mit dem größten Verständnis zu begegnen vermochte. Der Grund dafür mag mit in der hohen Stellung gelegen haben, die ihm bald nach dem Beginn der Neuen Ära in Berlin verliehen wurde. Während der Reaktionszeit hatte er die volle Mißgunst der Machthaber erfahren müssen, die ihn, der eben mit seiner Geschichte des Altertums hervorgetreten war, in keine ordentliche Professur gelangen ließen. Im April 1859 aber wurde er von Auerswald als Leiter der preußischen Regierungspresse nach Berlin berufen. Zwei Jahre war er über ganz Deutschland in unablässiger Bemühung tätig. Dann trat er, der Verteidigung einer Politik, der er weniger und weniger beizupflichten vermochte, müde, als persönlicher Berater in den Dienst des Kronprinzen (1861—1866) 1 ). Karl N e u m a n n . Unter den führenden Mitarbeitern der Preußischen Jahrbücher waren drei von Haus aus Preußen und konnten an ihrer Herkunft, so sehr sie sich Preußen nur denken konnten als Vollstrecker der Einheit der Nation, doch mit natürlicher Kraft festhalten: Haym, Duncker und Neumann. Bei Neumann nehmen wir im besonderen einen kräftigen provinziellen Einschlag in seinem Preußentum wahr. Das provinzielle Element, auf dessen Vorherrschaft im deutschen Parteileben vor 1848 wir hingewiesen haben, war zwar durch die Revolution zugunsten des nationalen stark zurückgedrängt worden, und gerade die Gothaer hoben das Nationale vor allem Partikularen auf den Schild. Doch behaupteten sich selbst im Liberalismus festere bodenständige Elemente. So waren die rheinischen liberalen Führer 1848. mehr darauf aus, innerhalb des preußischen Staates ihren Liberalismus zur Geltung zu bringen, als diesen Staat in dem ' ) In den Preuß. Jahrb. veröffentlichte er: „Preußen und England" (Bd. I), „Die Politik der Zukunft" (Bd. II), „Die neuere Geschichte Frankreichs" (Bd. III), „Politische Correspondenzen" vom April 1861 bis März 1862 (Bd. VII—IX), „Der Wiener Congreß und der zweite Pariser Friede" (Bd. XII).

71 nationalen Programm aufgehen zu lassen 1 ). Diese Provinzialismen waren historische Mächte, lebendige Fortwirkungen aus der territorialen Zeit. Einer der kräftigsten und eigenartigsten war der ostpreußische2), der einen festen Durchschlag in Neumanns Charakter bildet 3 ). Als Sohn eines Bäckermeisters 1823 in Königsberg geboren, verlebte er die Jahre bis zur Revolution in der heimatlichen Provinz. 1 8 4 2 bis 1 8 4 6 besuchte er die Königsberger Universität, wo der Historiker Drumann und der Statistiker Schubert seine nächsten Lehrer waren. Dann nahm er Stellen als Hauslehrer in ostpreußischen Adelsfamilien, unter anderen bei SauckenTarputschen, an. In de» ersten Zeiten Friedrich Wilhelms IV., als seine politischen Ansichten reiften, nahm Ostpreußen eine hervorragende Stelle in der oppositionellen Bewegung des Liberalismus ein; so auf den ständischen Landtagen der liberale Adel unter den Saucken, Auerswald, Brünneck, so die Universität in steigenden Konflikten mit dem Minister Eichhorn 4 ). Mit diesen Elementen der Opposition mag Neumann sich in jenen Jahren durchdrungen haben. Als er in der Revolution als Publizist, namentlich als Leiter der Königsberger Hartungschen Zeitung (1850/51), hervortrat, waren seine Anschauungen, war sein gemäßigter Liberalismus bereits entschieden. Er gehörte zu jenen „wohlgefügten Männern" G. Freytags 5 ), die, sich aus den deutschen Gelehrtenkreisen rekrutierend, damals einen so bedeutsamen Bestandteil der öffentlichen Meinung ausmach' ) Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat II, 6. 2 ) Vergi, etwa die hübsche Skizze Friediänders „Aus Königsberger Gelehrtenkreisen" (Erinnerungen, Reden und Studien 1,1905) und Herre, Von Preußens Befreiungs- und Verfassungskampf (1914). *) Vergi, über Neumann den schönen Nachruf von Josef Partsch (Ztschr. d. Gesellsch. f. Erdk. in Berlin XVII, 1882) ; ein Auszug daraus ist der Artikel in der Allg. dtsch. Biogr. XXIII (1886) von demselben. *) Vergi. H. Prutz, Die Kgl. Albertus-Universität zu Königsberg im 19. Jahrhundert (1894). Auseinandersetzung des Prorektors Burdach mit Eichhorn am Vorabend des 300jährigen Jubiläums der Universität (1844) über die Freiheit der Forschung und Lehre (S. 145). 5 ) Urteil Freytags über Röpell. Aus meinem Leben, S . 173.

72 ten. Drumann, dessen Forschungen über den Untergang der römischen Republik 1 ) zu einer Rechtfertigung des monarchischen Prinzips führten, und Schubert, der später Mitglied der Paulskirche und Erbkaiserlicher wurde, mögen ihn in seine Richtung geleitet haben 2 ). Den radikalen Charakter, den Sinn für das Entweder-Oder, den Friedländer den Ostpreußen zuschrieb, besaß er nicht. Vielmehr hatte er eine klare und feste Vorstellung von der sittlichen Notwendigkeit des Kompromisses in der Politik. Er übertrug auf sein politisches Verhalten das Prinzip jenes Mannes, der den ostpreußischen Charakter am gewaltigsten dargestellt und beeinflußt hat, das Moralprinzip Kants. Kants Nachwirkung war, anders als die Hegels, nicht gebunden an das Verständnis seiner theoretischen Weltansicht. Um den Hegeischen Geist mit der praktischen Richtung zu verknüpfen, bedurfte es einer so spannungsvollen geistigen Entwicklung, einer so eigenartigen philosophischen Begabung, wie wir sie bei einem Haym fanden. Bei Kant, dessen Kritik in der Begründung nicht des allseitigen, sondern des einseitigen, des einseitig moralischen Menschen bestand, gab sich das praktische Moment in einer viel leichter aufzunehmenden und politisch fruchtbar zu machenden Weise. S o ist es eine Macht in den preußischen Befreiungskriegen geworden; so hat es auf Boyen und vor allem auf Heinrich Theodor Schön, den langjährigen Oberpräsidenten Ostpreußens ( 1 8 1 6 — 1 8 4 2 ) , gewirkt. Wir wissen nicht ausdrücklich von Kantstudien Neumanns. Das wäre auch durchaus nicht das Entscheidende. Die Kantische Richtung war ein Moment der Gesinnung, das von Mensch zu l ) „Geschichte Roms in seinem Übergänge von der republikanischen zur monarchischen Verfassung", 6 Teile 1834—1844. Eis ist dieses Drumannsche Problem, das Neumann in seinen 'Vorlesungen über römische Geschichte (seit 1869) wieder aufnahm. Vergl. das charakteristische einleitende Kapitel seiner „Geschichte Roms während des Verfalls der Republik" 1. Band (aus dem Nachlaß 1881 hrsg. v. Gothein). *) Das „monarchische Prinzip" spielt noch in seinen „Politischen Korrespondenzen" für die Preußischen Jahrbücher eine bedeutsame Rolle.

73 Mensch

wirksam

orientalische,

wurde.

doch

Es

ist

auch einer

bezeichnenderweise Kantischen

der

Auslegung

alt-

fähige

Wahlspruch Schöns 1 ): „Tu das Gute und wirf's ins Meer



sieht's der Fisch nicht, sieht's der Herr", den auch Neumann auf sich anzuwenden liebte. Seine ganze Persönlichkeit war von Stil.

Kantischem

Die

gegen

sich selbst

unerbittliche

strenge war für ihn das oberste Gebot.

Rechts-

Ergreifend, wie

er

einem Freunde, als er sich durch eine unglückliche Verquickung der Umstände an eine ihm an sich nahe stehende Regierung als Offiziosus gefesselt sieht, über den Verlust seiner Reputation klagen zu müssen glaubt, wie er bekennt, daß er in eine Situation geraten sei, die ihm zur Schande gereiche. „Ich scheide von Ihnen — so schrieb er Haym 2 ) —

mit der ja allerdings

schüchternen Bitte, daß Sie mir Ihre Teilnahme nicht entziehen möchten. Ich trete in eine Bedientenstellung, wo Schmutz aller Art um meine Ehre fliegen wird, und zwei Jahre sind eine lange Zeit, aber ich habe zu mir das Vertrauen, daß ich den inneren Kern meines Wesens unangetastet bewahren werde." Auch

in

Neumanns

Staatsanschauungen

waren

Kantische

Elemente lebendig, seine Hochhaltung der rechtlichen Beziehungen auch im Völkerleben, seine Betonung der Staatsnotwendigkeiten gegenüber dem Volksmäßig-Bewegten 3 ), vor allem aber seine persönliche Beschäftigung mit der Politik überhaupt. Es waren nicht die Duncker beseelenden Motive eines Wirkens in einflußreichen Stellungen, was ihn zur Politik trieb, auch nicht der erst im vollen Leben seiner Zeit Lust und Kraft erlebende Haymsche Geist, sondern das Gebot der Pflicht, für die Nation zu wirken. Sein eigentliches Arbeitsfeld war die Geographie. Für sie entfaltete er, als Herausgeber der Zeitschrift für allgemeine Erkunde ( 1 8 5 6 — 6 0 ) , eine unermüdliche Tätigkeit, ihr 1 ) Vergl. den für das Verhältnis des Liberalismus zur Aufklärung und zu Kant interessanten Aufsatz Nasemanns „Heinrich Theodor Schön", Pr. Jb. Bd. V, H. 1—3. 2 ) 6. Dez. 1860. 3 ) Vergl. den Aufsatz L. Friedländers „Kant in seiner Stellung zur Politik" („Erinnerungen" 2. Teil).

74 galt sein erstes größeres Werk, über „Die Hellenen im Skythenlande" (1855). Daneben aber ging seine politische Tätigkeit, so seine Mitarbeit am Preußischen Wochenblatte (besonders in der Epoche des Krimkrieges), fortdauernd her. Ein langjähriger Prozeß, seit seiner Tätigkeit an der „Constitutionellen Zeitung", hielt seine Existenz in Berlin gefährdet und verbitterte ihm das Leben 1 ). Dennoch hielt er, bis er 1 8 6 3 als Professor für Geographie und alte Geschichte nach Breslau übersiedelte, an der Politik fest. ,,Für Gruner scheint es ganz unbegreiflich zu sein, daß ich mich für die Ausbreitung des Nummulitenkalkes interessiere und gleichzeitig Projekte über die Durchführung verwikkelter politischer Fragen auskalkuliere . . . Groß allerdings ist der Kontrast, aber zur Aufrechterhaltung meines Gleichgewichtes scheint er mir notwendig zu sein. Es tut mir unendlich wohl, mich von dem miserablen Treiben der Menschen der Betrachtung einer großen Natur zuzuwenden, und wenn ich von dieser stillen, beruhigenden und erhebenden Arbeit aufstehe, finde ich, daß ich auch das Treiben der Menschen gelassener beurteile, mehr

darauf

bedacht,

ihnen

durch zweckmäßige

Ratschläge

unter die Arme zu greifen als sie bitter zu kritisieren." Namentlich die Natur der Alpen war es, in die sich wissenschaftlich zu vertiefen, ihm Bedürfnis war. Allsommerlich besuchte er sie. So hat er, auf seine Objekte, Politik und Erdkunde, übertragen, den Kantischen Idealen von dem moralischen Gesetze in dem Menschen und dem gestirnten Himmel über ihm nachgelebt 2 ). T h e o d o r v. B e r n h a r d i . Die Herrschaft des Liberalismus in Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts entsprach der eigensten Bewegung des deutschen Geistes. Eine in sich verständliche Fortwirkung des „Der viel Verfolgte", so bezeichnete ihn Bernhardi noch anlässig einer Begegnung 1861 (Tgb. IV, 158). 2 ) Beiträge Neumanns in den Preuß. Jahrb.: „Die Engländer in Indien" (an der Spitze des 1. Bandes), „Politische Correspondenzen" vom November 1858 bis November 1860 (Bd. II—VI).

75 Hegelianismus lag in der Fassung, die Haym demselben gab. Und derch war der Liberalismus eine europäische Erscheinung und aufs tiefste verflochten mit den Verhältnissen der Mächte zu einander. Das begreifen wir, wenn wir seine Wurzel bei jenen beiden Hauptmitarbeitern der Jahrbücher untersuchen, die nicht aus Deutschland gebürtig waren oder doch nicht in deutschen Verhältnissen ihre politische Uberzeugung ausbildeten, bei Theodor v. Bernhardi und Anton Springer. Der Lebenslauf Bernhardis ist, bis sich der Fünfzigjährige dauernd auf deutschen) Boden niederließ, ein überaus wechselvoller gewesen. Familien- und Vermögensschicksale, Studien, Aufenthalte wechselten und brachten ihm die mannigfachste Berührung. 1802 in Berlin als Sohn des Sprachforschers und Schulmannes August Ferdinand Bernhardi und Sophies, der Schwester Ludwig Tiecks, geboren, verlebte er, nachdem sich die Eltern hatten scheiden lassen und die Mutter mit dem esthländischen Gutsbesitzer von Knorring ?ine neue Verbindung eingegangen war, die ersten zehn Jahre seiner Kindheit, die Epoche der napoleonischen Kriege, in Rom, Wien und München. Der Feldzug von 1 8 1 2 ließ den Stiefvater mit seiner Familie nach Rußland, auf sein esthländisches Gut Arroküll, zurückkehren, wo Bernhardi acht Jahre, die" Jahre seines früh erwachenden Tatenund Bildungsdranges, zubringen mußte. Sehnlich wünschte er, preußischer Offizier zu werden. Die Eltern aber, ganz in der literarischen Welt der Romantiker lebend, bestimmten ihn zum Diplomaten und schickten ihn 1 8 2 0 auf die Universität der Romantiker, nach Heidelberg, um allgemeine Wissenschaften-Geschichte (bei Schlosser), Staatsrecht, Mathematik, neue Sprachen — zu studieren. Im Winter 1823/24 verbrachte er einige Wochen 1 ) in Paris, dann ließ er sich von dem Wunsch der Eltern fünf Jahre in Mailand festhalten, viel mit kunstgeschichtlichen Stu*) Tg-b. I, 198f.; — dagegen: sechs Monate: Allg. dtsch. Biogr. 46 (1902). Der dortige — : von dem Sohn, dem General v. Bernhardi herrührende — Artikel läßt Bernhardi auch — nach siebenjährigem (?) Aufenthalt in Mailand — erst 1834 nach Berlin, und dann gleich nach Rußland zurückkehren.

76 dien beschäftigt. Seit 1 8 2 9 in Berlin, kehrte er 183-5, nach dem T o d e

seiner Mutter, durch die Verschlechterung

Vermögensverhältnisse

gezwungen,

seiner

nach Rußland zurück

und

nahm eine bescheidene Stellung an der kaiserlichen Kanzlei in Petersburg an, die ihm zur Fortsetzung seiner Studien freie Zeit ließ. Zu seiner Empfehlung in Rußland hatte er 1 8 3 4 ein Werk über die Beziehungen Rußlands zu Polen in französischer Sprache veröffentlicht. 1 8 4 8 kam seine bedeutende

national-

ökonomische Studie, „Versuch einer Kritik der Gründe, die für großes und kleines Privateigentum angeführt werden", heraus. Und aus Rußland übernahm er den Stoff zu den beiden großen historischen Darstellungen, die er nach seiner Rückkehr nach Deutschland (1851) verfaßte, zu den „Denkwürdigkeiten

aus

dem Leben des Grafen Troll", einer Militärgeschichte der Befreiungskriege, und zu seiner „Geschichte Rußlands und der europäischen Politik 1 8 1 4 — 1 8 3 1 " ( in Hirzeis Staatengeschichte). 1846 vermählte er sich mit der Tochter des Weltumseglers, des deutsch-russischen Admirals Krusenstern. D a s russische Leben selbst aber sagte ihm nicht zu. 1 8 5 1 verließ er, hauptsächlich durch die politische Lage getrieben, den russischen Staatsdienst und siedelte nach Deutschland über. Er kaufte das schlesische Gut Cunnersdorf bei Hirschberg, wo er fortan in wissenschaftlicher Muße seinen Studien lebte. Von dort war er vielfach unterwegs, er reiste nach Rußland zurück und nach Frankreich, er pflegte seine reichen gesellschaftlichen, auch höfischen Beziehungen in Berlin, er beriet sich dort in bewegten Zeiten mit seinen politischen Freunden Monate lang, zugleich mit archivalischen Studien beschäftigt. Später ließ er sich zu diplomatischen Sendungen verwenden; 1 8 6 6 empfahl ihn Moltke zum Militärbevollmächtigten in Florenz, 1 8 6 9 — 7 1 schickte ihn Bismarck nach Spanien. Und in der Tat, es ist der Weltmann, der fein und tief gebildete Diplomat, der uns in Bernhardi entgegentritt.

Ca-

roline Schelling, die ihn als sechsjährigen Knaben in München sah, fand an ihm „ d a s mimische Talent seines Oheims (Ludwig Tieck) und eine unglaubliche Gewandtheit und Anstand

des

77 Körpers". Und an dem Heidelberger Studenten tadelte Tieck, daß er die Aufführung „eines jungen Lords" habe. Als er, seit dem Beginn der Neuen Ära, durch den Hof in den Mittelpunkt der Politik gezogen wurde, verstand er es, sich seine Freunde in den sich bekämpfenden Lagern zu erhalten, sowohl unter den Altliberalen, den Duncker, Vincke-Olbendorf, Saucken, als in der Militärpartei; gern hörte Roon seine klugen Ratschläge und Moltke seine gediegene militärische Kritik. Und doch war der Diplomat mehr Form und Temperament als Wesen und Charakter in ihm. Gewiß, auch in seinem Charakter, seinem Handeln war eine etwas peinliche Art der Bewußtheit. Wir hören in seinem wechselvollen Leben von keiner Unüberlegtheit, keiner jugendlichen Hingabe. Er pflegte sich sehr genau zu nehmen und konnte nur schwer verwinden, wenn seine Absichten nach irgendeiner Seite mißdeutet wurden. Auch die Abfassung seiner Tagebücher hat eben in ihrer Gegenständlichkeit, in der Abstellung des persönlichen Lebens auf das Sachliche, in der durchaus unreflektierten Weise, in der sich die Gegenstände spiegeln, etwas merkwürdig Gehaltenes, Fertiges 1 ).

Eine

zierlich-schwungvolle,

sorgsam

interpungierende

Handschrift bezeichnet ihn. Aber dabei blieb er in der großen Welt, in der er verkehrte, der Mann der festen Überzeugungen, *) Freilich wird ein Versuch, aus den Tagebüchern ein Bild von der Persönlichkeit Bernhardis zu gewinnen, stark beeinträchtigt durch die Prinzipien, die bei der Herausgabe derselben maßgebend waren. Mochte es sich auch empfehlen, bei der Masse des Stoffes eine Auswahl zu treffen, die den Quellenwert der Tagebücher für die Zeitgeschichte hervortreten ließ', so bleibt es doch fraglich, ob statt der reichhaltig gegebenen kunst- und literarhistorischen Bemerkungen nicht mehr aus dem persönlichen Leben hätte eingelassen werden sollen. Eis scheint, daß man hier besorgte, zu sehr ins Intime zu gehen — eine Besorgnis, die bei Bernhardis objektiver Natur auch im Persönlichen nicht recht gerechtfertigt erscheint. Besonders zu bedauern ist, daß die Aufzeichnungen (die von Bernhardi 1834 begonnen wurden) für die ersten zwei Jahrzehnte, die Zeit des sich in der Fremde bildenden deutschen Politikers, nur in sehr starken Auszügen wiedergegeben sind (Bd. II, 1 - 7 8 ) .

78 der durchdachten Ansichten, der vielseitig und persönlich begründeten Bildung. Hier brachte er das Weltmännisch-Freie zu schöner Auswirkung. Er war in keine feste Schule gegangen, weder in der Kunst noch in der Wissenschaft noch in der Politik. Zur Romantik, die das Lebenselement seiner Mutter war 1 ), stellte er sich in starken Gegensatz. Von seinem Onkel Tieck hat er uns, aus dessen letzten Lebensjahren, interessante Gespräche in seinen Tagebüchern aufbewahrt. Die Unklarheit, die Flucht der Romantik in das Helldunkel, ihr willkürliches Spiel mit den Mächten der Geschichte war ihm zuwider. Seine gewissenhafte Forschernatur konnte sich

nicht

in

romantischer

Weise an der Vorstellung des organischen, Geschlechter verbindenden Wachstums der mittelalterlichen Dome erfreuen, sondern drang auf die Unzulänglichkeit und Unbeständigkeit des Mittelalters in Wirtschaft und Technik, von der ihm dieselben redeten. Das Leben war ihm, der in den germanischen, den romanischen, den slawischen Ländern herumgekommen war, ein historisch Bedingtes. Tiecks Behauptung, daß es keine Poesie der Völker, daß es „keine alte und neue, sondern nur gute und schlechte" Poesie gäbe, machte ihm „die Nichtigkeit des Treibens der Romantiker in ihrer ganzen Blöße und wesenlosen Hohlheit" klar 2 ). Freilich war das besonderer Tieckscher, nicht der allgemeine romantische Geist, wogegen er kämpfte. Die Anregungen der Romantik für das wissenschaftliche, das nationale Leben, besonders auf sprachlichem Gebiete, erkannte er an. Auch in der Wissenschaft war er keines Mannes Schüler; auch hier war es der Forschertrieb, der ihn unwillkürlich, auf Reisen und in seiner Büchereinsamkeit, leitete. Alle Verhältnisse, geistige, künstlerische, wirtschaftliche, politische, kirchliche, zogen ihn an. Er verknüpfte sie zu lebendigen Bildern, er sah die Völker als Organismen an, verstand ihr Dasein in Krieg ' ) „Oft hat meine Mutter mir wiederholt, die ganze gebildete Welt sei darüber einig, daß Kunst und Poesie das Höchste sei, was der Mensch erreichen könne (Tgb. I, 146). 2 ) Tgb. II. 119 f. (Mai 1852).

79 und Frieden aus dem Zusammenwirken aller ihrer Seiten, deren jede einzelne er mit eindringender Kritik beobachtete und abwog. Sein Sinn stand auf das Tatsächliche, das er überall einfach zu ergreifen suchte. Er wirft Ranke vor, auch das Nächste, Unmittelbar-Politische „in das Gebiet allgemeinster Anschauungen hinüberzuführen" 1 ). Er wertete die Triebfedern der Menschen unmittelbar. Die universalgeschichtliche wie die konstruktiv-philosophische Verknüpfung der Dinge lag ihm fern. In dem auf Natur und Geschichte gerichteten Forschersinn, wie er ihn übte, dürfen wir ein Goethisches Element in ihm erkennen. Seine Reiseschilderungen, die Erzählung seiner Jugendgeschichte 2 ) haben etwas von der Art Goethes, die Dinge zu sehen. Die Erinnerung an Goethe, der 1823 in Marienbad den dreitägigen Besuch des Studenten empfing und ihn zu einem Besudie in Weimar einlud, hielt Bernhardi in seinem ganzen Leben hoch. Goethisch war das Urteil gedacht, das er über die Romantiker fällte: „Licht und Klarheit vermeiden wäre der eigentliche Gehalt des Lebens!" Und über Tieck: „wie heilsam wäre es gewesen, wenn er sich in seiner Jugend mehr nach wirklichen Kenntnissen umgetan hätte". Und wiederum ein Ausspruch Tiecks über Goethe, der, wie er in den Tagebüchern wiedergegeben ist, in den Brennpunkt von Bernhardis Lebensauffassung führt: „,An dem Streben, sich von der Bedeutung der Dinge Rechenschaft zu geben, ist Goethe zugrunde gegangen!' Als ob der je zugrunde gegangen wäre!" Bernhardis mangelnde Neigung, bei allem Interesse für die Politik, für die Bewegung seiner Zeit, sich in den Vordergrund des Kampfes zu stellen, der vornehme Privatmann, der auch kein gelehrtes Amt annahm, sondern in emsiger, ebenmäßiger Beschäftigung und Erfahrung sein inneres Gleichgewicht suchte, gibt seinem Wesen den Eindruck eines Goethischen Menschentumes. Die schönste Stelle in seinen Tagebüchern vielleicht ist die Klage um Tgb. IV, 263: „wenig erbaut bin ich von dem berühmten Mann". -) In den fünfziger Jahren als Einleitung zu seinen Tagebüchern verfaßt (abgedruckt Tgb. I, 1—183).

80 den Sohn, den der Hochbetagte verlieren mußte: „Den 10. März 1872 starb mein herrlicher Sohn, Otto Reinhold Ludwig, den größten Aufgaben gewachsen, großer Taten fähig, und ein besserer Mensch als ich. Der Schöpfer hatte ihn viel höher gestellt als mich 1 )." Von dem umsichtigen und selbstsicheren Denker wird man nicht erwarten, daß er sich dem Doktrinarismus einer Partei hingeben werde. Und in der Tat ist Bernhardi nichts weniger als ein von Anfang an liberaler politischer Kopf gewesen. In seinem Werke über Polen und Rußland (1834) nahm er, entgegen den allgemeinen liberalen Sympathien jener Jahre, für Rußland gegen die Polen Partei, in deren geschichtlichem Charakter er nicht den Beruf zu einem eigenen Nationaldasein erkannte. Und sein Buch über das Privateigentum war eine von staatlich-ethischen Gesichtspunkten ausgehende Kritik der manchesterlichen Lehren des Liberalismus. Was ihn zum Liberalen machte, war ein Moment der äußeren Politik: das Verhältnis Rußlands zu Preußen. Der russische Legitimismus, den er während seines fast zwanzigjährigen Aufenthaltes in dem Petersburg Nikolais I. kennen lernte, war es, der auch Preußen in Banden hielt und Preußens Emanzipation aus der heiligen Allianz auf dem Wege der liberalen Bewegung von 1848/50 drohend entgegen trat. Mit Bangen" verfolgte Bernhardi von Petersburg aus die Ereignisse vor der Olmützer Entscheidung, freute sich über die preußische Mobilmachung, deren komplizierte Motivierung er nicht ahnen konnte. Die Einheit der Nation war der Gesichtspunkt seiner Politik, war die Wurzel seines politischen Liberalismus: „Zwei Hauptfeinde nährt Deutschland in seinem Innern, die [radikale] Linke und Osterreich", schrieb er 1848. Die reaktionären Mächte waren Preußen bei seiner deutschen Aufgabe entgegengetreten. Daher Jconnte diese nur von einem liberalen Preußen gelöst werden 2 ). In den Junkern sah er vor ') Tgb. IX, 533. 2 ) Noch 1860 meinte er, trotz der Schwierigkeiten bei der Armeereform, von der Hoffnung der Konservativen, der Liberalismus werde in Preußen bald abgewirtschaftet haben und einem reaktionären Mini-

81 allem die Gegner der d e u t s c h e n Aufgabe Preußens. So blieb sein Liberalismus stets an der nationalen Idee orientiert. Das Nationale war ihm das Allgemeine, dem er diente, dem er eine sachliche. Hingabe nach der Forderung Goethes widmete. So schritt er mit seiner Zeit fort, in einheitlicher Stimmung aus dem Deutschland Goethes in das Deutschland Bismarcks hinein. Charakteristisch sind die Worte, die er über Weimar schrieb, in dem er gleich den ersten Winter nach seiner Rückkehr aus Rußland verbrachte. Es wurde ihm klar, daß dort seines weiteren Bleibens nicht sein könne: „Warum war Weimar bedeutend unter Carl August? — Hübsche Verse an sich hätten es wahrlich nicht getan! — Was in Weimar geschah, stand im engsten Zusammenhang mit den umgestaltenden Fortschritten Deutschlands. Deutschland bedurfte einer verjüngten Literatur und Philosophie, um ein verjüngtes politisches Dasein hoffen zu dürfen oder auch nur wollen zu können . . . Soll Weimar seine alte Bedeutung wieder gewinnen, so müßten jetzt die Gagern, Auerswald, Camphausen, v. Arnim usw. Carl Alexanders Vertraute sein 1 )." Anton Springer. Neben Bernhardi, der unter dem russischen Legitimismus zum deutschen Liberalismus kam, Springer, der sich aus den österreichischen Verhältnissen zu ihm löste, — neben dem Sprößling aus dem geistigen Adel der Nation der Sohn des Klosterbräuers auf dem Hradschin! Als einen dreifachen Renegaten hat sich Springer bezeichnet: der Nationalität, der Sprache und der Resterium Platz machen müssen: „Das werden die allgemeinen europäischen Verhältnisse wohl unmöglich machen" (Tgb. III, 271). l ) Tgb. II, 112 (Jan. 1852). — In den Preuß. Jahrb. ließ er erscheinen: „Leibeigenschaft und Freilassung der Bauern in Rußland" (Bd. III), „Frankreich, Österreich und der Krieg in Italien" (Bd. IV), „Die Situation beim Regierungswechsel" (? vergl. S. 148, Bd. VII), „Die Situation in Italien und an der Eider" (Bd. VII), „Die französische Revolution und die historische Forschung" (Bd. VII), „Die europäische Weltlage" (Bd. VII), „Glossen und Enthüllungen zur Tagesgeschichte" (Bd. VIII), „Die inneren Verhältnisse Rußlands" (Bd. IX). Westphal 6

82 ligion. Geboren (1825) als Österreicher in tschechischer Umgebung und aufgewachsen in der Klerisei, wurde er als Mann zum Preußen, zum Deutschen, zum Protestanten 1 ). Wie ist er zu dieser Wandlung gekommen? In Prag zeigte sich ihm das Klosterleben aus der Nähe mit seinen abstoßendsten Seiten, sittlicher und geistiger Verkommenheit. Nur die Freude an Bildwerken, wie sie die Klosterkirche zierten, war es, die er als dauernden Erwerb aus dem Milieu seiner Jugend mitnahm. Dann hat ihm die Universität zu Prag, die einzige, wie er berichtet, an der damals deutsches Geistesleben in Österreich sich entfalten konnte, vollends der Kirche entfremdet. Durch den Professor Exner wurde er in die Philosophie Herbarts, durch einen wunderlichen Kreuzritterbruder Dr. Smetana in die Philosophie Hegels eingeführt. Smetana las mit ihm und dem Schauspieler Kolar die „Phänomenologie des Geistes", wobei sie wohl, von Kolar geführt, ihrer Begeisterung für die „souveräne Gewalt des Absoluten" durch lautes Deklamieren vom Tische herab Ausdrude verliehen. Springer berichtet, daß Hegel ihn damals innerlich nicht befriedigt habe. Von den Formen seines Denkens wurde er trotzdem nachhaltig beeinflußt, namentlich auf dem Gebiete, dem sich seine Neigung vor allem zuwandte, dem kunstgeschichtlichen. Das zeigt sich an seiner ersten publizistischen Leistung, an einem Aufsatze über die neuere Münchner Kunst, der in dem Organ der Junghegelianer, Schweglers „Jahrbüchern der Gegenwart", Aufnahme fand 2 ). Verweilen wir einen Augenblick bei dieser Abhandlung, die die beiden Seiten der Springerschen Natur, den Kunsthistoriker und den Politiker, in charakteristischer, durch die Abkunft von Hegel bestimmter Verknüpfung zeigt. „Die Situation ist malerisch, die Gestaltung plastisch; dies ist das Gebrechen . . . der christlichen Skulptur überhaupt." „Die Plastik erfordert, daß die Gestalt in sich konzentriert sich zeige, ') Vergl. seine Aufzeichnungen „Aus meinem Leben", 1891 seiner Frau überreicht, 1892 nach seinem Tode herausgegeben. *) Jahrgang 1845, November.

83 und das Auge, wo immer es die Beschauung anfangen mag, in der schönen idealen Form ruhen bleibe, der Blick, wohin er auch schweife, zur Gestalt zurückkehre. Die plastische Gestalt enthält so den vollständigen Gegensatz gegen das Wesen C h r i s t i . . . Die subjektiv vermittelnde Natur Christi kann nur durch die Beseelung des Auges, nur durch die Scheinwirklichkeit der Farbe wiedergegeben werden." Es ist regelrechter Hegelianismus, die Forderung nach Übereinstimmung der begrifflichen mit der geschichtlichen Entwicklung, was Springer hier vertritt: „DasChristentum läßt sich malen, aber nicht meißeln." Gegen den Begriff ihrer Zeit sündigt nach Springer die Münchner Kunst: „Wie herrlich wird es sich dem freien Volke unter dem Schatten einer ägyptischen Pyramide ruhen, wie begeisternd wird eine chinesische Pagode auf das freie Bewußtsein wirken!" „Die freie Kunst als unmittelbarer Ausfluß des modernen Geistes ist demokratisch, nimmt ihren Ursprung vom Volke." Die Münchner Kunst als Schöpfung eines Königs ist daher nicht einmal Lokalkunst, sondern „eine Privatunternehmung". Wie sollte überhaupt in Bayern der Boden für eine Kunstblüte gegeben sein, da dem Staate doch ein wahres konstitutionelles Leben fehlte 1 Es ist eine wunderliche, nicht eben feine Mischung aus Romantik und Zeitgefühl, die

Springer hier vorträgt. Er, der in der

mittelalterlichen

und barocken Pracht Prags groß geworden und bei all seiner Aufklärung von dem Stimmungshaften dieser Kultur ergriffen worden war, mochte freilich dazu kommen, in der Kunst eines königlichen Willens nichts Organisches zu erkennen. Doch noch in einer anderen Richtung nahm der romantische Begriff des Volksgeistes, mit dem er operierte, einen dogmatischen Zug an. Er sah in ihm die Weltvernunft mächtig, an die er ganz hegelisch glaubte, und die er liberal, ja demokratisch interpretierte. Gerade an der Ästhetik mußte es sich aber zeigen, wie wenig sich aus dem echten Hegeischen System eine praktische Richtung ableiten ließ, wie wenig die Vernunft, die Hegel in alles Gewordene hineinproizierte, auch zum Maßstab der zukünftigen Entwicklung zu werden vermochte. Springer hatte damals diese Unmöglichkeit noch nicht erkannt und war über die Grundlage der Fortentwick6*

84 lung der Kunst nicht im Zweifel: „Die Könige, wenn sie es wirklich gut meinen, mögen vor allem den Völkern Freiheit gönnen; für die Kunst werden diese sahon selbst zu sorgen wissen." Es ist das Eigenartige an ihm, daß er diese Universalität, in der für die Selbständigkeit des einzelnen schöpferischen Triebes, des politischen,. des künstlerischen, kein Raum war, frühzeitig überwunden, die universale Richtung nun aber nicht, wie Haym und Duncker, durch das Praktische umgebildet und sich erhalten, sondern in zwei unverbunden nebeneinander herlaufende Sonderrichtungen zerlegt hat. Er entdeckte sich die Empirie, die Einzelwissenschaft; er wurde der Begründer der modernen Kunstgeschichte und ein Spezialkenner auf dem Gebiet der österreichischen Geschichte und Politik. Beide Gebiete verknüpfte er nicht mehr durch Realunion, sondern durch Personalunion: ein besonderer Typ in der Entwicklung der deutschen Wissenschaft aus dem philosophischen in das empirische Zeitalter. Er kann sich an geistiger Spannkraft nicht mit Haym, an politischem Ernst nicht mit Duncker messen 1 ). Die Trennung und Beibehaltung der beiden Gebiete hatte bei ihm etwas von dem resoluten Zugreifen, das. er in den wechselnden, unruhigen Anfängen seines Lebens gelernt hatte. Noch manche Jahre, wie ihn seine jugendlich bewegliche, überall offen ausströmende Natur trieb und materielle Nöte ihn drängten, durchkreuzten sich österreichische und kunsthistorische, wissenschaftliche und politische Studien. Wenn aber schließlich die Kunstgeschichte sein eigentliches, sicher bestelltes Arbeitsfeld werden sollte, so hat er doch auch die österreichischen Dinge durch seinen Beitrag zu Hirzeis Staatengeschichte mit einer wertvollen, durch Autopsie sogar quellengeschichtlichen Wert erhaltenden Leistung bereichert2). Um Autopsie war es ihm, war es dem Empiriker, der in ' ) S o lassen sich auch seine im Alter verfaßten Erinnerungen an durchgebildeter Kraft der Erlebnisse nicht mit den Erinnerungen Hayms vergleichen. „Alles ging ganz einfach und natürlich zu" (S. 1). s ) „Geschichte Österreichs seit dem Wiener Frieden" (1809—1849), 1863, 1865.

85 ihm steckte, überhaupt in erster Linie zu tun, auf künstlerischem wie auf politischem Gebiete. Erweckt wurde er zu dieser Richtung durch die italienische Reise, die er im Winter 1846/47 unternahm. In Venedig drückten ihn noch die Hegeischen Formeln — als ein anderer kam er über die Alpen zurück: „den historischen Studien gewonnen". „Die Entwicklung des Schönheitsbegriffes ließ sich der zeitlichen Folge der Kunstweisen durchaus nicht anpassen, die Kunstwerke sträubten sich beharrlich, als bloße Beispiele der verschiedenen Kategorien zu gelten. Dort Zwang, hier Freiheit, dort Eintönigkeit, hier größte Mannigfaltigkeit, dort ein erträumtes Reich, hier fester Boden, dort ein Schaukeln in Wolken, hier eine lebendige Welt, im Volke sicher wurzelnd, dessen liebste Gedanken und Empfindungen widerspiegelnd 1 )." Die Abkehr von Hegel besiegelte er, merkwürdig genug, eben in dem Kreis der Hegelianer zu Tübingen. Seine Dissertation war eine Kritik der Hegeischen Geschichtsphilosophie: „Die Häutung gelang." Reisen nach den Niederlanden und England dienten der weiteren Vertiefung seiner historischen Studien. Und diese haben dann nicht nur den Philosophen, sondern auch den Österreicher in ihm niedergeworfen. Er war nach Tübingen gegangen, weil die Historie an keiner österreichischen Universität eine Stätte hatte. S o ist er recht eigentlich ein Wissenschaftsdeutscher geworden. Freilich nicht so glatt vollzog sich die Loslösung von Österreich; die Bewegung von 1848 trieb ihn nochmals in seine Heimat zurück. Leidenschaftlich, noch mit vollem demokratischen Ton, hatte er sie von Tübingen aus begrüßt: „Aufgepaßt! Es kommt die Flut!" — s o beginnt eine seiner „Rundschauen" in Schweglers Zeitschrift 2 ) — „ S o kann denn endlich das politische Schiff Deutschlands in die offene See stechen... Aber nur rasch vom Stapel gelassen, Und nicht erst sich gründlich umgesehen, ob nicht kommunistische Klippen drohen, ob der Wind vom Welschland her auch anhält und unserer Richtung günstig ') „Aus meinem Leben", S. 99. 2 ) Jg. 1848, N. 25 (Ende März).

86 ist! . . . . Die Kommunistenfurcht und die Landwehrbegeisterung, das sind die beiden Schlagbäume, die unseren Freiheitsbewegungen den Weg abzuschneiden drohen." Und er wendet sich gegen die eingebildete sozialistische wie die französische Gefahr: „Der Bestand der Republik ist durch soziale Reformen nicht gefährdet... Diese Kämpfe werden innerhalb der Republik ausgefochten werden"

Und: „laßt nur eure stehenden Heere mit ihren auf der

Parade ergrauten Führern gegen die kampfgeübten Franzosen anrücken, sie werden ein zweites Valmy, ein zweites Jena finden . . . Die Grenze im Osten ist ärger gefährdet." Nach Osten, wo ihm die politischen Verhältnisse vertraut waren, eilte er. In Prag und Wien war er für das „Konstitutionelle Blatt aus Böhmen" tätig. Im November 1 8 4 8 habilitierte er sich an der Prager Universität. Er muß ein flammender Redner, wenn auch wohl mehr durch sein Temperament als durch seine Diktion, gewesen sein. Die Vorlesungen über das Zeitalter der Französischen Revolution 1 ), die er vor über 5 0 0 Zuhörern hielt, haben ihn „zu einem populären Manne in Böhmen gemacht". Mit der einsetzenden Reaktion gab Springer die Journalistik auf. Als er, auf dringendes Ansuchen seines späteren Schwiegervaters Pinkas, eines Führers der Reichstagsrechten, noch einmal die Leitung eines Prager Blattes, der „Union", übernahm, machte Schwarzenberg, den er persönlich aufs heftigste angriff, seiner Tätigkeit bald ein Ende (November 1850). Noch holte er sich die Braut aus Böhmen, dann siedelte er als Privatdozent der Kunstgeschichte nach Bonn über, wo er in dem Kreise seiner Parteigenossen, vor allem im Hause Dahlmanns, die freundlichste Aufnahme fand. Wann er politisch zum Deutschen

geworden

war, darüber finden wir keine bestimmte Nachricht 2 ). In der *) Später im Druck erschienen: „vielleicht ein gutes Stimmungsbild, wie das junge Geschlecht im Jahre 1 8 4 8 dachte und zur nächsten Vergangenheit sich stellte" („Aus meinem Leben", S. 138). 2

) „Seit ich das deutsche Leben kennen gelernt und eine nähere Einsicht

in die Zustände Österreichs gewonnen halte, galt mir als Eckstein meiner Politik die Ausscheidung Österreichs aus dem Deutschen Bunde, die ausschließliche Leitung des letzteren durch den preußischen S t a a t " (a. a. 0 . 1 7 4 ) .

87 „Union" trat er bereits entschlossen für den Austritt Österreichs aus dem Deutschen Bund und für die Sicherung seiner Machtstellung auf dem Balkan ein. Distanz und Erlebnis ließen ihn gerade an der österreichischen Frage zu einem nüchternen, realpolitischen Denker werden. Wir werden sehen, daß er als solcher unter seinen liberalen Freunden weit fortgeschritten war 1 ). H e i n r i c h von T r e i t s c h k e . In zwiefacher Hinsicht nimmt Heinrich von Treitschke den anderen Hauptmitarbeitern der Jahrbücher, die wir betrachtet haben, gegenüber eine besondere Stellung ein: er gehörte einer anderen Generation und einem anderen Vaterlande an. Wohl ist der Altersunterschied zwischen ihm (geb. 1834) und den Springer und Neumann geringer als zwischen diesen und Bernhardi, wohl steht Haym in der Mitte zwischen ihm und Duncker; dennoch geht der Schnitt der Generationen zwischen allen jenen einerseits und Treitschke andererseits hindurch — der Schnitt: die Revolution von 1848. Jene alle wuchsen in dem geistigen Deutschland des Vormärz auf, Philosophenjünger, die die Revolution noch als Problem, noch nicht als ein Faktum aufgenommen hatten, die andere Voraussetzungen, andere Erlebnisse und darum auch andere Wertungen haben mußten als Treitschke. Sie waren die Schüler Hegels gewesen, er wurde der Schüler Dahlmanns. Und dann: sie waren Preußen, Geburtspreußen oder Wahlpreußen, seit der und durch die Revolution. Ihr preußischer Charakter war die feste, selbstverständliche und unbestrittene Grundlage ihres politischen Treibens. Immer mehr wuchsen sie mit ihm in ihre deutschen Aufgaben hinein. Anders Treitschke. Leidenschaftlich war auch er diesem Staate zugewandt, und das Beste von den Kräften, die derselbe mitzuteilen, hatte, eine große Gesinnung, erfüllte ihn ganz. Aber er selbst stand nicht auf preußischem Boden. Er war geborener Sachse, er lehrte und lebte in Sachsen, sein Vater war sächsischer General. Und er l ) Springers — ausschließlich den österreichischen Verhältnissen geltende — Beiträge zu den Preuß. Jahrb. zusammengestellt S. 109, Anmerkung 2.

88 konn.te in Sachsen nur den Gegner Preußens sehen; er sah in der sächsischen Politik ein System, das verwurzelt war in allen dem Ziele Preußens in Deutschland entgegenlaufenden Richtungen. Und er fand keine Lösung für diese Gegensätze vor, der er mit beruhigter Einsicht hätte vertrauen mögen. Wohl dem großdeutsch-kleindeutschen Problem, dem Verhältnis Österreichs zu Preußen, nicht aber dem engeren deutschen Problem, dem Verhältnis Preußens zu den Mittelstaaten, schien ihm die Paulskirche vorgearbeitet zu haben. Für einen deutschen Staat unter preußischer Führung schienen ihm in Sachsen und in den anderen Mittelstaaten keine Elemente gegeben zu sein. So mußte hier die Lösung erst erkämpft werden, so mußte er sie selbst mit durchdenken und durchkämpfen, so mußte der Kampf für Preußen zugleich ein Kampf gegen seine Heimat für ihn werden: sein Preußentum trug einen ungleich aggressiveren Zug als das seiner Mitarbeiter an den Jahrbüchern. Und in diesen Unterschied der Herkunft wirkte der Unterschied der Generationen wieder hinein. Während Duncker, Haym, Springer selbständige, durch ihre Geschicke gereifte Männer, bekannte Namen der Partei waren, war Treitschke, der junge Dozent, an die Universität seines Landes und an die Wünsche seines Vaters, des Generals, gebunden. Hier lag der Stoff zu einer tragischen Verwicklung. Sie ist an Treitschke nicht vorübergegangen. In dem Schicksalsjahr 1 8 6 6 hat sich der Vater öffentlich von dem Sohne losgesagt. Doch liegt das über die Grenzen, in der wir den Helden betrachten, hinaus.

Wir sehen ihn wachsen und werden, wir

sehen, wie persönliches und nationales Leben in ihm zusammenwirkt, um erst den Helden aus ihm zu machen, den Mann, den die nationale Katastrophe zugleich als ein Schicksalsschlag im eigenen Haüse treffen konnte. Und auch in diesem Werden und Wachsen des Mannes sind entgegengesetzte Kräfte, feindliche Elemente mächtig gewesen; sein Bildungsgang bereits forderte seine Natur zur Einsetzung

und Ausgleichung starker innerer

Kräfte heraus. Auch hier in seinen Studien- und ersten Dozentenjahren, noch nicht auf dem Markte der Nation, auf den es ihn hinausdrängte, noch in der einsamen Stube des unendlich fleißigen

89 Gelehrten, auch hier ist volles Leben, sind es höchste Bestrebungen, die sich im Räume stoßen, die in einer Kette von Aufsätzen ihren ersten bewegten, oft großartigen Niederschlag, selten schon ihren vollen Ausgleich finden, und die dann schließlich doch mehr von außen als von innen in eine feste Richtung getrieben worden sind — nicht ohne kostbare, freiere Ansätze zu knicken. Doch das Ergebnis dieser Jugendkämpfe faßte er als Mann zusammen; er wahrte sich die Freiheit weiteren Schaffens, indem er sich zu der Notwendigkeit bekannte, die seinem Leben die Richtung gab: zur historisch-politischen Wirksamkeit. Auf Treitschkes äußeres Leben brauchen wir nicht einzugehen 1 ). Es war, abgesehen von den großen nationalen Fragen, die ihn von früh auf bewegten, wesentlich er selbst, der sich erzog. Auf den Universitäten — Bonn, Leipzig, Göttingen, Tübingen, Heidelberg — hat er seines Gehörleidens wegen die Vorlesungen nur wenig besuchen können. Nur wenige Professoren, wie Dahlmann, haben da lebendig auf ihn gewirkt. Und die Studien, die er trieb, — überwiegend staatswissenschaftliche und nationalökonomische 2 ) — waren damals nicht das eigentliche Bildungselement, in dem er lebte. So dürfen wir hier die Persönlichkeit in ihrer inneren Entfaltung in das Auge fassen, dürfen ihn so nehmen, wie er sich in den Preußischen Jahrbüchern zuerst aussprach, nicht als den Politiker, auch nicht so sehr als den gelehrten Rezensenten, sondern als den Ästhetiker, den Kritiker namentlich der Literatur seiner Zeit, dann auch als den Erzähler alter und neuer Tage der deutschen Geschichte, den Vorbereiter seines Lebenswerkes, der „Deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts". Das Leben trat ihm in der Form eines großen Gegensatzes entgegen, den er auf das tiefste empfand und dessen Hinausführung wir als den eigentlichen Inhalt seines vorpolitischen Wirkens ') Am schönsten zusammengefaßt in Mareks Gedächtnisblatt zum zehnjährigen Todestag-: „Heinrich von Treitschke", 1906. Einzelne Momente seiner Entwicklung besonders tief herausgehoben von Meinecke in einem Aufsatz aus „Preußen und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert" (1918). 2 ) Auch seine Dissertation behandelte ein volkswirtschaftliches Thema, die Kontroverse über die Produktivität der Arbeit.

90 bezeichnen dürfen. Es war der Gegensatz zwischen Kunst und Zeit, zwischen dem Ideal künstlerischer Gestaltung, das ihn beseelte, und dem auf politische Fühlung angelegten Charakter seiner Zeit, dem er sich innerlich verwandt wußte. „Ich möchte in keiner anderen Epoche leben" — so schrieb er dem Vater unter dem Eindruck, den die Lektüre eines ästhetischen Aufsatzes von Schiller in ihm hinterlassen hatte —•; „es ist etwas Großes in dem stürmischen Fortschreiten dieser Zeit, die bereits gleichgültig über Bord wirft, was vor 10, 20 Jahren noch alle Gemüter entflammte: aber es ist unendlich schwer, bei dieser Vielseitigkeit und dem zähen Wechsel der Interessen zu jener ruhigen harmonischen Menschenbildung zu gelangen, die dem Leben seinen Wert gibt. In der Politik, in der Technik zeigt sich das Große solcher Tage; die Kunst leidet unsäglich darunter" 1 ). Die Kunst stieg Treitschke ganz unmittelbar aus lebendigem Verlangen auf. Das trieb ihn zum Dichten, das sollten seine Gedichte spiegeln: „wie warm ihm das Leben mit seinem Gestaltenreichtum zum Herzen sprach und daß er mit frischem Mute dareinschaute" 2 ). Das war es, was ihn dazu trieb, in den Briefen an seine Freunde die ganze Fülle seines Lebens, seinen Ernst und seinen Humor, seinen Zorn und seine Begeisterung auszusprechen, von seinen Interessen und seinen Erinnerungen zu reden; vielleicht sind sie, die uns jetzt in drei Bänden vorliegen 3 ), die schönste, ja die einzige Offenbarung dieses lebendigreinen Künstlertums. Künstlerischer Trieb war es, der ihn auf die Wanderung durch die deutschen Gaue führte. Wo ist unser Vaterland, seine Natur, seine Geschichte, in zugleich so mächtigen und feinen Bildern geschildert worden, wie sie diese Treitschkeschen sind? „Ich habe seit gestern der Sächsischen Schweiz viel Unrecht abgebeten. Ich habe sie jetzt in Ruhe belauscht, von den ersten Morgenstunden, wo die Nebel noch auf den Tälern liegen, bis zu dem wunderbaren Spiel der Wolkenschatten um Mittag und bis

») Briefe II, 79. ) E b d . 1,440. 3 ) Bis 1870 reichend, hrsg. vor Cornicelius 1912/1917. 2

91 zum Sonnenuntergang, wenn der Spiegel des Flusses eine Kette feuriger Kreise bildet" 1 ). Oder seine Schilderung von der Pfalz: „Ich stand auf der Madenburg abends, als gerade ein Wetter sich verzog, und dies Gewölk zerrissen um die Felsen flatterte; es war herrlich, wie das graue Knechtsgeschlecht der Wolken sich an die herrischen Burgen herandrängte, zurückfloh und zerstob — und dann der Blick in die weite Ebene, dieses gottgesegnete Land, das prächtige Volk so lebhaft und so heiter, in rechtem Gegensatz zu den langsamen, oft grüblerischen Schwaben" 2 ). Das Verlangen seiner Kunst sind große Gegenstände, erhabene Formen, „freie Atmosphären". Darum zogen ihn historische Stoffe vor allem an, darum versuchte er seine Kraft immer wieder an dramatischer Gestaltung; den Ordensmeister Heinrich von Plauen, den Erzbischof Anno von Köln .dachte er in dramatischen Gedichten darzustellen. Der Kern seines Wesens war aus Gesundheit und Vollkommenheit, aus Kraft und Harmonie zugleich gebildet. Erschütternd, wie er selbst, der mehr und mehr der Taubheit verfiel, dies Ideal in seiner Strenge bewahrte und den Trost der Leidensgenossin, aus der Not eine Tugend zu machen und das Glück der Stille zu preisen, nicht annehmen wollte: „Ich kann das Bild — nennen Sie es immer ein ästhetisches Traumbild — einer an Leib und Seele vollendeten Menschheit, das ich im Herzen trage, nicht daraus verbannen, ich kann der Trauer nicht wehren, daß ich diesem Bilde so viel ferner bleiben muß als die meisten anderen 3 )." Welche Ausdrucksform war nun die dieser aus Lebensdrang und Harmonie gleichmäßig komponierten Persönlichkeit gemäße? Der Künstler? der Historiker? der Politiker? Treitschke hat sich diese Frage brennend Jahre hindurch immer wieder vorgelegt, sie hat ihn nach Schiemann besonders in Göttingen (1855 — 57) gequält 4 ). ') ) S. 85. 3) *) !

