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German Pages 144 [148] Year 1911
Abhandlungen des
kriminalistischen Seminars an der Universität Berlin. Herausgegeben von
Dr. Franz v. Liszt, ord. Professor der Rechte zu Berlin.
Neue Folge.
Sechster Band.
Berlin 1911. J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, G. m. b. H.
I n h a l t . Bleeck. Die Majestätsbeleidigung im geltenden deutschen Strafgesetz. Reinhold.
Die Chantage.
Kollmann. Die Lehre von Recht.
der Erpressung
nach
deutschem
Hurwlcz. Rudolph von Ihering und die deutsche Rechtswissenschaft.
Abhandlungen des
kriminalistischen Seminars an der Universität Berlin.
Herausgegeben von
Dr. Franz v. Liszt, ord. Professor der Rechte zu Berlin.
Neue Folge.
Sechster Band.
4. Heft.
Dr. E. H u r w i c z : Rudolph von Ihering und die deutsche Rechtswissenschaft.
Berlin 1911. J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, G. m. b. H.
Rudolf von Ihering und die deutsche Rechtswissenschaft Mit besonderer Berücksichtigung des Strafrechts.
„Wer in die Tiefen seines Netzes gerät, ist gefangen; wer sich rettet, nimmt immer Gewinn mit." J. G. K u n t z e über Ihering (in „Ihering, Windscheid, Brinz".)
Von
Dr. E. Hurwicz.
Berlin 1911. J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, G. m. b. H.
Meinem hochverehrten Lehrer F r a n z von Liszt in inniger Dankbarkeit.
Vorwort. Für den rechtsphilosophisch interessierten Leser bedarf der Versuch, die Rechtsphilosophie eines I h e r i n g im Zusammenhange darzustellen, keiner Rechtfertigung. In einem Augenblick aber, wo auf dem Gebiete des Strafrechts ein entscheidender Kampf zwischen alten und neuen Gedanken vor sich geht und einen entschiedenen Einfluß auch auf die Gesetzgebung ausübt, mag der Versuch, d i e Rechtsphilosophie, aus deren geistigem Boden sich diese neuen Gedanken genährt haben, darzulegen und kritisch zu beleuchten, besonders als keine „unzeitgemäße Betrachtung" erscheinen *). Der bleibende Einfluß R. v. I h e r i n g s auf die deutsche Rechtswissenschaft wird übrigens auch von den außerhalb seiner Schule Stehenden und Gegnern zugegeben. Nach R. L o e n i n g J ) z. B. hat I h e r i n g „mit seinem Satze: der Zweck fst der Schöpfer des ganzen Rechts, der ganzen neueren Richtung unserer Wissenschaft das faszinierende Losungswort gegeben"; nach K o h 1 e r sind die modernen Strömungen im Bereiche des Strafrechts „Ausläufer des I h e r i n g sehen Systems" 3). Das hindert freilich K o h 1 e r nicht, an einer anderen Stelle zu erklären: „Wird sind glücklicherweise über I h e r i n g hinaus" 4). ' ) Während M a m t o t h
der A u s a r b e i t u n g
der vorliegenden
Schrift schrieb
anläßlich der letzten T a g u n g der Internationalen
Vereinigung ( A r t . I K V . im Berl. T g b l . v . g. A u g . 1910):
Justizrat
kriminalistischen
„ E s wäre interessant,
den B e r ü h r u n g s p u n k t e n nachzuspüren, die diese Lehren (der I K V . ) m i t den A n schauungen eines anderen Großen im Bereiche der Jurisprudenz, Rudolf v . Ihering, aufweisen . . . die prinzipielle Grundlage der geistigen S t r ö m u n g , welche die I K V . in gewisser Hinsicht auf den Schultern Iherings v e r t r i t t und v e r w i r k l i c h t " usw. Diese u n b e w u ß t e U n t e r s t ü t z u n g meiner A r b e i t w a r mir doppelt willkommen. -) Ü b e r W u r z e l und W e s e n des Rechts, Rede, Jena 1907, S. 9. 3) Goltd. A r c h . B d . 54, S. 1. 1) Holtzendorff-Kohlers E n z y k l o p . der Rechtswiss. B d . I S. 1 1 .
vm und die Rechtsphilosophie I h e r i n g s , auf dessen Abstammung anspielend, mit dem philosophischen Niveau eines „friesischen Landpastörs" oder „deichbauender Friesenleute" zu vergleichen *). Dieser Streit um I h e r i n g kann aber wiederum nur durch sachliche, objektive Kritik seines Systems ausgetragen werden. — Die Anordnung der Darstellung ergab sich aus dem ihr gesteckten Ziele selbst. Es galt zuerst, d i e h i s t o r i s c h e S t e l l u n g I h e r i n g s in der E n t w i c k l u n g der d e u t s c h e n R e c h t s w i s s e n s c h a f t z u charakterisieren (Kap. I) und dann sein r e c h t s p h i l o s o p h i s c h e s S y s t e m darzulegen (Kap. II). Mein Bestreben war hier, wie schon oben gesagt, die Schriften I h e r i n g s zu einem einheitlichen rechtsphilosophischen System zu verarbeiten. An gewissen Stellen des Systems hat mich dabei das Gefühl fast übermannt, ein solches Ziel ließe sich bei ihnen nicht verwirklichen. Gerade die psychologische Seite des I h e r i n g sehen Schaffens, die M e r k e l so treffend charakterisiert hat als „Lebhaftigkeit, mit der er die jeweils betrachtete Seite der Dinge ergreift, sich ihr ganz zukehrt und seine Kraft dazu verwendet, sie und gerade nur sie in eine glänzend helle Beleuchtung zu bringen" •) a. a. 0. S. 12: „In der Tat steht Iherings Metaphysik ungefähr aui dem Stande der Metaphysik eines friesischen Landpastors"; S. 13: „Die ganze Flut religiöser Vorstellungen vom Totemismus bis zum Manitukult bleibt unverstanden und unberücksichtigt, als ob die Menschheit von jeher aus deichbauenden Friesenleuten bestanden hätte"; ibid.: „Geht man aber gar über zu Iherings „Zweck im Recht", so hat man das Gefühl einer Armenleutestube, der Boden mit Sand bestreut, die Fensterchen mit den dürftigsten Vorhängen versehen, soweit es die Genierlichkeit verlangt, und alles zusammengepaßt nach dem Nützlichen: die Kleider gewendet und die Trachten in einem Schnitt, der zeigt, daß man jede Viertelelle Tuch ängstlich zu sparen hat; Teppiche natürlich sind längst abgeschafft, denn sie taugen zu nichts und können höchstens den Lungen schaden." In derselben Weise in der „Zukunft" 1893, II, 113. Nur abfällig auch in dem neuerdings erschienenen „Lehrbuch der Rechtsphilosophie".— Die Angriffe K 0 h 1 e r s erfuhren eine entschiedene Zurückweisung in G r u c h o t s Beitr. 1893, S. 193 ff. (Reichsgerichtsr. D r e y e r) aus „tiefverletztem Gerechtigkeitsgefühl" heraus; sodann neuerdings im Arch. f. offentl. Recht, wo der Rezensent des Lehrbuchs f. R.phil. ( J . T h u m a , 1910, B. 24 S. 610) schrieb: „Wer es fertig bringt, Ihering, der nach wie vor zu unseren juristischen Klassikern gehört, oberflächliche Geistreicherei vorzuwerfen, der gerät stark in den Verdacht, daß ihn selbst dieser Vorwurf treffe. Das Wort vom „Zweck im Recht" ist noch lange nicht abgetan." 2
) „Ihering" in Iherings Jahrb. f. Dogm. Bd. 32, S. 23.
IX gerade diese Seite habe ich bei meiner Arbeit naturgemäß besonders zu spüren gehabt. Aber nach längerem Nachdenken und Vertiefung in den Gegenstand gewann ich immer wieder bei solchen Stellen die Überzeugung, die auch M e r k e l ausdrückt I ), daß es eben nur die verschiedenen Seiten e i n e s u n d d e s s e l b e n Gegenstandes sind, daß eine höhere Synthese derselben fast immer möglich ist. Ich verweise nur auf die Ausführungen über das Wesen des subjektiven Rechts (unt. S. 19 Anm.), über die Grenzen der Wirksamkeit der Staatsgewalt (unt. S. 36 ff.), insbesondere aber auf die juristische Methodologie (unt. S. 45 ff. und S. 90 ff.). — Im übrigen galt es in diesem Kapitel, den positivistischen Charakter des dargestellten Systems zu betonen, seinen Gegensatz zu den anderen Theorien und seinen Einfluß auf dem Gebiete der Rechtsphilosophie kritisch zu beleuchten. Als Anhang schließt sich diesem Kapitel das Referat der beiden Hauptwerke I h e r i n g s an (S. 51—67) 2 ). Der Kundige kann es getrost überspringen. Ihn wird aber vielleicht die daran anknüpfende kritische Darlegung der „philosophischen Abstammung" I h e r i n g s und die Bedeutung jener beiden Werke, insbesondere des „Zweck im Recht" interessieren (58—60, 67 ff.). Mit diesem (II.) Kapitel endet das erste Buch. Im zweiten Buche galt es gewissermaßen die Konsequenzen des ersten zu ziehen. Die Darstellung gestaltet sich hier zu einer K r i t i k d e s t e l e o l o g i s c h e n P r i n z i p s (Kap. III) in seiner mannigfachen (methodologischen) Bedeutung für die Erkenntnistheorie des Rechts, für die Erklärung der geschichtlichen Rechtsbildung, für die Rechtsdogmatik, Rechtsinterpretation, Rechtspolitik. Es mußte hierbei vielfach auch zu den Rechtsproblemen der Gegenwart Stellung genommen werden. Das letzte (IV.) Kapitel ist endlich der S t r a f r e c h t s p h i l o s o p h i e u n d MethodedersoziologischenSchuledesStrar e c h t s gewidmet, als der reifsten und vollendetsten Frucht, die das finale Prinzip bisher in der Rechtswissenschaft getragen J)
a. a. Ich v. L i s z t. voraussetzen 2)
0. befolge hiermit den R a t meines hochverehrten Lehrers, Prof. F Ursprünglich wollte ich die Kenntnis der Werke Iherings beim Leser und mich lediglich auf die kritische Arbeit beschränken.
X hat, und an deren konsolidierteren Formen seine juristische Natur daher mit besonderer Sicherheit studiert werden kann. Mit diesem letzten Kapitel der Schrift hängt auch ihre Widmung innig zusammen, in der ich meinem hochverehrten Lehrer, Professor F r a n z v o n L i s z t , den tiefempfundenen Dank für wissenschaftliche Anregung und Unterstützung ausdrücke. Daß die Verbindung der Namen I h e r i n g - L i s z t in der Tat einen Zusammenhang in der Entwicklungsgeschichte der deutschen Rechtswissenschaft darstellt, weiß der Kundige. Ich möchte ferner meinen aufrichtigen Dank Herrn Dr. D. K o i g e n aussprechen, der mich auf das originelle „System der Rechtsphilosophie" L u d w i g K n a p p s aufmerksam gemacht hat, sowie meinem lieben Kollegen K u r t P e s c h k e Steglitz für die freundliche Unterstützung bei der Korrektur.
XI
Spezialliteratur und Abkürzungen. Interessantes biographisches Material findet der Leser (außer den unt. zit. Schriften von M e r k e l , K u n t z e , E c k und L e o n h a r d ) in „ R u d o l f v o n I h e r i n g i 8 5 2 — 1 8 6 8 . B r i e f e u n d E r i n n e r u n g e n". H r s g . v. J . B i e r m a n n (Berl. 1907, H. Müller). Aus den Schriften I h e r i n g s sind für die vorliegende Abhandlung außer den beiden Hauptwerken: „G e i s t d e s r ö m i s c h e n R e c h t s a u f d e n v e r s c h i e d e n e n S t u f e n s e i n e r E n t w i c k l u n g " , 3 Bände, 1. Aufl. 1852, hier zitiert G.d.r.R. Der 1. Band nach der 6. Aufl. 1907, die übrigen nach der 5. Aufl.; ,,D e r Z w e c k i m R e c h t " , 2 Bände, 1. Aufl. 1877, hier zit. Zw.i.R. nach der 3 Aufl 1893 (4. volkstümliche Ausg. 1904), noch hervorzuheben: Unsere Aufgabe (Jahrb. f. Dogm. d. heut. röm. u. deut. Privatr. Bd. i,J3. 1 ff.). 1857. Friedrich Karl v. Savigny (Jahrb. Bd. 5, S. 354 ff.). 1861. Das Schuldmoment im römischen Privatrecht. 1867. Über den Grund des Besitzesschutzes.
Eine Revision der Lehre vom Besitz.
1869. Die Reflexwirkungen oder die Rückwirkung rechtlicher Tatsachen auf dritte Personen (Jahrb. Bd. 10, S. 245 ff.). 1871. Passive Wirkungen der Rechte. Ein Beitrag zur Theorie der Rechte (Jahrb. Bd. 10, S. 387 ff.). 1871 Kampf ums Recht. 1872. Ein Rechtsgutachten betreffend die Gäubahn (Jahrb. Bd. 18, S. 1 ff.). 1880 Scherz und Ernst in der Jurisprudenz. Weihnachtsgabe für das juristische Publikum. 1884. Der Besitzwille.
Zugleich eine Kritik der herrschenden juristischen Methode.
1889. Vorgeschichte der Indoeuropäer. Aus dem Nachlaß herausg. von V. Ehren1894. Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts. Aus dem Nachlaß herausg. von. V. Ehrenberg. 1S94. berg.
XII S e l b s t ä n d i g e Literatur über Ihering: Die besten Schriften sind: Merkel Kuntze B oug1é 2
= Ad. Merkel, „Ihering" in Jahrb. f. Dogm. Bd. 32, S. 6 ff. 1893. = Joh. Em. Kuntze. „Ihering, Windscheid, Brinz". Leipzig 1893. = Gh. Bouglé in „Les sciences sociales en Allemagne". Paris 1902 éd. S. 103 ff.
Weitere Literatur: B l o n d e l = G. Blondel. Rodolphe de Ihering. Nécrologue. Nouvelle Révue Historique de Droit français et étranger 1892 (S. 797 ff.). B r i n z in d. Krit. Vierteljahrsschrift, Bd. II, S. 1 ff. B r u n s im Literar. Zentralblatt 1855 Nr. 24. D a h n = F. Dahn, Die Vernunft im Recht. Berlin 1879. E c k = E . Eck, Zur Feier d. Gedächtnisses von B. Windscheid n. R. v. Ihering. Vortrag. Berlin 1893. E u c k e n = R . Eucken. Eine Ethik der Gegenwart. Münch. Allg. Ztg. 1889 Nr. 362, 363. M. d e J o n g e. R . v. Ihering. Berlin 1888. J . K o h l e r . Windscheid und Ihering. Zukunft 1893, Bd. 2 S. 1 1 3 ff. K ü h n a s t = Kühnast. Iherings Definition des Rechts. Gruchots Beitr. 1880, S. i f f . , 153 ff. L a n d s b e r g = E . Landsberg. Ihering u. Windscheid. Beil. z. Münch. Allg. Ztg. v. 28. Nov. 1892, Nr. 278. L a s s o n (XV resp. X V I ) = Ad. Lasson in d. Philos. Monatsheften Bd. X V und X V I . L e o n h a r d = R . Leonhard. Ein Nachruf f. Ihering u. Windscheid. (Dasselbe in der Zukunft 1893, Bd. 3, S. 600 ff.) S c h u c h = H. Schuch. Kant, Schopenhauer, Ihering. Die Gedankenmotivation als Problem der Willensfreiheit. München 1907. W. S c h u p p e. Ethische Standpunkte. In Schmollers Jahrb. f. Gesetzgbg. 1882, Heft 4, S. 1 ff. S c h w a r t z . R. v. Ihering im Jurist. Literaturblatt 1891, S. 65 ff. S o m m e r = H. Sommer. R. v. Iherings Theorie des gesellschaftlichen Utilitarismus. Preuß. Jahrb. 1884 ( L I V ) u. 1885 (LV). E. Z i t e 1 m a n n. R . v. Ihering. Nachruf. Münch. Aleg. Ztg. 1892 Beil. Nr. 234. In der Hauptsache mit Jhering und seiner Schule beschäftigen sich auch: P a c h m a n n = S. Pachmann, Über die gegenwärtige Bewegung in der Rechtswissenschaft. Berlin 1882 und P e t r a z y c k i = L . v. Petrazycki, Bona fides im bürgert. Recht. Anhang: Die Modelosungen der Jurisprudenz. Petersb. 1897 (russ.). Weitere Literaturangaben bei L e o n h a r d (vgl. ob.) 250 Anm. 1 . erreichen waren endlich:
Nicht zu
XIII Azariewicz.
Rudolf v. Ihering in der russ. Zeitschrift f. Zivil- u. Strafrecht
sowie A. B r ü c k m a n n .
Savignys Schüler und Bekämpfer.
Erst während des Druckes kamen in meine Hände: E. L a n d s b e r g in „Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft", 3. Abt. 2. Halbband (Text und Noten). München u. Berlin (1910 Oldenburg), S. 788 ff. (hier zitiert Landsberg, G.) sowie L. M i 1 1 e i s in „Allgemeine Deutsche Biographie", Bd. 50 S. 652—664.
XIV
Inhaltsverzeichnis. ERSTES
BUCH.
Kapitel I. Einleitung. Die historische Stellung Iherings in der Entwicklung der deutschen Rechtswissenschaft. Deskriptive und theoretische Erkenntnis. Ihering und sein Verhältnis zu der historischen Schule. Stand der Theorie in der historischen Schule vor Ihering. Die Ursachen der theoretischen Unfruchtbarkeit der historischen Schule. Der Finalismus (Rationalismus und Voluntarismus) als notwendige Reaktion dagegen. Der Entwicklungsgedanke bei Ihering. Iherings Verhältnis zum Hegelianismus und Kantianismus.
i
Kapitel II. Iherings System der Rechtsphilosophie. Einleitung. I h e r i n g als Begründer der positivistischen deutschen Rechtsphilosophie. L u d w i g K n a p p und sein „System der Rechtsphilosophie". Das Verhältnis der beiden Systeme zueinander § i.
§2.
§3l.
Entstehung des Rechts. Verschiedene Behandlung des Problems von der Rechtsphilosophie und von der Allgem. Rechtslehre. "Die Rechtsentstehung in der Theorie Iherings. Die psychophysiologische Theorie Knapps R e c h t und Moral. Entgegengesetzte Auffassungen ihres beiderseitigen Verhältnisses. Die Idee der Gerechtigkeit in der positivistischen Rechtsphilosophie überhaupt und bei Ihering insbesondere. Inhaltliche Abgrenzung von Recht und Moral bei Puchta und Ihering. Das Willensmoment und der Grundgedanke des „Kampfes ums Recht"
Ii
12
l4
RechtundMacht. Stellungnahme des Historismus und Iherings zu diesem Problem. Weiterführung der Iheringschen Gedanken von
Merkel und Jellinek. Entstehung des Rechts aus der Macht II. R e c h t u n d Z w a n g . Zusammenhang dieses Problems mit dem vorigen. Bedeutung des Rechtszwangs in Iherings System. Polemik gegen die Zwangstheorie seitens Jellineks, Thons und Petrazyckis.
20
XV
§4.
§5.
§6.
Zwanglose Rechtsnormen: Monarchenpflichten, Kirchenrecht, leges imperfectae, — und ihre Erklärung.— Das Problem des Völkerrechts. D e f i n i t i o n des Rechts. Spekulative und positive Rechtsdefinitionen. Die Definition Iherings. Die Auffassung des „Gesellschafts"begri£Fs Rechtspolitik. I. Personalistische und soziale Elemente der Sozialphilosophie Iherings. Seine Rechtsideale („System der Freiheit"). Der Wert des Rechts und seine dualistische Struktur. II. Der staatssozialistische Standpunkt Iherings. Gesellschaftliche Theorie des Privatrechts. III. Iherings Philosophie des Rechtsstaates. Die juristische Methodologie. Die rechtliche Begriffsbildung: Generalisierung, vorwissenschaftliche und wissenschaftliche Begriffsbildung. Die „naturhistorische Methode". Die Differenz der juristischen von der Laienauffassung. — Die teleologische Natur der juristischen Begriffsbildung.
25
33
36
44
Anhang: 1. D e r „ G e i s t d e s r ö m i s c h e n R e c h t s " (Referat seines Inhalts). — Seine Bedeutung 51 2. „ D e r Z w e c k i m R e c h t " (Ref. d. Inhalts) 60 3. D i e p h i l o s o p h i s c h e Abstammung Iherings. Originalität des finalen Systems von Ihering. Sein Zusammenhang mit Iherings geistiger Individualität. Einfluß Hegels 67 4. D i e B e d e u t u n g d e s „ Z w e c k i m R e c h t". Vom geschichtlichen und vom rationalen Standpunkt. Existenzberechtigung des letzteren und seine Durchführung im „Zweck im Recht" 73 Schlußbemerkungen. I. Bouglés Gesamtcharakteristik. — Idealismus und Utilitarismus in Iherings System. — Parallelen mit Spinoza, Hobbes, Grotius und Locke. — Iherings historischer Rationalismus. II. Iherings philosophischer Beruf und der dauernde Wert seiner Rechtsphilosophie
81
Z W E I T E S BUCH. Kapitel III.
Kritik des finalen Prinzips. § 1.
§2.
§3.
Das finale Prinzip und die Erkenntnistheorie d e s R e c h t s . B o u g l i s Kritik des finalen Prinzips unter diesem Gesichtspunkte Das f i n a l e P r i n z i p und die E r k l ä r u n g der ges c h i c h t l i c h e n R e c h t s b i l d u n g . Die metajuristischen Voraussetzungen der Rechtsbildung. Rechtsvergleichung. Gewohnheitsrecht. D a s f i n a l e P r i n z i p u n d d i e R e c h t s d o g m a t i k . Der Antidogmatismus. Grundgedanken zur Existenzberechtigung der Dogmatik: die Typizität der Lebenserscheinungen, die Rechtspositivi-
85
87
XVI
§4. §5.
tat, der finale Charakter der juristischen Konstruktion, die soziale Neutralität des Rechts, die geschichtliche Variabilität der Rechtsdogmatik, die ewigen Bestandteile der Dogmatik 90 Das f i n a l e P r i n z i p und die R e c h t s i n t e r p r e t a t i o n . Verhältnis zur freien Rechtsfindung 99 Das finale Prinzip und die R e c h t s p o l i t i k . Die methodologische Bedeutung des Zweckbegriffs für die Rechtspolitik. Die Rechtspolitik im Naturrecht, im Historismus und bei Ihering. . . 100
Kapitel IV. Strafrechtsphilosophie und Methode der soziologischen Strafrechtsschule. Einleitung. Der Zusammenhang zwischen Iherings System und der soziologischen Strafrechtsschule. Gemeinsame Elemente ihrer Strafrechtsphilosophie und Kriminalpolitik 105 Stellungnahme Iherings zur Vergeltungstheorie und zu den relativen Strafrechtstheorien. Entwicklungsgeschichte der Strafe. Strafe und individuelle Freiheit. Strafökonomie. Problem des Zivil- und Strafunrechts. Strafrechtssystematik 106 Begriffseliminierende Tendenzen im Strafrecht der soziologischen Schule. Die neue kriminologische Begriffsbildung. Rechtspolitische Antinomien im kriminalistischen System der soziol. Schule. — Verhältnis zum Vergeltungsstrafrecht. — Schlußbemerkungen 115
ERSTES
BUCH.
Einleitung. Kapitel I.
Die historische Stellung Iherings in der Entwicklung der deutschen Rechtswissenschaft. ,,Er hat den Rechtsstoff in seinen großen Linien vergeistigt." (J.
E.
K u n t z e über
Ihering
in
„Ihering,
Winscheid, Brinz".)
Zwei Betrachtungsweisen gibt es wie in der Weltanschauung überhaupt, wie in der Philosophie, so auch in der Rechtswissenschaft. Die Einen sehen mehr das Konkrete, Außere, Einzelne, und wie das Konkrete selbst zersplittert ist, so ist auch ihr Wissen zersplittert, ihre Erkenntnis — Einzelerkenntnis. Für die Andern stellt das Konkrete zugleich die Verkörperung einer Allgemeinheit dar, und so entsteht hinter der Welt der Einzelheiten für sie eine zweite, einheitliche Welt und wird ihr Wissen ein monistisches Wissen, ihre Erkenntnis — eine t h e o r e t i s c h e Erkenntnis. Zu diesen Zweiten gehörte zweifellos auch I h e r i n g . Seine historische Erscheinung haben wir, kurz gefaßt, als die Reaktion des wissenschaftlichen Rationalismus gegen den wissenschaftlichen Irrationalismus auf dem Gebiete des Rechts aufzufassen. I h e r i n g geht aus der historischen Juristenschule hervor, wie aus der historischen Richtung in der Nationalökonomie die konstruktiven Systeme von W a g n e r und S o m b a r t hervorgehen ' ) ; er steht zu jener in demselben methodischen Gegensatz, in dem zu dieser K a r l M e n g e r steht. Und dieser Parallelis*) Vgl. insbesondere W. S o m b a r t , Geleitwort zum i. Band des „Modernen Kapitalismus".
Leipzig 1902.
A b h a n d l . d. kriminalist. Seminars.
N. F.
B d . V I , H e f t 4.
I
(420)
2
mus der wissenschaftlichen Bewegung, dieser wiederkehrende Methodengegensatz von Konstruktion und Deskription, von Abstraktion und Empirismus verleitet uns geradezu, von einer (erkenntnispsychologisch freilich durchaus begreiflichen wie notwendigen) gesetzmäßigen Aufeinanderfolge irrationalistischer und rationalistischer Betrachtungsweisen in den Sozialwissenschaften zu sprechen. — I h e r i n g s historische Stellung markiert zugleich den P u n k t , wo auch das Recht, gleich den übrigen Lebensmächten, in den allgemeinen Rationalisierungsprozeß eintritt, der für unser gesamtes Zeitalter kennzeichnend ist, und sie fördert ihrerseits diesen Prozeß. I. I h e r i n g hat zuerst eine allgemeine T h e o r i e des R e c h t s im m o d e r n e n S i n n e gel i e f e r t ; er erscheint als Bahnbrecher der wissenschaftlichen Rechtsphilosophie, der Erkenntnis des Rechts in seiner Eigenart und den ihm eigenen Gesetzen, der Durchdringung der Rechtsdogmatik mit kulturphilosophischer Erkenntnis *) Wie w a r die T h e o r i e auf juristischem Boden vor I h e r i n g beschaffen ? — Die historische Juristenschule, aus der er hervorging, erscheint rechtspolitisch als eine berechtigte Reaktion gegen das Naturrecht, welches ein für alle Zeiten und Völker nicht etwa nur als Ideal oder Wertmaßstab des positiven Rechts, sondern eben als positiv gültiges R e c h t konstruierte. In diesem Betracht besitzt der v o m Historismus aufgestellte Grundsatz von dem Volksgeiste als Schöpfer des Rechts zweifellos eine Genialität und ist eine „unverlierbare E n t d e c k u n g " (G i e r k e). Jede einheitliche rechtspolitische Richtung muß aber bestrebt sein, ihren Forderungen eine prinzipielle, theoretische Rechtfertigung oder Grundlegung zu verleihen. Bestand die theoretische Tätigkeit der Naturrechtler darin, wie immer geartete absolute Rechtssysteme zu konstruieren und zu begründen, so ergab sich für die historische Schule aus ihrem eigenen Hauptgrundsatze die A u f g a b e , den Satz von der organischen, j a unbewußten E n t wicklung des Rechts theoretisch zu fundamentieren, aber auch ' ) Vgl. auch B o u g 1 6; zu vgl. auch E . J . B e k k e r unt. S. 8 A n m . 2. *) A l s
Vorläufer
der
positivistischen
erscheint auch L u d w i g K n a p p
in
Deutschland
(beeinflußt v o n F e u e r b a c h s
Rechtsphilosophie
Philosophie).
Näheres über ihn unt. S. I i f., 13 A n m . 2, 86 A n m . 2.
(421)
3
die geschichtlichen positiven Rechtssysteme in ihre nationalen Bestandteile zu zerlegen und damit die Lehre von der Rechtsnationalität zu rechtfertigen. Die Erfüllung dieses ihres eigenen Programms ist aber seitens der Anhänger der geschichtlichen Rechtsschule ausgeblieben. ,, S a v i g n y hatte ein Programm einer Entwicklungsgeschichte des Rechts aufgestellt. Aber die geschichtlichen Arbeiten seiner Schule ließen (von P u c h t a s Institutionen abgesehen) ein näheres Verhältnis zu diesem Prog r a m m k a u m erkennen. Sie waren, von Arbeiten mehr antiquarischen Charakters abgesehen, hauptsächlich darauf gerichtet, der Dogmatik zu dienen, nicht die psychische Seite des Rechts und ihre Entwicklung im Zusammenhange des Kulturlebens aufzuhellen. Was den nationalen Ursprung betrifft, so begnügte sich die Schule mit der Zurückführung des Rechts auf den Volks geist, die Volksüberzeugung", — sagt M e r k e l 1 ) . Und ein anderer, nicht minder scharfsinniger Beobachter, J o h. E m . K u n t z e , berichtet uns: „ V o n der historischen Schule her drohte uns die Gefahr, den ganzen Rechtsstoff in immerwährendem ziel- und charakterlosem Flusse zu d e n k e n " ; „ K e l l e r widmete dem römischen Zivilprozeß, B r u n s dem Besitz des Mittelalters, Bethmann-Hollweg dem römischen und mittelalterlichen Zivilprozeß, R u d o r f f den prätorischen Formeln, S t i n t z i n g und M u t h e r der Literärgeschichte ihr Hauptinteresse" 2 ). Mit denselben Zügen zeichnet den Stand der Theorie in der geschichtlichen Rechtsschule endlich I h e r i n g selbst: „ I c h darf rücksichtlich der historischen Schule und der Zeitschrift f ü r geschichtliche Rechtswissenschaft nicht unterlassen, auf eine E r scheinung aufmerksam zu machen. . . . Das „geschichtlich" sollte dem Programm zufolge eine bestimmte politisch historische Grundanschauung involvieren. Die Begründung derselben, die auf doppeltem Wege möglich war, auf rechtsphilosophischem und historischem, ist auf jenem überall nicht einmal versucht worden und auf diesem, wenn man ehrlich sein will, auch nicht. Denn aus allen rechtshistorischen Abhandlungen, welche die 15 Bände der Zeitschrift gebracht haben, folgt f ü r den Beweissatz selbst
>) S. 18 f. *) K u n t z e 7, 27.
4
(422)
auch nicht das Geringste. Sie lehren dem, der dies noch nicht weiß, daß auch die Institute des Rechts im Laufe der Zeit Veränderungen erleiden; aber daß dieselben nicht völlig willkürlich und unabhängig von der Vergangenheit erfolgen, daß nicht die Weisheit des Gesetzgebers allein sie ins Leben gerufen, kurz, daß das ganze historische Material nicht ebensogut von den Gegnern als g e g e n sie verwandt werden könnte, dagegen bieten jene Abhandlungen keine Garantie. Jene „geschichtliche A n s i c h t " des Programms ist also für die Zeitschrift ein vielversprechendes Aushängeschild gewesen, hinter dem sich rechtshistorische DetailUntersuchungen versteckt haben, die von jener Anschauung selbst in keiner Weise beeinflußt sind" J ). — Nicht anders als auf dem Gebiete der Nationalökonomie, wo die historische Richtung sich in der Vorherrschaft der monographischen Stoffbearbeitung äußerte (wo die Monographie sogar zu dem — wenigstens zurzeit und in absehbarer Z u k u n f t — einzig berechtigten T y p u s der wissenschaftlichen Forschung erhoben s c h e i n t ) z ) , war es also auch in der geschichtlichen Schule der Jurisprudenz. Gerade durch den Gegensatz seiner dogmatischen Glanzleistungen schien der Historismus auch hier beweisen zu wollen, daß mangelnde T h e o r i e wenn nicht zu seiner essentialia, so doch zu seinen naturalia gehöre. II. Worin lagen aber die U r s a c h e n dieser Erscheinung — der Unfruchtbarkeit der historischen Schule auf dem Gebiete der R e c h t s t h e o r i e — beschlossen? Uberschauen wir die zu ihrer Erklärung unternommenen Versuche, so können wir die Ansichten der verschiedensten Autoren, die die obige Frage zu beantworten suchten, auf die übereinstimmende Formel bringen, daß d i e theoretische M a c h t l o s i g k e i t d e s H i s t o r i s m u s in d e n s e i nem eigenen Programm zugrun degelegten Begriffen selbst beschlossen lag, durch diese B e g r i f f e g l e i c h s a m p r ä d e s t i n i e r t wurd e. Schon I h e r i n g selbst hat diese erkenntnistheoretische ' ) „Friedrich Karl v. Savigny", Jahrb. f. Dogm. Bd. V (S. 354 ff.) S. 366 f . — Vgl. auch D a h n 11. 1 ) Zu vgl. G. S c h m o l l e r , Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre (1900) I 116, 122.
(423)
5
Eigentümlichkeit des Historismus richtig herausgefühlt. Er bezeichnet die Grundansicht des Historismus treffend als „Emanationstheorie" und fragt dann: „Wie soll der Anhänger dieser Emanationstheorie auf den Gedanken geraten, den Gründen der Rechtssätze nachzugehen, wenn sie in dem unerforschlichen Geheimnis der Volksseele beschlossen liegen?" r ) Aber auch G i e r k e z , B., der, wie wir oben gesehen, den Grundsatz vom Volksgeiste als Schöpfer des Rechts als „unverlierbare Entdeckung" bezeichnet, nennt ihn doch zugleich „Rätsel mehr stellende als lösende Formulierung" 1 ). S t a m m l e r sagt ferner von der „historischen Juristenschule": „Sie setzte nichts an die Stelle des Rationalismus, als die subjektive Meinung, daß alle Neuschöpfung auf dem Gebiete des Rechts auf Regungen des Volksgeistes zurückführen, d e r n u n a b e r in s e i n e r H e r k u n f t w i e seinem Wesen wissenschaftlich nicht e r k e n n b a r s e i " . Daraus ergab sich „der mystische Spiritualismus der historischen Schule, deren romantische Grundstimmung einer philosophischen Zergliederung wissenschaftlich verwendeter Grund begriffe unbehaglich g e g e n ü b e r s t e h t . . . . Wie konnte es anders kommen, als daß die Schüler. . . von philosophischer Grundlegung des Rechts gar nichts mehr übrig behielten". „Während er (sc. der „Nationalgeist") als letzte und oberste Endursache der Eigenart eines bestimmten gesellschaftlichen Daseins unter den darin sozial verbundenen Menschen herumgeht, .entzieht er sich seinem Wesen und der Art seiner Einwirkung nach den profanen Blicken menschlicher Wissenschaft" 3). — Mit denselben ') Entwicklungsgeschichte des r. R. 13. *) Deutsches Privatrecht, Bd. 1. Leipzig 1895 § : 5 Anm. 30 (in B i n d i n g s Systemat. Handbuch der Rechtswissenschaft). 3) S t a m m l e r , Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung (1896) S. 36 f., 318. (Druck von uns gesperrt.) Wir zitieren noch: J e 11 i n e k: Die historische Schule „behauptet die natürliche Schöpfung von Staat und Recht" „aus einem mystischen Volksgeiste" (Allg. Staatsl. 2. Aufl. I 46); G u t h e r z : — „Der Behauptung eines göttlichen Ursprungs am nächsten stehen diejenigen Juristen, die das Recht aus dem Volksgeiste herleiten" (Studien zur Gesetzestechnik Teil X Breslau 1908, S. 41); den Ausspruch M e r k e l s über den „nationalen Ursprung" haben wir oben S. 3 zitiert. Vgl. übrigens schon B e k k e r (E. J.), Über den Streit der historischen und der philosophischen Rechtsschule. Heidelberg, Rektoratsrede 1886,, S. 14: „Savigny hat die Volksüberzeugung, in welche er die eigentlich Recht schaffende Kraft verlegt, nie wissenschaftlich zu analysieren versucht."