Briefe 11,28. Schiemann, „H. v. Treitschkes Lehr- und Wanderjahre" (1898) An Gustava von Haselberg Briefe I, 473. Siehe das Kapitel „Die Krisis" bei Schiemann.

92 Aber noch für den Sommer 1861 fordert er Mußö zu poetischem Schaffen 1 ). Wenn man seine poetischen Veröffentlichungen, „Die vaterländischen Gedichte" (1856) und die „Studien" (1857), zu Rate zieht, so empfindet man, daß mehr ein Prediger als ein Poet in ihnen steckt, daß der Stoff zu stark vom Wollen des Augenblicks durchsetzt ist, um sich in ein Allgemein-Gültiges aufzulösen, die sprachlich edle Form aber dem Stoffe seine Unmittelbarkeit entzieht und als bloßes Pathos wirkt. Treitschke blieb als Lehrer und Kämpfer zu stark seiner Zeit verpflichtet, um ein Dichter unseres Nationallebens im Stile Schillers werden zu können. Er bezeichnet einmal die Notwendigkeit, ganz dem Augenblick zu leben. Für ihn eben war das Leben nationales Leben ; so übertrug er seinen Glauben, daß „Kunst und Leben in keinem feindlichen Gegensatz ständen" 2 ), auf dasselbe. Er kritisierte den Dichter in Hebbel mit dem Vorwurf: „Gerade die schönste uud herrlichste Erscheinung unserer Tage, das Emporwachsen unseres Volkes zum staatlichen Leben blieb diesem verdüsterten Auge verborgen 3 )." So mußte er vorgehen, mutig und groß, wie er gestimmt war. „Wie sich dies Doppelleben — zwischen Kunst und Wissenschaft — nodi gestalten wird, weiß ich nicht ; doch habe ich die feste Vorahnung, daß es glücklich sein wird*)." Das Glück, das er seinem Doppelleben erringen zu können ahnte, wurde ihm dadurch zuteil, daß er eine untrügliche Einsicht in das Eigengesetzliche, das Ewige wie der Kunst, so jeder wertvollen menschlichen Tätigkeit hatte. Dies Eigene der Kunst war ihm heilig 5 ), er erkannte ihre Autonomie an und verzichtete lieber darauf, was ihn am tiefsten bewegte, das Vaterländische, dichterisch auszusprechen, als die Poesie durch Alltag und Prosa zu entweihen 6 ). Er warf Blättern wie den Preußischen Jahr0 Briefe II, 130. Ebd. I, 459. 3 ) Aufs. I, 466. 4 ) Briefe I, 459. ' ) Ebd. II, 83. e ) Sich selbst charakterisierte er, wenn er von Milton 1860 schrieb : 2)

93 büchern — wie Haym in literarischen Dingen dachte, nicht mit Unrecht — vor, daß sie alles künstlerische Leben über den gleichen parteipolitischen Leisten schlügen. Er fürchtete für seinen „Gottfried Keller": „Keller ist ein Radikaler, und wie darf den ein Gothaisches Blatt loben!" 1 ) So war es der Dienst der Nation, der es in ihm über den Dienst der Kunst davontrug. Aus dem Reichtum, aus Ernst und Milde seines Wesens hatte er auch diese umfassen wollen. Nun erkannte er, daß „Charakter und Halt dem Menschen erst werde, wenn er ein großes objektives Interesse gefunden habe, um das sich all sein Denken wie um einen Brennpunkt versammele" 2 ). Und dieses große Interesse ward ihm die Nation. Sein Anschauen, Handeln und Glauben faßte sich hier in eins, hier war für ihn, mochte dem Einzelnen auch sein Recht nicht immer werden, mochten manche Ansätze zu einem feineren und unbefangeneren Verhalten, die der junge Treitschke gepflegt hatte, dabei verloren gehen, das Element seines Lebens, das von a l l e n Antrieben seiner Natur erfüllt war, ihr fester Grund, zu dem sie von jeder einseitigen Auswirkung zurückzukehren vermochte. So fand der Kämpfer seines Wesens Einheit: in dem Erleben und Darstellen der nationalen Idee. Wenn er einmal tiefsinnig meinte, daß die Deutschen „so eigen zu ihrer Geschichte stünden" 3 ), so hat er auf diesen Zug selber schöpferisch eingewirkt. Das stolze Stehen und Staunen vor dem Reichtum und den schweren Schickungen unserer Geschichte haben wir von ihm 4 ). „Er erfuhr, welch ein Segen für den Poeten darin liegt, wenn er auch der ungebundenen Rede mächtig ist, damit er nicht nötig habe, die Muse zu mißbrauchen für die endlichen Zwecke, zu deren Verfolgung die Härte des Lebens unerbittlich zwingt" (Pr. J r . VI, 424). *) Briefe II, 59. Hierin opponierte er besonders Julian Schmidt. ) Ebd. I, 431. 3 ) Pr. J b . X, 96 („Das deutsche Ordensland Preußen"). 4 ) Für die Preuß. Jahrb. schrieb er 1858 bis 1863 zwölf historischliterarische Aufsätze: „Die Grundlagen der englischen Freiheit", „Heinrich von Kleist" (1858), „Zeitgenössische Dichter I—IILOtto Ludwig. Ein Schweizer Poet (Gottfried Keller). Friedrich Hebbel" (1859—1860;, „Das Selfgovernment", „Milton" (1860), „Die Freiheit", „Hans von 2

94 Die übrigen

Mitarbeiter.

Betrachten wir den gesamten Kreis der Mitarbeiter, so treten uns unter den fast 100 Autoren, die für die ersten sechs Jahrgänge gewonnen wurden, Namen von bestem Klang entgegen. Aus Halle selbst nahmen der Dichter und Schulmann Nasemann, der Haym zeitweilig die Redaktion, abnahm 1 ), Eckstein und Hinrichs, der Sohn des Hegelianers, teil; aus dem freundschaftlich benachbarten Coburger Kreise der Präsident Francke und der Hofprediger Karl Schwarz, aus Jena und Italien Erdmannsdörffer. Aus Schlesien, dem anderen Entstehungsgebiet der Zeitschrift, meldeten sich Mommsen, der Historiker Grünhagen, der Jurist Wasserschieben 2 ). Doch ist die schlesische, radikalere Richtung in den Jahrbüchern mehr und mehr zurückgedrängt worden. Duncker, nicht Mommsen behauptete die Herrschaft in ihnen. Aus Ost- und Westpreußen sind Wilhelm Schräder, ein naher Freund Hayms 3 ), der Elbinger Gymnasialdirektor Kreyßig und Ludwig Friedländer, vom Rhein außer Springer Otto Jahn, Löbell und Hälschner zu nennen. 4 ) Ein großer Kreis aus Süddeutschland schloß sich an: aus Baden Jolly, Häußer, Mathy, Robert von Mohl, D. F. Strauß; aus Schwaben Pauli, Klüpfel, W . Lang; ferner Sigwart und Schmoller, die beide in Tübingen zu Dunckers Füßen gesessen hatten; aus Bayern Baumgarten, M. Barth und Aegidi, die dem Sybelschen Kreise nahe standen; aus Österreich der einzige Theodor Sickel. 5 ) Gagern" fl861), „Das deutsche Ordensland Preußen" (1862), „Karl August von Wangenheim", „Zum Gedächtnis Ludwig Uhlands" (1863); ferner zwei Korrespondenzen aus Süddeutschland (1861) und eine aus Sachsen: „Die Zustände des Königreichs Sachsen unter dem Beustischen Regiment" (1862); daneben lieferte er mehrere Broschürenbesprechungen. *) Haym, „Erinnerungen", S. 277. '*) Über Röpells schriftstellerische Teilnahme, die in dem Artikel der Allg. dtsch. Biogr. angegeben wird, ließ sich nichts ermitteln. 3 ) Dessen reicher Briefwechsel mit Haym 1858—1863 mir vorlag. 4 ) Dahlmann lehnte die Teilnahme, um die ihn Haym besonders angegangen, ab (Springer II, 415 f.). 6 ) Anfangs erklärte er nicht beitreten zu können. Vergl. seine Motive in dem Brief an Haym vom 26. 12. 57 (Anlage III).

95 Die Leipziger Freunde hatten, bis auf Treitschke, ihr Organ in den Grenzboten. Von Berlin aus, wo Duncker seit 1859 die Regierungspresse leitete, wirkten, außer diesem, Neumann und Bernhardi, mit: aus der liberalen Fraktion des Abgeordnetenhauses Lette, Vincke-Olbendorf und Twesten; ferner Aegidi 1 ), Baumgarten 2 ), Wehrenpfennig, Geffcken, der Verleger Veit, Dilthey. Ferner waren Waitz aus Göttingen, Gildemeister aus Bremen, Gabriel Rießer aus Hamburg zur Stelle — alle drei bereits Politiker des Jahres 1848 — und Eduard Zeller aus Marburg, der einzige Hegelianer, der Haym, wie dieser als Herausgeber klagte, treu blieb 3 ). Überblickt man den Kreis dieser Männer, so zeigt sich, daß er sich ganz überwiegend aus Gelehrten zusammensetzte. Es war eine Versammlung von Gelehrten, wie sie an keiner dem allgemeinen Leben dienenden deutschen Zeitschrift wieder zustande gekommen ist 4 ). Damit spiegeln die Preußischen Jahrbücher einen ganz bestimmten Moment deutscher Geistesgeschichte: den Durchgang der nationalen Bewegung durch die Wissenschaft, den Augenblick, in dem die nationale Bewegung in erster Reihe von Vertretern der Wissenschaft ihre Antriebe erhielt. Ihren Höhepunkt hatte diese Entwicklung in der Versammlung der Paulskirche, dem „Professorenparlament", gehabt. Diese setzte sich in dem Kreis der Mitarbeiter an unserer Zeitschrift gleichsam fort. Die Haltung war, durch die Ereignisse bedingt, akademischer geworden; doch die Geschicke der Nation begleitete die Wissenschaft noch mit leidenschaftlicher Teilnahme und suchte sie mit ihren Idealen zu erfüllen 5 ). In Berlin 1859, während des italienischen Krieges; seit Ende 1859 in Hamburg. 2 ) In Berlin Sept. 1859—März 1861 (Mareks a. a. O.). 3 ) Mit Kuno Fischer und D. F. Strauß entzweite Haym sich über Rezensionsfragen („Erinnerungen", S. 264 f.). *) Die Fühlungnahme mit Männern des praktischen Berufes dagegen gelang nicht in dem Maße, das man sich vorgesetzt hatte: „Eine charakteristische Erscheinung war es, daß sich die Schule viel bereiter zeigte, dem Leben entgegenzukommen, als umgekehrt" (Pr. Jb. III, 7). 5 ) Wohl mochten manche unter den Gelehrten noch glauben, daß es

96 Und zugleich spiegelt sich ein Stüde Wissenschaftsgeschichte selber in den Jahrbüchern. Die feinsten wissenschaftsgeschichtlichen Begegnungen treten hervor. Die Entstehungsgeschichte späterer großer Werke der deutschen Geschichtsschreibung läßt sich in ihnen, im Zusammenhang mit der Gesamtbewegung der Zeit, verfolgen. So sehen wir, an den Aufsätzen über Gagern und Wangenheim, Treitschkes Deutsche Geschichte entstehen 1 ), so Hayms Romantische Schule und Diltheys Schleiermacher. Die gleichzeitige historiographische Literatur ferner erhebt sich aus zusammenfassenden

kritischen Überblicken

über ihre .Haupt-

leistungen : so referierten Duncker über Bernhardis Geschichte Rußlands (Bd. XII) Bernhardi

über

und Rochaus Geschichte Frankreichs (III),

Sybels

Geschichte der Revolutionszeit (VII),

Häußer über Onno Klopps Geschichte Ostfrieslands (VII), Erdmannsdörffer über Droysens Geschichte der preußischen Politik (V, XI) und Burckhardts Cultur der Renaissance (XI), Haym über Strauß' Hutten (I), Sigwart über Kuno Fischers Bacon (XII), Pauli über Waitz' Deutsche Verfassungsgeschichte (VIII), Aegidi über Ferd. Walters Deutsche Rechtsgeschichte (I), Treitschke über Gneists englisches Verfassungs-und Verwaltungsrecht (I, VI), Baumgarten über Reuchlins Geschichte Italiens (IV), Löbell über Curtius' Griechische Geschichte (I), Mommsen über Thiers' Geschichte der Kaiserzeit (I), Geffcken über Carlyles Friedrich den Großen (II), R. v. Mohl über die Staatswörterbücher von Rotteck-Welcker, Bluntschli, Wagener (II) u. a. m. — Rankes gleichzeitiges Werk, die Englische Geschichte, fand keine Besprechung in den Jahrbüchern. mit der politischen Kraft des liberalen Professorentums noch lange nicht zu Ende sei, daß es eben nur gelte, dieselbe an die richtige Stelle zu bringen. W. Schräder schrieb an Haym ( 1 1 . 1 2 . 58): „Wenn ich zu entscheiden . . . . hätte, wäre einer meiner ersten Taten, Bismarck auf seinen Krauthof zu jagen und Duncker zum Bundestagsgesandten zu machen." l)

Der Kreis der Historiker an Hirzeis Staatengeschichte war überhaupt nahezu vollzählig in den Jahrbüchern vertreten: außer Treitschke berichteten Bernhardi aus der russischen, Springer aus der österreichischen, Pauli aus der englischen, Baumgarten aus der spanischen, Reuchlin aus der italienischen, Mendelsohn-Bartholdy aus der griechischen Geschichte.

Drittes

Die

Kapitel.

Politik.

G r u n d l a g e n der p r e u ß i s c h e n P o l i t i k .

D

as Erscheinen der Jahrbücher zu Beginn des Jahres 1858 fiel mit der Stille zusammen, die sich in Preußen zwischen Reaktion und Neuer Ära einschob, mit der Zeit der Stellvertretung des im Herbst des Vorjahres unheilbar erkrankten Königs durch den Prinzen Wilhelm. Der Prinz, so wenig er mit dem Regiment der Manteuffel und Westfalen einverstanden war, scheute sich, als Stellvertreter, doch, mit der Politik seines Bruders zu brechen. Und das Ministerium, im Ungewissen über seine Zukunft, hielt in der Durchführung seiner reaktionären Absichten inne. So blieben die Verhältnisse ein Jahr lang in der Schwebe. Die Jahrbücher hatten Zeit, sich mit Umblicken und Rückblicken in die Situation einzuführen und ihr Programm allseitig auszusprechen. Duncker zunächst zog die Grundlinien, die die Zeitschrift in der äußeren Politik befolgen sollte. In einem Aufsatze „Preußen und England" 1 ), anlässig der Vermählung des Prinzen Friedrich Wilhelm mit der Prinzessin Viktoria von England, suchte er die „natürliche Stellung" beider Staaten zueinander zu bestimmen. Vereinigt seien sie emporgekommen, niemals ohne gegenseitigen Schaden von einander getrennt gewesen. Aus der „falschen Tendenzpolitik" des Wiener Kongresses, die Preußen in die ') Bd. I, H. 1. Westphal

7

98 Arme Rußlands getrieben habe, müßten sie wieder herausfinden zu gemeinsamem Vorgehen in den europäischen Fragen. Es ist dieselbe Politik, die Duncker während des Krimkrieges in seiner Schrift „Preußen und Rußland" empfohlen hatte, in der er für ein Zusammengehen Preußens mit den Westmächten gegen Rußland eingetreten war. Die Moral der neuen dynastischen Verbindung betonten die Jahrbücher nochmals in einem Bericht über den Empfang der Vermählten in Berlin. Sie deuteten die Feststimmung als eine „Demonstration gegen die antinationalen und antiliberalen Tendenzen", als einen „Protest gegen französische und russische Sympathien" 1 ). Audi der erste Aufsatz des ersten Heftes aus der Feder Karl Neumanns über „die Engländer in Indien" ging von dem besorgten Gedanken einer Schwächung der europäischen Stellung Englands in Folge des indischen Aufstandes aus. Mit diesem Bekenntnis zu England traf die Kampfansage an Frankreich im Kern zusammen, die Mommsen in der Besprechung des Werkes von Thiers über die Kaiserzeit erhob 2 ). In den mächtigen Schlußsätzen des Aufsatzes scheint es schon wie von Gravelotte und Sedan zu klingen: „Die französische Klarheit kommt uns selbst zu Hilfe und läßt nicht ab uns daran zu erinnern, daß wir nicht Frieden haben, sondern Waffenstillstand. Am Ende — wer weiß, wozu es gut ist? Es ist noch nie eine Waffe anders geschmiedet worden, als wenn das Metall zwischen zwei Eisen geriet. Der Drude ist da, von hüben und von drüben; wir fühlen ihn alle. Gebe es denn mit der Zeit eine gute Klinge!" Die gleiche europäische Stellungnahme, Freundschaft für England, Feindschaft gegen Frankreich und Rußland, verrät die Kritik, die Duncker an einer vielbeachteten Broschüre des Obersten Blum, „die Politik der Zukunft", in einem Aufsatz unter l)

Das Empfangsfest des 8. Februar (Bd 1, H. 2), die allgemeine Würdigung von Haym (an Reimer 26. VI. 58); der besondere Bericht von Moritz Veit (Haym an Reimer 13. und 16. II. 1858). *) Bd. I, H. 3 (Mommsen als Verfasser Haym an Reimer v. 27. II. 1858 — der einzige Beitrag Mommsens zu den Jahrbüchern).

99

dem gleichen Titel übte 1 ). Scharf trat er dem Vorschlage Blums entgegen, Preußen solle sich durch Ausdehnung bis zur Weichsel- und Mainlinie eine feste mitteleuropäische Stellung schaffen. Weder mit polnischen Gebieten noch mit den aus Annexionen deutschen Gebietes erwachsenden nationalen Antipathien wollte er Preußen belasten. Preußen bedürfe nicht so sehr des äußeren wie des inneren Zuwachses. Die deutsche Nation sei sein bester Bundesgenosse, den es durch eine ehrliche, nationale und konstitutionelle Politik gewinnen müsse. Eis ist der Bruch mit dem System von Olmütz, den Duncker als die erste Forderung zugleich der deutschen wie der europäischen Politik Preußens proklamierte. Es ist das Programm der moralischen Eroberungen, das er hier, vier Monate bevor es der Prinz-Regent für die Regierung verkündete, in den Jahrbüchern zum Ausdruck brachte 2 ). Eine andere Entgegnung auf die Blumsche Schrift war Constantin Rößlers „Sendschreiben an den Politiker der Zukunft". In ihrer Besprechung durch Haym 3 ) fand das Dunckersche Programm mit dem kategorischen Satze: „Wichtiger als die äußere ist die innere Haltung dieses Staates" dann freilich eine Zuspitzung, zu der sich der Prinz von Preußen nicht mehr bekannt haben würde. Wie Duncker verlangte auch Mathy, und er vornehmlich vom Standpunkt „deutscher Interessen", eine „deutsche Politik", das heißt politische Einheitsformen, die die Entfaltung der wirtschaftlichen Kräfte stützen müßten 4 ). Auch er sah in Rußland und ') Bd. II, H. 1. ') In der Tat hatte Duncker mehrfach Gelegenheit gehabt, dem Prinzen und der Prinzessin von Preußen sein deutsches Programm im Zusammenhang zu entwickeln. Vergl. Haym, das Leben Dunckers, S. 104 f. Auch bei seinem Fortgang nach Tübingen, der mit obiger Besprechung zeitlich nahe zusammenfiel, erklärte er der Prinzessin seine stete Bereitwilligkeit zu eingehenden Denkschriften. Ebd. S. 175. ») „Noch einmal die Politik der Zukunft", Bd. II, H. 2 (s. Anlage IV). 4 ) „Deutsche Interessen und deutsche Politik", Bd. II, H. 1. Wirtschaftsfragen behandelte Mathy in den Jahrbüchern mehrfach: „Zur Zollvereinsfrage" (Bd. X, H. 4), „Neue Schriften zur Zollvereinsfrage" (Bd. X, H. 5). 7*

100 Frankreich den kommenden Feind, ja er sprach schon (Juli 1858) von einem Krieg um Italien; auch er forderte dem gegenüber die Verständigung Preußens und Österreichs über Deutschland. Ein Gemälde der inneren Politik, die den Liberalen vor allem am Herzen lag, gab Haym in seinem Berichte „Der preußische Landtag während der Jahre 1 8 5 1 — 1 8 5 7 " 1 ) , einer Art Fortsetzung seiner Schilderungen über den Vereinigten Landtag und über die deutsche Nationalversammlung. Ein Aufsatz von echt Haymscher Anlage und Kraft der Darstellung! Wie eine Hegeische Geschichtsbetrachtung mutet es an, wenn er das Spiel der Feinde des modernen Lebens an ,,der Gewalt der Dinge und Ideen" 2 ), an ,,der Gewalt und dem Recht der Dinge" 3 ) zu Schanden werden läßt. Feudalismus und Büralismus haben sich gegen die Ideen von 1807 und von 1848 — die Ideen der Selbstverwaltung und der Verfassung — verbunden. Durch die Pflege des materiellen Lebens glaubt die Regierung, dem Volke einen zureichenden Ersatz für diese bieten zu können 4 ). Eben die Feudalen aber, unfähig, ihr Standesinteresse je über dem Staatsinteresse zu vergessen, machen durch ihre Verweigerung neuer Steuern die ministeriellen Pläne zu nichte. So glaubte Haym die Einheit des geistigen und des materiellen Lebens triumphieren, das System der Reaktion in sich selbst brüchig werden zu sehen. „In dem sich Widersprechenden haben wir die zerstörenden Mächte des Widerspruchs aufzudecken gesucht." 5 ) Wie bezeichnend für Stimmung und Charakter Hayms und seiner Freunde ist dieser Rückblick, ist diese Konstruktion des Politischen aus dem Glauben an die Weltvemunft, den die Liberalen in sieben trüben Jahren nicht eingebüßt hatten!

' ) Bd I, H. 2. ) I, 699. 3 ) II, 556. 4 ) „Kurzsichtige Politiker haben es häufig für den Gipfel der Weisheit angesehen, die Forderung politischer Freiheit durch die Gewährung materieller Vorteile zu beschwichtigen" (I, 201). !

) I, 699. „Ein Wort mit der Neuen Preußischen Zeitung" — die den Haymschen Landtagsartikel scharf angegriffen hatte (S. Anlage IV). 5

101 Charakteristischerweise aber erfuhren die Jahrbücher gegen ihre in diesen Artikeln sich aussprechende allgemeine Haltung gleich zu Anfang aus ihrem eigenen Kreise heraus Widerspruch. Mitte März 1 8 5 8 fuhr Bernhardi nach Breslau, um mit den Führern der schlesischen Liberalen Partei- und Wahlfragen zu besprechen. *) Dort kam es zu lebhaften Auseinandersetzungen über die Haltung der jungen Zeitschrift. Bernhardi betonte, die Liberalen dürften sich dem Prinzen, falls sie etwas von ihm erreichen wollten, nicht mit dem System ihrer Anschauungen aufdrängen. Einen Artikel Aegidis über deutsches Staatsrecht 2 ), in dem Volksvertretung beim Bunde gefordert war, rügte er „als eine Taktlosigkeit aus dem blauen Himmel herunter". Mit solchen Sentenzen arbeite man nur den Junkern in die Hände. Leidenschaftlich dagegen forderte Röpell, man müsse „wühlen", man „könne kein Journal für den Prinzen von Preußen schreiben". Röpell wurde von Mommsen, Bernhardi von VinckeOlbendorf und Milde unterstützt. Bernhardi blieb im Zweifel, ob sich die Haltung der Jahrbücher ändern werde. So standen sich Haym, der Bekenner, und Bernhardi, der Taktiker, gegenüber. Haym, als Herausgeber, fühlte sich ganz als der Vorkämpfer der Idee, der Autonomie der Moral auch in der Politik. „Es gibt Umstände, unter denen die Berechnung, ob eine unmittelbare Wirkung möglich sei, vor der Pflicht des Bekennens zurücktritt, und wo man sprechen muß, lediglich um gesprochen zu haben" 3 ). Dagegen erscheint Bernhardi als der schärfere Parteimann; sein Rat, wie die Partei den Prinzen behandeln müsse, war klug und zutreffend im Sinne der Verhinderung des Junkerregiments. B e g i n n der N e u e n Ä r a . Unterdessen gab der im Oktober 1 8 5 8 sich Wechsel

der

vollziehende

preußischen Politik den Jahrbüchern erst ihren

vollen Schwung. „Mit frischem Mute wagten sie es, die noch in ') Bernhardi Tgb. III, S. 5 ff. ) „Die Aufgaben deutscher Staats- und Rechtsgeschichte" (Bd. I, H. 1). 3 ) II, 351.

2

102 der Entwicklung begriffene Wandlung darzustellen und das Nächste, was not tue, in bewegender Rede auszusprechen 1 )." Sie hatten sich in der Frage: Stellvertretung oder Regentschaft?, wie es Bernhardi recht sein konnte, zurückgehalten. Erst als die Kreuzzeitung für eine Mitregentschaft Propaganda machte, bekannten sie: „Keine Mitregentschaft!" 2 ) Am 7. Oktober wurde dann Prinz Wilhelm wirklich Regent. „Ein herrliches ist das Gesetz in seiner unbestrittenen Macht", so hob Aegidi an 3 ). Mit seinem breiten, ungezügelten Pathos besingt er den Fall „der Romantik des ungeschriebenen Rechts", rechnet er mit Haller und mit der historischen Rechtsschule ab. „Aus fliegendem Samen, den ein günstiger Wind von den Gefilden mittelalterlicher Reiche dahingewehnt, sollte sich, vegetabilisch keimend, ein christlich-germanisches Staatsrecht organisch entfalten"! Das Entscheidende, das Befreiende an der Regelung der Regentschaftsfrage war den Liberalen die Beobachtung der Verfassung. Eben die verfassungsmäßige Regelung hätten die Konservativen hintertreiben, sie, nachdem sie die Regentschaft selbst nicht mehr hätten aufhalten können, durch eine absolutistische Verordnung ersetzen wollen4). „Wie nie zuvor hat die Nation die Verfassung in lebendiger und allgemeiner Anteilnahme erlebt 5 )." Und gleich bemühten sich Haym und Aegidi darzutun, wie monarchisch sie sich interpretieren lasse. In dem Artikel 56 über die Einsetzung der Regentschaft gebe sie eine „mustergültige Durchführung des monarchischen Prinzips" 6 ); klar habe ') Haym III, 13. ) Haym, „Die Regentschaftsfrage und die Presse", Bd. II, H. 3 (S. Anlage IV). :l) „Die Regentschaft in Preußen", Bd. II, H. 4 (Aegidi als Verfasser Haym an Reimer 30. X. 1858). 4 ) II, 453 (Aegidi). 5 ) „Man darf sagen, daß diese Eine Bestätigung des Landesgrundgesetzes alle Verletzungen, die dasselbe theoretisch wie praktisch im einzelnen erfahren, mehr als aufwiegt." („Der alte und der neue preußische Landtag", Bd. II, H. 5. — Verfasser Haym und Lette: Haym an Reimer 30. X. 1858). 6 ) II, 450. 2

103 es sich herausgestellt, daß „sie sich dem monarchischen Boden unseres Landes akklimatisiert habe 1 )." Wenn freilich gleich das Bedauern hinzukam, daß die Bedeutung des Parlaments dabei zu sehr in den Hintergrund getreten sei, so wurde damit eben die Frage berührt, die der Prinz vor allem ausgeschaltet wissen wollte, die der parlamentarischen Einwirkung auf eine Angelegenheit der Dynastie. So waren zwischen dem Regenten und der Partei, mit der er zu regieren sich anschickte, von vornherein Abweichungen gegeben, Abweichungen, die, mochten sie zuerst aus Klugheit und Vertrauen noch verdeckt bleiben, doch von Anfang an prinzipieller Natur waren. Im Augenblick aber galt es, den Wind auszunutzen. Gleich fordert Haym in einem schönen Aufruf, der ganz die Merkmale seines Temperamentes, Forderung und Grenze zugleich herausspringen zu lassen, trägt, dazu auf, den in der Regentschaftsfrage kundgegebenen Geist der Einmütigkeit fortwirken zu lassen 2 ): ,,Einmal hat sich doch in den jüngsten Tagen die in gegeneinander verstimmte und verbissene Parteien zerfahrene Nation zu einer großen Antikreuzzeitungspartei, zu einer einzigen Rechts- und Verfassungspartei gesammelt."

Zustimmend äußert er sich zu

dem Breslauer Programm, in dem die drei oppositionellen Parteien des Wochenblattes, der Konstitutionellen und der Demokraten ihre Forderungen in neun Punkten gemeinsam formuliert hatten 3 ). „Nicht zu niedrigeren darf der Anlauf genommen werden." ') II, 557. *) „Zu den Wahlen in Preußen", Bd. II, H. 4. 3 ) Die neun Punkte betrafen: Freiheit der Wahlen, Herstellung der Selbstverwaltung, Aufhebung der gutsherrlichen Polizei, Aufhebung der Grundsteuerfreiheit, Ministerverantwortlichkeit, ein neues Preßgesetz, Freiheit der Wissenschaft und des Glaubens, Beseitigung der Kompetenzeingriffe der Verwaltung in die Rechtsprechung. — Nur um der Geschlossenheit der liberalen Opposition willen gab Bernhardi seine Unterschrift zu diesem Programm. „Es steht mir nicht recht an, daß ich mich durch Namensunterschrift zu diesen Grundsätzen bekennen soll." Er wünschte, daß sein Freund Vincke den Regenten wissen ließe, wie wenig manche Unterzeichner allen Punkten — Bernhardi besonders nicht der Ministerverantwortlichkeit — zustimmen könnten (Tgb. III, 70. 7 J ) .

104 Die Wahlen fielen für die Liberalen überraschend günstig aus. Das Verhältnis zwischen den Parteien kehrte sich ungefähr um, so daß nunmehr die Liberalen, die neuen Ministeriellen, über eine Zweidrittel-Mehrheit verfügten 1 ). Vor den Wahlen schon hatte das Ministerium Manteuffel einem Ministerium Hohenzollern weichen müssen. Die „Neue Ära" begann, ein Sieg, „der uns", wie Haym schrieb mit einer noch höheren sittlichen als politischen Befriedigung erfüllen mußte 2 )." Nun, da die Jahrbücher hoffen durften, in die politische Diskussion „mit Absicht und Aussicht auf einen bestimmten praktischen Einfluß" einzutreten, richteten sie, selbst nicht am Mittelpunkte der Ereignisse befindlich, vom November 1858 an jene ständigen „Politischen Korrespondenzen" aus Berlin ein, die ihrer politischen Haltung das entscheidende Gepräge gaben. Eben nach dem Wechsel in dieser Berichterstattung kann man die Geschichte der ersten Jahre der Zeitschrift in eine Ära Neumann (1858—1860), eine Ära Duncker (1861—1862) und und eine Ära Wehrenpfennig-Haym (1862—1863) einteilen. Unter ihnen hatte Neumann 3 ) mit dem Ministerium der Neuen Ära wohl die engste Fühlung; der Unterstaatssekretär des Auswärtigen von Gruner war sein persönlicher Freund. Die Grundlinien namentlich der auswärtigen Politik, wie sie dieses tätige Mitglied der Wochenblattspartei verstand 4 ), waren es, denen er in den Jahrbüchern folgte, freilich stets mit selbständiger Durchdenkung und Formgebung, in der sich der Charakter des Schriftstellers schön bewährte. 1 ) Die Parteiverhältnisse in der zweiten Kammer waren 1 8 5 8 folgende: 59 Konservative, 5 8 Ultramontane, 1 8 Polen, 2 1 0 Liberale (50 Fraktion Mathis [Wochenblattspartei], 1 6 0 Fraktion Vincke), 7 Minister, zusammen 352. 2)

III, 13. Neumann als Korrespondent: Haym, „Aus meinem Leben", S . 278. Sein Rücktritt als Korrespondent mit dem Nov. 1 8 6 0 : Briefe von ihm an Haym v. 6., 26., 28. XII. 1860. Bis zu diesem Termin sind die Korrespondenzen offensichtlich von einer Hand abgefaßt. 4 ) Vergl. Gruner, „Rückblick auf mein Leben", Deutsche Revue XXVI, 1 9 0 1 . 3)

105 So ist es der Ton dieser maßvollsten unter den früheren oppositionellen Parteien, den er in den Jahrbüchern anschlägt 1 ). Im Sinne Gruners wird es gewesen sein, wenn er den neuen politischen Kurs als ein aus freiem Entschlüsse, von „keinem äußeren Drang und Zwang der ^Imstande" hervorgerufenes Werk des Regenten begrüßt — eine Anschauung, die von dem konstitutionell-idealistischen Standpunkt, wie Haym ihn in seiner Kritik des preußischen Landtages vertreten hatte, doch merklich abweicht. Und wie patriarchalisch vertrauend klingen die Worte, die Neumann an die Demokraten richtet: „Das Gefühl der Dankbarkeit und persönlicher Anhänglichkeit an den Regenten einigt uns; es wird uns, wenn wir in einzelnen Fragen auseinandergehen, fest und sicher auf unsere gemeinsame Aufgabe stets wieder hinweisen." Die neuen Minister vollends lösen die höchste Befriedigung bei ihm aus, Männer von „fleckenloser Integrität des Charakters", von „unwandelbaren Überzeugungen", von „ganz hervorragenden Fähigkeiten". „Keine angenehme Überraschung" freilich war die Übernahme der Herren v. d. Heydt und Simons aus dem reaktionären Ministerium, selbst die Ernennung Flottwells zum Minister des Innern schien Neumann „in die Idee nicht zu passen". Und ebenso wie bei der Zusammensetzung der Regierung vermißt er bei der Regelung der Wahlen die konsequente Durchführung der neuen Prinzipien. Es handelte sich hier um eine Frage, die die Liberalen immer wieder beunruhigt hat und immer wieder in den Jahrbüchern berührt wurde, die Tätigkeit der Beamtenschaft, voran der Landräte, in einem der bestehenden Verfassung und den Absichten der neuen Regierung entgegengesetzten Sinne — in der Tat ein Punkt, an dem sich die Neubildung des Staates, der Übergang vom alten Beamtenstaat in den neuen Verfassungsstaat vor allem ausdrücken mußte. Wie wenig eingelebt die Verhältnisse damals noch waren, zeigt sich etwa darin, daß

) Wir fassen hier die Auslassungen der drei ersten „Politischen Korrespondenzen" vom 10. XI. 1858, 10. XII. 1858, 10. I. 1859 (Bd. II, H. 5 — Bd. III, H. 1) zusammen. l

106 Neumann ein Flottwellsches Wahlreskript, das die Bevölkerung vor übertriebenen Hoffnungen auf einen völligen Umschwung der Regierung warnen sollte, in einer seitenlangen Erörterung als eine „die Nation bis in die tiefste Seele verletzende Zurechtweisung" bezeichnen konnte. Dazu kam die steigende Besorgnis vor den Wühlereien der Konservativen am Hofe, die Volk und Krone durch Herbeiführung reaktionärer Maßregeln zu entzweien dachten, um dann „auf die Wunden des königlichen Herzens die Versicherung ihrer spezifischen Treue als Balsam zu legen". Neumann schrieb dies, im Januar 1859, wohl unter dem Eindruck jener Zweifel und Sorgen um das Gelingen des Neuen, die den Regenten alsbald nach der Umbildung der Regierung erfaßt hatten, da ihm sein Ministerium „bei aller Zahmheit doch zu liberal geworden" war. 1 ) Indessen, das waren einzelne Merkmale, die wohl Keime zu späteren Gegensätzen enthielten, im Augenblicke aber ganz von jener gesättigten Stimmung überwogen wurden, die den gemäßigten Liberalismus in den ersten Monaten der Neuen Ära erfüllte: Neumann sah ein Volk, „das, befriedigt durch den mit Wort und Tat bekundeten Entschluß seines Regenten, daß Gesetz und Verfassung ungeschmälert zur Geltung kommen soll, voll dankbaren Vertrauens zu seinem Fürsten, dem unverkümmerten Genüsse verfassungsmäßiger Rechte zuversichtlichen Mutes entgegensieht 2 )". B l i c k auf d a s ü b r i g e D e u t s c h l a n d und auf O s t e r r e i c h . Nachdem die Jahrbücher ihren Standpunkt zu den preußischen Dingen dargelegt hatten, wandten sie sich auch der *) Mareks, Kaiser Wilhelm I., 5. A. 1905, S. 137. Bernhard! Tgb. III, 156 f. 2 ) Charakteristisch für die liberale Stimmung sind auch die altfränkischen Worte, mit denen Neumann in der Februarkorrespondenz 1859 die Geburt Kaiser Wilhelms II. begrüßt, dem er außer Verstand und Milde „einen zur Freiheit unverzagten Sinn" wünscht, der „ein- lebhafteres Genüge darin finde, ein mächtiges Volk freier Männer mit Weisheit, Kraft und Huld zu regieren, als einer willenlosen Herde von Sklaven zu gebieten".

107 Entwicklung in den anderen deutschen Staaten mit historischkritischen Übersichten zu. Auf einen klassischen Boden des Verfassungskampfes führt uns Lammers' Schilderung der Reaktionsjahre in Hannover 1 ). Als ein echter Liberaler stellt Lammers die Rechtsfrage in den Mittelpunkt, gruppiert er die staatlichen Zustände um den Fortgang der Verfassungstragödie, die seit den Tagen der Göttinger Sieben fast ein Menschenalter hindurch in dem Lande spielte. In seiner schlichten Darstellung treten die an die Rückbildung der Verfassung gewandten Künste der Reaktion eindrucksvoll hervor. Mit zahlreichen Beiträgen nahmen sich die Jahrbücher der schleswig-holsteinischen Sache an 2 ). Hier konnten sie im besonderen das Erbteil ihrer Vorläuferin, der „Constitutionellen Zeitung", pflegen. Sie traten für das Recht der Herzogtümer im ') Bd. III, H. 5. *) Einen unpolitisch gehaltenen Oberblick über die Entwicklung der Rechtsfrage gab der Artikel „Die schleswig-holsteinische und die deutschdänische Frage" (Bd. I, H. 2; Verfasser unbekannt). — Das Finanzmemoir, das die dänische Regierung den europäischen Mächten als Antwort auf die Beschwerde der holsteinischen Stände vom 12. Sept. 1857 über die finanzielle Ausbeutung der Herzogtümer zugehen Heß, unterzog K. Ph. Francke einer eingehenden Kritik (Bd. I, H. 1). — Derselbe erörterte das speziell schleswigsche Problem („Schleswig", Bd. II, H. 6), das sich daraus ergab, daß durch die dänischen Ordonanzen vom 8. Nov. 1858 die vom Deutschen Bund erzwungene Aufhebung der dänischen Gesamtstaatsverfassung von 1858 nur für den „Wechselbalg" Holstein - Lauenburg, statt für ganz Schleswig-Holstein ausgesprochen war. — Den auf den Januar 1859 einberufenen holsteinischen Ständen den Rücken zur Wahrnehmung auch der schleswigschen Rechte zu steifen, war der Zweck wie der Broschüre W. Beselers „Zur schleswig-holsteinischen Sache im November 1858", so ihrer Besprechung anscheinend durch Haym („Was die holsteinischen Stände zu tun haben?", B. II, H. 6). — Mit der Versöhnungspolitik, die die Stände in Itzehoe Dänemark gegenüber unter ritterschaftlichem Einfluß einschlugen, sprach dann Francke seine Unzufriedenheit aus („Die holsteinische Ständeversammlung", Bd. III, H. 4). —• Und mit festen Zügen zeichnete er im März 1860 unter Hinweisung auf die faulen Zustände in Dänemark Preußen ein Aktionsprogramm vor (Preußen und Schleswig-Holstein, Bd. V, H. 3).

108 Sinne der Verhinderung jeder Realunion, sei es Schleswigs, sei es Schleswig-Holsteins, mit dem dänischen Staate, im Sinne der Aufrechterhaltung der Personalunion mit der gegenwärtig regierenden Linie und im Sinne der Sukzession der Augustenburger Linie (deren Ausschließung Dänemark im Londoner Protokoll „erschlichen" habe 1 ) in den Herzogtümern ein. Ein dänischer Gesamtstaat mit Selbständigkeit und Gleichberechtigung aller Teile sei eine Unmöglichkeit, schrieb- der Präsident Francke 2 ). Preußen aber sei es, das die Rechte dieses deutschen Stammes wahrnehmen, seine Einheit und Selbständigkeit in Verfassung und Verwaltung durchführen und die Aufhebung des Londoner Protokolles verlangen müsse. Von einer Annexion der Provinzen durch Preußen ist indessen nirgends die Rede. Auch hier steht die Rechtsfrage vor der Machtfrage. Unmöglich könne ja das deutsche Recht und das dänische Unrecht vom Auslande verkannt werden. Die Gefahr einer europäischen Verwicklung, selbst im Falle eines Waffen-Zusammenstoßes zwischen Deutschland und Dänemark, sei nichts weiter als ein „dänisches Gespenst" 3 ). Während weder in Hannover noch in Schleswig-Holstein der neue Kurs der preußischen Politik den Stand der Dinge veränderte, konnte M. Barth für Bayern in seinen Rückblicken auf „Zehn Jahre bayrischen Verfassungslebens"*) „die zwingende Macht des Beispiels der Gerechtigkeit und der Gesetzlichkeit" begrüßen. Er schrieb etwa zwei Monate vor dem Sturz des Ministeriums v. d. Pfordten (April 1859), dessen Verbleiben im Amte trotz der Wiederwahl des oppositionellen Parlamentariers Dr. Weiß zum Vizepräsidenten der Zweiten Kammer (nachdem seine erstmalige Wahl bereits zur Auflösung der Kammer geführt habe), als im „direktesten Widerspruch mit allen konstitutionellen Prinzipien", „mit jedem Begriff menschlicher Frei') V, 262, wobei bereits auf den 1859 eingegebenen Protest des Herzogs Friedrich gegen die Verzichtleistungen seines Vaters im Londoner Protokoll angespielt wird. 2 ) V, 261. 3 ) II, 670. *) Bd. III, H. 2 und 3.

109 heit" stehend, als eine „bare moralische Unmöglichkeit" bezeichnet wurde. Als Gipfelung des Konfliktes wird auch hier ein zentrales Problem der liberalen Politik aufgewiesen, die Frage der Abgrenzung der Kompetenz der ministeriellen Verwaltung einerseits, des konstitutionellen Rechtes andrerseits. Bei der in Bayern geltenden Ministerverantwortlichkeit führte der Streit zu besonders scharfen, auch die Stellung der Krone berührenden Kontroversen 1 ). Aus den Zirkeln des inneren Streites, der Verfassungs- und Rechtskämpfe, führt uns die Betrachtung der österreichischen Angelegenheiten durch Springer, hinaus in das Machtleben der Völker, zu den Problemen der großen Politik. Die zahlreichen Kritiken Springers über Osterreich bilden in den Jahrbüchern, die sonst nur zu der Entwicklung in Preußen fortschreitend Stellung zu nehmen, die fremde Entwicklung hingegen nur in Längsschnitten oder in Augenblicksbildern, in denen sich diese mit der preußischen berührt, festzuhalten pflegen, durchaus eine Reihe für sich2). Sie sind bedeutsam als der erste ') Vergl. bes. III, 3 3 4 - 3 3 7 . s ) Springers österreichische Berichte sind teils zusammenfassende historisch-politische Kritiken bestimmter abgelaufener oder neubeginnender Phasen der österreichischen Politik, teils eine mehr ins einzelne gehende Berichterstattung über die Entwicklung der Lage. Springer seinerseits hatte wiederum einen in Österreich ansässigen Korrespondenten, der ihm das Mrterial nach Bonn übermittelte (Brief an Haym 2. I. 1860). Die Farbe gab indessen Springers politisches Räsonnement, so daß auch die Berichte „Aus Österreich" mehr Bonner Kritiken als Wiener Stimmungsbilder darstellen. Seine Ausführungen setzen ein mit einem Rückblick auf Österreich in den Jahren 1848—1858 (Bd. III, H. 6), der rückwärts ergänzt wird durch eine Charakteristik des Fürsten Metternich (B. IV, H. 1). Mit dem Juli 1859 beginnen die Berichte „Aus Österreich", deren für das Jahr 1859 fünf (Juli, August, Oktober, November, Dezember, Bd. IV, H. 1. 2. 4. 5. Bd. V, H. 1), für das Jahr 1860 vier (März, April, November, Dezember, Bd. V, H. 4. 5. Bd. VI, H. 5. 6) und für das Jahr 1861 vier (Januar, Februar, April, August, Bd. VII, H. 1. 2. 4. Bd. VIII, H. 2) abgefaßt wurden. Dazu die Aufsätze über „Österreich als Verfassungsstaat" (Bd. VIII, H. 3) und über „Das freie deutsche Österreich" (Bd. XII, H. 2).

110 eingehende kleindeutsche Versuch, das Problem Österreich nicht bloß negativ, sondern auch positiv, aus den Lebensnotwendigkeiten

selbst

heraus,

zu

österreichischen

erfassen.

Springers

programmatisch in die Möglichkeiten österreichischer Politik einführender Aufsatz über „Österreich in den Jahren 1 8 4 8 — 1 8 5 8 " darf als ein dem Stile von Rankes „Großen Mächten" oder des „kleinen Buches" des Herrn von Bismarck sich näherndes Manifest des Liberalismus zur europäischen Politik angesehen werden. Im Mittelpunkt der Springerschen Anschauungen steht die Erkenntnis von der Staatsnotwendigkeit des österreichischen

Daseins.

Und diese Staatsnotwendigkeit gründet er auf die auswärtige Politik. Beim Ausbruch des italienischen Krieges erkennt er, daß Österreich seine Politik umorientieren müsse. Er schreibt ihm die Richtung nach Südosten vor. „ D i e Entscheidung wird nicht in Italien, sondern auf dem eigentlichen Schlachtfeld Jahrhunderts, im Oriente vor sich gehen" 1 ). Mit

unseres

merkwürdig

weitem Zukunftsblicke erfaßt er das Balkanproblem, Ideen des

„genialen

Bruck"

anknüpfend,

an

ohne doch

die

dessen

„monströse" Ausdehnung eines wirtschaftlichen Mitteleuropa auf Deutschland anzuerkennen; den Zollverein wollte der deutsche unberührt lassen. Wohl aber Donauländer für Deutschland vielmehr

vom

größere"

Wichtigkeit

„mindestens

handelspolitischen besäßen

als

Klein-

erkannte er, daß die die gleiche,

Standpunkt

aber

eine noch viel

die Alpenpässe.

„In

den

Händen eines österreichischen Feindes verwandeln sie den deutschen Strom in eirten Sumpf, lähmen Österreichs Freiheit und Kraft und rücken die Grenze deutschen Einflusses nach Wien zurück" 2 ). Soll nun aber Österreich „seine ganze Kraft an der Donau konzentrieren, so muß es seine widerspruchsvollen Beziehungen an seinen westlichem Grenzen aufheben, klare und einfache Verhältnisse wie im Innern so mit Rücksicht auf Deutschland sich schaffen" 3 ). ) III, 656. ) III, 636. 3 ) III, 656. L

2

111 Aus dieser Ablösung Österreichs vom Westen, von Deutschland und von Italien, und aus der Verlegung seines Schwerpunktes nach Osten — mit diesem Bismarckischen Ausdrude läßt sich die Springersche Auffassung schon kennzeichnen — soll dann die eigentliche politische Aufgabe des Donaustaates herausspringen: ein durch eine einheitliche Außenpolitik zusammengehaltenes Gesamtösterreichertum! Bereits sei es 1809 einmal hervorgebrochen 1 ), dann aber durch das Metternichsche und durch das Bachsche absolutistische System niedergehalten und zur Auflösung in Provinzialismus getrieben worden. Köstlich schildert Springer das Nebeneinander dieser provinziellen Bestandteile: Italien „gesättigt von französischen Rechtseinflüssen", Ungarn mit seiner „als Kuriositätenkammer anziehenden Verfassung", Böhmen „mit der Prügelbank als Konstitution", Galizien eine „anima vilis", die Stätte der Probegesetzgebung, Dalmatien „eigentlich nur eine Anweisung auf das türkische Hinterland" 2 ). Aus der „Macht Osterreich" hätten Metternich und seine Nachfolger nicht den „Staat Österreich" hervorgehen lassen 3 ). Um diesen herzustellen, sucht Springer an dem heterogenen österreichischen Körper mit weisem historischen Verständnis Gewicht und Gegengewicht anzubringen. Er fordert eine die Nationalitäten schonende Zentralisation: Stadion und Bach hätten sie, namentlich Ungarn gegenüber, ins Maßlose übertrieben. Von einem Dualismus will er nichts wissen. Statt dessen sucht er nach Momenten einer „politischen Kultur", die den Nationalismus „regeln" müsse 4 ); als solche gelten ihm neben dem festen Zuge einer einheitlichen auswärtigen' Politik vor allem drei: S e l b s t v e r w a l t u n g in d e n e i n z e l n e n Kronä n d e r n — „erst wenn die Landtage Arbeitstage werden, verlie') IV, 54. III, 619. 3 ) IV, 70. *) III, 626. Verg-I. auch Springers eigene dieser Absicht dienenden Bemühungen um die Herstellung der alten österreichischen Unionspartei, für die er 1850 als Redakteur tätig gewesen war, in dem Brief an Haym, Anlage III. l)

112 ren die hochfliegenden Verfassungsphantasien hier ihren Boden" 1 ) — A u s b i l d u n g e i n e s d u r c h g e h e n d e n P a r t e i l e b e n s — namentlich die große Partei Deaks, bei der „allein in Ungarn politisches Bewußtsein vorhanden sei", glaubt er bereit, „die zähe Sonderstellung im Interesse einer allgemeinen österreichischen Freiheit aufzugeben" 2 ) — und endlich als g e i s t i g e D u r c h b i l d u n g des G a n z e n die d e u t s c h e K u l t u r , die allein die Eigenschaft eines die Nationalitäten verbindenden Elementes besäße.