6
(424)
Zügen wie S t a m m l e r zeichnet auch Z i t e 1 m a n n das erkenntnistheoretische Wesen des Historismus: Dieser „argumentiert fortwährend aus vorgefaßten ganz allgemein-philosophischen Begriffen heraus : das, was die Lehre hervortreibt und im Einzelnen bestimmt, ist nicht die Erkenntis positiver Rechtssätze, auch nicht die empirisch-historische Betrachtung der tatsächlichen Bildungsvorgänge auf dem Gebiete des Rechts, sondern es ist eine — wenn man den Ausdruck überhaupt hier verwenden will — allgemein philosophische Vorstellungsreihe über Inhalt und Wesen des Rechts, aus dem dann das Einzelne deduziert wird. Hiermit hängt das Helldunkel, in welchem besonders der Begriff der „Rechtsüberzeugung" gehalten ist, eng zusammen"; das Charakteristikum aller Theorien der historischen Schule ist, daß sie ein psychisches Gesamtphänomen als vorhanden behaupten. Dieses Gesamtphänomen bezeichnet man durchgängig als gemeinsame oder allgemeine Rechtsüberzeugung des Volks . . . Die Gesamtüberzeugung hat keine Möglichkeit zu erscheinen und Gegenstand unseres Wissens zu werden . . . . es bleibt hier nur der Glaube übrig, der sich dann freilich wissenschaftlich nicht widerlegen läßt" *). Ebenso betont endlich auch B o u g 1 é , der den Glauben der historischen Rechtsschule an das „Werden und Wachsen" des Rechts als einen „Naturalismus" bezeichnet, daß von ihrem Standpunkt aus „les phénomènes juridiques apparaissent . . . . comme des fruits de la nature, mystérieux, inexplicables. La philosophie paresseuse du naturalisme laissait croire qu'ils se faisaient pour ainsi dire tout seuls . . . ." 2) Jene Ursachen lagen aber auch unbestreitbar in der Anschauung der historischen Schule vom W e r d e n des Rechts, mit anderen Worten in ihrem unbegrenzten Glauben an die genetische Methode, der ihr die Schranken derselben, in denen sie vollgültig bleibt, und die Notwendigkeit ihrer Ergänzung durch andere Methoden außerhalb dieser Schranken entgehen ließ. Mit psychologischem Feinsinn hat uns der schon einmal zitierte J. E. K u n t z e die Grundstimmung geschildert, die sich aus dieser grundsätzlichen Anschauung ergab und die ihre Wirkung ' ) Z i t e l m a n n im Arch. f. ziv. Pr. Bd. 66, S. 419—421. 2 ) B 0 u g 1 é 124.
7
(425)
auch auf den S t a n d d e r j u r i s t i s c h e n T h e o r i e nicht verfehlte: „Unbestreitbar bleibt die Wahrheit, daß man nur das recht versteht, dessen Entstehen man kennt; aber ebenso wahr ist, daß man nicht bei dem W e r d e n stehen bleiben darf, sondern zu dem G e w o r d e n e n fortschreiten muß. Ich meine dies: der einseitige Rechtshistoriker läuft Gefahr, im ewigen Flusse seines Betrachtungsobjekts den ruhigen Blick und festen Standpunkt zu verlieren, den Reizen des Wechseins und Wandeins sich allzusehr hinzugeben und über den Beziehungen der verschiedenen Zeitalter zueinander die Beziehungen des Rechts zu den übrigen Kulturseiten eines bestimmten Zeitalters zu verabsäumen" III. I h e r i n g s philosophischer Geist knüpft in der Tat zunächst an die r e c h t s g e s c h i c h t l i c h e Forschung an. Die Reformierung, ja recht eigentlich die Schaffung einer Rechtstheorie nimmt bei ihm die Gestalt einer Reform der rechtsgeschichtlichen Wissenschaft an. Es handelt sich zunächst darum, der deskriptiven Methode in der Rechtsgeschichte eine konstruktive, dem „dogmatischen Zusammenhang" einen „philosophischen" a ) entgegenzustellen. Aber in diesem scheinbar sich auf das Gebiet der Rechtsgeschichte beschränkenden Methodengegensatz verbarg sich in Wahrheit ein tieferer Gegensatz und_ eine Rekonstruktion der Rechtstheorie 3). Denn diese Auffindung der in den „gleichzeitigen Rechtsinstituten" verkörperten abstrakten „allgemeinen Ideen", was war sie denn anders, als ein Hinausgreifen über das ganze Gebiet der Rechtsdogmatik hinaus, als eine Kulturtheorie des Rechts ? Noch reiner tritt der theoretische Geist I h e r i n g s freilich in seinem späteren rechtsphilosophischen Werke, im „Zweck im Recht" an den Tag. Wenn im „Geiste des r. R." es eine an den geschichtlichen Tatsachen i ) K u n t z e 26 f. Entwicklungsgeschichte d. röm. R . S. 5. 3) Dieses konstruktive oder theoretische Element wird auch von
Ih er in g
selbst gefühlt, der die „Auffindung des abstrakten Elements der Rechtsgeschichte" als „eine T a t , eine Produktion des S u b j e k t s " bezeichnet, „insofern als die A b straktionen, zu denen sich dasselbe gezwungen fühlt, die Tendenzen und treibenden Gedanken . . .
als dieser ganze abstrakte Stoff nicht als solcher in der Geschichte
wahrnehmbar wird. "
„Unsere A u f g a b e " S. 4, 5.
8
(426)
orientierte Theorie ist, so gelangt in jenem bereits ein rein systematisches Element vielfach zur Geltung, ja das rein Systematische wird oft — in methodischem Gegensatz zum „Geiste des r. R." — als das Geschichtliche ausgegeben I ). — Der Historismus hat im Grunde genommen nur e i n e Seite des Rechts in den Vordergrund geschoben. Nach ihm erschien das Recht als k a u s i e r t , als ein nun einmal in seiner Gegebenheit daliegender S t o f f , und da er dazu noch diese K a u s a l i t ä t in den Volksgeist verlegte, führte er, wie oben des näheren dargelegt, zur Gebundenheit in der Erkenntnis des Rechtes. Sollte anders diese Gebundenheit gelöst werden, sollte ein über das bloße dogmatische hinausgehendes kulturwissenschaftliches Erkennen des Rechts ermöglicht werden, so galt es, eine andere, zweite Seite des Rechts aufzuschließen, ein Prinzip aufzufinden, das die tote Masse des daliegenden Stoffes zu beleben vermöchte, und welch ein anderes konnte darnach dieses Prinzip sein als ein p s y c h o l o g i s c h e s , noch näher als das psychologische Prinzip der menschlichen Z w e c k s e t z u n g ? 2 ) So entsteht der t e l e o l o g i s c h e Gedanke im Recht. Er entsteht zunächst als Erkenntnis- oder Erklärungsprinzip, als Methode der Rechtstheorie; erweist sich dann aber auch als eine schöpferische Potenz, als Maxime der Rechtspolitik. Aber Kausalität und Telos finden sich schließlich bei I h e r i n g in einer Synthese zusammen. Der E n t w i c k l u n g s g e d a n k e begreift sowohl den Kausalitäts- als den ZweckNäheres unt. S. 73 ff. - ) Schon E . J . B e k k e r ,
Über den Streit der historischen und der philo-
sophischen Rechtsschule (Heidelb. Rektoratsrede 1886) sagt:
„ E s läßt sich be-
haupten, daß erst durch diesen Streit, und die aus ihm erwachsenen neuen A n schauungen, die Jurisprudenz eingeführt ist in den Kreis der Wissenschaft im Sinne unserer T a g e " (S. 4). — Das voluntaristische Element der Erkenntnistheorie des Rechts bei I h e r i n g
betont auch B o u g i e
(132):
„ A u fond, de par sa
définition de l'action, sa méthode reste, forcément, psychologique . . .
Il établit
à l'origine des phénomènes sociaux le phénomène intérieur simple — le Désir". In Übereinstimmung mit B e k k e r sagt er ferner: „ L a science du droit est (comme la science de l'économie politique) entrée dans l'historisme et, comme elle, veut le dépasser pour prendre la forme d'une véritable science. R . v. Ihering nous indiquera le sens de ses e f f o r t s " ( 1 0 3 ) ; „ i l faut reconnaître que son effort, du moins, indique le sens du progrès des sciences sociales" (137).
Näheres unt. S. 85 ff.
(427)
9
gedanken in sich. Diesen — weil die Geschichte durch bewußte menschliche Akte fortgestaltet wird *), jenen — weil diese Zweckakte immer an das Gegebene anknüpfen, durch die Erfahrung selbst hervorgerufen werden 2) In der Rekonstruktion (restrospektiven Betrachtung) des geschichtlichen Geschehens — ja man kann auch ergänzend, aber im Sinne I h e r i n g s , hinzufügen — in der jedesmaligen Erkenntnis der Entwicklungstendenzen — will seine Methode allerdings keine absolute Gültigkeit beanspruchen: ihr „Wesen besteht darin, daß sie der Möglichkeit des Gegenteils Raum läßt" 3), sie ist vom Satze vom zureichenden Grunde geleitet 4), aber solange der von ihr behauptete Grund des historischen Geschehens nicht durch einen anderen entkräftet wird, behält er für seine Geschichtsauffassung eine zwingende Kraft. Der „Zweck" I h e r i n g s ist nicht ein „allgemeingültiger Endzweck" (im Sinne von S t a m m l e r ) . Seine Normen entlehnt I h e r i n g s Recht r e s t l o s der Erfahrung, der Ent' ) „Die Vernunft h a t eben auf jeder Stufe der geschichtlichen Entwicklung das Richtige, d. i. das den Verhältnissen angemessene getroffen." Entwicklungsgesch. d. r. R. Einl. S. 18. (Dieses „richtige R e c h t " im Sinne von I h e r i n g ist aber nicht zu verwechseln etwa mit dem S t a m m l e r sehen „Naturrecht mit wechselndem Inhalte": „Das sind solche Rechtssätze, die unter empirisch bedingten Verhältnissen ein t h e o r e t i s c h richtiges Recht enthalten." Die „theoretische Richtigkeit eines Rechtssatzes" aber „ist dadurch zu liefern, daß kritisch geprüft und entschieden wird, welche Rechtssätze unter gegebenen empirischen Verhältnissen d e m a l l g e m e i n g ü l t i g e n E n d z i e l e d e s s o z i a l e n L e b e n s entsprechen würden" (Wirtsch. u. Recht, 2. Aufl. S. 181, Druck von uns gesperrt). I h e r i n g s Recht ist zu lebensvoll, um sich von abstrakt formalen Begriffen leiten zu lassen. 2 ) Auch dort, wo das Rechtsgefühl der Rechtsordnung vorauseilt, k n ü p f t es immer an das vorhandene Recht an. Auch dort also, wo das Rechtsgefühl zweifellos als die treibende K r a f t der Entwicklung des objektiven Rechts erscheint, ist es nicht spontan, sondern „verdankt seine Anregung den Einrichtungen, in denen der Gedanke, deren v o l l e Durchführung man verlangt, schon zum T e i l verwirklicht w a r " : „die Kritik des Rechts durch sich selber"— Iliering a. a. 0 . 25 f.—• m. E . ein hegelianischer Gedanke.
3) I h e r i n g a. a. 0 . 33. 4) I h e r i n g a. a. O. 31 ff. Das ist gegen die Ausführungen S t a m m l e r s a. a. 0 . 416 zu bemerken. Es zeugt andererseits genügend, von „bewußter Resignation", die S t a m m l e r bei Bejahung bestimmter Entwicklungstendenzen verlangt (a. a. O. 291).
IO
(428)
w i c k l u n g *).
D i e jedesmalige
Entwicklungstendenz
in
seinem
Sinne ist ein „ E i n z e l s c h l u ß " oder trägt einen „ E i n z e l c h a r a k t e r " an sich.
A b e r d a m i t ist zugleich die W a h r n e h m u n g auch all-
gemeiner, genauer gesprochen, sich wiederholender und wiederholbarer E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n wohl vereinbar. die Rechtsrezeption ihre R e c h t f e r t i g u n g .
In ihr findet
—
Zwischen den verschiedensten positivistischen S y s t e m e n der Neuzeit und H e g e l herrscht vielfach ein eigenartiges Verhältnis. S i e verwerfen einerseits das spekulative E l e m e n t der Philosophie H e g e l s ,
sondern aber andererseits ihren erkenntnis- und ge-
schichtsphilosophischen K e r n aus und behalten ihn b e i ; sie setzen sich H e g e l
entgegen, finden aber bei ihm zugleich A n l e h n u n g
und U n t e r s t ü t z u n g 1 ) . lehre I h e r i n g s.
Dies gilt a u c h in bezug auf die R e c h t s -
In dem die deutsche Rechtsphilosophie auch
h e u t e noch spaltenden G e g e n s a t z ist I h e r i n g s P l a t z jedenfalls auf seiten v o n H e g e l
und auf der Gegenseite von
Kant.
' ) Das mag freilich der Kantianischen Rechtsphilosophie als die Herrschaft des „Gesetzes des rohen Erfolges, der tatsächlichen Gewalt" ( S t a m m l e r 334) erscheinen. Zu bemerken ist übrigens, daß I h e r i n g s Entwicklung eine „aufsteigende" ist, in der sich eine allmähliche Verfeinerung der Ethik und des Rechts offenbart. (Vgl. Schuldmom. im röm. Privatr., Zw. i. R. II 108 ff., Entw. gesch. d. r. R. Einl. 23 ff.).— Iherings Theorie bedeutet femer keineswegs etwa— wie vielfach irrigerweise angenommen wird — eine „Verneinung" des Rechtsgefühls (oder der Rechtsideen) (vgl. dagegen Zw. i. R. I 379 ff., Entw. d. r. R. 16 ff.), ja das Rechtsgefühl kann nach ihm (so ausdrücklich Entw. d. r. R. 23 ff.; vgl. oben S. 9 Anm. 2) der Rechtsordnung vorauseilen; er behauptet nur, daß das Rechtsgefühl nicht spontan ist, daß es nur in der Empirie, nur seinem Träger selbst als ein Absolutes erscheint, der wissenschaftlichen Betrachtung aber — als Etwas in seinem Inhalte und Entwicklung durch die soziale Entwicklung selbst Bestimmtes und Bedingtes. — (Analog zu vgl. Zw. i. R. II 227 f.) *) So hat M a r x , der die H e g e 1 sehe Dialektik „auf den Kopf" stellen will, sich offen als Schüler H e g e l s bekannt. (Vgl. Vorwort zur 2. Aufl. des „Kapitals" von 1873.)— Über I h e r i n g vgl. außer dem oben gesagten unten S. 72, 8o, andererseits S. 106. Die soziologische Strafrechtsschule verwirft die Strafrechtsphilosophie H e g e l s , will aber in der Rechtspolitik das Sollen aus dem Sein ableiten (vgl. L i s z t , Ztschr. f. d. gesamte Strafrechtswiss. Bd. 26 S. 556, Bd. 27 S. 91 ff.). — Mit Recht sagt daher m. E. K o h 1 e r : „Hegels Philosophie mußte sich zeitweise zurückziehen, kehrt aber nunmehr in neuer Gestalt wieder" (Arch. f. Rechts- u. Wirtschaftsphilos. Bd. I S. 13).
(429) Kapitel II.
Iherings System der Rechtsphilosophie. „Die Aufgabe der Rechtsphilosophie ist, uns in den geistigen Organismus der realen Rechtswelt einzuführen."
Ihering („Unsere Aufgabe").
Einleitung. W e n n die spekulative Rechtsphilosophie, zu der nicht nur die Systeme H e g e l s und K a n t s , sondern auch die rechtsphilosophische Doktrin der historischen Schule wesentlich gehört, von der positivistischen abgelöst wurde und wenn an die Spitze derselben der Name R . v. I h e r i n g gesetzt werden muß, so verdient neben diesem auch der eines zu Unrecht vergessenen Rechtsphilosophen hervorgehoben zu werden, der fast gleichzeitig mit dem „Geiste des röm. R . " und in methodischer Übereinstimmung mit ihm, aber auch mit dem „ Z w e c k im R e c h t " die Grundlinien der neuen Richtung b e w u ß t und entschlossen festlegt. Dieser Name ist L u d w i g K n a p p *). In seinem originellen, von L. F e u e r b a c h zweifellos beeinflußten „ S y s t e m der Rechtsphilosophie" (Erlangen 1857) entwickelt er die Grundgedanken des neuen Systems, und kennzeichnet mit aller nur wünschenswerten K l a r h e i t dessen methodologische Bedeutung selbst, dessen historische Stellung in der E n t w i c k l u n g der Philosophie. I h e r i n g und K n a p p ergänzen sich daher gegenseitig. Man könnte den Unterschied beider vielleicht so ausdrücken, daß I h e r i n g sich mehr der entwicklungsgeschichtlichen und rationalen Seite des Rechts zuwendet, während K n a p p mehr das Ontologische, das ewig sich Wiederholende des Rechts, den „ R e c h t s a k t " s e l b s t zu erforschen sucht, ' ) E r findet z. B. keine Erwähnung bei L a s s o n , System der Rechtsphilosophie (Leipzig 1882), vgl. § 4 daselbst: „Geschichte der Rechtsphilosophie", namentlich „neueste Rechtsphilosophie"; ebensowenig in der sonst sehr gewissenhaften und
umfassenden' Geschichte
der
Rechtsphilosophie
in
Berolzheimers
System vgl. dessen „Die Kulturstufen der R. u. Wirtschaftsphilosophie", Bd. II. München 1905. — Übrigens bezeugt schon A. Rau, L . Feuerbachs Philosophie usw. (Leipzig 1882), daß K n a p p s „ S y s t e m " „seit fast 25 Jahren" (d. h. seit dem Tode Knapps) so gut wie vergessen ist" (a. a. O. 24).
Ii
(430)
und so im Bilde von einer vertikalen Betrachtung des Rechts bei dem Einen, einer horizontalen bei dem Anderen sprechen. Im übrigen aber ergibt die Yergleichung eine Übereinstimmung beider oft bis auf den Ausdruck. Ebenso wie I h e r i n g , erblickt auch K n a p p die neue A u f g a b e wesentlich in der Übertragung der naturwissenschaftlichen Methode auf die Sozial- und insbesondere Rechtsphilosophie. In derselben Weise wie I h e r i n g definiert er den Unterschied von Recht und Moral, das Wesen der Gerechtigkeit, erblickt in dem Rechtszwang das konstitutive Element des Rechts usw. Dieses Verhältnis beider sowie gerade die Vergessenheit K n a p p s mag es rechtfertigen, daß in der folgenden Darstellung des I h e r i n g sehen Systems vielfach auch auf die Ansichten K n a p p s aufmerksam gemacht wird J ). § 1. Entstehung des Rechts. I. Das Problem der Entstehung des Rechts kann von der Rechtsphilosophie in doppelter Weise behandelt werden. Entweder nämlich als Entstehung der Rechtsbegriffe, also als Problem der juristischen Begriffsbildung — in diesem Sinne fällt es ins Gebiet der juristischen Methodologie und wird an entsprechender Stelle unten behandelt werden (vgl. unten S. 44 ff.). Oder als Problem der Entstehung des Rechts im realen Sinne (der „ R e c h t s soziallehre"), d. h. als Lebensmacht — als solches bildet es den Gegenstand der folgenden Ausführungen. Die Rechtsphilosophie muß zur Lösung dieser Aufgabe, im Gegensatz zu der Allgemeinen Rechtslehre, nicht die dogmatisch zu bearbeitenden und unmittelbar die Rechtssprechung angehenden juristischen „ Q u e l l e n " des Rechts, sondern die metajuristischen Faktoren und Wilrzeln des Rechts angeben. A u c h hierbei ist gleichfalls ein doppeltes Verfahren möglich und notwendig. Man kann nämlich entweder die objektiven, im eigentlichen Sinne sozialen Faktoren des Rechts, gleichbedeutend m. E. mit den E r • *) Eine Darstellung der Rechtsphilosophie K n a p p s im Zusammenhange kann im R a h m e n der vorliegenden A r b e i t nicht gegeben werden. d a z u demnächst noch Gelegenheit.
Vielleicht bietet sich
(431)
13
s c h e i n u n g s f o r m e n des Rechts, ins Auge fassen. Oder aber die metajuristischen Wurzeln des Rechts in der menschlichen Psychologie, mithin s u b j e k t i v ergründen. Beide Behandlungsweisen ergänzen sich gegenseitig. Denn die letztere liefert uns den psychologischen Ursprung des Rechts, die erstere — seine Offenbarungsformen im Leben, seine Phänomenologie. Beide sind auch bei I h e r i n g vertreten. Das Recht führt er psychologisch auf den Betätigungsdrang des Menschen zurück. Dieser Drang führt notwendig über die individuelle Sphäre des Einzelnen hinaus, zur Kollision mit Anderen und daher zur z w a n g s w e i s e n Abgrenzung der Interessen. „Der letzte Keim des Zwanges als einer sozialen Institution . . . . liegt in dem Individuum — der Daseinszweck des Individuums ist auf Erden ohne Zwang nicht zu realisieren I ) . " Damit ist aber die Immanenz des Rechts b e h a u p t e t 2 ) . Im Hintergrunde der gesamten geschichtlichen Bewegung des Rechts steht jener psychologische Faktor immer als treibende K r a f t ; ja, diese ganze Bewegung ist nichts als eine wechselnde Reproduktion jenes Faktors 3); und würde das Recht einmal zerstört werden, es müßte mit psychologischer Notwendigkeit wieder zurückkehren. II. Gehen wir zu den objektiven Offenbarungsformen des Rechts über, so unterscheidet I h e r i n g gemäß den -beiden I ) Zw. i. R. I 291. Andeutungen bereits bei P u c h t a : „Das Recht entspringt dem Triebe des Menschen, das außer ihm Seiende auf sich zu beziehen" (Instit. 6. Aufl. S. 9). 3 ) Zu demselben Resultat gelangt auf einem anderen Wege auch K n a p p . Ihm ist das Recht eine ebenso immanente Funktion unserer Psyche wie die Erkenntnis und die Ästhetik. Alle drei Funktionen gehen auf „Einheit des Denkens und des vorgestellten Gegenstandes". Im Gegensatz aber zu dem intellektuellen Ursprung der Erkenntnis und der Ästhetik entspringt das Recht dem Willen („dem muskelerregenden Denken"). Auf dem Wege der Betätigung des wollenden Menschen nach außen, die zur sozialen Vereinigung und Kollision führt, entsteht das Gattungsbewußtsein. Zwischen dem Einzelnen und der Gattung entspinnt sich ein fortwährender Prozeß. Die vermöge des Gattungsbewußtseins erfolgende Entsagung ist Sittlichkeit. Der im Namen der Gattung geübte Zwang ist das Recht. K n a p p , System der Rechtsphilosophie, S. 133 ff., 143, 146, 155.— Auch hier sehen wir eine große Ähnlichkeit mit lhering und seiner Lehre von der Gesellschaft als „Quelle der Sittlichkeit". — Vgl. insbes. Zw. i. R. Bd. II.
3) Vgl. unt. S. 18 über die Grundidee des „Kampfs ums Recht".
(432)
H
Elementen seines Rechtsbegriffs, dem normativen und dem f a k t i s c h e n z w e i Modalitäten der Rechtsentstehung *). 1. Wo das Recht aus der Macht entsteht, dort vollzieht sich dieser Übergang durch die dauernde Normierung der tatsächlichen Machtverhältnisse, d. h. durch die Statuierung dauernder beiderseitiger Pflichten und Rechte und damit eines o b j e k t i v e n oder neutralen Maßstabs zur Beurteilung des b e i d e r s e i t i g e n Handelns — durch die „Verwandlung der tatsächlichen Ordnung in eine rechtlich geltende Ordnung" (Z i t e 1 m a n n ) 3). 2. „Die Norm gelangt zur Gewalt", d. h. die Gemeinsamkeit der Interessen ruft eine Norm ins Leben und sichert ihr die zu ihrer Verwirklichung erforderliche Macht. — Diese Systematik der objektiven oder sozialen Erscheinungsformen des Rechts deckt sich vollständig — und diese Kongruenz ist natürlich keine zufällige — mit derjenigen Systematik, in die die Phänomenologie der sozialen Verhältnisse selbst, wie ein neuerer Philosoph nachgewiesen hat 4), zusammengefaßt werden kann, indem diese sämtlich, trotz der Mannigfaltigkeit im Einzelnen, entweder dem sozialen Übereinander- oder Herrschaftsprinzip oder aber dem sozialen Nebeneinanderprinzip unterfallen.
§ 2. Recht und Moral. I. Gegenüber den sozial- und rechtsphilosophischen Lehren, die in welcher Weise auch immer den Nachweis der Identität zwischen Recht und Moral erstreben, kehrt das Bewußtssein der Heterogenität beider in den anderen Systemen von je her bis auf unsere Zeit in den verschiedensten Formen immer wieder. ') Vgl. dazu G. d. r. R. I 26, Unsere Aufgabe S. 42 (vgl. auch unt. S. 60). ) Im folgenden ist nur auf die Stelle Zw. i. R. I 241 ff. Bezug genommen, nicht dagegen z. B. auf Zw. i. R. I 496 ff. In der Aufzählung der verschiedensten Interessen oder „Lebensbedingungen", denen das Recht dient, kann unmöglich die Lösung des hier zu behandelnden Problems gefunden werden. 2
3) Vgl. unt. S. 24. ) a. a. 0 . S. 178 f. 3) a. a. O. S. 182. 4) „Da, wo Beobachtung des Völkerrechts mit der Existenz des Staats in Konflikt kommt, tritt hingegen die Rechtsregel zurück, weil der S t a a t höher steht als jeder einzelne Rechtssatz, wie ja schon die Betrachtung der innerstaatlichen Rechtsverhältnisse gelehrt h a t : das Völkerrecht ist der Staaten, nicht aber sind die Staaten des Völkerrechts wegen d a , " sagt J e 11 i n e k a. a. 0 . S. 366. Man muß sich aber stets vor Augen halten, daß die „Existenz" gerade beim Staate ein sehr elastischer Begriff ist und die Anormalität des von J . bezeichneten Falles eine durchaus verschiedene im Völkerrechte und im innerstaatlichen Rechte ist. — Mit der von J e 11 i n e k angeschnittenen Frage hängt zum Teil die der „Clausula rebus sie stantibus" zusammen. Diese kennt freilich auch das innerstaatliche Recht, ich verweise nur auf § 321 und 610 BGB. Aber hier beruht sie auf ausdrücklicher Vorschrift des Gesetzgebers und ist durchaus sporadisch, was von der völkerrechtlichen Klausel doch in derselben Weise nicht behauptet werden kann (vgl. v. L i s z t a. a. 0 . S. 167 ff.). W i n d s c h e i d s „Voraussetzung" ist als dem Wesen des Privatrechts zuwiderlaufend von der weitaus überwiegenden Meinung (auch von K i p p ) abgelehnt worden. Vgl. W i n d s c h e i d - K i p p , Pandektenrecht, 9. Aufl. S. 509 f. Eine interessante Zusammenstellung der verschiedenen Ansichten, insbesondere im Hinblick auf erzwungene völkerrechtliche „Willenserklärungen", findet der Leser bei F. K. N e u b e c k e r , Zwang und Notstand (Leipzig 1910) S. 134 ff. Verfasser betont mit Recht das „generelle" Recht „der Selbsthülfe im Völkerrecht" (158) S. 162 sagt e r : „Es besteht nur der Unterschied, daß
33
(450
objektiven Rechts im materiellen Sinne ist immer und überall Hand in Hand mit der Konstituierung neutraler Rechtsinstanzen im prozessualen Sinne, d. h. einer unabhängigen Rechtspflege gegangen; und das Völkerrecht kann nicht von diesem Entwicklungsgesetz eine Ausnahme bilden. Zutreffend muß daher die Charakteristik J e 11 i n e k s gefunden werden, der trotz seiner Betonung der Garantien des Völkerrechts dasselbe „weil einer nichtorganisierten und daher keine Herrschermacht besitzenden Autorität entspringend" als a n a r c h i s c h e s Recht bezeichnet, „was zugleich seine Unvollkommenheiten und Mängel erklärt" I ).
§ 4Definition des Rechts. ,, . . . Die
wissenschaftliche
gesamtgeschichtlichen
Stoffes, den
Betrachtung ein
des
bestimmter
psychologischer Prozeß absetzt, kann nur in abstrakten, völlig inhalts- und gesinnungslosen Formeln laufen, nie aber in solchen, die sich an einen sein-sollenden, wirklichen oder gar idealen Inhalt und damit unbeweglich an die Scholle binden."
L. K n a p p.
I. Alle bisher gegebenen Definitionen des Rechts lassen sich in zwei große Gruppen einteilen. Die Einen setzen das ihnen subjektiv vorschwebende absolute End z i e l des Rechtes in den B e g r i f f des letzteren, in die Rechts d e f i n i t i o n. Die Anderen dagegen suchen lediglich das Recht in die Welt der realen Kulturfaktoren in seiner bestimmten Eigenart einzuzeichnen. In die erstere Kategorie von Rechtsdefinitionen gehört z. B. H e g e l s Begriffsbestimmung des Rechts als Idee der Freiheit oder die des Staates als Verwirklichung der sittlichen Idee; in dieselbe Kategorie gehört aber auch die von der historischen Rechtsschule gegebene Definition des Rechtes als das Völkerrecht in weitestem Maße (erlaubte) Selbsthilfe kennt, welche Privatrecht längst entschwand".
dem
Dies zwingt ihn, trotz der Betonung der Über-
einstimmung des Völkerrechts mit den „allgemeinen Grundgedanken", doch die „besondere N a t u r " des Völkerrechts zuzugeben (157). ' ) a. a. O. S. 368. A b h a n d l . d. kriminalist. Seminars.
N. F.
B d . V I , H e f t 4.
3
34
(452)
Produkt des Volksgeistes'). Das Schicksal dieser Art von Definitionen ist immer dasselbe: sobald wir sie auf das positive Recht anzuwenden versuchen, müssen sie, um nicht überhaupt gänzlich abgelehnt zu werden, sich tiefgreifende Umdeutungen, Einschränkungen und Modifikationen gefallen lassen, sie schrumpfen bei der Berührung mit der „gemeinen Wirklichkeit" zu einem Umfange zusammen, der zu ihrer ursprünglichen Gedankenerhabenheit in keinem Verhältnisse steht, und offenbaren so ihren metaphysischen Ursprung und ihre wahre Natur als absolutes Rechts i d e a l , als absoluten Wertmaß s t a b '), aber nicht als Rechts d e f i n i t i o n. Als Beispiel kann S t a h l s Philosophie des Rechtes dienen. S t a h l „beseitigt die Konsequenz seiner Lehre, daß man nur dasjenige Recht nennen könnte, dessen göttlicher Ursprung erwiesen wäre, . . . . ausdrücklich dadurch, daß er durch die menschliche Freiheit so viel in das Recht einfließen läßt, was nicht aus Gott stammt, daß das Recht der göttlichen Ordnung sogar widersprechen kann. Die Abstammung aus Gott wird dadurch für das Recht selbst ganz unwesentlich" 3). — Die Begriffsbestimmungen der zweiten Art hingegen, die das Recht als einen Prozeß fassen, können mit Fug der „Philosophie des p o s i t i v e n Rechts" zugerechnet werden. Zu ihnen gehört z. B. die Rechtsdefinition K n a p p s , der das Recht als muskuläre Unterwerfung des Menschen unter das vorgestellte Gattungsinteresse bestimmt. Derselben Art ist auch die Begriffsbestimmung I h e r i n g s , der in Übereinstimmung mit seiner Lehre von der sozialen Entstehung des Rechts 4) oder der Gesellschaft als „Zwecksubjekt" des Rechts dieses als „Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft ") Denn „die historische Schule . . . . hat nur darin gefehlt, daß sie das, was ein fernes Ideal ist und ein beständiges Ziel unseres Strebens bleiben muß, . . . . eine Rechtsordnung, die alle Volksklassen als ihr geistiges Produkt anerkennen würden . . . . schon als lebende Wirklichkeit aufgefaßt hat". A. M e n g e r , Das bürgerl. Recht usw. a. a. 0 . S. 7. 2
) Dies verleitet G u t h e r z , Studien zur Gesetzestechnik I 33 (Breslau 1908) zu der Verallgemeinerung: „ J e d e Rechtsdefinition enthält mehr oder minder die Keime zu einem Naturrecht in sich." 3) G u t h e r z a. a. 0 . S. 41. «) Vgl. oben S. 12 ff.
35
(453)
in Form des Zwanges" definiert I ). Sie kann auf jede positive Rechtsnorm angewandt und somit der zeitlichen und örtlichen Variabilität des Rechts gerecht werden. Denn sie ist eine, wie K n a p p treffend s a g t 2 ) , „gesinnungslose" Formel genug, um gleichmäßig jeden positiven Rechtsinhalt in sich zu fassen 3). II. Ein kritischer Einwand steht freilich dieser Definition entgegen. E r richtet sich nämlich gegen ihre Verwendung des Einheitsbegriffs der „Gesellschaft", genau so, wie gegen den Einheitsbegriff der „Volksüberzeugung" in der Rechtsdefinition der historischen Schule, und betont beiden gegenüber die Heterogeneität des sozialen Substrats des Rechts selbst 4). Indessen scheint es, daß hierbei die Verschiedenheit der beiden kritisierten Begriffe übersehen wäre. Während nämlich die Theorie der Volksüberzeugung diese letztere unmöglich lediglich im relativen Sinne eines regulativen Prinzips, sondern in dem absoluten Sinne einer unmittelbar schaffenden Gesamtkraft nimmt, 5) postuliert I h e r i n g s abstrakte Formel (vgl. oben) jenen relativen Sinn geradezu. Nehmen wir den Begriff der Gesellschaft nicht im mechanischen oder atomistischen, sondern im organischen Sinne, dann scheint jener Einwand hinfällig zu werden. Denn von diesem Standpunkte aus erscheinen die allerverschiedensten sozialen Prinzipien, auch diejenigen, die eine heterogene Strtiktur •) Zw. i. R . I S. 443 fl. ' ) In dem dieser Ausführungen vorangestellten Zitat, System der Rechtsphil. S. 162 f. und S. 201. 3) Vgl. auch J e 11 i n e k , Die sozialethische Bedeutung von Recht usw. 2. Aufl. 1908, S. 46. 4) Vgl. schon Z i t e l m a n n , Gewohnheitsrecht und Irrtum im Arch. f. Zivilist. Praxis, Bd. 66, S. 421: „So viele Einzelne auch in Wort und Tat übereinstimmen mögen: immer bleibt die Tatsache unausweichlich richtig, daß diese Mehrheit von Einzelnen nicht die Nation bzw. die betreifende Volksabteilung ist. Und daraus ergibt sich, wie mir scheint ebenfalls unausweichlich, daß die Gesamtüberzeugung keine Möglichkeit hat zu erscheinen und Gegenstand unseres Wissens zu werden." Vgl. ferner S t a m m l e r , Wirtsch. u. Recht, 1. Aufl. S. 316: „Man hat längst bemerkt, daß . . . eine einstimmige Überzeugung von dem, was Rechtens sei oder werden soll, historisch noch nie aufgewiesen worden ist, sondern alle uns bekannte geschichtliche Rechtsbildung sich gegen Widerspruch und Widerstreben einzelner Teile des Volkes vollzogen h a t . " Noch schärfer A. M e n g e r a. a. O. S. 6. 5) Vgl. S t a m m l e r a. a. O. S. 318: der Volksgeist— „das bestimmende Agens, das . . . . . als nationales a priori eine zwingende Kausalität ausübte." 3*
(454)
36
der Gesellschaft bedingen, also nicht nur demokratische, sondern auch
aristokratische,
Zwecksubjekt immer
—
nur
als regulative
Prinzipien,
deren
das soziale Ganze i s t * ) , und die inneren
W a n d l u n g e n dieses Ganzen selbst im Grunde nur als die des jeweiligen regulativen sozialen Prinzips 2 ).
§ 5-
Rechtspolitik. „Die gesamte Rechtsphilosophie des neunzehnten Jahrhunderts hat sich damit abgemüht, einen eigenen absoluten Sinn der sozialen Zusammenhänge zu behaupten, ohne dabei die vom achtzehnten Jahrhundert erkämpfte Anerkennung des Individuums als eines absoluten
Selbstzweckes
preisgeben zu
Lask,
müssen."
Rechtsphilosophie.
I. A u s den oben e n t w i c k e l t e n B e g r i f f s m e r k m a l e n des R e c h t s ergeben sich f ü r I h e r i n g w i c h t i g e
r e c h t s p o l i t i s c h e
' ) Vgl. J e 11 i n e k , Die sozialeth. Bedeutung usw. a. a. O.:
„ D e m Rechte
wohnt der Zweck inne, einen bestimmten Zustand der Gesellschaft zu erhalten. . . .
Ob der Despot seiner grausamen Natur entsprungene, schreckensvolle Befehle
erläßt, ob ein abergläubisches und unduldsames Volk Zauberei und Ketzerei mit dem Tode bedroht, ob der moderne Kulturstaat minutiöse Bestimmungen über Organisation der Schulen, Eisenbahnen, Banken usw. erläßt, immer handelt es sich, wenigstens nach der Meinung der rechtssetzenden Gewalt, um die Konservierung eines wertvollen oder doch für wertvoll gehaltenen Objektes . . . ".
Darauf
beruht nach J e 11 i n e k der s o z i a l ethische Charakter des Rechtes. (Vgl. auch Allg. Staatslehre I 2. Aufl. S. 230.)— Auch K n a p p spricht, wie wir oben gesehen, in seiner Definition nur vom „vorgestellten" und passim in seinem Werke vom „wirklichen und vermeintlichen" 3)
Ih er ing
„Gattungsinteresse".
selbst schildert uns den parallelen Wandel des regulativen
Sozialprinzips und der Gesellschaft selbst ait der Entwicklung der Strafe:
„Die
Theokratie stempelt die Gotteslästerung und Abgötterei zu einem todeswürdigen Verbrechen, während sie in der Grenzverrückung nur ein einfaches Vergehen erblickt (mosaisches Recht). Der Ackerbau treibende Staat dagegen wird umgekehrt letztere mit der ganzen Wucht der Strafe heimsuchen, während er den Gotteslästerer mit mildester Strafe davon läßt (altröm. Recht).
Der Handelsstaat wird Münzfälschung
und überhaupt Fälschung, der Militärstaat Insubordination, Dienstvergehen usw., der absolute Staat das Majestätsverbrechen, die Republik das Streben nach königlicher Gewalt an die erste Stelle rücken . . . "
Kampf ums Recht, 7. Aufl., S. 32.
Vgl. Zw. i. R. I S. 492 („Die Strafe als Wertmesser der sozialen Güter").
(455)
37
Forderungen. In der T a t : unterscheidet sich das Recht von allen übrigen Kulturmächten und -ideen „dadurch, daß es sich zu seiner Verwirklichung des Zwanges bedient", so folgt daraus, daß, „ j e weiter das Recht sein Gebiet ausdehnt, um so kleiner das Freiheitsgebiet bleibt, welches dem Menschen übrig bleibt, und wenn wir uns denken, daß es den ganzen Inhalt jener andern Ideen in sich aufnähme, daß die Gebote der Moral, die Sitte des Lebens, die Dogmen und Anforderungen der Religion, der nationale Kanon des Schönen, Wahren, Zweckmäßigen zu Rechtssätzen gestempelt würden, so wäre das Individuum damit zu einem Automaten gemacht, der, durch das Gesetz aufgezogen, lediglich diejenigen Bewegungen ausführen würde, die das Gesetz ihm vorgezeichnet hätte" I ). Damit würde nicht nur das Individuum, sondern auch der Staat „von der Höhe seiner Bestimmung, die ihn über die natürliche Welt erhebt, zu dem niedern Standpunkt der letzteren hinuntersteigen * ) . " Aber es scheint, daß der Wert der Freiheit für I h e r i n g nicht allein in der Moral liegt. Er spricht nicht nur von dem „moralischen", sondern auch von dem „intellektuellen Schwung der Freiheit", vom schöpferischen Beruf der freien Persönlichkeits). Das Recht und namentlich der Rechtsformalismus trägt also nach I h e r i n g s Auffassung auch ein kulturwidriges Moment in sich. Dieses kann auch von einer anderen Seite eingesehen werden. Das Recht tendiert kraft seiner Positivität nach der Stabilisierung der gegebenen geschichtlichen Voraussetzungen, denen es entspringt; jedes positive Recht hat mehr oder minder einen Antrieb zum Naturrecht in sich, •— während der Entwicklungsgedanke dagegen nicht nur eine fortschreitende Veränderung des Bestehenden in sich begreift, sondern außerdem auch Möglichkeiten spontaner Entwicklung verlangt. Die Rechtfertigung des Rechts in dieser Hinsicht und zugleich die Aufgabe eines jeden Kulturrechts kann daher nur in einer Gestaltung des Rechts liegen, die seinen realen geschichtlichen Voraussetzungen gerecht wird, zugleich aber im Rechte selbst *) G. d. r. R. II 23 f. ) „ D a s System der Freiheit und Unfreiheit" G. d. r. R. II 127. 3) a. a. O. S. 127 f. J
3«
(456)
einen freien Raum für jene spontane Entwicklung offen läßt *). Der Staat muß immer dessen eingedenk sein, daß er nie der Schöpfer, sondern immer nur der Vollzieher von Kulturideen ist, die im Schöße der freien Gesellschaft entstehen und ausgetragen werden, und daher der Freiheit und Initiative des Einzelnen und der sozialen Gruppen Betätigungsmöglichkeit gewähren. Kann dem Staate das Recht zu gesetzlichen Beschränkungen auch nicht bestritten werden, mögen die Grenzen der staatlichen Wirksamkeit auch „ewig flüssige" und eine gegenständliche Fixierung derselben unmöglich sein 2 ), — so ist trotzdem stets eine, durch das Kultur- und Staatsinteresse schließlich selbst gebotene Grenze die Wahrung der individuellen und sozialen „Fähigkeit zur Selbstbestimmung" als Bedingung der Kulturentwicklung selbst. Der Staat hat sich daher — freilich nur bei entsprechender intellektueller und moralischer Reife des Volkes — darauf zu „beschränken, die Erreichbarkeit jener Ziele („der höchsten Aufgaben des Gattungslebens") bloß zu ermöglichen und zu erleichtern 3), die Verfolgung selbst aber dem freien Walten des sittlichen Geistes und der Selbsttätigkeit der nationalen und individuellen Intelligenz anheimzustellen" 4). — So vereinigt das Recht gleichsam zwei entgegengesetzte Elemente in sich: es ist einerseits Freiheitsbeschränkung, andererseits aber, weil die individuelle (und soziale) Freiheit doch durch das Recht selbst gewährleistet wird — Freiheitsbedingung. Es verkörpert durch die ihm innewohnende Gleichmäßigkeit die Statik der Gesellschaft, durch die Gewährung aber der subjektiven und Autonomierechte der verschiedensten Art begreift ») Als Beispiel gelte der interessante Satz:
„Das Recht auf den Streik stellt
den gesamten kapitalistischen Vertrag in Frage und erhebt so die Auslösung revolutionärer Energie
zur n o r m a l e n
K o i g e n a. a. O. S. 180 f.
Erscheinung unseres Alltagslebens."
D.
Dieser Satz gibt m. E . die innerste ratio legis der ge-
werblichen Koalitionsfreiheit wieder, die auf die rechtliche Erlaubnis eines Kontraktbruchs hinausläuft.
(Über den § 152 der Reichsgewerbeordnung, seine Geschichte
und Literatur vgl. meine Schrift:
„Die Imperativentheorie und der § HO des
R S t G B . S. 37 ff.) ») Zw. i. R . I S. 536, 550. 3) So scheint auch hier (vgl. oben S. 3 4 f . ) der S i c h e r u n g s zweck die materielle Grenze abzugeben. 4) G. d. r. R . I I S. 130..
(457)
39
es dynamische Elemente der sozialen Weiterentwicklung in sich. In ersterer Beziehung ist das Recht immer positiv inhaltlich bestimmt, in zweiter ist es rein formell negativ, eine „bloße Negation, bloßer Zustand des Nichtbestimmtwerdens" (I h e r i n g ) »). So ergibt sich für I h e r i n g „die höchste Aufgabe des Rechts": „nach beiden Seiten hin, nach der des natürlichen Individuums und der künstlichen Individuen und Willenssubjekte (d. h. „der höheren Ordnungen dauerhafter Art) dem Willen die richtigen Bahnen anzuweisen, ihn innerhalb derselben zu sichern und seine Macht zu steigern" 2 ); „das höchste Recht des Menschen und ein unentbehrliches Mittel zu seiner sittlichen Selbsterziehung — seine schöpferische Tätigkeit zu entfalten" 3). „Staat und Persönlichkeit", Sozialethik und Individualethik sollen nicht das Eine auf Kosten des Andern überwuchern 4). Der absolute Maßstab, nach dem jedes „einzelne positive Recht" „bemessen", werden soll und ein „absolutes Ideal, dem jedes Volk nachzustreben hat" 5), ist ein Staat, der seine rechtliche Wirksamkeit in der oben geschilderten Weise gestaltet. Wir sehen: auch eine positivistische Rechtsphilosophie kann ohne Rechtsideale nicht auskommen! 6 ) Nur sind diese Ideale nicht aprioristisch aus einem Begriff abgeleitet, sie stellen vielmehr nur Kulturbedingungen dar 7). Analog dem sozialphilosophischen Wert des Rechts selbst ist der des Rechtsformalismus. Auch er liegt in der Synthese J
) Ansätze zu einer solchen „negativen" Auffassung der Rechtsfreiheit sind bereits bei P u c h t a , Instit. 6. Aufl. S. 8 f. vorhanden. *) G. d. r. R. II S. 24. 3) „Das System der Freiheit und Unfreiheit", a. a. O. S. 128. 4) a. a. O. S. 130. Vgl. auch Zw. i. R. I S. 67, 99. — Interessant ist auch hier (vgl. unten Buch II Kap. 2) die Parallele zwischen Ihering (vgl. insbes. G. d. r. R. a. a. O.) und der Strafrechtsphilcsophie v. L i s z t s — vgl. dessen Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge Bd. II (1905) S. 60 („Schutzstrafe und persönliche Freiheit"). 3) „System der Freiheit und Unfreiheit" S. 131. Vgl. auch a. a. 0. S. 24, 25. ') Das ist gegen v. P e t r a i y c k i (Einführung in das Studium des Rechts und der Ethik, Petersb. 07, 2. Aufl. V, VI) zu bemerken. ' ) (Vgl. auch unt. S. 78 Anm. 1). — Der im Texte betonte Dualismus wiederholt sich im rechtspolitischen System der soziologischen Strafrechtschule —• vgl. unt. über die inneren Antinomien dieses Systems (unt. S. 121 ff.).
40
(458)
des sozialen und des individuellen Moments. Denn vermittelst der Allgemeingültigkeit, Ausnahmslosigkeit und Verbindlichkeit seiner Imperative wahrt das Recht das Moment des Allgemeinen, verwirklicht aber zugleich die Idee der abstrakten Persönlichkeit und schützt durch die in der Form liegenden Beschränkung dag Individuum vor der Omnipotenz des Staates*). Über derji personalistischen Wert des Rechtsformalismus 2 ) entgeht aber I h e r i n g die Kehrseite derselben — die isolierende Wirkung, die besonders scharf von T ö n n i e s 3) betont und charakterisiert worden ist. II. Dieselben Gegensätze und derselbe Dualismus, die uns bei der Betrachtung der Rechtsideale I h e r i n g s sich ergaben, begegnen uns auch, wenn wir von den Höhen der Sozialphilosophie des Rechts zu den konkreten rechtspolitischen Fragen und I h e r i n g s Stellungnahme zu ihnen übergehen. Bei seiner Kritik des „Zweck im Recht" kommt L a s s o n zu dem Ergebnis, daß I h e r i n g „schließlich beim reinen Sozialismus anlangt" 4). Genau das Gegenteil folgert ein anderer Kritiker Iherings — Kühnast. Er meint, daß „ I h e r i n g s Philosophie zuvörderst eine antisozialistische Reaktion ist . . . . diese liegt in der Bewegung seines Prinzips. Wird der Egoismus zu der Bedeutung eines Naturgesetzes erhoben, so folgt aus ') I h e r i n g betont sowohl den ethischen, als den politischen Wert der Form. „Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit. Denn die Form hält der Verlockung der Freiheit zur Zügellosigkeit das Gegengewicht, sie lenkt die Freiheitssubstanz in feste Bahnen, daß sie sich nicht zerstreue, verlaufe, sie kräftigt sie nach innen, schützt sie nach außen. . . . Das Volk besitzt in seinen Formen das Palladium der Freiheit", G. d. r. R. II S. 471 f. In der Betonung des ethischen Moments (vgl. den zweitzitierten Satz) ist der K o h e n sehe Gedanke antizipiert, daß der absolute Wert des Rechtsformalismus in der „Erlösung des Willens von seiner Zwiespältigkeit und Unberechenbarkeit, von den Schranken des Eigensinns und der Selbstsucht" besteht (nach L a s k , Rechtsphilosophie, S- 295)2 ) „Die Angst des Ichs in der Welt, welche die natürliche Empfindung des rein auf sich selber angewiesenen belebten Atoms ist, diese Angst ist mit der höheren Macht, an der es seinen Halt gewonnen hat, abgetan, es fühlt sie in sich und sich in ihr. An die Stelle der Angst und der Furcht ist getreten ein festes, unerschütterliches Sicherheitsgefühl." Zw. i. R. I S. 385. 3) Gemeinschaft und Gesellschaft. 1887. 4) L a s s o n XV S. 154.
(459)
4i
diesem Gesetz die Unmöglichkeit, mit einem Ideal kollektiver Organisation diesen selbstischen Antrieb zur Selbsterhaltung, zur Vermögens- und Rechtsherrschaft zu überfliegen" usw. I ). Die beiden Kritiker haben Recht und die beiden Unrecht, da jeder von ihnen nur die eine Hälfte der Sache erblickt und die andere übersieht. Denn um den wirklichen rechtspolitischen Standpunkt I h e r i n g s näher mit einem modernen Ausdruck zu bezeichnen, so ist es der s t a a t s s o z i a l i s t i s c h e Standpunkt. Und das erklärt uns auch vollkommen die oben erwähnte Meinungsverschiedenheit. Besteht doch in der Tat die methodologische Eigenheit des Staatssozialismus gerade darin, daß er seine sozialphilosophischen Bestandteile den beiden rechtspolitischen Extremen: dem Individualismus und dem Sozialismus entlehnt und in sich zu versöhnen sucht. Genau wie die staatssozialistischen Theoretiker hat I h e r i n g die „gesellschaftliche Bestimmung des Rechts", insbesondere des Eigentums, betont und der individualistischen die gesellschaftliche Eigentums- und Vertragstheorie entgegengesetzt 2 ), die dem Staate eine Berechtigung zu weitgehenden Eingriffen in die Privatrechtssphäre im Interesse der Gesellschaft gibt 3). Zu demselben Standpunkte führt auch das von ihm formulierte Entwicklungsgesetz, wonach die gesellschaftlichen Zwecke geschichtlich zunächst von den Einzelnen, dann von den Vereinen und schließlich vom Staate verwirklicht werden 4). Genau wie die Staatssozialisten (insbesondere A. W a g n e r ) erblickt auch er ferner die Aufgabe der Zukunft darin, „in Form gesteigerter Einkommen-, Erbschafts-, Luxus- und anderer Steuern auf das Privateigentum einen Druck auszuüben, welcher dem Ubermaße seiner Anhäufung auf einzelnen Punkten vorbeugt und, indem er den Überschuß in die Staatskasse abführt, damit die Möglichkeit gewährt, den K ü h n a s t S. 158. ») Zw. i. R. I S. 267S., 515fr. Vgl. schon G. d. r. R. II S. 71 u. 218 ff. („Objektivität des Freiheitsbegriffs"). 3) Es ist interessant, daß I h e r i n g gegenüber dem Gedanken der patria potestas die Notwendigkeit der Zwangserziehung wegen sittlicher Verwahrlosung der Kinder betont und auch für die Zukunft mit aller Bestimmtheit prophezeit Vgl. Zw. i. R. I S. 518. 4) a. a. O. S. 305—307-
(460)
42
Druck auf andere Teile des gesellschaftlichen Körpers zu verringern und eine den Interessen der Gesellschaft mehr entsprechende, d. i. g e r e c h t e r e (vgl. Zw. i. R . I 369) Verteilung der Güter dieser Welt herbeizuführen" *). E r behauptet endlich mit aller Bestimmtheit den Sieg der gesellschaftlichen Rechtstheorie für die Zukunft: „Man braucht nicht Prophet zu sein, um zu wissen, daß diese gesellschaftliche Auffassung des Privatrechts der individualistischen mehr und mehr Boden abgewinnen wird" 2 ) usw. — Aber andererseits betont er, wiederum wie die Staatssozialisten, auch die Notwendigkeit des Individualismus. Neben den gesellschaftlichen Zwecken, die „der Staat bereits absorbiert h a t " (vgl. oben), erkennt er neue Zwecke an, die „das Lebensbedürfnis der Gesellschaft jederzeit hervortreibt, die dem Staate fremd sind und solange ein von ihm abgesondertes selbständiges Dasein führen" 3). Neben den „privatrechtlichen Beschränkungen des Individuums im Interesse der Gesellschaft erkennt er „das Privateigentum und das Erbrecht" an, welche „stets bestehen bleiben werden" und hält „die auf Beseitigung derselben gerichteten sozialistischen und kommunistischen Ideen für eitle Torheit "4). I I I . Zugleich hält I h e r i n g an den besten politischen Traditionen der Aufklärung fest. Den Polizeistaat betrachtet er als eine „Entwürdigung der moralischen Weltordnung" 5). — Seine Begriffsentwicklung ,, Individualgebot — einseitige Norm — Gesetz (Zw. i. R. I 339 ff.) hat für ihn die Bedeutung einer Rechtsund Geschichtsphilosophie des politischen Liberalismus. — Die letzte Garantie gegen die Willkür der Staatsgewalt erblickt er in der Kraft des nationalen Rechtsgefühls. Auf ihr „beruht in 0 a. a. O. S. 533. ) Ibid. — Diese Gedankenverwandtschaft mit dem Staatssozialismus und der Einfluß I h e r i n g s haben auch einen literarischen Ausdruck gefunden. Vgl. A d . W a g n e r , Grundlegung der polit. ökon. II. Teil, 3. Aufl., S. 12, 22 f. I h e r i n g , Zw. i. R., I S. 523. Vgl. auch M e r k e l 33: „Der soziale Utilitarismus ist heute im Bereiche der Wissenschaft eine der mächtigsten Gestalten; und seine Macht hat an I h e r i n g eine nicht verächtliche Stütze gewonnen." 2
3) Zw. i. R. I 306. 4) a. a. O. 533. 5) G. d. r. R. II 26, 126, 127.
(46I)
43
letzter Instanz die ganze Sicherheit des Rechts . . . . n i c h t auf der Verfassung . . . Was der Willkür imponiert, ist lediglich die reale Kraft, die hinter dem Gesetz steht, ein Volk, das in dem Recht die Bedingung seines Daseins erkannt hat und dessen Verletzung als eine Verletzung seiner selbst empfindet, ein Volk, von dem zu gewärtigen ist, daß es äußerstenfalls für sein Recht in die Schranken tritt" J ). — Neben dieser „inneren Garantie" des Rechtsstaates erblickt er die äußere in der Rechtspflege und stellt die Forderung schärfster Trennung von Justiz und Verwaltung auf l ). — Das Recht ist ihm die eigentlichste Verkörperung der Gleichheitsidee überhaupt. — Der moralische Wert der konstanten Rechtsverwirklichung besteht in der Bedeutung der Rechtssicherheit für die Entwicklung des Charakters" 3). — Die Eingriffe des Staates in die äußere Rechtssphäre, deren Berechtigung und Notwendigkeit I h e r i n g in seinem Zweck im Recht nachweist, sind mit der Unantastbarkeit der inneren autonomen sittlichen Freiheit, wie er sie sich vorstellt (vgl. oben) m. E. wohl vereinbar. Liefert doch uns die Gegenwart selbst den Beweis dafür in dem parallelen Wachstum der, Staatsaufgaben und des Persönlichkeitsbewußtseins und gründet sich doch nicht zuletzt auf dieses Bewußtsein (so insbes. in der Arbeiterschutzgesetzgebung) schließlich auch der Staatssozialismus selbst 4). ') Zw. i. R. I 381. ) a. a. 0 . 387 ff. 3) a . a . O . 384 ff. Vgl. auch S. 356: Der Fatalismus als Lebensphilosophie der Despotie. 4) Auf diese parallele Entwicklung weist auch S i m m e l hin in seinen Ausführungen über die Rationalisierung des Lebens durch das Recht. Er glaubt, „daß der moderne Entpersonalierungsprozeß nur die Außenseiten des Lebens ergreift, daß also die Persönlichkeit sich zwar mit gewissen Partikelchen ihres Wesens immer mehr unpersönlichen Organisationen unterordne, dagegen desto schärfer ein nicht zu verdinglichender Persönlichkeitskern sich von allen seinen absplitterbaren Bruchteilen unterscheide und unangreifbar erhalte" (nach L a s k Rechtsphilosophie 293). J
(462)
44
6.
§
Die juristische Methodologie. „ Z w e i einander durchdringende Momente
kon-
stituieren das spezifisch juristische Verhalten gegenüber der Wirklichkeit: geleitete
Umsetzung
Gedankenwelt verbundene
Die von
des realen
reiner
Zweckbeziehungen Substrats
Bedeutungen
Herausfaserung
bloßer
der Totalität des Erlebbaren.
und
in
die
eine damit
Teilinhalte
aus
Glänzend hat bereits
Ihering diese zersetzende Funktion von Recht und Rechtswissenschaft
geschildert.
Sein
„Geist
des
römischen Rechts" ist ein Werk, dem der Ruhm einer ersten umfassenden Untersuchung über den Rechtsformalismus gebührt . . . "
I. E s
scheint,
daß
Systems von I h e r i n g der juristischen T e c h n i k .
kein
Teil
des
Lask.
rechtsphilosophischen
unbestrittener dasteht, als seine Theorie A u c h seine Gegner erkennen sie an *).
Seine G r u n d g e d a n k e n h a b e n die Grundlage auch f ü r die neueren Forschungen zur Methodologie der Jurisprudenz
abgegeben
A n s ä t z e zu einer R e c h t s m e t h o d o l o g i e finden sich in der I h e r i n g vorangegangenen und P u c h t a.
Rechtsphilosophie
namentlich
bei
Hegel
A b e r die erste umfassende U n t e r s u c h u n g des
juristischen Denkens, die S c h a f f u n g des eigentlichen der R e c h t s t e c h n i k ist und bleibt, wie L a s k
S y s t e m s
in seinen eingangs
dieses P a r a g r a p h e n zitierten W o r t e n m i t R e c h t betont, die T a t I h e r i n g s. D i e juristische Methodologie im weiteren Sinne als
Kritik
sowohl der rechtlichen als der rechtswissenschaftlichen Begriffsbildung, h a t zwei H a u p t t h e m a t a : die eigentümliche
sie untersucht in erster Linie
und einheitliche
Stellungnahme
des
Rechts
und der Jurisprudenz z u m vorjuristischen Lebens- und K u l t u r substrat, also die U m p r ä g u n g
des vorrechtlichen Materials in
Rechtsbegriffe, in zweiter Linie den systematischen Z u s a m m e n 0 Vgl. insbes. P e t r a z y c k i ergiebig"). Zu vgl. L a s k 305 ff.
415.
M i t t e i s 657 („ebenso glanzvoll als
(463)
45
hang der juristischen Begriffe untereinander oder die Systemform der Jurisprudenz *). II. In ersterer Hinsicht bringt das ganze Werk I h e r i n g s (der G. d. r. R.), — auch abgesehen von der speziellen Darlegung der „juristischen Technik" — die „Herausfaserung bloßer Teilinhalte aus der Totalität" des Lebens (L a s k) durch das Recht in den verschiedensten Formen zur Darstellung. Schon der eingangs des Werkes geschilderte römische Universalstaat verkörpert den Gegensatz zwischen dem abstrakten Staats- und Rechtsbegriff einer — und dem natürlichen Volksbegriff andererseits durch die Vielheit der in der Staatseinheit Roms vereinigten Völker 3 ); so verkörpert ferner die schriftliche Fixierung des Rechts seinen „Selbständigkeitstrieb" und fördert seine Verselbständigung von heterogenen Lebenselementen, die noch dem ungeschriebenen Gewohnheitsrecht anhafteten 3); die dem Rechte innewohnende Differenzierungskraft zeigt sich auch in der Festsetzung der strafrechtlichen Tatbestände: diese beenden die Herrschaft des „Totaleindrucks" im Strafrechte 4) usw. usw. —• Die Bearbeitung des Lebenssubstrats durch das Recht kennzeichnet sich nach I h e r i n g durch das Moment der „Generalisierung", d. h. durch die „Bildung von Klassen und Aufstellung von Regeln für dieselben" 5). Diese juristische ') Dieser Satz ist wörtlich den Ausführungen L a s k s über die „Methodologie der Rechtswissenschaft" (Rechtsphilosophie 305 f.) entnommen und nach ihm die folgende Darstellung disponiert, so daß diese von der Disposition I h e r i n g s abweicht und zum Teil aus den verschiedensten Partien seiner Schriften zusammengetragen werden mußte. 2
) G. d. r. R . I 1 ff.
3) G. d. r. R. II 28 ff. 4) a. a. 0 . 45 ff. — Die Differenzierung des Zivil- und Strafrechts aus ihrer ursprünglichen Einheit (vgl. dazu außer dem folgenden auch Vorgeschichte der Indoeuropäer, S. 78) legt in spezieller Untersuchung die Schrift: „Das Schuldmoment im römischen Privatrecht" (Gießen 1867) dar. 5) G. d. r. R. II 92 ff. Diese auf objektive Unterscheidungskriterien sich gründende Klassifizierung äußert sich dogmatisch in den „rechtlichen Verschiedenheiten". Im Gegensatz hierzu befinden sich die rechtlichen Ungleichheiten", d. h. durch keine objektive Verschiedenheiten gerechtfertigte Aufstellung objektiver Rechtssätze zugunsten resp. ungunsten bestimmter Personenklassen, die sogen. Privilegien (priv. favorabilia und odiosa), die I h e r i n g daher als „Abweichungen von der Regel des Rechts" bezeichnet.
46
(464)
Klassifizierung lehnt sich zum Teil an die natürlichen Unterschiede der realen Welt selbst an — dahin gehören z. B . die „rechtlichen Verschiedenheiten" von Mann und Frau, von Mündigen und Unmündigen usw.; zum Teil an die bereits vorrechtlich vollzogene Kulturdifferenzierung, wie z. B . an die Berufsbildung (Handelsrecht, Militärrecht); zum Teil endlich ist sie eine selbständige Schöpfung der Jurisprudenz selber, wie z. B . die juristische Teilbarkeit (resp. Unteilbarkeit) von Sachen und Rechten J ). Die Generalisierungsart wechselt nach Zeit und Ort: sie kann eine mehr „zentralisierende" oder eine „partikularisierende", d. h. immer engere Kreise ziehende, auf die „Ausbildung des Besonderen" gerichtet sein. Das einheitliche römische Recht einerseits und das außerordentlich zersplitterte deutsche Recht veranschaulichen uns diesen methodischen Gegensatz. I h e r i n g betont auf dem Gebiete des Rechts eine weitgehende vorwissenschaftliche Begriffsbildung. „Die Ansätze zur juristischen Methode finden sich in allen Rechten, selbst vor der Periode der wissenschaftlichen Jurisprudenz . . . . Die juristische Methode ist nicht etwas von außen ins Recht Hineingetragenes, sondern die mit innerer Notwendigkeit durch das Recht selbst geforderte einzige Art und Weise einer sicheren praktischen Beherrschung desselben" 2 ). — Auf dem „vorwissenschaftlichen" Wege dürften sich insbesondere viele jener konkreten Rechtsbegriffe gebildet haben, die I h e r i n g als „lokal fixierte" oder als „selbständige Rechtskörper" bezeichnet, d. h. Rechtsbegriffe, „die als solche ohne Mitwirkung irgend welcher anderer Begriffe konkrete Gestalt annehmen können" (z. B. Kaufkontrakt, eine bestimmte Servitut usw.). Sie werden vielfach durch die Lebensverhältnisse selbst, durch den „Verkehr" erzeugt worden sein. I h e r i n g selbst hat uns an einer andern Stelle seines Werkes geschildert, wie „die Autonomie des Verkehrs" Elemente künftigen objektiven Rechts schafft. 3) „Aus den Atomen der einzelnen konkreten Rechtsgeschäfte, die sich ' ) Unsere Aufgabe, S. 17. ' ) G. d. r. R. II 312. 3) a. a. O. 300 ff.
(465)
47
wesentlich stets in derselben Form und mit demselben Inhalt wiederholten, bildete sich ein abstrakter Niederschlag — der Begriff des bestimmten Rechtsgeschäfts — ein Vorgang, den die Sprache durch Bezeichnung desselben mit einem bestimmten Namen zu markieren pflegte" I ). So knüpft die eigentliche juristisch-dogmatische Technik zum Teil an eine bereits vollzogene Bearbeitung des vorrechtlichen Stoffes an. Sie scheidet durch Analyse der einzelnen konkreten oder „lokalen" Rechtsinstitute dasjenige aus, was ganzen Gruppen derselben gemeinsam ist, und gelangt auf diese Weise zur Aufstellung a l l g e m e i n e r Rechtsbegriffe 2) neben den lokalen (wie z. B. der Begriff der zweiseitigen Verträge mit allen dazu gehörenden g e m e i n s a m e n Rechtsregeln). Sie schafft ferner „unselbständige Rechtskörper", die praktisch „ohne Beziehung auf ein konkretes Rechtsverhältnis gar nicht vorkommen", die sich vielmehr immer mit einem „selbständigen Rechtskörper" verbinden müssen (wie z. B. die mora mit irgend einer konkreten Obligation). Sie abstrahiert aus dem konkreten „historischen Druchbruchspunkt" eines allgemeinen Rechtsgedankens, d. h. aus dem historisch „zur E i n h e i t e i n e s Instituts vereinigten Rechtsstoff" diesen Gedanken selbst und dehnt seine Geltung auf eine Reihe anderer, lokal verschiedener Rechtskörper aus 3) (z. B. aus der ursprünglichen „beschränkten" ' ) a. a. O. 302. J
) Diese „analytische Methode" veranschaulicht zugleich „das Gesetz der
juristischen Ökonomie".
Denn an sich wäre es denkbar, „daß man eine solche sich
öfter wiederholende Frage mit Rücksicht auf die wirkliche oder vermeintliche Besonderheit des Verhältnisses jedesmal von neuem und in anderer Weise entscheide."
Jene Methode aber, die sich auf die Existenz eines in den konkreten
Rechtsbegriffen liegenden allgemeinen Elemente gründet, „verringert das Volumen des Stoffes, indem sie der mehrfachen Behandlung eines und desselben Gedankens an verschiedenen Punkten des Systems vorbeugt". — Zur „juristischen Ökonomie" gehört ferner (neben der systematischen Anordnung des Stoffes und der juristischen Terminologie) die eigentlich nicht spezifisch juristische, sondern allgemein logische Operation der „Konzentration" des Rechtsstoffes, den das positive Recht für ein bestimmtes Verhältnis produziert hat, in eine intensivere Form (z. B. die Umwandlung einer kasuistischen Regelung in eine prinzipielle). auch „Unsere Aufgabe" S. n Anm. 3.
3) G. d. r. R. II 338 ff.
G. d. r. R. II 329 ff.; vgl.
( 4 66)
48
Erscheinungsform des Prinzips der Haftung des Prinzipals aus Verträgen seines Vertreters in der a. exerc. et instit. dieses Prinzip selbst). Das ist die „analoge Ausdehnung" (oder Auslegung), welche I h e r i n g daher definiert als „Ablösung des seiner Natur und Bestimmung nach Allgemeinen von seiner lokalen historischen Erscheinungsform" *). I I I . Ihren Höhepunkt erreicht die juristische Technik in der „Konstruktion", in der sich die Jurisprudenz selbständig und produktiv zeigt 2 ). Die juristische Konstruktion will das W e s e n (substantia) der Rechtsinstitute und Rechtsbegriffe, das Wesen der „Rechtskörper" feststellen. Diese erscheinen ihr gleichsam als lebendige Körper; die konkreten Rechtsverhältnisse, in denen verschiedene Rechtsinstitute und Rerhtsbegriffe zur Anwendung kommen — gleichsam als gegenseitige Einwirkung dieser Rechtskörper, aus der (und nicht etwa aus dem Parteiwillen oder selbst aus der Legalkonstruktion des Gesetzgebers) auch die praktischen Rechtsfolgen dieser Verhältnisse hervorgehen. So wird durch diese „naturhistorische Methode" der Rechtsstoff in „einen höheren Aggregatzustand erhoben". Das Recht wird voll lebendiger Körper, die miteinander kollidieren und sich vereinigen. Und die Ermittlung der Gesetze dieser eigenartigen Repulsion und Attraktion bildet das eigentliche Tätigkeitsfeld der juristischen Technik, die sich hier als „freie Kunst und Wissenschaft" zeigt. So wird durch die „Präzipitierung der Rechtssätze zu Rechtsbegriffen" 3) der naturalistischen Welt, aber auch den konkreten Imperativen des Gesetzgebers gegenüber eine selbständige, eigenartige Welt der juristischen Denkformen erzeugt und ' ) a. a. O. 3 4 1 — 3 4 3 .