Gleich

über der untersten Schicht müsse „das zweisprachige Volk" beginnen (mit der jeweiligen Nationalsprache und mit der deutschen Sprache); eine eigentliche Germanisierung sei dabei aber „unbillig, ja unmöglich", nur frei müsse sich die deutsche Bildung entfalten: d. h. es müsse mit der Konkordatspolitik gebrochen werden. Die Ultramontanen seien die Hauptfeinde eines Gesamtösterreichertums, da sie die „engbegrenzten, abgeschlossenen Kreise des Czechismus, der krainischen Nationalität" usw. konservierten, in denen allein sie die deutsche Bildung, den Geist Kants und Lessings, „die Kultur des Verstandes", fernzuhalten hoffen könnten 3 ). So ist es zwar ein starker Strom deutscher liberaler Gedanken,

Selbstverwaltung,

Konstitutionalismus,

Glaubens und der Wissenschaft,

den Springer

Freiheit

des

in das neue

Österreich hinüberleiten möchte, aber er soll der Hervorbringung eines in seinen eigenen Lebensbedingungen

gesehenen,

wahrhaft österreichischen Machtdaseins dienen. Der italienische Krieg. Bisher hatte die Haltung der Jahrbücher eine vorwiegend programmatische sein dürfen. Sie behaupteten ihren akademischen Charakter, erst, indem sie der herrschenden Reaktion gegenüber ') XII, 147. *) VI, 514, ebenso VII, 173. *) III, 638 f. — Und III, 6 5 6 : „ E i n Ministerium gibt es, welches gerade die Gegner der österreichischen Herrschaft in Deutschland nicht genug deutsch wünschen können: das Ministerium des Kultus und des Unterrichts."

113 das Bekenntnis ihres nach innen und außen entgegengesetzten Systems aussprachen, dann, indem sie die neue Ära positiv nach ihren Idealen zu gestalten suchten. Da zerbrach die europäische Bewegung des Jahres 1859 das Gebäude, das sie aus Vernunft und Maß zu errichten im Begriffe waren. Die großen Mächte traten-auf den Plan, Frankreich, Österreich, das werdende Italien; auf das Nächste wurde Preußen selbst berührt. Wie bewährten sich die Gedanken und Maßstäbe des Liberalismus, die wir bisher in ihrer allgemeinen Richtung verfolgt haben, nun in ihrer realen Anwendung? Treffend spiegeln die Jahrbücher die Erregung der öffentlichen Meinung, die Deutschland damals erfüllte. In zahlreichen Beiträgen, mannigfach nach Inhalt und Form, äußern sie sich zu der italienischen Frage. Haym hauchte der Zeitschrift etwas von dem vibrierenden Leben des Augenblicks ein. Politische Erwägung und geschichtliche Besinnung, Taktisches und Prinzipielles wechseln in steter Bewegung ab. Den Berliner Korrespondenzen Neumanns, in denen der Standpunkt der Jahrbücher seine eigentliche Formulierung findet 1 ), stehen, aus anderem Milieu gesehen, Baumgartens Stimmungsbilder aus Süddeutschland gegenüber 2 ). Dazu kommen, vom Juli ab, die Berichte Springers aus Osterreich. Haym selbst setzt sich mit der reichen Publizistik des Jahres auseinander 3 ). In selbständigen Aufsätzen handeln Hälschner über ') „Politische Korrespondenzen" Bd. III, H. 2 — Bd. IV, H. 2 (Februar bis August 1859). 2 ) „Aus Süddeutschland" Bd. III, H. 4—6 (April, Mai, Juni); die Autorschaft Baumgartens bei Mareks, a. a. O. CXXXVI. 3 ) Offenbar von Haym besprochen (s. Anlage IV): „Preußen und die italienische Frage" (Bd. III, H. 3 u. 4); Baumgarten (Mareks, a. a. O. CXXXV), „Deutschland und die italienische Frage" (Bd. III, 374 ff.); „Po und Rhein" (Bd. III, H. 4); W. Beseler, „Das deutsche Interesse an der italienischen Frage" (Bd. IV, H. 1); Aegidi, „Preußen und der Friede von Villafranca" (Bd. IV, H. 1); „Preußen, der Bund und der Frieden, von einem Nicht-Gothaner" (Bd. IV, H. 2); „Was hat Preußen, gesagt — getan" (Bd. IV, H. 2); „Nach dem Frieden" (Bd. IV, H. 2); Sybel, „Die Fälschung der guten Sache durch die Augsburger Allgemeine Zeitung" (Bd. IV, H. 2); W. Beseler, „Das deutsche Verfassungs-

Westphal

8

114 die Voraussetzungen und Zwecke eines deutschen Krieges gegen Frankreich 1 ), Geffcken über die Frage der savoyischen Neutralität 2 ), Nasemann über den militärischen Verlauf des Krieges 3 ). Reuchlin gibt, in Zusammenhang mit seiner bei Hirzel erscheinenden „Geschichte Italiens", Schilderungen einzelner Momente aus der neueren italienischen Geschichte und kürzere Nachrichten über die Stimmung in Italien 4 ). Ein großer Aufsatz Bernhardis „Frankreich, Österreich und der Krieg in Italien" 5 ) widmet den militärischen Operationen eine eingehende Kritik und sucht, ein Muster Bernhardischer politischer Argumentation, die Gründe für den Ausgang des Krieges aus der gesamten politischen, geistigen und sozialen Struktur der kriegführenden Länder zu verstehen. 6 ) Namentlich seine Beobachtungen über Frankreich, eine Frücht werk nach dem Kriege" (Bd. IV, H. 3); Wehrenpfennig, „Geschichte der deutschen Politik unter dem Einfluß des italienischen Krieges" (Bd. V, H. 3); W. Beseler, „Zur österreichischen Frage" (Bd. 5, H. 3). ') „Ein Krieg gegen Frankreich, seine Voraussetzungen und Zwecke" (März, Bd. III, H. 3). -) Bd. III, H. 5. 3 ) Bd. III, H. 6. Bd. IV, H. 1. 4 ) „Die Österreicher in Italien und die italienische Politik Rußlands" (Bd. I, H. 6. Bd. 2, H. 2 u. 3). — „Farini über die Lage und Stimmung Italiens" (Bd. III, H. 3). — „Zur italienischen Politik Österreichs" (Bd. III, H. 4). — „Italienische Studien" (Bd. III, H. 5). — „Die italienische Frage, Deutschland und die Diplomatie im Jahre 1848" (B. IV, H. 4). — „Zur Geschichte des italienischen Nationalvereins" (Bd. VI, H. 4). Den 1. Band seiner italienischen Geschichte besprach Baumgarten (Mareks, a. a. O. CXXXVI): „Die neuere Geschichte Italiens" (Bd. IV, H. 3). 5 ) Bd. IV, H. 2. 3. 5. 6, wieder abgedruckt in seinen „Vermischten Schriften" Bd. II (1879). ") Brief an Haym 19. I. 60. Er beklagt sich über die von Haym vorgenommene Kürzung am Schluß des Aufsatzes: „Die Bemerkung, daß die schlechte Führung des Krieges keineswegs als etwas Zufälliges zu betrachten ist, sondern als ein notwendiges Ergebnis der gesellschaftlichen und staatlichen Zustände Österreichs, war mir im gewissen Sinne die Hauptsache; sie war der Schluß, auf den ich den ganzen Aufsatz mit Berechnung angelegt und hingeführt hatte; denn es scheint mir vor allem wichtig, daß Deutschland zu dem Bewußtsein gelange, was es in dieser Beziehung auch in Zukunft von Österreich zu erwarten hat."

115 seines mehrmonatlichen Aufenthalts im Süden des Landes 1 ), enthalten wertvolle und präzise Einsichten. Das Gegenstück zu diesen objektiv gerichteten, die Krise gleichsam abschließenden Untersuchungen Bernhardis stellt dann der schöne Mahnruf Baumgartens „Zum Jahresanfang" 2 ) dar, in dem Deutschland an die Gefahren, die ihm aus der neuen Lage zu erwachsen drohen, erinnert und an jeden Einzelnen die Forderung gerichtet wird, sich innerlich vorzubereiten für ein Leben im Dienst der Nation. Bezeichnen wir kurz die Lage, in der sich die europäische Entwicklung beim Ausbruch des italienischen Krieges befand. Die Revolution von 1 8 4 8 war nicht nur ein Ereignis der inneren, sondern auch der äußeren Politik gewesen. J a auf dem Gebiet der äußeren Politik hat sie vielleicht ihre folgenschwersten, dauerndsten Wirkungen hervorgebracht. Hier war kein Raum zur Entfaltung einer reaktionären Staatskunst;

die großen

Staats-

interessen drängten von selbst in der Bahn weiter, in die sie von

der revolutionären Bewegung gewiesen worden waren: als

Mann der Kreuzzeitungspartei

hatte

Bismarck die Politik von

Olmütz, das Zusammengehen Preußens mit Osterreich und Rußland, noch verteidigen können; als preußischer Bundestagsgesandter in den fünfziger Jahren bildete er sich zu dem Staatsmann um, der die Ausschaltung Österreichs aus Deutschland vollzogen hat. Denn das war der außenpolitische Sinn der Revolution: System Preußen,

der heiligen Allianz, Österreich,

der

Rußland,

zur

Bund

das

der drei

Ostmächte,

Niederhaltung

Frankreichs

zerbrach — zerbrach nicht so sehr durch eine Einwirkung von außen, sondern

an sich selbst:

das deutsche Problem

selbst,

das 1 8 4 8 in seinen Tiefen angerührt wurde, mußte den österreichisch-preußischen friederiziaftischen

Gegensatz, den alten Machtgegensatz aus

Tagen wieder aus sich heraustreiben.

Hatte

ihn die Staatskunst eines Metternich, in ihrer ideenlosen Weise, zurückzuhalten verstanden, so mußte ihn eben die nationale Idee wieder entzünden. Freilich, den Männern, die damals über Preußens

') Oktober 1 8 5 8 s)

April 1859 (Tgb. III, S. 95 ff).

1860, Bd. V, H. 1.

8*

116 und Deutschlands Geschicke bestimmten, war der Blick nach außen wenig geschärft. Weder die Kleindeutschen der Paulskirche, die das Verfassungsproblem isolieren und die deutsche Frage durch bloße Parteikämpfe zur Lösung bringen zu können hofften, noch Friedrich Wilhelm IV. und Radowitz, die sich schließlich vor die Entscheidung gestellt sahen, die äußerst gemäßigten Einheitsforderungen, die ihr Unionsprogramm enthielt, entweder gegen Rußland, Österreich und die größeren deutschen Staaten mit Gewalt durchzusetzen oder ganz fallen zu lassen, hatten eine umfassende Vorstellung der europäischen Dinge. Ein anderer Kopf war es, der die Krise, in der sich das Staatensystem befand, in ihrer vollen Schärfe durchschaute: Napoleon III. Mit Genugtuung nahm er, der neue Bonaparte, wahr, wie das dem hegemonischen Ehrgeiz Frankreichs unerträgliche Bündnis der Ostmächte zerfiel; er setzte den Hebel an, um es vollends lahmzulegen. 1854 brach er die orientalische Frage vom Zaun und erweckte so einen alten Machtgegensatz, wie er zwischen Osterreich und Preußen auf deutschem Boden bereits zutage getreten war, nunmehr auch zwischen Österreich und Rußland. Und die unentschlossene österreichische Politik im Krimkrieg, die weder an Rußland noch an die Westmächte Anschluß fand, ließ es wirklich zu einem Zerwürfnis mit Rußland, das für die Niederwerfung der ungarischen Revolution den Dank der Habsburger fordern zu können glaubte, kommen. Napoleon konnte dazu schreiten, über Österreich hinweg dem Zaren die Hand zu bieten. Und wenig hätte gefehlt, so wäre auch Preußen den Westmächten damals ins Garn gegangen. Es war der erste entscheidende Eingriff Bismarcks in die große Politik (noch von Frankfurt aus), daß es ihm gelang, die drohende Verfeindung Preußens mit Rußland zu verhindern und die preußische Neutralität zu wahren. Doch die europäische Lage war durch Napoleon III. von Grund aus verwandelt. Mit Glück hatte der Kaiser die alte kontinentale französische Politik, in Osteuropa Allianzen gegen Mitteleuropa zu suchen, wiederaufgenommen. Nachdem Österreich völlig isoliert war, konnte er daran gehen, das französische Problem der „natürlichen Grenzen" zunächst nach Italien hin zu realisieren. Welche

117 Stellung würde Preußen in dem Konflikte, von dem es auf das nächste berührt werden mußte, einnehmen? Gehen wir der Haltung, die die Jahrbücher einnahmen, nach und suchen wir sie in Verbindung mit der Politik der damaligen preußischen Regierung zu würdigen. Im allgemeinen war sich der preußische Liberalismus 1859 über die prinzipielle politische Orientierung einig. In seinen taktischen Erwägungen dagegen kam es zu Abweichungen. Auch innerhalb des Mitarbeiterkreises der Jahrbücher treten uns solche entgegen, jedoch nicht in den Blättern selbst, die Haym auf einen einheitlichen, von Neumann angeschlagenen Grundton stimmte. Stellen wir vorerst diesen fest. Wir erinnern uns jener gesättigten, befriedigten Stimmung des zu seiner Arbeit wohlausgerüsteten Liberalismus, der Neumann am Anfang des Jahres 1856 Worte geliehen hatte. Gern möchte er das seinen besonderen innerstaatlichen Zielen zustrebende Preußen vor einer äußeren Verwicklung bewahrt sehen. So billigt er es, im Februar 1859, daß die den preußischen Landtag eröffnende Thronrede es vermieden habe, auf die auswärtige Gefahr anzuspielen und den Machthaber an der Seine zu reizen. Besser, das Ungewitter komme am Po als am Rhein zur Entladung! Dem patriotischen Drängen der süddeutschen öffentlichen Meinung dürfe Preußen nicht nachgeben. Eben diese Momente macht sich Haym in seiner Besprechung der Baumgartenschen Schrift: „Deutschland und die italienische Frage, zur Verständigung zwischen Nord und Süd" zu eigen. Die süddeutsche Stimmung erscheint ihm „im besten Fall alseine wenig stichhaltige Gefühlspolitik". Im März, als die Kriegsgefahr näher gerückt ist, bringt Neumann bereits das dreifache Motiv für die preußische Politik vor, an dem er dann allen Schwierigkeiten zum Trotz weiter festhält; erstens: Eintreten für Österreich gegen Frankreich und zwar, über die Verpflichtung des Rechtsbuchstabens hinaus, mit voller Kraft, „im Interesse des Gesamtvaterlandes" 1 ); zweitens: Unterscheidung ') Bei Mittelstaedt („Der Krieg von 1859, Bismarck und die öffentliche Meinung", 1904) verkennt das Resume über die Preuß. Jahrb.

118 der deutschen und der spezifisch habsburgischen Interessen in Italien, keine Aufrechterhaltung der österreichischen Sprdal vertrage mit den italienischen Dynastien; und drittens: Verwahrung gegen alle Versuche der österreichischen und süddeutschen Politik, „hinsichtlich Preußens auf krummen Wegen zu gehen", d. h. seine Entschlußfreiheit durch eine Majorisierung am Bundestag zu unterbinden. Preußen aber müsse die Wallungen des Übermutes über solche Versuche niederkämpfen, „allein nach Pflicht und Ehre fragen". Wiederum unterstreicht diesen Standpunkt Hayms Besprechung der antiösterreichischen Broschüre „Preußen und die italienische Frage". Preußen hält sich moralisch verpflichtet, für Deutschland einzutreten, deshalb darf es sich die süddeutsche Ungeduld verbitten. Wie Neumann diese Devise verstand, zeigte er im Mai, als der Krieg wirklich ausgebrochen war. Nun will er in Preußen, dem er ursprünglich Fortschritte auf der friedlichen Bahn des Konstitutionalismus zugedacht hatte, wirklich die handelnde, große Interessen, die Interessen der deutschen Nation vertretende Macht sehen. Und rastlos ist er bemüht, die europäische Lage selbständig zu durchdenken, Anlaß und Programm für ein preußisches Eingreifen ausfindig zu machen. Er unterstreicht die drei Motive, die für ihn maßgebend waren: die Herstellung des europäischen Gleichgewichtes gegenüber Frankreich, — die allerdings nicht am grünen Tische zu erreichen sei; die Neuordnung der italienischen Dinge — für die Preußen Osterreich gegenüber eine „eigene Linie der Aktion", gemeinsam mit England, vorgezeichnet sei; und die Freiheit, die Preußen zu beanspruchen habe, den Kampf Deutschlands gegen Frankreich, militärisch und politisch, in seine Hand zu nehmen. Er warnt davor, „innerhalb der europäischen Frage für Preußen eine speziell deutsche Frage zu schaffen". Die Süddeutschen möchten sich beruhigen. Preußen habe seine Vorkehrungen im stillen getroffen. Und wenn es seine Mobili(S. 41), diese empföhlen „die Erhaltung freundlicher Beziehungen zu England, Frankreich und Rußland (!)", die Grundansicht der Jahrbücher und des gemäßigten Liberalismus überhaupt von der europäischen Politik.

119 sierung anordnen würde, so bedeute das Krieg, so müsse das, wie er der eigenen Regierung leise zu bedenken zu geben scheint, die „Aktion zur Folge zu haben". Mitte Juni, nach der Niederlage der Österreicher bei Magenta, nach dem Verlust Mailands und dem Rückzug hinter den Mincio, sah er den Augenblick für die Intervention Preußens gekommen; sie träte der militärischen Ehre keiner der beiden Regner zu nahe. So stimmt er der preußischen Mobilisierung, die am 14. Juni angeordnet war, freudig zu. Nur müsse sie ein entschlossenes Handeln nach sich ziehen: weder um die Unterstützung seiner Vermittlung durch das profranzösische England Lord Palmerstons noch um die durch das antiösterreichische Rußland dürfe sich Preußen noch lange kümmern; drohend solle es sich als der gefährlichere Feind gegen Frankreich erheben. Eine Forderung, die man erst recht würdigt, wenn man bedenkt, daß Neumann sie in dem vollen Bewußtsein, Preußen in eine ganz Europa ergreifende Krise hineinzustoßen, aufstellte: „in der innersten Natur dieses Krieges wurzelt die Tendenz, sich zu einem europäischen zu entwickeln" I ). Und in diesem drängenden Momente hat er nun auch ein abgewogenes Programm zur Stelle, an das sich die preußische Vermittlung halten soll: Aufhebung des bisherigen österreichischen Regierungssystems in der Lombardei und in den von Österreich abhängigen Staaten, jedoch Belassung der Dynastien in denselben, ') Erwägung- im Mai 1859: Wenn Frankreich siege, werde Deutschtand zum Schutz des Bundesgebietes im Trentino, und dann gegen Deutschland Rußland eingreifen; wenn Österreich siege, werde Rußland es nicht siegen lassen, was dann wieder Preußen und England zum Schutze Österreichs und der Türkei auf den Plan rufen müsse. Auch sonst brachte die Aussicht, mit Frankreich und Rußland zugleich kämpfen zu müssen, die Liberalen erst in die rechte Kriegsstimmung. Vergl. Treitschkes Briefe II, 23, an seine Mutter (29. April 1859): „Jetzt, aber, da wir unzweifelhaft wissen, daß Deutschland, nicht Italien der Kampfpreis der Cäsaren in Paris und Petersburg ist — jetzt bin ich mit voller Seele bei der Sache." Ebenso Bernhardi Tgb. III, 193: „Eine solche Wendung" (die Tatsache eines französisch-russischen Bündnisses) „ist vielmehr geeignet, den Krieg für uns zu einem nationalen zu machen. Steht es so, dann wissen wir, warum wir uns schlagen."

120 so wenig Sympathien sie verdienten, aus Gründen des europäischen Gleichgewichtes. Wenn sich die Dynastien, obwohl fremder Herkunft, nunmehr „mit dem Genius ihres Volkes in Einklang setzen würden", so würden die Italiener zufrieden sein müssen, um „den schwersten Schritt auf der Bahn politischer Entwicklung" weiter gebracht zu sein, eine Stätte zum Aufbau politischer Freiheit zu haben. Die Freiheit selbst dagegen sei ein Gut, das erst „durch jahrhundertelange eigene und ernste Arbeit errungen" sein wolle. So sprach ein deutscher Liberaler zum Italiener im Jahre 18591 Im übrigen müsse der österreichische Besitzstand — also auch die Lombardei — aufrechterhalten, Frankreich an jedem territorialen Erwerb gehindert werden: es gälte Frankreich das europäische Schiedsrichteramt zu entwinden, in der Ordnung der Dinge in Italien nicht das allgemein wünschenswerte Kriegsziel durch die besonderen französischen Absichten verrücken und verdunkeln zu lassen, vor allem Kirchenstaat und Priesterregiment zu beseitigen. Neumann scheut sich, die Frage überhaupt aufzuwerfen, was -Preußen bei einem solchen Auftreten gewänne. Es träte ein gegen die napoleonische Bedrohung, also für seinen „eigenen Herd", für einen deutschen Bundesgenossen, d . h . für seine Pflicht; für die Besserung der italienischen Zustände, d . h . für „Freiheit und Menschenwürde"; und über dem allen für die Wiederaufrichtung seines Selbstgefühles, für seine Ehre. Einer so hochgreifenden Politik machte der Friede von Villafranca, dem sich Neumann in seiner nächsten Korrespondenz (vom 18. Juli) bereits gegenüber sah, ein schnödes Ende. Obwohl der Schleier des Geheimnisses den Sinn der französischösterreichischen Abmachungen noch bedeckte, sprang für Neumann doch die Haupterkenntnis sofort heraus: es ist kein militärisches, sondern ein politisches Motiv, es ist das drohende Eingreifen Preußens, was die Gegner zur Übereinkunft geführt hat. Napoleon hat die Lombardei empfangen, die ihm Preußen nicht zugebilligt haben würde. Und Österreich hätte „drei Lombardeien" geopfert, um zu verhindern, daß Preußen in Deutschland zu Ansehen gelangte. Aufs schwerste sieht Neumann durch diese Wendung der Krise den europäischen Frieden weiterhin bedroht. Eine Steigerung

121 des französischen Übergewichtes sei freilich ausgeblieben (noch wußte er nichts von der Annexion Savoyens und Nizzas); geheime Abmachungen Frankreichs und Österreichs aber gegen den unbequemen Dritten seien nicht von der Hand zu weisen!

Vor

allem aber sei es der innere Zustand der Länder, der neue Brände zu entfachen drohe: Italien bleibe von dem österreichischen reaktionären Geiste weiter bedroht, Frankreich habe sein Gloirebedürfnis nicht gestillt, Deutschland sei seiner Zerrissenheit wieder von neuem inne geworden. D e r Standpunkt, den wir Neumann einnehmen sahen, traf durchaus mit

dem der preußischen

Regierung

zusammen,

die

weder von einer Verständigung mit Frankreich, um dafür freie Hand in Deutschland zu bekommen, noch von einem bedingungslosen Eintreten für Osterreich etwas wissen, sondern diesem erst im Momente seiner Schwäche beispringen wollte 2 ). Ihr stimmte Neumann zu, von den ersten Erklärungen Schleinitzens zur Lage im März und Mai bis über den Frieden von Villafranca hinaus. Zwar daß Schleinitz die preußische Intervention von einem Einverständnis mit Rußland und England abhängig machen wollte, tadelte e r ; dessen Ansicht aber, daß Preußen sich vor dem Eintritt in den Krieg erst mit den anderen deutschen Staaten über die militärische Leistung einigen müsse, mochte er wiederüm^vom deutschen Standpunkt

nicht mißbilligen.

Haym, der

Neumann

*) Man fürchtete damals eine Schadloshaltung Österreichs durch Schlesien, Frankreichs durch die Rheinprovinz als Kehrseite des italienischen Kompromisses. Treitschke: „Mir ist, als hätte ich den geheimen Friedensartikel: Schlesien und Rheinland! mit diesen meinen Augen gelesen" (Briefe II, 39). ) Vergl. Gruners „Rückblick auf mein Leben" (Dtsch. Rev. 26, 3, S. 78, 1901). Mit seinem Freunde Gruner, dessen „antifranzösische und antinapoleonische Gesinnung notorisch" (ebd. 345) war, stimmte Neumann im ganzen überein, wenn er auch die flachen Räsonnements Gruners über die aus der äußeren und inneren Lage sich ergebende Unwahrscheinlichkeit einer napoleonischen Kriegsabsicht (ebd. 341—343, wobei allerdings zu bedenken, daß es sich um Rückblicke aus den 70 er Jahren handelt) nicht geteilt haben wird. 2

122 sonst durchaus in seiner maßvollen Kritik folgte 1 ), hätte sich doch eine „staatsmännerische" Lösung

jener Schwierigkeiten

denken

können ). 2

W a r so die Haltung der Jahrbücher eher um einen Grad aktiver als die der Regierung, so war dagegen das Gros der liberalen Partei erheblich unlustiger zum Krieg;

man war nicht so

tief wie Neumann von den bedrohlichen Absichten

Napoleons

überzeugt und wollte nicht gegen Rußland ungeschützt bleiben 3 ). Von den Männern der Regierung Pourtales,

nennt Gruner Usedom

die preußischen Gesandten in Frankfurt

fanatisch antiösterreichisch

und

und Paris,

und von Sympathien für die italie-

nische Sache erfüllt 4 ). Hingegen waren nun Duncker und Bernhardi 5 ) für eine entschieden energischere Kriegspolitik gegen Frankreich. Sie rechneten außer den beiden letzteren 6 ) auch Schleinitz und Bonin 7 ) zu den Flaumachern,

die den Prinzregenten,

der

') Trotz seiner persönlichen Beunruhigung, der Duncker von Berlin aus zu steuern suchte. An Treitschke schrieb Haym damals, daß die Regierung- des Prinzen es ihren Freunden schwer mache, sie zu verteidigen (Treitschkes Briefe II, 30). 2 ) In seiner Besprechung der Schrift Aegidis, „Preußen und der Friede von Villafranca", die für die Regierungspolitik eintrat. *) Bernhardi Tgb. III, 214. Ebenso über die Haltung „fast der ganzen liberalen Partei", Gruner, Dtsch. Rev. XXVI, 3, S. 75. — Auch Wilhelm Beseler stimmte in seiner Broschüre „Das deutsche Interesse in der italienischen Frage" dagegen, daß Preußen Österreich in Italien sekundiere und die napoleonische Gefahr überschätze. Dies gab Haym in einer Besprechung der Broschüre Gelegenheit, auf den einzig möglichen Weg, der sich Preußen in der Krise geboten habe, den einer „rechtzeitigen, selbständigen und raschen Mediation", noch nachträglich hinzuweisen. Statt eines Manteuffelisch anmutenden Gehenlassens, wie es Beseler befürwortete, wäre damit der Krieg an der Seite Österreichs „zu einem wahrhaft politischen und einem wahrhaft deutschen Gedanken diszipliniert" worden (IV, 109). 4 ) Gruner, ebd. ") „Wir stimmen auf das Beste und sind durchaus einerlei Meinung über alle wichtigen Dinge" (Bernhardi Tgb. III, 209). ' ) Ebd. III, 268 (Bernhardi stand mit Usedom in lebhaftem Meinungsaustausch Tgb. III, 218 u. sonst). 7 ) Ebd. III, 235.

123

im Grunde ihrer Ansicht sei, „retardierten" 1 ). Sie drangen darauf, vor allem reale Verhältnisse, Tatsachen zu schaffen; Preußen sollte etwas eigenmächtiger auftreten 2 ), sein deutsches Programm öffentlich bekanntgeben; Frankreich den notwendigen Krieg erklären, den militärischen Oberbefehl über die deutschen Kräfte faktisch in Besitz nehmen — in der Möglichkeit dieser militärpolitischen Errungenschaft scheint ihr Hauptmotiv für die Aufstellung eines großen Heeres am Oberrhein, ja für den Eintritt Preußens in den französischen Krieg überhaupt zu liegen — Österreich nicht etwa die Lombardei, wie Neumann wünschte, garantieren 3 ). Die Idee der gerechten Vermittlung, die Neumann noch aus vollem moralischen Apparat heraus entwickelte, wollten sie ersetzt sehen durch die positive Tat, die das rein preußische Interesse geltend mache — geltend mache aber nach beiden Seiten, sowohl gegen Frankreich wie gegen Osterreich! Der junge Heinrich von Treitschke glaubte gar, daß sich Preußen dabei „den einzig vernünftigen Siegespreis", Schleswig-Holstein, holen können werde! 4 ) Auch seine Antipathien waren gleich stark gegen Frankreich wie gegen Osterreich gerichtet 5 ). Auch !)

Ebd. III, 267. Bernhardi gegen Vincke-Olbendorf, der keinen Krieg, wohl aber die politisch-militärische Führung Deutschlands durch Preußen wollte: „Ohne Tat! — ganz von selbst! — wie soll das geschehen!" (Tgb. III, 247). Bernhardi operierte mit der Politik „Forderungen und Bedingungen" gegen die Regierungspolitik der „Eventualisten" (III, 218, 246 u. sonst). Vergl. die „fünf Punkte", die Preußen, wie er wünschte, zu seinem öffentlichen Programm machen sollte (III, 218 f.). — Duncker glaubte übrigens, daß Preußen mit einer derart energischen Haltung auch ohne Krieg, vor dem Napoleon zurückschrecken würde, das Seine würde erhalten können (III, 267). 3 ) Ebd. III, 236. *) An Haym 30. V. 1859 (Briefe II, 27). 5 ) „Ich hoffe, Deutschland wird unter Preußens Führung schlagen — aber nicht um Italien zu knechten, sondern um eine europäische Hegemonie Frankreichs zu verhindern" (ebd. II, 31). „Preußen soll Österreich in diesem Kriege helfen, um Österreich den empfindlichsten Schlag beizubringen. Wird ein wunderbares Glück die Ausführung dieses paradoxen Satzes ermöglichen?" (II, 35). 2)

124 Springer hielt die von Frankreich drohenden Gefahren für größer als die aus einer Verbindung mit Österreich den Nachteile;

die politischen Verhältnisse

zur Verteidigung

des österreichischen

entspringen-

zwängen

Staates:

Preußen

„Aus

diesem

Grunde stehen wir bei Österreich mit der ganzen Kraft, wenn auch nicht mit der ganzen Liebe, dem gleichen Konflikte

lebte

deren wir fähig sind 1 )."

Häußer 2 ).

Baumgarten,

In

dessen

„Selbstkritik" des Liberalismus vom Jahre 1 8 6 6 wir die lebendigste Schilderung der Stimmung jener Tage, ihrer Nüancen in Nord und Süd, verdanken 3 ), nahm in seinen den Preußischenjahrbüchern gelieferten Korrespondenzen eine analoge, durch seinen besonderen

süddeutschen

Standort

beeinflußte

Stellung

ein:

tapfer auf der einen Seite hielt er der kleinen, nicht unbedingt großdeutschen

Minorität,

die

es in Süddeutschland

gab,

die

Stange, bekämpfte er die Moriz Mohl und Lerchenfeld und vor allem die Augsburger Allgemeine Zeitung — seine Korrespondenzen

enthalten

Diatriben" tismus

eine

scharfe

und der z. T .

liegenden

Motive

Analyse

der

„österreichischen

stark außerhalb des reinen Patrioder

dortigen

großdeutschen

Stim-

mung — ; unzufrieden aber war er auf der anderen Seite auch mit der „dem Süden durchaus unfaßlich und unleidlich verklausulierten" preußischen Regierungspolitik: daß sie vielmehr die kurhessische, die hannoversche, die schleswig-holsteinische Frage zu einer deutschen Lösung führe, in Österreich auf den Sturz des klerikalen, dem Lande selbst verhaßten Systems hinwirke! Baumgarten war unter den Männern unseres Kreises vielleicht noch am stärksten in den Vorstellungen der inneren Politik befangen, die durch die Eröffnung der neuen Ära in Preußen allenthalben rege geworden waren und, wie er in der Selbstkritik von 1866

ausgeführt hat, ein Haupthindernis zum klaren

Durch-

denken der auswärtigen Probleme bildeten 4 ). .

' ) Pr. Jb. III, 617f. ') Bernhardi Tgb. III, 192. 3

) Vergl. Aufs. u. Reden, S. 1 1 3 — 1 2 3 .

4

) Seine Korrespondenzen

bewegen sich immer wieder um den

einen Hauptpunkt der Anstößigkeit des österreichischen Absolutismus,

125 Wir haben eingehende Untersuchungen über den S t a n d der öffentlichen Meinung in Deutschland im J a h r e 1 8 5 9 1 ) ; aus ihnen ergibt sich, über die Unterschiede großdeutscher und kleindeutscher und mancher persönlichen Auffassung hinweg, als beherrschender Gedanke die Frontstellung Deutschlands gegen Frankreich. Die populäre Stimmung, in der napoleonischen Zeit entstanden, 1 8 4 0 und 1 8 4 8 neu aufgeregt, ging dahin. D e r Krimkrieg mußte sie weiter verstärken; seitdem lastete das Gespenst des Zweifrontenkrieges, tern der

Patrioten.

gegen W e s t und O s t , auf den Gemü-

Die

Liberalen

Dunckerschen

Schlages

er-

kannten überdies in der auswärtigen Konstellation den doppelten Gegensatz, fand, wieder:

in dem sich ihre innere Politik seit 1 8 4 8 weder mit dem reaktionären Rußland,

be-

noch mit

dem radikalen und später dem imperialistischen Frankreich, weder mit den Legitimisten noch mit den Cäsaro-Demokraten waren sie gesonnen, zusammenzugehen. S o blieb ihnen, außer der Freundschaft mit England, nichts anderes übrig als die Verständigung mit Osterreich.

In diese ihre aus Geschichte, Vernunft

und Moral eigentümlich gebundene Auffassung mußten sie das preußisch-österreichische, das eigentlich deutsche Problem hineinspannen. Begreiflich, daß ihnen das, bei übrigens vollkommener Einsicht in die abführenden österreichischen W e g e 2 ) , lang.

Gedanken,

wie

sie

Bismarck

schäftigten, wie sie Lassalle

damals

nicht ge-

in Petersburg

be-

und unter den Liberalen der ein-

de», in Italien siegreich geblieben, auch in Deutschland durchschlagen werde — und solches auf dem Hintergrunde der Notwendigkeit eines Krieges für Österreich gegen Frankreich! ») Th. Scheffer, „Die preußische Publizistik im Jahre 1859" und A . Mittelstaedt, „Der Krieg von 1859" usw. s ) So schrieb Neumann bei der Kunde von dem Übereinkommen von Villafranca: „Österreich wird durch eigene Lebensgesetze bestimmt; seine Interessen sind nicht nur andere als die deutschen, sie laufen den deutschen vielmehr gerade in den Punkten, welche für die deutsche Nation Lebensfragen sind, schnurstracks zuwider . . . Deutsche Zersplitterung und deutsche Zwietracht müssen durch alle Mittel genährt werden" (IV, 81).

126 zige Constantin Rößler hegten, Preußen die deutsche Führung Österreich abzwingen zu lassen und es gegebenenfalls als Dritten im Bunde in die französisch-russische Allianz hineinzuführen, wiesen die Liberalen damals und, wie wir sehen werden, auch noch in den nächsten Jahren mit Entrüstung zurück. Richtet man aber den Blick von der Einstellung auf den politischen Moment hin zu der geschichtlichen Gesamteinstellung, die wir bei den Liberalen vorherrschend finden, so sind es doch große historische Verhältnisse, die sie in ihrer Wahrheit zur Geltung gebracht haben. Hat sich nicht das prophetische Wort erfüllt, das Bernhardi im Mai 1859 niederschrieb: „Die Kriegsperiode, in dip wir jetzt eintreten, kann nicht anders enden, als mit dem Sturz Napoleons III. . . . Die Aufgabe ist uns gestellt und wird gelöst werden 1 )?" Hier sprach sich eine Lebenserfahrung der Nation auf das treffendste aus. Hervorzuheben bleibt überhaupt die Weite des Horizontes, der wir in den Jahrbüchern begegnen. Die drohende westöstliche Umklammerung gedachten sie mit einer großen preußisch - österreichisch-englischen Kombination zu bestehen. Daher war ihre Hinneigung zu England ein leitender Gesichtspunkt gerade ihrer italienischen Politik. Die englische Phraseologie von Freiheit und Menschenwürde machten sie sich, ohnehin von ihr berührt, ganz zu eigen. England sollte das Mittelmeer beherrschen; sie betonten, daß es weder Frankreichs Festsetzung in Italien, noch die Rußlands im türkischen Orient dulden dürfe, auch die Verweisung Österreichs in den Südosten, wo es den Gegensatz .zu Rußland aufzunehmen habe, diente dieser sich schon weltpolitisch weitenden Anschauung. Es war eine große europäische Uberlieferung, in der sie lebten, die Gedankenwelt Wilhelms von Oranien und der Pitts. Verzeihlich, daß sie e i n e Voraussetzung der englischen Politik nicht. mit in Rechnung stellten: die Schwäche und Ohnmacht eben der Mitte Europas, die jetzt erstarken wollte. Schon war aber in Palmerston ein englischer ) Tgb. III, 208.

127 Staatsmann am Ruder, der angesichts dieser Veränderung englische Festlandspolitik

in neue Bahnen, hinüber zu

die

Frank-

reich, leitete. Die Machtverhältnisse des Erdteils waren in gewaltiger Gärung. Zwei neue Großmächte lagen in den Geburtswehen. Weit zurückliegende und in späte Zukunft weisende Gedanken tauchten auf. D a s volle Bewußtsein der Gefahr lebte in den Männern, deren Anschauungen uns entgegentraten. Ihre historische Bildung

vermochte

derselben,

wenn

auch

noch

nicht

real-

politisch frei, so doch in ernster Gefaßtheit und tiefer Entschlossenheit,

von dem Anzug der Begebenheiten

eigen

und

ganz unmittelbar berührt, gegenüberzutreten. Eben in der Einsicht in den Zusammenhang der nationalen Frage mit den Weltereignissen hatte, wie wir sahen, die moralische Haltung

der

Neumann, Bernhardi, Duncker ihre Wurzel. S i e blieben ihrer Gesinnung und dem Grundzug ihrer Gedanken, so wenig diese von dem Verlauf der Krise bestätigt waren, treu. Wir werden sehen, daß Neumann von dem Bündnis mit Osterreich und England keineswegs absprang 1 ). Wie er die preußische Politik während der Krise als „hochsinnig, eigennützig so

wies

er

und

in allen Hauptstücken korrekt"

sie auch weiter daraufhin,

Quellen ihre Stärke trachtungen

zu

ziehen.

Und

so

aus

den

schließen

über den Frieden von Villafranca

rakteristischen Tröste,

daß durch

un-

bezeichnete, moralischen seine Be-

mit dem

die Ernennung des

cha-

Grafen

Schwerin zum preußischen Minister des Innern „ d a s konsequente Festhalten an einem aufgeklärten freisinnigen Regierungssystem verbürgt s e i " . ') Auch Duncker blieb von der Richtigkeit der politischen Orientierung Preußens überzeugt: er machte die Beibehaltung seiner Stellung als Leiter der Regierungspresse davon abhängig, daß ein die antifranzösische Tendenz der preußischen Politik während des Krieges verschleiernder Artikel v. d. Goltzens in der offiziösen Preußischen Zeitung (v, 19. Juli 1859) desavouiert würde. Dies geschah durch die erwähnte Broschüre Aegidis „Preußen und der Friede von Villafranca" (Haym, „Das Leben Dunckers, S. 202 f.).

128 Einbringung der Armeereform. Wie der italienische Krieg die Liberalen an ihrem Programm nicht irre werden ließ, so verlief auch die erste Session des Landtags von 1 8 5 8 (Januar bis Mai 1859) durchaus nach ihren Wünschen 1 ). Wie zur Zeit der Stellvertretung und bei den Wahlen einigte man sich auf die Parole: „Nicht drängen!" Man überließ der Regierung die legislatorische Initiative 2 ). Hoffte man im Februar 1859 die Aufhebung der Grundsteuerbefreiung und die Einführung der fakultativen Zivilehe — Gegenstände, die an sich schon geeignet seien, eine Kammersession denkwürdig zu machen — noch im Laufe des Jahres zu erledigen, so hielt man weitere Anliegen — die Reform der ländlichen Gemeindeverfassung, ein neues Preßgesetz und mancherlei über .die Absichten der Regierung hinausführende Gedanken über die Zivilehe •— vor der Hand noch zurück. Genug, daß sich die liberale Tendenz der Regierung in einzelnen Zügen, wie der Aufhebung der königlichen Polizeiverwaltung in mehreren mittleren Städten, in der Zulassung der jüdischen Rittergutsbesitzer zu den Kreistagen und besonders in der Behandlung der Dissidentenfrage durch den Kultusminister von Bethmann-Hollweg, sichtbar zum Ausdruck brachte. Bethmann-Hollweg vor allem, das Haupt der Partei, für die Neumann schon während der Reaktionszeit gearbeitet hatte, wurde von diesem warm begrüßt, er, der „aus den finsteren und ausgangslosen Irrgängen eines blinden, mit Zwangsmaßregeln bekehrungssüchtigen Repressivsystems mit sicherer Hand wieder in die frische Luft echter Gewissens- und Glaubensfreiheit hinausgeführt habe". „Licht und Leben, die Wärme wahrer Religiosität und jene Glaubenszuversicht, die für den Sieg der Wahrheit nur ihre eigne Kraft und den Geist walten läßt, quoll wohltuend aus jedem Wort seiner denkwürdigen R e d e 3 ) . " Es charakterisiert Neumann, daß er auch ) Vergl. „Politische Korrespondenz" Februar -Mai 1859 (Bd. III, H. 2 - 5 ) . *) III, 230 und III, 343: die Session habe nur „die Aufgaben zu signalisieren". ' ) 111,349. J

129 der kirchlichen Richtung Bethmanns, die sonst bei den Liberalen auf Widerstand stieß, zustimmte. Dem Ministerium des Inneren dagegen, das damals noch von Flottwell geleitet wurde, stand er wenig vertrauensvoll gegenüber. Diesem hielt er vor, die Freiheit der Presse noch nicht überall verwirklicht zu haben, er ermahnt es, in der „Purifikation des Beamtenstandes" (von den Geistern der Reaktion) und in der Herstellung einer „harmonisch und charaktervoll wirkenden" Verwaltung entschiedener vorzugehen. Am Ganzen erfreut ihn dann doch das „harmonische Zusammenwirken" der Majorität des Abgeordnetenhauses mit der Regierung. Ausdrücklich betont er — der Kreuzzeitung gegenüber — , daß dies nicht etwa einem laxen Nachgeben des Ministeriums und damit der Krone gegenüber dem Parlament, sondern vielmehr der Bereitwilligkeit des Parlamentes entsprungen sei, „den Ansichten des Ministeriums entgegenzukommen und den Intentionen des Prinzregenten in loyalster Weise zu entsprechen". Über das „sich an die Entwicklung wie ein Bleigewicht hängende" Herrenhaus mehren sich die Klagen Neumanns ; das Herrenhaus, nicht das Abgeordnetenhaus habe in der Frage der Ablösung der Reallasten bereits einen „Konflikt" 1 ) provoziert. Dann gab ihm aber die Bewilligung der Kriegsmittel auch durch dieses, womit die Session schloß, das Vertrauen zurück, daß die drohende auswärtige Gefahr die Nation ,,zu einem harmonischen Ganzen verschmelzen" und den Regenten die Zuversicht zu „großen und kühnen Entschlüssen" schöpfen lassen werde. Zu Beginn der zweiten Session (Januar bis Mai 1860) ein ganz anderes Bild! 2 ) Zwar ihre Eröffnung begrüßte Neumann noch durchaus optimistisch. Manche Fehltritte der Regierung hätten doch keine Verstimmung im Volke verursachen sollen. Das Verbot des Fackelzuges bei der Feier von Schillers 100 jährigem Geburtstage sei von den Gegnern Preußens „zu den aben») III, 471. ) Vergl. für das Folgende die „Politischen Korrespondenzen" vom

2

Ende Januar bis Ende Mai und vom Oktober 1860 (Bd. V, H. 2—6, Bd. VI, H. 4). Westpha!

9

130 teuerlichsten Folgerungen" ausgebeutet worden. Der Rücktritt Bonins, des populären Kriegsministers, und seine Ersetzung durch Albrecht von Roon „werfe nicht den geringsten Makel auf das Staatsministerium". Vollends hätten solche Verstimmungen beim Anblick der von der Regierung vorgelegten Gesetzesentwürfe beseitigt sein müssen. Die Vorlagen über die Grundsteuer, die Zivilehe, die ländliche Kreisordnung, die Wahlregulierung, die Wuchergesetze zeigten den Ernst des Liberalismus der Regierung. Denn nicht so sehr um ihrer selbst willen werden sie von Neumann begrüßt, als recht eigentlich deshalb, weil sie „Greuel in den Augen der feudalistischen Partei" seien. — An Wichtigkeit freilich überragte alle diese Entwürfe der der Heeresreorganisation. Nicht das finanzielle oder das militärische, sondern vor allem das politische Moment wollte Neumann der Beratung desselben zugrunde gelegt wissen; die allgemeine Weltlage enthielt für ihn die dringende Aufforderung, „ohne Erschöpfung der fundamentalen Hilfskräfte die volle Kraft des Landes, zweckmäßig organisiert, bereit zu halten 1 )". Noch einmal hatte die Aussicht auf die Durchführung großer innerer Angelegenheiten Neumann erhoben — da wurde er, einen Monat später, zu einer völlig veränderten, die Regierungstätigkeit in ihrem ganzen Umfang kritisierenden Stellungnahme geführt. Er spricht Ende Februar von einer unheimlich dunklen Situation, in die kein Licht gebracht, von einer Wolke der Mißstimmung über dem Volke, die nicht verscheucht sei. Der Grund: die Abgeordneten fänden es täglich schwerer, ihre Hauptaufgabe, die Armeereform, zu lösen, die nicht, wie es bisher in allen ministeriellen Erklärungen gehießen habe, sechs Millionen, sondern neun Millionen Taler anfordere. „Hier lag der Schwerpunkt der Situation." Von diesem Augenblicke an ') V, 208. — Baumgarten berichtete später, daß bereits Ende November 1859 „alle Blätter von dieser wichtigen Angelegenheit voll" gewesen seien (Der deutsche Liberalismus, Auf. u. Red. S . 141). Auch er sprach dort von einer Besserung der seit dem Herbst verschlechterten Stimmung im Lande durch die in der Thronrede gegebene Ankündigung eines „wohlzusammenhängenden Systems innererund auswärtigerPolitik" (ebd. S.135).

131 schlug Neumanns Haltung in den Jahrbüchern um, wird seine Politik, die die Regierung bis dahin höchstens in Einzelheiten getadelt hatte, in immer wachsendem Maße oppositionell. Auf die technischen Seiten der Armeereform geht Neumann so gut wie gar nicht ein. Die Frage der zwei- oder dreijährigen Dienstzeit, über die die Militärkommission des Abgeordnetenhauses Monate beriet, ohne, wie der Regent spottete, etwas davon zu verstehen, schien ihm „bei der gegenwärtigen Weltlage" belanglos: faktisch würde Preußen zu seiner Sicherheit doch drei Jahrgänge unter den Fahnen halten müssen. Es geftüge, die Wiedereinführung der zweijährigen Dienstzeit für ruhigere Zeiten vorzubehalten. Auch Bedenken über ein Zuviel an Aufwendung für Garde und Kavallerieregimenter, wie sie Bernhardi, einer der wärmsten Befürworter der Reform, immerhin äußerte 1 ), werden bei ihm nicht laut. Den militärischen und den finanziellen Gesichtspunkt brachten die Jahrbücher vielmehr zunächst nur in einem Artikel Vincke - Olbendorfs ,,Über die Reformen in der preußischen Kriegsverfassung" zur Erörterung 2 ). Vincke verlangt eine Vermehrung bezw. Verstärkung der Cadres des Feldheeres, einmal um alle Wehrpflichtigen heranzuziehen und dann um der bisher in getrennten Formationen mobilgemachten Landwehr durch feste der Linie entsprechende Cadres einen besseren militärischen Halt zu geben. Hiermit glaubt er den beiden Hauptübelständen in der preußischen Heeresverfassung zugleich abzuhelfen, dem zivilen: der vorzeitigen Inanspruchnahme der älteren Jahrgänge bei einer Mobilmachung, und dem militärischen: der verminderten Schlagfähigkeit des Heeres durch die allzu isolierte Stellung der Landwehr. Im übrigen hält er an den Landwehrtraditionen von 1813 mit Wärme fest; daß sie sich 1848—1850 nicht bewährt haben sollten, werde ,,mit mysteriöser Miene herumgetragen". Er wendet sich gegen die Militärs von Profession und gegen jene Politiker, „welche in einem vom Volke möglichst abgesonderten stehen') Tgb. III, 263. ') Bd. V, H. 2.