Daher rechnet I h e r i n g
die analoge Auslegung,
obwohl sie angeblich auf Erschließung des gesetzgeberischen Willens oder eines Rechtsprinzips hinzielt (vgl. Uns. Aufg. S. 8, 9 ) , nicht der „ r e z e p t i v e n " , sondern der „produktiven" Jurisprudenz zu, denn in selbständiger „naturhistorischer" Auffassung des R e c h t s stellt sie Gattungs- und Artbegriffe fest (Uns. Aufg. S. 16). *) G . d . r . R .
I 3 6 ff., I I 357 ff.
3) In diesem Ausdruck faßt I h e r i n g
anscheinend sowohl die „juristische
Analyse" als die „juristische K o n s t r u k t i o n " in der Einheit der Verarbeitung des Rechtsstoffes
in ein wissenschaftliches
G. d. r. R . I 3 7 , 39, 42.
juristisches
System
zusammen.
—
Vgl.
49
(467)
abgesondert J ). So kommt es, daß „der Jurist da, wo der Laie nur einen Akt bemerkt, deren zwei annimmt, oder da, wo jener überhaupt keinen Akt sieht, einen oder gar mehrere statuiert, und umgekehrt da, wo ein äußerer Akt in der Tat vorliegt, denselben nicht annimmt, oder ihn in ganz anderer Weise auffaßt, als er äußerlich sich darstellt; daß er Geschäfte, die äußerlich sich durchaus gleich sehen, ganz verschieden behandelt . . . " Während ,,das Charakteristische der Anschauungsweise des Laien, möge es sich um die Auffassung des abstrakten Rechtes oder eines einzelnen Rechtsverhältnisses handeln, in dem Nicht scheiden, oder positiv ausgedrückt in der H i n g a b e a n d e n T o t a l e i n d r u c k des Verhältnisses besteht", „löst der Jurist ein Institut des Lebens, in dem er, der Laie, Ein organisches Ganzes erblickt, und das ihm jedenfalls als eine gegebene Tatsache des Lebens eines weiteren Suchens nicht mehr bedürftig erscheint, mühsam in seine einzelnen Seiten, Bestandteile auf und gewinnt jene Einheit erst künstlich auf synthetischem Wege wieder" 3). IV. Über der Selbständigkeit der Jurisprudenz, deren Darstellung doch vorzugsweise das Objekt gerade der juristischen Methodologie ist, vergißt I h e r i n g aber ihre teleologische Bestimmtheit nicht. Die Logik des Rechts kann denn" auch in der Tat nie jenen Grad der Selbständigkeit und Abgeschlossenheit erreichen, den d i e Logik besitzt. Der praktische Beruf, der Positivismus des Rechts wirkt — oft in unmerklicher Weise — ') „I h e r i n g s Ausführungen über die „Präzipitation der Rechtssätze zu Rechtsbegrifien" gehören trotz aller berechtigten Einwendungen, die man gegen ihre bilderreiche naturwissenschaftliche Terminologie erhoben hat, wohl immer noch zu den gelungensten Charakterisierungen des juristischen Denkens" ( L a s k
3i6). *) G. d. r. R. II 315 f. 3) a. a. O. 349. Es ist ganz zweifellos, daß in der charakterisierten Divergenz mit eine der Quellen der antidogmatischen Bewegung (näheres darüber unten S. 90 ff.) liegt. — Andererseits haben oft die großen Juristen, darunter auch I h e r i n g selbst, ihre Rechtsentscheidungen gerade auf Grund des (rechtlichen) Totalgefühls (Rechtsgefühls) getroffen; vgl. E c k 10. In der — w o h l kaum vollkommen erreichbaren — Harmonie des Totaleindrucks des Rechtsverhältnisses mit der juristisch-logischen Analyse des Tatbestandes muß das Ideal der Rechtsprechung liegen. Abhandl. d. kriminalist. Seminars.
N. F .
Bd. VI, Heft 4.
,
(468)
50
auch in den hohen Regionen der Rechtslogik nach, von den der Wirklichkeitsbasis näherliegenden Gebieten derselben ganz zu geschweigen. Hier greift oft die funktionelle Seite (nach I h e r i n g die „Physiologie") des Rechts, d. h. das Bedürfnis seiner Anwendbarkeit — seine „Praktikabilität" x ) — in seine („anatomische", d. h.) logische Struktur über und zwingt die Rechts begriffe von ihrer unmittelbaren logischen Reinheit nachzulassen 2 ), zwingt, „die Innerlichkeit der Begriffe auf ihre Außenseite zu verlegen" 3) (z. B. die Idee der Volljährigkeit zahlenmäßig auszudrücken). —Auch die dogmatischen Unterscheidungen ferner werden von rechtspolitischen Erwägungen geleitet. „ S o ist z. B. der Unterschied zwischen dem Irrtum im Objekt und in den Beweggründen ein begrifflich notwendiger , allein ob überhaupt dem Irrtum eine praktische Beachtung zugestanden werden soll und, wenn dies, ob bloß dem Irrtum in dem Objekt oder auch in den Motiven, das ist Sache positiver Rechtssatzung"4). Aber auch die juristische Konstruktion selbst entwickelt sich parallel mit der realen historischen Entwicklung: So ist z. B. der Begriff des juristisch Möglichen oder Unmöglichen nur scheinbar ein absoluter, in der Tat aber ein relativer 5). Die Inhaberforderung oder die Eigentümerhypothek beispielsweise erscheinen als juristische Unmöglichkeiten im römischen Rechte, sie sind möglich im Bereiche des heutigen Rechts. Diese Unselbständigkeit der juristischen Logik zwingt I h e r i n g , in nachdrücklichst betontem Gegensatz zum Standpunkt der „juristischen Dialektik", in der „ganzen logischen Gliederung des Rechts nur das Sekundäre, das Produkt der ' ) G. d. r. R . I 51 ff., I I 3 2 5 ff. Der Besitzwille 1 3 3 , 147 ff. 2
) G. d. r. R . I 53, vgl. auch S. 5 4 :
„ D e r Gedanke der formalen Realisierbar-
keit des Rechts ist also ein der logischen Innerlichkeit der Rechtsbegriffe fremdes Prinzip."
Die formale Realisierbarkeit hängt zum Teil mit dem gemeinhin sogen.
Rechtsformalismus überhaupt zusammen.
Auch in ihr wurzelt die — kaum zu
beseitigende — Möglichkeit von Rechtsmißbräuchen. § 1 7 6 Ziff. 3 S t G B .
(Man vgl. beispielsweise den
Hier bedingt der Unterschied von einem Tage den Gegensatz
von Zuchthaus und Straflosigkeit — 3) G. d. r. R . I 54. 4) G. d . r. R . I I 347. 5) G. d . r. G. I I 376.
praktischer
Fall.)
(469)
5i
Z w e c k e , denen sie dienen s o l l " , zu erblicken *).
Die juristische
L o g i k in ihrer G e s a m t h e i t erscheint nach I h e r i n g in letzter I n s t a n z nur als eine P r o j e k t i o n der R e c h t s w i r k l i c h k e i t in juristische
das
Bewußtsein. Anhang. 1. Der „Geist des römischen Rechts". „ W a s immer im einzelnen hier anfechtbar oder durch spätere Forschungen als unhaltbar erwiesen sein mag, die Gesamtleistung bleibt ein Dokument von imponierender wissenschaftlicher Kraft. Der „ G e i s t " überhaupt wird m. E. in der Geschichte der Wissenschaften einen rühmlichen Platz neben dem Geiste der Gesetze M o n t e s q u i e u s
behaupten." Merkel
(21).
„Sein Geist des römischen Rechts ist eine wahre Fundgrube der tiefsten philosophischen Erkenntnisse vom Rechte überhaupt." L a s s o n (Syst. der Rechtsphilos. S. 108).
I. Indem ich mich nunmehr anschicke, dem Leser ein k u r z e s Referat geben,
des
Inhaltes
der beiden H a u p t w e r k e I h e r i n g s
zu
b i t t e ich ihn, sich die Schwierigkeit einer solchen A u f -
g a b e v e r g e g e n w ä r t i g e n zu wollen.
D a s Folgende k a n n nur eine
e n t f e r n t e V o r s t e l l u n g geben v o n d e m P r o b l e m - und G e d a n k e n reichtum, Im
den jene W e r k e selbst enthalten. „Geiste
des
römischen
Rechts"1)
sucht
Ihering
jene A u f g a b e zu lösen, die v o n der historischen Schule unerfüllt blieb.
E r sucht hier, das römische R e c h t in seine konstituierenden
geistigen F a k t o r e n z u zerlegen. auch
ein
rechtspolitisches
Zugleich aber verfolgt das W e r k
Ziel.
Es
will
jene
Darstellungen
b e k ä m p f e n , die das reine römische R e c h t als noch fortgeltend lehren.
E s will sie b e k ä m p f e n durch die A u f d e c k u n g des ge-
samten
historischen
römischen
und
Rechtssätze
Kulturzusammenhangs,
entstanden
in
dem
und allein berechtigt
So reiht sich das W e r k an die „ J a h r b ü c h e r für D o g m a t i k
die sind. des
' ) G. d. r. R. I 49, III 318 (f. Vgl. auch Besitzwille 312 f., 364 ff., vgl. schon Uber den Grund des Besitzesschutzes 28 ff. J)
Vgl. oben S. X I . 4*
52
(470)
heutigen römischen Rechts" durch das gemeinsame Programm: „Durch das römische Recht über dasselbe hinaus" I ). Aus diesen beiden Aufgaben ergibt sich die eigenartige Struktur des Werkes und seine rechtshistorische Methode 2 ). Für I h e r i n g handelt es sich um eine E n t w i c k l u n g s g e s c h i c h t e des Rechts; er will die „Gleichartigkeit der historischen Bewegung" in den verschiedenen Rechtsinstituten nachweisen, d. h. es gilt, die inneren Gedanken, die sich in den gleichzeitigen Rechtsinstituten bergen oder auch in den nachfolgenden fortwirken, aufzudecken. Daraus ergibt sich der Gegensatz dieser Methode zu der hergebrachten dogmatischen. Nicht alles, was dieser von Belang erscheint, interessiert jene. Die mannigfaltigen Rechtsinstitute und Rechtssätze, die diese auf die verschiedenen Teile des Rechtssystems disloziert, vereinigt jene in der Gemeinsamkeit des inneren Rechtsprinzips: ja, eine ihrer schwierigsten Aufgabe liegt gerade darin, in und trotz der Mannigfaltigkeit der Äußerungsformen des Rechts sein inneres Prinzip zu finden. D a sie endlich die E n t w i c k l u n g s g e s c h i c h t e des Rechts darstellen will, gebraucht sie einen ganz anderen, und zwar viel größeren, Zeitmaßstab, und das chronologische Moment spielt für sie überhaupt eine sekundäre Rolle im Vergleich zu der gegensätzlichen synchronistischen Methode 3). I h e r i n g unterscheidet drei Stufen der r ö m i s c h e n Rechtsentwicklung. Die Entstehung des ersten Systems fällt über alle urkundliche Geschichte hinaus in die Periode des Zusammenlebens aller indogermanischen Völker, sein Ende in die römische Königszeit. Das ist die Anfangsperiode der römischen Rechtsentwicklung. Das zweite „ S y s t e m " beginnt in der 2. Hälfte der Königszeit und dauert bis ins 7. Jahrhundert der Stadt hinein. E s ist dies „das spezifisch römische Rechtssystem", die Periode des jus strictum und des streng nationalen Rechts. Auf diesem ' ) Zu vgl. G. d. r. R . I 1 5 ff., Unsere A u f g a b e 40 ff.; M e r k e l 1 7 ; E c k
19.
*) G. d. r. R . I 55 ff. 3)
„Der
Fortschritt des
Systems
involviert notwendigerweise den
schritt der Zeit, nicht aber umgekehrt, denn die Zeit ist nicht die vis
Fort-
movens,
sondern der bloße Rahmen, in den die Evolutionen des Systems hineinfallen." G. d. r. R . I 76.
(47i)
53
Boden bildet sich aber allmählich ein universales, kosmopolitisches, freies Recht aus, welches das dritte „System" darstellt und zum Bestandteil unserer modernen Kultur geworden ist. Diesem Plane gemäß sucht I. zunächst das Anfangsstadium der römischen Rechtsentwicklung zu rekonstruieren. Es zeichnet sich nach ihm durch die Ungeschiedenheit objektiven und subjektiven Rechts aus. Das Recht selbst ist eng verknüpft mit der Sitte, der Moral und der Religion. Die Festigkeit der Rechtsordnung und die Sicherheit der Rechtsrealisierung beruht wesentlich auf der energischen Mitwirkung der Individuen, diese Mitwirkung aber wiederum auf der Heftigkeit der Reaktion des subjektiven Rechtsgefühls gegen erlittenes Unrecht. Es ist die Zeit der Leidenschaft im Rechte. Strafe knüpft sich im älteren Recht an alle Rechtsverletzungen, einerlei ob sie bloß objektive sind, d. h. solche, bei denen den Gegner subjektiv gar kein Vorwurf trifft, das Bewußtsein und die Absicht einer Verletzung des fremden Rechts völlig fehlt oder ob sie zugleich ein subjektives Unrecht in sich schließen. Gestraft wird auch in der Folgezeit der Schuldner, der nicht zahlen kann, gestraft der Vindex, der bei der 1. a. per manus injectionem an Stelle des Schuldners den Anspruch bestreitet, bestraft durch Verlust des sacramentum, wer im Sakramentsprozeß unterliegt. — Die Sicherung, insbes. die Durchsetzung der Rechte geschieht in Form der Selbsthilfe, d. h. Rache (später Privatstrafe) und Selbsthilfe, deren Ausübung durch vorangehende Hinzuziehung von Zeugen beim Rechtsgeschäft gesichert wird. — Erst allmählich entwickelt sich aus diesem Zustande das Richteramt. Es entsteht zunächst nur sporadisch als Korrektiv der Selbsthilfe und deren Unsicherheit. Der Richter dieser Anfangsepoche ist Schiedsrichter, die Rechtspflege — eine „vertragsmäßige Entscheidung der Rechtsstreitigkeiten". I h e r i n g verfolgt die Nachwirkungen dieser Anfangsepoche der Rechtsentwicklung in die Folgezeit hinein und findet sie in den verschiedensten Rechtsinstituten: in der manus injectio und pignoris capio, im bildlichen Kampfe bei der r. vindic. und in jure cessio, in der legalen Privatexekution, in den Privatstrafen usw.; auch in der litis contestatio erblickt er einen prozessualen Vertrag (vgl. ob.). — „Das Institut der Schiedsrichter sowie der außergerichtliche Eid
(472)
54
(als Mittel der „friedlichen Ausgleichung des Rechtsstreites") schließen das System der Selbsthilfe ab." I h e r i n g wendet sich nunmehr zu den sozialen Bestandteilen dieser Rechtsepoche: der Familie und der Wehrverfassung. Die Gens stellte im römischen Geschlechterstaat einen „Staat im Kleinen" dar. Ihre Bedeutung lag vor allem in dem sozialen Zusammenhalte der einzelnen, sie war für den römischen Staat der Urquell der sozialen Gesinnung und sozialen Geistes überhaupt J ). Die äußere, rechtliche Organisation der Familie steht überhaupt immer im umgekehrten Verhältnis zur Reife der Staatsentwicklung; je unvollkommener letztere, desto ausgebildeter jene, und umgekehrt. Solange nämlich die Familie noch als Surrogat des Staates zu dienen hat, bedarf sie notwendigerweise einer ungleich festeren Organisation, als wo die vollständige Entwicklung der Staatsgewalt und der Staatsformen sie dieser Funktion überhebt. Interessant ist insbes. die Schilderung der römischen patria potestas, bei der I. der leicht entstehenden Vorstellung einer Tyrannie des römischen pater familias, welche durch die verschiedenen Rechtsinstitute unterstützt wird (jus vitae ac necis, manus usw.) energisch entgegentritt, indem er die individualistische p. p. als unter der ethischen Einwirkung der gens stehend zeigt. —• Die Bedeutung der Wehrverfassung liegt nach I. in dem militärischen Ursprung der politischen Organisation Roms und seines Königstums. Den Schluß des ersten Bandes bildet die hochinteressante psychologische Betrachtung über das „Wesen des römischen Geistes und die Prädestination desselben zur Kultur des Rechts". Er erblickt diese Prädestination in der „Großartigkeit der nationalen Selbstzucht", die die „Hingabe des Individuums an den allgemeinen Zweck" erforderte —, in der Richtung des römischen Charakters auf praktische Zwecke, nicht zuletzt in dessen Konservativismus als einer „Kraft, mit der ein fester •) (Als ein hervorstechendes ideelles Moment der römischen familia muß in der Tat angesehen werden, daß sie nicht auf dem naturalistischen Prinzip der Blutsverwandtschaft, sondern auf dem idealen der Zugehörigkeit zu einer und derselben geistigen Disziplin des Hauses basiert; darauf beruht der status familiae, der durch Emanzipation Blutseigener aufgehoben, durch Manzipation Blutsfremder erworben werden kann.
E. H . )
(473)
55
Charakter die Grundsätze befolgt, die er sich einmal gebildet hat, und an dem festhält, was er für wahr und recht erkannt h a t " . Den psychologischen Gesamteindruck charakterisiert er als ein „System des disziplinierten Egoismus", in dem das Recht, die Unterordnung des einzelnen Falls [unter die abstrakte Regel, naturgemäß eine Hauptstelle einnehmen mußte. Nach dieser rechtspsychologischen Schilderung wendet sich I. im zweiten Bande dem zweiten, spezifisch römischen Rechts system zu. Hier gilt es, dieses System selbst zu charakterisieren, zugleich aber an ihm die Entwicklung des Rechts zu einer eigentümlichen Lebensmacht zu zeichnen. I. zeigt uns zunächst den „physiognomischen Ausdruck des älteren römischen Rechts, den Ausdruck der Jugend des Rechts, welcher sich in der Öffentlichkeit und Plastik der Formen äußert" (öffentliche Testamentserrichtung, vielfache Anwendung des Zeugengeschäfts, Publizität des Personalkredits). Sodann geht er zur Darstellung des Differenzierungsprozesses des Rechts über. Als seine Faktoren erscheinen ihm: die schriftliche Fixierung des Rechts, die der Ubermacht des Gewohnheitsrechts und damit der Verquickung von Recht, Moral und Sitte ein Ende bereitet •— (daran schließt sich eine Polemik gegen die Überschätzung des Gewohnheitsrechts seitens der histor. Schule an); die damit ermöglichte „Objektivierung der Regel in Form des Gesetzes", die u. a. dem Maßstab der Verschuldung in die Strafrechtspflege Eingang gewährt; die Ausscheidung des religiösen Elements in fas; endlich die Unabhängigkeit der Rechtspflege. Als zweiter „Grundtrieb" des altern Rechts erscheint nach dem „Selbständigkeits-" der „Gleichheitstrieb". Ihering unterscheidet dabei prinzipiell zwischen faktischer und rechtlicher Gleichheit. Die erstere, den Römern unbekannte, in neuerer Zeit aber vielfach verlangte „Gleichheit nicht bloß in den Rechten, sondern eine gesetzlich erzwungene persönliche und soziale, also in der Erziehung, Bildung, Lebensweise, Vermögen" wird als „die bitterste Satire auf die wahre Freiheit" verdammt und dieser mechanischen Gleichheit die proportioneile entgegengesetzt. Der Römer kannte nur die Gleichheit vor dem Gesetz. Der „Gleichheitstrieb des Rechts" äußert sich in „Generalisierung, d. h. Bildung von Klassen und Aufstellung von Regeln
56
(474)
für dieselben". Ihre notwendige Selbstkorrektur ist die I n d i vidualisierung. Im Anschluß hieran wird die charakteristische Abneigung des altern römischen Rechts gegen die Individualisierung geschildert, gegen die erst das spätere Recht Abhilfe schuf. Den letzten Abschnitt dieser Untersuchung bildet die geniale Darstellung des „M a c h t - u n d F r e i h e i t s t r i e b e s", wie er sich im Rechte äußert. I h e r i n g verfolgt diesen „Trieb" durch die verschiedensten Rechtsinstitute: die römische Hausgewalt, die Magistratur, das Privatrecht hindurch. Überall — im Privat- wie im öffentlichen Recht findet er die Idee der Autonomie des Individuums, die der Machtfülle des römischen Charakters entspricht. Zugleich aber werden von ihm die einschränkenden o b j e k t i v e n Korrelate dieser individualistischen Rechtsgestaltung gezeigt: so bei der hausherrlichen Gewalt in den Verwandtengerichten, bei der Magistratur in der Öffentlichkeit und dem Volksgerichte. Auch im Privatrecht ist den Römern die Auffassung fremd, daß das Recht, frei zu sein, mit Notwendigkeit die Möglichkeit in sich schließe, die Freiheit ganz oder teilweise aufzugeben. Die privatrechtlichen Institute sind die Formen, in denen das Freiheitsbedürfnis des individuellen Lebens sich befriedigt. Aber die abstrakte Freiheit des Subjekts findet an dem in dem einzelnen Institut enthaltenen o b j e k t i v e n Freiheitsgehalt ihr Maß und Ziel. Das römische Recht verkörpert die „Objektivität des Freiheitsbegriffs". So entnimmt die römische Jurisprudenz dem objektiven Wesen oder Ziel der Testamentsfreiheit die Unzulässigkeit von Erb Verträgen; statuiert im Sachenrecht Servitutenbeschränkungen (servitus fundo utilis esse debet), im Personenrecht Ungültigkeit eines vertragsmäßigen Verzichts auf persönliche Freiheit. Auf diese Weise wird der Gefahr der „Selbstvernichtung der Freiheit" vorgebeugt. Der zweite Teil des zweiten Bandes bringt eine Theorie der juristischen Technik, deren Grundzüge bereits oben S. 46 ff. im Zusammenhange dargelegt sind. Nach der Darstellung der Technik des Rechts wendet sich I h e r i n g diesem letzteren selbst zu in der Gestalt, die es in dem jus striktum der Römer angenommen hat. Dessen hervorstechendster Zug ist der Formalismus (Materialismus), und diesem
(475)
57
ist eine umfangreiche Untersuchung gewidmet. In dem Formalismus erblickt I. übrigens keine spezifisch rechtliche und römische, sondern eine „allgemein kulturhistorische" Erscheinung, eine notwendige Phase in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes. Der römische Formsinn äußert sich in dem Streben nach Klarheit des Willensausdrucks, in dem auch „äußeren Ernst" der Rechtsgeschäfte, in dem Konservatismus des Rechtslebens. I h e r i n g verfolgt diesen Formalismus in seinen verschiedensten Erscheinungsformen: im „Zuschnitt der Deliktstatbestände", in der Interpretation, den Formeln, Legisaktionen, formellen, Schein- und Fiduziargeschäften. Er entwickelt eine ganze juristische Symbolik. Im dritten Bande sucht I. auf Grund der im zweiten Bande gegebenen allgemeinen Theorie der Rechtstechnik die altrömische Jurisprudenz zu charakterisieren. Von den verschiedenen Operationen, über welche die Rechtstechnik verfügt, finden wir bei dieser nur die juristische Analyse und die juristische Ökonomie; diese beherrschen aber die gesamte Technik des älteren Rechts. Sie äußern sich vor allem in der Struktur der Tatbestände der älteren Rechtsgeschäfte: in ihrer Konzentration, in der Einfachheit ihres „Rechtskörpers". Sodann aber in der Struktur des Prozesses: die Klagformen nehmen nur analytisch einfache Ansprüche in sich auf, das ganze Verfahren wie das Urteil des Richters beschränken sich auf einfache, äußerlich geschiedene Rechtsverhältnisse. Die juristische Ökonomie insbesondere äußert sich in den Scheingeschäften und den Fiktionen. Beide sind die einer gewissen Kulturepoche eigentümlichen Formen des Fortschritts. Sie veranschaulichen zugleich den Rechtssinn der römischen Juristen, die mit dem alten Recht nicht in schroffer Weise brechen, zugleich aber sich auch den neuen Bedürfnissen des Lebens anpassen. Am Schlüsse des dritten Bandes will I h e r i n g die R e c h t e des älteren Privatrechts darstellen. Die Einleitung und Grundlage hierfür bildet die Untersuchung des Wesens des subjektiven Rechts. Dem H e g e l sehen Willensdogma wird hier die Auffassung vom subjektiven Rechte als vom rechtlich, d. h. vom objektiven Rechte anerkannten und geschützten Interesse entgegengesetzt: „Wie verschieden sich nun auch bei den einzelnen
58
(476)
Rechten das Interesse bestimme, so enthält doch jedes in thesi zugelassene Recht den Ausdruck eines vom Gesetzgeber nach dem Standpunkt seiner Zeit für s c h u t z f ä h i g und s c h u t z b e d ü r f t i g anerkannten Interesses." Dieser Grundgedanke führt aber auf die Frage nach dem Grunde des Rechtsschutzes, mithin auf den „Zweck im Recht" zurück. Mit der Exemplifizierung jenes Gedankens an den verschiedensten Rechtsinstituten bricht das Werk ab. —• II. Den Gesamteindruck des Werkes hat M e r k e l treffend charakterisiert als den „einer eminenten geistigen Energie, mit der sich I h e r i n g in die altrömischen Verhältnisse versetzte, eine sinnlich klare Anschauung derselben für sich zu erzwingen, die intellektuelle und ethische Organisation des römischen Volkes in ihren Grundelementen zu erfassen und hinter den überlieferten Gesetzen und Dogmen das wirkliche Rechtsleben zum Vorschein zu bringen sucht" *). Die Fortschritte, die das Werk für die Rechtstheorie mit sich brachte, bestanden wesentlich im folgenden. Seinem Objekte nach zweifellos historisch, auf dem Boden der historischen Schule entstanden, modifiziert es zugleich die hergebrachte theoretische Doktrin des Historismus in durchgreifendster Weise und geht in der Erkenntnis des Rechts weit über sie hinaus. Das Nationale (der Rechtsbildung) wird von I h e r i n g anerkannt; aber das Nationale (überhaupt) ist ihm zugleich Erscheinungsform des Universalen, Durchgangspunkt einer allgemeinen kulturhistorischen Entwicklung 2 ), und er ist überzeugt, daß die „komparative Jurisprudenz der Zukunft" die von ihm in spezieller Darstellung gewonnenen Ergebnisse auch in anderen Rechten, mithin allgemein bestätigt finden wird 3). I h e r i n g ') M e einerseits K andererseits 2. T. (1858)
r k e l 20. — Zur Polemik über diese „rekonstruierende Arbeit" vgl. u n t z e 7 (vgl. übrigens 8), P e t r a z y c k i 398, M i 1 1 e i s 656, M e r k e l 21, I h e r i n g , Vorrede zur 1. A u f l . Geist d. r. R. Bd. II S. VI, X V , L e o n h a r d 260, 262, 282. L a n d s b e r g G 794 fi.,
S t i n t z i n g Krit. Ztschr. f. d. ges. R. w. 1, 291 f. J ) Vgl. zit. Vorrede X I V , Vorr. zur 2. Aufl. d. I. Bd. Unrichtig daher P e t r a z y c k i 418.
3) Vgl. dafür und für das Folgende z. B. Geist d. r. R. I 78, 79, II 505 ff., andererseits I 319. Ebenso Vorgeschichte der Indoeuropäer 93—102 mit 287.
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(477)
erkennt ferner zweifellos den Nationalgeist an, und B o u g l é hat mit Recht den „Geist d. r. R . " als „un des plus illustres exemples de Völkerpsychologie appliquée" bezeichnet Aber sein analytischer Geist kann sich nicht einfach damit zufriedengeben, den Nationalgeist als eine fertige Größe hinzunehmen, sondern er treibt ihn w e i t e r , diesen „Geist" selbst zu zergliedern und die realen Faktoren zu erforschen, die auf ihn ihrerseits schöpferisch eingewirkt haben 2 ). Der Forschritt der Erkenntnis geht auch in der Wissenschaft in Gestalt der Zersetzung vor sich. Die Begriffe, die auf der vorangehenden Stufe der wissenschaftlichen Entwicklung als Einheit erscheinen, werden zergliedert auf der nächstfolgenden 3). Aber die Universalität ist für I h e r i n g auch ein materielles „Prinzip der Rechtsbildung" selbst. Die Lehre der Rechtsnationalität — die insofern schon u n m i t t e l b a r von I h e r i n g b e k ä m p f t wird 4) — deren ausschließliche Herrschaft S a v i g n y proklamiert, ist nicht imstande, die Tatsache der Rezeption des römischen Rechts selbst zu begreifen. Wenn das Recht, wie diese Lehre will, ein Organismus ist, so muß auch für diesen, um im Bilde zu bleiben, das allgemeine biologische Gesetz gelten: „Leben ist Aufnahme von außen und innerliche Aneignung; Rezeption und Assimilation sind die beiden Fundamentalfunktionen, auf deren Dasein und Gleichgewicht das Bestehen und 'die Gesundheit jedes lebenden Organismus b e r u h t " 5). In der m o d e r n e n Welt erhebt sich jedenfalls die Geschichte des Rechts in Wahrheit zu einer Geschichte d e s Rechts. Der Gedanke der U n i v e r s a l i t ä t ist das Losungswort der gegenwärtigen Ära des Rechts, d i e v e r g l e i c h e n d e j u r i s p r u d e n z die Methode der Rechtswissenschaft der Zukunft 6 ). Die Theorie der juristischen Technik insbesondere führt uns ferner zu der Überzeugung von der Unrichtigkeit der Vorstellung ' ) B o u g l é 127. ) „ L a téléologie dépasse la psychologie nationale", B o u g l é 128. 3) Das Gleiche ist bezüglich der Analyse des Rechtsgefühls bereits oben SS. 9 Anm. 2, 10 Anm. i betont worden. 4) Vgl. Geist-d. r. R. I S. 8. 5) a. a. 0 . S. 5-f. «) a. a. O. S. I I , 15. 3
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der historischen Schule von dem „stillen Wachstum" des Rechts *). Denn gerade in dem Bereiche der Rechtstechnik zeigt es sich, daß nicht eine „unmittelbare Volksüberzeugung", sondern „Absicht" und geistige Arbeit das Recht gestalten 2 ). Das „Wachstum" des Rechts der historischen Schule wird bei I h e r i n g zur E n t w i c k l u n g des Rechts. Das organische Element jener Lehre trifft nur insofern zu, als das Recht kein Aggregat willkürlicher Bestimmungen, sondern nur „eine Abstraktion des tatsächlichen Rechts" ist: ex jure, quod est, regula fiat, als die menschliche Reflexion mehr findet, als daß sie schafft 3). Aber damit ist die Rechts k u 11 u r mit nichten geleugnet. Und andererseits geht die Entwicklung des Rechts nicht nur im Frieden, sondern auch unter mannigfaltigen Kämpfen sozialer, politischer und ökonomischer Natur vor sich 4). In allen diesen Einschränkungen und Modifikationen des Historismus liegen bereits zum Teil ganz bestimmte Vorgedanken zum Leitmotiv des zweiten und späteren Hauptwerkes, zum „Zweck im Recht".
2. Der „Zweck im Recht". Das Problem des subjektiven Rechts, mit dessen Lösung sich der Schluß des dritten Bandes des „Geistes d. r. R." beschäftigt, leitet I h e r i n g zum Problem des Zwecks im Recht hinüber. ') a. a. O. III 4 ff') Mit Recht sagt G u t h e r z , Stud. zur Gesetzestechnik I 42: „Die Aufstellung eines Juristenrechts . . . , der zufolge man an zwei verschiedene Rechtssysteme glauben könnte . . . . ist die unliebsame Folge der Auffassung des Rechts als Produkt der Volksüberzeugung.'' 3) Unsere Aufg. S. 42; G. d. r. R. I S. 26. Hier heißt es weiter: „Denn die Verhältnisse, in denen sich das Gattungsleben der Menschheit bewegt, warten nicht erst auf sie, daß sie dieselben aufrichte und gestalte." Vgl. auch Bd. III S. 6: „Die Reflexion und die Absicht hätten das Recht freilich nie s c h a f f e n können, so wenig wie dies der Gärtner bei der Blume kann, allein, was sie können und von jeher getan haben, ist: es pflegen, begießen, beschneiden." — Hiermit ist das behauptet, was J e l l i n e k treffend „die normative Kraft des Faktums" genannt hat. Dies übersieht völlig R. L 0 e n i n g , Über Wurzel und Wesen des Rechts (Rede, Jena 1907) S. 10 in seiner Polemik gegen I h e r i n g . 4) G. d. r. R. I 180, 313, 336, 358.
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Die Frage nach dem Grund der Rechtsschutzfähigkeit menschlicher Interessen drängt ihn zur Untersuchung des teleologischen Prinzips im Rechte überhaupt. Aber die Forschung führt ihn — und darin liegt ein untrügliches Kennzeichen seines philosophischen Berufs — über die engeren Grenzen der Jurisprudenz weit hinaus. „Der Zweck im Recht erweitert sich zum Entwurf einer Phänomenologie der gesamten ethischen und sozialen W e l t " (Merkel). Der erste Band des „Zwecks i. R . " enthält ein großzügiges Bild des gesellschaftlichen Baues, die Schilderung der „sozialen Hebel", und eben in dem parallelen Lauf psychologischer und juristischer Konstruktion liegt die besondere Anziehungskraft des Werkes für einen Soziologen ebensowohl als für einen Juristen. Bevor wir zu einer kritischen Analyse des teleologischen Prinzips übergehen (unten Buch I I S. 85 ff.), wollen wir daher, ebenso wie wir es oben bezüglich des „Geistes d. r. R . " getan haben, eine möglichst gedrängte Wiedergabe des wesentlichen Inhalts dieses Bandes versuchen. Das soziale System I h e r i n g s setzt mit dem Individuum ein. Dieses ist aber nicht bloß egoistisch, sondern auch mit der Fähigkeit zur „Selbstverleugnung" begabt. Aber auch diese wird — im ausdrücklichen Gegensatz zu K a n t — individualistisch als „ethische Selbstbehauptung" begriffen (I 49-f.). — Das Problem ist nun das: „Wie kann die Welt bestehen beim Egoismus, der nichts f ü r sie, sondern alles nur für sich selber will ? Die Antwort lautet: sie interessiere ihn bei ihren Zwecken, dann ist sie seiner Mitwirkung sicher" (S. 33). Aus dieser Lösung ergibt sich der ganze B a u des gesellschaftlichen Körpers bei I h e r i n g. Individuum und Gesamtheit stehen sich gegenüber. Die Gesamtheit macht sich aber das Individuum dienstbar vermittels der „Hebel der sozialen Bewegung": des Lohns und des Zwangs. Der Lohn führt somit eine Koinzidenz der Zwecke des einzelnen und des Ganzen herbei. Es wäre besser, wie B o u g l e richtig bemerkt, ihn als Retribution zu bezeichnen, da er ziemlich heterogene Elemente in sich schließt, so insbesondere den „idealen L o h n " : die Auszeichnung usw. An den Gesichtspunkt des Lohns schließt sich die Analyse des V e r k e h r s in seinen verschiedensten Elementen an: Grundsatz der Entgeltlichkeit, Äquivalent, Erwerbszweig und Kredit.
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D a m i t ist eine der Hauptgrundlagen jedes sozialen Daseins — namentlich die ö k o n o m i s c h e Grundlage — festgelegt. Die andere Grundlage — Recht und Staat — wird durch das Moment des Z w a n g s gebildet. Denn Recht und Staat sind die soziale Organisation des Zwanges. „ D e r letzte K e i m des Zwanges als einer sozialen Institution, der erste A n s a t z zu dem Postulat der Organisierung desselben liegt aber in dem Individuum — der Daseinszweck des Individuums ist auf Erden ohne Z w a n g nicht zu realisieren" . . . (S. 291). Die auch im sozialen Sinne wichtigsten Unterarten des Zwanges sind die des p r o p u l s i v e n und des k o m p u l s i v e n Zwanges. „ J e n e r hat zum Zweck die Abwehr, dieser die Vornahme eines gewissen Handelns" (236). Im Anschluß hieran werden die verschiedenen Erscheinungsformen des Zwanges in Anwendung auf die Rechtsinstitute analysiert. Der Grundgedanke ist der: „ I n der P e r s ö n l i c h k e i t erscheint das S u b j e k t noch auf sich selbst beschränkt, in dem E i g e n t u m geht es bereits über sich hinaus auf die Sache, für beide Verhältnisse reicht der p r o • p u 1 s i v e Z w a n g aus. In der F a m i l i e und im V e r t r a g e knüpft das S u b j e k t ein Beziehungsverhältnis zur Person, dort dauernder, hier vorübergehender Art, und dieser Fortschritt des Verhältnisses bedingt auch den des zu seiner Behauptung erforderlichen Mittels: die Steigerung des propulsiven zum k o m p u l s i v e n Z w a n g e " (263). So drängt die individuelle Selbstbehauptung zum Zwange in verschiedener Gestalt. A b e r eine individuelle Gestaltung des Zwanges sichert noch keineswegs einen gesetzmäßigen Zustand und Entwicklungsgang der Gesellschaft. Dieser wird erst mit der sozialen Organisation des Zwanges, mithin erst mit und in dem S t a a t e erreicht. So erscheint die staatliche Zwangsnorm als die vollkommenste Stufe des Rechtsgedankens. Ihre „begriffliche V o r s t u f e " , „erste und niederste Form der S t a a t s g e w a l t " ist das Individualgebot, „hervorgerufen durch das unmittelbare Bedürfnis des einzelnen Falles, durch den Impuls des Momentes, welches seine ganze Wirksamkeit an dem einzelnen Falle erschöpft, ohne eine weitere Spur zurückzulassen" (S. 339, 345). Die zweite Stufe wird durch die „einseitig verbindende N o r m " gebildet: die Staatsgewalt
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bindet, bindet sich aber nicht. Sie entspricht politisch der Stufe der Despotie. Die formelle O r d n u n g und formelle Rechtsgleichheit, die mit ihr theoretisch vereinbar sind, sind jeden Augenblick in ihrer Existenz bedroht. Das Recht im subjektiven Sinne als P r i v a t r e c h t ist mit ihr freilich verträglich. Aber das Staatsbürgerrecht kennt sie nicht. Die Lebensphilosophie, die sie erzeugt, ist der Fatalismus. Der ganze rechtliche Zustand ist nichts als Willkür. Die vollendetste Ausgestaltung der Rechtsidee ist aber die zweiseitig verbindende Norm. Sie ist die Grundkategorie des Rechtsstaates. Sie ist andererseits der Gegensatz der Willkür, d. h. der dem Gesetz widersprechenden Willensbestimmung desjenigen, der zu b e f e h l e n hat. Die Staatsgewalt erscheint auf dieser Stufe, im Gegensatz zu den vorigen, in Unterordnung unter die von ihr selbst erlassenen Gesetze. Die Garantien dieses Rechtsstaates sind das R e c h t s g e f ü h l des Volkes — ein nicht zu unterschätzender Faktor •— und das Institut der R e c h t s p f l e g e . Die Analyse der beiden Momente gehört zu den besten Partien des Werkes. So schildert uns I. die rechtlichen Grundzüge des Rechtsstaates. Soll aber das G e s e t z die einzige „bewegende K r a f t " der Staatsgewalt schlechthin sein? „ D a s wäre, wie es seheint, der Rechtsstaat, wie er nicht vollendeter gedacht werden könnte. Nur eine einzige Eigenschaft würde ihm fehlen — die L e b e n s f ä h i g k e i t . . . . Ausschließliche Herrschaft des Gesetzes ist gleichbedeutend mit dem Verzicht der Gesellschaft auf den freien Gebrauch ihrer Hände; mit gebundenen Händen würde sie sich der starren Notwendigkeit überliefern, hilflos gegenüberstehend allen Lagen und Anforderungen des Lebens, die im Gesetz nicht vorgesehen wären, oder für welche letzteres sich als unausreichend erwiese" (421) I ). Hier ist der Punkt, wo die *) Ein auch für das heutige Verwaltungsrecht grundlegender Gedanke; vgl. Anschütz:
„ D a s Gesetz ist regelmäßig weder Ursache noch Zweck, immer
aber Schranke der Verwaltungshandlungen"; Rechtswiss. S. 346.
„ K u l t u r der Gegenwart",
System.
Vgl. schon I h e r i n g Zw. i. R . I 387 f.: bei den Verwaltungs-
behörden „gesellt sich zu dem R e c h t als zweiter Faktor noch die Z w e c k m ä ß i g k e i t hinzu."
„ A u f diesem Gegensatz der beiden Ideen:
gebundenen
Gerechtigkeit
der ihrer Natur nach
und der ihrer Natur nach freien Zweck-
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V e r w a l t u n g s tätigkeit des Staates einsetzt. — Aber auch abgesehen von dem hiermit postulierten freien Spielraum für die Betätigung der Staatsgewalt muß nach I h e r i n g ebenso wie für den Einzelnen, das jus eminens des Notstands auch für den Staat anerkannt werden, wodurch die Verletzung von Rechten unter gewissen Umständen als nicht rechtswidrig erscheint. Unter den Begriff desselben fallen nach I h e r i n g die verschiedensten Staatsakte, wie die Expropriation, verschiedene faktische Maßregeln der Verwaltung, die durch die Not des Augenblicks gerechtfertigt werden , Proklamierung des Kriegsoder Standrechts, aber auch Aufhebung bestehender Rechte durch die Gesetzgebung (z. B. der Leibeigenschaft) und Eingriffe in dieselben mit rückwirkender Kraft (im Gegensatz zu L a s s a 1 1 e , System der erworbenen Rechte). — „Unter den Gesichtspunkt einer Nichtbeachtung des Gesetzes durch die Staatsgewalt fällt aber auch das B e g n a d i g u n g s r e c h t . " Seine Rechtfertigung liegt in der „Korrektur des als unvollkommen erkannten Gesetzes im einzelnen Falle, kurz ausgedrückt in der Selbstkorrektur der Gerechtigkeit" (428). Ist somit die f o r m e l l e Seite des R e c h t s b e g r i f f s charakterisiert, so bleibt noch sein m a t e r i e l l e r I n h a l t zu ermitteln: dieser Aufgabe ist der Schluß des ersten Bandes gewidmet. Wo ist nun aber das inhaltliche Element des Rechtes zu suchen? In der absoluten Idee der Wahrheit? Aber die Betrachtung konkreter Gesetzesinhalte verschiedener, sich widersprechender Rechte überzeugt uns von der Unmöglichkeit, auf diesem Wege das Gesuchte zu finden. Denn: „Glaube und Aberglaube, Rohheit und Kultur, Rachsucht und Liebe, Grausamkeit und Menschlichkeit, und was soll ich sonst nennen? alles hat im Recht willige Aufnahme gefunden, widerstandslos scheint es sich allen Einflüssen, die mächtig genug sind, es sich dienstbar zu machen, zu fügen, ohne eignen festen innern Halt. Der Widerspruch, der ewige Wechsel scheint inhaltlich das Wesen des Rechts auszumachen" (436). Und in der Tat: „Wahrheit mäßigkeit beruht der innere Gegensatz zwischen der Rechtspflege und der Verwaltung." — Eine praktische Bedeutung erlangt dieser Gegensatz auch im Strafrecht. — Näheres unten S. 1 2 1 ff.
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ist das Ziel der E r k e n n t n i s , aber nicht das des H a n d e l n s " (437). Die Substanz der Rechtssätze liegt in dem in ihnen verkörperten Willensinhalte. Ihr materieller Gehalt kann daher nur in der Idee des Z w e c k e s gesucht und gefunden werden. So k o m m t I h e r i n g zu seiner berühmten Definition des R e c h t s : S i c h e r u n g d e r Lebensbedingungen d e r G e s e l l s c h a f t in Form des Zwanges. Der so aufgefundene Gesichtspunkt führt ihn zur Untersuchung dieser Lebensbedingungen selbst mit Rücksicht auf das Verhalten des Rechts ihnen gegenüber. E r unterscheidet: außerrechtliche Lebensbedingungen, die ausschließlich unter der Herrschaft von Naturgesetzen stehen und jeder Regulierung durch das R e c h t unzugänglich sind; gemischtrechtliche: Selbsterhaltung, Fortpflanzung, Arbeit, Verkehr, „deren Sicherung in erster Linie nicht auf dem Recht, sondern auf der Natur, auf der Macht der natürlichen Triebe: des Selbsterhaltungs-, Geschlechts- und Erwerbstriebs beruht, denen das Recht nur ausnahmsweise, wo sie versagen, zu Hilfe k o m m t " (459/460); endlich die rein rechtlichen, „bei denen sich die Gesellschaft zum Zweck ihrer Sicherung ausschließlich auf das Recht angewiesen sieht" (460). Die Idee des Zweckes wird nun zur Grundkategorie der folgenden Rechtssystematik gemacht. Als Z w e c k s u b j e k t e . der sämtlichen Rechtssätze erscheinen: das Individuum, die Gesellschaft und der Staat. Genial ist insbesondere die Systematik des Strafrechts. Bei allen drei Z w e c k s u b j e k t e n werden die physischen, ökonomischen und die idealen Daseinsbedingungen unterschieden und danach die Delikte systematisiert. Beim I n d i v i d u u m werden die physischen Lebensbedingungen bedroht und zwar in ihrer Totalität (Leben) durch Mord und Totschlag, Aussetzung hilfloser Personen usw., partiell durch Körperverletzung; die ökonomischen d. h. das Vermögen, durch R a u b , Diebstahl, Unterschlagung usw.; die idealen: die Freiheit — durch Menschenraub, Nötigung usw., die Ehre — durch Beleidigung, Verletzung fremder Geheimnisse usw., die Familie — durch Ehebruch, Bigamie usw. Beim Staat kann von physischen Lebensbedingungen (wie übrigens bei jeder Verbandsperson, E. H.) nur im übertragenen Sinne die Rede sein. In diesem Sinne sind aber unerläßliche Existenzbedingungen des S t a a t e s : A b h a n d l . d. kriminalist. Seminars.
N . F.
B d . V I , H e f t 4.
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ein Territorium und eine auf demselben sich betätigende höchste Befehls- und Zwangsgewalt. Gegen diese Existenzbedingungen des Staates sind gerichtet: Landes- und Hochverrat, Aufruhr, Auflauf; Beamtendelikte, Verletzung der Wehrpflicht usw. Die ökonomischen Lebensbedingungen des Staates werden bedroht durch Steuerverweigerung, Defraudation usw. Die idealen Lebensbedingungen des Staates sind seine Ehre, welche in der Majestätsbeleidigung und der Amtsehre getroffen wird, und die Freiheit, welche wiederum wie bei jeder juristischen Person nur in der Freiheit der Organe des Staatswillens bestehen kann und durch die Widersetzlichkeit gegen die Obrigkeit, durch Verbrechen gegen staatsbürgerliche Rechte usw. verletzt wird. — Die physischen Lebensbedingungen der Gesellschaft werden endlich durch die sogen, gemeingefährlichen Delikte bedroht, also durch Brandstiftung, Herbeiführung einer Überschwemmung usw.; die ökonomischen, d. h. die Sicherheit des Verkehrs — durch Münzverbrechen; Urkundenfälschung; die idealen — durch die Verbrechen gegen die Religion und die Sittlichkeit. — So ist „alles, was auf dem Boden des Rechts sich findet, durch den Zweck ins Leben gerufen und um eines Zweckes willen da, das ganze Recht ist nichts als eine einzige Zweckschöpfung, bei der nur die meisten einzelnen schöpferischen Akte in eine so ferne Vergangenheit zurückreichen, daß der Menschheit die Erinnerung daran verloren gegangen ist. Sache der Wissenschaft ist es, wie in bezug auf die Bildung der Erdrinde, so auch in bezug auf die Bildunggeschichte des Rechts die wirklichen Vorgänge zu rekonstruieren, und das Mittel dazu gewährt ihr den Zweck. Nirgends ist für denjenigen, der das Suchen und Nachdenken nicht scheut, der Zweck so sicher zu entdecken, wie auf dem Gebiete des Rechts — ihn zu suchen, ist die höchste Aufgabe der Rechtswissenschaft, gleichmäßig in bezug auf die Dogmatik wie in bezug auf die Geschichte des Rechts" (442/443). Den Schluß des Bandes bildet die Betrachtung über die „Lasten der gesellschaftlichen Existenz", die „gesellschaftliche Gestalt des Eigentums", wo I. der individualistischen Eigentumstheorie entgegentritt, über die „ F r a g e von den Grenzen ") Zu vgl. A n s c h ü t z
oben S. 29.
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der Staatsgewalt", und endlich über die „Gegenleistungen des Staates" an das Individuum und „Solidarität" ihrer beiderseitigen Interessen. Der erste Band endet mit dem Postulat der Sittlichkeit als dritter und letzter sozialer Faktor. „Die beiden egoistischen Hebel, deren sich die Gesellschaft bedient, um das Individuum ihren Zwecken dienstbar zu machen, sind nicht die einzigen; es gibt noch einen anderen, der nicht an den niederen Egoismus, sondern an etwas Höheres im Menschen appelliert: die Sittlichkeit" (I 570). Demgemäß ist die Aufgabe des zweiten Bandes die Untersuchung des Sittlichen. Sie wird eingeleitet durch Erforschung aller einschlägigen Begriffe: des Unsittlichen, Erlaubten, Sittlichen, der Sitte, des Gewohnheitsrechts, des Rechts, und ihre gegenseitige Abgrenzung. Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit „dem Sittlichen als Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung" — es ist das bedeutsamste Stück des ganzen Bandes. Als „die drei Kardinalfragen der Ethik" bezeichnet I h e r i n g die folgenden: „die nach dem Ursprung der sittlichen Normen; die nach dem Zweck; die nach dem Motiv des sittlichen Willens" (II 97—98). Hieran reiht sich die Betrachtung der bisherigen Lösungsversuche und ihrer Kritik. Gegenüber der „psychologischen" („nativistischen") und „christlich-theologischen" Begründung der Ethik als Absolutes baut I h e r i n g seine „ g e s c h i c h t l i c h - g e s e l l s c h a f t l i c h e " Theorie der Ethik auf evolutionistischer Grundlage auf. — Im folgenden wendet sich I h e r i n g der inhaltlichen Kritik der sozialen Imperative vom Standpunkt des sozialen Utilitarismus" zu und beginnt diese Kritik mit der Theorie der Sitte, der die „Theorie der Umgangsformen", des „Anstands" und der Höflichkeit folgen. Ihre Darlegung im Rahmen dieser Studie ist ausgeschlossen.
3. Die philosophische Abstammung Iherings. I. Der Weg, der I h e r i n g zu seinem finalen System geführt hat, liegt klar zutage und ist uns auch von ihm selbst geschildert worden. „Die Schrift, von der ich hiermit die erste Hälfte der Öffentlichkeit übergebe — sagt er in der Vorrede zur ersten Auflage des „Zweck im Recht" (S. V I I ) i s t e i n e A u s 5*
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läuferin von meinem Werk über den Geist des r ö m i s c h e n Rechts. Der letzte Band derselben (Teil III, Abt. i) . . . schloß ab mit einer Grundlegung der Theorie der Rechte im subjektiven Sinn, in der ich eine von der herrschenden abweichende Begriffsbestimmung des Rechts im subjektiven Sinn gab, indem ich an Stelle des Willens, auf den jene den Begriff derselben gründete, das Interesse setzte >) . . . . Der Begriff des Interesses nötigte mich, den Zweck ins Auge zu fassen, und das Recht im subjektiven Sinn drängte mich zu dem im objektiven Sinn, und so gestaltete sich das ursprüngliche Untersuchungsobjekt zu einem ungleich erweiterten, zu dem des gegenwärtigen Buches: der Zweck im Recht." Der Zusammenhang der beiden Werke besteht aber nicht nur in dieser Aufeinanderfolge der Gedanken. Ein tieferer Blick in den „Geist des römischen Rechts" zeigt uns — und diese Tatsache ist meines Wissens in der bisherigen I h e r i n g - Literatur übersehen worden — daß der spätere Grundgedanke des „Zweck im Recht", der Finalismus, bereits in jenem Werke in seiner ganzen Bedeutung für die „Kultur des Rechtes" erfaßt und hervorgehoben w i r d 2 ) . Schon dort schildert er uns nämlich „das Wesen des römischen Geistes" und erblickt dessen „ P r ä d e s t i n a t i o n f ü r s R e c h t " in den folgenden Charakterzügen: *) Über den Widerspruch dieser A n s c h a u u n g
I h e r i n g s m i t der
früher
v o n ihm v e r t r e t e n e n und über die Synthese beider vgl. oben S. 18 A n m . 2. >) Eine analoge innere V e r w a n d t s c h a f t der beiden W e r k e l ä ß t sich übrigens an mehreren Beispielen nachweisen:
„ D e r E g o i s m u s der G e s e l l s c h a f t " als Quelle
und Zweck der sittlichen Normen, „ d e r o b j e k t i v e oder gesellschaftliche Utilitarism u s " im 2. B a n d e des Z w e c k i. R . (S. 156, 194 ff., 215 ff.) ist gar n i c h t s anderes als die (römische) „ G r o ß a r t i g k e i t der nationalen S e l b s t s u c h t " im 1. B d . des G. d. r. R . S. 320 (vgl. dazu insbes. Z w . i. R . XI 223 über den Tugendbegriff). w i c k l u n g des E t h i s c h e n
sagt I h e r i n g
im Z w . i. R . I I 226:
V o n der E n t „ D i e W e i t e des
Tugendbegriffs wird mit der gesellschaftlichen E n t w i c k l u n g stets gleichen Schritt gehalten h a b e n " ; i m G . d. r. R . a. a. 0 . h e i ß t es: „ I n demselben Maße, in dem die Verhältnisse, in denen das I n d i v i d u u m steht, und die Zwecke, denen er sich w i d m e t , steigen, werden die Einwirkungen
der Selbstsucht unkenntlicher,
ihre
Formen
erhabener, und auf dem H ö h e p u n k t römischer Größe, der H i n g e b u n g an den römischen Staat, überwindet sich sogar die individuelle Selbstsucht, u m sich selbst und alles, w a s sie für sich erstrebt, der des Staats z u m Opfer zu b r i n g e n . " — Uber Begriffsjurisprudenz (vgl. „ S c h e r z und E r n s t in der J u r i s p r u d e n z " ) und die römischen Rechtsbegriffe —
G. d. r. R . I I I 325 u. dgl. m.
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„Diese Welt im ganzen und großen enthält den Triumph der Idee der Zweckmäßigkeit; sie selbst sowie alle intellektuellen und moralischen Kräfte, die innerhalb derselben tätig werden, sind der Zwecke wegen da, mit Rücksicht auf sie bestimmt und gestaltet. Die Selbstsucht ist die Triebfeder des Ganzen; jene ganze Schöpfung mit allen ihren Institutionen und allen den Tugenden, die sich an ihr betätigen, läßt sich als die Objektivierung oder der Organismus der nationalen Selbstsucht bezeichnen." — „Den Römern war es Bedürfnis, die Dinge selbsttätig zu gestalten, es widerstrebte ihnen, sie nach der Theorie der Naturwüchsigkeit sich selbst zu überlassen." — „Die Römer konnten, möchte ich behaupten, nichts Zweckwidriges tun; bewußt oder unbewußt betrachteten sie alles unter dem Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit, und wie die Griechen auch ohne Absicht und Bewußtsein das Schöne finden, weil ihr ganzes Wesen von der Idee des Schönen durchdrungen ist, so treffen die Römer mechanisch das Zweckmäßige. Die Idee der Zweckmäßigkeit ist das Prisma römischer Anschauung." „Die Römer konnten nur anerkennen, was einen Zweck hatte." „So läßt sich der römische Charakter mit seinen Tugenden und Fehlern als das System des disziplinierten Egoismus bezeichnen. Der Hauptgrundsatz dieses Systems i s t . . . . objektiv in der T a t nichts als ein Ausfluß der Zweckmäßigkeitsidee, durch die nationale Ansicht zur ethischen Notwendigkeit, Sittlichkeit, Pflicht gestempelt" (Geist d. r. R. Bd. I, S. 321, 322, 324, 326, 327) — Sapienti sat! II. In diesem Nachweise der Gedankenkontinuität, ja man könnte getrost sagen: Gedankenidentität der beiden Hauptwerke I h e r i n g s liegt aber zugleich der B e w e i s der Selbständigkeit seines finalen vollen Systems. Insbesondere hat I h e r i n g s Zweck im Recht sich durchaus unabhängig von B e n t h a m gebildet. Erst in dem zweiten Bande des Zw. i. R. in dem Abschnitt über das Sittliche, dessen teleologische Bearbeitung wiederum nicht irgendwie beeinflußt, sondern durch die vorhergehende analoge Behandlung des R e c h t s von selbst geboten war 1), erscheint — ' ) V g l . Vorrede zur 1. A u f l . des II. B d . S. X I :
„ D i e s e A u f f a s s u n g , der ich für
das R e c h t in dem M o t t o meiner Schrift den A u s d r u c k gegeben h a b e : der Z w e c k ist der Schöpfer des Rechts, d u r f t e ich, als ich den Begriff des Sittlichen zuerst in
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(neben anderen wie K a n t , L e i b n i z , F i c h t e ) — auch das System von B e n t h a m , um aber nur abgelehnt zu werden. Denn im Gegensatz zu B e n t h a m , bei dem „das subjektiv Nützliche zum Maßstab und Kriterium des objektiv oder gesellschaftlich Nützlichen erhoben und der richtige Gedanke, der in der Betonung des letzteren lag, wiederum preisgegeben wird", bei dem also „der Utilitarismus in Eudämonismus mündet" *), — begründet I h e r i n g sein ethisches System als das des gesellschaftlichen oder objektiven Utilitarismus 2). Die finale Konzeption lag aber auch zweifellos i n l h e r i n g s geistiger Individualität selbst begründet. Wenn der Satz überhaupt richtig ist, daß die Wurzeln aller grundlegenden Denksysteme schließlich doch in der eigenen Psyche der Denker zu suchen sind, so ist diese erkenntnispsychologische Wahrheit bei I h e r i n g doppelt wahr. „Wer das Werk beschreibt, der charakterisiert.damit zugleich die Persönlichkeit, und wer die Persönlichkeit charakterisiert, der gibt damit den Schlüssel für jenes", sagt von ihm M e r k e 1 3), „dem es als einem langjährigen Freunde I h e r i n g s vergönnt war, in dessen Arbeitsweise die tiefsten Einblicke zu tun" ( L e o n h a r d ) . In der Tat: eine teleologische Philosophie kann überhaupt nur auf meiner Schrift berührte, nicht unterlassen, auch für letzteres zu begründen. Meinem Gesichtspunkte der ethischen Selbstbehauptung, den ich im neunten Kapitel auszuführen gedachte, würde der feste Untergrund gefehlt haben, wenn ich mich dessen hätte überheben wollen. So erhielt denn dieses Kapitel den Inhalt, den es jetzt an sich trägt: das Sittliche." Vgl. auch ebenda S. XVII. J
) Zweck i. R. II 171.. ) a . a . O . 156 ff., 177 ff. Interessant ist es, daß I h e r i n g selbst in der Vorrede (S. X X I ) , auf das stückweise Erscheinen seines Werkes hinweisend, bemerkt: „Dieses Los [d. h. „die Belehrungen und Berichtigungen von Seiten voreiliger und kurzsichtiger Kritiker"] wird mir ganz besonders blühen in bezug auf meine Zurückführung des Sittlichen auf den Gesichtspunkt des gesellschaftlichen (objektiven) Utilitarismus. Man wird ihn mit dem abgestandenen öden individuellen Utilitarismus verwechseln und mich schlankweg zum Utilitaristen im letzteren Sinne stempeln . . . ". — Den grundsätzlichen Unterschied zwischen I h e r i n g und B e n t h a m betont besonders scharf und treffend M e r k e l 30, 32; vgl. auch B e r o l z h e i m e r , System der Rechtsphil. Bd. 4, S. 10; B o u g l e , L e o n h a r d (unten S. 8 l , 82 Anm. 2). x
3) Vgl. M e r k e 1 7, V. E h r e n b e r g „Kampf ums Recht" S. X I X .
in der Vorrede zur
I i . Aufl. des
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dem Boden des Optimismus, der Lebensbejahung entstehen. Und umgekehrt: die pessimistische Philosophie S c h o p e n h a u e r s ist (wie namentlich G. S i m m e l 1 ) treffend betont hat) im Grunde nichts als die Philosophie der Zwecklosigkeit. Im Hintergrunde der ganzen finalistischen Philosophie I h e r i n g s steht denn auch wirklich als deren Voraussetzung der Gedanke einer autonomen bewußten Persönlichkeit, die ihre Daseinszwecke in die Außenwelt proiziert *). Der „Zweck im Recht" läßt es aber auch an direkten Aussprüchen nicht fehlen, die sich vollständig mit den persönlichen Beschreibungen decken, die uns über die geistige Individualität I h e r i n g s von den verschiedensten Seiten gegeben worden sind. „Leben" ist in jenem Werke „die Zweckverwendung der Außenwelt für das eigene Dasein"; „Wohlsein ist die Akme des Lebens, der Höhepunkt des Daseins, auf dem die Lebenskraft erst zu ihrer vollen Entfaltung gelangt und für die Zwecke der Natur verwendbar wird". „In der pessimistischen Theorie S c h o p e n h a u e r s kann ich nur die Ausgeburt des sich selbst überschlagenden menschlichen Geistes erblicken. Vor dem Sein mache ich Halt, mit dem Sein aber ist die Behauptung desselben gegeben" 3). ' ) In seiner geistvollen Darstellung: „ S c h o p e n h a u e r und N i e t z s c h e", Leipzig 1907, Vortr. I. 2 ) Mit Recht sagt B o u g l é (133): „Sans doute il établit à l'origine des phénomènes sociaux . . . . le phénomène intérieur simple, primitif, véritable fait prémier, le Désir. Le Désir donne la vie à tout le reste et met en branle les différentes forces de l'histoire; c'est le véritable créateur du monde social." 3) Zweck i. R. II S. 197, 200,201 f. Vgl. dazu die persönlichen Charakteristiken Iherings: M e r k e l : „Ein schaffensfrohes und durch alle menschlichen Affekte mannigfach bewegtes Leben". „Seine Persönlichkeit war . . . . lebensvoll und energisch wirkend." „Eine weltfreudige Natur, wie sie unter hervorragenden Gelehrten sich nicht häufig finden dürfte. Ihm schloß das Leben . . . doch weitaus mehr Lust als Unlust in sich. Jene floß ihm aus hundert Quellen z u " (S. 6, 8; vgl. S. 24: „im „Zweck 1- spricht sich die früher geschilderte Art und Richtung seines Intellekts a u s " ) ; G. B l o n d e l : „ I h e r i n g possédait à un h a u t degré . . . un amour ardent de la liberté" (797); K u n t z e : „ungewöhnlich ausgiebige, sprudelnde, witzige A r t " (3) (vgl. dazu über den „sittlichen Wert der Freude" in Zw. i. R. II 202 ff.); L e o n h a r d : „ I h e r i n g gehörte zu den Kraftmenschen, welche schon von der Natur aus der Menge herausgehoben worden sind usw." (254 f.) u. A. Interessant sind auch die „Briefe und Erinnerungen" („Rudolf v. I h e r i n g 1852—1868") zum 300 jährigen Jubiläum der Universität Gießen, herausgegeben von J . B i e r m a n n (Berlin 1907).
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III. Die Gesamtcharakteristik des I h e r i n g sehen Systems wollen wir aber nicht schließen ohne endlich auch des Einflusses jenes Denkers gedacht zu haben, unter dessen geistigem Banne die ihm nachfolgende Philosophie vielfach steht, — ich meine des Einflusses H e g e l s , Dieser Einfluß äußert sich in I h e r i n g s Philosophie — ebenso wie in einem anderen sonst weit abliegenden Ausläufer des Hegelianismus — in dem Marxismus — in eigenartiger Weise, indem hier wie dort die eigentliche H e g e l sche Methode modifiziert wird. Ähnlich wie M a r x die H e g e l sehe Dialektik „ a u f den K o p f " stellt, indem er statt des Geistes die Materie setzt und jenen aus dieser hervorgehen läßt, so modifiziert auch I h e r i n g die ursprüngliche H e g e l sehe Idee und setzt statt des logischen „ B e g r i f f e s " den praktischen „ Z w e c k " . A b e r nichtsdestoweniger liegt jener Einfluß hier wie dort klar zutage. Hier wie dort lebt H e g e l in dem Streben nach monistischer Gestaltung des Stoffes, in dem Suchen einer die Fülle der Einzeltatsachen umfassenden und ordnenden Grundkategorie, j a in dem dialektischen Parallelismus begrifflicher und geschichtlicher Entwicklung und in der dialektischen Ausdrucksweise selbst unverkennbar f o r t * ) . *) „ E s ist die Dialektik, nicht die logische des Begriffs, an die ich nicht glaube, sondern die praktisch zwingende des Zweckes . . . " (Zw. i. R. 197), „Zweckdialektik" (98), „die Überzeugung von der Kontinuität der Entfaltung des Zweckgedankens in der menschlichen Gesellschaft", die „praktische Triebkraft des Zweckbegriffs" (237); weitere Belege unten S. 80. — Den Einfluß H e g e l s erkennt auch L a s s o n an:
auf I h e r i n g-
„Der geniale Blick für das innerste Lebensprinzip
in den mannigfaltigen Manifestationen eines Volksgeistes, . . . . die Kunst, hinter die Reihe der Tatsachen auf die sie gestaltende geistige Macht hindurchzudringen, die Fülle von geschichtlichen Einzelerscheinungen auf eine zugrunde liegende gemeinsame Kategorie zurückzuführen . . . .
das Große und
Epochemachende,
was er geleistet hat, verdankt er nicht bloß einer ausgezeichheten philosophischen Beanlagung, sondern auch den Anregungen, die ihm bewußt oder unbewußt von einem bestimmten philosophischen System und insbesondere von der Geschichtsauffassung eines solchen gekommen sind, und wenn dafür doch irgend ein System in Anspruch genommen werden muß, so wüßten wir nicht leicht ein anderes als das H e g e l sehe zu nennen" ( X V 147). L a s k (Rechtsphilosophie S. 307) betrachtet den „Geist d. r. R . " als „eine Vermittlung zwischen manchen Bestandteilen der rechtsphilosophischen Spekulation H e g e l s und der positiven Wissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts"; vgl. auch M i t t e i s 656. —
Auf den Einfluß
P u c h t a s wurde obenan einzelnen Stellen hingewiesen. Vgl. auch G 790; Scherz und Ernst ( 1 — 3 . Aufl.) S. 18 Note 1.
Landsberg
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Sollen wir, nach dieser ganzen Darstellung uns noch endlich mit den Vorwürfen „mangelnder philosophischer Bildung", die durch den „Zweck im Recht" bekundet sein sollte, befassen? Dem einen Teil der Kollegen, der sie erhob (vor allem K o h 1 e r) steht nicht nur ein anderer Teil derselben ( D a h n , D r e y e r , L e o n h a r d ) entgegen, sondern vor allem auch die Meinungen von Philosophen wie neben anderen E u c k e n , E r d m a n n und L a s s o n , dessen Ausspruch über den Geist d. r. R. oben zitiert wurde ') und der seine Kritik des Zw. i. R. in das folgende Urteil zusammenfaßt: „Das vorliegende Buch ist in vieler Beziehung ein meisterliches, nicht bloß wenn man es als Werk eines Juristen, sondern auch wenn man es als das eines Philosophen betrachtet, und es ist der eingehendsten Beachtung der Philosophen von Fach dringend zu empfehlen" 2 ).
4. Die Bedeutung des „Zweck im Recht". I. Den „Zweck im Recht" können wir unter einem zwiefachen Gesichtspunkt beurteilen: entweder als geschichtliches Werk, als genetische Darstellung, oder als systematisches Werk, als rationale Darstellung. Stellen wir uns auf den ersteren Standpunkt, so müssen wir das Werk konsequenterweise verwerfen. Denn g e s c h i c h t l i c h haben sich freilich die Dinge nirgends nach dem von I h e r i n g in jener Schrift konstruierten Schema zugetragen 3). Das gilt schon von der zentralen Zweck entwicklung, die für die ganze Schrift das Leitmotiv bildet: I n t e r e s s e —- R e c h t —- S t a a t . Es mag I h e r i n g hierbei das Schema der römischen Privatrechtsentwicklung vorgeschwebt haben, wie er es selbst bereits in seinem „Geiste des römischen Rechts" entworfen hat: ursprünglich der Zustand bloßer faktischer Selbstbehauptung der Person samt ihrem Vermögen — die Epoche der Selbsthilfe, des reinen, jeder ab1) Oben S. 51. *) L a s 3 o n X V 147. 3) Damit soll wohlgemerkt nicht gesagt werden, daß das t e l e o l o g i s c h e P r i n z i p selbst zur Erklärung der geschichtlichen Rechtsbildung untauglich ist; vgl. dagegen unten 87 ff. Im folgenden wird nur die bestimmte schematische Darstellung I h e r i n g s in seinem Werke kritisiert.]