9*

132 den Heere die mächtigste Stütze der Monarchie und in der dem Volke näherstehenden Landwehr eine Gefahr für dieselbe erblickten". Auch gegen die dreijährige Dienstpflicht bei der Infanterie macht er den allgemeinen Geist, der nicht „mechanischer Gewohnheit" verfallen dürfe, geltend; daneben Gründe der Sparsamkeit, die er auch für andere Punkte empfiehlt 1 ); Bernhardi bot Haym an, den Äußerungen seines Freundes Vincke gegenüber die Notwendigkeit der dreijährigen Dienstzeit in den Jahrbüchern darzutun. „Der Gegenstand ist von solcher Wichtigkeit — und darf so wenig feststehenden Parteiansichten untergeordnet werden — daß auch wohl die Preuß. Jahrb. veranlaßt wären, ihn nicht mit e i n e m Aufsatz für erschöpft zu halten 2 )." Haym jedoch lehnte ab 3 ), und wird es auch Neumann auferlegt haben, in seinen Korrespondenzen die einheitliche Haltung der Jahrbücher nicht zu berühren. Doch mochte Neumann auch seiner Natur nach wohl darauf eingehen. Was ihn an der Frage bewegte, war in erster Linie das Ganze in seinem Zusammenhange; seine Kritik der Militärpolitik der Regierung wird zu einer Kritik des ministeriellen Systems der" Neuen Ära überhaupt. An zwei Momente knüpfte diese Kritik an, an eins der inneren und an eins der äußeren Politik. Zunächst an die Besorgnis, „daß das gegenwärtige Ministerium außer einer plötzlichen und starken Erhöhung der Steuerlast keine Spur seiner Wirksamkeit, keine erhebliche Förderung des Landes auf dem Wege des Fortschritts hinterlassen werde." Wohl habe die Regierung große Gesetzesentwürfe vorgelegt, zu ihrer Durchbringung aber nichts getan 4 ). Das Schicksal der Zivilehe, welche

*) Später wurde Vincke, unter dem Eindruck der auswärtigen Lage, durch Zureden Bernhardis und namentlich des Herzogs von Coburg, doch dazu gebracht, dem Regierungsvorschlag zuzustimmen (Bernhardi Tgb. III, 295, 298, März 1860). s ) Brief an Haym 5. II. 1860. 3 ) Tgb. III, 304. *) Von allen Entwürfen, die die Regierung vorlegte, war 1859 nur

133 das Herrenhaus bereits in der ersten Session verworfen habe, drohe auch den anderen Entwürfen. Gegen das Herrenhaus, das sich vermessen habe zu erklären, daß „jeder seiner Beschlüsse für die öffentliche Meinung ein Schlag ins Gesicht gewesen sei", richtet sich Neumanns volle Empörung. Im Februar fordert er die Ernennung wenigstens einiger Liberaler in die Körperschaft; im Mai, nach Schluß der Session, beim Anblick „eines Trümmerfeldes von Gesetzesentwürfen", die Bildung einer „kompakten, ministeriellen Partei" durch „Pairschub". Und neben der so im Herrenhaus immer noch mächtigen Reaktion eine Regierung: — keine „ernsthafte", keine „wirkliche" Regierung; die „bloß einzelne Verwaltungsfunktionen ausübe"; die das Beamtentum in seinem Bestände als unantastbar betrachte, es dann aber nicht einmal durch „Gesetzesvorschriften von der positivsten und unzweideutigsten A r t " zu zügeln wisse. In der Tat scheute Schwerin als Minister des Innern vor jeder Maßregelung der ihm untergebenen, im Geiste Westfalens weiter amtierenden Stellen zurück, so daß er in seiner übertriebenen Rechtlichkeit für einen förmlichen Anwalt der Reaktion gelten konnte 1 ). Eine „ungenierte Entfaltung seiner Subjektivität" wirft Neumann ihm vor und ein Auftreten, das unfähig sei, „eine der Gesamtlage entsprechende Wirkung scharf in das Auge zu fassen". Das waren andere Töne, als sie die Minister der Neuen Ära bei ihrem Antritt zu hören bekommen hatten! Nicht besser erging' es dem Auswärtigen Amt 2 ).. Wohl stimmte Neumann, wie während des italienischen Krieges, den Zielen der preußischen äußeren Politik weiterhin zu. So ihrem deutschen Programm, wie er es aus der Antwort Schwerins auf die Stettiner Adresse im September 1859 herausinterpretierte — schon hier nicht ohne den Hinweis darauf, daß der „speeine Verbesserung- der Preßverhältnisse und eine Neuregulierung der Wahlbezirke zur Annahme gelangt. l ) Klagen Dunckers und Sauckens über ihn: Bernhardi Tgb. III, 271. 278. 318 f. ») Vergl. die„Polit.Korresp." vom S e p t . - N o v . 1859 (Bd.IV, H . 3 - 5 ) .

134 zielle Beruf" einer Regierung

eben das Handeln sei. Ebenso

findet er an Schleinitzens „vortrefflichst überlegtem" Eintreten für die kurhessische Verfassung von 1 8 3 1 ausdrücklich hervorzuheben, daß dieses „nicht nur Einsicht — an dem es dem gegenwärtigen Ministerium des Auswärtigen überhaupt nie fehle — sondern auch Charakter verrate" 1 )! Die Breslauer Zusammenkunft des Regenten mit dem Zaren Alexander II. wird als eine erwünschte, durch das Zusammenfallen der preußisch-russischen Interessen in Italien ermöglichte Auflockerung des bedrohlichen französisch-russischen Zusammenschlusses, ja bereits ausdrücklich als

eine Rückendeckung Preußens

dem Zarbefreier durfte Neumann

im Osten anerkannt. auch ein liberales

Mit

Preußen

sich zusammenfinden lassen. Freilich besorgt er dann von dem preußisch-russischen Verständnis in den italienischen Dingen doch die Festlegung auf eine legitimistische Politik zur Herstellung der vertriebenen italienischen Dynastien, an Stelle — so schritt er mit der Einheitsbewegung Italiens fort — der erwünschten Angliederung der Staaten an Piemont. Weiter immerhin als in der inneren befand sich Neumann so in der äußeren Politik in Übereinstimmung mit der Regierung. Mit Gruner blieb er in naher Fühlung. Schien ihm die notwendige Frontstellung nach innen — gegen das Herrenhaus — noch nicht hergestellt, so war sie . nach außen — gegen das napoleonische Frankreich — von der Regierung erkannt und eingenommen worden. Dennoch war er bei der Eröffnung der Beratung über die Armeereform auch mit Schleinitz äußerst unzufrieden. Er warf ihm vor, seine Geschäftsführung vor den Abgeordneten nicht aufgehellt, kein Wort an die Begründung der Notwendigkeit der großen finanziellen und militärischen Anstrengung gewandt zu haben. Und wie es einer erregten öffentlichen Meinung ergeht, mischte sich Ausführliche Erörterung über die kurhessische Frage in der Korrespondenz vom November 1859 (Bd. IV, H. 5). Dazu Friedrich Oetkers drei „Verfassungsbriefe aus Kurhessen" (Bd. IV, H. 3. 5. 6). Zustimmung Oetkers zu der preußischen Denkschrift vom 10. Okt. 1859 und zu der, wenn auch in diesem Punkte etwas zu kontemplativ befundenen preußischen Thronrede bei Eröffnung der zweiten Session.

135 in die Wahrnehmung der mangelnden populären Vertretung einer an sich richtig gedachten Politik stärker und stärker der Zweifel an die Richtigkeit dieser Politik selbst. Noch hypothetisch, als öffentliche Meinung, gibt Neumann wieder, was sich gegen Preußens Haltung im italienischen Kriege — die er selbst einst so eingehend gebilligt hatte — einwenden lasse: daß sie „diplomatische Weitläufigkeiten angesponnen habe, um den Übergang zur Tat herauszurücken". Er leiht der öffentlichen Meinung für Schleinitz wenig schmeichelhafte Worte, wenn er schreibt, einem Ministerium des Auswärtigen, von dem man besorge, daß es über seinen Deliberationen den Moment zum Handeln „wahrscheinlich stets verabsäumen" werde, könne man nicht den inneren Beruf zuerkennen, von der Nation eine kostspielige Vermehrung der militärischen Machtmittel zu verlangen. Noch möchte er den Minister nicht fallen lassen, noch vertraut er, daß derselbe gute Gründe zu seiner Rechtfertigung in der Kammer werde vorbringen können, aber eine Rechtfertigung verlangt er, er verlangt — Garantien. Hiermit stoßen wir auf den springenden Punkt in der Haltung, die die Jahrbücher in diesem für die Zukunft des Liberalismus entscheidenden Augenblicke einnahmen. Wohl will Neumann die Armeereform; dem Zwang der äußeren Lage — deren Darlegung er eben deswegen von Schleinitz verlangt — beugt er sich; über die militärischen Fragen macht er nicht viel Worte 1 ). Aber er will die Reform nicht bedingungslos, er kann sie nicht als einen isolierten Fall der Gesetzgebung hinnehmen. Vielmehr ist sie ihm an sich eine unproduktive Ausgabe, eine

') Baumgarten bezeugt 1866, daß in der Session von 1860 die militärischen Bedenken überhaupt noch stark zurückgestanden, die finanziellen vorgewogen hätten; jene wären vielmehr erst in den späteren Sessionen durch die Fortschrittler hereingebracht worden (a. a. O. S. 147). Das wird durch Neumanns Korrespondenzen belegt. Ein Vertreter der avanzierten Ideen von Volksbewaffnung, von Schulexerzieren der Knaben u. dergl. war unter den Mitarbeitern der Jahrbücher der Präsident Lette — der Regent sah darin Erziehung zu „Barrikadenhelden" (Bernhardi Tgb. III, 311. 316).

136 Belastung der Volkswirtschaft. J a , er glaubt geradezu an eine aus der Steigerung der materiellen resultierende Schwächung der moralischen Kraft — falls jene Belastung nicht „mehr als kompensiert" würde. Wie sehr er das Werk an sich als eine fatale Notwendigkeit betrachtet, geht daraus hervor, daß er das Herrenhaus sich vergnügt die Hände reiben sieht — nicht etwa wenn die liberale Regierung die Reform nicht durchzusetzen, sondern wenn sie nur s i e durchzusetzen vermöchte. Es **eben dahin zu bringen, sei konservative Politik: erst die Liberalen die mißliche Aufgabe durchführen zu lassen und dann, nach ihrer Durchführung, „durch beharrlichen Widerspruch" zu bewirken, daß dem Liberalismus eine w i r k l i c h e Förderung desLandes in keiner wesentlichen Beziehung gelänge und nichts als das Odium der kostspieligen Militärreform verbliebe! Dieser Hinweis auf die reaktionäre Politik, wie er sie auffaßte, deutet zugleich darauf hin, daß die Armeereform von Neumann im Grunde als keine eigentliche Parteifrage gewertet wurde. Freilich störe sie, ohne moralische Kompensationen, die „heilige Sache des Fortschritts"; aber diese war für seine tiefste Überzeugung „identisch mit der Zukunft des S t a a t e s ! " Will man in diesem Glauben an die allheilende Kraft des Systems des Fortschritts eine naive Gleichsetzung von Staat und Partei sehen, so war der Parteigedanke hier doch so weit wie irgend möglich als Staatsgedanke verstanden, vom Staatsgedanken aufgesogen. J a Neumann denkt hier reiner staatlich, als manche Taktiker der Partei, die in der Armeereform vielmehr eine Gelegenheit zu sehen rieten, aus der der Liberalismus recht eigentlich für sich Kapital schlagen könne: indem er die Reform bewillige — gleichgültig wie sie in seine Gesamtanschauung passe — und dadurch seine Stellung beim Regenten sichere 1 ). Bei Neumann blieb das S t a a t s g a n z e , ganz unmitt e l b a r , f a s t w i e e i n e D o k t r i n , im V o r d e r g r u n d . Das zeigt sich auch in der Beschaffenheit der Garantien, die er ') Dies war der Standpunkt Bemhardis und, in seiner Selbstkritik von 1866, Baumgartens.

137 verlangt. Er verlangt nichts als eine kräftigere Politik im Inneren und vor allem nach außen. Natürlich in seiner Richtung, der liberal-nationalen; aber die Richtung selbst war ja da; er fand, daß sie von der Regierung deutlich genug bezeichnet sei. Nur eine andere Art, sie zu vertreten, als die von Schwerin und Schleinitz beliebte, forderte er; es zeigt sich, daß es geradezu ein Plus an staatlicher Energie war, worauf er hinaus wollte, was er mit Schärfe und Leidenschaft in den Vordergrund rückte. Weil er diese Energie an den Ministern auch weiterhin vermißte, kam er zu seiner immer entschiedener oppositionellen Haltung — einer Haltung, die folgerichtig nie dahin ging, die Ablehnung oder die Verbilligung der Reorganisation zu verlangen 1 ), sondern bei den wachsenden Schwierigkeiten, sie durchzubringen, nur immer stärker nach einer im ganzen kräftigeren Regierung rief. Freilich bleibt es bezeichnend, daß es eben die Armeereform war, die ihn zu der Absage an die liberale Regierungspolitik führte. Diese Politik war doch weder in ihren Grundrichtungen noch in ihrem Temperamente anders geworden als im ersten Jahre, in dem er ihr rückhaltlos gefolgt war. Da> wird doch auch bei ihm ein antimilitaristischer Grundzug in seiner Staatsgesinnung sichtbar, jene Anschauung von der „Mißlichkeit" einer verstärkten militärisch-finanziellen Rüstung. Er konnte sich doch im Grunde die Macht eines Staates nur in seiner moralischen Haltung zureichend begründet denken 2 ). ' ) Dies tat Baumgarten noch 1 8 6 6 ; der Finanzminister Patow hätte darauf bestehen müssen, daß die Armeereform sich in billigeren Grenzen hielte, falls ein „volles Äquivalent liberaler Reformen" nicht durchzusetzen gewesen Wäre (a. a. O . S . 133). *) Während bei Bernhardi, der eine ausgesprochen militärische Ader hatte, umgekehrt die Durchsetzung der Militärvorlage das Primäre war. Eine starke auswärtige Politik forderte er erst verhältnismäßig spät, als der Konflikt schon aussichtsloser wurde* (April), um den Abgeordneten „zu dem nötigen moralischen Mut zu helfen", dessen sie der öffentlichen Meinung gegenüber bedürften (Tgb. III, 322). Sein politisches Denken hatte zwei Pole, die sonst selten zusammenwirken mochten, aus denen aber gerade das ihm eigentümliche staatsmännische

138 Tiefer aber liegt noch ein anderer Grund, der das Einsetzen seiner Opposition in diesem Augenblicke erklärt. Die erste Krise, die der Liberalismus zu bestehen hatte, war eine auswärtige gewesen. Zu ihr nahm Neumann als Preuße Stellung. Wir sehen, wie er im Tone von Baumgarten abwich, wie Haym ihn darin unterstützte. Damals galt es, den Staat Preußen der öffentlichen Meinung wert zu halten. Dies Bestreben führte bis zu einem gewissen Grade persönlicher Gleichsetzung des Korrespondenten mit der Regierung. Er verteidigte sie mit warmer Beredsamkeit. Jetzt lagen die Verhältnisse anders. Die Voraussetzungen des ganzen liberalen Systems in Preußen und Deutschland standen auf dem Spiel. Er machte sich nicht wie der außerpreußischen auch der Meinung im eigenen Lande gegenüber zum Anwalt einer Regierung, die diese Voraussetzungen nicht mehr in erster Linie realisieren zu wollen schien. Er unterschied sich damit e i n e r s e i t s von Bernhardi, Häußer und Sybel, die, bei allen Klagen über die Unfähigkeit der Minister, doch den Abgeordneten die Hauptschuld zuschoben, das liberale Parteitreiben als ,,ohnmächtiges Oppositionsgölüste"'), als „ein gänzliches Verkennen des parlamentarischen Lebens und seiner Bedingungen" 2 ) bezeichneten und eine „Fraktion Vincke-Hagen" Gleichgewicht hervorging-: einerseits den gebildeten Sinn für militärische Verhältnisse und andrerseits die Vorstellung von der logischen Notwendigkeit einer liberalen Regierung in Preußen inmitten des europäischen Konzerts; er glaubte geradezu, daß die europäischen Verhältnisse eine reaktionäre Regierung in Preußen nicht aufkommen lassen könnten. Im ganzen eine Mischung aus Realismus und Doktrinarismus, aus taktischer und prinzipieller Gesinnung, die ihn recht eigentlich zum Parteiführer qualifiziert hätte. — In großartiger Einfachheit sah Trqitschke die Probleme (vergl. seine Besprechung der Schrift „Der Militärstaat" von Constantin Frantz, Bd. III, H. 1, wo er, schon im Januar 1859, auf die Notwendigkeit einer preußischen Heeresverstärkung hinweist): „Nun gar seit die großartige Idee allgemeiner Wehrpflicht verwirklicht worden, ist an einen Militärstaat Preußen nicht mehr zu denken." 0 Häußer (Gespräch mit Bernhardi, 3. April, Tgb. III, 308). s ) Sybel (Gespräch mit Bernhardi, 12. April, ebd. 313). — Sybel und Häußer waren im April 1860 in Berlin, um, wie Bernhardi dem Regenten mitteilte, ihren Einfluß für die Reform aufzubieten (ebd. 316).

139 statt einfach einer „ministeriellen Fraktion" als gar nicht existenzberechtigt erklärten — hier schob er sich vielmehr noch zwischen die Alternative ein, die Bernhardi mit den Worten aufstellte: „Sie wollen ministerielle Partei und zugleich Opposition sein — das geht nicht!" 1 ); er sah die Fehlerquelle nicht im System, sondern in den Personen; er wollte nicht prinzipiell opponieren, jedoch d i e s e r Regierung nur unter Bedingungen zustimmen — und unterschied sich a n d e r e r s e i t s doch auch von Vincke, dem echten Vertreter des „herkömmlichen Standpunktes deutscher Opposition", wie ihn Baumgarten gezeichnet hat, des Standpunktes, „die Regierung als solche mit Mißtrauen zu betrachten, Freunde zurückzuweisen, weil sie Anteil nähmen an der Last der Regierung" 2 ). Er stimmte weder mit diesem „deutschen" noch mit jenem mehr englischen, konsequenter parlamentarisch gedachten Oppositionsstandpunkt überein. Er verlangte die Annahme der Militärvorlagen und er nahm seinen Standpunkt gegen die Regierung aus einem und demselben Grunde: aus seiner Staatsgesinnung heraus. Damit stand er Duncker am nächsten, der unter den Liberalen wohl die einfachste und am meisten ausgeglichene Haltung in dieser Frage einnahm; denn ihn, Duncker, beherrschte ganz die auswärtige Politik 3 ). Er wünschte, daß der Regent, der, um nach außen energisch auftreten zu können, erst die Armee haben wolle, den Spieß umdrehe, und durch eine energische Außenpolitik im Innern die Reform erreiche, „da beides doch Hand in Hand gehen soll" 4 ). Das war auch Neumanns Forderung, nur daß ') Ebd. 314. 2 ) Baumgarten, „Der deutsche Liberalismus", S. 142. — Vinckes Hal tung' zeigte sich deutlich bei dem Abschiedsessen seiner Fraktion nach der Beendigung der Session und der Vereinbarung des Provisoriums in der Militärfrage. Er triumphierte: das Abgeordnetenhaus habe über die Regierung gesiegt, die, „ein unerhörter Vorgang in der Geschichte parlamentarischer Regierungen", vor einem bloßen Kommissionsberichte gewichen sei! (Bernhardi Tgb. III, 340 f.). ' ) Vergl. Haym, „Das Leben Dunckers", S. 209 ff. 4 ) Bernhardi Tgb. III, 322. — Einseitiger dachte Haym in dieser Frage. So in seiner Besprechung (s. Anlage IV) der Broschüre Wehren-

140 sie bei ihm eine Wurzel in seiner moralisch-systematisch gerichteten, auf Kompensationen bedachten Staats- und Parteiauffassung hatte, von der Duncker bereits frei war. D e u t s c h e und e u r o p ä i s c h e P o l i t i k

1860/61.

Weder in der inneren noch in der äußeren Politik hatte es die liberale Regierung in Preußen zu sichtbaren Erfolgen gebracht. An der Frage der Heeresorganisation hatte sich das Unzureichende des neuen Systems erwiesen. Damit veränderte sich die politische Aufgabe der Preußischen Jahrbücher von Grund auf. Es galt nicht mehr nur ein befreundetes Regime durch planvolle Zurückhaltung der Kritik zu stützen, dessen Vorgehen zu erläutern, sondern nunmehr selbst Ziele der Staatslenkung aufzustellen. Wie war die eigene Politik der Jahrbücher beschaffen, auf welchem Wege haben sie den Staat aus der Krise, in die er geraten war, herauszuführen gesucht? Etwas von dem Gefühle, sich selbst zurückgegeben zu sein, das'Bild, das sich von der drängenden politischen Lage in seinem Verstände entwickelt hatte, scharf und ohne Rücksicht entwerfen zu dürfen, glaubt man in Neumanns großer Märzkorrespondenz von 1 8 6 0 zu spüren, die vielleicht das charaktervollste und schönste Dokument, das der der Tagespolitik zugewandte Liberalismus in den Preußischen Jahrbüchern niedergelegt hat, darstellt. In ihr tritt uns die Neumannsche Publizistik mit ihren ernstesten und kräftigsten Zügen entgegen. Sie faßt eine gegebene Lage, eine konkrete Gefahr scharf in das

pfennigs „Die äußere Politik des Abgeordnetenhauses und die Militärreform" (Bd. V, H. 6). Bei ihm erscheint der „große Zusammenhang", in dem Neumann und Duncker die Militärfrage sehen, bereits etwas dogmatisiert. Auf Heinrich von Gagern greift er zurück; um die Lösung der deutschen Frage nach dessen Plane handele es sich „in letzter Instant". Auch widerspricht er Wehrenpfennig, wenn dieser die Billigung der Militärvorlage nicht abhängig machen wolle von dem „zuvor gezeigten tapferen Willen der Regierung". Das läuft bereits auf eine Konfliktsstimmung hinaus, wie sie auch wohl Neumann am Schluß der Session als drohend andeutete, aber doch ohne selbst in sie einzutreten.

141 Auge und rückt sie ordnend in den Mittelpunkt der Dinge. Vor dem Nächsten, was getan werden muß, weicht das Fernerliegende, der ideale Richtpunkt zurück. Die Strenge dieses Bemühens verleiht den Korrespondenzen, so sehr sie sich auf den Wechsel der Situationen einstellen, einen bestimmten ästhetischen Reiz: aus der Konzentrierung des Gedankens auf den Kernpunkt der Lage erwachsen jedesmal geschlossene, einheitliche Bilder. Kein Ereignis, mag es im Libanon, in Italien oder in den Berliner Zirkeln spielen, das nicht auf die Not des preußischen Staates bezogen, in preußischem Licht gesehen wird. Neumanns klassische Diktion, gleich mächtig, dem Gegner mit scharfem Witz zu dienen, das Unfertige und Strebende der Allgemeinheit zu begreifen, das Notwendige pathetisch zu verkünden, gibt den Jahrbüchern für diese Periode einen eigenen Klang. Die Märzkorrespondenz1) ist ein Programm zur auswärtigen, zur europäischen und deutschen Politik Preußens, ein allgemeines Programm, das dann in der Stellungnahme des Korrespondenten zu den einzelnen Ereignissen des Jahres 1860, der savoyischen Frage 2 ), den Zusammenkünften von Baden 3 ) und Teplitz*), der venezianischen Frage 5 ), seine besonderen Erläuterungen findet. Neumann sieht die Lage beherrscht von der im Februar 1 8 6 0 vollzogenen Annexion Savoyens und Nizzas durch Frankreich. Was er an dem Frieden von Villafranca noch hingenommen hatte, daß Frankreich durch ihn kein unmittelbarer Machtgewinn zugefallen war, zeigt sich nun auch als Illusion. Frankreich beruft sich auf das Prinzip der Nationalität und der natürlichen Grenzen, verkündigt die Geltung desselben als Recht und als Notwendigkeit. Der Rhein ist bedroht. „Entschieden nach diesem Gesichtspunkt ist alles zu bemessen, was geschieht." ') ) s) 4) J)

s

Bd. V, H. 4. Ebd. Bd. VI, H. 1 (1. Juli 1860). Bd. VI, H. 2 (4. August 1860). Bd. VI, H. 5 (Nov. 1860).

142 Wer soll Deutschland gegen die von Westen kommende Gefahr schützen? Der Deutsche Bund und Österreich sind ohnmächtig, schwer geschwächt. P r e u ß e n muß die Aufgabe auf sich nehmen, „Preußen muß sich zu einer positiven Politik entscheiden, um der drohenden Gefahr die Stirn zu bieten. Hierin liegt die Schwere des Augenblicks," Welche Linien zeichnet nun Neumann einer „positiven" preußischen Politik vor? Er bleibt innerhalb der Vorstellungen, mit denen er den Krieg von 1859 begleitet hatte. Preußen muß die treibende Kraft einer festen antinapoleonischen Koalition in Europa werden. Eine Allianz mit Rußland zu solchem Zweck ist unmöglich, höchstens als Rückendeckung zu empfehlen. Sardinien ist durch die neuen Abtretungen für ein Vorgehen gegen Frankreich verloren. So bleiben Österreich und England. Und auf sie, auf ein österreichisch-englisch-preußisches Bündnis, kommt Neumann in der Tat zurück. Freilich nur durch einen totalen Umschwung der österreichischen Politik kann nach seiner Meinung ein solches Bündnis realisiert werden. Nur wenn Österreich seine antiliberalen Tendenzen am Bundestag einstelle, werde die preußische Volksstimmung, die zu einem maßgebenden Faktor geworden sei, für ein Bündnis mit Österreich zu haben sein. Und ebenso wie Österreich war das England, das er für seine Koalitionsidee brauchen konnte, ein imaginäres Gebilde. Er selbst erwartete von Lord Palmerston nichts Gutes. Er erblickt in jenem neuen französisch-englischen Verhältnis, aus dem heraus ein englischer Liberaler den Savoyern geraten habe, sich die Angliederung an Frankreich wirtschaftlicher Vorteile halber gefallen zu lassen, eine wahre Verheerung des englischen politischen Denkens: „Wenn die Wertschätzung des Geldes und die Aussicht auf pekuniären Gewinn eine so totale geistige Verfinsterung, eine so zynische Verleugnung der Grundsätze zu erzeugen vermag, die den englischen Liberalismus zu einer moralischen Macht emporgehoben haben, dann in der Tat kann man die Schwere des Bleigewichtes ermessen, mit dem der französische Handelstraktat die Masse des britischen Volkes in

143 den Sumpf des Materialismus hinabzieht." Aber während Preußen Österreich gegenüber allein auf dessen guten Willen angewiesen sei, habe es die Verwirklichung des Bündnisses mit England selbst in der Hand. Unter diesem Gesichtspunkte gelangt Neumann dazu, Preußen die Waffe eines Präventivkrieges gegen Frankreich zu empfehlen. Wenn ein solcher nur über eine günstige, über eine Gelegenheit von europäischem Interesse ausbreche, müsse er England von Frankreich losreißen, Palmerston stürzen und die Koalition gegen Napoleon begründen. In der savoyischen Frage sieht Neumann den gegebenen Ausgangspunkt dafür. Preußen muß der Schweiz seinen bewaffneten Beistand zusagen und so dafür sorgen, daß die mit der Annexion Savoyens eintretende Verletzung der Schweizer Neutralität militärische Folgen, einen schweizerisch-französischen Konflikt nach sich ziehe, dem gegenüber England so wenig wie gegenüber einem belgisch-französischen werde neutral bleiben können. Er nannte es einen schweren Fehler der Schleinitzschen Politik, daß sie diese Gelegenheit habe vorübergehen lassen. „Die Sympathien von ganz Europa wären mit uns gewesen und hätten sich im schlimmsten Fall als einen Schild bewährt, der uns vor gänzlichem Unterliegen (!) sichergestellt hätte." Man sieht, in was für fatalistisch das Ende berührende Stimmungen die damalige europäische Lage den Liberalen versetzte. 1 ) Dies das europäische Programm Neumanns. Es wird aber erst interessant durch seine deutsche Kehrseite. Zur deutschen Politik liegt bereits eine programmatische Erörterung Neumanns aus dem Herbst 1859 vor, die durchweg zustimmend gehaltene Besprechung der Antwort des Grafen Schwerin auf die Stettiner Adresse 2 ). Dort hatte sich Neumann damit einverstanden erklärt, die eigentlichen Ziele Preußens in Deutschland, preußische Zentralgewalt und deutsches Nationalparlament — so hatte er Schwerins Worte von

') Duncker hat freilich die. Idee eines Präventivkrieges gegen Frankreich anläßlich der savoyischen Frage später in den Jahrbüchern selbst eine „Don Quixoterie" genannt. 2 ) Bd. IV, H. 3 (Sept. 1859).

144 der „Unabhängigkeit und Macht Deutschlands nach außen" und „Entwicklung seiner geistigen und materiellen Kräfte im Innern interpretiert —, nur auf legislatorischem Wege, durch den Bundestag anzustreben, d. h. zu vertagen, statt ihrer aber das Näherliegende um so kräftiger betont und zu drei Forderungen zusammengefaßt: Ausbau des materiellen Lebens (Zollverein), Herstellung geordneter Rechtszustände (Kurhessen und Schleswig. Holstein) und Reform der Bundeskriegsverfassung. Dieses deutsche Programm — welches zugleich das Programm des Regenten war 1 ) — will er nun jetzt, angesichts der auswärtigen Komplikationen, gänzlich zurückgestellt wissen. Weder von Kurhessen noch von Schleswig-Holstein ist mehr die Rede, sondern davon, daß „die deutsche Politik dem preußischen Volke schon an sich nahe genug liege und seiner ausschließlichen Aufmerksamkeit nicht mehr empfohlen zu werden brauche". Er befürchtet jetzt, daß die Aufrollung der deutschen Gegensätze Napoleon nur die Handhabe bieten werde, in Deutschland selbst die geschlossene antifranzösische Front zu zerstören. Die europäische Notwendigkeit hatte in seiner Vorstellung über die deutsche Notwendigkeit völlig gesiegt. Er sah beide im schärfsten Gegensatz zu einander; die Forderung der einen schloß ihm die Lösung der anderen aus! 2 ) Er setzte sich entschieden mit dem großen Ungenannten auseinander, der gerade auf europäischem Boden die Lösung für die deutsche Frage suchte: im Sommer 1860 erhob sich die Aussicht auf eine totale Umgruppierung der preußischen Politik, auf ein Ministerium Bismarck 3 ). Da malte Neu») Vergl. Mareks, Kaiser Wilhelm I., 5. Aufl., S. 148. Er teilte diese Resignation mit den Schleinitz und Gruner. 3) Vergl. die "Mitteilungen bei Bernhardi Tgb. III, 328, 337 ff. — Eine merkwürdige Stellung nahm der Präsident Francke in Coburg ein. Auch er meinte, daß die Ersetzung Schleinitzens durch Bismarck die Sache Preußens in Deutschland vollends verderben müsse; dann aber bekennt er sich zu folgendem Programm: „Die preußische Staatspolitik sollte vorziehen, aus den ekelhaften und hemmenden Verschlingungen des langgeschwänzten Bundestages sich ganz herauszuziehen und zur eigenen Kräftigung und Niederwerfung Österreichs zur Zeit Bündnisse mit den Westmächten schließen, die unter geschickter Handhabung auch für das J)

145 mann mit beißender Ironie die Möglichkeiten aus, die „ein bestimmter Candidat" ergreifen könnte, um sich in den Sattel zu schwingen: er würde beginnen mit einer (von reaktionärer Seite stets verdächtigen) Ausspielung der deutschen Frage und enden mit der Abtretung linksrheinischen Gebietes an Frankreich 1 ). Daß die preußische Regierung auf diese W e g e nicht ging, rückte Neumann wieder näher an sie heran. Schleinitz wird wieder günstiger beurteilt 2 ). Es war im Grunde die Politik des Regenten selbst, der 1860 wohl mehr als je sonst seine eigene Politik machte 3 ), mit der Neumann übereinstimmte. Er billigt sowohl die Zusammenkunft des Regenten an der Spitze der deutschen Fürsten mit Napoleon zu Baden (Juni), wie die mit Franz Joseph zu Teplitz (Juli). Er billigt, daß Preußen sich der französisch-russischen Werbung entzogen und sich deren Politik im Orient nicht hergeliehen habe. Mit Recht habe es vor England und Österreich, obwohl diese im Orient stärker verwickelt seien, die Initiative ergriffen. Denn jede auswärtige Frage „wird für Preußen zu einer Frage ersten Ranges, sobald sie infolge der Umstände eine Wendung nimmt, durch die sie zu dem imposantesten Piedestal der französischen Suprematie zu werden droht". So bleibt der Gegensatz zu Frankreich der absolute Leitsatz dieser liberalen Politik. Entsprechend tritt, nachdem es in der savoyischen Frage zu keinem wirksamen Zusammengehen mit England gekommen war, die Wendung Neumanns zu Osterreich wieder stärker hervor 4 ). Österreich habe als Großmacht auch für die inneren preußischen Angelegenheiten in Teplitz ein besseres Verständnis gezeigt, als die Mittelstaaten übrige Deutschland gute Früchte tragen können" (an Hayn» 24. I. 1860). Es ist das einzige Mal, daß in dem Kreise dieser Männer der Bismarckische Gedanke eines Krieges Preußens gegen Österreich auftaucht. ') VI, 90 f. *) Ebenso bei Bernhardi Tgb. Iii, 338. 3 ) Mareks, „Kaiser Wilhelm", 5. Aufl., S. 160. *) Hier mochte Neumann im besonderen Gruner folgen, der zusammen mit dem preußischen Gesandten in Wien v. Werther weiterhin eifrig für ein Zusammengehen mit Österreich tätig blieb. Dtsch. Rev. XXVI, 3, S. 80. We.tphal

10

146 in Baden, die sich vermessen hätten, von Preußen die Beseitigung seiner liberalen Regierung und die Unterbindung der nationalen Bewegung in Deutschland zu fordern. Wenn Osterreich auch nur durch Taten Preußen von der Möglichkeit einer Verständigung in den deutschen Dingen überzeugen könne, so bleibe doch die Hoffnung bestehen, daß die Not sich zur Lehrmeisterin des Kaiserstaates machen werde. Hierzu führte Neumann auch die Erwägung über den Gang, den die italienischen Dinge seit dem Frieden zu Villafranca für Österreich genommen hatten. Die Bedrohung Venetiens schien Ende 1860 die Frage des Sommers 1859 noch einmal zu stellen: soll Preußen Österreich im Falle eines italienischen Angriffes auf Venedig beistehen? Wiederum lautet die Antwort, die Neumann findet: J a ! Denn einmal ist bei einem Feldzug in Venetien deutsches Bundesgebiet bedroht —, und welcher Patriot will es Preußen zumuten, mag die Nationalitätengrenze im Trentino noch so unglücklich gezogen sein, das „Sein Vaterland soll größer sein" in ein „Sein Vaterland soll kleiner sein" zu korrigieren? — und ferner rückt ein italienisch-preußisches Bündnis, mag ein solches auch einmal in der Zukunft Preußen Dienste tun, im Augenblick nur die gefährliche Gegenkonstellation Österreich—Frankreich heran 1 ). So sieht er den Ausweg diesmal in der Italien von deutscher Seite dringlich zu machenden Notwendigkeit, vor der Hand auf Venedig zu verzichten. „Allen Erfahrungen über die große Mannigfaltigkeit menschlicher Temperamente nnd Anschauungsweisen würde es widersprechen"; wenn sich in Italien nicht eine gemäßigte Nationalpartei" ans Ruder bringen ließe, welche, auf die Festigung im Innern bedacht, den Gedanken an Venetien ebenso verbannen würde, wie die Deutschen sehr zufrieden sein würden, wenn sie, „auch ohne das Elsaß zu besitzen, zu einer einheitlichen Organisation

' ) Vorzeichen derselben, wie sie, seit 1866, Bismarck beunruhigten, erkannte Bernhardi schon 1861 in dem angeblichen österreichischen Plane, mit dem Verzicht auf Venedig die französische Allianz zu erkaufen (VIII, 61).

147 gelangten" 1 ). So schrieb der deutsche Liberale über die deutsche Zukunft im Jahrzehnt von Königgrätz und Sedan! So wenig aggressiv war die nationale Idee in seinem Kopfe, so sehr glaubte er, ihr selbst bei den Romanen Maß und Grenze vorschreiben zu können. Die Erörterung der venetianischen Frage war die letzte Arbeit, die Neumann für die Jahrbücher leistete. Er war, unter gleichzeitiger Ernennung zum Professor in Breslau, in den Dienst der Regierungspresse getreten, hatte sich indessen die Freiheit, seine Korrespondenzen für die Preußischen Jahrbücher wie für das Preußische Wochenblatt ohne offiziösen Geschmack fortsetzen zu dürfen, von Auerswald ausbedungen. Trotzdem gestand Auerswald ihm die Einnahme einer selbständigen Haltung in diesen Blättern nicht weiter zu. Seine schon veröffentlichte Ernennung zum Professor machte es ihm unmöglich, den Pressevertrag mit der Regierung zu kündigen. Haym suchte ihn auf jede Weise den Jahrbüchern zu erhalten, ja er bot ihm sogar die Redaktion der Zeitschrift an 2 ). Auch mit den Einschränkungen, die seine neue Stellung ihm auferlege, möge er die Korrespondenzen weiter führen." Neumann aber, der „sich schämte, an einem Ort, wo er bekannt sei, als officiöser Correspondent aufzutreten" 3 ), lehnte Ende Dezember endgültig ab. Die Fragen der auswärtigen Politik nehmen nach dem Rücktritt Neumanns, der sie, allerdings mehr aus Pflichtbewußtsein als aus Neigung, in den Vordergrund seiner Ausführungen gestellt hatte, in den Jahrbüchern erst recht den ersten Platz ein. Die Grundrichtung der politischen Anschauungen blieb zunächst die gleiche: die Frontstellung gegen Napoleon, das Verhältnis zu Österreich, mit dem man halb im Bündnis, halb entzweit ist, die wachsende Antipathie gegen England. Es war zunächst Bernhardi, der die Betrachtung der Dinge in den Jahrbüchern weiter-

•) VI, 525. Haym an Reimer, 7. XII. 1860. s ) Neumann an Haym, 26. XII. 1860. Verg). zu seiner charakteristischen Auffassung des Verhältnisses die S. 73 zitierte Briefstelle. 2)

10*

148 führte 1 ).

Die italienische F r a g e ,

speziell die venetianische,

war

für die Liberalen ein stachliches Problem. Bernhardi ist. in seiner Freundschaft gegen Osterreich

um einen Grad gedämpfter

als

Neumann. Ihn bewegt weniger die Rechtsfrage als die der österreichischen Lebensmöglichkeit. L ä ß t sich Venetien überhaupt für Österreich halten?

Ist Österreich überhaupt zu r e t t e n ? 2 )

Ein-

gehende militärische Erwägungen führen ihn dazu, den W e r t des Festungsvierecks Lombardei,

an Mincio und Etsch,

für Österreich

nach dem Verlust

der

sehr viel geringer einzuschätzen

als

die Allgemeinheit. Es lasse sich ebensowohl am Isonzo ein großes Verteidigungssystem Österreichs denken 3 ).

Von

einer Auf-

' ) Er sprang in der ersten Hälfte des Jahres 1861 mit einer Reihe von Oberblicken über die allgemeine Lage ein, während er dann später, wie in den ersten Jahren, mit seiner Teilnahme wieder merklich zurücktrat. E r schrieb 1861 über „Die Situation in Italien und an der Eider" (Bd. VII, H. 2 ; Bernhardi als Verfasser: Tgb. IV, 95, 96), „Die europäische Weltlage" (Bd. VII, H. 5 ; Bernhardi als Verfasser: Haym an Reimer, 10. V . 1861, vergl. Tgb. IV, 124), „Glossen und Enthüllungen zur Tagesgeschichte" (Bd. VIII, H. 1 ; Bernhardi als Verfasser s. Anl. IV). In Auffassung und Abfassung diesen Aufsätzen nahe stehend: „Die Situation beim Regierungswechsel" (Bd. VII, H. 1), als Ersatz der Januarkorrespondenz; über den Namen des Verfassers muß Haym dem Verleger ,,unverbrüchliches Schweigen" bewahren, was eben für Bernhardi sprechen könnte, der auch später zu keinem seiner Jahrbücherartikel seinen Namen gegeben hat (s. unten). Die Februarkorrespondenz ist nur eine Aufzählung der Begebenheiten, die Haym „nur im schlimmsten Falle" für ausreichend ansah (an Reimer, 7. III. 1861). Die Märzkorrespondenz ließ sich Haym von Georg Beseler schreiben (an Reimer, 17. III. 1861), von dem er hoffte, daß er Vincke gegenüber mehr und mehr in der Fraktion zu Einfluß gelangen würde (Bernhardi Tgb. III, 96). s ) Tgb. IV, 77. ») Pr. J b . VII, 123; und im Brief an Haym, 8. XII. 6 0 : „Venetien zu behaupten, ist recht gut und schön — w e n n man k a n n ! . . . Eine solche Lebensfrage für Deutschland scheint es mir nicht zu sein . . . Es ließe sich auch am Isonzo ein hinreichend starkes Verteidigungssystem herstellen." Entsprechend in dem Artikel über die „Situation beim Regierungswechsel": „Die Minciolinie war nötig, um Österreichs bisherige Stellung zu decken, aber Deutschland bedarf ihrer nicht unbedingt. Auch an dem Isonzo ließe sich, nach dem Urteil Sachverständiger, ein hinreichend starkes Verteidigungssystem herstellen" (VII, 78). Es liegt

149 g ä b e Triests könne überhaupt nicht die Rede sein, da es ein Hafen mit deutschem Hinterland sei 1 ). Für Venedig 'dagegen dürfe man wir dann in den Krieg ziehen, wenn sich hinter Italien nochmals Frankreich, dem man damals Absichten auf Dalmatien zutraute, erhöbe. S o erscheint die italienische F r a g e wieder ganz unter dem Gesichtspunkte des Gegensatzes zu Frankreich. D a ß Cavour die große und sympathische Figur im auswärtigen Leben für die Liberalen Bernhardischen Schlages war, beruhte darauf, daß man den Zug, Italien von Frankreich zu emanzipieren, in seiner Politik begrüßte. Der Krieg gegen Frankreich ist auch nach Bernhardi unvermeidlich 2 ), wesentlich aber der Anlaß, über den er ausbricht. Über die Psychologie

des

richtigen Anlasses hatte ja schon Neumann meditiert. Er fand ihn, wie wir sahen, im Frühjahr 1 8 6 0 in der savoyischen Frage und wäre, wenngleich ungern, weil italienische Sympathien — anders als bei Bernhardi 3 ) — bei ihm mitspielten, auch für Vein der Tat bei der im Wortlaut übereinstimmenden Formulierung nahe, hier in Bemhardi entweder den Verfasser oder den „Sachverständigen" des Korrespondenten zu sehen. ') Dieselbe Erwägung bei Springer (an Haym 2. I. 60, Anlage III): „Etwas anderes ist es mit Venedig, das historisch und national von Italien nicht getrennt werden kann, etwas anderes mit den limitrophen Ländern" (Tirol, Istrien, Dalmatien). *) Tgb., IV, 80 (Gespräch mit Duncker, Januar, gegen die Politik Usedoms); Tgb. IV, 110 (scharf gegen die moralische Unmöglichkeit der „arrière-pensée" Usedoms, mit Frankreich gegen ein Stück linken Rheinufers einig zu werden; April); Tgb. IV, 129 f. (gegen analoge Pläne Pourtalès) und Pr. Jb. VIII, 54 oben. 3 ) Bernhardi schätzte den italienischen Nationalgeist, besonders dessen militärische Leistungsfähigkeit, nicht eben hoch ein und betonte stark die Korruption in Süditalien. „Wenn man sich ein schlecht regiertes Land denkt, ein sehr schlecht regiertes, so sind das Vorstellungen, die bei weitem nicht an die Wirklichkeit reichen. Man darf sagen, Neapel war bisher ein eigentlich gar nicht regiertes Land" (VII, 118). Mit der Einführung parlamentarischer Institutionen sei in Italien gar nichts getan, dem eingeborenen Unwesen der Räuberei, des Aberglaubens und pfäffischer Unwissenheit nicht gesteuert. Auch Duncker meinte: „Graf Cavour hat erst zu beweisen, daß das Volk von Neapel anders als durch einen straffen Absolutismus zu regieren ist" (VII, 371).

150 nedig ausgezogen 1 ). Bernhardi und seine Freunde aber, wie besonders Duncker 2 ), der alte Schleswig-Holsteir

wollten un-

bedingt einen rein deutschen casus belli gegen Frankreich haben: sie wollten, daß Preußen sich auf Schleswig-Holstein konzentriere. Sie wollten hiermit zugleich Osterreich stützen, sich geradezu mit Frankreich verwickeln, ehe dieses dazu schritte, Österreich gänzlich zu zertrümmern! 3 ) Freilich muß man den tiefen ') Für Springer war es nicht der Gesichtspunkt der nationalen Herstellung Italiens, sondern der der staatlichen Konsolidierung Österreichs, von dem aus er die Preisgabe Venetiens wünschte (an Haym, Anlage III). s ) Vergl. die Motive in seiner Denkschrift v. 20. Febr. 1861, Haym, Duncker, S. 227 f. — So auch Droysen, der den Engländern in Italien freie Hand lassen wollte, um von ihnen in Schleswig-Holstein freie Hand für Preußen zu erlangen (Bernhardi Tgb. IV, 76). Und Treitschke: „Ich wünsche ganz einfach, daß Preußen einen klugen und ehrlichen Schritt zugleich tut und den europäischen Krieg, der binnen einigen Jahren doch eintreten wird, von sich aus beginnt . . . Da spricht man in Berlin immer nur von Venedig, als ob eine Großmacht dazu da sei, für ihren natürlichen Feind zu sorgen, und vergißt, daß Preußen nie das Vertrauen der Nation gewinnen wird, so lange jene Schmach im Norden nicht ge. sühnt wird" (Briefe II, 114). Anders dagegen Waitz. Er schrieb an Haym (9. Dez. 1860): „Dagegen in den italienischen Angelegenheiten teile ich fortwährend wenig den liberalen Standpunkt. Venedig gäbe ich nur her für Straßburg; an ein einiges Italien glaube ich nicht. Für Ungarn habe ich gar keine Sympathie. Mehr für Österreichs innere Entwicklung." Freilich fand er auch die preußische Politik in Schleswig-Holstein „pitoyabel". Bei ihm scheinen weniger politische Berechnungen der Weltlage als ein unmittelbares, den Elsaß, Schleswig-Holstein, Deutsch-Österreich umfassendes, wenn auch nicht großdeutsch gedachtes Nationalgefühl eingewirkt zu haben. Nicht was die letzte Gesinnung, wohl aber was die Auffassung des Augenblicks anging, kam er so dazu, Haym die Befürchtung auszudrücken, „in der einen oder anderen Beziehung schlecht zu den Jahrbüchern zu passen."' Erst mit dem Ausbruch des dänischen Krieges kehrte er zu ihnen zurück (Bd. XIII). 3 ) Duncker: „Man kann Venetien auch an der Eider verteidigen" (Haym, Duncker, S. 228). So argumentierte auch Roon im Mai gegen Bernhardi; Bernhardi fand bei Roon „vollkommen vernünftige, korrekte Ansichten" (Tgb. IV, 124); man darf eine andere Stelle (Tgb. IV, 120, Gespräch Bernhardis mit dem Kronprinzen) also nicht so deuten, als ob Preußen die freie Hand gegen Dänemark dafür eintauschen sollte, daß es Frankreich freie Hand gegen Österreich gäbe.

151 Sinn dieser Konzentration noch an anderer Stelle suchen; wir kommen auf den Zusammenhang zurück. Von diesen in einem Europa umfassenden System begründeten Gedanken zu der italienischen Frage heben sich die Betrachtungen, die Erdmannsdörffer zu ihr lieferte, als ein ganz Wesensanderes ab. Er weilte seit 1 8 5 9 in Italien, um Studien zur Herausgabe der deutschen Reichstagsakten, zu der ihn die Münchener historische Kommission berufen hatte, zu unternehmen. Aus Florenz, Pisa, Rom schickte er den Jahrbüchern Berichte 1 ), nicht als Politiker, sondern als „einfacher Schriftsteller, der ohne weitere Verantwortlichkeit die Dinge nehmen darf, wie sie sind und kommen". Ausdrücklich will er sich die Hinweise von Italien auf Deutschland sparen:

„Sie haben nicht

nötig, sich über deutsche Leiden aus Toscana schreiben zu lassen." Diese toskanischen Dinge schildert seine Muse in zartester und lebendigster Ausführung. Politisches und Geistiges mischt er; er berichtet köstlich über den Ehrgeiz der gebildetsten Provinz Italiens, die eigentliche Stätte für die junge Nationaleinheit zu werden und alle drei Bildungsinstitute zu Pisa, Siena und Florenz trotz ihrer Verödung der Zukunft offen zu halten.

Er schildert den florentinischen Genius,

wie

er

sich

auch in der neuesten großen Bewegung, die ganz Italien erfaßt habe, zeige: „Man muß sagen, es gehört eben auch eine eigene Volksart dazu, um rechte Revolution zu machen, und gar den Zustand der. Revolution lang anhaltend ertragen zu können. Das toskanische Volk würde nicht von dieser Art sein. Wie eine einzelne weiche Natur, gereizt oder begeistert, sich zu einer Intensität der Energie erheben kann, die gerade durch ') „Aus Italien" (Bd. V, H. 2. 3, Erdmannsdörffer an Haym, 11. I. 1860). „Zu den Ereignissen in Italien" (Bd. V, H. 6). Ober die Ereignisse in Italien berichten außer Erdmannsdörffer der Italiener Peverelli („Sardinien und die Annexionen", Bd. VI, H. 1; „Die Bedeutung der italienischen Septemberereignisse", Bd. VI, H. 4), O. Hartwig („Sizilische Briefe", Bd. VI, H. 1. 3, „Süditalienische Zustände", Bd. VIII, H. 1, „Kultur- und Geschichtsbilder aus Sizilien", Bd. XII, H. 2. 3) und Sigurd Abel („Das Priesterregiment im Kirchenstaat", Bd. VI, H. 5).

152 ihren Gegensatz eine außerordentliche Macht hat, so würde auch ein solches Volk sich zu einem gewaltigen Plan aufschwingen können; aber es könnte auch der Gegenschlag nicht ausbleiben, und schneller als bei den aus härterem Stoff gebildeten kehrt das Bedürfnis der Ruhe zurück." Es ist die vielleicht so nur einem Deutschen mögliche mitlebende Beobachtung der Psyche anderer Nationen, die Erdmannsdörffer hier übt, der Trieb des Deutschen, in dem Fremden, Eigenartigen die verwandte Seele herauszuhören. So klingen, so sehr er die direkten politischen Bezüge ablehnt, doch die eigenen deutschen Weisen, Staat und Nation zu betrachten, in seinen Korrespondenzen an; er erkennt in der italienischen Bewegung, wie sie eben in Toskana sich ausprägt, das eigentümliche Verhältnis von Geist und Staat wieder, das für den deutschen Liberalen in dem preußisch-deutschen Problem lag: „Das toskanische Volk könnte in der Tat nur gewinnen, wenn es in inniger Verschmelzung mit dem norditalienischen Militärstaat ebenso seine eigenen Lücken ergänzte, wie es andererseits nicht verfehlen würde, jenem aus dem glücklichen Reichtum seines Naturells befruchtende Gaben mitzuteilen." Der ganzen Einheitsbewegung Italiens, ihrer Kraft, ihrem Takt steht Erdmannsdörffer „aus vollem Herzen bewundernd" gegenüber. Anders und treffender als die meisten Betrachter aus Deutschland glaubt er, bereits im Mai 1860, daß sich dieselbe durchsetzen werde, erkennt er die Mächtigkeit des „von Anfang an auf das Ganze gerichteten" Zuges in ihr an. Neben der eingehenden Beobachtung der italienischen ging die Kritik der österreichischen Dinge, die, seit Ende 1860, in nicht geringerer Bewegung Waren als die italienischen. Auch hier hatten die Jahrbücher ihre Spezialkorrespondenten. Zu den Berichten Springers 1 ) kommt ein gediegener Aufsatz Th. Sickels „Die Neugestaltung Österreichs" 2 ), der eine eingehende Erörterung der österreichischen Staatsmöglichkeiten im Anschluß an das Goluchowskische Oktoberdiplom bietet. Sickel kennzeichnet *) Verg-l. S. 109, Anmerkung. ») Bd. VI, H. 5.