74
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strakten Form und Norm noch entblößten I n t e r e s s e s ; aus diesem Stadium differenziert sich allmählirh, vermittels publizistischer Rechtselemente der eigentliche R e c h t s begriff heraus: aus dem Schutze der Rechte entwickelt sich der Schutz des Rechts; die üblich gewordene Gewährleistung der einzelnen konkreten Rechte setzt aber schließlich als Bodensatz die Idee des S t a a t e s als organisierte Gesellschaft an *). Mag aber jenes Schema in seiner soeben aufgewiesenen engeren Bedeutung zutreffen oder nicht, als verallgemeinerte genetische Darstellung des Rechts läßt es sich jedenfalls nicht halten. G e s c h i c h t l i c h beginnt die Entwicklung des Rechts, wie uns die neueren historischen Forschungen gelehrt haben, vielfach nicht mit dem Individuum und individuellen Rechten im Sinne I h e r i n g s , sondern mit der Gesamtheit und undifferenzierten Gesamtrechten. Gerade das wichtigste der individuellen Rechte z. B., das Grundeigentum erscheint überall als das Resultat eines langen historischen Prozesses, in dessen Anfang es noch, wie vor allem die periodischen Neuaufteilungen des Bodens beweisen, als vollständig undifferenziert und in vollkommener sozialer Gebundenheit erscheint *). Sind auch die Forschungen über das urgeschichtliche Familienrecht, namentlich über die Gruppenehe 3) als dessen ursprüngliche Form, zutreffend, so erscheint auch das individuelle Familienrecht nur als Produkt einer langen geschichtlichen Entwickelung. — Ebenso widerspricht, um in jenem grundlegenden Schema von I h e r i n g fortzufahren, auch die Ableitung des Staates aus dem Rechts bedürfnisse aller geschichtlichen Erfahrung, die uns vielmehr dynastische, politische und wirtschaftliche Momente als Faktoren der Staatenbildung zeigt. Ja, in Umkehrung des I h e r i n g sehen Schemas, erscheint geschichtlich oft der S t a a t selbst, namentlich in seiner Eigenschaft als politische Obrigkeit, als B i l d n e r ') G. d. r. R. I 222. Vgl. übrigens die analoge „universalhistorische" Rechtsentwicklung bei K o h 1 e r „Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte" in Holtzend.-Kohlers Enzyklopädie d. Rechtswiss. I § 47. 2 ) Vgl. namentlich Ch. L e t o u r n e a u , L'évolution de la propriété. Paris 1889. 3) Vgl. M o r g a n , Systems of consanguinity and affinity of the human mankind, Washington 1871, K 0 h 1 e r a. a. 0 . 29 f.
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des Rechts, indem er der Selbsthilfe im Interesse der Vermehrung seiner eigenen Autorität und Gewalt ein Ende bereitet l ). II. Alles das zugegeben, wäre aber, wie eingangs dieser kritischen Betrachtung angedeutet, ein abschließendes negatives Urteil ausschließlich von diesem, also genetischen, Standpunkte aus über den „Zweck im Recht" einseitig und ungerecht, wenn nicht zum Teil einfach eine Verkennung dieses Werkes. Denn unter dem systematischen oder rationalen Gesichtspunkte angeschaut, ist die Methode derselben keine andere, als die in der sozialen und auch der Rechtswissenschaft von jeher 2 ) und auch heute noch angewandte 3). Ihr Wesen kann nicht besser gekennzeichnet werden als durch jenen „präzisen und treffenden" Ausspruch, den Ad. W a g n e r in einer auf die Existenzberechtigung derselben Methode hinzielenden Schrift zitiert: Man erkannte, daß auch in den sozialen Institutionen für die Sozialwissenschaften die eigentlichen P r o b l e m e lägen, während man bisher hier nur A x i o m e gesehen hatte 4). J e 11 i n e k hat für sie den treffenden Ausdruck geprägt: „Rechtfertigungstheorie" oder „Rechtsfertigungslehre" 5) und hat, ebenso wie ' ) Vgl. K o h 1 e r a. a. O. S. 64 § 48. ) Über den „contrat social" von R o u s s e a u sagt J e 11 i n e k (Allg. Staatsl. Bd. I 2. Aufl. S. 204) treffend: „Bei ihm unterliegt es für den, der seinen contrat social wirklich gelesen hat, keinem Zweifel, daß er nicht den bestehenden Staat erklären, sondern den dem Wesen des Menschen entsprechenden Staat aufzeigen und rechtfertigen wolle." 3) Analog wie H. G i o t i u s , der vom stillschweigenden „Gesellschaftsvertrag" spricht, an dem der Einzelne, indem er im Staate bleibt, teilnimmt, so sagt auch J e l l i n e k heute ( a . a . O . 49): „ J e länger eine Institution dauert, desto schwieriger wird es in der Mehrzahl der Fälle, sie zu verändern. Trotzdem erfordert sie stets bewußte Willensakte, um zu existieren. S i e i s t j a im G r u n d e g e n o m m e n n i c h t s a n d e r e s als eine Summe p l a n m ä ß i g zusammengestimmter menschlicher Willensaktionen. (Druck von mir gesperrt.) Vgl. auch a. a. O. S. 177. 3
4) Die akademische Nationalökonomie und der Sozialismus, Berlin 1895, vgl. insbes. S. 19, 22, 24, 25, 26. Vgl. auch desselben Grundlegung der polit. Ökonomie, Teil I I : Volkswirtschaft und Recht (Leipzig 1894) S. 5. 5) a. a. O. S. XIV, 207, 213, 212. Ihr sind in seiner eigenen Darstellung gewidmet S. 177 ff., 223 ff. — J e l l i n e k s „Allgemeine Staatslehre" stellt überhaupt eine bemerkenswerte prinzipielle Anerkennung und systematische Durchführung des Zweckgedankens dar.
76
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S t a m m l e r 1 ) , ihre Existenzberechtigung auch auf dem Gebiete des Rechts nachzuweisen gesucht. Diese ergibt sich aus der methodischen Begrenztheit der geschichtlichen Methode. Die historische Theorie kann uns lediglich den Werdegang sozialer Institutionen veranschaulichen; sie zu r e c h t f e r t i g e n vermag sie nicht. Dies kann nur eine Methode, die der Kultur ihre Z w e c k e und ihr W e s e n ablauscht, die mithin auf das Recht angewandt, das Rationale und die Ontologie der Rechtsinstitutionen ergründet, und das ist nur die t e l e o l o g i s c h e Methode. „Die psychologisch-historische Theorie erklärt mit nichten die Notwendigkeit der staatlichen Zwangsgewalt. Von ihr aus ist und bleibt der Staat eine historische Kategorie, der als solcher niemals der Charakter einer Rechtfertigung innewohnen kann. Sie erklärt das Sein, aber nicht das Seinsollen des Staates", sagt mit Recht J e 11 i n e k in bezug auf die Staatslehre s ). Aber sie erklärt nicht nur das nicht, sondern sie erklärt auch die grundlegenden erkenntnistheoretischen Probleme des Rechts, vor allem den Begriff des Rechts selbst nicht. Sie vermag daher ferner nicht die Grenzlinien zwischen Recht und Moral, zwischen Recht und Sitte, zwischen Recht und Willkür zu ziehen. Sie vermag nicht die Notwendigkeit und die Grenzen des Rechtszwangs nachzuweisen und ist dem Anarchismus gegenüber hilflos. Sie kann endlich nicht, wie S t a m m l e r treffend bemerkt 3), den beiden Problemen überhaupt gerecht werden: Ob dasjenige, was Recht ist, auch Recht sein sollte? Und zweitens: Wie es möglich ist, daß aus Rechtsbruch wieder Recht entstehen kann ?— In derselben Gedankenrichtung bewegt sich auch die Schrift I h e r i n g s*). Alle die genannten Probleme sowie viele andere, die sämtlich teleologischer Natur sind, wirft sie auf und sucht zu beantworten. Hierbei wird oft gerade dasjenige, woran wir vom geschichtlichen Standpunkte aus Anstoß genommen, als ') Vgl. S t a m m l e r , Über die Methode der geschichtl. Rechtstheorie (Halle 1888) passim, Wirtschaft u. Recht (1896) S. 524 ff., Systemat. Rechtswiss. in „Kultur der Gegenwart" (1906) S. 501 f. *) a. a. 0. S. 214. 3) „Über die Methode" usw. S. 12, 13. 4) Mit Recht sagt M e r k e l 31: „Der Inhalt des Zweck im Recht war allgemeinen Richtungen des modernen Denkens allzusehr verwandt."
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rationaler Gesichtspunkt wertvoll *). So wird z. B. die L e g i t i m a t i o n des Staates in seinem rechtlichen Beruf gefunden (vgl. dagegen oben S. 74); d i e ' L e g i t i m a t i o n des Rechtes in seiner Neutralität oder Objektivität; die Rechtfertigung des Rechtszwangs in dem „Daseinszwecke des Individuums" und seiner (des Rechtszwanges) „sozialer Unentbehrlichkeit" 2) usw. Jenen erkenntnistheoretischen Fragen ferner ist die Begriffs entwicklung: Individualgebot — einseitige Norm —• zweiseitige Norm, gewidmet, durch die die formalen Merkmale des Rechts und dessen Verhältnis zur Willkür (samt den damit zusammenhängenden rechtspsychologischen Momenten) doch mit wirklich bewundernswerter Denkkraft dargelegt werden 3). Dieselbe Aufgabe hat auch die inhaltliche oder „materielle" (nach I h e r i n g ) Begriffsbestimmung des Rechts (als „Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft in Form des Zwanges") 4). .„Erkenntnisbedingungen des Rechts aufzuweisen, welche den Begriff R e c h t überall erst konstituieren", „Erkenntnisbedingungen, welche außerhalb der Erkenntnis irgend welcher besonderen Rechtsordnung gelegen sind", nach denen S t a m m l e r verlangt 5), dieses ist mit auch die Hauptaufgabe des I h e r i n g sehen Werkes, mögen freilich die Wege der Lösung hier und dort divergieren. ' ) Umgekehrt macht J e 11 i n e k mit Recht darauf aufmerksam, daß die „Rechtfertigungslehre" ihrem Wesen nach „mit jeder anderen Ansicht von der historischen Entstehung des Staates zu vereinigen ist, indem sie in klaret Weise zu Ende gedacht, nicht den vergangenen, sondern ausschließlich den gegenwärtigen und künftigen Staat auf eine rationale Basis stellen will." (a. a. 0 . 207; vgl. auch 221 sowie das oben- S. 75 Anm. 2 über R o u s s e a u Zizierte). von der Vertragstheorie.
Das gilt insbesondere
„Unter diesem Gesichtspunkte hält E ö t v ö s
(„Der
Einfluß der herrschenden Ideen des 19. Jahrhunderts auf den Staat II 1854, S. 6 1 ) an der Vertragslehre fest, die er klar als reine Rechtfertigungstheorie erkannt h a t " ( J e 11 i n e k , S. 207 Anm.).
Das Gesagte ist auch gegenüber
Sternberg,
Allg. Rechtslehre I 492, festzuhalten, der bei I h e r i n g die „naturrechtliche Erfindertheorie"
aussetzt, sowie daß „er denn überhaupt die naturrechtlichen Klippen
nicht immer glücklich vermieden hat". 2
Vgl. auch unten S. 78 mit Anm. 1.
) Zw. i. R . I 291, 309, 369 ff., 570.
3) Zw. i. R. I 339 ff. 4) a. a. O. 435 ff. 5) Über die Methode usw. S. 10, 54.
(496)
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III. Haben wir durch diese Stellungnahme das richtige Verständnis für das Werk I h e r i n g s gewonnen, so wird uns auch jener Individualismus, auf den wir am Eingange unserer kritischen Bemerkungen hingewiesen haben, als durchaus nicht zufällig erscheinen. Es besteht eine tiefe, auch von anderen bemerkte Verbindung zwischen dem Individualismus und der rationalistischen M e t h o d e selbst 1 ). Denn diese erkennt ihre letzte Instanz in dem Einzelbewußtsein und bringt vor dessen Forum die gesamte soziale Bewegung. Jener individualistische Standpunkt ist daher methodologisch jedenfalls vollauf berechtigt. Auch die extreme Soziologie, die lediglich Bewegungen sozialer Einheiten kennt, wird doch zugeben müssen, daß diese Bewegungen schließlich von I n d i v i d u e n , und zwar nicht in einer mechanischen oder automatischen Weise, ausgeführt werden, sie wird daher vernünftigerweise auch die individuellen Motive menschlicher Handlungen zu begreifen haben und nur den notwendigen Z u s a m m e n h a n g derselben mit den angeblich hinter dem Rücken der Individuen in Wahrheit wirkenden objektiven sozialen Mächten darzutun suchen. Nicht anders im Wesen verfährt auch I h e r i n g 2 ) . Er will die individuellen Motive, die zugleich als „Hebel der sozialen Bewegung" erscheinen, die daher eine „Koinzidenz der Zwecke" bedingen und herbeiführen, untersuchen und zugleich die Rechtsinstitute, die sich in der Bewegung der sozialen Materie auf diese Motive und Zwecke zurückführen lassen, des näheren darstellen.
*) „ W e r das Individuum aus dem geschichtlichen Prozeß ausschaltet, der hat es leicht, die hier behandelte [d. h. Rechtfertigungs- E . H.] Frage gänzlich zu verwerfen, da die Substanz, der Weltgeist, die Materie oder wie sonst das große X heißen mag, über den Köpfen und durch die Köpfe der Individuen ihr Werk verrichten."
J e l l i n e k a. a. 0. S. 221.
—
Der rationale Charakter der Rechtfertigungstheorie bringt ferner eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Naturrecht mit sich. Aber diese Ähnlichkeit ist nur äußerlich, nicht innerlich.
Denn im Gegensatz zum Naturrecht erhebt die Rechtfertigungs-
theorie keinen Anspruch auf Rechts p 0 s i t i v i t ä t; ja sie ist überhaupt keine juristische Konstruktion, noch statuiert sie begrifflich-absolute Rechts i d e a 1 e; sondern sie spricht nur von Kultur b e d i n g u n g e n . ») Vgl. Zw. i. R. I Q4 ff.
79
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IV. Erst jetzt können wir auch die kritischen Einwände gebührend würdigen, die gegen die Methode des „Zweck im Recht" vielfach geltend gemacht worden sind. Tritt man an diesen, wie es F e l i x D a h n in seiner ausführlichen Kritik: „Vernunft im Recht" tut, mit einem rein geschichtlichen Maßstab heran, dann ist allerdings der Ausspruch richtig, I h e r i n g biete uns eine „ ,Phänomenologie des Rechts', wie sie sich in s e i n e m Geiste vollzieht" Aber in diesen Worten steckt bereits die Ahnung der r a t i o n a l e n Struktur des Werkes und an einer anderen Stelle sagt der feinfühlige Kritiker schon selbst verbis expressis 2 ): „Der Verfasser hat in nie erreichter Vollendung den i n n e r e n Z u s a m m e n h a n g einer Reihe von Rechtsbegriffen und von gesellschaftlichen Faktoren dargestellt." Ebenso wenn M e r k e l in dem „Zweck im Recht" eine geschichtliche Darstellung erblicken zu dürfen glaubt und mithin die ganze in ihm vorgetragene Z w e c k entwicklung auch in rein zeitlichem Sinne annehmen muß. Die Unmöglichkeit der vollen Durchführung des letzteren Standpunkts führt auch bei ihm zur Vermengung genetischer und systematischer Gesichtspunkte. Er sagt 3): „Im Sinne I h e r i n g s würde zu antworten sein, daß diese Dinge sich überall zugetragen haben, wo Recht und Sittlichkeit zur Entwicklung gelangt sind. Sein Werk will ein Auszug aus ihrer Entwicklungsgeschichte, ein summarischer, nur die typischen Vorgänge umfassender Bericht über sie sein. Einem solchen Unternehmen läßt sich prinzipiell nichts entgegensetzen . . . Dem Recht sind gewisse, überall identische F u n k t i o n e n wesentlich. In diesen aber kommen gleichartige Bedürfnisse und gleichartige Kräfte zum Ausdruck. Sie sind für die Schöpfung der Rechtswelt als solcher überall bestimmend gewesen." —• Es ist dann von diesem seinem Standpunkt aus richtig, wenn er I h e r i n g die „natürlich auch I h e r i n g nicht unbekannte" Erscheinung des Zweckwandels entgegenhält 4), — obwohl doch dieselbe an dem teleologischen Prinzipe ') Dahn 30 (vgl. auch 23). ) D a h n 24. 3) Merkel 31. 4) Merkel 35. 2
8o
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selbst nichts zu ändern vermag *). Es muß allerdings betont werden, daß zum Teil die Darstellungsart I h e r i n g s selbst zu der hier konstatierten Verwirrung beiträgt. Denn bald bezeichnet e r 2 ) als Tendenz seiner Schrift die „Darlegung d e s G e s a m t z u s a m m e n h a n g e s d e s R e c h t s , " charakterisiert den „Aufbau des Ganzen" in seinem Werke als „Entdeckung des richtigen Zusammenhanges, wie sich eins zum anderen fügt", als „ l o g i s c h e Gliederung der einzelnen Teile, durch keine Sprünge unterbrochene B e g r i ff s entwicklung, die vom Einfachsten ausgehend schrittweise zum Höheren gelangt" und nennt selbst dieses Verfahren „das s y s t e m a t i s c h e oder d i a l e k t i s c h e Element"; bald sagt er: „mit derselben Notwendigkeit, mit der sich nach der D a r w i n sehen Theorie die eine Tierart aus der anderen entwickelt, erzeugt sich aus dem einen Rechtszweck der andere". Durch dieses dialektische Element nehmen sich auch in der Darstellung rein systematische Zusammenhänge wie genetische aus 3). 4) Aber der Kritiker wird die Schale und den Kern voneinander trennen, die erstere wegwerfen und den zweiten behalten. E r wird sich darüber nicht täuschen wollen, daß die Auffindung der den verschiedenen Rechtsinstituten immanenten Kulturzwecke, in der Art wie sie bei I h e r i n g in dem besprochenen Werke geschieht, in Wahrheit nur ein *) Näheres unten S. 87 f. l
) Vorrede zum Zw. i. R . I S. V I I , I X .
Vgl. auch I 2 3 7 : hier charakterisiert
J . den „Gewinn", den er sich von seiner Methode verspricht, als einen „ d o p p e l ten":
„ Z u m ersten die Uberzeugung von der Kontinuität der E n t f a l t u n g des
Zweckgedankens in der menschlichen Gesellschaft, zum zweiten die Förderung dei Erkenntnis des f e r t i g e n
Staates und R e c h t s . "
3) Vgl. oben über den Einfluß H e g e l s auf I h e r i n g S. 7 2 . 4) Als Beispiel gelte der folgende Passus:
„Die P e r s 0 n , d. h. der Zweck
ihrer physischen Selbsterhaltung, trieb das V e r m ö g e n
aus sich hervor, d. h.
den Zweck der geregelten und gesicherten Verwirklichung jenes Zweckes.
Beide
zusammen treiben wiederum zum Rechte, d. h. zu der Sicherung ihrer beiderseitigen Zwecke, die ohne das R e c h t lediglich auf die physische K r a f t des Subjektes gestellt wäre, durch die Staatsgewalt. Momente in sich:
Der Begriff ( ! ) des Rechtes schließt daher zwei
ein System der Z w e c k e
l i c h u n g derselben.
und ein System der
Verwirk-
W i r die Person und das Vermögen das R e c h t , so postuliert
das R e c h t den S t a a t ; die praktische ( ! ) Triebkraft des Zweckes, nicht die logische des Begriffes drängt mit Notwendigkeit von dem einen zum a n d e r n . " Zw. i. R . I 7 3 f. Weitere Beispiele — vgl. oben S. 72 Anm. I.
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systematisches oder rationalistisches Verfahren ist, in dem der dauernde Wert der Schrift selbst beschlossen liegt.
Schlußbemerkungen. I. In den folgenden Worten gibt C h . B o u g 1 é , einer der feinsten Kritiker I h e r i n g s , m. E . eine treffende GesamtCharakteristik des teleologischen Systems von I h e r i n g : ,,Le finalisme de I h e r i n g garde, au milieu des philosophies sociales courantes, une originalité. Il ne se subordonne à aucune d'elles et prend, cependant^ quelque chose à chacune. Les différents principes d'explication à l'aide desquels on essaie de déterminer les phénomènes sociaux gardent à ses yeux une utilité, chacun représente comme un moment de la vérité, que seule la dialectique téléologique peut reconstituer tout entière. E n les faisant rentrer sous un principe d'explication supérieure, il ne les détruit pas, il les dérive en quelque sorte et explique ellesmêmes ces forces au delà desquelles on croyoit ne pas pouvoir remonter. Pour ne pas perdre la part de vérité contenue dans le naturalisme, dans le nationalisme, dans l'idéalisme, dans le matérialisme, il suffit de remettre leurs différents principes à leur rang, d'assigner à chacun sa place dans le système dominé par la fin. Cette largeur synthétique qui charactérise le système de I h e r i n g nous fait comprendre, pourquoi il est si malaisé, parfois, de classer ses tendances, pourquoi les écoles les plus différentes en appellent à son autorité, pourquoi lui-même semble parfois hésiter sur la définition de sa méthode Ces changements de front ne doivent pas nous faire illusion. Au fond, de par sa définition de l'action, sa méthode reste, forcément, psychologique. Sans doute il refuse de placer à l'origine des phénomènes sociaux un phénomène intérieur complété, spécifique, élaboré . . . m a i s il y établit le p h é n o m è n e intérieur e s s e n t i e l , simple, p r i m i t i f , véritable fait premier,leDésir. Le Désir donne la vie à tout le reste et met en branle les différentes forces de l'histoire; c'est le véritable créateur du monde social" — J
) B o u g 1 é 132 f.
Abbandl. d. kriminalist. Seminars.
N. F .
Bd. VI, Heft 4.
6
82
(500)
I h e r i n g s System hat man oft als Utilitarismus bezeichnet. Aber es ist nicht im gewöhnlichen Sinne utilitaristisch, denn es hat dabei nicht das Individuum, sondern die Gesellschaft im Auge, es ist ein System des gesellschaftlichen Utilitarismus. Daher jener Dualismus, der den philosophischen Kritikern I h e r i n g s , L a s s o n und E u c k e n 1 ) , aufgefallen ist: das Nebeneinander von Utilitarismus und Idealismus in I h e r i n g s System. Aber es ist kein Widerspruch und jener Dualismus erklärt sich, denn was für die Gesellschaft utilitaristisch ist, das ist für den Einzelnen, der das Wohl des Ganzen verfolgt, idealistisch z ). Und methodologisch ist der s o z i a l e Utilitarismus in meinen Augen jedenfalls vollkommen durch die soziologische Tatsache gerechtfertigt, daß das geistige und ideale Niveau oder die ideale Fähigkeit sozialer Einheiten naturgemäß hinter der der Einzelnen zurückbleibt 3). I h e r i n g s Idealisierung des Rechtsstaates, seine Lehre vom Staat als Erscheinungsform der Gesellschaft, seine Betonung, daß die Persönlichkeit keineswegs im Staate aufgeht, seine Beschränkung der Staatstätigkeit durch die innere Sphäre der Persönlichkeit, erinnern lebhaft an S p i n o z a (und dessen Polemik gegen H o b b e s). Mit den beiden ist ihm aber der Ausgangspunkt gemeinsam — das vom Selbsterhaltungstrieb beherrschte und ihm gemäß handelnde Individuum. Aber im I) Vgl. L a s s o n X X I 132. ) Ebenso M e r k e l 30: „Der theoretische Utilitarist ist praktischer Idealist." Vgl. auch L e o n h a r d 265 f.: „Seine Formel klingt zwar hart an den überwundenen Rationalismus und Utilitarismus an. Allein der „Zweck" I h e r i n g s ist nicht nur der Eigennutz; in seinem Sinne ist es vielmehr jeder Trieb, der ein Herz bewegen kann. Die Ehrfurcht vor der Autorität und das Mitleid, Glaube, Liebe und Hoffnung, sie alle gehören mit zu I h e r i n g s „Zweck" und die Unterordnung der Einzelinteressen unter die Bedürfnisse der Gesamtheit ist ein Hauptgrundzug der Anforderungen, welche er stellt." l
3) Mit der Tatsache des Bezogenseins des Rechts auf ganze soziale Gruppen ist sein utilitaristischer Charakter von selbst gegeben. Mit Sätzen wie der folgende von K 0 h 1 e r: „Daß die Menschheit große Charaktere, edle Persönlichkeiten hat, ist an sich schon ein erstrebenswertes Gut, auch wenn die ganze Menschheit sich dabei schwer unglücklich fühlen sollte" (Arch. f. bürgerl. R. „Ideale im Recht", S. 162), steht der verehrte Herr Professor auf dem Boden des Rechts wohl vereinzelt da. Falsch ist auch die Schlußfolgerung K o h l e r s (a. a. 0 . 163): „Der Utilitarismus ist eben nicht geeignet, die Grundlage des Rechts zu bilden."
83
Gegensatz zu den beiden erscheint der historische Mensch bei I h e r i n g auch mit der „ e t h i s c h e n Selbstbehauptung" begabt; hierin nähert er sich H u g o G r o t i u s , der den appetitus socialis der Menschen betont, und L o c k e , der in der Innenwelt des Menschen soziale Triebe entdeckt. Daher erscheint bei I h e r i n g auch die Epoche der Selbsthilfe nicht als bellum omnium contra omnes, daher die große Bedeutung, die in der Sitte neben dem Recht beimißt. In I h e r i n g s System e r b l i c k e ich, wie oben des näheren ausgeführt (S. 36 ff.) auch eine „kritische Wertspekulation" ( L a s k ) . Daher ist der Vorwurf der „Ideallosigkeit" ») des I h e r i n g sehen Systems m. E . unhaltbar 2). I h e r i n g s Rationalismus ist durchaus geschichtlich. Wenn das Naturrecht als „unhistorischer Rationalismus", der Historismus als nichts als Empirismus bezeichnet werden müssen, so muß I h e r i n g s System als historischer Rationalismus 3) gekennzeichnet werden. II. „ L a plupart des ouvrages, d'ailleurs énormes, de I h e r i n g restent inachevés •— sagt B o u g 1 é. — Cela même est un indice de sa vocation philosophique. Il ne pouvait entrer dans un sujet sans l'élargir aussitôt. Derrière les problèmes particuliers, historiques et juridiques, il apercevait vite les problèmes généraux, philosophiques, et quittait bientôt les premiers pour les seconds, ne s'arrêtant qu'au dernier pourquoi" 4). I h e r i n g paarte glücklich in seiner Konzeption die Fähigkeit zur Verallgemeinerung und zur Konkretisierung. „Wie *) P e t r a i y c k i ,
Einführung in d. Studium d. Rechts u. d. Sittlichkeit,
2. Aufl. 1907 (Petersburg, russisch), S. V , ») Mit Recht sagt L a s k
(a.a.O.
VI. 271):
„ D i e absolute,
transzendental-
philosophische Tendenz hat mit dem Naturrecht jede denkbare Wertspekulation, auch jede „kritische", gemeinsam." 3) Vgl. auch L e o n h a r d
18:
„ D a ß die allgemeinen Rechtslehren, die er
aus den verschiedensten Gebieten durch Verallgemeinerungen gewann, nach R a u m und Zeit eine besondere Gestalt annehmen müssen, dies hat er nicht bestreiten wollen.
N u r die Methode, nicht den Inhalt der Rechtswissenschaft wollte er v e r -
allgemeinern." — Als Beispiel vgl. G. d. r. R . I i
131.
4) B 0 u g 1 é 103 f. Ebenso L a n d s b e r g : „ D a ß die beiden gewaltig angelegten Werke I h e r i n g s unvollendet geblieben sind, läßt sich nicht als zufälliges Mißgeschick betrachten; es lag wohl im Charakter der Stoffe wie des Verfassers" usw.
6«
(502)
84
hoch er sich auch in der Sphäre des Allgemeinen erhob, das Konkrete blieb ihm immer in vollster Klarheit gegenwärtig, ein Adler, der sich in Bergeshöhe erhebt, dabei aber, was unten kreucht und fleugt, in gemeiner Deutlichkeit vor Augen hat" '). Seine Rechtsphilosophie in ihrer Gesamtheit, mögen ihre einzelnen Teile hier und da anfechtbar sein, bleibt in ihrer Kraft fülle und ihrem Einfluß eine dauernde Errungenschaft des rechtsphilosophischen Denkens, aus der auch die künftige Rechtsphilosophie schöpfen wird. ') Merkel 9.
ZWEITES
BUCH.
Kapitel III.
Kritik des finalen Prinzips. § i. Das finale Prinzip und die Erkenntnistheorie des Rechts. „ L a science du droit devra, pour se constituer, spécifier la fin qui lui servira de principe explicatif."
Bouglé. Der methodologischen Bedeutung des finalen Prinzips für die Erkenntnistheorie des Rechts wurde schon oben (Kap. I, S. 8) kurz gedacht. Namentlich im Gegensatz zu der Doktrin des Historismus wurde dort betont, daß erst mit dem Zweckgedanken wir das Recht der wissenschaftlichen, d. h. positiven, Erkenntnis überhaupt erschließen. Mit Recht hat B o u g l é (in seiner Kritik des Systems von I h e r i n g) darauf hingewiesen, daß die wissenschaftliche Bedeutung des Zweckprinzips in der Mitte zwischen seiner universalen und speziellen Anwendung liegt *) ' ) „ . . . le principe téléologique de I h e r i n g pourrait sembler mal fait pour contenter l'esprit scientifique.
Celui-ci veut sans doute ramener à la plus
haute unité possible la plus grande multiplicité possible de phénomènes; mais il ne veut pas poser, d'emblée, une unité si large qu'elle n'explique aucune distinction et laisse indéterminé tout le détail de la réalité. Ce qui explique tout n'explique rien. De là la reproche qu'on adresse souvent à la téléologie: le principe d'explication qu'elle propose manque de spécificité, il convient à tout et par suite ne sert à rien. — Faut il dire, d'un autre côté, que si l'on veut spécifier ce principe et expliquer les actions humaines . . . par tel ou tel désir particulier, on tombe nécessairement dans l'excès inverse, offrant des explications trop particulières après avoir offert des explications trop générales, passant d'une trop grande unité à une trop grande muliplicité, non moins contraire à l'esprit scientifique ? avec B a r t h
Pourquoi déclarer à priori,
(Geschichtsphilosophie H e g e l s u. d. Hegelianer, p. 122), que la
téléologie ne peut poser ou qu'une fin universelle, ou qu'un nombre infini de fins spéciales ? Ici encore entre l'Un et l'Infini, entre le Même et l'Autre, on peut placer ses intermédiaires.
Au lieu de passer brusquement de la fin universelle aux fins
toutes particulières que suscite la diversité infinie des circonstances, on peut arrêter l'esprit sur un certain nombre de fins intermédiaires, plus générales que celles-ci, moins générales que celles-là, espèces téléologiques" (135 f.).
86 und in diesem Sinne in der Herausschälung des finalen Prinzips eines jeden sozialen Kulturgebiets eine unerläßliche methodologische Voraussetzung seiner wissenschaftlichen Erfassung und Bearbeitung überhaupt erblickt. „Pour connaître les lois des phénomènes sociaux —1 sagt er — nous essaierons d'en expliquer l'organisation par la poursuite d'une des fins sociales une fois posées, abstraction faite de la présence des autres fins. Pour connaître scientifiquement le tissu social, il faudra en séparer les différents fils, saisir chacun d'eux à part et le suivre aussi longtemps que l'on pourra. Ainsi se constitueront les sciences sociales particulières Ainsi peut s'expliquer la prépondérance que garde, malgré tout, la science de l'économie politique . . . Il semble que la facilité relative avec laquelle elle peut définir le mobile économique et l'abstraire des autres fins, en donnant de la détermination à ses explications, rende mieux compte de la facilité relative, avec laquelle elle a pu formuler quelques lois, ou tout au moins indiquer quelques tendances . . . . La science du droit devra de même, pour se constituer, spécifier la fin qui lui servira de principe explicatif. Conformément à cette méthode, I h e r i n g cherche ; à marquer, entre les différentes fins que poursuivent les sociétés, l'originalité de la fin juridique. Et l'on peut trouver que sa définition manque encore de précision; mais il faut reconnaître que son effort, du moins, indique le sens du progrès des sciences sociales. Pour qu'elles se constituent systématiquement, il faudra que l'on classe les différentes fins poursuivies par les sociétés" *) 2) 3). >) B o u g 1 é 136, 137, 138. . Vgl. auch 103 (zit. oben S. 8 Anm. 2); S. 124: „ A la lumière de cette idée de finalité, les phénomènes juridiques apparaîtront, non plus comme des fruits de la nature, mystérieux, inexplicables, mais comme des produits de l'art human . . . . on pourra . . . leur assigner des causes précises dans les tendances, soit de l'État, soit de l'individu." *) Die konstituierende Bedeutung des Zweckprinzips für die (positive) Rechtsphilosophie erkannte schon L u d w i g K n a p p . Er setzt deren Aufgabe in die Bekämpfung der „Rechtsphantasmen", d. h. der „Vorstellung des ü b e r m e n s c h l i c h e n , religiös der gestaltenden, spekulativ der begrifflichen Phantasie entsprossenen Rechtsgebotes" durch den Nachweis „ d e r i r d i s c h e n E r z e u g u n g u n d Z w e c k b e s t i m m t h e i t des Rechts", durch „die Reduktion des Rechts auf die Wirklichkeit" (System 243 u. passim, Druck von uns gesperrt). 3) Die Bedeutung des finalen Prinzips erstreckt sich aber nicht nur auf die Erkenntnistheorie des Rechts im Sinne der Rechtssoziallehre, sondern auch im
87
(505) §
2-
Das finale Prinzip und die Erklärung der geschichtlichen Rechtsbildung. I. S o m b a r t hat zweifellos Recht, wenn er behauptet, daß die Wahl zwischen dem teleologischen und dem kausalen Prinzip der Erklärung stets durch die Natur des jeweiligen Forschungsobjekts selbst bedingt sein muß l ). Nun ist aber das Rechtssetzen 2) keine Triebhandlung, sondern eine Zweckhandlung. Daraus folgt, daß die finale Erklärung der Rechtsentwicklung möglich, wenn nicht geboten ist. Das Recht wird hierbei als im Dienste der verschiedensten, immer aber a u ß e r h a l b s e i n e r s e l b s t belegenen Zwecke erscheinen, und die Aufgabe der teleologischen Erklärung wird eben darin bestehen, den Zusammenhang der Rechtsordnung mit diesen h e t e r o g e n e n Voraussetzungen aufzudecken 3). Die Berücksichtigng der (von W u n d t zuerst für die Sitten-4),) von J e l l i n e k in juristischen Sinne, d. h. auf die juristische Methodologie, vgl. dazu namentlich L a s k a. a. O. S. 306 ff., sowie unsere Ausführungen unten S. 93 ff., 1 1 2 ff. ' ) Vgl. Geleitwort zum „Modernen Kapitalismus", Bd. I, Leipzig 1902. 2 ) Über Gewohnheitsrecht vgl. unten S. 89. 3) Die systematische Stellung dieses Zweiges der Rechtswissenschaft ist bestritten. Nach S t e r n b e r g (Allgem. Rechtslehre, 1. Teil, Göschen 1904), der die allgemeine Rechtslehre als „streng juristische Disziplin" von der Rechtsphilosophie scharf unterscheidet, die den „Beziehungen" des Rechts zu den „außerfachlichen" Gebieten nachgeht (a. a. O. S. 158 ff.) muß er in den rechtsphilosophischen Bereich fallen. Nach L a s k gehört er wohl nur einer „Kulturwissenschaft" im R i c k e r t sehen Sinne an, deren Gegensatz die Rechtsphilosophie als überempirische Wertlehre bildet (L a s k , Rechtsphil. S. 281). (Nahe kommt dieser Ansicht L. K n a p p , nach dem die „Vollendung" des positiven Wissens „das E n d e d e r P h i l o s o p h i e , d. h. ihre Aufnahme in die allgemeine Geschichtswissenschaft ist", Syst. d. Rechtsphil. 39); S t a m m l e r endlich weist ihn, in Anlehnung an M e r k e l , ausdrücklich der Allgemeinen Rechtslehre zu, die nach ihm „zweierlei zu erfüllen h a t : die juristischen Teilwissenschaften zu ergänzen durch die Erforschung und Bearbeitung dessen, was den verschiedenen Teilen der Jurisprudenz gemeinsam ist; sodann aber die allgemeinen Gesetze der Entwicklung des Rechtes klar zu stellen" (Wirtsch. u. R . x. Aufl. S. 11 u. Anm. 5, S. 11—15). — Das Gesagte genügt, um zu zeigen, welche Divergenz auch in der heutigen Wissenschaft über Aufgaben und Methoden der allgemeinen Rechtsdisziplinen herrscht. 4) E t h i k , 2. Aufl., Stuttg. 1892, S. 1 1 4 ff.