153 dieses als einen Schritt weiter in der Desorganisation.

Sein

Standpunkt ist, wie bei Springer, der gesamtösterreichische. Er verwirft die partikularistisch-feudalistischen Tendenzen des Diploms. Den Ungarn, die mit Doktrinarismus an ihrem Staatsrecht festgehalten, sprach er den „echten Sinn für gesetzliche Entwicklung" „zwischen

ab. Man müsse zu einer Transaktion

dem

historischen

Recht

vergangener

kommen

(ungarischer)

Jahrhunderte und den nicht minder historischen der letzten 10 Jahre"

(der faktischen Regierung Franz Josefs über Ungarn).

Mehr aber noch als die übertriebene Rücksicht auf Ungarn findet er an der geplanten Gestaltung der deutsch -slawischen Staatsteile auszusetzen. Die konstitutionelle Idee komme in dem künstlichen Aufbau eines Reichstages aus Kommunal- und Landtagsvertretungen nicht zur Entfaltung. Sehr gefährlich sei die Förderung

der

föderalistischen

Sonderbestrebungen,

-besonders

bei den Tschechen. Da nun aber die Gesamtverfassung zurzeit keine „praktische Frage" darstelle, wollte er wenigstens soviel österreichische Gemeinsamkeit" aujä dem Diplom herausholen und sich auswirken lassen, wie irgend möglich. Er betont hier denselben Punkt, auf den es Springer ankam: gemeinsame liberale Einrichtungen, einen gesicherten konstitutionellen Rechtszustand für alle Landesteile. Das erst würde den Ungarn die Vorstellung nehmen, der Utopie ihrer Verfassung läge eine besondere, höhere, in Österreich sonst unbekannte Rechtsidee zugrunde; das würde auch die Tschechen zwingen, an dem Bau des Ganzen mitzuarbeiten, um die Führung unter den slawischen Stämmen nicht zu verlieren. Sickel meinte, in dem Diplom selbst Anzeichen dafür erkennen zu dürfen, daß sich der Kaiser zugunsten der Staatsangehörigen eines Teiles seiner Rechte dauernd werde begeben wollen. Allerdings, „in die von Leidenschaft zitternden Hände des ungarischen Landtages und in die altersschwachen Hände österreichisch-böhmischer Stände gelegt", würden die bisher vom Kaiser ausgehenden Rechte „nur die Auflösung beschleunigen"

während sie,

„allen Völkern

des

weiten Reiches ans Herz gelegt, noch einmal den Staat verjüngen könnten".

154 Der Sehnsucht nach einer zen tralis tischen Gestaltung Österreichs, die Sickel und Springer hegten, kam nun das Programm Schmerlings, das Februarpatent von 1861, das mit dem Föderalismus Goluchowskis schroff aufräumte, entgegen. Allein Springer knüpfte vor der Hand keine großen Erwartungen daran. In dem Artikel „Zur Eröffnung des österreichischen Reichsrates" (Anfang April 1861) vermochte er seinen eingewurzelten Pessimismus nicht zu bannen. Weder Ungarn, nodi Kroaten, noch Tschechen, glaubt er, würden sich dem Schmerlingschen Reichsrate fügen 1 ). Wohl freilich die Deutschen, die auf eine einheitliche Gestaltung des Staates, auf deutsche Kultur gegründet, nicht verzichten könnten — denn in dem Augenblicke, wo das deutsche Kulturelement in Österreich zurückträte, würde bei den Slawen das französische seine Stelle einnehmen. Aber auf wen wollten sich die Deutschen stützen? Springer sieht nur eine doppelte Möglichkeit, einen unheilvollen Ausgang für den den einen wie für den anderen Fall: entweder müßten sich die Deutschen mit den Alt-Österreichern verbinden und den Liberalismus preisgeben

— sei es doch fraglich, ob den

Kaiser

nicht bald die ungarische Opposition g e g e n den Reichsrat verzeihlicher als die liberale im Reichsrat dünken werde — oder aber, wenn sie das Gut des Liberalismus erhalten wollten, in der äußeren Politik die Wege der Regierung gehen, d. h. sowohl die italienische als auch die deutsche Stellung Österreichs aufrecht erhalten. Doch eben für ein zentralisiertes Österreich gäbe es in Deutschland keinen Raum. Aus dieser Zwickmühle sieht Springer nur einen Ausweg, durch die äußere Politik: „wir werden durch äußere Impulse gezwungen werden, eine Entscheidung zu treffen". Springers besondere Fähigkeit, das Auswärtige in seiner Autonomie zu erfassen, tritt hier wieder hervor. Seiner Betrachtungsweise entgegengesetzt, ging Duncker — und auch Neumann war so vorgegangen — zunächst noch 1 ) Auch Bernhardi glaubte von vornherein nicht an die Schmerlingsche Lösung- des österreichischen Problems; er erkannte „geschichtlich wohlbegTÜndete Ansprüche" Ungarns auf ein selbständiges Nationaldasein, abweichend von den übrigen Provinzen des Staates, an (VIII, 61).

155 von den inneren Problemen aus und suchte die auswärtigen in erster Linie aus ihnen zu verstehen. Die europäische Lage Anfang

1861

freilich

konnte einer

solchen Auffassung leicht Vorschub leisten; denn sie war merkwürdig bewegt von inneren Erregungen der Völker. Eine Art der Völker gegen die Regierungen schien

von Gemeinsamkeit

sich herauszubilden );

Duncker unterstrich den Zusammenhang

1

der polnischen,

der

ungarischen,

der italienischen

Bewegung.

Merkwürdig, wie er zu ihnen Stellung nahm und seine innenpolitische Richtung gegen sie begründete. Seit

April 1 8 6 1

schrieb

er für ein Jahr

die Politischen

Korrespondenzen 2 ). Er war zuvor, unbefriedigt von dem Gang der Ereignisse, von der Leitung der Regierungspresse (in die Neumann damals eintrat) zurückgetreten und hatte eine freie Stellung als politischer Berater des Kronprinzen angenommen. Seine Korrespondenzen tragen nicht so wie die Neumannschen jedesmal

ein in sich geschlossenes Gepräge. Sie haben

mehr

den Charakter von Rundschauen; auch eine historische Auseinandersetzung flicht er ein 3 ). Seine, Anschauungen kommen mehr in Erörterungen sammenfassungen

von Fall" zu Fall als in starken eigenen Zuzum

Ausdruck.

Ihr Ton

ist

schwung-

und

glanzlos, das Urteil selbständig, scharf, ausgereift 4 ). W i r finden Duncker durchaus im antirevolutionären Lager. „Wenn

man die Taten Garibaldis, das Schauspiel

der

natio-

nalen Einigung Italiens bewundert, welche sich durch die Macht ') Einwirkung der Warschauer Ereignisse auch auf die innerpolitische Ansicht König Wilhelms, Bernhardi Tgb. IV, 100. *) Vom April 1861 bis März 1862. Vergi, die Zusammenfassung seiner politischen Tätigkeit während dieses Jahres bei Haym, Das Leben Dunckers, Kap. 11. 3 ) Mit Twesten, dem Verfasser der Broschüre „Was uns noch retten kann", über die Einwirkung der französischen Revolution auf die Steinschen Reformen (Bd. VII, H. 6). ') So konnten sie nach außen des Eindrucks wohl verfehlen. Treitschke urteilt einmal absprechend über sie, ohne zu wissen, daß sie von Duncker herrührten. Er sah vielmehr (März 1862) noch in Neumann den „berüchtigten Korrespondenten" der Jahrbücher (Briefe II, 209).

156 der nationalen Idee, durch die populären Kräfte vollzieht, so ist ein Selbstherrscher (Alexander II.)'nicht minder der Bewunderung wert, welcher es unternimmt . . . mehr als 40 Millionen Leibeigener zu persönlicher Freiheit und zum Eigentum zu verhelfen." So nimmt er die Partei des Zaren gegen die Polen; er findet den Zaren, der „bis an die äußerste Grenze der Mäßigung und der Zugeständnisse gegangen war", „im vollsten moralischen Recht, Ernst und Strenge eintreten zu lassen". Und mit Genugtuung stellt er fest, daß das Scheitern des polnischen Aufstandes sowohl auf die Ungarn wie auf die Italiener abkühlend gewirkt habe. Die Dunckersche Kritik scheint hier noch gefärbt von den Erfahrungen von 1848. Von den beiden Fronten, gegen die der gemäßigte Liberalismus sich damals zu wenden hatte, ist es die gegen den Radikalismus, die wir bei Duncker wiederkehren sehen. Die Entwicklung der inneren Lage in Rußland machte es möglich, daß der Liberale den Zar-Befreier als Repräsentanten des monarchischen Prinzips gegen die revolutionären Bewegungen der Völker anerkannte 1 ). Doch wie schon 1848, so standen erst recht 1 8 6 1 die großen Mächte, die nationalen Gegensätze hinter den übernationalen Prinzipien des inneren Staatslebens. Die revolutionäre Bewegung, die die unterdrückten oder doch nicht selbständigen Nationen ergriffen hatte, galt den Liberalen als das Werk Frankreichs, am sichtbarsten in Italien, aber auch in Osteuropa. Französische Eroberungspläne witterten selbst besonnene Männer wi^ Bernhardi und Duncker überall, an der Adria wie am Rhein, in Sardinien wie im Orient. ') Ebenso Bernhardi; er verurteilt die polnische Bewegung zugleich vom deutschen wie vom allgemein sittlichen Standpunkte („Die europäische Weltlage"). Er wünscht nicht eine innere Lähmung des damaligen Rußland, das er bereits mit anderen Augen als das Nikolais I. betrachtet (Tgb. IV, 182). Mit Besorgnis nimmt er an der russischen Bauernbefreiung große Mängel wahr. Der Grund des Obels, der Mir, das Gemeineigentum an Grund und Boden, sei nicht beseitigt. Er behandelt das russische Problem mehrfach in den Jahrbüchern (Bd. III, VII, IX), immer vom Standpunkt des Westeuropäers aus.

157 Wie mit den radikalen, so verhielt es sich mit den ultramontanen Prinzipien. Der Standpunkt Dunckers in der römischen Frage war, daß „im Interesse Europas" das Papsttum nicht zur Waffe einer aggressiven Staatsmacht werden dürfe. Vatikan und Quirinal sollten sich nicht unieren! Der Liberale fürchtete das Aufkommen selbst einer im Gegensatz zu Österreich und zu Frankreich denkbaren ultramontanen Kombination. Sind so 1861 in der Dunckerschen Politik einerseits noch die Rücksichten auf die inneren Zustände der europäischen Staaten ganz erkennbar, erkennbar andererseits aber auch das sie bedingende nationale Moment, voran der deutsch-französische Gegensatz, so sollte es sich in der zweiten Hälfte des Jahres zeigen, daß der nationale Gesichtspunkt den liberalen, der außenpolitische den innenpolitischen bei Duncker wirklich zu überwinden vermochte. Wir wohnen einer entscheidenden Wendung seines Denkens bei; das ganze Gebäude der liberalen Auffassung von der auswärtigen Politik wirft er um und macht die Bahn für eine neue, für eine europäische Haltung frei. Vorbereitet war diese Wendung durch eine schon immer tatkräftig aufgefaßte deutsche Politik, der Duncker im Gegensatz zu Neumann huldigte. Als die deutsche Aufgabe Preußens vor allen anderen faßte er die schleswig-holsteinische auf. Anfang 1861 war die Frage durch die Weigerung Dänemarks, die Kompetenz der holsteinischen Stände statt der übergreifenden des dänischen Parlaments in der Budgetsache (dem Zuschuß Holsteins zum dänischen Gesamtbudget) anzuerkennen, und durch den Protest der Itzehoer Stände (April 1861) in ein neues Stadium getreten 1 ). Die Verständigung, die im August unter englischer Vermittlung einer Bundesexekution in Holstein zuvorkam, konnte nur als ein Provisorium betrachtet werden 2 ). ') Handelmann, „Der Itzehoer Landtag und die Kopenhagener Regierung" (Bd. VII, H. 5). *) K. Lorentzen, „Preußen und Schleswig-Holstein" (Bd. VIII, H. 5). Er plädiert — ähnlich wie früher Francke — bei der Unhaltbarkeit der jüngsten Abmachungen, ja des — zentralistische und feudalistische Prinzipien unheilbar verknüpfenden — Friedens von 1852, auf Rückbringung

158 Duncker war nicht der Ansicht, „daß Preußen außer Stande sei, die schleswig-holsteinische Frage von sich aus aufzunehmen und durchzuführen" 1 ). Abgesehen von dem Motiv, die preußische Politik zu größerer Aktivität zu veranlassen, trieb ihn auch die Besorgnis, die Angelegenheit möchte zuvor ein europäisches Konzert beschäftigen und damit Preußen lahm gelegt werden 2 ). Hier nun, wo er für Preußen den eigentlichen Boden einer aktiven Politik sah, trat ihm in erster Linie nicht Frankreich, sondern England entgegen. Da hat er seine politische Grundanschauung revidiert und eine Schwenkung von England zu Frankreich vollzogen. Bereits im Mai 1861 drohte er anlässig des MacdonaldHandels England damit, daß Preußen andere Wege als die englische Freundschaft offen stünden. Er bedauerte, daß Schleinitz auf die insolente Sprache Palmerstons den preußischen Gesandten in London nicht abberufen hätte. Im August hatte er, anlässig des Besuches des Kronprinzen in England, selbst Gelegenheit, die Palmerston und Rüssel zu sprechen. In der Septemberkorrespondenz rechnete er dann in großen Zügen mit England ab. Er rekapituliert die Geschichte der letzten Jahre; die englische Politik unter Palmerston sei durchaus darauf gerichtet gewesen, der Zeit die „Signatur Napoleon" zu geben. Dann aber habe das dänisch-englische Heiratsprojekt — die Verlobung des Prinzen Eduard mit einer Prinzessin aus der Glücksburger Linie — das Maß der englischen Feindseligkeiten gegen Preußen voll gemacht. „Um es ganz deutlich zu sagen: der sittliche Boden der Allianz zwischen Deutschland und England ist mit der dänischen Heirat vernichtet." „England tritt mit der Frage auf den Stand vor dem Kriege von 1848/50, auf Personalunion beider Provinzen mit der gegenwärtigen dänischen Linie, Aufhebung derselben mit der Thronbesteigung der Glücksburger Linie in Dänemark und Umbildung der gesonderten schleswigschen und holsteinischen Ständeverfassung in eine den Provinzen gemeinsame konstitutionelle Verfassung. ') VII, 574. -) Bernhardi, Tgb. IV, 122.

159 derselben

entschieden

S e i t e der Feinde

für jetzt

und für

die Zukunft auf die

Deutschlands." D i e Politik nach Villafranca,

die an dem „großen Grundsatz" der Verbindung Englands mit Österreich und Preußen festgehalten habe, sei zusammengebrochen. Und obwohl sie ganz richtig gedacht gewesen sei — das blieb Dunckers Meinung —

sei es doch in der Ordnung,

nunmehr

ihr

sie

falliert

habe,

zurücktrete, und dem Grafen selbst

war

das

Träger,

Herr

von

daß,

Schleinitz,

Bernstorff Platz mache. Duncker

Eingeständnis

dieser

Notwendigkeit

ein

tief

schmerzliches: „ W i r schreiben diese W o r t e mit. tiefem Schmerze, wir, die wir das Bündnis zwischen Preußen und England . . . auf die F a h n e

dieser Zeitschrift geschrieben, die wir vor nun

fast vier Jahren

auf den ersten Seiten

derselben 1 ) die Über-

zeugung niedergelegt haben, daß nur" die Verbindung zwischen Österreich, England und Preußen der Suprematie Rußlands und Frankreichs gewachsen europäische daß

Lage,

es den

sein k ö n n e . "

daß

Schritt

Preußen

auf

S o verlange es denn die

neu

Frankreich

in ihr orientiert zu

unternehme.

werde, Duncker

wies darauf hin, wie häufig sich Frankreich um ein gutes Verhältnis zu Preußen bemüht, von dieser Seite aber in der Presse nicht einmal eine Antwort erhalten habe, die mit der internationalen Höflichkeit vereinbar gewesen sei. Die absolute Spannung, in

der sich

Preußen,

Österreich

und

England

zulieb,

gegen

Frankreich festgelegt habe, gälte es aufzulösen, — „oder hätte England

ein

Privilegium

auf

die

französische

Allianz?

oder

könnte man nicht Frankreich so gut die eine Hand reichen, wie England dies tue, und in der anderen sein Schwert schärfen?" Denn einen deutschen Preis will Duncker Napoleon auf keinen Fall für das Einvernehmen zahlen. In diesem Sinne hat er der Zusammenkunft König Wilhelms mit

Napoleon

zu Compiegne

(September

durch sie die neue auswärtige Orientierung

1861)

zugestimmt,

Preußens

besiegelt

gesehen. Mit sichtbarer Schadenfreude verzeichnet er die K o m mentare

der

englischen

Presse

zu der Zusammenkunft:

') In dem Aufsatz „Preußen und England" (Bd. 1, H. 1).

„Die

160 Times wird uns denn also schon gestatten müssen, ihre Erinnerung an die gemeinsamen Interessen Preußens und Englands, welche ihr so ganz abhanden gekommen war und welche ihr so unvermutet wieder aufgestiegen ist, unbeachtet zu lassen." Die Wendung von Compiègne bedeutet keine prinzipielle Zäsur in der amtlichen preußischen Politik, wohl aber in der politischen Haltung des Liberalismus, so wie sie sich in den Jahrbüchern zu erkennen gibt. Der Schmerz über die Umlegung seiner politischen Grundansichten, den Duncker uns empfinden läßt, geht zusammen mit einem Zug der Befreiung, der sein Denken von nun an beseelt; immer mehr sehen wir ihn, den Liberalen, den Notwendigkeiten der Lage, die später von der Bismarckischen Politik realisiert wurden, zuwachsen. So dogmatisiert er nun das neue Verhältnis zu Frankreich nicht mehr wie seine bisherigen Vorstellungen. Als Ende des Jahres 1861 ein amerikanisch-englischer Konflikt (über die Trent-Angelegenheit) auszubrechen drohte, befürchtete er von einer Festlegung Englands außerhalb Europas sofort eine Machtsteigerung Frankreichs auf dem Kontinent, die ihm immer unerwünscht blieb. Aber er hielt die Linie von Compiegne inne und führte sie wie gegen England so dann auch gegen Österreich weiter. Der Versuch einer Einigung in der Bundeskriegsverfassung sollte die letzte Liebesmüh Preußens um Österreich sein. Nachdem er Anfang 1861 gescheitert, galt es die preußische Politik ganz europäisch zu orientieren1). So folgert Duncker aus der Überreichung der identischen Noten vom Februar 1862, mit denen Österreich und die Mittelstaaten als Antwort auf das Bernstorffische Unionsprogramm Preußen „ein Dresden vor Olmütz" zugemutet hätten, es sei notwendig, Frankreich in Italien nunmehr freie Hand zu lassen (das Königreich Italien anzuerkennen) und den preußisch-französischen Handelsvertrag, ohne Rücksicht auf Österreich, abzuschließen. Und von diesem Boden der europäischen faßt er auch die besondere preußische Politik ') VII, 486. — Denkschrift an den Fürsten von Hohenzollern vom 15. April 1861, Haym, Dundker, S. 228 f.

161

auf. Ihre Notwendigkeiten läßt er ganz unmittelbar sprechen. Er läßt sie nicht mehr wie Neumann scheu zurücktreten vor der europäischen Konstellation. Schon in der Krise von 1859 hatte er sie kräftiger fördern wollen. Doch erst jetzt, da er aus dem englisch-österreichischen Bündnisgedanken herausgetreten war, mochten sie sich freier entfalten. Bernhardi ging mit ihm Hand in Hand. In seinen Tagebüchern sind uns die Gespräche aufbewahrt, in denen die Freunde sich die Lage zurechtlegten. In den Korrespondenzen Dunckers für die Jahrbücher klingen dann hin und wieder die Beratungen der beiden nach. Wir können verfolgen, wie ihre immer stärker werdende Betonung der preußischen Interessen, ihre immer bestimmtere Forderung nach einer aktiven preußischen Politik genau der Entwicklung, die die inneren preußischen Dinge nahmen, entsprach. Wir haben diese, deren Kernpunkt, das Armeeproblem, wir bereits entwickelt haben, weiterhin im Zusammenhang zu betrachten; sie wurde ihrerseits von der Führung der auswärtigen Dinge entscheidend beeinflußt. Der Mangel an auswärtigen Erfolgen hatte schon Anfang 1860, bei der Einbringung der Armeereform, eine Krisenstimmung erzeugt; damals führte Neumann die Jahrbücher in die Opposition, zumal gegen Schleinitz, hinüber. Angesichts der wachsenden Verschärfung der inneren Lage wurde nun das Bedauern Dunckers und Bernhardis über die Passivität der Schleinitz, Gruner, Usedom immer ernster. Schon 1861 sah Bernhardi nur noch in einer großartigen Aktion nach außen das Mittel, die inneren Schwierigkeiten zu heben. Die nationale Idee, die es in SchleswigHolstein zu verwirklichen galt, erschien so zugleich als eine Forderung der inneren Lage. Das gab den Männern ihre Entschiedenheit. Sie waren weit von einer Doktrin des gordischen Knotens entfernt; der Gesichtspunkt, ein innerpolitisch Unlösbares mit dem Mittel außenpolitischer Gewalt zu heilen, lag nicht in ihrem Denken. Sie sahen hier keine Gegensätze; das Innerpolitische gilt ihnen nicht an sich als unlöslich. Die Wendung nach außen war ihnen nur die Herstellung des Lebens des Gesamtorganismus. Wie nachdrücklich der Liberalismus dieWestphal

11

162 sen zu umfassen strebte, wie sehr er sich mit staatlicher Haltung durchdrang, zeigt die Ansicht Dunckers, daß es selbst in dem System desselben liegen könnte, daß die Armee die Spitze nähme. Duncker faßte den Begriff einer liberalen Diktatur 1 ). So hatte die Duncker-Bernhardische Politik einen ganz elementaren Zug. Ihm vertrauten sie. Nicht an der Macht der Verhältnisse, sondern an dem Ungeschick der einzelnen mußte es dann liegen, wenn aus ihm die Kraft, den Konflikt zu überwinden, nicht entspränge. Indem sie so das Ganze umfaßten, wogen sie doch die einzelnen Probleme sorgsam ab. Duncker konnte noch in akademischer Weise dafür plädieren, eine Möglichkeit nach der andern zu versuchen. Es verschlug ihm nichts, erst aus dem realen Verlaufe das Korrektiv für eine „an sich richtige" Idee zu entnehmen2). Die letzte Möglichkeit aber, die die Freunde vor der Auflösung der Neuen Ära für eine aktive preußische Politik vor sich sahen, war eine doppelte: Schleswig-Holstein oder Kurhessen 3 ). Das Preußen nur eine der beiden Fragen aufnehmen könnte, galt ihnen als sicher. Es scheint Bernhardt gewesen zu sein, der Duncker vollends den Vorzug, den die schleswig-holsteinische Kombination verdiene, klar gemacht hat. Hier nämlich befürchtete er schlechterdings keine europäische Intervention. Außerhalb Deutschlands werde man das gute deutsche Recht respektieren. Palmerston werde „poltern": eben weil er mehr zu tun außerstande sei 4 ). Von Frankreich be') Haym, Duncker, S . 261 f. Haym, als Biograph, sah darin eine „Brücke" der Dunckerschen zur Bismarckischen Politik. Er zeigt damit, wie dem späteren Liberalismus über der Zustimmung zu dem Werk Bismarcks das Bewußtsein von der Verschiedenheit der ursprünglichen Einstellung des politischen Denkens abhanden gekommen war. Für Duncker blieb auch die Diktatur nur in einem System erträglich. ) Vergl. seine Deduktion der wahren preußischen Politik, VII, 486 (Mai 1861). *) Erörtert im Gespräch Dunckers mit Bernhardi, 12. Febr. 1862 (Tgb. IV, 202 ff.) und inj der Korrespondenz Dunckers vom 22. Febr., IX, 236 ff. 4 ) Tgb. IV, 121. Haym, Duncker, S . 229. s

163 fürchtete man in dieser Frage gleichfalls nichts. Es ist charakteristisch, wie hier, im Augenblick der durch die inneren Verhältnisse gesteigerten Not, die Idee eines Präventivkrieges gegen Frankreich, die Duncker und Bernhardi noch Anfang 1861 mit der des schleswig-holsteinischen verbanden, zurücktritt. Vor allem aber sollte das Unternehmen Deutschland für Preußen gewinnen. Die österreichisch-mittelstaatlichen Antipathien vermöchten hier Preußen, dessen Vorgehen die nationalen Sympathien begleiteten, nicht aufzuhalten. Es ist schon etwas von dem Kalkül in dieser Politik, mit dem Bismarck 1864 Österreich an seinen Wagen spannte. Die kurhessische Frage dagegen würde zu einer Spaltung im deutschen Lager selber führen. Frankreich würde in sie eingreifen, und zwar, da Preußen nicht in der Lage sei, ihm linksrheinische Gebiete zu überlassen, auf der Seite Österreichs und der Würzburger. „Dann haben wir den siebenjährigen Krieg minus Friedrich den Großen", rief Bernhardi aus 1 ). Und auch von England erwartete er für Preußen in diesem Falle nichts. Duncker entwickelte diese Alternative, für' die Bernhardi namentlich auch Roon einzunehmen suchte, im Februar 1862. Die Hauptsache war ihm freilich, daß überhaupt etwas Aktives geschah. Mit Bernstorff war er bald unzufrieden 2 ). Als sich im Mai 1862 durch erneute Herausforderungen des Kurfürsten die hessische Frage noch einmal zur Ergreifung einer nationalen Politik Preußens anbot, und selbst Gruner ihre Lösung im preußischen Sinne zur Bedingung seines Bleibens machte, war Bernhardi mit Duncker ganz einverstanden, sie wahrzunehmen; im letzten Augenblick suchte er eine dahingehende Entscheidung durch Einwirkung auf Roon zu erzielen 3 ). Vergebens. Wir werden sehen, wie der Verlauf der hessischen Angelegenheit den Jahrbüchern dann weiterhin Anlaß gibt, das System ihrer Politik gegenüber der neuen Regierung charakteristisch zu entwickeln. ') Tgb. IV, 214. IX, 113 (Januar 1862). Ebenso Bernhardi Tgb. IV, 228 (er habe sich durch sein Verhältnis nach rechts bei der Mehrheit unmöglich gemacht). ') Tgb. IV, 278 f. 4)

11*

164 Das Ende der Neuen Ara war, außenpolitisch gesehen, also ein völliges Versagen des liberalen Regimes. In den Jahrbüchern begegnen wir einer ganz unbefangenen Kritik dessen, was von der eigenen Partei versehen und verfehlt war. Das Maß der inneren und äußeren Friktionen vermochte ein Duncker, obwohl er der Entwicklung der Dinge unmittelbar beiwohnte, im Vertrauen auf die liberal-nationale Idee, die ihn leitete, wohl nicht ganz richtig einzuschätzen. Dennoch waren die europäischen Möglichkeiten scharf von ihm durchdacht ; sein Blick war frei geworden. Er kannte keine prinzipiellen Bindungen mehr. Just zu einer Umkehrung seiner alten europäischen Doktrin mochte er nun kommen. Die Konstellation, bei der er zuletzt stehen blieb, war der Gegensatz zu England über die schleswig-holsteinische, zu Osterreich über die gesamtdeutsche Frage, ein Einvernehmen mit Frankreich, die Förderung weiterer italienischer Wünsche, ein freundlicheres Verhältnis zu Rußland. So durfte er Bismarck erwarten. A u s g a n g der Neuen Ara. Wir konnten verfolgen, wie sich Duncker und Bernhardi in der auswärtigen Politik zu Einsichten, die über dem Niveau des Durchschnittsliberalismus lagen, erhoben. Wir sahen sie aber zugleich diese Einsichten als Lernende fassen; wie sie der Politik eines Schleinitz gedanklich noch lange zustimmten, so zeigten sie sich uns selbst noch als Repräsentanten des Systems der Neuen Ära. Wir haben keinen Grund anzunehmen, daß, wenn die Leitung in ihren Händen gelegen hätte, der Zusammenbruch dieses Systems von innen heraus vermieden worden wäre. Doch auch dem inneren Fortgang gewannen sie politische Erkenntnisse ab, die es sich zu vergegenwärtigen lohnt. Die schönen und weiten Seiten liberaler Kritik berühren uns hier; zumal in der Auseinandersetzung Dunckers mit den Demokraten im Wahlkampf von 1861 treten sie hervor. Den ersten schrillen Klang, der den kommenden Konflikt ahnen läßt, bringen die Jahrbücher in ihrem politischen Kommentar Ende 1860, in einem Artikel Hayms zum Stieberschen

165 Prozeß 1 ). Hayna schlägt einen anderen Ton an als den, der in den Ausführungen, die Neumann bis dahin zur inneren Politik gemacht hatte, üblich gewesen war. Noch in der Korrespondenz vom Oktober 1860 2 ) hatte dieser, anlässig der Ernennung von 24 neuen liberalen Mitgliedern in das Herrenhaus, mit Wärme von der Regierung gesprochen, den Modus ihres Vorgehens gegen radikalere Versuche, die Erste Kammer umzugestalten, energisch verteidigt. „Uns liegt nun endlich eine Tat vor", pries er; an einen Plan der Regierung und an die Entschlossenheit seiner Durchführung glaubte er von neuem. Anders Haym; er faßt das System an der Wurzel. Wenn das erste Gefühl, das ihn über die Enthüllungen der Unregelmäßigkeiten in der hohen preußischen Staatsverwaltung, die der Stiebersche Prozeß brachte, trifft, das des Vorwurfes gegen sich selbst, gegen die Politik im eigenen Lager ist, so rechnet er damit mit dem euphemistischen Verfahren ab, das man bisher, auch in den Jahrbüchern, auf liberaler Seite der Regierung der Neuen Ara gegenüber angewendet hatte. Den tiefliegenden „Dualismus" im Staatsbau des nachmärzlichen Preußen, das Nebeneinander liberaler Männer und Prinzipien an der Spitze einerseits und einer festgewurzelten reaktionären Beamtenpraxis andrerseits, definitiv zu zerstören, ruft er den Liberalismus auf; nicht zu beschwichtigen, vielmehr auf den Kern des Problems zu dringen, mahnt er: das Aufsehen nicht zu vermeiden, sondern „zu Hilfe zu rufen!" Schon deuten sich ihm die Möglichkeiten einer inneren Entwicklung an, die dem ganzen System gefährlich werden könnten: er erhebt die Warnung, daß nicht über ein Jahr bei den Wahlen eine Partei „von keiner Delikatesse" gegen die Regierung den Plan beherrsche: die Demokraten. Ihr Auftreten als einer geschlossenen Partei bedroht, wie er voraussieht, den Volkskörper mit neuem Zerwürfnis. Die inneren Fragen, die durch den Stieber-Prozeß aufgeregt worden waren, zogen sich durch die ganze Session von 1861 ') Bd. VI, H. 6. Bd. VI, H. 4.

2)

166 hin. Graf Schwerin wollte sich nicht zur Entlassung des in den Prozeß verwickelten Polizeipräsidenten von Zedlitz entschließen; noch weniger war, von reaktionärer Seite gestützt, der König dazu geneigt. Georg Beseler beklagte, in der Märzkorrespondenz 1861, daß durch die Weigerung der Regierung der konstitutionellen Partei der Rücken gegen die fortschreitenden radikaleren Tendenzen im Lande nicht gedeckt werde. Schon hat er von einer Spaltung im liberalen Lager selbst, von der Opposition Waldecks gegen Vincke in der Kammer, zu berichten. Der Entwurf über die Zivilehe war vom Herrenhaus verworfen worden, in der Grundsteuerfrage gelangte in demselben ein von den Ansichten der Regierung abführender Antrag zur Annahme. Wie sollte es so die Partei dartun, daß sie etwas zur Durchsetzung der liberalen Staatsgedanken vermöchte? In dieser Mißstimmung begegnete die Armeereform steigenden Schwierigkeiten. Während sich unter der Leitung Vinckes ein Verhältnis des Gegensatzes zwischen der Partei im Parlament und der Partei in der Regierung, ein irrationeller Machtstreit, geltend machte 1 ), nahm der König bereits den Gegensatz von monarchischem und parlamentarischem Regiment auf; vergebens versuchte ihn Bernhardi von der Zuspitzung der Lage in diese Doktrin abzubringen 2 ). Die Ausbildung dieser Stimmung war das wesentliche Resultat der Session von 1861. Deren positive Ergebnisse schienen wohl nicht ungünstig: j die Grundsteuerreform war in Folge der Einsetzung des persönlichen Willens des Königs bei den Mitgliedern der Herrenhauses angenommen worden; Herr von Zedlitz hatte seine Entlassung erhalten; die Kosten für die Reorganisation des Heeres waren, wenn auch nicht im Ordinarium, so doch im Extraordinarium bewilligt worden 3 ). Dennoch mußte Duncker im Rückblick auf ') Vergl. die charakteristische Erörterung des Verhältnisses VIII, 318 f. (Veit). l ) Tgb. IV, 118. 3 ) Ober die Einstellung ins Extraordinarium Duncker VII, 568 f. Er achtete diese Frage, aus der sich schließlich der Konflikt herausentwickeln sollte, nicht vieler Worte wert. Auch der Verschiedenheit der

167 die Session (Juni 1861) von bleibender Mißstimmung berichten. Die Friktionen, die sich entwickelt hatten, waren nicht rüdegängig zu machen; Bernhardi meinte, daß für die Entlassung des Herrn von Zedlitz die Gunst der Stunde versäumt worden sei 1 ). Nur durch sichtbare Erfolge, zumal auf dem Boden der auswärtigen Politik, hofften die Jahrbücher die Stimmung noch heben und verhindern zu können, daß sich die verschlechterte in den Neuwahlen des Winters niederschlage. Man kann dabei die Dunckerschen Korrespondenzen nicht einmal als zutreffende Stimmungsbilder ansehen. Er selbst, auf die Vernunft in den Dingen gerichtet, sucht möglichst viel von dieser an den Tag zu bringen. J e mehr sich von der mittleren Linie verwirklichen ließ, desto fester mußte sich die Stellung der Partei begründen, der er diente. Er hat denn auch ausdrücklich etwa gegen den süddeutschen Standpunkt Front gemacht 2 ), der die preußischen Komponenten nicht so sorgfältig in Rechnung stellen mochte, der ein entschiedeneres Umspringen mit dem Herrenhaus, ein zagloses Vorgehen gegen Dänemark, Hannover, Hessen-Cassel forderte, dem die preußischen Junker die absoluten Schädlinge des Nordens, wie die Pfaffen diejenigen des Südens, waren: so etwa die Argumentationen Treitschkes, der, im Juni und November 1861, von München aus den Gang der preußischen Politik beobachtete 3 ). Die Jahrbücher traten damals in eine Krise ihres Bestehens ein. In einer Denkschrift, die Haym im August 1 8 6 1 dem Komité über die Fortsetzung derselben erstattete, wies er namentMeinungen, die dabei im liberalen Lager selbst zutage getreten war, maß er keine Bedeutung bei. ') Tgb. IV, 132 f. J ) VIII, 88. 3 ) Bd. VII, H. 6. Bd. VI», H. 5. Ähnlich Baumgarten in den Korrespondenzen aus Süddeutschland, die er, nach Beendigung seines Aufenthaltes in Berlin 1859/61, wieder aufnahm. (Juni und August 1861, Bd. VII, H. 6. Bd. VIII, H. 2). „Es ist den Freunden Preußens in dieser Ferne fast unmöglich, aus dem Verhalten der preußischen Minister einen Anspruch auf das Vertrauen Deutschlands zu der gegenwärtigen Leitung Preußens zu deduzieren."

168 lieh auf die Konkurrenz einer neugegründeten

demokratischen

Monatsschrift hin, der seit 1861 von H. B. Oppenheim herausgegebenen

„Deutschen Jahrbücher für Politik und Literatur".

Sie suchten, von radikalerem Boden aus, dasselbe politisch-literarische Bildungsziel zu propagieren. H. v. Unruh, Lasker, Ludwig Bamberger, Reuchlin, Scherr, Rüge waren Mitarbeiter. In der Zeitschrift selbst spiegelt sich das geringere Vermögen dieses Flügels

des Liberalismus,

das Nationalleben

wirklich zu

umfassen; an durchgebildeter Form konnten sie sich den Preußischen Jahrbüchern nicht vergleichen; namentlich den politischen Monatsberichten Oppenheims fehlte die geistige Disziplin. Nach wenig Jahrgängen ging die Zeitschrift wieder ein. Im Augenblick aber war sie mit den wachsenden Tendenzen des Tages verbündet. Die Preußischen Jahrbücher suchten sich gegen die jüngere Rivalin zu behaupten, indem sie ihrerseits festeren Anschluß an die Partei suchten; diese überließ ihnen ihren von Moritz Veit verfaßten umfassenden

Rechenschaftsbericht

über

den Landtag von 1858/1861 1 ), das grundlegende Programm, mit dem die Konstitutionellen in den Wahlkämpf gingen. Wir zeigen nun die Phasen auf, die die Auseinandersetzung der Konstitutionellen mit den Demokraten bezeichnen. Im Januar 1861 war der Prinzregent König geworden. Im Sommer des Jahres beschäftigte die Frage der

Feierlichkeiten,

durch die diesem Akt Ausdruck gegeben werden sollte,

die

öffentliche Meinung. Die Konservativen suchten die alte ständische Form der Huldigung durchzusetzen. Duncker erörterte 2 ), wie es sich in dem Verfassungsstaate nur um eine Frage von formaler Bedeutung handeln könnte; den Gedanken, daß sich in der Huldigung ein ständisches R e c h t ausdrücken solle, wies er entschieden zurück. Mit der Form der Krönung, die dann statt der einer Huldigung gewählt wurde, erklärte er sich im besonderen einverstanden. Auch der Bericht, den die Jahrbücher über den Hergang der Königsberger Feier brachten 3 ), war ganz ') Bd. VIII, H. 3. Bd. VIII, H. 1 (Juli 1861). ») Aus Königsberg (19. Oktober), Bd. Vili, H. 4.

169 monarchisch-loyal gehalten. Die Betonung des Gottesgnadentums, die Wilhelm sich angelegen sein ließ, und manche verstimmenden Eindrücke, die auf der linken Seite entstanden

waren 1 ),

wurden nicht berührt. Die Partei ging ganz mit der Monarchie. Man wollte sich an diesem Akt, der das höchste

Verhältnis

des Landes betraf, keine Kritik von außen oder von innen gefallen lassen. Man identifizierte sich mit seinem Staate; dagegen fühlten sich entschiedene

Liberale und außerpreußische

Partei-

freunde schärfer abgestoßen. Alsbald nach dem Schluß des Landtages gewann dann der Gegensatz zwischen den Altliberalen und der

Fortschrittspartei

einen bestimmten Ausdruck. In der Nationalzeitung vom 5. Juni 1861

veröffentlichte diese ihr Programm. Sie stellte es nicht

gegen die bisherige Majorität ab. Doch nun zögerte Duncker nicht, seinerseits die Abweichung auf eine präzise Formel zu bringen. weist

er

In einer nachdrücklichen den

von

Erörterung

der radikalen Seite

such, durch Verdeckung

des

Programms

unternommenen

der eigentlichen Differenzpunkte

Vervon

den konstitutionellen Sympathien im Lande mit zu profitieren, entschieden

zurück 2 ). Wohl begrüßt er es, daß sich so

auch

bei den Demokraten ein entwickelterer Wirklichkeitssinn zeige; er wünscht ihnen, daß sie eine Vertretung im Parlament, nach 'ijem Maß i h r e r Kräfte, finden möchten, aber er wünscht nicht, daß die Konstitutionellen

selbst die Hand dazu

böten,

den

Demokraten den Einzug in das Parlament zu erleichtern. Denn die Lage Preußens sei schlechterdings nicht dazu angetan, sie auf das Exempel einer demokratischen Staatsführung zu stellen. Hinter der vorsichtigen demokratischen Forderung nach

Spar-

samkeit im Militäretat erkennt er bereits im Juli den Willen, die Heeresreorganisation hat

die

Genugtuung,

Presse mit

nicht Gesetz werden zu lassen im November,

der Sprache

herausging,

als

die

und

demokratische

diese Interpretation

be-

stätigt zu finden. ') Bernhardi Tgb. IV, 15 f. ) Bd. VIII, H. 1 (Juli). — Fortsetzung seiner Kritik des demokratischen Vorgehens, H. 4 - 6 (Okt.—Dez. 61). 5

170 So betont er, daß es nicht, wie die Demokraten meinten, nur ein Unterschied der Tatkraft, sondern allerdings ein Unterschied der Gesinnung sei, was die beiden liberalen Lager getrennt halte. Es greift in die Tiefen seiner Ethik, wenn er vielmehr gerade seiner — der gemäßigten — Partei größere Energie des Denkens, weitere geistige Spannkraft zuschreibt: Entschiedenheit mit Selbstüberwindung gepaart, Idealismus eingelassen in den objektiven Sinn, ein sich erst an den Möglichkeiten der Realisierung voll auswirkendes Sittlichkeitsgefühl. Er warnt die Demokraten, zugleich Königtum, Feudale, Heer, Beamtentum herauszufordern; wie sollten die vereinigten Liberalen dem Bund dieser Mächte widerstehen? „Mit der Krone, nicht gegen die Krone" 1 ) müßten die großen nationalen Fragen gelöst werden. Und doch es ist eine Auseinandersetzung im eigenen Hause, unter Männern, die vielfach zusammengegangen waren, um die es sich hier für Duncker handelt. Duncker und Mommsen, die an der Begründung der Preußischen Jahrbücher zusammengewirkt hatten, standen jetzt in verschiedenen Lagern. Bernhardi trennte sich damals von seinen schlesischen Gesinnungsgenossen 2 ). Treitschke, der noch zwei Jahre an der Zeitschrift mitwirkte, stimmte doch Schulze-Delitzsch lebhaft zu 3 ). Dunckers charakteristisches Bemühen war es, die Gegensätze zu versöhnen, alte Gemeinsamkeiten in Rechnung zu bringen, die Front gegen rechts aufrecht zu erhalten 4 ). Was er an den Demokraten bekämpfte, war eben das Gefährliche ihres taktischen Vorgehens: klarsehend erkannte er, wie sie den reaktionären Faktoren in die Hände arbeiteten. Aus Staatsgefühl opponierte er sich ihnen. ') VIII, 419. Wiederholte Formulierung- der Alternative IX, 105: „Führung des Kampfes des neuen mit dem alten Preußen auf demokratischem oder auf konstitutionellem Wege, mit dem Königtum oder gegen das Königtum." *) Tgb. IV, 145. „Sdiöntuerei mit den Demokraten . . . das könnte mir fehlen!" 3 ) Briefe II, 119, 133. *) In Einfügungen, sichtlich von der Hand Hayms, in die Dunckerschen Korrespondenzen werden die liberalen Gemeinsamkeiten, auch bei dem Auseinandergehen im einzelnen, noch ausdrücklicher betont.

171 Und sein Vertrauen auf die altliberale Kraft war groß. Noch im Oktober sah er zwar einen erheblichen Zuwachs der fortschrittlichen Elemente im neuen Landtag voraus, doch meinte er, dem unorganischen Bunde aller anderen Parteien gegenüber werde die Mitte die Führung in der Hand behalten. Um diese Politik zu sichern, forderte er noch vor den Wahlen ein programmatisches Auftreten der Regierung: in erster Linie die Regelung der ländlichen Polizeiverwaltung und die Normierung der Kreisvertretung (Beseitigung der Virilstimmen der Rittergüter), in ^weiter ein Ministerverantwortlichkeitsgesetz und ein Gesetz über die Oberrechnungskammer. Auch zu einigen maßvollen Konzessionen in Sachen der Armeereform (Verzicht auf einen Teil der Zuschlagsteuern) riet er der Regierung. Eine solche programmatische Organisation blieb dann allerdings von seiten des Ministeriums wie der Partei aus. Die Wahlen im Dezember verschoben die Verhältnisse in der Kammer ganz unerwartet. Die Konstitutionellen verloren die absolute Majorität. „Wir sind nicht in der Lage, diesen Sieg des Liberalismus mit Freude zu begrüßen." In einer Selbstkritik (Dezember 1861) untersucht Duncker Wege und Ziele des Liberalismus der Neuen Ära. Er dringt auf den bezeichnenden Punkt, daß die konstitutionelle Partei in der Opposition, während der Reaktionszeit, gewonnen, als Regierungspartei,

„in eigentlicher Herrschaft", verloren

habe.

War sie zu ministeriell? War sie nicht ministeriell genug? Er rät ihr, sich ganz und entschieden als Regierungspartei zu konstituieren, in sachlicher Arbeit fortzuschreiten, den Ausfall ihrer namhaften Führer durch eine demokratischere Organisation, durch die Erziehung aller Glieder zur Mitarbeit wett zu machen. Und von der Regierung verlangt er erneut die Sicherung der Annahme der notwendigen

inneren Gesetze durch Ernennungen

liberaler Pairs in das Herrenhaus; schon während des Sommers hätten sie im Hinblick auf die Wahlen vorgenommen werden sollen. So sucht er noch einmal durch die Anspannung aller ihrer Kräfte, ihres geschichtlich-sittlichen Sinnes, die Politik der mittleren Richtung zum Erfolg zu führen.

172 Seine Politik beruhte also: 1. auf dem Bewußtsein der prinzipiellen Abweichung der Staatsansicht seines Liberalismus von der der Demokratie, 2. auf der Toleranz auch des demokratischen Gedankens, 3. auf der Einsicht in die taktische Notwendigkeit, daß der Lage nur die Behauptung einer mittleren Linie durch die Parteien entspräche. Noch immer vertraut er auf die Kraft des „richtigen" Denkens; die altliberale Partei ziehe ihre Kraft daraus, an der Spitze, nicht im Schlepptau der öffentlichen Meinung zu sein. Mit der Waffe des „umsichtigen und konsequenten Handels", glaubt er, könne auch eine Partei (nicht nur eine Regierung) sich gegenüber den bloßen Leidenschaften der Massen selbst in aufgeregten Zeiten halten. Denn wie sei es mit der demokratischen Logik beschaffen? Die Partei spiele ein „etwas ungeschicktes" divide et impera mit dem Ministerium! Hätte sie nicht eben dem Teil desselben ihre Unterstützung widmen wollen, gegen den sie mit dem Vorwurf, daß er sich seinen reaktionären Kollegen unterworfen habe, aufgetreten sei? Werde sie fortfahren, auf dieser Bahn die Stellung des Herrn von Auerswald gegen die des Herrn von Roon zu befestigen? Die Thronrede, mit der im Januar 1862 der Landtag eröffnet wurde, gab Duncker neue Hoffnung auf den Fortgang seiner Politik 1 ). Sie sei gemessener und nüchterner als sonst; doch sie bezeichne scharf die Notwendigkeiten der Staatsführung nach innen und außen, „sie nenne Schleswig". Sie gebe, wie man annehmen dürfe, „ein treues Bild der Situation in den maßgebenden Kreisen". Es ist interessant, das Fundament dieser an die Thronrede geknüpften Dunckerschen Hoffnung zu sehen: die Thronrede war von ihm selbst verfaßt! Harte Kämpfe in Wahrheit hatte die Zustimmung des Königs zu ihr gekostet 2 )! So entwickelte sich die Lage denn bald über die Absichten der Besonnenen hinweg. Die Mehrheit nahm in der Tat, statt *) Es bleibt freilich wieder zu bedenken, daß er in den Jahrbüchern zugleich für seine Ziele w i r k e n will; in den Gesprächen mit Bernhardi drückt' er sich besorgter aus. 2 ) Mitteilung Dunckers an Bernhardi, Tgb. IV, 185.