(506)
88
bezug auf die Rechtsentwicklung betonten Erscheinung des „Zweckwandels sozialer Institutionen" l ) muß uns davor warnen, den Rechtsinstituten nicht ihrer Epoche adäquate, sondern der späteren Entwicklung entnommene Zwecke unterzuschieben; an dem finalen Erklärungs p r i n z i p selbst vermag sie wohl nicht zu rütteln 2 ). Im Gegenteil, sie zwingt uns nur, auch den Zwecken fern zurückliegender und deshalb scheinbar zweckloser „organischer" Prozesse der Rechtsbildung forschend nachzugehen. Denn „in der Regel nimmt man organischen Ursprung und Werden einer Institution an, wenn man den Hergang dieses Entstehens und Werdens nicht kennt Je weiter aber historische Forschung dringt, desto mehr bestätigt sie uns das, was selbstverständlich sein sollte, daß alle Institutionen bewußten Willensakten ihren Ursprung verdanken, durch Zweckwandel jedoch von ihrem ersten Entstehungsgrund sich loslösen und dadurch den Anschein von Bildungen erlangen, deren Dasein vom menschlichen Willen unabhängig ist" 3). II. Erkennen wir die teleologische Natur der Rechtssätze an, so werden wir auch bei der R e c h t s v e r g l e i c h u n g , wo wir nämlich eine divergierende Ausgestaltung des gleichen Rechtsinstituts vorfinden, nicht sofort auf einen absoluten innerjuristischen Unterschied schließen, sondern diese Divergenz auf Ungleichheit der vorjuristischen, sei es spezielleren oder allgemeineren kulturhistorischen, Voraussetzungen des Rechts zurückzuführen suchen. Besonders kompliziert ist die methodologische Natur jener Rechtssätze, deren vorjuristische Voraussetzungen in der E t h i k ') Allg. Staatsl. I, S. 42 ff. (2. Aufl.). ) Auch J e 11 i n e k , der die Gesetzmäßigkeit der „sozialen Zweckwandlung" betont, p o l e m i s i e r t damit zugleich gegen das Naturrecht sowohl als gegen die organische Auffassung des Historismus, a. a. 0 . 45 ff. 2
3) J e 11 i n e k a. a. 0 . 47. Ebenso G. T a r d e , La logique sociale, Paris 1898, Préface XVI: „Nous sommes trop portés à regarder les créations sociales qui se sont produites dans la préhistoire comme des produits inconscients. Il nous semble paradoxal de penser que les gens de ce temps-là ont su, comme nous, ce qu'ils faisaient et ce qu'ils voulaient. Et ce préjugé est, à mon avis, l'une des illusions qui retardent le plus l'avènement de la véritable science sociale. Il nous empêche de comprendre la formation des langues, des religions, des gouvernements, des industries, des arts." I h e r i n g , G. d. r. R., III 6.
(507)
89
liegen. Während bei der überwiegenden Mehrzahl der Rechts sätze sozusagen der Abstand zwischen der Norm und ihrer metajuristischen Voraussetzung deutlich sichtbar ist, vermindert er sich naturgemäß bei den Rechtssätzen der bezeichneten Art dermaßen, daß sie fast mit demselben Anspruch auf Absolutheit auftreten, wie ihre ethischen Voraussetzungen selbst, und daher erst die kulturhistorische Betrachtung, die die Relativität der letzteren selbst dartut, vermag auch jenen Anspruch zu zerstören '). Gehen wir jetzt zum Gewohnheitsrecht über. Erscheint dieses auf den ersten Blick als ein unumstößliches Argument für die Theorie der unbewußten Rechtsbildung im Sinne der historischen Schule, so erweist die kritische Betrachtung auch für das Gebiet des Gewohnheitsrechts die vollständige Unsicherheit des Begriffs der Volksüberzeugung im Sinne eines ursprünglichen „psychischen Gesamtphänomens", dessen unmittelbare Äußerung das Recht sei 2 ). Der Bildungsprozeß des Gewohnheitsrechts, der sich einer induktiven Betrachtung eröffnet, stellt sich vielmehr dar als eine tatsächliche gleichförmige Wiederholung einer Handlung durch die Einzelnen aus bewußten subjektiven Motiven und Zwecken, der der Beobachter in der Folge, vermöge der „normativen Kraft des Faktums" (J e 11 Ln e k) oder durch die Autorität des bisherigen Gebrauchs eine rechtliche Geltung beimißt 3). *) Interessant ist z. B. in dieser Beziehung die Kontroverse: G i e r k e , Deutsches Genossenschaftsrecht Bd. I (1868) Einleitung (zu vgl. auch L a s k a. a. 0 . 287) und andererseits S 0 m b a r t a. a. O. Kap. VI, S. 125 Anm. 2. *) Vgl. E. Z i t e l m a n n , Gewohnheitsrecht u. Irrtum, Arch. f. ziv. Pr. Bd. 66, S. 412 ff. G u t h e r z , Studien a. a. O. 52: „Die Auffassung des Rechts als Produkt der Volksüberzeugung ließ sich selbst nicht in der Theorie des Gewohnheitsrechts halten." 3) Z i t e 1 m a n n a. a. O. 459. Sehr nahe kommt dieser Ansicht neuerdings auch S a l l e i l l e s (Einf. in d. Stiid. d. d. bürg. R., übers, v. L e o n h a r d , Breslau 1905 — unter Zitierung von G u t h e r z a. a. 0. 44 f.) in ausdrücklicher Anlehnung an L a m b e r t (La fonction du droit civil comparé, Paris 1903): Man muß „ohne . . . die schwerwiegende Bedeutung dessen, was man das gesamte Volksbewußtsein nennt, zu verkennen, davon überzeugt sein, daß in der Regel dieses Gesamtbewußtsein nicht am Anfange der Entwicklung des Gewohnheitsrechts steht, sondern vielmehr ihr Endergebnis ist." „Alles wird von dem Einzelnen angeregt; sodann verbreitet es sich teils von Seiten einer Autorität oder so, daß
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9° § 3Das finale Prinzip und die Rechtsdogmatik.
I. Der Zweck ist ein konstitutives Element des Rechts; aber, von einer anderen Seite betrachtet, erscheint er als sein dekonstruktives Element. In der T a t : befindet sich das Recht in der Jurisprudenz gleichsam in einem Ruhezustand, so ist der Zweck ein dynamisches Moment, welches es in Bewegung versetzt; erscheint es in der Dogmatik in einer Abstraktion — losgelöst von der übrigen Wirklichkeit, so hebt das Zweckmoment die Abstraktion auf und zeigt es nur als einen integrirenden Teil der realen Welt. Die positivistische Bewegung in der Rechtswissenschaft, von K i r c h m a n n s Schrift „Über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft" (1848) angefangen und bis aijf das moderne Buch von F u c h s „Die Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz" (1909) war und ist denn auch letzten Endes eine antidogmatische Bewegung. Und daß auch die heutige positive Schule des Strafrechts, die das Losungswort der „Zweckstrafe" auf ihre Fahne geschrieben hat, theoriefeindliche Elemente in sich birgt, wird unten des näheren dargelegt werden *). Jene Bewegung geht wesentlich darauf hinaus, die Rechtswissenschaft zu einem Teile der Soziologie zu machen, Dogma, Geschichte und Philosophie des Rechts in Eins zu verschmelzen 2 ). Der Antidogmatismus entsteht zum Teil u n t e r dem d i r e k t e n E i n f l u ß der L e h r e n Iherings, insbesondere der Lehre vom Recht als Interessenschutz. Sie beeinflussen übrigens nicht nur das Verhältnis zur Rechtsdogmatik i. e. S., sondern auch prozessuale Anschauungen. B e r e i t s i n d e r S c h r i f t v o n M u r o m z e f f , eines der eifrigsten Anhänger I h e r i n g s 3), über „Das Gericht und einer auf den andern Einfluß ausübt, teils durch Nachahmung" (5. 66, 67). Interessante Beispiele ließen sich aus dem Völkerrecht anführen.
—
Vgl. z. B .
v. L i s z t , Das Völkerrecht, 4. Aufl. § 14 I 1 u. § 21 II 1. 0 Vgl. unten S. 115 ff. 2)
Belege aus der Literatur verschiedener Länder bei P a c h m a n n 34 ff.
3) S. A. M u r o m z e f f f 5/18. X . 1910, ein angesehener russischer Rechtsgelehrter und früherer Dumapräsident, erscheint als energischer Verkünder der I h e r i n g sehen
Ideen in Rußland.
In einem Nachruf für ihn schreibt Prof.
(509)
9i
Gesetz im Zivilrecht" v o n 1 8 8 0 f i n d e n w i r d i e m i t voller Bestimmtheit ausgesprochene Forderung der ,,freienRechtsfindung"alsdervollkommenen Durchführung des Rechts als Interessenschutzes. — Im folgenden kann es sich daher nicht nur darum handeln, den Methodenunterschied zwischen der Jurisprudenz und der „Soziallehre" vom Recht zu betonen, wie J e l l i n e k und L a b a n d 1 ) , sondern vielmehr darum, die E x i s t e n z b e rechtigung der Dogmatik v o m teleologischen G e s i c h t s p u n k t e zu untersuchen. Auf folgende Grundgedanken kann m. E . diese Daseinsberechtigung gegründet werden. 2. I. Die erkenntnistheoretische Voraussetzung des Antidogmatismus kann m E . nur die sein, daß jede Lebenserscheinung eine absolute Individualität ist, für die jedesmal eine neue Norm geschaffen werden muß; — dann ist allerdings der Lebensnerv der Rechtsdogmatik abgeschnitten. Aber diese Voraussetzung ist unzutreffend. In den Lebenserscheinungen sind stets, wenn auch nicht in streng logischem Sinne identische, so doch homogene Elemente enthalten, die einer rechtlichen Normierung fähig sind. Als schlagender Beweis dafür kann m. E . die „vorwissenschaftliche G a m b a r o f f („Rjetsch", vom 6/19. X . 1910): „Ich entsinne mich seines Vortrags in der Juristischen Gesellschaft über R u d o l f I h e r i n g , der damals in Rußland noch sehr wenig bekannt war. Eigentlich ist dieser Vortrag einer der charakteristischen Momente der Tätigkeit von M. als Jurist und Gelehrter. Ihm gebührt das Verdienst der Popularisierung der Rechtsideen I h e r i n g s in Rußland. Waren einzelne Professoren mit dem deutschen Gelehrten unmittelbar bekannt, so haben die breiten Juristenkreise, die Advokatur und die studierende Jugend — eine ganze Juristengeneration — I h e r i n g durch M u r o m z e f f kennen gelernt. M. hat nicht nur zur theoretischen Entwicklung der Ideen I.'s, sondern, auch zu ihrer Durchführung in der Gerichtspraxis beigetragen. Das war wesentlich ein Kampf gegen den Formalismus in der Jurisprudenz und eine Verkündung der Befestigung des Bandes zwischen Leben und Recht." — Ein interessanter Brief I h e r i n g s an die russischen Rechtsgelehrten, der diese Gemeinschaft bezeugt, ist im Journal für Zivil- und Strafr. 1882, Heft 2, abgedruckt. ' ) Vgl. J e l l i n e k , AUg. Staatsl. 2. Aufl. S. 49 ff., System der subjektiven öffentl. Rechte, Freiburg i. B. 1892, S. 13 ff.; L a b a n d , Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 4. Aufl., Bd. 1, Vorwort zur I. Aufl., S. V f.. Vorw. z. 2. Aufl., S. I X .
92
(5io)
Begriffsbildung" angeführt werden. Die Typizität der Lebens erscheinungen und Erscheinungskomplexe also, die zu regeln das Recht doch in der Hauptsache berufen ist, bedingt mit der Existenzberechtigung des Rechts selbst auch die der Rechtsdogmatik *). II. Der Grundgedanke der Rechtspositivität zeigt uns insbesondere, daß der Antidogmatismus keine notwendige Konsequenz der Interessenlehre ist. Vielmehr gerade indem die Aufgabe und mithin die raison d'être des Rechts darin gefunden wird, aus der Mannigfaltigkeit der tatsächlichen Lebensbeziehungen eine Gruppe der „schutzwürdigen" typischen Interessen herauszusondern und zu fixieren, wird eine in den Dienst dieser Interessen sich stellende Dogmatik erforderlich 2 ), mag im übrigen noch so richtig sein, daß stets ein durch die Dogmatik nicht gedeckter Teil der gesamten Wirklichkeit übrig bleibt. Haben wir bestimmte, d. h. inhaltlich von uns ein für allemal fixierte Interessen als schutzwürdig anerkannt, so sind wir durch diese positive Grenzbestimmung des Interessenschutzes durch das geltende Recht insofern der Untersuchung der Interessenfrage überhoben, und nun kann die Dogmatik in ihre Rechte eintreten, und die ihr gegebenen gesetzlichen Voraussetzungen in ihrer eigenen Weise weiter bearbeiten 3). Das gilt nicht nur in bezug ') Auch P a c h m a n n (72, 79) gründet die Rechtsdogmatik neben anderem auf die „Gleichförmigkeit der Erscheinungen". Ich finde die indirekte Andeutung desselben Gedankens bei I h e r i n g , G. d. r. R. II 365: „Ist nun aber unsere Wissenschaft nur eine Theorie der Mittel sozusagen der materia medica, die das Recht für die Zwecke des Lebens in Bereitschaft hat" usw. 3) Ich glaube denselben Gedanken bei L a b a n d , a. a. O. V, VI, wiederzufinden. „In den ersten Jahren nach Gründung des Norddeutschen Bundes wendete sich das öffentliche Interesse naturgemäß der p o l i t i s c h e n Würdigung der Neugestaltung Deutschlands zu . . . Je längeren und je festeren Bestand die neue Verfassungsform hat, desto müßiger erscheinen die Betrachtungen darüber, ob ihre Einführung für heilsam oder für schädlich zu erachten sei . . . . Nachdem die Tat der Neugestaltung Deutschlands vollbracht ist, entsteht das Bedürfnis, sich zum Bewußtsein zu bringen, worin diese Tat bestanden hat, welchen Erfolg sie bewirkt hat. Die Befriedigung dieses Bedürfnisses ist eine Aufgabe der Rechtswissenschaft." Bei I h e r i n g , Gutachten betr. die Gäubahn, S. 97, heißt es: „Die Interessen werden grundsätzlich durch das positive Recht v o n v o r n h e r e i n bestimmt"; daraus folgt wiederum die Notwendigkeit der Dogmatik.
(5ii)
93
auf das Privatrecht, sondern z. B. auch in bezug auf das Strafrecht. Haben wir nämlich eine bestimmte Anzahl von typischen Rechtsverletzungen als Delikte, m. a. W. eine bestimmte Gruppe von Interessen als im kriminellen Sinne schutzwürdig anerkannt, so bleibt noch eine Reihe von Fragen übrig, deren Entscheidung der Dogmatik zufällt; die genaue Begriffsbestimmung des Rechtsguts als Objekt dieses Rechtsschutzes, die Analyse aller Tatbestandsmerkmale, des Verhältnisses dieses konkreten Delikts zu verschiedenen anderen, der Konkurrenz usw. III. Der Zweck wirkt aber auch in die Rechtsdogmatik hinein. Auch dort, wo die Rechtslogik scheinbar sich zu ihrer größten Freiheit aufschwingt, nämlich in der juristischen „ K o n struktion", bleibt sie doch von teleologischen Gesichtspunkten beherrscht. Der Zweck bleibt nicht nur außerhalb der juristischen Begriffsbildung, jenseits (L a b a n d) derselben, sondern ragt in sie selbst hinein. Man muß sich stets vergegenwärtigen, daß das Mittel der Dogmatik keineswegs nur in der Logik besteht, daß vielmehr die Rechtslogik einen ganz eigenartigen Charakter hat. Dies ist schon durch das Objekt des Rechtes selbst bedingt. Das Recht hat in welcher Form auch immer menschliche Handlungen zum Ziele. Und dieses praktisch-soziale Moment genügt schon allein, um eine innere, souveräne Autonomie, wie sie die Logik besitzt, für die Jurisprudenz unmöglich zu machen. Was heißt z.; B. die „ L o g i k " oder die „ N a t u r " oder das „Wesen" In demselben Gutachten unterscheidet demgemäß I h e r i n g
zwei
Kategorien
von Verträgen, nämlich die von der Rechtsordnung von vornherein als schutzwürdig anerkannten und die nicht ausdrücklich geregelten (zum Teil dem Verkehr im technischen Sinne, zum anderen dem Grenzgebiete zwischen dem Verkehr und der reinen Geselligkeit angehörenden) Verträge und bezeichnet die ersteren als „schlechthin klagbare", bei welchen „die Zweckbestimmung grundsätzlich mit dem Kontrakt nichts zu schaffen h a t " und „lediglich das Motiv des Klägers bildet", die zweiten — als „hypothetisch klagbare", die „stets den Nachweis eines Interesses erfordern" (a. a. 0. n o , 112).
Für jene ersteren ist daher ein entwickelter dog-
matischer Apparat notwendig und möglich. — Auch unsere moderne prozessuale Schule scheidet mit Recht die Interessenfrage aus dem Bereiche des materiellen Rechts aus und behandelt sie systematisch im Prozeßrecht als materielles (nach J. G o l d s c h m i d t )
oder formelles (nach H e 11 w i g) „Justizrecht" (sogen,
materielle Klagrechtsvoraussetzungen), wobei sie aber bei einem „privatrechtlich erheblichen erachtet.
Anspruch"
den
Rechtsschutzanspruch
als
grundsätzlich
gegeben
(512)
94
einer Sache oder eines bestimmten Rechtsverhältnisses (ihr „dogmatischer Gehalt" nach J e 11 i n e k) ? Es ist klar, daß ich die Konstruktion aus der „Sache" selbst nicht hervorzaubern kann. Jedem sprachlichen Ausdruck liegt freilich eine bestimmte materielle Vorstellung zugrunde und wir vermögen diese namentlich auch durch die Vergleichung mit verwandten Begriffen festzustellen. Aber daraus läßt sich der ganze j u r i s t i s c h e - , Gehalt der Begriffe mit nichten entwickeln. Die Willens- und Vorstellungstheorie sind nicht aus dem Begriffe des Vorsatzes, die verschiedenen Kausalitätstheorien nicht aus dem der Kausalität, die subjektive oder objektive Theorie der „höheren Gewalt" nicht aus dem Begriffe oder dem mystischen „Wesen" der höheren Gewalt herausgelesen, sondern in diese Begriffe erst durch die juristische Überlegung hineinproiziert worden. Wäre dem anders, so hätte es einer Jurisprudenz nicht bedurft; sie wäre durch die Feststellung des sprachlichen Begriffsinhalts ersetzt. Die juristische Konstruktion erscheint aber in der Tat als das Resultat eines logisch-psychologischen Prozesses, in dem nicht nur die Logik, sondern auch bestimmte Zweckmäßigkeitsund Gerechtigkeitserwägungen konstitutive Elemente sind. Oft verläuft dieser Prozeß ganz bewußtermaßen. Wir nehmen z. B. eine bestimmte Konstruktion an, weil sie uns den sozialen V o r a u s s e t z u n g e n , d. h. den sozialen Zwecken eines Rechtsinstituts sich am besten anzupassen scheint, wenn sie beispielsweise den größten Kreis der einschlägigen praktischen Fälle umfaßt; oder wir erwägen die praktischen F o l g e r u n g e n , die sich aus den juristischen Konstruktionen ergeben, verwerfen diejenigen, die unsres Erachtens zu ungerechten Resultaten führen, und wählen die, die dieses möglichst vermeidet I ). Auch dort aber, wo der Dogmatiker in völliger Abstraktion zu kon' ) Dies ist auch einschränkend zu der Gegenüberstellung von J e 1 1 i n e k zu bemerken:
„ F ü r diese Disziplinen:
für Rechtsgeschichte, Politik, Politische
Ökonomie . . . kommt das Recht gar nicht nach seinem
dogmatischen
G e h a l t , s o n d e r n nach seinen ethischen, religiösen, ökonomischen, politischen Voraussetzungen S. 17). —
und W i r k u n g e n
in B e t r a c h t " ( S y s t . d. subj. öff. R .
Übertrieben der von der freien .Rechtsfindung, insbesondere
ausgebeutete Satz L . K n a p p s:
Fuchs
„ D i e Schale des Rechts ist der Kern der J u r i s -
prudenz" ( S y s t . d. Rechtsphil. S. 239).
(513)
95
struieren glaubt, befindet er sich in Selbsttäuschung. Denn woher soll er den „dogmatischen Gehalt" eines bestimmten Rechtsbegriffs oder Rechtsinstituts herausholen, wenn nicht, sei es auch unbewußt, in letzter Instanz aus der Harmonie der Konstruktion selbst mit seinem Rechtsgefühl. Alle Rechtsbegriffe sind daher voluntaristisch. Insofern arbeitet die Dogmatik unmittelbar der Rechtssprechung vor. In der Rechtslogik gibt es nichts Zwingendes und nichts Obligatorisches, wie in der Logik: eine Wahl zwischen den verschiedenen Konstruktionen steht frei. Mag der systematische, von J e 11 i n e k und L a b a n d besonders betonte Unterschied noch so begründet sein: Jurisprudenz und „Rechtssoziallehre" gehen vielfach ineinander über. Die Rechtslogik gehört nur zum Teil der reinen Logik, zum anderen aber nicht dem logischen, sondern dem e m o t i o n a l e n D e n k e n an, dem auch die Ethik und die Ästhetik mit angehören *). 1)
Überschätzt wird das logische Element bei L a b a n d (a. a. 0. I X :
„Zur
Lösung dieser Aufgabe [d. h. der Konstruktion] gibt es kein anderes Mittel als die Logik"), P a c h m a n n 74 ff., der mit dem doktrinären „Wesen der Sache" operiert, PetiaZycki
passim; auch I h e r i n g ist nach dieser Richtung nicht voll-
kommen einwandsfrei in „Unsere Aufgabe" S. 18.
Übrigens spricht L a b a n d
an einer anderen Stelle (des zitierten Vorworts) von „ m ö g l i c h s t § r richtigkeit",
Folge-
und I h e r i n g charakterisiert in dem Aufsatz über „die Reflex-
wirkungen" das Rechtssystem als „System der Transaktion zwischen Folgerichtigkeit und Wohlfahrt" (oder dem „Gedanken der Billigkeit"), S. 316.
Vgl. auch
G. d. r. R. I 49: ,, . . . in der T a t ist die ganze logische Gliederung des Rechts, und sei sie noch so vollendet, nur das Sekundäre, das Produkt der Zwecke, denen sie dienen soll."
Im Sinne des Textes ferner Z i t e l m a n n , er erklärt sich für
eine eigene juristische Kausalität, die sich mit keiner der sonstigen Gestaltungen des Satzes vom Grunde deckt (nach L a s k 309 f.); vgl. schon I h e r i n g im Aufsatz: „Passive Wirkungen der Rechte": wirken ? . . . .
,, . . . Wie kann etwas, was nicht ist,
Dieser Satz ist richtig für das Kausalitätsverhältnis
zwischen
Ursache und Wirkung, unrichtig für das zwischen Mittel und Zweck" (a. a. O. 458); L a s k behauptet die Dogmatik als eine besondere Welt eigentümlicher Bedeutungen, betont aber zugleich „die teleologische Färbung sämtlicher Rechtsbegriffe" (310) und sagt ferner:
„Häufig wird übersehen, daß die den juristisch geformten Stoff
zu höheren systematischen Bildungen fortgestaltenden Operationen in ähnlicher, nur noch verwickelterer Weise von dem teleologischen Grundcharakter des Rechts durchherrscht werden wie die ursprünglichen, dem vorrechtlichen Substrat gegenüber betätigten juristischen Bearbeitungsfunktionen" (S. 317).
„Freilich wird die
Methodologie überall den praktischen Beruf des Rechts als systembildenden Faktor
96
(514)
IV. Die Existenz der Dogmatik vom teleologischen Standpunkt aus kann ferner auf den Grundgedanken der sozialen Neutralität gestützt werden. Mag im übrigen noch so richtig sein, daß das Recht die tatsächlichen sozialen Unterschiede in sich wiederspiegelt, so kann doch nicht geleugnet werden, daß es innerhalb seiner Gebiete gibt, auf welchen die tatsächlichen Unterschiede der Rechtssubjekte vollkommen neutral bleiben, und die Dogmatik unbekümmert um sie ihr eigenstes Werk verrichten kann. Kann z. B. auch nicht geleugnet werden, daß das Dienstrecht, das Eherecht u. dgl. m. vielfach sozialpolitisch interessierte Rechtspartien sind, so muß doch andererseits der neutrale Charakter solcher Partien, wie das Schuldrecht in seinem „allgemeinen Teil", überhaupt der „allgemeine Teil" sowohl des Privat- als des Strafrechts (allgemeine Lehre vom Verbrechen) zugegeben werden. Hier ist recht eigentlich der Tummelplatz der Dogmatik. Aber die soziale Neutralität des Rechts kann auch in einem engeren Sinne behauptet werden und hier zeigt sich insoweit der s o z i a l e Wert auch des rein logischen Elements der Dogmatik. Trägt jedes positive Recht auch den Ausdruck der bestimmten Machtverhältnisse einer Epoche an sich, so liegt doch die soziale Neutralität der Jurisprudenz wenigstens darin, möglichst k o n s e q u e n t in streng logischem Sinne seine gegebenen Grundsätze anzuerkennen haben und sich nicht dazu versteigen dürfen, das Logische im Recht anders als in seiner Durchdringung mit dem praktischen zu verstehen" v . L i s z t (Arch. f. R . u. Wirtschaftsphilos. 1 9 1 0 , S. 6 1 1 ) : Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck.
(315).
„ D a s Recht ist nicht
Dieser grundlegenden Auffassung steht
die Tatsache nicht im Wege, daß der geschlossene Aufbau des öffentlichen und privaten Rechts, wie etwa die vielgegliederte Verfassung des deutschen Reiches, uns gleichzeitig als bewundernswerte Schöpfung des menschlichen Intellekts und als ein unser Harmoniegefühl befriedigendes Kunstwerk erscheint." — Interessant ist endlich die Charakteristik, die P e t r a z y c k i 393 dem „Verhältnis der modernen Losungen der Jurisprudenz zur L o g i k " gibt: durch etwas anderes möglich.
„ I n der T a t ist der Ersatz der Logik
Dieses andere ist nicht E t w a s Nicht-logisches, den
logischen Regeln Zuwiderlaufendes, sondern Alogisches und mit der Logik kommensurables.
Dieses Element ist nicht logischer Natur, nicht
theoretischen und bewußten Ursprungs, emotionalen Charakters.
In-
erkenntnis-
sondern unbewußten, instinktiven und
Daher tritt es nicht seinem Wesen nach mit der Logik
in Kollision und kann nicht mit ihr in Kollision treten, ebensowenig wie jedes andere Gefühl der Logik zuwiderlaufen, ein logisches Absurdum sein kann."
(515)
97
durchzuführen Die Logik wird hier zur sozialen Gerechtigkeit, zum Schutzwall des Schwachen gegen den Starken. Im Interesse der Rechtsgleichheit gilt hier, die angenommenen Begriffsbestimmungen in strenger logischer Folgerichtigkeit ohne Abschwenkung nach rechts und nach links zu entwickeln 2 ). — V. Geschichtliche Anpassungsfähigkeit der Dogmatik. Auch aus der historischen Wandelbarkeit der Rechtsinstitute kann ein Argument gegen die Rechtsdogmatik nicht hergeleitet werden. Der geschichtliche Wandel bewirkt eine zeitlich wechselnde Dogmatik. Schon von früheren Schriftstellern ist uns diese Anpassungsfähigkeit geschildert worden. So betont I h e r i n g , daß selbst der Begriff des juristisch Möglichen resp. Unmöglichen ein relativer, mit den realen Verhältnissen parallel sich entwickelnder ist 3). Auch diese geschichtliche Variabilität der Rechtsdogmatik hängt zum Teil mit der Typizität des Rechts zusammen. Der Grundgedanke und Voraussetzung der Dogmatik ist hier, daß jede neue Lebenserscheinung sich auf allgemeinere Rechtsbegriffe zurückführen läßt, daß, wie L a b a n d sagt, „jeder konkreten *) Vgl. auch L a b a n d a. a. 0 . S. V. „Es entstehen durch die Praxis selbst in unerschöpflicher Fülle neue Fragen und Zweifel, welche nicht nach dem politischen Wunsch oder der politischen Macht, sondern nach den Grundsätzen des bestehenden Rechts entschieden werden müssen." s ) Beispiele vgl. in meiner Schrift: „Die Imperativentheorie und der § n o RStGB., S. 40. Vgl. auch L i e p m a n n , Vergl. Darst. d. deutschen und ausländ. Strafrechts, Bes. Teil Bd. IV S. 349 f. 3) G. d. r. R. II 376, III 3x8 ff. Auch L. K n a p p schildert uns in der ihm eigenen scharfen Sprache die Variabilität der juristischen Dogmatik: „Von jeher hat die Jurisprudenz, ohne dadurch sich selbst untreu zu werden, allen Herren und, wenn sie der Gewalt der Gewaltigen traute, dem frappantesten Umschwung der Dinge gedient; sie ist das gesinnungslose Aktuariat der Revolution wie der Reaktion, und bleibt dabei in ihren Formen gleich, wie über dem Wechsel der Systeme und Dynastien in seinem Formate der Moniteur. So in alter, neuer und neuester Zeit; ein und derselbe kurulische Fleiß hegte die majestas, als sie der popolus trug, und als sie der princeps an sich nahm; eine und dieselbe Juristengenossenschaft feilte in Frankreich die Gesetze der Schreckens- und der dreifelderwirtschaftlich sich ablösenden Ängsten-Regierungen aus; eine und dieselbe diktatgeübte publizistische Feder schrieb in Deutschland das Staatsrecht des Reiches, des Rheinund des Afterbundes prompt nacheinander hin" usw. (L. K n a p p , System der Rechtsphilosophie 1857, S. 239).
Abhand], d. kriminalist. Seminars.
N. F.
B d . VI, H e f t 4.
7
98 Rechtsbildung nur die tatsächliche Verwendung und Verbindung der allgemeinen Rechtsbegriffe eigentümlich ist; dagegen ist die Schaffung eines neuen Rechtsinstituts, welches einem höheren und allgemeineren Rechtsbegriff überhaupt nicht untergeordnet werden kann, gerade so unmöglich, wie die Erfindung einer neuen logischen Kategorie oder die Entstehung einer neuen Naturk r a f t " usw. Die allgemeinsten Rechtsbegriffe aber selbst, — von S t e r n b e r g (in seiner Allgemeinen Rechtslehre) treffend denknotwendige Rechtsbegriffe genannt —, wie der Vertrags-, Körperschafts- oder Genossenschaftsbegriff, wie die Elementbegriffe des Delikts usw. werden alle Veränderungen der Gesellschaftsordnung überdauern. Es gibt also nicht nur (Lebens- und) Rechtstypen einer gegebenen historischen Epoche, auf die sich die Existenz (vgl. oben sub I) der geschichtlich variablen Dogmatik gründet, sondern auch Rechtstypen, denen Ewigkeitsdauer zuerkannt werden muß und die als ewig notwendige Bestandteile der Dogmatik erachtet werden müssen, 3. Das Resultat der bisherigen Ausführungen ist also: die Vereinbarkeit der Rechtsdogmatik mit der positiven oder soziologischen Richtung der Rechtswissenschaft. Das Bewußtsein dieser Vereinbarkeit macht sich übrigens auch innerhalb dieser Richtung selbst geltend. Und zwar schon bei I h e r i n g selbst, der als Hauptvertreter dieser Richtung erscheint, der sie inauguriert hat, der aber zugleich die selbständige Bedeutung und Existenz der Jurisprudenz oder der Dogmatik anerkannt, j a der genaueren Erforschung ihres eigenartigen Wesen seine berühmte ' ) In sehr ähnlicher Weise bereits I h e r i n g , ausgebildete fürchten.
Jurisprudenz hat nie
Unsere Aufgabe, S. 1 6 : „ E i n e
ein absolutes Defizit an Rechtssätzen zu be-
Denn in wie ungewöhnlichen, abweichenden Bildungen sich auch der
fortschreitende Verkehr ergehen möge, die Besorgnis, daß er uns etwas absolut Neues bringen könnte, d. h. etwas, was nicht unter irgend einen unserer bisherigen Begriffe fiele, und wäre derselbe noch so allgemein, — diese Besorgnis ist eben so unbegründet, als wenn man glauben wollte, es könnten heutzutage noch Tiere entdeckt werden, die im zoologischen System der heutigen Wissenschaft absolut kein Unterkommen fänden.
Eine Jurisprudenz, die seit Jahrtausenden arbeitet,
hat die Grundformen oder Grundtypen der Rechtswelt entdeckt und in ihnen hält sich auch alle fernere Bewegung, so sehr sie im übrigen von der bisherigen divergieren möge, eine solche Jurisprudenz läßt sich nicht durch die Geschichte in Verlegenheit setzen."
(517)
99
spezielle Darstellung gewidmet h a t I ) . •— An der dogmatischen Wissenschaft will auch v. L i s z t auf dem Gebiete des Strafrechts festhalten 2 ). Auch die neueste Schrift, die aus der „soziologischen" Richtung hervorgegangen ist, H. S i n z h e i m e r s : ,,Die soziologische Methode in der Privatrechtswissenschaft" (München 1909), will (neben der Auffindung o b j e k t i v e n Gewohnheitsrechts) lediglich auf die Aufstellung sozial erprobter T a t b e s t ä n d e hinarbeiten, sagt aber im übrigen ausdrücklich, daß ,,die soziologische Methode die dogmatische Methode nicht verdrängen soll und nicht verdrängen kann" 3). § 4-
Das finale Prinzip und die Rechtsinterpretation. Die teleologische Erfassung des Rechts ist ferner eine unumgängliche Voraussetzung der Rechtsinterpretation. Der Zweck im Recht als interpretatorische Maxime ersetzt zum Teil die „freie Rechtsfindung", zum anderen aber setzt sich ihr entgegen 4). — In der Kontroverse zwischen I h e r i n g und K 0 h 1 e r bezüglich der Shylock-Frage 5) liegt vielleicht der Anfang des modernen Streites über die „freie Rechtsfindung" 6 ). Freilich ' ) G. d. r. R . I I 322 ff. Belegende Zitate a u s I h e r i n g s Schriften ( a u ß e r d e m in unserer Darstellung oben A n g e f ü h r t e n ) vgl. bei P a c h m a n n 2
105—112.