173 sich auf den „realen Boden einer wesentlich gouvernementalen Politik" zu stellen, „den idealen Standpunkt des einfachen Drängens" ein. Die monatlichen Korrespondenzen finden nicht Zeit, dem Ablauf der Ereignisse zu folgen. Noch im Februar (22.) ist Duncker mit der Kammer, auch den Fortschrittlern, nicht unzufrieden. Am 25. März hat er das Fazit der Krise zu ziehen. „Die sittlich reinste Verwaltung", die das Land seit langem besessen hat, ist gefallen. Uberall hat die liberale Regierung für „den Mangel eines durchgreifenden Gedankens" bezahlen müssen. Ebenso hat die Partei durch ihr Bohren an allen Orten den Stand der Regierung erschüttert. Wird das konservativ rekonstruierte Kabinett in der Lage sehi, die liberalen Reformen weiter zu führen? Von konservativer Haltung aus liberale Politik zu machen — „eine kaum zu lösende Aufgabe"! Aber die Altliberalen werden nicht die Exliberalen sein: es ist ihre Mission, den drohenden Kampf zwischen Krone und Volk — so wird er nun angesehen — hintan zu halten. Auch einem nicht aus ihren Reihen genommenen Ministerium gegenüber werden sie sich den objektiven Notwendigkeiten, den dauernden Interessen des Vaterlandes nicht versagen. In der Gewißheit, daß die Demokratie, wie sie in der deutschen Frage nach Gotha gegangen sei, auch innenpolitisch auf die Wege der Konstitutionellen gelangen werde, schließt Duncker seine letzte Korrespondenz. Der A u s b r u c h d e s K o n f l i k t e s . Die politische Haltung der Jahrbücher in der Konfliktszeit haben wir nicht im ganzen zu überblicken. Sie war auch keine positiv selbständige. Die Politik Bismarcks wirkte alsbald auf die Doktrin der Gemäßigten ein; sie hatten nun, erst abweisend, später zustimmend, mehr ein begleitendes als ein mitschaffendes Verhältnis zur Politik. Die neue Ära bot uns ein geschlossenes Bild für sich. Der Charakter des gemäßigten Liberalismus muß in tieferem Sinne als der irgendeiner anderen Partei aus der besonderen Struktur der Zeit, aus der Abwandlung der Epochen heraus verstanden werden; nicht weil es ihm an eigener Kraft gebrochen hätte, nicht weil er sich opportunistisch an die Wirk-

174 lichkeit verloren hätte: von solchen Tendenzen fanden wir selbst die unbefangensten Denker, einen Bernhardi, einen Duncker frei; sondern weil es das E t h o s dieser Partei war, sich immer zur Wirklichkeit, zu der konkreten politischen Lage ein unmittelbares Verhältnis zu geben. Was uns noch übrig bleibt, ist, zu beobachten, wie das so zu Fall gekommene Gedankensystem auf eine veränderte Welt reagiert, wie es sich den Platz bestimmt, den es zwischen den neu auftretenden Gewalten einnimmt, wie es die Traditionen seiner letzten zweieinhalbjährigen Arbeit am Staate fortbildet in eine Entwicklung, die ihm in den Jahren der Reichsgründung selbst noch einmal zu Recht und Leben verhelfen sollte. Es sind Nachklänge aus schöneren Tagen, die wir nun in den Jahrbüchern vernehmen, Nachklänge, in denen die Kraft der Berichterstattung mählich nachläßt. Im Augenblick freilich ergreift Haym selbst die Leitung, und er vermag es, die Situation noch einmal charakteristisch auszudrücken. Seine dialektische Kraft war der Darstellung der wirrenreichen Lage des Sommers 1 8 6 2 eigentümlich gewachsen. Als er dann aber, während man immer sicherer in den Konflikt hineintrieb, sich von der politischen Leitung zurückzog, kam es in den Mitteilungen seiner Gehilfen, voran Wehrenpfennigs, nur noch selten zu ursprünglichen Gedanken 1 ). Wir können uns darum über die Politik der Jahrbücher 1862/63 kürzer fassen. ') Die Bekanntschaft Hayms mit Wehrenpfennig, schrieb sich aus dem Jahre 1860. Wehrenpfennig bedankt sich für die — von Haym selbst herrührende — Besprechung seiner Schrift „Geschichte der deutschen Politik unter dem Einfluß des italienischen Krieges" in den Preußischen Jahrbüchern (Brief an Haym, 19. III. 60). Oberlehrer am Joachimsthalischen Gymnasium in Berlin, gehörte er zum Stabe der literarischen Hilfskräfte, die, unter Dunckers Vortritt, der Neuen Ära ihre Dienste widmeten. Neumann rügte seine offiziöse Haltung (im Stieberprozeß) und warnte Haym, ihn als seinen Nachfolger zum regelmäßigen Korrespondenten der Jahrbücher zu machen (an Haym 28. XII. 60). 1'/« Jahre später kam Haym dann doch auf ihn zurück. Zunächst ließ er sich das M a t e r i a l für die Korrespondenzen von ihm geben, während er sich die eigentliche Redaktion vorbehielt. Später ließ er ihm dann wesent-

175 Die Situation, die Haym am 24. April vorfand, war durch die Wahlbewegung charakterisiert, in die man, nach der Auflösung des Landtages und dem Rücktritt der Regierung, eingetreten war. Was Roon noch in der Neuen Ära angestrebt, wogegen sich Bernhardi in Gesprächen mit dem Kriegsminister sowohl aus moralischen als auch aus Zweckmäßigkeitsgründen gewandt hatte, war von dem neuen konservativen Kabinett versucht worden: eine massive Beeinflussung der Wahlen; selbst an Gerichte und Universitäten ergingen die Mahnungen der Minister. An diesem Unternehmen hatte Haym das ganze System. Mit schärfstem ethischen Rüstzeug hebt er es aus den Angeln. Von „der großen Weckerin des deutschen Lebens", der Wissenschaft, sei, an der Universität Berlin, die Protestbewegung ausgegangen. Er reiht sich in sie ein. Es beleidigt schon seinen sittlich-geschichtlichen Sinn, daß die Regierung statt des lebendigen Verhältnisses der Gewalten zueinander, in dem gerade dem Standpunkt der Mitte seine besondere Aufgabe zufiel, die abstrakte Scheidung der Parteien in Freunde der Ordnung und Überstürzung, in Anhänger monarchischer und parlamentarischer Regierung als Parole ausgegeben habe. Die ganze Struktur der lieh ganz freie Hand. Von Haym allein rühren die Korrespondenzen vom April und Juli 1862 her (Haym an Reimer, 23. April und 2. Juli 62). Die August-Korrespondenz schrieb wahrscheinlich der Abgeordnete Fubel (Haym an Reimer, 28. August 62). Die September-Korrespondenz (Eintritt Bismarcks) kennzeichnet sich von Wehrenpfennig durch die ihm damals eigentümliche, in seinen gleichzeitigen Briefen wiederkehrende Schreibart des Namens („Bismark"). Einzelne charakteristische Wendungen in den folgenden Mitteilungen dürfen wir noch Haym zuschreiben; dann aber, so für das ganze Jahr 1863, haben wir ganzWehrenpfennigsche Arbeit vor uns. Sie hält denselben Charakter des politisierenden, historisch-philosophisch angeregten Gelehrten fest, der in den Jahrbüchern vorherrschte. Hatte doch Wehrenpfennig denselben selbst in einer wertvollen Abhandlung über „Die Verschiedenheit der ethischen Prinzipien bei den Hellenen" (1857) an den Tag gelegt. Er übernimmt von Haym die Neigung zu prinzipiellen Formulierungen, aber temperamentloser, umständlicher, mit der Eindringlichkeit ein wenig des Oberlehrers. Einen eigenen politischen Zug gab er in die Jahrbücher nicht neu hinein.

176 Zeit, die Erfahrungen, die das reine Denken in der Wirklichkeit gemacht hatte, sah er hierin unberücksichtigt; Prinzipien, die vor einem Jahrzehnt maßgebend waren, fand er neu hervorgeholt. Er vergaß es der Regierung nicht, daß sie das Ihre getan habe, den Gegensatz in dieser Härte zu formulieren und so die Elemente des Konfliktes mit herauszutreiben 1 ). Um aber erst den vollen Charakter der neuen Regierung zu enthüllen, habe Herr v. d. Heydt — in dem Schreiben an den Kriegsminister, das am 5. April in die Presse kam — versuchen müssen, den reaktionär-demagogischen Akt der Wahlbeeinflussung mit der Gewährung finanzieller Konzessionen an die Liberalen zu verbinden. Hieran zeigte sich Haym, in welchem Sinne mit dem sittlichen Faktor im Staatsleben gespielt werden sollte. Das Staatsganze, die Reinheit der Idee sah er preisgegeben. Der verwundbarste Punkt in dieser deutschen Auffassung von Politik war berührt. Haym war sich sofort klar, welche Haltung die konstitutionelle Partei solcher Praxis gegenüber einzig und allein einzunehmen habe. „Wir stellen uns auf den Boden der sittlichen Opposition." Möge die Regierung „schlechtestem demokratischen Geiste" in die Hände arbeiten: die konstitutionelle Partei werde nunmehr in der Opposition recht eigentlich ihre Kraft und Einheit wiedergewinnen. Die Dunckersche Erkenntnis, daß dieselbe erst in der Negation positiv zu wirken vermöchte, bewahrheitete sich so auch bei Haym. Er weiß sich eins mit einem großen Teil der Fortschrittspartei; er fordert ein Bündnis mit dieser, soweit die sittlichen Grundbedingungen des Staates reichen, ein Bündnis, das eben dadurch Eintracht und durch Eintracht Sieg bedeute! So sehr bricht sich der Glaube an die Macht der Idee wieder Bahn! Wie aber lagen die wirklichen Verhältnisse? Den Staatsnotwendigkeiten sollte nach der Meinung der Jahrbücher nichts abgedungen, aber kein nicht absolut notwendiger Taler diesem Ministerium bewilligt werden. Wie nahm man mit dieser — von Wehrenpfennig formulierten 2 ) — Maxime, in der sich wohl ein ') IX, 596. J ) IX, 681.

177 wenig reine Vergeltungsfreude aussprach, Stellung zu den Parteiverhältnissen, die sich in der im Mai 1 8 6 2 gewählten Kammer neu herausbildeten? Das Ergebnis der Wahlen war eine weitere Verstärkung der linken Seite des Hauses. Die Fortschrittspartei stieg von 1 0 9 auf 1 4 1 , das linke Zentrum, das sich, unter Harkort und BockumDolffs, schon in der letzten Kammer aus der konstitutionellen Fraktion gelöst hatte, von 52 auf 1 0 1 Sitze. Die Konstitutionellen selbst sanken von 95 auf 43 Abgeordnete. Über die Frage, ob sie nur mit dem linken Zentrum oder gegebenen Falles auch mit der Fortschrittspartei zusammengehen sollten, trennten sie sich wiederum in eine Fraktion Vincke und eine Fraktion Rönne-Grabow. Das war das Ende der konstitutionellen Partei! Haym legte auf diese Spaltungen kein großes Gewicht1). Auf dem Boden der sittlichen Opposition, wie wir ihn eben umschrieben haben, hoffte er das Zusammengehörige wieder vereinigt zu sehen. Nur aus solcher Hoffnung heraus konnte er dazu kommen, das Wahlergebnis, das wir geschildert haben, mit Genugtuung zu begrüßen, die „durchgreifende Macht der liberalen Prinzipien" aus ihm abzulesen. In Würdigung der Adreßdebatte widmeten Haym 2 ) und Wehrenpfennig 3 ) dem Antrag Twesten (Fortschrittspartei), der einen kategorischen Protest gegen die ministerielle Wahlpraxis in den Mittelpunkt gerückt und eine systematische Opposition gegen diese Regierung angekündigt hatte, grundsätzlich billigende Worte, ebenso dem in rein s a c h l i c h e r Opposition verharrenden Entwürfe Vinckes, um sich dann für den m i t t l e r e n Entwurf Sybels (linkes Zentrum) zu entscheiden, der dem sachlichen wie dem grundsätzlichen Gebote zugleich Rechnung zu tragen wisse. Es ist charakteristisch, wie hier wieder ein mittlerer Standpunkt festgehalten, für die Bildung einer in ihren Grundprinzipien einigen Mittelpartei bis in die Reihen des Fortschritts geworben wurde. ') IX, 600. «) IX, 597 f. s ) IX, 676. Westphal

12

178 Indessen die Spaltung der Konstitutionellen war doch tiefgehender, als es in den Jahrbüchern zum Ausduck kam. Die letzte Absicht war auf beiden Seiten dieselbe: wieder eine liberale Regierungspartei "zu bilden. Während man aber in dem einen (Vinckeschen) Lager nur durch energisches Abrücken vom Fortschritt dahin gelangen zu können, nur durch diese Betonung bei der Krone der Reaktion den Rang ablaufen zu können meinte, suchte man in dem anderen (Grabowschen) Lager allererst die parlamentarische Voraussetzung für die Bildung einer liberalen Regierung zu schaffen; hier mußte man zu Konzessionen geneigter sein, man hielt an der zweijährigen Dienstpflicht fest, während die andere Gruppe, von Vincke, der hierin eine persönliche Sonderstellung einnahm, abgesehen, sich entschlossen zeigte, die Regierungsvorlage mit der dreijährigen Dienstpflicht anzunehmen. Das Entscheidende waren aber nicht die technischen Abweichungen, sondern der Gegensatz in der Auffassung der Machtfrage: hier wurde die Krone, dort das Parlament als der stärkere Faktor in Rechnung gestellt. Bei alledem ist, wenigstens in der Richtung der Jahrbücher, von einer parlamentarischen Doktrin keine Rede; auch die idealistische Opposition gegen das Ministerium v. d. Heydt involviert noch nicht diesen Standpunkt. Die Gewalten des Staates sollten sich vielmehr wieder zu sachlichem Zusammenwirken begegnen. Ein l e b e n d i g e r Ausgleich derselben, nicht auf Grund einer abstrakten Schablone: darin ward zugleich das i d e a l i s t i s c h Notwendige erblickt. Es handelte sich um taktische Differenzen, freilich von großer politischer Tragweite, die unter den Konstitutionellen verhandelt wurden. So zwischen Haym und Bernhardi: Sie bezeichnen den Punkt, wo sich Bernhardi von den Jahrbüchern trennte. In einem Brief an Haym 1 ) spricht er von den „kläglichen Bockumiten"; gerade deren Standpunkt war ihm unverständlich. Da flößte ihm ein Waldeck, der die kosmopolitische Revolution und den Untergang Preußens wolle, doch „etwas mehr Achtung" ein. Der Kern der Gefahr läge geradezu „in der Charakter') Aus Cunersdorf vom 8. Juli 1862.

179 losigkeit und Feigheit der Liberalen, die sie zu Knechten der Demokraten mache"; der gegenwärtigen Regierung Opposition zu machen, sei keine Kunst. „Die liberale Partei kann eine selbständige Bedeutung nur dann haben, wenn sie sich auf das Schärfste und Entschiedenste von der Fortschrittspartei unterscheidet 1 )." Audi mit Sybel, der, wie die Jahrbücher rühmten, als Abgeordneter den mittleren Standpunkt vertrat, entzweite sich Bernhardi über dies Problem; an einem Abend, in Droysens Hause, suchte man vergeblich, sich zu verständigen. Droysen und Duncker waren Bernhardis Meinung. Man kam auf die Lehren der französischen Revolution zurück: ein gemeinsam mit der Fortschrittspartei über die Regierung errungener Sieg, wie Sybel ihn anstrebe, könne nur zur Vorherrschaft des radikalen Flügels führen. Wie Bernhardi es ansah, so entwickelte sich die Lage. Er hatte sich von den Jahrbüchern getrennt. Einen Artikel, den er, unter der Bedingung unveränderten Abdrucks, der Zeitschrift zugestellt hatte 2 ), konnte Haym nicht annehmen. Die scharfe Abweichung gegen links, innerlich zugegeben, wollte er doch nicht so scharf hervortreten lassen 3 ). Bernhardi zog sich mit einer vornehmen Wendung zurück. Aber es schmerzte ihn tief, zu erkennen, wie unfruchtbar ein Wirken in seiner Richtung geworden war. Der Standpunkt Bernhardis war politisch der richtigere. Zu verwirklichen freilich waren die liberalen Ideen überhaupt nicht mehr. Die Extreme stießen sich immer schärfer gegen einander. Bereits die Julikorrespondenz der Jahrbücher zeigt auch Haym in voller Resignation. Die Dinge, die „sich wider alle unsere Ratschläge und Ermahnungen entwickelt haben", will er nur noch mit historisch-objektivem Blick verfolgen. In Hegelscher Geschichtsstimmung bekennt er sich dazu, daß „nichtsdestoweniger in diesen widerspruchsvollen, verworrenen, stockenden preußischen Zuständen ein doch vermutlich unumgängliches Moment des Prozesses >) Tgb. IV, 288. *) Mit dem oben zitierten Briefe. J ) Tgb. IV, 315 f.

12*

180 enthalten sei, den Deutschland zum Behufe seines Staatswerdens durchzumachen habe". Nun faßte er sich ein Herz zur der Langenweile des Weltgeistes. Nun mußte auch er, der sich noch eben lebhaft mit Bernhardi auseinandergesetzt hatte, aus dem Getriebe des Tages sich zurückziehen, um unduldsamere Mächte gewähren zu lassen. Von verwandten Geistern, von Twesten und Sybel, wird das Gleiche berichtet 1 ). Die Kraft ihres Glaubens an den ,,so Gott will, bald wieder andere Wege zu führenden" preußischen Staat, die diese Liberalen sich bewahrten, das geschichtliche Maß, das sie den Dingen gaben, offenbart noch einmal die tiefsten Kräfte, die sich hier zu politisieren gestrebt hatten. Durch die Schuld der Regierung, wie die Jahrbücher meinten, vollzog sich der Zusammenschluß der Mehrheitsgeister in den Kommissionsberatungen nicht auf der gewünschten Linie weitgehenden sachlichen Entgegenkommens zu der Militärvorlage 2 ), sondern unglücklicherweise so, daß sich diejenigen, die, wenn auch mit Abstrichen, die Reorganisationskosten bewilligen wollten, mit denen, die auf den Stand der Dinge von 1859 zurücklenken wollten, dahin vereinigten, die Kosten aus dem Ordinarium des Budgets zu streichen. Dem letzten Versöhnungsversuche, dem Amendement TwestenSybel-Stavenhagen, pflichteten die Jahrbücher lebhaft bei. Sie vertraten damit den Minoritätsstandpunkt. Allein sie glaubten, daß sich die Minorität alsbald in eine Majorität verwandeln werde, wenn nur die Regierung selbst die Forderungen dieser Minorität, — von deren Vernünftigkeit sich die Jahrbücher durch das vorübergehende Nachgeben Roons am 17. September erst recht überzeugt fanden 3 ), — sich zu eigen mache. Einen anderen Ausweg !) Tgb. IV, 320. *) Entwickelt IX, 682 ff. (zweijährige Dienstzeit aus Rücksicht auf die Finanzen) und in dem in letzter Stunde (20. August) veröffentlichten Versöhnungsversuch Königers „Zur Verständigung in der Militärfrage" (Bd. X, H. 2). Auch hier ward die zweijährige Dienstzeit gefordert. s ) Anders Bernhardi; er war „krank vor Gemütsbewegung" über das Nachgeben Roons. „Das ist der Ruin der Armee." „Welch eine Einbuße an Macht und Ansehen für die Krone!" (Tgb. IV, 325).

181 sahen sie nicht, falls den beiden unbedingten Notwendigkeiten: dem Zustandekommen der Reorganisation und der Beobachtung der Verfassung entsprochen werden sollte. Man empfindet, wie die Politik der mittleren Linie, die von der Partei so fortgesetzt vertreten wurde, bereits an innerer Kraft eingebüßt hat, wie sie den Zustand der im Kampf begriffenen Gewalten verkennt. Konnte das Königtum damals, selbst um den Preis bewahrter Versöhnlichkeit, noch nachgeben, ohne seine Stellung zu verlieren? Der Standpunkt der Mitte verhärtete sich zur Doktrin. So empfing sie das Ministerium Bismarck. Ministerium

Bismarck.

Zunächst abwartend; ob eine zehnjährige diplomatische Laufbahn „den schloßgesessenen Junker nicht zum Staatsmann gebildet" h a b e ? Als dieser aber das „Notrecht" proklamiert, kraft dessen die Regierung berechtigt sei, in dem Falle, daß zwischen ihr und der Landesvertretung kein Einvernehmen über das Budget zu erzielen sei, von sich aus die Ausgaben zu erheben, da habe er gezeigt, daß er zu wahrer Staatsmannschaft nicht tauge, „leichtes Selbstvertrauen und persönlichen Ehrgeiz" nicht überwinden könne; von ihm sei nichts mehr zu erwarten 1 ). Mit „flüchtigen Ideen" statt mit „ernsten Erwägungen" suche er das Staatsschiff flott zu machen 2 ); aber die Anrufung der Provinziallandtage habe gründlich versagt. Die Beamtenschaft wolle er entmündigen, Handel und Industrie, die „bewegenden Elemente", überwältigen, durch eine Politik der Langenweile den Konflikt zu beheben suchen 3 ). Bei der Eröffnung der neuen Session (1863) gilt es, sich darauf einzurichten, daß das Ministerium den Kompromiß nicht wolle oder nicht wollen könne 4 ). So habe es eine Kriegsnovelle angekündigt, die über die Präsenzstärke des Heeres nichts aussage, den Militäretat für das neue Jahr im alten Umfang wieder ') ) 3) ') 5

X, 407. X, 502. X, 627. XI, 92.

182 eingebracht, die liberalen Reformen vertagt. Demgegenüber war Wehrenpfennig der Standpunkt des Konstitutionalismus klar vorgezeichnet. Er nahm für sich den Glauben an den „objektiven Beruf des Staates" 1 ) in Anspruch. „Ohne Unterschied von Mehrheit und Minderheit, von linkem und rechtem Flügel des Liberalismus haben wir heute gemeinsam das Palladium der Freiheit zu verteidigen 2 )." „Ist keine Hoffnung vorhanden, durch Mäßigung und Selbstbeschränkung den sachlichen Gegenstand des Konfliktes mit der Regierung zum Austrag zu bringen, so müssen auch die Differenzen darüber innerhalb der Opposition ihren Wert verlieren 3 )." Entsprechend möchte Wehrenpfennig zwar nicht den gesamten Liberalismus, aber doch die konstitutionelle Rechte zu Einer Partei zusammenschließen, die neben der demokratischen Linken bestände: innerhalb des „durch einen vorherrschenden Gesichtspunkt geeinigten Ganzen" eine „natürliche" Gliederung der einzelnen Teile nach „letzten Grundsätzen" 4 ). Schon kommen wieder, gleichsam unzerstörbare, Hoffnungen für eine Politik des Maßes und der Mitte zum Durchbruch: vielleicht wird die Dauer der Reaktion die Massen ermüden und den Widerstand in die ernsteren Elemente des gebildeten Mittelstandes zurückverlegen5). Dafür gilt es vor allem, den Boden, der die Oppostion recht eigentlich trage, den Rechtsboden, unerschüttert zu erhalten6), und weit in das Land die gleichen strengen, maßvollen Rechtsüberzeugungen zu wirken7). J a , noch weiter richtet sich schon der Blick: über das Ministerium hinweg den Weg zur Krone sich erneut zu bahnen: Voraussetzungen für eine liberale Regierung; die Krone nicht zu reizen, damit sie nicht „mit dem vollen Ausdruck ihres Willens die Maßregeln ihrer Räte vertrete" 8 ). ') ) 3) ') 5) «) ') ")

s

X, 418. X, 418. X, 502. X, 628. X, 629. XI, 92. XI, 95. XI, 97.

183 So arbeitet sich, schon zu Beginn der Landtagssession von 1863, ein Gegensatz gegen die Demokraten heraus. Er greift noch in keiner Frage so weit, daß die Kraft gemeinsamer Opposition gegen die Regierung daran gegeben wird. Vielmehr, für diese Kraft wird nur eine neue Richtung gesucht. Wehrenpfennig verteidigt lebhaft einen neuen Zusammenschluß der Gemäßigten 1 ); er schlägt dafür den Boden, auf dem die Minorität bei der Einbringung des Amendements Twesten-Sybel-Stavenhagen im September 1862 gestanden habe, vor 2 ). Er tadelt den doppelten Adreßentwurf der Fortschrittspartei und der Konstitutionellen; nur langsam scheine die Reaktion die Parteien zu erziehen. Er wendet sich gegen rechts (die Vinckesche Fraktion): nicht einmal, wenn es einem Ministerium Bismarck zu entgegnen gelte, wolle man sich dort entschließen, den Gemäßigten in der Fortschrittspartei beizutreten 3 ). Er fand, daß sich die Mehrheit nirgends zu wirklich radikalen Zielen bekannt habe; so warnte er „das Extrem mit unauslöschlichem Mißtrauen selbst da zu supponieren, wo es sich nicht zeigt 4 )." Es war das Amendement Forckenbeck, durch das er dann die neue Gruppierung herbeizuführen hoffte. Durch sachliche Mitarbeit an der Kriegsnovelle gelte es zu zeigen, daß die Schuld für das Übel nicht verteilt sei, sondern der Regierung das absolute Unrecht zufalle 5 ). Ja, es verband sich ihm mit dem Gedanken an die Durchsetzung eines Kompromisses in der Militärfrage die Hoffnung, daß sich dann das Verbleiben des Ministeriums Bismarck im Amt erübrigen könne 6 ). Überdies handele es sich um eine Probe der Verwirklichung konstitutionellen Lebens überhaupt: ob denn etwa

') „Wir meinen also, der Augenblick sei gekommen, wo auch der gemäßigte Liberalismus einen ersprießlichen Boden für seine Tätigkeit im Hause wie demnächst im Lande — über die Schranken der Fraktionen hinweg — finden wird" (Febr. 1863, XI, 192). *) XI,101. 3) XI, 96. *) XI, 190. ') XI, 102.

•) XI, 433.

184 konstitutionelle Freiheit mit militärischer Macht nicht vereinbar sei 1 )? So stellt Wehrenpfennig das Problem; auf die Basis, auf der es schon Duncker gefaßt hatte. Mit diesem Gesichtspunkt beleuchtet er scharf die bloßen Fraktionsinteressen: gegen den Zusammenschluß aller Konstitutionellen auf der Basis des Forckenbeckschen Amendements rebelliere nur der radikale Teil der Fortschrittspartei, um in dem alten fraktiösen Zusammenhang die Macht zu behaupten. So wolle dieser eine heilsame Entwirrung der Lage verhindern. Technisch fand Wehrenpfennig das Amendement zwar nicht völlig zureichend, aber es sei wichtiger, den konstitutionellen Boden wiederherzustellen als die Vollkommenheit der militärischen Rüstung des Landes zu erreichen. In der Plenardebatte seien nun die gemäßigten Stimmungen im Zuge gewesen, die Oberhand zu gewinnen, da habe die Regierung einen Inzidenzpunkt dazwischengeworfen, den Geschäftsordnungsstreit zwischen dem Präsidenten des Hauses und dem Kriegsminister am 11. Mai dazu benutzt, die Beziehungen zur Kammer zu lösen, die Auflösung vorzubereiten, und so erneut dem Aufkommen der radikalen Seite die W e g e geebnet. Sie, die Regierung, treffe die Schuld, „wenn der kaum gewonnene Boden für eine Lösung des Konfliktes uns sofort wieder unter den Füßen verschwindet, wenn wir tiefer und tiefer in das Chaos hinabsinken". So sei es beim Schluß des Landtages zu der unausweichlichen Alternative gekommen: Verfassung o d e r Reorganisation. „Wer nichts von der letzteren abbrechen will, muß sich entschließen, die erstere stückweise niederzureißen 2 )." Auf die Schließung der Kammer folgte die Verordnung vom 1. Juni über die Beschränkung der Preßfreiheit. Haym setzte sich in charakteristischen Artikeln mit der Lage, die durch die Ordonnanz auch für seine Zeitschrift gegeben war, auseinander 3 ). Seine Grundüberzeugung ist die, daß die Presse jetzt nicht schweigen dürfe, daß sie das Joch der Zensur ertragen und soXI, 432. XI, 559. 3) Die Verordnung vom 1. Juli und die Presse (Bd. XI, H. 6). — Ein Artikel des Grenzboten (Bd. XII, H. 1).

185 viel des liberalen Staatsgeistes wie möglich durch ihr Wort lebendig erhalten müsse. Es ist echtes konstitutionelles Ethos, es ist der Sinn für das Wirkliche, dem sich auch unter Beschränkungen nahe zu halten Pflicht sei, was Haym vertritt. Für dieses Ethos gewinnt er sich den Standpunkt durch die halb ironisch, halb pathetisch vorgetragene Annahme, daß es auch der Regierung nur um das Beste des Landes zu tun sei. Er nimmt die Verordnung beim Worte, da sie es sich selbst beigelegt habe, die Preßfreiheit „auf den Boden der Sittlichkeit und Selbstachtung zurückzuführen". Ihm steckt ein heiliger Ernst In dieser Annahme. Selbst in einer Katastrophe des Staates will er von dem Glauben nicht lassen, daß zwischen Volk und Krone nur verschiedene Meinungen über die Bedürfnisse

des

Staates obwalten, den Willen zum Staate, Motive des Patriotismus dagegen will er bis zum Letzten auch auf der gegnerischen Seite anerkennen. Die Rechtsverletzung historisch und logisch zu begründen, scheint ihm der übergreifende, der wahrhaft politische Standpunkt zu sein. In dem schärfsten, sein eigenes öffentliches Wirken schwer betreffenden Moment hält er über die Abweichungen der Parteiansicht an der ewigen Geltung der Staatsansicht fest. Jenseits dieses Standpunktes schien ihm nur der revolutionäre übrig zu liegen 1 ). Freilich spricht er sich dann über Mittel und Wege der Regierung, die da den sittlichen Geist im Volke machen und vorschreiben statt empfangen zu können glaube, scharf genug aus. „Wir haben es nicht für möglich gehalten, daß die menschliche Vertrauensseligkeit einer so grenzenlosen Ausdehnung fähig sei — "

antwortete Treitschke den Jahrbüchern

in einem Ar-

tikel der Grenzboten 2 ), in dem er sich von Haym lossagte. Schon seit längerer Zeit war ihm die altliberale Politik wesensfremder geworden. An Haym selbst fesselte ihn größte persönliche Hochachtung; in schöner Weise spricht sie der Briefwechsel

^ X I I , 68. — Brief an Treitschke v. 18. VII. 63. l ) Das Schweigen der Presse in Preußen, Grenzboten XXII, abgedruckt hist. u. pol. Aufs. IV.

186 aus, in dem beide die politische Trennung voneinander vollzogen 1 ). Schon Ende 1861 hatte Treitschke besorgt, auf die Dauer nicht mehr mit den Jahrbüchern gehen zu können2). In der Absage stellt er eine charakteristische Theorie über die Entwicklung des deutschen Parteilebens auf, die seine damalige politische Stellung genau bezeichnet. Er wirft den Jahrbüchern vor, den „köstlichsten Gewinn der herben Erfahrungen des letzten Jahrzehnts verkannt zu haben": die Bildung einer neuen Nationalpartei aus den alten 1848er Parteien des Zentrums und der Demokratie. Vom Zentrum sei der Gedanke der deutschen Staatsgründung durch Preußen herübergenommen worden, von der Linken „Beweglichkeit, Opferwilligkeit, das heilsame wache Mißtrauen gegen die noch unerstorbenen Mächte des Absolutismus" 3 ). Kein Zweifel, daß Haym konkreter, historischer dachte. Ihm war dem allgemeinen absolutistischen Prinzip gegenüber der preußische Staatsgedanke schon das Entscheidende, Sicherung Gebende, Primäre. Ihm vertraute er, ob nun die Staatsführung des Augenblicks mehr oder weniger absolutistisch sei. Er belächelte ein wenig den Standpunkt seines nunmehrigen Gegners als außerpreußisch. Sei es denn der Weisheit letzter Schluß, sich immer nur dem einen Rufe zu ergeben: das Recht des Landes sei gebrochen? Das war allerdings Treitschkesches Pathos. Die Jahrbücher lehnten es ab. Wie sich nun Bernhardi auf der einen, Treitschke auf der anderen Seite von ihnen trennten, bezeichnen sie selbst eine bestimmte Nüance in der Entwicklung des Liberalismus und seiner preußisch-deutschen Vorstellungen während dieser Jahre des Konfliktes. Indem unter den zerstörenden Einwirkungen desselben die liberale Gesamtpartei sich auflöst, treten ) Briefe II, 2 7 3 - 2 7 7 . ") Ebd. 183. 3 ) Ebenso hatte Treitschke Licht und Schatten zwischen der demokratischen und der gemäßigten Richtung in Frankfurt in seinem im April 1863 erschienenen Aufsatz „Zum Gedächtnis Ludwig Uhlands" verteilt (Aufs. I, 301). Schon damals hatte Haym die Charakteristik zugunsten der Mittelparteien abgewandelt (XI, 346), worüber ihn Treitschke dann ausdrücklich zur Rede stellte (Briefe II, 267). l

187 die reichen individuellen Momente, die in ihr zusammengekommen waren, einmal sichtbar auseinander. Eine eigene Mischungaus allgemeinem nationalen Ethos und konkretem historischen Denken erhält sich in den Jahrbüchern. Zwischen den näheren Berliner Anschauungen Bernhardis und den weiteren außerpreußischen Treitschkes halten sie, auf Grund einer individuellen ethischen Stimmung, die Mitte. Bei den Konsequenzen aus seinen Anschauungen finden wir Wehrenpfennig auch am Ende des Jahres 1863, bei den Neuwahlen zum Landtag, festgehalten 1 ). Wiederum verficht er den Zusammenschluß aller liberalen Elemente, alt- und jungliberaler; selbst Meinungsverschiedenheiten über die — unter dieser Regierung sowieso unlösbare — Militärvorlage dürften jetzt nicht entscheidend werden. Jeder liberale Mann dürfe sich das Programm der Fortschrittspartei vom 12. September 2 ) zu eigen machen. Der eigentliche Riß innerhalb der Linken gehe nicht mehr zwischen Konstitutionellen und Demokraten, sondern zwischen den „preußisch-radikalen" Bestandteilen der Demokraten einerseits, den „neugothaischen" derselben und den Konstitutionellen andrerseits. Überhaupt träten die Parteischattierungen nunmehr zurück. Jeder Tüchtige werde sich in solcher Lage geltend machen. Derselbe habe nichts einzusetzen, als den Gedanken des Rechts, die Ideen des Jahrhunderts, den Beifall der öffentlichen Meinung Europas. So sind es vormärzliche Stimmungen, in die auch die Jahrbücher dem fortwährenden Konflikt gegenüber verfallen: keine Nüancierung des Liberalismus, Besinnung auf übernationale Prinzipien. Von diesem Punkt, bis zu dem sich der Altliberalismus innerpolitisch unter dem Zwang der Verhältnisse entwidcelte, fällt das richtige Licht auch auf die außenpolitische Haltung desselben. Bis zum Ende der neuen Ära war es eine entschiedene >) Bd. XII, H. 3 (Sept. 1863). -) Auslegung der Verfassungsfrage im oppositionellen Sinne, Verwerfung der Preßordonanzen, Forderung der Reform des Herrenhauses, Forderung von Gesetzen, die die Beobachtung der Verfassung garantieren, insbesondere eines Ministerverantwortlichkeitsgesetzes.

188 auswärtige Politik gewesen, durch die erst Neumann die Rechtfertigung der Ausgaben für die Heeresreorganisation angetreten, dann Bernhardi und Duncker die mit derselben verbundenen, wachsenden Schwierigkeiten überwunden wissen wollten. Sie galt durchaus als ein Stück des liberalen Gesamtprogramms; man wünschte Erfolge in ihr der l i b e r a l e n Regierung. Als die liberale Regierung abgetreten war, veränderte sich der Standpunkt merklich. Preußisch, staatssinnig blieb man immer: der selbstzerstörerische Gedanke im benachbarten radikalen Lager, Preußen möge sich durch Abdankung einer eigenen a u s t r ü g e n Poli« tik völlig herabwirtschaften, begegnete stolzer Abwehr: „lieber mag uns — welcher Minister da will, regieren, als daß wir uns den Österreichern unterwerfen" 1 ). Aber an eine aktive äußere Politik wird jetzt überhaupt nicht mehr gedacht. Ein für allemal sind ihre Grundlagen die moralisch-nationalen, die nur in einem verfassungsmäßig, in einem liberal regierten Preußen realisierbar sind. Schon über den Fortgang der kurhessischen Frage unter Bernstorff machte Haym im Mai 1862 die charakteristische Bemerkung, daß sie nur in der Hand eines liberalen Ministeriums Erfolgen hätte dienen können; nur als Symptom „des belebenden Zusammenhanges einer großen Politik" für Preußen hätte sie Wert und Sinn. Nun möge man sich in der Angelegenheit Österreich gegenüber noch so sehr behaupten: „man habe den liberalen Prinzipien und damit den nationalen Erfolgen abgesagt 2 )." Ganz aus dem gleichen Zusammenhang kritisierte Wehrenpfennig später die glatte Erledigung der Frage durch Bismarck. „Für Preußen ist der Bruch mit dem Liberalismus schlechterdings auch der Bruch mit jeder denkbaren Form einer auswärtigen Politik" 3 ). Wenn man dann in der wirtschaftlichen Frage des Zollvereins und des Handelsvertrages mit Frankreich doch energisch an dem kleindeutschen Standpunkte festhielt und sich des guten Fortganges der Dinge allen Widerständen, die auf

') XII, 192 (über den Fürstentag). ) IX, 595. 3 ) X, 503.

J

189 dem Münchner Handelstage emporkamen, zum Trotz, freute, von den Segnungen innerlich notwendig gewordener Prozesse wie der Zusammenfassung Deutschlands unter preußischer Führung sprach: so war man doch nicht geneigt, an die Möglichkeiten des in sich selbst sicheren Wachsens und Gedeihens der deutschen Frage auch in p o l i t i s c h e r Hinsicht zu glauben: hier bedurfte es vielmehr erst des besonderen Hebels des Liberalismus, der Herstellung der Verfassung, der Rechtskontinuität. Wie erklärlich, daß eben ein das Auswärtige mit souveräner Kunst ergreifender Kopf die Liberalen mit der Nichtachtung ihrer Grundvoraussetzungen besonders treffen mußte. Sie mochten sich selbst Herrn von Manteuffel zurückwünschen, der sie von der schädlichen „tatenlustigen Unruhe" im Äußeren befreien möge und wenigstens nur im Innern das preußische Ansehen vergeuden werde 1 ). Die Kritik, die sie an Bismarcks auswärtiger Politik übten, lohnt es so nicht, im einzelnen zu analysieren. Der vorherrschende innenpolitische Gesichtspunkt läßt es zu keiner zusammenhängenden Auffassung der Momente der auswärtigen Politik kommen. Immer wieder begegnet der Gedanke, daß doch alle Bemühungen um preußische Erfolge nach außen unter dieser Regierung hinfällig bleiben müßten; eine unsachliche Empfindlichkeit dagegen, daß das Ausland Preußen nun tadeln und zurechtweisen dürfe, spricht sich aus. Die Erörterungen sind umständlich, sie betreffen weniger, wie Neumann es so scharf inne gehalten hatte, Gedanken zu einer eigenen preußischen Politik als ergebnisarme Erwägungen französischer, englischer, österreichischer Motive, denen Preußen recht hilflos ausgeliefert erscheint. Wir geben nur kurz die Stellungnahme der Korrespondenzen zu den Ereignissen und das, was sich dabei an zugrunde liegenden Vorstellungen der auswärtigen Verhältnisse erkennen läßt, wieder 2 ). Ein neues Moment war in die europäische Lage durch die 0 XI, 204. Vergl. die Korrespondenzen Wehrenpfennigs vom Febr., März, April, Mai 1863 (Bd. XI, H. 2 - 5 ) . J)

190 Konvention vom 8. Februar 1863 gekommen, in der Bismarck den Russen militärische Kooperation gegen die polnischen Revolutionäre auch auf preußischem Gebiete zusagte. Sie erregte einen Sturm der Entrüstung in der öffentlichen Meinung. Selbst maßvolle Denker, die keinerlei Vorliebe für Polen hegten, wie Bernhardi, kamen nicht hinter den Sinn der Konvention 1 ). Wehrenpfennig sah n\ir die momentane Verschlechterung, die sie der Stellung Preußens in Europa allerdings zu bringen schien. Sie reizte Napoleon, der« den alten französischen Sympathien für Polen nicht entsagen konnte, zu scharfem Widerspruch. Preußen mußte, nach Wehrenpfennigs Meinung, froh sein, daß sich England seiner annahm, indem es sich dem Schritt Frankreichs gegen Rußland nicht anschloß'2). Sei doch Palmerston seit Cavours Tode der einzige Staatsmann Europas, der sich Napoleon gegenüber zu behaupten vermöge! Diese Schwenkung im liberalen Urteil —• wie scharf war es noch vor einem Jahr in den DunckerBernhardischen Betrachtungen gegen Palmerston ergangen! — l ä ß t wieder die alte liberale Machtbasis durchscheinen: das Verhältnis Preußens zu Österreich und England! Man war wieder in die Anschauungen der Krimkriegszeit zurückgefallen. Statt die heilige Allianz zur Hälfte zu erneuern, statt die keineswegs beglückenden Beziehungen zu Rußland herzustellen, hätte sich Preußen zusammen mit Österreich vereinigen müssen, um durch Schürung der revolutionären Bewegung in Polen die östliche Militärmacht zu schwächen. Zusammen mit Österreich! Und doch hatte Wehrenpfennig Bismarck Inkonsequenz in seiner antiösterreichischen Haltung vorgeworfen: denn dieser hätte er — ebenfalls durch Schürung der revolutionären Elemente, die es von Polen nach Ungarn und Italien hinein gäbe, nicht durch deren Bekämpfung entsprechen sollen! Das Denken ist unklar genug. Es beruft sich auf die europäischen Verträge von 1815. Das napoleonische Frankreich wolle sie zerstören; man dürfe es nicht 1

) Tgb. V, 32 ff.

2)

„So sind wir durch die Raschheit und Besonnenheit anderer für den Augenblick einem Konflikt entronnen, in den unser heutiges Regiment uns sorglos hineingezogen hatte" (XI, 312).

191 provozieren. Aber konnte der deutsche Liberalismus etwa von dem Boden dieser Verträge aus sein Werk aufführen? — Bismarcks Absichten, die auf eine Lockerung der französisch-russischen Beziehungen, auf eine Stärkung der antipolnischen Partei in Petersburg gingen, erkannte man nicht. Man glaubte, er handle nur aus grobem Legitimismus. Von der Politik der polnischen Frage wechselte man zu der Politik des Fürstentages hinüber1). Hatte man damals verlangt, Österreich und Preußen sollten, um sich gegen Osten zusammenzuschließen, „ihre Plänkeleien in Deutschland" vertagen, so sah man sich jetzt wiederum Osterreich in voller Front gegenüber. Man zögerte nicht, schärfste Kritik an dessen Vorgehen in Frankfurt zu üben; die Fernhaltung Preußens vom Fürstentage sei selbstverständlich gewesen. Als der Repräsentant der Nationalpartei habe sich der Großherzog Friedrich von Baden bewährt; von allen deutschen Regenten genieße er das unbedingteste Vertrauen der Nation. Im übrigen wird es gern anerkannt, daß Österreich durch die Berufung des Fürstentages das entschiedenste Übergewicht vor Preußen erlangt habe. Es habe einen Zug getan, viel zu groß, um als Gegenzug aufgefaßt zu werden zu jener „unbeschreiblichen" Note des Herrn v. Bismarck, in der er den Rat ausgesprochen habe, daß Österreich seinen Schwerpunkt nach Osten verlegen möge. Was dagegen Preußen an deutschen Reformgedanken vorbringe, ob es die in der Tat ganz unzulänglichen österreichischen Vorschläge für gut oder schlecht befinde, ja die weitestgehenden Umbildungen am Bunde, ein deutsches Parlament auf breiter Grundlage anrege: das sei und bleibe gleichgültig. Denn das System dieser Regierung führe nur Schläge ins Wasser 2 ).

») Korrespondenz 28. VIII. 63 (Bd. XII, H. 2). *) S o hielt es Wehrenpfennig noch für seine Pflicht, nach außen, in dem Organ der Partei, zu urteilen. Wie seine persönliche Auffassung schon damals von der Bismarckischen Politik alteriert wurde, zeigt ein Brief, den er von Frankfurt aus am 29. August 1863 an G . Reimer richtete: „Leider wird diese Affäre [der Kongreß] uns den Bismarck kaum vom Halse schaffen. Im Gegenteil, sein frivoler Hochmut behält hier am letzten Ende ebenso teilweise Recht wie in der polnischen Geschichte."

192 Den Vorstoß

der österreichischen Politik unter Schmerling

behandelte Springer in einem besonderen Aufsatze deutsche

Osterreich" 1 .)

„das

freie

Nachdem er ein Lichtbild des Verfassungs-

lebens, das sich in Osterreich auf Grund des Februarpatentes von 1 8 6 1 entwickelt habe, entworfen hat, schreitet seine ironische Kritik zu der Verurteilung der Fürstentagspolitik Schmerlings fort. Sie nimmt sich die österreichischen Deutschen vor und fordert von ihrem nationalen Patriotismus die Beseitigung

des zentra-

listischen Systems im eigenen Lande; denn nur eine Regierung, die über die 1 3 Millionen Deutsche in Österreich, keine solche, die über 3 6 Millionen Österreicher geschlossen verfüge, dürfe sich in einem deutschen Föderativstaate niederlassen. Indem er so die Zerstörung des eigenen Staatskörpers, für den er den zentralistischen Gedanken als eben den richtigen bezeichnet hatte, von ihnen fordert, macht er ihnen déutlich, wie unmöglich ihr Verbleiben in dem künftigen deutschen Staate sei. Auseinandersetzung zwischen Österreich und Preußen in der deutschen Frage fordert denn auch Wehrenpfennig wiederum im November 1 8 6 3 . Bei erneuerten Annäherungsversuchen Napoleons an Rußland sucht er wieder die Hand Österreichs. Er sucht sie um so eifriger, als er von der Wiedererneuerung

dieser Kon-

stellation die Verwirklichung der bekannten alten Absichten Bismarcks befürchtet, mit Rußland und Frankreich den Dritten im Bunde zu spielen. Statt dessen vielmehr Bündnis Preußens mit Österreich auf Grund eines Personenwechsels auf beiden Seiten, des Rücktritts sowohl Rechbergs wie Bismarcks, die sich keine guten Worte mehr sagen könnten ! Seine nächste Korrespondenz aber hatte nun zu berichten, wie Preußen sich erneut einer wahren deutschen Politik versagt, wie es den Ausbruch der schleswigholsteinischen Krise durch das Festhalten am Londoner Protokoll im nationalen Sinn zu entwickeln verweigert habe. Der großen Frage, die ein Gott

in die deutschen und preußischen Wirren

geworfen habe, sei ein Verlauf gegeben, den „schwarzsichtigste Phantasie, blasierteste Menschenverachtung"

') Bd. XII, H. 2.

nicht

auszudenken

193 vermöge. Die Fähigkeit, mit Leidenschaft ein einfaches großes Ziel zu ergreifen, gebe die Regierung dem Volke nicht zurück. Die alte Begeisterung der Konstitutionellen für ihre „Domäne", für dieses Schleswig-Holstein, taucht wieder auf. Wesentlich war aber noch ein anderer Punkt. Die auswärtigen Experimente Bismarcks waren immer verworfen, dabei aber doch der Gedanke gehegt worden, durch eine große auswärtige Krise von der Konfliktsregierung erlöst zu werden. Nun zeigte sich ihnen, daß bloßes Experimentieren den rettenden Ausweg einer großen Nationalkrise zu verbauen trachte. Man sah selbst in diesem Lager dem Kampf um Schleswig-Holstein ganz wesentlich unter dem innenpolitischen Gesichtswinkel entgegen. Zugleich aber wandte man sich gegen den Demokratismus der Waldeck und Genossen, die Schleswig für dänisches Lehen und neuen Waffenruhm Preußens für schädlich erklärten. Gefahren der äußeren Situation dagegen wurden nicht anerkannt. „Wer in ganz Europa sei denn geneigt, für den Schutz des LondonerVertrages die Waffen zu ergreifen?" Preußen sei isoliert, gewiß; aber für das gute deutsche Recht, für die Nationalsache einzutreten, werde erlaubt sein. Selbst Napoleon werde diesmal nicht gegen Deutschland auftreten können. Ja, Preußen werde so — das waren die Hoffnungen Wehrenpfennigs wieder zu einem geachteten Gliede der europäischen Gesellschaft werden, indem es die Ideen des Jahrhunderts auf sein Banner schriebe. Doch Bismarck? Man müsse, um seine Politik zu verstehen, den Mann von Olmütz in ihm suchen, der auf nichts anderes bedacht sei, als „europäisch zu denken", und so dem Österreich Rechbergs wieder Gelegenheit verschafft habe, „mit Begierde" (!) die Hand Preußens zu ergreifen. Mit solchem Ausblick, in solcher Bedrängnis schließen die Jahrbücher ihre Betrachtungen am Vorabend des Jahres, das das erste in den Jahren der nationalen Erfüllungen werden sollte; ohne jede Fühlung mit der Politik des preußischen Staatsmannes; befangen in einem Kreis unfruchtbarer Motive. Ihre Begegnung mit Bismarck war das Aufeinanderstoßen zweier von Grund auf verschieden konstruierter Welten. Es bezeichnet die liberale, daß sie, in der Opposition gegen die Bismarckische Ansicht, selbst Westphal

13

194 viel von ihrer Eigenkraft verlor und sich mehr und mehr auf die Schranken ihrer Natur zurückgeführt sah. Sie erlag dem Ansturm dieses ihr wesensfremden Genius. Die einen, wie Treitschke, bildeten ein revolutionäres Pathos aus, andere, wie Wehrenpfennig, verloren die Biegungs- und Zugkraft ihres Denkens; nur wenige, wie Bernhardi, erhielten sich nach außen wie nach innen die belebenden Gedanken des Liberalismus. Aber dieser hatte doch in sich so reiche Kräfte zusammengebunden, nationaler Wille und geschichtliche Besinnung waren so rein in ihm ausgebildet, daß er sich bald aus seiner Verstrickung lösen und mit dem überragenden Gegner unter Festhaltung seines eigenen Bodens sich wieder verständigen konnte. In die Epoche dieser Verständigung hat unter anderen vornehmlich Treitschke den Liberalismus hinübergeführt. Es ist die Epoche von 1865 bis 1878, die ein neues Kapitel in der Geschichte desselben bedeutet.

IV. Kapitel.

Das Menschentum.

W

Die idealistische

Einheit.

ollen wir die geistige Erscheinung des Kreises der Männer, die an den Jahrbüchern zusammenwirkten, geschichtlich be-

zeichnen, so stellt sie sich als eine Ausprägung des deutschen idealistischen Geistes, als eine Seite in jener großen Bewegung eines inneren Menschentums dar, die einem Jahrhundert deutscher Geschichte, von den siebziger Jahren des achtzehnten bis zu den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, von den Tagen der Aufklärung und des Sturmes und Dranges bis zu den Tagen des niedergehenden Liberalismus, das Gepräge gegeben hat. W a r es natürlich, daß sich jene Männer selbst in lebhaftem Gegensatz zu der vorangegangenen Generation fühlten, daß die Historiker mit Bewußtsein gegen die Philosophen, die Politiker gegen die Dichter auftraten, so werden doch wir nicht so sehr den Unterschied als den durchgehenden gemeinsamen Zug betonen; wir werden nicht auf den Anblick der großen geistigen Einheit verzichten, die das innere deutsche Leben in den Grenzen dieses Jahrhunderts aus sich hervorgebracht hat 1 ). Wir versagten uns diesem Eindruck, wir verlören den eigentlichen Sinn und die Kraft der Entwicklung aus dem Auge, wenn ') Die Auswirkung des idealistischen Geistes liegt gewiß nicht in diesen Grenzen beschlossen. Repräsentative Formen des Nationallebens aber hat er in der Folgezeit nicht mehr in gleichem Mafie entwickelt, so mannigfach er weitergewirkt hat. Die inneren Notwendigkeiten dieses Ausganges möchte das vorliegende Kapitel entwickeln. 13»

196 wir in ihr ein idealistisches von einem realistischen Deutschland zeitlich unterschieden, wenn wir den Fortschritt von den geistigen zu den materiellen, von den literarischen zu den politischen Interressen der Nation in den Vordergrund stellten. Nicht die Abwandlung oder gar die Überwindung, sondern die Behauptung eines Menschentumes ist hier das Charakteristische, das historisch Entscheidende. Mochten die G e g e n s t ä n d e des Denkens wechseln, an Stelle der Kunst der Staat, an Stelle der Philosophie die Historie zur höchsten Aufgabe werden: darin gerade offenbart sich das Wesen des deutschen Idealismus, daß er diese Abwandlung ertrug, ¡a sie forderte, daß er das idealistische Grundverhältnis zur Welt bewahrte; im Kampf mit den Realitäten vollendete er erst sich selbst. Als „ein Werden des Charakters aus sich selbst heraus" verstand er nach dem Wort eines seiner Denker den Inbegriff der Freiheit 1 ). Er hatte in seinem eigenen Wesen eine Anlage sich zu politisieren; die innere Logik seiner Entwicklung hielt eigentümlich Schritt mit der Entwicklung der Zeit. In diesem zugleich gespannten und ausgeglichenen Verhältnis zu den Inhalten der Zeit liegt seine Größe und Schönheit begründet. Nur so ist sein letzter großer repräsentativer Vertreter, Treitschke, zu verstehen. Wenn sich dieser Geist politisierte, verstand er die Aufgabe zugleich immer als ein Problem seines eigenen Daseins. Man hat in der Tatsache, daß er um seiner selbst willen, aus dem Wachstum seiner moralischen Impulse, in die heteronome Bewegung der politischen Geschichte eintreten, sich ganz mit den Zeitinhalten auseinandersetzen mußte, einen Anhalt dafür gesehen, den Wandel seiner Einstellung auf die Objektwelt zu dem bewegenden Prinzip seiner Entwicklung zu machen. Allein, wo das geschieht, wird, wie wir glauben, das Grundverhältnis von' Subjekt und Objekt, auf dem dieses Weltverhalten beruht, verkannt2). ') Treitschke, „Die Freiheit", Pr. Jb. VII, 389. 5 ) S o von Windelband in der „Philosophie im deutschen Geistesleben des 19. Jahrhunderts" (1909), wenn er in dem Postulat des Ger-> vinus, es müßten die Tage des Wollens und Handelns an die Stelle der Tage des Dichtens und Denkens treten, den „Zusammenbruch des

197 Mag an der Geschichte einer objektiven Idee, etwa der deutsche'» Nationalstaatsidee, der ganze Reichtum einer Epoche, das Zusammenwirken aller Kräfte wunderbar deutlich werden, so wird man die Grundverhältnisse eines inneren Lebens doch nicht schon aus der Entwicklung der Ideen erklären können. Der deutsche Idealismus ist nicht nur eine Form des Denkens, sondern des Menschentums. Vom Standpunkt der Einheit des idealistischen Menschentums erkennen wir keine geistige Linie als eine idealistisch-realistische Abwandlung, die von Humboldt und Fichte über die Romantiker, Hegel und Ranke zu Bismarck führt; sondern wir sehen den Idealismus in seiner vollen, gerade aus der Auseinandersetzung mit dem Problem der Realität hervorgegangenen Ausprägung erst Bismarck gegenüber: wie denn der Unterschied des liberalen und des Bismarckischen Staatsdenkens — darüber darf die Zustimmung, die Bismarck in dem Lager der gemäßigten Liberalen so bald und reichlich gefunden hat, nicht hinwegtäuschen — fundamental blieb. Mochte man sich in den Zielen begegnen: dennoch hat die Epoche idealistisches und realistisches Menschentum im deutschen Nationalgeist nicht mit einander verschmolzen. Nur einmal, in höchster persönlicher Vollendung, erschüttert uns seine Einheit: in Goethe selbst, der Idee und Wirklichkeit in einer letzten, von ihm selbst nur erfühlten Synthese lebte 1 ). Wohl, Idealismus", statt eben seine folgerichtige Fortentwicklung- sieht, wenn er von einer „Verzweiflung" der nachrevolutionären Zeit „an der Vernunft der Geschichte", statt von einer energischen Fortbildung der Tendenz, Vernunft und Geschichte sich durchdringen zu lassen, spricht (S. 57, 58). Daß gerade in der Einbeziehung geschichtlicher Inhalte die idealistische Kraft sich auswächst, dem vermag der neu-idealistische Standpunkt Windelbands, der sich aus der Art seiner t h e o r e t i s c h e n Einstellung ableitet (vergl. Rickert, „Der Gegenstand der Erkenntnis", 3. A., S . 23 ff.) und den Idealismus als ein System zeitloser Werte, durch das er sich von der Wirklichkeit erlöst, versteht (Windelband S. 119, 120), nicht gerecht zu werden. *) Vergl. seine Niederschrift über sein geistiges Verhältnis zu Schiller (Erste Bekanntschaft mit Schiller 1794 — Paralipomena zu den Tagesund Jahresheften), in der er sich auf das tiefste ausspricht. Er fand, „in seinem hartnäckigen Realismus" über die von dem „gebildeten Kan-

198 es gehört zu dem lebendigen Bilde des deutschen Idealismus, zu sehen, wie er sich nicht nur an wechselnden Objekten zu seinen innersten Konsequenzen forttrieb, sondern wie auf geistigem und politischem Gebiet auch die großen Antipoden seiner Bewegung, die Ranke und Bismarck, auftraten. Das Wesentliche aber bleibt doch die durchgehende idealistische Kraft, eine geheimnisvolle Hervorbringung aus den zeitlosen Anlagen der Nation, fähig, die Massen zu ergreifen und ein Zeitalter durch sich zu bestimmen. Das Wesentliche bleibt, um es auf einen persönlichen Ausdruck zu bringen, die Begründung des großartigen Verhältnisses der Deutschen zu ihrem wirkungsreichsten, ihrem eigentlich nationalen Philosophen: zu Kant. Der Idealismus setzt sich dem Realismus nicht wie Geist dem Staate entgegen. Nicht die Beobachtung des allgemeinen Vorganges, wie Staat und Geist zu einander kamen, erscheint uns als das eigentlich Große am Anblick dieser Epoche, sondern das Innewerden des universal-historischen Vorganges, wie die Ausbildung einer alle Inhalte des Lebens umfassenden deutschen Art, Mensch zu sein, der idealistischen, durch einen ergreifenden Zufall zusammentraf mit einer entscheidenden Phase jenes alle Gegensätze des Menschentums übergreifenden, durch die Jahrhunderte führenden Entwicklungsprozesses, dessen Inhalt die staatliche Konsolidiernng der Völker der europäischen Mitte ist. Die Entwicklung des deutschen Idealismus ist nur der eine Turm des großen Dombaues unserer neueren Geschichte. Gleichzeitig neben ihm erhebt sich, ein nicht minder geschlossenes Werk, aus dem preußisch-österreichischen Ringen um die Vorherrschaft vom ersten schlesischen Kriege bis zur Begründung das Zweibundes von 1879, die deutsche Staatsgründung, unser Reich. Behalten wir dieses Ganze im Auge, einen Bau, der innerlich und äußerlich auf Weltdimensionen angelegt war und, indem er sich emportrieb, dazu gelangen konnte, eine singulare Weltgegnerschaft zu ertragen.

tianer" an seinen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen vollzogene Unterscheidung- von Idee und Erfahrung „ganz unglücklich", daß „zwischen beiden doch etwas Vermittelndes, Bezügliches obwalten müsse".

199 Worin offenbart sich aber die Einheit der idealistischen Bewegung ? Wie entfaltet sich das idealistische Prinzip ? Wir untersuchen es an einer bestimmten Schicht des gewaltigen Einheitsbaues, an dem historisch orientierten Liberalismus in derZeit vor der Reichsgründung. Bestimmen wir zunächst den allgemeinen Ort des Verhaltens dieser liberalen Richtung innerhalb des idealistischen Verhaltens überhaupt. Der Begriff der Totalität. Jedes idealistische Menschentum lebt irgendwie von dem Begriff der Totalität. Das Bekenntnis zur Idee um ihrer selbst willen ist sein Charakter. Die Idee aber vermag sich nur über dem Universum zu wölben. Wie diese Wölbung versucht wird, darin unterscheiden sich die individuellen Mächte, griechische, russische, deutsche Menschheitsgedanken. Die Kugel als Form des Seins, das autonome Sittengesetz, das Mitleid, das Nichts, die Oikoumene, die Historie als geistiger Besitz sind Formen, in denen sich das Totalitätsbewußtsein der Völker ausgesprochen hat. Das deutsche idealistische Menschentum in seiner klassischen Epoche hat seinen Totalitätsbegriff vornehmlich in drei großen, selbständigen Erscheinungen gestaltet: im absoluten Idedismus, in der Romantik, im gemäßigten Liberalismus. Bezeichnen wir nur die allgemeinen Tendenzen, durch die sie sich einander entgegensetzen. l ) Die Aufklärung und die absolute Philosophie gewann den Begriff der Totalität durch das Prinzip der natürlich -sittlichen Gestaltung, in dem die Welt restlos aufgehen mußte. Kant band das persönliche Leben, Hegel den gesamten Wirklichkeitsprozeß an das Vernunftgesetz. In der ausschließlichen Gestaltung der Dinge mit absolutem Maßstab lag eine starke individualistische Gesetzgebung, so wie sie die auf die Begriffe von Gut und Böse gestellte Geschichtsauffassung der Aufklärung charakterisiert. Sie ') Wir heben diese drei Erscheinungen als Gipfelungen, als typische Ausbildungen der entscheidenden Prinzipien heraus; daneben mag Wan auch Verbindungsstrecken und Ausläufer betrachten.

200 kulminierte in der Souveränität des Fichteschen' Ich. Der Individualismus wurde dadurch universell, daß er in seinem Verhalten die Maxime eines allgemeinen Weltverhaltens darzustellen strebte. Zugleich aber mußte es ihn dahin drängen, sich aus dieser Selbstbindung zu entlassen, sich unmittelbar auszusprechen: trotzig, formlos, subjektiv. So sprach er sich im Sturm und Drang aus. Das Ideal der Persönlichkeit blieb ein Erbteil des Stürmers und Drängers in Goethe. Sie blieb ihm ganz gegenwärtig, ein natürlicher Besitz, „höchstes Glück der Erdenkinder". Doch er erhielt sich den Besitz nur, indem er ihn bewußt harmonisch ausbildete; er erhob ihn zur Idee, er läuterte ihn im Typischen. In seinen Betrachtungen geschichtlicher Gegenstände auf der italienischen Reise ist es ihm vor allem um den allgemeinen, den ästhetischen Maßstab zu tun. So gab es ein Moment, in dem er sich mit der am Absoluten orientierten Totalitätsauffassung der Philosophen berühren konnte; in der gewaltigen Objektivierung der geschichtlichen Welt durch Hegel konnte er ein Verwandtes fühlen. Geister indessen, deren Denken und Dichten unfähiger zu absoluter Gestaltung war, mochten doch die Persönlichkeit eben in jenem unmittelbaren Sinn der Stürmer und Dränger ergreifen: die Romantiker, die sie, wo immer sie auftrat, liebten. Sie liebten sie in ihrer Besonderheit, sie verstanden sie nicht mehr als eine bloße Aufgabe, sondern schon als die gegebene Form, als das in seiner Wirklichkeit wertvolle Dasein. So bildeten sie den Totalitätsbegriff hinüber in die Geschichte. Der Weg, auf dem sie zur Geschichte kamen, war dabei aber noch idealistisch durchsetzt; auch sie faßten das Geschichtliche noch mit ideellen, vornehmlich mit ästhetischen Erwägungen; aus einer Formtheorie» der Theorie des Romans, entwickelte Fr. Schlegel das „romantische" Wesen. Er trachtete nach „einem Spiegel der ganzen umgebenden Welt, nach einem Bild des Zeitalters", und fand es im Roman, in der idealen Form des Romans, die er aus dem „Wilhelm Meister" abstrahierte 1 ). Charakteristisch forderte man nicht mehr

') Haym, „Die Romantische Schule", 3. A., S . 289 f. Der Gedanke erhielt sich in den interessanten Ausführungen A. Schölls über den Wilhelm

201 so sehr, daß sich das Ideal verwirkliche, als daß sich das Wirkliche idealisiere; daß das Endliche unendlich erscheine: Schlegel proklamierte die E i n h e i t der drei großen gleichzeitigen Weltbegebenheiten: der französischen Revolution, der Kant-Fichteschen Philosophie, der Goetheschen Dichtung. Durch eine virtuose Kunst des Erlebens hielt man sich dieser Einheit versichert. Neben die Rationalisierung trat dj^Romantisierung des Kosmos. Sie bedeutete die Eroberung neuer G e b i e t e für den Totalitätsgedanken, der „Zwischengebilde", die zwischen der individualistisch und der universalistisch aufgefaßten Welt, die die Welten des absoluten Idealismus waren, lagen: der historischen, das öffentliche Leben beherrschenden Gewalten. Der Zug der Romantik, im Gegebenen zu wirken, führte sie zur Anerkennung gerade derjenigen Mächte, die im Leben der Masse zum Ausdruck kamen: des Staates und der Religion. Aber indem sie so den Begriff der Totalität verdichteten, schwächten sie ihn wieder durch die kontemplative Haltung, in die sie ihm gegenüber zurücktraten. In Friedrich Schlegel war nichts von dem durchgreifenden praktischen Ethos eines Fichte. Ja, als es der Romantik gelang, die gegebenen Mächte in ihrer vollen Objektivität zu begreifen, als der Genius Rankes auftrat, sprach er es, an einer bewegten Stelle des weltgeschichtlichen Verlaufes, in dessen Darstellung er versenkt war, aus, daß er sein Selbst auslösdien möchte, um die Wirklichkeit in ihrem unmittelbaren Dasein zu erfassen 1 ). Mit ihm war der idealistische Geist aus sich herausgetreten und zu einer großartigen Verkörperung des kontemplativen Realismus geworden. Er fand sich in sich zurück, indem er mit den geschichtlichen die absoluten Tendenzen wieder verknüpfte. Hatten sich beide in der Stellung Kants und Herders zur Philosophie der Geschichte in scharfem Gegensatze gezeigt, so faßte sie Hegel in seinem Meister als die Formgebung der objektiven Zeit- und Wirklichkeitserfahrungen Goethes, als einen Ausdruck von „epischer Totalität" (Goethe als Staatsmann" XI, 236—241). ') Englische Geschichte, Einleitung zum fünften Buch (Parlamentarische Irrungen in den späteren Jahren Jacobs I. und den früheren Carls I.).

202 System an der Wurzel zusammen: Wirklichkeit und Vernünftigkeit durchdrangen sich. An dem Hegelianer Rüge erkennt man dann, wie wirksam, wie entwicklungsfähig diese Philosophie war: wenn er „die Zeitgeschichte als ein Ganzes" zum Programm der Hallischen Jahrbücher machte, so unternahm er es damit, in der Form der Zeitschrift dieselbe Aufgabe zu lösen, die Schlegel in der Form des Romans gelöst wissen wollte; und wenn er „das alte Chaos gewaltig zu zersetzen" dachte, so waren es die aktiven Gewalten des absoluten Idealismus, die er aus dem Hegeischen System, wo sie in der Lehre von der Selbstbewegung des Geistes ihren mächtigen theoretischen Niederschlag gefunden hatten, wieder zu entbinden suchte. Dieselben waren es, die, auf minder radikalem Wege, Duncker in seinen „historischen Rationalismus" aufnahm. So erwuchs aus ihnen die dritte Form, in der der deutsche Idealismus die Totalität begriff: die Politisierung der Welt. Sie bedeutet eine eigene Verbindung. Sie versagte sich der reinen Philosophie, und sie brachte sich das historische Leben nicht mehr auf die Weise der Romantiker zur Empfindung. Die Preußischen Jahrbücher nahmen die dürre Spekulation ihrer Zeit nicht in sich auf — höchstens daß sie einem Schleiermacherianer Raum gaben, an einem Bilde des Meisters seine Theologie zu entwickeln 1 ) —; und indem sie sich über Kunst, Wissenschaft und Politik, über Musik und Poesie, Geschichts- und Naturwissenschaft, das eigene und das Leben fremder Nationen verbreiteten, Büchten sie dadurch den Charakter einer „Revue" zu gewinnen, waren sie auf „Überschau" statt auf „Einfühlung" bedacht. Diesem Verlust aber auf dem Gebiet des reinen und auf dem Gebiet des geschichtlichen Denkens entsprach der Gewinn eines neuen oder doch eines neu verstandenen Prinzips, durch das sie sich die Totalität zugänglich machten, des Prinzips der Verbindung von Wissenschaft und Leben, der Einheit des theoretischen und des praktischen Menschen. Es bleibt der Charakter der Jahrbücher, daß sie diese Form ganz durchgebildet haben: sie suchten die Karl Schwarz, Schleiermacher (Bd. II, H. 2).

203 fortschreitende Wirklichkeit, so wie sie war, d. h. geschichtlich, zu erfassen 1 ), und sie verteidigten, inmitten der tätigen, der politischen Arbeit, gegenüber dem englischen Vorbild, das auch in der Wissenschaft an empirische Anschauung gebunden blieb, die besondere deutsche Art, der formenden Kraft der Idee zu vertrauen. So tritt uns das deutsche idealistische Gesamtprogramm entgegen: eines der großen Menschheitsprogramme überhaupt! Es fesselt durch die Kraft der Entwicklung der Selbsteinkehr und der folgerichtigen Ausbreitung, die ihm eigen ist. Es entwickelt sich im Zusammenhang mit der Zeit und behauptet sich doch in einfacher, innerer Ordnung: aus der Einstellung auf das absolut Aufgegebene und das geschichtlich Gegebene resultiert die Einstellung auf das politisch Erreichbare. Alle Seiten des s i c h s e l b s t v e r t r a u e n d e n Menschentums — von der Spekulation, die die Welt als Ich, die sie als vernünftiges Werden begriff, der „herrischen Sünde der idealistischen Kühnheit" 2 ), von der Selbstberuhigung des Menschen in der Dichtung, bis zu der Heiligsprechung des Staates, dem Glauben an die Harmonie von Macht und Recht werden angeschlagen, alle Gebiete d i e s s e i t i g e n Schaffens werden ergriffen. A n t i n o m i e n des L i b e r a l i s m u s . Es ist die geistesgeschichtliche Bedeutung der persönlichen Entwicklung Hayms, daß er der inneren Gesetzlichkeit des idea') Neumann in den Preuß. Jahrb. VI, 401': „Wer es liebt, sich eine Situation in Gedanken willkürlich zurechtzulegen und statt der vorhandenen tatsächlichen Unterlagen ideelle Voraussetzungen zu fingieren, um zu einer möglichst durchgreifenden und durchweg befriedigenden Lösung der schwebenden Zeitfragen zu gelangen, — der wird an unserem mühseligeren Geschäft, Mittel und Wege zu ersinnen, wie wir um die Härten und Anstößigkeiten des Bestehenden herum zu Verbesserungen gelangen können, wenig Behagen finden. Denn die Arbeit ist unerquicklich und das Resultat, leider! oft herzlich dürftig, an Schönheit und eindrucksvollem Glanz durchaus nicht vergleichbar den Ergebnissen, zu denen eine von den bestehenden Verhältnissen absehende und weit in die Zukunft greifende Spekulation gelangt." ä ) Ausdruck Treitschkes („Fichte und die nationale Idee", Aufs. I, 118).

204 listischen Geistes gelebt, die Kontinuität desselben — zu einer Zeit, da die-Bewegung sich schon verbreiterte — mit jener plastischen Kraft in sich dargestellt hat, die uns aus der Objektivierung seines eigenen Daseins entgegentritt. Einem Wort aus seinem Buche über Hegel, einer programmatischen Auseinandersetzung des historischen und des philosophischen Denkens der Zeit 1 ), mögers wir noch einmal das Grundmotiv entnehmen, auf das die letzte Phase des Idealismus gestimmt war: „frei in den fortfließenden Strom der Geschichte hineinzutreten und mit angestemmtem Geist in seine Wogen hineinzuschauen". Objekt und Subjekt werden hier bezeichnet — der fortfließende Strom und der angestemmte Geist, das bewegte Reich der Geschichte "und der tätige, kämpfende, überwindende Mensch. Sie erscheinen hier als eine logische Einheit, als korrelative Begriffe: das Wort Hayms lehrt den Willen zum Leben, zur Tat, und so zum großartigsten Leben, zur weitreichendsten Tat, zur Geschichte. Die tiefste Ein* heit des deutschen Gesamtidealismus liegt hier bloß, der Primat der praktischen Vernunft, der sich l o g i s c h dazu erweitert, die Widerstände des geschichtlichen Daseins zu fordern, um an ihrer Spannung den sittlichen Gehalt erst voll zu erproben. Der Wille, nicht der Wille an sich, sondern der „erhabene" Wille 2 ), der sich selbst an das Vernunftgesetz bindet, steht im Mittelpunkt. Wir werden sehen, wie weit er zu dringen vermag, wie er sich im Staats- und Parteigedanken des Liberalismus Gestalt gibt, wie er das Schöne sich einzuspannen weiß und selbst den Sinn des Heiligen zu erkennen glaubt. Freiheit und Geschichtlichkeit, persönliches Leben und sachliche Ordnung — ihre Einheit war aber nicht nur eine Forderung des theoretischen Geistes, nicht nur eine Konsequenz, die Haym aus Kant zog, sondern sie war von der deutschen Wirklichkeit in großen Beispielen schon vorgebildet. Sittliche Freiheit, der Wille des Einzelnen zur Gemeinschaft, war die belebende 1 ) Vergl. besonders die erste Vorlesung, die von einem prachtvollen Zuge weltanschaulichen Temperaments erfüllt ist. s ) Anwendung dieses Kant-Schillerschen Begriffes bei Dilthey IX, 409 (Schlosser).

205 Kraft der Steinschen Reformen gewesen. Sittlicher Gehalt der objektiven Welt war von dem friederizianischen Königtum, der aufgeklärten Despotie, in persönlicher, den Erdteil bezwingender Vertretung dargestellt worden. Der Deutsche hatte das oberste Dienertum des Königs am Staate an die Stelle des französischen Sonnenkönigtums gesetzt und damit ein neues Zeitalter begründet. Wie sich so Sittlichkeit und Wirklichkeit durchdrangen, erschien ihre Einheit als ein Ausdrude des deutschen Wesens überhaupt; damals konnte die Fichtesche Formulierung entstehen: „Charakter haben und deutsch sein ist ohne Zweifel gleichbedeutend 1 )." Aber so stark die logischen Bande, die die Philosophen um diese Einheit geschlungen hatten, so groß die Vorbilder der preußischen Geschichte waren, an denen sie Wahrheit geworden war, so tief dieses Verhältnis aus dem Leben des nationalen Genius kam: indem es von den Abwandlungen der Geschichte, von heteronomen Entwicklungsreihen ergriffen wird, erheben sich die Antinomien, übergreifen einander, beschränken sich. Immer wieder wird dem Geiste aufgegeben, zu werden was er sei. Die säkulare Antinomie, die der Politisierung des deutschen Geistes entgegenstand, erkennt man an den beiden Tatsachen, daß es der absolute Geist war, den es zu politisieren galt, und daß der Staat, in dem er sich politisieren sollte, noch nicht fertig war, erst geschaffen werden mußte. Konnte sich der Geist der Dichtung und der Erkenntnis, indem er über sich hinausgreifen und sich erst in dem tätigen Leben vollenden wollte, rein erhalten? Es fiel dem Deutschen nicht ein, die absoluten und die politischen Antriebe zu verwechseln oder gleichzusetzen; die „letzten Prinzipien" blieben ihm heilig. Er wahrte ihnen ihren Charakter und bezog sie dennoch auf einander. So mußte der

') Meinecke hat in dieser Formulierung einen edlen Chauvinismus, einen über die nationale Persönlichkeit hinausgreifenden Universalismus sehen wollen („Preußen und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert", S . 138); man kann sie aber euch umgekehrt als eine geschichtlich bedingte, den vollen Gehalt des Nationalcharakters noch nicht ausschöpfende Definition verstehen.

206 Geist in einer bestimmten Richtung von ihm gebildet werden, entsprach sie seinem ursprünglichen Leben? Der Staat aber, der durch sein Bestehen, seine Überlieferungen die reine geistige Kraft hätte schulen können, war noch nicht gegeben. Wohl faßten die Liberalen, abweichend von den Demokraten, den preußischen Staat schon in seiner geschichtlichen Gestalt als einen sittlichen Wert auf. Aber die volle sittliche Schwungkraft waren sie sich doch bewußt, ihm erst verleihen zu müssen. Treitschke beklagte das nicht: „Es ist unser Los — und wer darf sagen: ein trauriges Los? — daß die innere Freiheit bei uns nicht als die feinste Blüte der politischen Freiheit zutage tritt, sondern den festen Grund bildet, auf welchem ein freier nationaler Staat sich erheben wird 1 )." Wie durchfurcht aber zeigte sich dieser „feste Grund"! Indem ein Absolutes, die Behauptung der inneren Freiheit, sich im Ausgangspunkt des politischen Denkens des Liberalismus festsetzte, war es nicht die Partikularität des Wollens, sondern die Universalität der Idee, die dem werdenden Staate zufloß. Die Liberalen begnügten sich nicht, in den Dienst einer gegebenen Gewalt zu treten, sondern sie fanden sich von dem unfertigen Staat recht eigentlich aufgefordert, die Position, von der aus sie die Welt gestalten wollten, allererst selbst zu begründen. „Die Nation," schreibt Neumann, „will die Macht nicht bloß um ihrer selbst, sondern auch um der Freiheit willen 2 )." Und wie fest glaubten sie an das System ihrer sittlich vernünftigen Vorstellungen, an den Sieg

') VII, 390. Auch Dilthey sah kein Problem in dieser Entwicklung: „Langsam, aber mit unwiderstehlicher Gewalt war mit der Reformation das Selbstgefühl der auf sich selbst ruhenden Individualität bei uns als unser höchstes Gut herangewachsen; alles, unsere politischen und religiösen Zustände, zwang den, der sich nicht selbst verlieren wollte, auf diesen W e g ; alles Edle und Tapfere, was uns erhalten blieb, beruhte auf dieser Stimmung. Und von hier aus war uns auch bestimmt, zu politischem Selbstgefühl und politischer Tüchtigkeit fortzuschreiten" (X, 239). s ) IV, 212. — Treitschke VII, 547: „In der innersten Natur unseres Volkes liegt es begründet, daß wir uns nicht wahllos vor der Macht als solcher beugen mögen."

207 der Freiheit 1 )! Ein Zeichen dieses Kampfes ist es dann freilich auch, daß umgekehrt die Vorstellung einer adäquaten Wirklichkeit mit ihrem gesamten Denken, in Kunst, Wissenschaft und Religion eigentümlich verwuchs. — Versuchen wir nun, aus dem Spiel und Widerspiel der geschichtlichen, der absoluten und der politischen Absichten Form und Lehfenstragkraft dieses Menschentumes zu begreifen. Die geschichtliche Totalität. Die Entwicklung des geschichtlichen Gefühls, von Herder zu Ranke, Haym, Dilthey, Nietzsche, zu verfolgen, wäre ein W e g , der in umfassende Tiefen des deutschen Werdens, über die Epoche der idealistischen Auffassungen hinaus zu neuen Grundlegungen führen könnte, die in den Verhältnissen der Gegenwart reifen. Hier fragen wir, welcher Art der geschichtliche Einschlag in dem Kulturbewußtsein ist, das sich in den Jahrbüchern ausspricht. Der g e s c h i c h t l i c h e C h a r a k t e r des S t a a t e s . Wir haben auf die eigentümliche Lage hingewiesen, in der der Deutsche in der Mitte des Jahrhunderts dem Staate gegenüber war: noch stand der Staat der Gesamtheit nicht und doch war sein Werden schon so tief umstritten, so leidenschaftlich durchdacht worden, daß es sich als notwendiges Ziel beherrschend in die Zukunft zeichnete 2 ). Und selbst die Gestalt, die dieser Schöpfung zukommen mußte, die preußische Spitze, war so stark herausgearbeitet, daß sie einer großen nationalen Partei zum „So alt, so nach allen Seiten durchgearbeitet, so dem Austrage nah sind diese Freiheitsfragen, daß bereits über die meisten derselben eine Versöhnung und Läuterung der Meinungen sich vollzogen hat" (Treitschke VII, 384). *) Die Stimmung beleuchten schön Treitschkes Worte: „Ein Volk, das kaum auferstanden aus dem namenlosen Jammer der dreißig Jahre, die frohe Botschaft der Humanität, der echten Freiheit des Geistes an alle Welt verkündet hat — ein solches Volk ist nicht dazu angetan, gleich jenen verdammten Seelen der Fabel, in Ewigkeit in der Nacht zu wandeln, suchend nach seiner leiblichen Hülle, seinem Staate" (VII, 390).

208 festen Mittelpunkt, zur bildenden Kraft des politischen Denkens werden konnte. Das zeigt sich in dem allgemeinen Charakter, den die politische Literatur des Liberalismus damals annimmt. Man wirft nicht mehr die Frage nach dem besten Staate auf 1 ), man handelt nicht mehr vom Wesen des Staates überhaupt, sondern von den konkreten Fragen des besonderen deutschen Staatslebens. So unterscheiden sich von der noch systematisch angelegten ,.Politik" Dahlmanns aus den dreißiger Jahren die 18S3 erschienenen ,,Grundsätze der Realpolitik" Rochaus. Hier werden nach einer kräftigen Zusammenfassung des Wesens der Politik mehr als einer Kunst als einer Lehre, die einzelnen Parteien, die gegebenen politischen Verhältnisse auf das Maß ihrer politischen Bedeutung hin untersucht. Audi Treitschke reflektierte in seiner großen Abhandlung über „Bundesstaat und Einheitsstaat" auf konkrete staatliche Verhältnisse 2 ). Und Waitz, von dessen „Grundzügen der Politik" (1862) 1858 ein Kapitel" in den Preußischen Jahrbüchern erschien, drang mit seiner historischpolitischen Erörterung über das Königtum und die verfassungsmäßige Ordnung, wie kein anderer Mitarbeiter der Zeitschrift, in die Realität des inneren deutschen Staatslebens ein. So ist es zunächst die empirische Erscheinung des Staates, die die Liberalen begrüßen. Das Preußentum ist der Fels im allgemeinen Denken dieser Männer, freilich nicht das urverwandte der landeingesessenen Rasse, sondern das wahlverwandte unabhängiger Geister*), mochte es nun wie das Dunckers aus prak') „Es ist dem treuen Sohne dieser Zeit nicht mehr gestattet, sich ein Staatsideal aufzubauen nach seinem souveränen persönlichen Belieben" Treitschke (VII, 399). J ) Schon im „Hans von Gagern" (1861) weist er auf die Aufgabe hin, das Wesen der Föderativstaaten aller Zeiten „auf großartigem empirischen Wege" zu ergründen (VIII, 466). s ) Vielleicht betont man zu oft das Unpreußische in ihrem Denken, indem man zu sehr den Gegensatz des Preußischen und des Deutsch-Nationalen anzieht. Doch darf man ihr Preußentum nicht nur mit dem Bismarckischen vergleichen und so als eine halbe Kraft, sondern man muß es auch mit den liberalen Anschauungen des Vormärz und

209 tischer Anschauung erwachsen sein, oder wie das Hayms als das Moment des Willens und der Tat erscheinen, durch das die Totalität des Menschen sich erst zusammenhalte, oder wie das Treitschkes im einfachen Sinn für große Verhältnisse wurzeln. Die preußische Geschichte wird von den Jahrbüchern unbefangen als eine Geschichte der Macht verstanden. S o schildert Treitschke die Ordensgeschichte, „die große Lehrzeit für die aggressiven Kräfte unseres Volkes", und verlangte, daß, „wer das innerste Wesen von Preußens Volk und Staat verstehen" wollte, „sich in jene schonungslosen Racekämpfe versenken

müsse", deren

Spuren er noch in den Lebensgewohnheiten des Volkes geheimnisvoll fortleben sieht 1 ). Fernerhin ist es Droysens Geschichte der preußischen Politik, die Band für Band eingehend

besprochen

wurde 2 ), an der man einen Führer in seinen Auffassungen hatte. Auch die großen Epochen des Absolutismus werden gewürdigt. Treitschke rühmt das „glorreiche" Verdienst der absoluten Monder Revolution und mit den demokratischen Gedanken auch noch der Neuen Ära vergleichen und es so als eine ganze Kraft verstehen. Gewiß kam man in diesem Layer von der idealistischen Staatsauffassung nie los; aber es gilt, zu erkennen, wie viel historische Anschauung, besser: wie viel geschichtlicher Wille sich doch damit vertrug. ') X, 96. 2 ) Der erste Band von W. Roßmann (Bd. III, H. 5), der zweite und die erste Abteilung 1 des dritten Bandes von Erdmannsdörffer (Bd. V, H. 3. Bd. IX, H. 6). Erdmannsdörffer, der es gewesen ist, der den leitenden Gedanken Droysens, den deutsch-nationalen Beruf der Hohenzollern bereits aus den Anfängen ihrer Politik zu entwickeln, später in eigener großer Darstellung überwunden hat, geht in diesen Besprechungen noch auf den Wegen seines Lehrers. So faßt er besonders den Kurfürsten Albrecht auf: „es lag doch in ihm tief begründet der alte hohenzollernsche Zug zu den großen nationalen Aufgaben" (V, 223). Und die nationale Politik versteht er zugleich als eine entschieden antiösterreichische. Von dem Kampf am Rhein mit Karl dem Kühnen 1474 beklagt er, daß „ein deutscher Krieg" „ein so kläglich österreichisches Ende" genommen habe (V, 229). Und den Kurfürsten seit Joachim I. wirft er vor, „je beflissener sie gewesen seien, sich den Kaisern nahe zu halten", „sich um so mehr von den nationalen Interessen, ihrer ursprünglichen Richtung entfernt zu haben" (V, 239). Westphal

14

210 archie um die Majestät, die Einheit des modernen Staates 1 )Friedrich der Große ist ein Held der Jahrbücher, Häußer verteidigt ihn gegen den Weifen Onno Klopp, Haym gegen Macaulay 2 ). Den Ursprung des eigenen Geistes, die Wiederbelebung des auf dem alten germanischen Individualismus beruhenden „echten Liberalismus" sieht Duncker in dem Reformwerk Steins; ausdrücklich weist er den Einfluß der französischen Revolutionsideen auf dasselbe ab 3 ). Von einer Aufteilung Preußens im Interesse des deutschen Gesamtstaates, wie sie die Partei der Jahrbücher 1 8 4 8 vertreten hatte, war keine Rede mehr 4 ). Man hatte sich von den konstruktiven Neigungen befreit 5 ), und wo man konstruierte, war ') VII, 383. Wo sich freilich das absolutistische Regiment zugleich als ein der preußischen Entwicklung entgegengesetztes anläßt, wird es zu einem willkommenen Beleg für die Unfruchtbarkeit der absolutistischen Kultur überhaupt, so bei Baumgarten, der die Antipathien gegen das absolutistische Österreich seiner Zeit auf die Geschichte der Habsburger in Spanien überträgt und eine moralische Vernichtung der Blüte des spanischen Lebens, selbst seiner großen Literatur, ausspricht („Spanien unter den Habsburgern" Bd. III, H. 1 u. 2). 2 ) Häußer, „Friedrich der Große und sein neuester Ankläger" (Bd. VII, H. 4). — Haym VI, 386. — Geffcken rühmt die Begeisterung Carlyles für Friedrich, wenn er auch mit dem Engländer rechtet, der das parlamentarische System zugunsten des despotischen lächerlich mache („Carlyles Friedrich der Große" Bd. II, H. 5). — Dem gegenüber steht nur das drastische Urteil Paulis, das er zu einem in Aussicht stehenden Werke Häußers über Friedrich den Großen abgibt: „Ob jedermann freilich darum zu tun sein wird, gerade diesen König in seiner politischen Tätigkeit politisch treu und lebensvoll dargestellt zu sehen, das ist eine andere Frage" (VI, 543). 3 ) VII, 575. Dieselbe Abkehr von den Ideen von 1789 bei Gervinus (Hinweis Meineckes in seiner Abhandlung „Germanischer und romanischer Geist im Wandel der deutschen Geschichtsauffassung", 1916). 4 ) Zu Dunckers Standpunkt 1861 vergl. VIII, 88 f.: „Wenn man den Preußen als erste Frucht der Einheit die Auflösung ihres Staates in Aussicht stellt, statt denselben als den festen Kern zu betrachten, der, solider und darum allerdings schwerer beweglich, dem Anschluß der übrigen Staaten zum Stützpunkt. dienen müsse, so dürfte man mit solchen Ausführungen der Verbreitung der nationalen Idee in Preußen keinen Dienst leisten." r') Neumann im Dez. 1858 (II, 678): „Auf 10 Jahre mindestens i s t

211 es nicht mehr im Widerspruch mit der realen Macht, sondern in ihrem Sinne: der Unitarismus, den Treitschke vertrat, war großpreußisch, er forderte die Abdankung der Dynastien der Mittelund Kleinstaaten zugunsten der preußischen 1 ). Das eigentliche Programm der Jahrbücher aber war der von den geschichtlichen Verhältnissen vorgezeichnete Bundesstaat, mit starker preußischer Zentralgewalt und einer Nationalvertretung; dem Ausland gegenüber eine militärisch-diplomatische Einheit, im Inneren aber Freiheit für die einzelnen Staaten und Stämme 2 ). Von diesem Boden aus war man entschieden preußisch und machte sich wieder die Velleitäten in den Mittel- und Kleinstaaten gegen den besonderen preußischen Geist unempfindlich 3 ). die Geschichte w i r k l i c h eine Lehrmeisterin; in 10 Jahren ist die Generation noch nicht herangewachsen, die, von der letzten revolutionären Bewegung unberührt, es vorzieht, die Erfahrungen der Alten persönlich durchzumachen, den Schiffbruch radikaler Weisheit mit eigenen Augen zu schauen." ') Die unitarische Tendenz Treitschkes spricht sich schon in dem Kleistaufsatz (1858) — in seinen Briefen schon 1854 — aus. Außer Treitschke widerspricht in den Jahrbüchern nur Geffcken der Möglichkeit eines deutschen Bundesstaates. Er fühlt sich (John Stuart Mills politische Schriften Bd. X, H. 3), Mill zustimmend, Waitz ablehnend, „zu radikaleren Forderungen gedrängt": „der Bundesstaat mag für Deutschland und seine Einigung vielleicht eine Durchgangsform, er mag ein nächstes Ziel und eine auch praktisch unerläßliche Fiktion sein, allein die . Gewalt der Dinge wird schwerlich gestatten, dabei stehen zu bleiben" (X, 283). ' ) Vergl. Neumann, Polit. Korr. August 59 (Bd. IV, H. 2) und Duncker, der das Programm des deutschen Bundesstaates gegenüber den Demokraten von 1861, die es als ihre Schöpfung ausgäben, ausdrücklich für die altliberale Partei als Werk in Anspruch nimmt (VIII, 521). 3 ) Vergl. die schroffe Absage Neumanns an die Umtriebe der Mittelstaaten gegen das liberale preußische Regime während der Zusammenkunft in Baden (Polit. Korresp. Bd. VI, H. 1); Duncker in der Polit. Korresp. Nov. 1861 (VIII, 522): „Wir unsrerseits glauben nicht, daß die augenblicklichen Parteisympathien der Demokraten oder der Liberalen Süddeutschlands ein erhebliches Gewicht für die Lösung der deutschen Frage abgeben, wir glauben, daß diese Sympathien nur Wert haben, wenn sie in erster Linie dem S t a a t e Preußen gelten"; Haym nach dem Ende der Neuen Ära (Polit. Korresp. Juli 62, X, 89): „Dennoch

212 Wir haben in Verfolgung der äußeren Politik der Jahrbücher gesehen, wie sie, über Preußen und Deutschland hinaus, sich auch die Situation Europas historisch gegenwärtig zu halten suchten, wie sie sich etwa den oranischen Gedanken einer englisch-mitteleuropäischen Koalition gegen Frankreich wieder belebten. Das Wort Rankes aus dem Jahre 1870, der Krieg gegen Frankreich sei ein Krieg Deutschlands gegen Ludwig XIV., entsprach auch ganz der Meinung, die die Liberalen hegten. Wir haben gesehen, wie sie unter dem Druck der Verhältnisse die auswärtigen Fragen mehr und mehr als solche der „großen Mächte" aufzufassen lernten. Noch stärker aber als in das äußere Staatsleben leiteten sie in das innere geschichtliche Auffassungen hinein. Und während sie es in der auswärtigen Politik auf diesem Wege doch nur zu Voraussetzungen des Verständnisses, nicht wirklich zu eigenen Leistungen bringen konnten, haben sie sich in der inneren Politik tief in das Nationalleben ausgewirkt, und zwar gerade mit dem geschichtlichen Zuge ihres Denkens. Duncker steht in seiner maßvoll-geschichtlichen und doch entschieden liberalen Haltung gegenüber den lebendigen Gewalten des preußischen Staatslebens voran. Er sieht den Staat in einer großartigen Auseinandersetzung altpreußischer und neupreußischer Elemente begriffen. Er unterscheidet das „geschichtliche" (bürokratisch-feudalistische) vom „liberalen" Preußen: doch so, daß er auch dieses, auf merkwürdige Art, historisch konstruiert. Das Prinzip des Fortschritts, das „demokratische Element", dem allein Preußens inneres und äußeres Emporkommen zu verdanken sei, sind wir niemals weniger in Versuchung gewesen, den Glauben an Preußen einzubüßen, als in dem Momente, wo das Organ des Nationalvereins fahnenflüchtig wird und Miene macht, der Monarchie Friedrichs des Großen seine Gunst zu entziehen, um sie auf den Staat der Habsburger zu übertragen!" — Auf die feineren Unterschiede, die in der Erfassung des preußischen Staatsgedankens zwischen den Hauptleitern der „Preußischen" Jahrbücher, den Duncker, Haym, Bernhardi, Neumann, Wehrenpfennig, und manchen außerpreußischen Mitarbeitern, wie Treitschke und Baumgarten, wahrzunehmen sind, haben wir im vorigen Kapitel hingewiesen.

213 sei früher vom Fürsten selbst und von der Beamtenschaft vertreten worden; in diesem Jahrhundert wolle es dagegen „die Geltendmachung seiner Interessen der eigenen Einsicht und Kraft anvertraut" sehen 1 ). So sucht er auch mit dem Absolutismus innere Fühlung, so erklärt er, daß die beste Kraft auf historischem Recht beruhe und wiederum das beste Recht, auch zum Widerstande, aus geschichtlicher Verwurzelung stamme 2 ). Recht und Geschichte beleben ihm das Gefühl einer einigen Totalität, die ihm der Staat darstellt; aus ihr will er die Kämpfe des Tages auf ihr wahres Maß zurückführen. Und als der Konflikt ausbricht, halten Haym und Wehrenpfennig nur um so kräftiger daran fest, Altes und Neues, Gegensätze der Weltanschauung, in historischer Perspektive, in tragischer Einheit zusammenzuhalten 3 ). In der Tat: nur durch eine großartige Anschauung läßt sich in aufgeregten Zeiten der Standpunkt der Mitte behaupten. Unbeirrbar hielten die Männer ihn fest: „die Umbildung Preußens zum konstitutionellen Staate ist nicht das Werk eines Tages." Ja, ein noch umfassenderes historisches Problem hebt Duneker über den Horizont seines Staates: Preußen sei es vorbehalten, zum ersten Male auf dem Kontinente die Möglichkeit einer Einheit von Macht und Freiheit, von Militär- und Verfassungsstaat, darzutun'')! Wir bemerken zunächst die geschichtliche A b s i c h t IX, 1 0 4 und analog VIII, 520. ») IX, 104. 3 ) X, 4 1 5 (Oktober 1 8 6 2 ) : „Für uns ist in diesem dramatischen Verlauf auch das Auftreten des Herrn von Bismarck nur eine Szene, obwohl wir uns bescheiden, nicht zu wissen, ob sie schon zum Schlußakt gehört. Auch darin erkennen wir die Tragik, daß es sich in diesem Konflikt nicht um kleinliche Streitfragen, sondern um die Macht großer Prinzipien handelt; es ist das Prinzip des konstitutionellen Staats, das mit der nachwirkenden K r a f t der Traditionen des Absolutismus ringt." — Dieselbe Auffassung von Recht und Geschichte sehen wir Sickel in der Auseinandersetzung Österreichs mit Ungarn Ende 1 8 6 0 vertreten. 4 ) II, 4 2 f. (1858) und wiederholt VIII, 526 (1861). Rußland könne nur Militärstaat sein; auch Österreich wisse sich nicht anders zu behaupten; Frankreich werde je militaristischer desto unkonstutioneller. Belgien und die Schweiz zeigten nicht die eigentliche Seite des Problems, den Machtbegriff. Für Preußen läge die Entscheidung über die

214 in diesen Konstruktionen; sie bleibt charakteristisch, auch wenn sie inhaltlich fehlgeht; man umgibt sich mit Perspektiven, die den ganzen Erdteil und das ganze Jahrhundert umfassen. Wie verhielt sich der historische Sinn zu den einzelnen Organen des Staates? Die Sicherheit der Stellung, die der Liberalismus in den Jahrbüchern zur preußischen Monarchie gefunden hat, prägt sich darin aus, daß dieselbe in seinen praktischen. Erörterungen sichtlich zurücktritt. Er zieht sie weder auf radikale Weise, durch eine Kritik an der Institution und ihrem Träger, noch auf reaktionäre durch die Verdächtigung ihrer Geltung im Lande, in die politische Bewegung hinein 1 ). Sie ist ihm ein historischer Besitz von besonderer preußischerFarbe 2 ). 1841 hatte Dahlmann geschrieben 3 ): „Der ganze Weltteil droht sich jetzt in Gebiete der Volksherrschaft und der absoluten Fürstengewalt zu spalten. Ich nun lebe des Glaubens, daß das deutsche Volk vor allen anderen Völkern berufen ist, diese verderblichen Extreme durch Gewissenhaftigkeit und Tiefsinn zu versöhnen." Man darf sagen, daß die Partei Dahlmanns zwei Jahrzehnte später diesen Beruf durch historische Besinnung, so viel an ihr lag, bereits erfüllt hatte 4 ). Nur einDurchführung der Aufgabe darin, „ob es gelinge, neben und gegen die feudale Partei eine starke achtunggebietende Partei zu bilden, welche einer liberalen Regierung in ihrer inneren und auswärtigen Politik eine auch für die Wahrung der Machtentfaltung des Staates ausreichende . . . Stütze zu gewähren vermöge". ') Vergl. dagegen die Charakteristik der entsprechenden konservativen Methoden durch Neumann III, 94 (Polit. Korresp. Jan. 1859). ') Duncker VIII, 82: „daß das persönliche Verhältnis des Herrschers zum Lande für Preußen seine besondere Wirklichkeit hat, daß dasselbe bei uns lebenskräftiger und frischer als in anderen Staaten besteht, das bedarf keiner Ausführung, das lehrt jeder Blick auf die Geschichte unseres Staates." *) An den „Göttinger Verein" in Leipzig, mitgeteilt Pr. Jb. VIII, 403 ff. ') Dahlmann selbst vermochte im Alter von dem abstrakten Gegensatz von Fürst und Volk nicht mehr loszukommen. Er konnte sich eine würdige Auffassung des Königtums nach einem charakteristischen Terminus nur „in zarten Linien" (an Haym 3. II. 60), in „zarten Grenzen" (Pauli, Dahlmann VII, 196) denken. In seiner Zeit suchte er sie ver-

215 mal wird die Monarchie persönlich in den Jahrbüchern zum Gegenstande der Betrachtung: der schöne Nachruf Hayms auf Friedrich Wilhelm IV. 1 ), in dem er lieber fragen möchte, was der Staat dem Dahingegangenen, statt was der Dahingegangene dem Staate war, läßt erkennen, wie frei und nah zugleich das Verhältnis zur Krone in diesem Lager aufgefaßt wurde. Damit ging bei Duncker ein sehr realer Blick für das Machtverhältnis der Kräfte im preußischen Staatswesen zusammen. Er betrachtet ebenso wie Neumann die Einleitung der Neuen Ära als das freie Werk des Regenten 2 ). Keine Partei in Preußen sei imstande, der Regierung eine Politik aufzuzwingen, die dieselbe nicht machen wolle 3 ). Man hüte sich, sie zu zwingen, „auf die unerschöpften Ressourcen ihrer Macht zurückzugreifen!" 4 ) Einer mit Heer, Beamtentum und Grundbesitz verbundenen Krone gegenüber hätten auch die vereinigten liberalen und demokratischen Parteien kein Mittel in der Hand, sich durchzusetzen5). Nicht eher könnten diese von jener den Bruch mit den Interessen des platten Landes verlangen, als bis sie sich selbst zu einer entsprechenden Stütze der Krone gemacht hätten 6 ). Hier ist das gebens: „Die Herrschaften sitzen, fürchte ich, wieder auf hohen Pferden, und es kommt ihnen wenig in den Sinn, daß es sich möglicherweise bald in Deutschland von einer Rettung- der monarchischen Verfassung handeln könnte" (an Haym, 3. II. 60). — Treitschkes scharfe Äußerungen über die deutschen Höfe entspringen keiner antimonarchischen oder auch nur bedingt monarchischen, sondern seiner unitarischen Auffassung. *) Bd. VII, H. 1. 2 ) „Es war der freieste Wille der Krone, welcher dieses Ministerium ans Ruder berief, nicht die Macht des Landes, welche dasselbe ans Ruder brachte" (VIII, 86). s ) VIII, 88. — Dagegen die in der Höhezeit des Konfliktes April 1 8 6 3 aufgenommenen doktrinären Auslassungen Reinhold Schmids: „Ein weiser Regent wird . . . die öffentliche Meinung nie außer Acht lassen, selbst da nicht, wo sie ihm im Irrtum befangen scheint. Er muß den Zwang, dem er hierdurch unterworfen wird, als eine Fügung des Schicksals hinnehmen" (XI, 385). ) VI, 376. ) VI, 386. ' ) VI, 385. ') Im „Wilhelm von Humboldt" (S. 51) zwar setzte Haym dieses Zurückgehen auf die menschliche Innerlichkeit dem „transzendentalen" Zug der Kantischen Erkenntniskritik gleich. Hier wie dort nahm sich ihm gegenüber dem Empirischen als dem Äußeren, Gegenständlichen das Transzendentale als das Innermenschliche, Subjektive zusammen. S o glaubte er auch im „Hegel" (S. 13 f.) Kants Kritik der reinen Vernunft durch eine Kritik der „Zeitvernunft" in dem oben entwickelten Sinne fortbilden zu können. Der Sinn für das eigentlich Transzendentale war ihm und seinem Geschlecht abhanden gekommen. Damals zeigte es Kuno Fischer an Kant wieder von neuem auf. s

' ) „Vielleicht am meisten der Historiker bedarf des Talents, das

230 philosophie ein entscheidender Begriff. An ihr erprobt er seine ganze Art zu sehen, sein plastisches Gefühl. In ihr hält er das Lebendige fest. Daß sich die Menschen des Geschichtsschreibers „aus ihrem eigenen Ich mit plastischer Wahrheit, mit dramatischer Lebendigkeit herausbewegen", fordert er 1 ). Überall hin verfolgt er diesen Begriff. In Macaulays Aufsatz „On history" trifft er auf die prinzipielle S c h e i d u n g zweier im Historiker notwendiger Elemente, die des Dichters und des Philosophen: für ihn, den Biographen Humboldts, macht gerade ihre Einh e i t die Aufgabe des Historikers aus 2 ). So ist ihm die Idee „das innerste Wesen" des Gegenstandes, der nur zugleich mit den „ihn beherrschenden und durchwaltenden Ideen" 3 ) dargestellt werden kann, das „Licht" über „der tatsächlichen Instanz" 1 ), das Ganze, das vor dem Einzelnen da war. Solche Ganzheiten sucht Haym mit Vorliebe zu vergegenwärtigen: das Zeitalter der Reformation, in dem das Einzelne nur ein Verhältnis zum Ganzen, zu einer durchgehenden Bewegung gehabt habe und nur aus ihm zu verstehen sei 5 ), oder „den stillen Gang eines sich in innerlichen Erlebnissen und Taten des Geistes vollziehenden Lebens", an dem „der eigenste Begriff alles Lebens", der Begriff der Entwicklung, sich verdeutliche6). So kam Haym zu der ihm eigentümlichen Leistung. Man kann sie als die Durchführung einer weder philologischen noch philosophischen Methode gegenüber den Objekten der Geistesgeschichte bezeichnen, als den Versuch, auch in ihnen, die stärker als die Objekte der Staatengeschichte zu absoluter BeEinzelne in dem Allgemeinen, die Idee als Gestalt, und in Gestalten und Tatsachen die Idee zu sehen" (I, 490). ') XI, 488. ! ) Verg-1. auch seine Bemerkungen über die „Gestaltlosigkeit" des Wiener Kongresses und die Geschichtsschreibung (XI, 467). ') VI, 384 f. 4 ) VI, 373. °) I, 493 (gegen den „Hutten" D. F. Strauß). *) XI, 489 (gegen die Biographie Varnhagens).

231 trachtung einladen, das Werden, den Zusammenhang mit der Bewegung sowohl der innermensdilichen wie der außerweltlichen Totalität zum Mittelpunkt der Forschung zu machen. Sein Aufsatz über Schiller 1 ) bleibt einzigartig durch diese Auffassung. Wie weicht er doch von den in den großen philologischen Darstellungen der Schererschen Schule üblichen Interpretationen ab, wenn er die These aufstellt, „nur scheinbar setze sich in den schriftstellerischen Werken

die zwiefache

Bewegung

des all-

gemeinen und individuellen Geistes zu einem festen Niederschlag ab. Diese Werke nach rückwärts und vorwärts, nach ihrer Entstehung und ihren Wirkungen flüssig zu machen, sei die eigentliche* Aufgabe der Geschichtsforschung" 2 ). So hat er die Hegeische Philosophie verstehen und sie mit einem dem gewaltigen

Gegenstande

ebenbürtigen Vergleiche

„in

einem

Grabmal beisetzen wollen, das größer und unvergänglicher sei als jedes System: in dem großen Bau der ewigen Geschichte". Das objektiv Ideelle zu einem rein Historischen „herabzuholen" 3 ), darauf stand sein Sinn. Kuno Fischer achtete diese Methode gering 4 ). Die Wiedergabe der Tatsachen der Hegeischen Lebensgeschichte, der Gedankenreihen der Hegeischen Werke unterbricht er nirgends durch die Öffnung des historischen

Hori-

zontes. Haym hat, als Strauß am „Hutten" die gleiche Methode anwandte, sie zwar in ihrer Akribie, in ihrem Geschmack anerkannt, er hat die „Sinnigkeit" ctes Verfahrens bemerkt, den Zeitumriß dadurch anzudeuten, daß man „die Einzelfigur des Helden mit den Einzelfiguren fast aller seiner Freunde umgebe", aber er hat demgegenüber nachdrücklich den entschiedenen Vorteil des eigentlichen

Historikers

vor

dem bloßen

') Bd. IV, H. 5, 6. ' ) Einleitung1 zu der „Romantischen Schule", 3. A. S. 9. 3 ) „Hegel und seine Zeit", S . 8 f. *) Freilich geht Haym in der Reaktion gegen die unhistorischen Darstellungen der Hege Ischen Schule oft sehr weit; er unterschätzt die Kraft rein gedanklicher Fortbildungen. S o interpretiert er offenbar zu viel spezifisch schwäbischen Gehalt in die Hegeische Philosophie hinein. — Kritik Hayms an Fischer: „Erinnerungen", S . 212.

232 Biographen geltend gemacht, ihm „einen etwas größeren und reineren Zug", den wahren „Ernst der Wirkung" gewünscht1). So wandte sich Haym gegen diese aus der Hegeischen Schule erwachsenen Darstellungen. Überhaupt genügte ihm die Biographie im engeren Sinne nicht. Wie das Zeitalter der Reformation nach seinem Urteil nicht auf die Persönlichkeit Huttens, so ließ sich die englische Geschichte seit 1688 nicht auf die Persönlichkeit Wilhelms von Oranien abziehen; er tadelte an Macaulays Werk die bloß empirische, biographische Einheit, auf die es begründet sei 2 ). Er fand es dem Geiste eines Varnhagen gemäß, „Vergangenheit und Gegenwart mit biographischem Auge zu sehen" 3 ). Die Geschichte selbst, das Geschehen, ist das Element, nach dem Haym verlangt; „die Form der Geschichte" aufzuzeigen, ist überall sein Bestreben. Ja, in der Erfühlung des geschichtlichen Stromes wirkt ihm eine religiöse Kraft. Durch die Auflösung des Objektiv-Ideellen vermenschlichen sich ihm die Dinge. So sah er auch „die größte ideell-dogmatische Erscheinung" an, der er als junger Student von Haus aus zugeführt wurde, das Christentum. Auch an ihr gelüstete es ihn, eine Kritik der historischen Vernunft zu vollziehen, wie er sie der Hegeischen Philosophie gewidmet hatte. „Stellen wir uns vor, wie dann so viele Sterne des Glaubens auf die Erde herabfallen müßten und wie der ganze Bau der Dogmatik zusammenbrechen müßte, um eine viel ergreifendere menschliche ') I, 493. Strauß selbst lieferte in den Jahrbüchern ein Beispiel des „gefälligen Genres": eine Behandlung Ludwig Timotheus Spittlers (Bd. I, H. 2). — Auch an Hettners „Geschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert" vermißt Haym den wahrhaft historischen Zug, sucht er nach einer „höheren Form für die Geschichte des geistigen Lebens einer Nation"; vergl. die Anzeige X, 90 ff. 2 ) VI, 389. ' ' ) XI, 481. — Zur Ergänzung seiner Auffassung von der Form der Biographie vergk auch seine Bemerkungen zu Diltheys „Schleiermacher" (1870; in den ges. Aufsätzen). Er rühmte die wahre historische Einstellung an Dilthey; dagegen schienen ihm dessen philosophische Fragestellungen nicht voll aus dem biographischen Rahmen hervorzugehen.

233 Geschichte, einen Weltvorgang scheinen zu lassen, werdung

Gottes

wogegen

allen

Glanz

und einen Gemütsprozeß die und

Methaphysik

er-

der

Mensch-

alle Bedeutung

verlieren

müßte 1 )!" Zu groß dünkte es ihn für seine Kraft. Diese Ergriffenheit Hayms vor der Geschichte, dies heraklitische Durchdrungensein von dem Begriff des Werdens ist eine der wenigen Quellen, die das liberale Denken dieses Kreises mit wirklich religiöser Kraft speisen. Wir werden sehen, wie das Geschichtliche auch bei Haym stark ins Ethische zurückgebogen wird; dennoch hat er es auch in unmittelbarer Tiefe empfunden und sich persönlich aus dem idealistischen System an einer Stelle frei gemacht. Jenes wollte alles Menschliche verfestigen zu absoluten Normen. Er aber konnte bekennen: greifendes Gefühl

„Es ist ein er-

alles Menschliche in sich rege zu machen,

um den Pulsschlag des ewig Lebendigen und den Wechselzug des eigenen und des Weltgeistes . . . . zu spüren 2 )". So reizte es ihn, die Form der Geschichte immer wieder an sich selbst zu erfahren, „zart und behutsam" Selbsterlebtes darzustellen. Doch auch der objektiven Geschichtsschreibung sicherte sich daraus ein bleibender, großer Gewinn: die Einsicht in den eigentlich geschichtlichen Zug der Kultur. Rankes Realismus hatte ihn mit geheimnisvoller Selbstverständlichkeit, als eine Gabe des Genius, nicht als ein Erlebnis des Kämpfers, den Dingen aufgeprägt. Haym prägte^ihn stürmischer, bewußter, aus der Not der Zeit auf; er zeigte ihn immer nur an einzelnen Gegenständen, zu denen er selbst ein unmittelbares Verhältnis gewinnen konnte; dem Universum gegenüber floß ihm die Gabe nicht einfach, nicht gelassen genug. Doch gerade in der persönlich belebten, stofflich beschränkten Art seiner Historie fesselt seine charakteristische Leistung. Man kann nicht sagen, daß er eine rechte Nachfolge in der ' ) „Hegel und seine Zeit", S . 9 f. Noch in seinen Erinnerungen knüpfte er an sein Hegelbuch die Bemerkung: „Die gesamte Geschichte der Philosophie möchte von diesem Gesichtspunkt aus in einer neuen Weise behandelt werden" (S. 255). l ) Hegel, S . 11.

234 Wissenschaftsgeschichte

gefunden habe. Jene philologische, an

Sonderdisziplinen gebundene Auffassung trat vielmehr beherrschend hervor. Welche Traditionen hat ihr gegenüber Haym vertreten? Welche Grenzen lagen auch in seinem Geschichtsbegriff? Wir führten an, wie er selbst für seine Geschichtsauffassung auf Wilhelm von Humboldt zurückweist. Ja, über Humboldt hinaus griff er zu Kant. Von Humboldt übernahm er die Idee als den Wesenskern der historischen Dinge. Und er übernahm von der empirischen Wissenschaft, von der der Versuchung des falschen Idealisierens am wenigsten ausgesetzten philologischen Richtung, zu der ihn vor allem Gesenius in Halle hingeleitet hatte, und später auch von der Geschichtsschreibung Macaulays den Sinn für die exakte Erforschung geschichtlicher Wirklichkeiten. Daß aber das eigentliche Leben, der Schwung seiner Historie trotz seiner eigenen inneren Auflehnung von Hegel kam, wer wollte das verkennen? Der Zug des Werdens, der sich aufhebt und wieder zusammennimmt, das Geschehen, das er, wenn er es auch nicht einer allgemeinen Idee, einem logisdien Fortschritt unterwirft, so doch nicht in der epischen Bewegung eines undialektischen Geistes, sondern ganz in jener

„dramatischen" 1 )

sucht, die sich in der Phänomenologie ausspricht, sind Stücke von Hegel, die er zu besonderer Fruchtbarkeit bringt. Die universale Einwirkung Hegels zeigt sich in dieser Entwicklung der Historie besonders deutlich: als Wiederaufnehmer eines großen metaphysischen Prinzips, als Bringer der Idee des Werdens ragt er über die geistige Entwicklung des 19. Jahrhunderts. Historiker wurden seine vornehmsten Diener; sie dankten ihm den Lebensbegriff ihrer Wissenschaft. Es charakterisiert die Wirkung des absoluten neben der des historischen Denkers, daß es in der Mitte des Jahrhunderts fast stärker die Schüler Hegels als die Rankes waren, die das gesamte Kulturleben in e i n e r geschichtlichen Bewegung zu erfassen vermochten: so Haym; so war auch Droysens Art. Und so die des vielleicht bedeutendsten Fortbilders der Hegeischen Richtung in die Historie, Baurs. *) VI, 374 (Gegensatz zu Macaulay).

235 Zeller, selbst Hegelianer, hat die Geschichtsschreibung Baurs in den Jahrbüchern' eingehend kritisiert 1 ). Freilich, es gibt ein Problem, das in dieser Geschichtsbehandlung nicht gelöst erscheint. Die jeweils unternommene Herausarbeitung der Idee aus dem einzelnen geschichtlichen Stoffe kann höchstens zu einer Individualgeschichte führen; sie erlaubt nur eine monographische Behandlung. Eine Monographie großen Stiles ist doch auch die Kirchengeschichte Baurs. Der e i n e Geist, der überall hindurchgeht, auf den alles bezogen wird, der die Einheit des Gegenstandes bildet, ist dort eben der besondere christliche Geist. Wie aber ist von diesem Standpunkte aus Universalgeschichte möglich? Läßt sich auch das Ganze individualisieren, d. h. mit Maßstäben, die das eine Individuum gegen das andere absetzen, umgrenzen? Wir stoßen hiermit an die Grenzen gerade auch der Auffassung Hayms. Es ist kein Zufall, daß er die Idee, die Gesamtgeschichte der Philosophie nach der Art seiner Analyse der Hegeischen Philosophie neu zu behandeln, nicht durchzuführen unternommen hat 2 ). Vielmehr, die Menschenzeichnung, ein Stück Individualgeschichte, blieb sein eigentlicher Vorwurf. Den Zusammenhang kulturgeschichtlicher und individueller Entwicklung zu ermitteln, war das besondere Problem, dem er damals in den Essays für die Jahrbücher nachging. Darin glaubte er charakteristischerweise die Verknüpfung von Philosophie und Geschichte überhaupt zu haben 3 ). Die universale Entwicklung ') „Ferdinand Christian Baur" (Bd. VII, H. 6. Bd. VIII, H. 3. 4). „Die philosophische Betrachtung der Geschichte ist hier mit dem geschichtlichen Empirismus am vollständigsten verschmolzen; sie tritt der Gesdiichtserzählnng nicht äußerlich gegenüber, sondern durchdringt sie von innen als der das Ganze erfüllende Geist, der organische Zusammenhang der Tatsachen tritt ungesucht an ihnen selbst hervor, und der Leser hat nie zu befürchten, daß das geschichtliche Verfahren deshalb weniger streng sein möchte, weil die Philosophie dem Geschichtsschreiber für den inneren Zusammenhang der Erscheinungen das Auge geöffnet hat" (VIII, 312). *) Sein Artikel „Philosophie" in der Ersch-Gruberschen Enzyklopädie kann nicht als ein solcher Versuch gelten. 3 ) „Erinnerungen", S. 280.

236 griff sich ihm immer zu individuellen Gestaltungen zusammen, denen er ihr Verhältnis zu den absoluten Mächten abfragte. Zu der Moral vor allem: in diesem Verhältnis wurden sie ihm erst lebendig. Hier war Haym mit Treitschke ganz konform. Bei beiden waltet ein Moment vor, das auf den universalgeschichtlichen Zusammenhang beschränkend einwirkt. Sie faßten die Totalität nicht nur von der geschichtlichen, sondern zugleich auch von der sittlich-vernünftigen Seite. Der Begriff einer dualistischen Kultur. Die Überwindung auch dieser Schranke glauben wir zu erkennen, wenn sich nun in den Jahrbüchern neben der Erdmannsdörfferschen und der Haymschen Geschichtsbetrachtung eine dritte von prinzipieller Bedeutung erhebt, diejenige Diltheys 1 ). Er verbindet die Gelassenheit des kontemplativen mit dem Formsinn des konstruktiven Historikers. Er gewinnt nicht, wie Haym, den lebendigen Charakter erst aus seiner moralischen Grijndbeziehung, und er löst nicht, wie Erdmannsdörffer, das Geschehen selbst mosaikgleich in verschiedene Kulturreihen auf: er denkt nicht analytisch, indem er das Gegebene in einzelne Fachgebiete zerlegt, sondern mit Haym synthetisch, konstruktiv, indem er die Form des Geschehens überhaupt zu seinem Augenmerk macht. So umreißt sich die Stellung Diltheys in der Entwicklung des deutschen Geschichtssinnes: er erscheint, um im Kreise der Jahrbücher zu bleiben, als der Verbinder Hayms und Erdmannsdörffers, und als der Antipode Treitschkes, der eben die Seiten ') Vertreten in seinem großen Aufsatz: „Friedrich Christoph Schlosser" (IX; 373-433). Derselbe griff in die nach Schlossers Ableben hervortretende Kontroverse über seine Bedeutung als Historiker, die namentlich Gervinus („Von Schlosser und mir selber", 1860) und Loebell in anonymen Briefen (1862) ausfochten, ein. Scharf wendet sich Dilthey gegen letztere (IX, 375), doch auch Gervinus' „meisterhaftem Nekrolog" gegenüber rückt er auf einen eigenen Standpunkt; er sucht vor allem, Schlossers Geschichtsschreibung nicht nur aus- dessen Charakter, sondern erst recht aus der geistesgeschichtlichen Situation zu verstehen Aind nimmt die Jahrbücher so für eine Mittelstellung in dem literarischen Streit in Anspruch (an Haym 27. III. 62).

237 an jenen beiden, die Dilthey abstieß, zusammenfaßte: das analytische Sehen und die absolute Kritik. Freilich, so tritt der Dilthey von 1860/1862 1 ) noch nicht auf; der spätere Forscher meldet sich erst an. Für die Synthese, zu der er sich fortbildete, liegen bei dem Biographen Schlossers zwar schon die Keime kräftig vor, aber die Gesamthaltung ist noch mit mancherlei anderen Absichten verwoben. Es ist auch kein Zufall, daß er eben an Schlosser eine größere Darstellung des historisch angelegten Menschen versucht: mit den Elementen aus der vorangegangenen Epoche, mit/Kant vor allem, der, wie er nachweist, hinter Schlosser steht, setzt er sich noch selbst auseinander. So ist es noch nicht ein entwickelter Denker, wie Haym, mit dem wir es für die Erörterung dieses Geschichtsstandpunktes zu tun haben; und auch von Treitschke und Erdmannsdörffer trennt den Altersgenossen die Art der inneren Bewegtheit: während von jenen der eine in stürmischer Bejahung der Zeit, der andere in leiser Abwendung von ihr sich ganz festzuhalten vermag, ringt Dilthey heftig mit den Zeitinhalten und sich selbst, wird er sich immer selbst zum Problem; bald sucht er sich kritisch zu überwinden, bald historisch zu begreifen, seine innerste geistige Richtung in ihrer geschichtlichen Voraussetzung zu erkennen; er pointiert und übertreibt die Gegensätze, auf die er seine Deutungen aufbaut, er fragt dem Stoffe ab, was ihn selbst aufregt 2 ). Er trägt eine Füllle von ') Dilthey versprach Haym den Schlosser-Aufsatz schon für den Dezember 1860 (an Haym 31. X. 60). An) 10. Jan. 62 schrieb er ihm: „hätte ich ahnen können, welche Arbeit ich mit dem Schlosser übernahm! Denn wenn man hier ca. 20 Bänden gegenüber erst anfängt, gewissenhaft zu werden, ist kein Ende abzusehen." So konnte die Arbeit erst im März 1862 erscheinen. 2 ) Einen Einblick in seine Arbeit gibt sein Brief an Haym vom 30. Okt. 60. „Mit warmem Kopfe über Gervinus ,Von Schlosser und mir selber' liegend", schreibt er; „Gervinus' Broschüre ist sehr schön; die Einseitigkeit seiner Auffassung würde aber doch in den Jahrbüchern nicht am Platze sein; Schlosser ist schon so lange gestorben, daß man nun, da er es wirklich ist, wohl seine Geistesart gelassen und gemütlich, sein Leben und seine Persönlichkeit womöglich mit einiger Heiterkeit darstellen darf, wenn man so wie ich von seinem Werte überzeugt ist."

238 Gesichtspunkten an ihn heran, die,das biographische Bild verzerren: der Schlosser-Aufsatz ist äußerlich ein Monstrufii an Formlosigkeit 1 ). W a s abzuklären dem reifen Manne so selten gelang, der schwere, zerrissene Gang seiner Gedanken, umständliche

Wucht

seines

die an Hegel

Ausdrucks

macht

sich

gemahnende in

diesem

Frühwerke ganz naturalistisch geltend; es ist der große Denker, der sich in den Jahrbüchern ankündigt 2 ). Dilthey

knüpft an den Dualismus an, den

schichtsschreibung

Schlossers

schen 3 ). Er

ihn von

führt

wahrnimmt:

den

er in der

Ge-

ethisch - histori-

Schlosser auf Kant zurück,

dessen

„Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht", ungenannt, den gedankengeschichtlichen

Ausgangspunkt

bildet,

von dem aus Dilthey das Schlossersche Denken würdigt 4 ). Indem

1 ) Haym hat diese Methode des Symphilosophierens noch in Diltheys „Schleiermacher" erkannt und mit ihrer Charakterisierung' die Grenze, die zwischen den Geschichtsbetrachtungen der beiden innerlich vielfach verwandten, von der Philosophie ausgehenden Historiker läuft, fein bezeichnet: „Hat er sich wirklich für sich schon zu einem reifen und festen Urteil hindurchgearbeitet? . . . Ging es ihm etwa dann und wann, wie er so treffend einmal von Fr. Schlegel sagt, daß er die einzelne Untersuchung nicht rein zu führen und abzuschließen imstande ist, weil gleichzeitig seine ganze Ideenmasse in Bewegung i s t ? " (Ges. Aufs. S. 362). 2 ) Der große Reiz, die Melodie in den unaufhörlichen Problemstellungen des Aufsatzes liegt in der Diltheyschen Selbstkritik und Autobiographie, die in der Charakteristik Schlossers verhalten ist: „Nichts ist charakteristischer für seine Form —• oder wenn man lieber will — Unform, als daß in ihr alle Kräfte einer reichen Subjektivität in ordnungslos sich drängender Tätigkeit erscheinen, daß hier ihr Spiel nicht verdeckt wird und nur in dem einfachen und festen Resultat allein heraustritt, sondern daß wir in die Werkstätte seines historischen Geistes selber hineinschauen. Nicht die Tatsachen sehen wir unmittetbar; wir sehen vielmehr diesen kräftigen Kopf arbeiten mit den Tatsachen!" (IX, 414). a)

IX, 411. An anderer Stelle („Schleiermachers politische Wirksamkeit" X, 242) betont er ausdrücklich, daß es ihm in dem Schlosser-Aufsatz um den Nachweis der Einwirkung Kants und „der Philosophie des Willens, des auf das eigene Ethos gestellten Subjekts" auf das deutsche Geistesleben zu tun gewesen sei. 4)

239 er auf diesen Dualismus greift, bemächtigt er sich eines Zentralproblems der Geschichtsauffassung, das ihn dazu leitet, selbst zur Geschichte als Totalität Stellung zu nehmen1). Er rühmt an Schlosser den Dualismus gegenüber den Aufklärern — die Unterscheidung „der inneren Größe von der Größe des Erfolges" 2 ), die Ausschaltung des Nützlichkeitsmaßes für die Kritik aller Erscheinungen. Indem er diesen Dualismus in seiner ganzen durch die Kantische Lehre bedingten Tiefe erfaßte, kam Dilthey dazu, an Schlosser noch mehr zu finden als „das Schelten.als Hauptobliegenheit des' Historikers" 3 ). Er fand „Strenge des moralischen Urteils" mit „der Freiheit des historischen Blicks" vereint 4 ). Das ist Diltheysche Auffassung, daß selbst die reine sittliche Deutung des Geschehens den historischen Blick befreien könnte; denn sie befreit von jener utilitaristischen Weltansicht, die die Geschichte zu einer Handlung von äußeren, sichtbaren Erfolgen vergröbert. Es ist diesem rationalistischen Monismus gegenüber die „scheinlose Macht des Geistes" 5 ), die er Schlosser als eine Welt für sich von dem lärmenden Mechanismus der Geschichte unterscheiden läßt. Schlosser hält die Welten auseinander: so wird er ihre Beziehung aufeinander nur auf das vorsichtigste aussprechen. Dilthey zeigt, wie er in der Tat den rein politischen Antrieben, so in der römischen Geschichte6), so in der Geschichte Friedrichs des Großen 1 ), ihren vollen Raum gelassen habe, wie er nun eben ') Es ist dasselbe Problem, auf das, von der Fragestellung der Rickertschen Geschichtslogik her, Lask in seinem Buche über „Fichtes Idealismus und die Geschichte" (2. A. 1914) reflektiert; Lask bezeichnet es eingangs als den von Kant eingeführten Unterschied „erklärender und wertbeurteilender" Methode. Bei Dilthey erscheint jedoch der Kantische Dualismus in einer von dieser aus der Rickertschen Wertlehre abgeleiteten Formulierung charakteristisch abweichenden Auffassung. s ) IX, 395. ' ) Below, „Die deutsche Geschichtsschreibung", S . 42. l ) IX, 395. ' ) IX, 412. 425. «) IX, 425. 429. ' ) IX, 426.

240 nicht darauf verfallen sei, politische Bewegungen in erster Linie aus sittlichen Motiven zu begreifen, sondern die Sittlichkeit nur als die Voraussetzung, als den letzten Grund für den Bestand und Untergang der Staaten erklärt habe; nur in diesem, heuristischen, Sinne habe er die Geschichte moralisiert1). Wiederum fesselt Dilthey dieser „scheinlose" und einfache Gedanke von tacitei scher Kraft. Auch er bekennt sich zu der Wahrheit, daß in Verfassungsformen noch keine Universalmedizin für das Gedeihen der Staaten enthalten sei 2 ): universal vielmehr ist ihm nur die Staatsauffassung, die, über das rein Politische hinaus, auch den sittlichen Bereich, wie er ihn begriff, mit umspannt. Und wie für den Politiker, so ist es für den Historiker geboten, diesen überpolitischen Faktor mitzuveranschlagen: so kommt Dilthey dazu, „Zeitalter einer strengen Sittlichkeit" anzuschauen 3 ). Man fühlt es seinem Temperament an, daß er damit durchaus in der Haltung der Kontemplation verharren wollte; — vielleicht deutet er diese zu sehr in das einseitigere Schlossersche Temperament hinein: er jedenfalls hatte bereits jene fruchtbare Verbindung von absoluter und historischer Kritik in sich hergestellt, ihm diente das Vordringen zu den absoluten Werten nicht mehr dazu, das Lebendige zu systematisieren, sondern in seiner Lebendigkeit, in den Wurzeln seiner Kraft, zu dauern, zu erfassen 4 ). ') „Er versichert sich immer wieder des Urteils, daß die Hebel der Geschichte in der elementaren Gewalt leidenschaftlicher Charaktere, liegen; er versichert sich zugleich immer wieder des ergänzenden Urteils, daß sich nichts Menschliches dem einfachen sittlichen Maßstab entziehen darf" (IX, 411). ') IX, 425. 3) Ebd. *) Auch Haym moralisierte zwar in diesem durchaus empirisch gerichteten Sinne, in dem Geiste einer „darstellenden Kritik", den er gelegentlich Ein A. W. Schlegel rühmte: „Sei es, daß sich der Kritiker bloß berichterstattend, sei es, daß er sich lobend oder tadelnd verhalte: Lob, Tadel, Berichterstattung schlägt ihm unmittelbar zur Charakteristik aus. Er kritisiert, indem er darstellt" (Romant. Sch. 3. A. S . 176). Nur daß bei Haym, wie wir sehen werden, zugleich eine bestimmtere, einseitigere Moral, an der er das Lebendige maß, gegeben war.

241 „Zeitalter einer strengen Sittlichkeit": damit faßte er schon früh einen Hauptgesichtspunkt seines Denkens in das Auge: den äußersten Gegensatz zu aller Metaphysik, als welche er auch die formale Ableitung, die erkenntniskritische Begründung absoluter Werte ansah: sie waren ihm bereits in seiner Schlosserschrift Formen der Geschichte, nicht zeitlose, sondern zeitbedingte Mächte. Und aus dieser geschichtlichen Auffassung der Sittlichkeit erklärt sich nun auch der eigentümliche Fortschritt Diltheys in seiner Kritik Schlossers: aus jenem h i s t o r i s c h - e t h i s c h e n Dualismus konnte er unmittelbar den p o l i t i s c h - k u l t u r e l l e n , der Schlosser ausgezeichnet habe, hervorgehen lassen. Die scheinlose Macht des Geistes, die Dilthey in der autonomen Sittlichkeit entgegentrat, wird ihm zum Inbegriff eines geistig-kulturellen Geschehens gegenüber dem politischen überhaupt. Mit dieser Kulturgeschichtsbetrachtung fand Dilthey Schlosser sowohl in Gegensatz zu der Aufklärung wie zu der Schule der politischen Geschichtsschreiber des 19. Jahrhunderts. Und Dilthey wahrt sich, „wie man auch jetzt, wo die Geschichte wieder vorherrschend politisch geworden sei, über diese Auffassung urteile", zum mindesten das Recht, die Schlossersche Art ganz aus ihr selbst zu begreifen. Ja, man erkennt in der Eindringlichkeit, mit der er sie analysiert und auf ihre Konsequenzen prüft 1 ), die Wahlverwandtschaft, in der er sich mit ihr fühlte. Er schreibt Schlosser „geradezu das größte Talent, das bis auf ihn je ein Historiker besaß", zu, „außerhalb der Logik der politischen Tatsachen, außerhalb einer rein nationalen Bildung lie unwägbaren Einflüsse moralischer und geistiger — catonischer und ciceronischer — Naturen auf das allgemeine Kulturleben zu verfolgen" 2 ). Wie erscheint nicht hier schon der Autor des „Natürlichen Systems der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert" und der anderen geistesgeschichtlichen Abhandlungen der neunziger Jahre! ') IX, 408-432. 2 ) IX, 429. * Westphal

16

242 Stoßen wir aber nicht hiermit wiederum auf jenen unhistorischen Zug, den wir an der Theorie Erdmannsdörffers wahrnahmen, das Reich der Geschichte in Spezialzweige zu zerlegen, Politik und Kultur zu trennen, nach eigenen literaturgeschichtlichen Maßstäben zu fragen? Schon die prinzipielle aus jenem historisch-ethischen Dualismus abgeleitete Grundlegung des Diltheyschen Kulturbegriffes führt uns dazu, diesen von jener Anschauung abweichend zu verstehen. Und Dilthey gibt ihm nun selbst in seiner Kritik Schlossers eine umfassende Auslegung. Die Kultur in jenem Sinne eines von allgemeinen geistigen Beziehungen —~ wie der von Schlosser vorangestellten Sittlichkeit — erfüllten Reiches ist für Dilthey der eigentliche Ausdruck

geschichtlicher Totalität.

„Unwägbare geistige

Kräfte"

gibt es, die, „unabhängig von den realen Machtverhältnissen' des einzelnen Staates, ihnen gegenüber den unzerstörbaren Zusammenhang der Kultur erhalten" 1 ). Er will die Literatur nicht als eine besondere Disziplin aufrichten, sondern rühmt gerade die Gabe Schlossers, „Kulturzustände mit literarischen Wirkungen in Verbindungen zu setzen", d i e Seite jeder Literatur, „von der sie der Kulturgeschichte des einzelnen Volkes angehört", hervorzuheben 2 ). Kulturgeschichte wird hier nicht eben als eine Idee vom I n h a l t , sondern von der F o r m , der Geschichte gefaßt: in ihr als Formbegriff liegt die totalisierende Seite, die Dilthey der Geschichte abgewann, sie hat nicht den Wandel „der realen Verhältnisse", sondern die stilleren Voraussetzungen des geschichtlichen Lebens, die allgemeinen Möglichkeiten des Geistes darzulegen 3 ). ') IX, 428. ) IX, 429. — IX, 417: „Man kann die Stärken der Schlosserschen Universalgeschichte nicht hoch genug anschlagen. Jede einzelne Erscheinung mafi sich hier an einem Geiste, der in Altertum, Mittelalter und Neuzeit, in politischer, Kirchen- und Literaturgeschichte, in Leben und Forschung gleich heimisch war." 3 ) Er verfolgte wohl diese Sphäre des geschichtlichen Geistes an Schlosser bis zur Idylle, bis zu Rousseauschen Anklängen: „Von den Wunden, welche der Menschheit Stolz, Üppigkeit und Barbarei ge2

243 Dieser kulturgeschichtlichen Ansicht entspricht bei Dilthey eine besondere M e t h o d e . Auch hier knüpft er an Schlosser an. Er sieht ihn im Gegensatz zu Ranke und zu Hegel. Weder die künstlerische poch die teleologische Geschichtsschreibung nimmt er bei ihm wahr. Vor allem gegen letztere, gegen die Hegels, wendet er sich: „Die Gruppierung einzelner Züge um eine Totalidee irgendeiner Zeit zu einem System, zerstört überall den Zusammenhang von Gründen und Erscheinungen, also das eigentliche geschichtliche Faktum, um das es sich handelt, und schiebt diesem einen fingierten und abstrakten Zusammenhang unter. Nicht entschieden genug kann ihan gegen das Vorurteil vieler Historiker protestieren, als ob dies Philosophie der Geschichte sei". 1 ) Aber auch „von der dialektischen Konstruktion der Momente, in denen die Geschichte verlaufe", die selbst auf einen so rein historischen Kopf wie Ranke zum künstlerischen Aufbau der Geschichte ermutigend eingewirkt habe, um durch sie „den starren Mechanismus der pragmatischen Geschichte zu durchgeistigen", wendet er sich mit Schlosser ab 2 ). Er steuert auf ein anderes Ziel: nicht um die dialektische, sondern um die vergleichende Geschichtsbetrachtung ist es ihm zu tun. Sie ist ihm die eigentliche Methode der Kulturgeschichtsschreibung. Er berichtet von Schlosser: „Jede geschichtliche Erschlagen, heilen sie arme, machtlose, in der Welt des Gemüts allein heimische und mächtige Menschen: arme Fischer und verfolgte Missionäre, Söhne von Hirten und Zimmerleuten, von Bildhauern und Bergmännern" (IX, 412). *) IX, 423. -) „Immer bewußter wendet sich Schlosser von jener bewunderungswürdigen dramatischen Kunst Rankescher Geschichtsschreibung ab, in welcher die geschichtlichen Kräfte in einer ruhelosen, stets vorwärtstreibenden Dialektik erscheinen" (IX, 422). Man vergleiche zu dem, was Dilthey meint, etwa das erste Buch von Rankes Französischer Geschichte oder das erste Kapitel der Geschichte der Epigonen Droysens, auf dessen dialektische Methode Dilthey besonders hinweist; auch Erdmannsdörffer, der Schüler Droysens und Freund Diltheys, übte noch eine solche in der Besprechung v. Burckhardts „Cultur der Renaissance", Pr. Jb. XI, 108 f.

16*

244 scheinung trat ihm in eine Linie mit den Kulturerscheinungen aller Zeiten; er maß sie mit jenen gemeinsam an der menschlichen Kultur" 1 ). Wie kein Historiker vor ihm habe er sich der A n a l o g i e

zu bedienen verstanden; seine „tiefsten Ge-

danken" ruhten hier, wo er sich der philosophischen Geschichte, d. h. der Aufsuchung historischer Gesetze nähere 2 ). Dilthey erhob sich in den Schlußsätzen seines Aufsatzes zu der Prophetie: „Vielleicht sinnt schon irgendwo der Mann über den Problemen der Geschichte, von dem Kants vorsichtig kühner Geist geweissagt hat, daß er die Geschichte, wie Kepler und Newton mit der Naturwissenschaft getan, allgemeinen Gesetzen unterwerfen werde" 3 ). So verstehen wir seinen Begriff der Kulturgeschichte. Sie ist das Beharrende im Wechsel der äußeren Ereignisse, das Kontinuierliche,

Vergleichbare,

Gesetzmäßige,

das Allgemein-

Menschliche. Offenbar kam es Dilthey darauf an, unter dem Begriff Kulturgeschichte die besondere Provinz abzustecken, die seinem Innern als ein Neuland vorschwebte, das zu erobern seine Forschung ausschreiten sollte. Es war ein neues Forschungsgebiet, dessen Bedeutung er bestimmen wollte, durchaus universell, historisch bewegt, aber als e i n e Seite aus einem dualistisch gesehenen Weltbild

herausgelöst. Schlosser hatte das

Weltbild einseitig aus dem moralisch-historischen Gegensatz verstanden. Für Dilthey war das Sittliche nur ein Teilausdruck des gesamten „scheinlosen" geistigen Reiches, dessen Bewegung er vielmehr mit den Romantikern „aus der Totalität der menschlichen Natur nachkonstruieren" wollte 4 ). Er tadelte an Schlossers Kulturbegriff „den abstrakten deistischen Gedanken einer von den Triebfedern des Geschehens selber abgesondert operierenden geschichtlichen Vorsehung" 5 ). Aber indem er so den einseitig moralisch-individualistischen Idealismus Schlossers verwirft, ') 2) 8) ich nicht die Muße, mich zur Lieferung größerer und regelmäßiger Arbeiten zu verpflichten

II. T h . S i c k e l an H a y m . Verehrter Herr und Freund.

26. 2. 62.

Ober die Gegenwart denke ich doch ganz anders als Sie, wenn ich auch für die Zukunft wohl mit Ihrem Programm

übereinstimme. Ich will, nur um

meinen Standpunkt zu rechtfertigen, Ihnen kurz sagen, worin der Unterschied unserer Meinungen und Anschauungen besteht. Sie glauben immer und immer noch, daß nur die Regierungen gegen das Berliner Programm ankämpfen und halten alle diese Regierungen, besonders die österreichische, für machtlos und abgewirtschaftet. Ich weiß — und nehmen Sie mir nicht übel, daß ich mich rühme, das vor Ihnen voraus zu haben — daß im ganzen Süden das Volk sich gegen Preußens voreilige und gerade jetzt nicht motivierte Ansprüche erhebt, daß die Regierungen an dieser Volksstimmung Mut und Kraft schöpfen und daß besonders die österreichische Regierung kaum in einer anderen Frage so ungeteilten Beifall findet wie in dieser, und daß, sobald hier Regierung und Völker Hand in Hand gehen, der Staat noch nichts weniger als bankerott ist. Verstehen Sie mich nur recht. Ich will ebenso entschieden als Sie eine größere Einigung Deutschlands und halte die preußische

Spitze

dabei für unvermeidlich und unausbleiblich. Aber wider den Willen des Volkes von Süddeutschland und Osterreich, welche jetzt noch dagegen sind, setzen Sie nichts durch. Insofern halte ich das jetzige Vorgehen nur für eitel, ja für schädlich und werde meiner Überzeugung nach dies überall geltend machen. Der Erfolg der nächsten Jahre wird — falls nicht besondere vorher nicht zu berechnende Ereignisse: Weltkrieg oder Revolution, eintreten — entscheiden, wer von uns beiden recht hat, jetzt darüber zu streiten ist überflüssig. Nun bitte ich Sie, hüten Sie sich, mich und andere, welche die gegenwärtige Lage

317 in gleicher Weise beurteilen, österreichischer oder doch antipreußischer Gesinnung zu beschuldigen. Zwischen mir und den Großdeutschen ist eine noch viel größere Kluft, als zwischen uns beiden: zwischen mir und jenen der Unterschied der Endziele, zwischen uns beiden doch nur der Unterschied der Auffassung der jetzigen Lage, und der sich aus ihr ergebenden Wahl der Mittel. Hier in den Augen der Offiziellen und Nichtoffiziellen bin ich stets der Preuße und habe gerade in den letzten Wochen viel auszustehen gehabt. Denn daraus mache ich hier keinen Hehl, daß ich ein das ganze Deutschland und Österreich umfassende Mittelreich für eine absolute Unmöglichkeit halte und daß meiner Meinung nach Süddeutschland die Habsburger Restaurationsgelüste in einem gewissen Augenblick noch entschiedener zurückweisen wird, als die preußische Hegemonie. Wie ich den Berlinern vor allem wünschte, daß sie zur Einsicht kommen, daß auf dem bisher eingeschlagenen Wege weder für Preußen noch für Deutschland Heil erblüht, so freue ich mich des Augenblicks, wo die hiesigen Ideologen ernüchtert werden werden: erst dann wird es an der Zeit sein, wirklich durchführbare Pläne aufzustellen.

III. A n t o n S p r i n g e r an H a y m . B o n n , 2. Januar [1860]. Bin ich auch kein offizieller Österreicher mehr, so fühle ich mich doch durch zu viele Interessen, auch durch mein langes Martertum mit meinem Geburtslande verbunden, als daß ich nicht in dieser letzten Stunde alles aufbieten möchte, um nach Kräften den Zusammensturz alles Bestehenden zu verhindern. Die Verzweiflung meiner Landsleute, die durch alle Stände sich durchziehende Resignation unterzugehen, machen einen Erfolg freilich kaum möglich . . . . Trotzdem soll nichts unversucht bleiben. Ein Resultat haben meine Aufmunterungen, Bitten und Ermahnungen doch schon herbeigeführt, daß die von Schwarzenberg 1850 zersprengte österreichische Unionspartei,

318 welche vor allem österreichische Politik treiben und die verschiedenen Nationalitäten durch einen politischen Kitt verbinden will, sich wieder rekonstituiert hat. Ob es uns damit gelingen wird, die Ungarn, welche 1 8 5 0 mürbe gemacht leicht zu behandeln waren, zu uns herüberzuziehen, ist freilich eine andere Frage. W i e ich mir den venetianischen Streit gelöst denke? . . . Den Krieg aufzuschieben, wenn nicht gänzlich zu verhindern, muß unsere Hauptaufgabe sein. Sitzt ein Reichstag in Wien, im Lauf der nächsten Wochen, gelingt es ihm, das Regierungsheft soweit in die Hände zu bekommen, daß verläßliche liberale Männer die Hauptministerien

und die wichtigsten

diplomati-

schen Posten besetzt halten, dann ist viel gewonnen Venedig selbst muß natürlich zum Opfer gebracht werden. In Österreich wird jederman im Herzen froh sein, dieses fremde Glied vom Staatskörper abgeschnitten zu wissen

Wir

denken im Stillen an eine Abdikation des Kaisers zugunsten seines Bruders, der den hier ausgesprochenen Absichten nicht feind ist. Nach Kräften müßten wir freilich bemüht sein, uns gegen Tirol wie gegen Friaul die Vorteile festester Grenze zu sichern.

Daß

die

Italiener

nach Tirol und

Dalmatien

ihre

lüsternen Blicke werfen, verhehle ich mir nicht. Aber ich denke, etwas anderes ist es mit Venedig, das historisch und national von Italien nicht getrennt werden kann, etwas anderes mit den limitrophen Ländern, wo nicht das italienische Volk, sondern nur eine italienische Partei inmitten einer deutschen, germanisierten oder slawischen Bevölkerung existiert, deren Macht gebrochen wird, wenn in Österreich ein liberales Regiment sich behauptet

Mit Österreich, wie es jetzt besteht, ist ab-

solut nichts anzufangen, am wenigsten

eine

Bundesgenossen-

schaft. Daher mein einziger Ruf nach einem Reichstage, der uns ein anderes Österreich schafft

Anlage IV. W i r geben im folgenden eine Liste derjenigen Artikel, die in dem Register zu den ersten 2 5 Bänden ( 1 8 7 2 ) ohne Nennung des Autors angeführt sind, soweit es uns möglich war, die Namen zu belegen. Die kleineren Beiträge (Notizen, Broschürenbesprechungen) lassen wir, soweit Haym als Autor, meist infolge seines ungemein charakteristischen Stiles, zu erkennen war, gesondert folgen. Band I. Heft 2. „Das Fest des 8. Februar" — M. Veit und Haym (Haym an Reimer 13. u. 16. II. u. 26. VI. 58). Heft 2. „Thiers und die Kaiserzeit" — Th. Mommsen (H. an R. 27. II. 58). Heft 3. „Das französische Sicherheitsgesetz" — Jolly (H. an R. 12. III. 58). Heft 6. „Die Österreicher in Italien und die italienische Politik Rußlands" — Reuchlin (Register), von Haym „total umgearbeitet" (H. an R. 29. V. 58). Band II. Heft 4. „Die Regentschaft in Preußen" — Aegidi (H. an R. 30. X. 58). Heft 5. „Der filte und der neue preußische Landtag" — Lette und Haym (H. an R. 30. X. 58). Heft 6—Band VI, Heft 5. „Politische Correspondenzen" — K. Neumann (Haym, Erinnerungen, S . 278, N. an H. 6., 26., 28. XII. 60). Band III. Heft 3. „Leibeigenschaft und Freilassung der Bauern in Rußland" — Bernhardi (Verm. Sehr. Bd. I). Heft 4—6. „Aus Süddeutschland" — Baumgarten (Mareks a. a. O. CXXXVI).

320 Band IV. Heft 1—Band VII, H. 2. „Aus Österreich" — Springer (Spr. a n ' H .

2. I. 60).

Heft 2—6. „Frankreich, Österreich und der Krieg' in Italien" — Bernhardi (Verm. Sehr. Bd. II). Heft 3. „Die neuere Geschichte Italiens" — Baumgarten (Mareks a. a. O. CXXXVI). Band V. Heft 2 und 3. „Aus Italien" — Erdmannsdörffer (E. an H. 11. I. 60). Band VI. Heft 2. „Aus Italien"

-

Peverelli (P. an H. 30. VIII. 60). Band VII.

Heft 1. „Die Situation beim Regierungswechsel" — Bemhardi ( ? s . S . 148). Heft 2. „Die Situation in Italien und an der Eider" — Bernhardi (Tgb. IV, 95 f.). Heft 3. „Politische Korrespondenz" — G . Beseler (H. an R. 17. III. 61) Heft 3. „Die französiche Revolution und die historische Forschung" - Bernhardi (Verm. Sehr. Bd. II). Heft 4—Bd. IX, ft. 3. „Politische Korrespondenzen" — Duncker (Haym, Leben Dunckers, S . 238). Heft 5. „Die europäische Weltlage" — Bernhardi (H. an R. 10. V. 61, Tgb. IV, 124). Heft 6. „Zwei süddeutsche Korrespondenzen" — Treitschke (Hist. und pol. ,Aufs. Bd. IV) und Baumgarten (Mareks a. a. O. CXXXVI). Band VIII. Heft 1. „Glossen und Enthüllungen zur Tagesgeschichte"—Bernhardi (nach Stil und Inhalt). Heft 3. „Die Legislaturperiode des Hauses der Abgeordneten 1859 bis 1861" — Veit (H. an R. 29. IX. 61). Heft 5. „Aus Süddeutschland" — Treitschke (Hist. u. pol. Aufs. Bd. IV). Band IX. Heft 1. „Die ¡Bneren Verhältnisse Rußlands" - Bemhardi (B. an H. 8. VII. 62). Heft 4. „Politische Korrespondenz" — Haym (H. an R. 23. IV. 62). Heft 5. „Politische Korrespondenz" — Haym (H. an R. 1. VII. 62). „Aus Süddeutschland" — Baumgarten (Handschriftlich im Reimerschen Archiv> Mareks, a. a. O. CXXXVI). Heft 6. „Politische Korrespondenz" — Wehrenpfennig (H. an R. I. VII. 62).

321 Band X. Heft 1. „Politische Korrespondenz" — Haym (H. an R. 2. VII. 62). Heft 2. „Politische Korrespondenz" — Fubel? (H. an R. 28. VIII. 62). Heft 3—Band XII, H. 6. „Politische Korrespondenzen" — Wehrenpfennig (Briefe H's. an R. und W's. an H., vergi. S. 174 f. Anm.).

K l e i n e r e B e i t r ä g e von H a y m (nach stilistischen Merkmalen). Band I, 94 f. Band I, 319 ff. Band I, 323 f. Band I, 431 f. Band Band Band Band Band Band Band Band Band Band Band Band Band Band Band Band

I, 548 ff. I, 619 f. I, 692 ff. II, 105 II, 232 ff. II, 238 ff. II, 240 ff. II, 351 ff. II, 481 f. II, 595 ff. II, 711 ff. III, 365 ff. III, 372 ff. III, 374 ff. III, 492 f. III, 493 f.

Ober den Bericht des Vereins für deutsche Kulturgeschichte. Ein Urteil über, Friedrich Creuzer. Eine deutsche Revue in Frankreich (Dollfus et Nefftzer, Revue germanique). Kritische Monatshefte zur Förderung der Wahrheit bei literarischen Besprechungen. Duncker, Feudalität und Aristokratie. Graf Schwerin an seine Wähler. Ein Wort mit der Neuen Preußischen Zeitung. Sybels historische Zeitschrift. „Noch einmal die Politik der Zukunft". „Zu den Wahlen in Preußen". Böckhs Universitätsreden. „Die Regentschaftsfrage und die Presse". Hirzeis Staatengeschichte. Die Sprache des Quickborn. „Ein Beitrag zur deutschen Einheit". „Preußen und die italienische Frage". Dissidentische Denkschrift von Uhlich. Baumgarten, „Deutschland und die italienische Frage". „Preußen und die italienische Frage. An H. v. Arnim". „Po und Rhein".

Band III, 494 ff. W. Beseler, „Die Verfassungsfrage und die schleswigholsteinische Ständeversammlung". Band III, 500 f. Braters Bayrische Wochenschrift. Band III, 501 ff. Preßprozeß der Kölnischen Zeitung. Band IV, 106 ff. „Wilhelm Beseler" („Das deutsche Interesse in der italienischen Frage"). Band IV, 111 ff. „Preußen und der Friede von Villafranca" (Aegidi). Band IV, 222 ff. „Preußen, der Bund und der Friede. Von einem Nichtgothaner". Band IV, 224 Westphal

„Was hat Preußen gesagt

getan?" 21

322 Band IV, 225 ff. „Nach dem Frieden". Band IV, 227 Sybel, „Die Fälschung der guten Sache durch die Augsburger Allgemeine Zeitung". Band IV, 340 ff. W . Beseler, „Das deutsche Verfassungswerk nach dem Kriege". Band V, 98 f. Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Band V, 217 f. W . Beseler, „Mahnruf an das deutsche Volk". Band V, 318 ff. Wehrenpfennig, „Geschichte der deutschen Politik unter dem Einfluß des italienischen Krieges". Band V, 414 ff. Briefe A . v. Humboldts an Varnhagen. Band V, 532 Bernhardi, Reform der1 Heeresverfassung. Band V, 665 Wehrenpfennig, „Die äußere Politik des Abgeordnetenhauses und die Militärreform". Band VI, 114 ff. Wochenschrift des Nationalvereins. Band VI, 215 ff. Baltische Monatsschrift. Band VI, 307 ff. Gespräche Huttens. Band VI, 310 ff. Pauli, Bilder aus Alt-England. Band VI, 529 f. Hippel der Jüngere, drei Lebensläufe. Band VII, 237 f. Probenummern der „Zeit" (Frankfurt a. M.). Band VII, 379 f. Stahl, Rede auf Friedrich Wilhelm IV. Band VIII, 279 ff. Schleiermachers Briefwechsel, III. Bd., hrsg. v. Dilthey. Band VIII, 647 ff. Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Band IX, 114 ff. Sybel, „Die deutsche Nation und das Kaiserreich". Band IX, 117 ff. Köpke, Kleists politische Schriften. Band IX, 694 f. Trendelenburg und Treitschke, Fichtereden. Band IX, 695 ff. Baumgarten, „Die deutsche Presse und die Frankfurter Band X, 90 ff. Band X, 92 ff. Band X, 94 Band X, 418 ff. Band Band Band Band

X, X, X, XI,

512 520 640 442

ff. ff. ff. f.

Band XII, 622 f. Band XII, 628 Band XII, 628

Pfingstversammlung". Hettner, Geschichte der deutschen Literatur. Fichtebriefe. Die Zustände im Königreich Sachsen usw. Kritik einer Entgegnung auf den Aufsatz Treitschkes. Ludwig Roß, Erinnerungen und Mitteilungen aus Griechenland. Waitz, Grundzüge der Politik. Rüge, Aus früherer Zeit. Freytag, Technik des Dramas. Hist. Zschr. 5. Jahrg. (Droysen: „Die Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft"). Aus Schleiermachers Leben 4. Bd., hrsg. v. Dilthey. J a k o b Grimm, Rede auf Wilhelm Grimm und über das Alter. Sybels kleine historische Schriften.