) A u f s ä t z e u n d V o r t r ä g e I I 61.
3) a. a. 0 . 24 f. 4) H ü b s c h a u s g e d r ü c k t von G u t h e r z ,
Studien z. Gesetzestechnik I 55:
„Die Zwecke des R e c h t s überschreiten niemals die H ö h e der Rechtssätze, in denen sie g e f u n d e n w e r d e n . "
Vgl. a u c h S. 101: „Die Zwecke im R e c h t k o m m e n n u r als
empirisch feststellbar in B e t r a c h t " ; S. 55:
„ W o h l n i m m t das R e c h t in seiner E n t -
wicklung Zwecke auf. Es e n t s p r i n g t doch großenteils b e w u ß t e r menschlicher Arbeit, in der die Zwecksetzung eine h e r v o r r a g e n d e Rolle spielt.
Als geltendes R e c h t aber
ist es empirisch gegeben, u n d v o n Zwecken k a n n m a n d a n u r soferne sprechen, als sie d u r c h die gegebenen N o r m e n verwirklicht s i n d " usw. 5) I h e r i n g , K a m p f u m s R e c h t , 4. Aufl. S. 57 ff. K o h 1 e r , Shakespeare v o r d e m F o r u m der J u r i s p r u d e n z , W ü r z b u r g 1883, insbes. S. 84, 87, 88. 6
) E b e n s o K o h l e r selbst ausdrücklich auf d e m 1. Kongr. f ü r R . u. W i r t -
schaftsphilos. — Vgl. a u c h Arch. f. R . u. W i r t s c h a f t s p h i l . 1910, S. 581; vgl. a u c h D r e y e r 198.
(I h e r i n g s Entscheidung lautet folgendermaßen:
„ D e r Schein
w a r a n sich nichtig, da er etwas Unsittliches enthielt; der R i c h t e r h ä t t e denselben also v o n vornherein aus diesem G r u n d e zurückweisen müssen.
T a t er es aber n i c h t , 7*
IOO
(518)
hat, wie wir oben gesehen, bereits 1880 M u r o m z e f f i n seiner Schrift: „ D a s Gericht und das Gesetz" aus I h e r i n g s Lehren auch das Postulat der freien Rechtsfindung folgern zu müssen geglaubt *). Daß aber die in ihre letzten Konsequenzen gedachte „freie Rechtsfindung" nach der eigenen Auffassung I h e r i n g s den grundlegenden Garantien des Rechts selbst, wie sie nämlich im Rechtsstaate in der Sonderung der Justiz und der Verwaltung verkörpert sind, zuwiderlaufen würde, steht außer Zweifel für jeden, der seine Schriften mehr oder weniger aufmerksam gelesen hat 2 ).
§ 5Das finale Prinzip und die Rechtspolitik. „Ihering
ist der Repräsentant des geistigen
Selbständigkeitsstrebens
dem
überlieferten
gegenüber."
Merkel
Recht (20).
I. Aufs innigste mit dem finalen Prinzip ist die R e c h t s p o l i t i k verknüpft. Dieser Zusammenhang besteht zunächst in der allgemeinen methodologischen Bedeutung jenes Prinzips ließ der „weise D a n i e l " denselben trotzdem gelten, so w a r es ein elender Winkelzug . . . .
das damit notwendig verbundene Vergießen des Blutes zu verbieten"
[a. a. O. S .59]). ' ) Im J a h r e 1897 schreibt v. P e t r a z y c k i matischen Satz I h e r i n g s : Recht hinaus":
„Durch
mit bezug auf den program-
das römische Recht über das römische
„Die Gefahr ist nicht ausgeschlossen, daß . . . die deutsche
Jurisprudenz sich in Zukunft ein analoges Programm bilden wird, in dem nur statt des römischen Rechts das neue bürgerliche Gesetzbuch figurieren w i r d " (402). P e t r a z y c k i — in wohl vereinzelter Weise — sucht denn auch im allgemeinen Ihering
und seine Schule als Vertreter der Auslegungsmethode von der A r t
der äußersten Linken der modernen freien Rechtsfindung hinzustellen (381 ff.). E r übersieht, daß jene Losung von I h e r i n g rezipierten
„heutigen
und sich auf dieses u n k o d i f i z i e r t e 2
durch die Eigentümlichkeiten des
römischen R e c h t s " bedingt und ermöglicht w a r Recht beschränkte.
) Vgl. außer dem bereits zitierten Kampf ums Recht namentlich Zw. i. R .
I 387 ff., insbes. 409 ff. — Bemerkenswert ist auch, daß auch die oben zitierte Schrift von S i n z h e i m e r über „Die soziologische Methode in der Privatrechtswissenschaft" mit der Beibehaltung der Rechtsdogmatik auch in der
Rechts-
sprechung „Subsumtion unter den bestimmten Rechtssatz" verlangt (S. 27).
IOI
(519)
für die Rechtspolitik 1 ); sodann aber auch empirisch darin, daß jeder Zwjeck sozusagen potentiell oder inhaltlich die Mittel zu seiner Erreichung in sich birgt 2 ). Das Naturrecht sowohl als die historische Schule schlössen in rechtspolitischer Hinsicht eigenartige Antinomien in sich. Das Naturrecht, welches an eine unmittelbare p o s i t i v r e c h t l i c h e Kraft seiner abstrakten Normen glaubte, enthielt zugleich den intensivsten Anspron zur rechtspolitischen Tätigkeit in sich. Die Naturrechtler trieben Rechtspolitik in großem Stile: sie nahmen lebendigsten Anteil an der Lösung der ihre Zeit bewegenden innerpolitischen Fragen der Rechtsverhältnisse von Kaiser und Papst, Monarch und Volksvertretung, sowie der Streitfragen der Völkerrechtspolitik; und diese Verknüpfung von Rechtspolitik und Naturrecht 3) hat im Denken der Gegenwart eine so feste Gestalt angenommen, daß für gar Manchen „rechtspolitisch" und „naturrechtlich" synonyme Begriffe geworden sind 4). Der Historismus dagegen, der den steten *) „Alle politischen Urteile sind teleologische Werturteile", J e l l i n e k a. a. 0 . S. 230, vgl. auch 222 ff. K o h 1 e r , Enzyklop. d. Rechtswiss. I 16: ,,Das eine Recht entspricht mehr oder minder dem Zuge der Entwicklung und den Strebungen des Weltgeistes . . . . das eine ist insofern mehrwertiger als das andere, und hierbei zeigt sich die Rechtspolitik als Wertschätzerin, und ihre Aufgabe besteht in Werturteilen." Die l o g i s c h e Analyse des Zweckbegriffs bildet den Ausgangspunkt der neukantischen rechtspolitischen Richtung. Man könnte überhaupt sagen, daß die Divergenz der rechtspolitischen Richtungen auf verschiedener Auffassung des Zweckbegriffs beruht. z
) „Liegt in der Kenntnis eines Zweckes die notwendige Voraussetzung zur Erreichung derselben, so kann diese Kenntnis auch wieder als Mittel zur Erreichung des fraglichen Zwecks insofern aufgefaßt werden, als die Eigenheiten des Zwecks allein in der Lage sind, über die Eigenheiten der entsprechenden Mittel Aufschluß zu geben. Der Zweck ist für die Mittel maßgebend, — erst eine genaue Kenntnis des Zwecks ermöglicht eine solche Kenntnis der Mittel, — die Eigenart des Zwecks bestimmt die Eigenart der Mittel." G u t h e r z , a. a. 0., Einleitung. 3) Mit Recht sagt P e t r a z y c k i 419: „Die Rechtspolitik existierte und entwickelte sich früher als eine Disziplin des sogen. Naturrechts." Vgl. auch 407: „Die naturrechtliche Schule hat, dem Wesen ihrer Aufgabe gemäß, sich h a u p t sächlich mit der Erörterung der Grundideen und Postulate der Rechtsinstitute und des gesamten Rechtssystems und mit der Verbindung der Einzelheiten mit diesen Grundideen und Prinzipien beschäftigt." 4) Vgl. z. B. S t a m m l e r , Über die Methode usw. S. 42 ff. (auch bezüglich der „empiristischen" Rechtspolitikl). S. 44: „ein objektiver Maßstab, den in der
102
(520)
W e c h s e l des Rechtes als seinen Glaubenssatz proklamierte, mündete — auch hierin ein Analogon zum Marxismus, mit dem er die Grunderkenntnis von den unpersönlichen Faktoren der Entwicklung teilt und der seinerseits teilweise zum Quietismus führte J), — in rechtspolitischem Indifferentismus aus II. Zwischen diesem und der rechtspolitischen Regung der Gegenwart schiebt sich als ein notwendiges Glied der historischen Kette das finale System I h e r i n g s ein. I h e r i n g hat in der Tat dem rechtspolitischen Indifferentismus der historischen Schule ein Ende bereitet 3). In seinem System proklamiert er die allgemeinen methodischen Grundgedanken der heutigen T a t ein Jeder hat, den jedermann tatsächlich g e b r a u c h t . . . naturrechtliche Frage, die nie zu unterdrücken ist"; S. 45: „Die naturrechtliche Frage läßt sich nicht bannen; der Zweifel, ob bestehendes Recht vernunftgemäß sei, kann nicht lediglich zur Seite geschoben werden." J
) Vgl. W. S o m b a r t , Sozialismus und soziale Bewegung im 19. J a h r hundert (Jena 1897) S. 65; J e l l i n e k a. a. O. 221. J ) Vgl. dazu I h e r i n g , F. K. v. S a v i g n y (Jahrb. Bd. V, S. 354 ff.), S. 363 (über die Streitfrage der nationalen Kodifikation); I h e r i n g , Unsere Aufgabe (Jahrb. Bd. I), S. 30 ff. und Geist d. r. R. I I I 319 ff., B e k k e r a. a. 0 . S. 18 ff. (über das Privatrecht); B e k k e r bezeichnet das Streben der romanistischen Dogmatik, ihre Begriffe als unwandelbare darzustellen, als „ N a t u r r e c h t " (über S a v i g n y s „System d. heut. r. R . " S. 18—20 u. Anm.49, 50) und gelangt so zu dem interessanten Satz: „So kommt man in Versuchung, S a v i g n y als recht eigentlich denjenigen zu nennen, welcher die Übertragung des Naturrechts in die neueste Jurisprudenz vermittelt h a t " (S. 20); v. L i s z t , Lehrb. S. 68 Anm. I (bezügl. der Kriminalpolitik). Vgl. ferner J e l l i n e k , Allg. Staatsl. 2. Aufl. I 45, neuerdings auch G u t h e r z a. a. 0 . S. 42. Vgl. endlich im allgem. I h e r i n g , F. K. v. S a v i g n y , S. 368: „Daß ihre [der histor. Schule] Grundstimmung konservativer Art ist, wird man nicht anders erwarten und ihr nicht zum Vorwurf machen; die Geschichte k e n n e n und konservativ sein, ist gleichbedeutend. Aber von dem echten Konservatismus, der das Gewordene nicht seiner selbst wegen konserviert, sondern weil und insofern es die Bedingungen eines neuen Werdens in sich schließt, das Erstorbene aber abtut, von diesem unterscheidet sich jene politische Richtung, die so gern sich diesen Namen beilegt, welche das Gewordene seiner selbst wegen erhalten möchte, und der Gegenwart vorenthält, was sie der Vergangenheit einräumt: Das Recht des Werdens . . . . "; vgl. auch M e r k e 1 20, A. M e n g e r in Arch. für soz. Gesetzgeb. u. Stat. 1S89 II 9. 3) Vgl. K u n t z e 7, 26 ff.; Z i t e 1 m a n n a. E. seines Nachrufs f. I h e r 1 n g; L a n d s b e r g G819; S t e r n b e r g a. a. 0 . 188 ff.; L a s k a. a. O. 304; M e r k e l 17 und 20: „Dieser zentrale Gedanke der modernen Wissenschaft [der Entwicklungsgedanke] h a t bei S a v i g n y und den Seinigen eine durchaus konservative
(521)
I03
praktischen Rechtspolitik. mit
Rechtsvergleichung
kenntnis in
typisch
denen
alsd
die
sich
W e n n die Vorliebe, m i t der l e t z t e r e
arbeitet,
methodologisch
wiederholender
Rechtsnationalität
auf
gleichsam
auf
d i f f e r e n z p u n k t g e l a n g t u n d lediglich ein o b j e k t i v e r Gedanke da bleibt, —
der
Rechtsprobleme
Er-
beruht,
einen
In-
teleologischer
s o w a r es I h e r i n g , d e r in
ausdrück-
lichem Gegensatz zu der Lehre der historischen Schule v o n
der
Rechtsnationalität
der
das
Prinzip
der
Rechtsreception
und
R e c h t s u n i v e r s a l i t ä t p r o k l a m i e r t e *); w e n n f e r n e r h i n d e r m o d e r n e n Rechtspolitik, gebiete,
insbesondere
der Gedanke
Vdlksethik
nicht
nur
auf
dem
eines a k t i v e n , nachhinkenden,
strafrechtlichem
Reform-
der Entwicklung sondern
jene
und
der
fördernden
u n d diese erziehenden Gesetzgebers im h ö c h s t e n G r a d e eigen ist 2), so h a t I h e r i n g d e r V o r l i e b e der historischen S c h u l e f ü r d a s „organisch „Diener
wachsende"
Gewohnheitsrecht
des Zweckgedankens"
g e b e r s e n t g e g e n g e s e t z t 3).
die
( L e o n h a r d )
Idee
eines
tätigen
als
Gesetz-
Im Bereiche des P r i v a t r e c h t s ä u ß e r t e
Färbung Bei I h e r i n g gewinnt dieser Gedanke, wie im Bereiche der heutigen Wissenschaft überhaupt, einen progressistischen Charakter. Ist er doch, wie schon gesagt wurde, ein Repräsentant des geistigen Selbständigkeitsstrebens dem überlieferten Recht gegenüber." 0 Vgl. oben S. 58 f. Ebenso S t e r n b e r g a. a. 0 . S. 194: „Die moderne Jurisprudenz, deren führender Inaugurator I h e r i n g ist, und der die Zukunft gehört, ist teleologisch, psychologisch und vergleichend, sie ist, weil die vergleichende Funktion, die beiden anderen umfassend, dem Ganzen die Signatur gibt, vergleichende Jurisprudenz" ; R. S a l e i l l e s , L a fonction juridique du droit comparé, Rechtswiss. Beitr., F e s t g . f. J . K o h l e r , S. 165 (vgl. dazu J o s . U n g e r in Neue Freie Presse v. 29. Dez. 1909, „Nachzügler"). » ) Vgl. v . L i s z t , Ztschr. f. d. ges. Strafr.wiss. Bd. 17, S. 83; Bd. 18, S. 256 (Aufs. u. Vortr. II 55); A. M e n g e r a. a. 0 . 8; A. K ö h 1 e r in der Deutsch. J u r . Ztg. i g i o Nr. 9, S. 548 (mit Wendung gegen J e l l i n e k s „ethisches Minimum"). 3) Vollkommen vereinzelt steht P e t r a z y c k i da, der in seiner Polemik gegen die I h e r i n g - Schule folgendes behauptet (401): „Die Losungen der modernen Schule führen zur Apathie auf dem Gebiete der Rechtspolitik, sie erwecken insbesondere die falsche Vorstellung, als ob es für die Entwicklung des Zivilrechts einer kodifikatorischen Reform desselben, überhaupt der Kodifikationstätigkeit nicht bedürfe, sondern die Auslegung des positiven Rechts gemäß den neu aufkommenden „schutzwürdigen" Interessen genüge" (vgl. dagegen L e o n h a r d zit. b. P e t r a z y c le i 404 Anm. 1). — Eigentümlich muß es jedenfalls berühren, wenn P. in der Folge dieser Ausführungen zu einem wahren Rollenumtausch gelangt, wonach S a v i g n y als Vertreter der Kodifikationsidee erscheint, I h e r i n g aber
(522)
104
sich die rechtspolitische Tendenz I h e r i n g s in der Erhebung des Systems zur Hauptaufgabe neben und über die Geschichte (K u n t z e), in dem Streben nach Beseitigung der Entfremdung zwischen Theorie und Praxis Die Betrachtung der Rechtspolitik im Zusammenhange mit dem finalen Prinzip und dem System I h e r i n g s soll uns nunmehr zu der Analyse einer der interessantesten rechtspolitischen Strömungen der Gegenwart — der soziologischen Schule im Bereiche des Strafrechts hinüberleiten. und dessen Schule sie „sozusagen verschlafen" (402). — Dagegen, hat sich I h e ring
selbst
fikationsfrage
in seinem Aufsatz „Friedrich Karl v. S a v i g n y " über die Kodi-
folgendermaßen ausgesprochen:
„Soll das Gesetzbuch, wie einst
J u s t i n i a n e s für nötig hielt — und seinem Beispiele sind bis auf das Preußische Landrecht hinab viele gefolgt — die Wissenschaft überflüssig machen, will der Gesetzgeber zugleich Professor, das Gesetzbuch zugleich Kompendium sein, dann allerdings ist S a v i g n y in seinem vollen Rechte gewesen, wenn er dagegen protestierte, daß die damalige Wissenschaft dieser Ehre teilhaftig werde.
Wenn aber
die Gesetzbücher sich bescheiden, wirkliche Gesetzbücher zu sein, dem Kaiser vindizieren, was des Kaisers ist, aber auch der Wissenschaft, was der Wissenschaft ist, dann bedarf es, wie die Geschichte an den zwölf Tafeln in Rom und an der peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V . lehrt, nicht gerade einer so hohen wissenschaftlichen Bildung, um ein brauchbares Gesetzbuch zu bringen, denn Alles, was reine Theorie ist, bleibt ausgeschlossen.
Eine Zeit, die, wenn sie das Bedürfnis nach
einer Reformation ihrer Rechtszustände, oder auch nur nach einer Kodifikation des Rechts fühlt, die Hände in den Schoß legt, weil sie sich nicht für wissenschaftlich reif hält, eine solche Zeit leidet nicht an zu wenig, sondern an zu viel Wissenschaftlichkeit, eine solche Zeit spricht sich nicht sowohl ein wissenschaftliches, als ein moralisches Armutszeugnis" (363). *) Vgl. Unsere Aufg. S. 30. —- K u n t z e sucht diese Tendenz im Hinblick auf die Dogmatik durch die hübsche Parallele zu charakterisieren:
„Ihering
steht am Anfange einer neuen Epoche, welche sich vielleicht wie die Postglossatoren zur Glosse oder wie der usus modernus zur kritisch-eleganten Schule verhalten wird" (10).
(523)
io5 Kapitel
IV.
Strafrechtsphilosophie und Methode der soziologischen Strafrechtsschule. „Besonders befruchtend hat I h e r i n g s
Wort
„ D e r Zweck ist der Schöpfer des Rechts" auf die Strafrechtswissenschaft und durch diese
allmählich
auf die Strafgesetzgebung gewirkt." v. L i s z t
(Arch. f. Rechtsphil. 1910, S. 611).
E i n l e i t u n g .
Die Bedeutung der Rechtsphilosophie I h e r i n g s für die E n t w i c k l u n g der Strafrechtswissenschaft lag vor allem in der anregenden und befruchtenden W i r k u n g ihrer Grundgedanken; sodann aber auch darin, daß in dem heftig entbrannten Daseinskampf der Strafrechtslehren die relativen Strafrechtstheorien in ihr die Gewißheit ihrer wissenschaftlichen Existenzberechtigung gefunden h a b e n I ) . Der ganze Prinzipienstreit um die neue Kriminalpolitik hat sich in der T a t bis in die Gegenwart hinein gleichzeitig um die praktische Zweckmäßigkeit der von der soziologischen Schule verlangten Maßregeln, wie um die theoretische N a t u r und wissenschaftliche Legitimation des von ihr inaugurierten Strafrechts gedreht 2 ). D a ß diese Kriminalpolitik *) Literarisch hat die geistige Verbindung
zwischen I h e r i n g . s
System
und der deutschen soziologischen Schule in L i s z t s „Marburger Universitätsprogramm" 1882:
„Der Zweckgedanke im Strafrecht" einen prägnanten Ausdruck
gefunden. — Den Zusammenhang beider konstatieren auch: M e r k e l 31 ; G i e r k e , Deutsches Privatrecht, Bd. I, S. 121, Anm. 37; K o h l e r , „Die sogen, klassische und die sogen, neue Strafrechtsschule", Goltd. Arch. 54 S. 1;
Berolzheimer
in „Kulturstufen der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie" ( „ S y s t e m " Bd. II) S. 363 und „Strafrechtsphilosophie und Strafrechtsreform" (System Bd. V ) S. 20, 22; vgl. auch dessen Artikel „Professor Franz von L i s z t " in der „ W o c h e " 1909 Nr. 47. Neuerdings v. L i s z t im Archiv f. Rechts- u. Wirtschaftsphilosophie 1910, Juli S. 610 ff. 2)
Vgl. aus der früheren Literatur A. M e r k e 1 , Vergeltungsidee und Zweck-
gedanke im Strafrecht; M i t t e l s t a d t , Schuld und Strafe, Gerichtssaal Bd. 46, Bd. 47 — dazu v. L i s z t , Die deterministischen Gegner der Zweckstrafe (Aufsätze und Vorträge, Bd. II S. 25 ff.).
Aus der neueren Literatur zu vgl.
Kohler,
Gedanken über die Ziele des heutigen Strafrechts (Kritische Beiträge zur Straf-
106
(524)
in der Tat tiefgreifende Umgestaltungen auch auf dem rein juristischen Gebiete nach sich zog, wird unten des näheren dargelegt werden. Die tiefere philosophische Gemeinsamkeit der Rechtsphilosophie I h e r i n g s und der soziologischen Strafrechtsschule und damit die Grundlage für die Verbindung beider war gegeben durch I h e r i n g s rationalistische Weltanschauung, durch seine Betonung des Entwicklungsgedanken und des sozialethischen Standpunkts, sowie insbesondere durch seine Verwerfung der H e g e l sehen Strafrechtsphilosophie I ). Und so finden wir denn auch inhaltlich fast alle grundlegenden Gedanken der heutigen soziologischen Strafrechtsschule i n l h e r i n g s System. Diese Schule ist freilich im Laufe der Entwicklung über I h e r i n g noch hinausgegangen. Und darum wird die Aufgabe der folgenden Zeilen sein, jene gemeinsamen Elemente nachzuweisen 2 ), sowie diese über I h e r i n g fortschreitende Entwicklung wenigstens in ihren allgemeinen Umrissen zu skizzieren. I. I. Unsere Darstellung glauben wir am besten mit der Stellungnahme I h e r i n g s zur V e r g e l t u n g s i d e e einzuleiten. Der Begriff der Strafe ist für ihn zwar mit den Kategorien der Gerechtigkeit, der Gleichheit, insbesondere des Äquivalentes verkettet. Denn „das praktische Ziel der Gerechtigkeit ist die Herstellung der Gleichheit, das der materiellen die innere Gleichheit, d. h. das Gleichgewicht zwischen Verdienst und Lohn, zwischen Strafe und Schuld" (Zw. i. R . I 367), „die Idee des Ä q u i v a l e n t s " (371). Aber diese Kategorien, die bis dahin rechtsreform herausg. von B i r k m e y e r und N a g 1 e r , Heft 1 1 , Leipzig 1909) S. 8, 17, 26; G r e t e n e r , Die neuen Horizonte im Strafrecht (Krit. Beitr. Heft 10), S. 78 ff. ; O v e r b e c k , Die Erscheinungsformen des Verbrechens (Krit. Beitr. Heft 4), S. 2. Zu vgl. auch R . S c h m i d t unten S. 1 2 2 ; E . St. R a p p a p o r t , L a lutte autour de la réforme du droit pénal en Allemagne et les transformations du droit pénal moderne S. 1, 2, 95. R . spricht sogar von einer „crise juridique générale", von „crise de la conscience juridique contemporaine". ' ) Vgl. Vorrede f. Zw. i. R . I S. I X , X . Der H e g e l sehen Philosophie setzt er hier den eigenen Standpunkt als „philosophischer Naturalismus" entgegen. z ) Hierbei ist, außer den im folgenden besonders zitierten Schriften, immer auch der oben S. 105 Anm. 1 hervorgehobene Aufsatz v. L i s z t s von 1882 zu vergleicher».
107
(525)
als wohlerworbene Rechte der Vergeltungstheoretiker erschienen, gewinnen unter seiner Hand eine ganz andere Bedeutung *). E r gliedert sie ein in sein System der sozialen Zwecke und gelangt auf diesem Wege schließlich zur Ablehnung der Vergeltungsidee selbst. „ D a s praktische Ziel des Bestehens und Gedeihens der Gesellschaft also ist es, welches ihr den Grundsatz der Gleichheit in diesem Sinne diktiert, nicht der aprioristische, kategorische Imperativ einer in allen menschlichen Verhältnissen zu verwirklichenden Gleichheit; würde die Erfahrung zeigen, daß sie bei der Ungleichheit besser bestehen kann, so würde letztere den Vorzug verdienen" (372). „ W a s von der Gerechtigkeit, gilt ebenso auch von der Strafe. Bedürfte es derselben nicht mehr, wäre es unverantwortlich, wenn die Gesellschaft sich derselben fernerhin bedienen wollte. Damit ist der sogen, absoluten Strafrechtstheorie das Urteil gesprochen. In meinen Augen enthält dieselbe eine der größten Verirrungen, zu denen eine der Beachtung der praktischen Bestimmung aller menschlichen Einrichtungen sich entschlagende ungesunde philosophische Spekulation sich nur jemals hat verleiten lassen . . . . Als ob es idealer sei, einen logischen Prozeß (die begriffliche Negation des Verbrechens durch die Strafe) darzustellen, als praktisch eine der ersten und höchsten Aufgaben der Menschheit: die Aufrechterhaltulig und Sicherung der gesellschaftlichen Ordnung gegen das Verbrechertum zu lösen" (II 229, 230). „Nicht das diktatorisch oder kategorisch an die Gesellschaft herantretende ethische Postulat der Notwendigkeit der Vergeltung . . . ist es, was ihr das Schwert der Gerechtigkeit in die Hand drückt. Der Gesichtspunkt des praktischen Zwecks ist der entscheidende bei der gesamten Gestaltung des Strafrechts". Die Straffrage ist „eine reine Frage der sozialen Politik" (I 490). ' ) Daß der Gesichtspunkt des Äquivalents nicht zu ausschließlichem Eigentum vom Vergeltungsstrafrecht vindiziert werden darf, sondern daß er auch zum Ausgangspunkte
einer
Kriminalpolitik
im
modernen
Sinne
gemacht
werden
kann, zeigen die Ausführungen des mit I h e r i n g in Kriminalfragen vielfach verwandten
Wahlbergs.
des Äquivalents.
Wahlberg
operiert durchgängig mit der Idee
Vgl. z. B . dessen „Kriminalistische und
Gesichtspunkte mit Rücksicht auf
das
nationalökonomische
deutsche Reichsstrafrecht", Wien 1872,
S. 98, ferner „ D a s Maß und die Wertsberechnung im Strafrecht" (Gesam. k'i. Sehr. Bd. I I I 1882) 101 ff.
io8
(526)
II. Im Zusammenhange mit diesen Fragen steht die auch f ü r die soziologische Schule grundlegende Erkenntnis d e r E n t w i c k l u n g der S t r a f e von der T r i e b s t r a f e zur R e c h t s s t r a f e a l s Z w e c k s t r a f e 1 ) . Die „absolute Strafrechtstheorie enthält . . . eine Mißachtung der Geschichte des Strafrechts" (Zw. i. R . I I 229). Schon im Geiste des r. R . wird uns diese Entwicklung sowie i h r e B e d e u t u n g f ü r d i e i n d i v i d u e l l e F r e i h e i t 1 ) geschildert. Das ursprüngliche Strafrecht, wie es uns in der Volksjustiz entgegentritt, stellt ein vollständiges Analogon zur Privatrache dar (a. a. 0 . I 214). Es ist die vindicta publica, eine Vereinigung der gesetzgebenden und richterlichen Gewalt (II 46). Abgeurteilt wird die ganze Persönlichkeit, vorherrschend bei der Beurteilung ist der „Totaleindruck", und ihr Erfolg hängt „nicht so sehr von der Größe und Strafwürdigkeit des Verbrechens als von dem Maße ab, in dem das Rachegefühl des Volkes erregt, die Verletzung empfunden w i r d " (I 2 1 3 ) . So erscheint die „Organisierung der Strafrechtspflege, die Trennung der Tat von der Persönlichkeit des Täters, d. h. die Objektivierung der Regel in Form des Gesetzes" als ein „Fortschritt im Interesse des Verbrechers" (ibid.), als eine Garantie der wahren, sich selbst gleich bleibenden Gerechtigkeit für den Angeklagten, die ihn von der Gefahr der völlig maßlosen Bestrafung befreit. Auch für den Verbrecher gibt es mithin einen „Wert der Rechtssicherheit": „dasselbe Strafgesetz, das drohend die eine Hand gegen ihn erhebt, streckt schirmend die andere über ihn aus" (Zw. i. R . Bd. I 1877, S. 543); „das Strafrecht enthält für den Verbrecher eine nicht geringere Wohltat, als für die Gesellschaft" (461). III. Dem soeben zitierten Satze fügt aber Ih unmittelbar einen zweiten, auch für die soziologische besonders kennzeichnenden, hinzu: „Unsere heutige rechtspflege tut in diesem Punkte für ihn eher zu viel Vgl. v. L i s z t , v. L i s z t :
ering Schule Strafals zu
Lehrbuch 3—6 ( 1 6 . — 1 7 . Aufl. 1908).
„ I m Rechtsstaate rechtfertigt sich die Verhängung des Straf-
übels nur dann, wenn der Täter seine feindliche Gesinnung durch eine bestimmte, gesetzlich umschriebene T a t
bewiesen hat.
Insofern erscheint das Strafgesetz
als die magna charta des Verbrechers (a. a. 0 . S. 79); vgl. auch „Die deterministischen Gegner der Zweckstrafe", Aufs. u. Vortr. I I 60 f.
(527)
109
wenig. Aber die Nachsicht, welche sie dem Verbrecher schenkt, wird erkauft durch Rücksichtslosigkeit gegen die Gesellschaft" (ibid.). Wenn nun die moderne Strafrechtsschule denselben Grundgedanken zum Ausgangspunkt ihrer kriminalpolitischen Vorschläge vielfach macht*), — so war andererseits eine ganze Reihe der von ihr vorgeschlagenen Maßregeln, wie die bedingte Strafaussetzung, die Ableistung von Geld- und Freiheitsstrafen ohne Einsperrung, aber auch der Satz: minima non curat praetor, und die Rehabilitation, zum Teil zwar durch anderweitige Rücksichten (insbesondere Polemik gegen die kurzzeitige Freiheitsstrafe) angeregt und gefördert, im Grunde aber von d e m obersten Grundgedanken beherrscht, daß jede zu weitgehende, den Täter in seiner Rechtssphäre nachhaltig schädigende Strafe dem Ziele der Verbrechensbekämpfung nicht zweckdienlich ist. Dieser G r u n d g e d a n k e d e r S t r a f ö k o n o m i e 4 ) — wie wir ihn fortan nennen wollen -— findet sich klar ausgesprochen bei I h e r i n g. Er macht auf „die national ökonomische Seite der Strafgerichtsbarkeit" aufmerksam und gelangt bei deren Erörterung zu folgenden grundlegenden Sätzen: „Die Strafe in der Hand des Staates ist ein zweischneidiges Schwert; bei verkehrtem Gebrauch kehrt sie ihre Spitze gegen ihn selbst, schädigt mit dem Verbrecher ihn selber. Mit-jedem Verbrecher, den er hinrichtet, beraubt er sich eines seiner Mitglieder, mit jedem, den er ins Gefängnis oder Zuchthaus sperrt, legt er dessen Arbeitskraft lahm. Die Erkenntnis des Wertes des Menschenlebens und der Menschenkraft hat für das Kriminal recht eine eminent praktische Bedeutung. Hätte nicht B e c c a *) Man denke nur an den Gegensatz der Strafzumessung und der Sicherungsmaßregel (vgl. z. B . v. L i s z t , Aufs. u. Vortr. I I 224). *) Vgl. I h e r i n g schon im ,,Schuldmoment im römischen Privatrecht" S. 67: „Wenn die Idee des Rechts wächst, sterben die Strafen ab, der Aufwand von Strafmitteln steht im umgekehrten Verhältnis zu der Vollkommenheit der Rechtsordnung und der Reife der Völker." — Neuerdings P r i n s , L a défense sociale et les transformations du droit pénal. Bruxelles 1910, S. 40: L a haute mission de l ' E t a t dans ce domaine, c'est de concilier le maximum possible de sécurité sociale avec le minimum possible de souffrance individuelle" (vgl. auch S. 55 f.). Vgl. auch Art. I I Ziff. 3 der Satzungen der Internat. Krimin. Vereinigung (Mitteil. d. I K V . 2. Jahrg. S. 1 ) : „Die Strafe ist nicht das einzige Mittel zur B e kämpfung des Verbrechens."
(528)
110
r i a in seinem berühmten Werke über Verbrechen und Strafen seine Stimme gegen die Maßlosigkeit der Strafen erhoben, so hätte A d a m S m i t h in dem seinigen über die Ursachen des Nationalreichtums es tun müssen. Wäre es ihm zugefallen, so würde er ausgeführt haben, daß die Gesellschaft, welche ohne die dringendste Nötigung das Leben oder die Arbeitszeit der Ihrigen dem Strafzweck opfert, gegen ihr eignes Interesse handelt Wie in der Urzeit des Menschengeschlechts die Erkenntnis des Wertes des Menschenlebens und der Menschenkraft der erste Schritt zur Menschlichkeit war,
ebenso
kann und soll dieselbe E r k e n n t n i s auch in dem V e r h a l t e n der G e s e l l s c h a f t gegen den innern Feind der M e n s c h l i c h k e i t den Weg bahnen ihr eignes wohlverstandenes x— Interesse erheischt die s o r g s a m s t e Abwägung der a n z u d r o h e n d e n Strafen. W o die Geldstrafe ausreicht, keine Freiheitsstrafe, wo letztere ausreicht, keine Todesstrafe . . . . " *). IV. Der Zweckgedanke entscheidet auch über die Stellungnahme zum P r o b l e m d e s Z i v i l - u n d Kriminalunrechts. Die Verneinung jedes begrifflichen Unterschiedes zwischen P r i v a t - und Straf unrecht ist für I h e r i n g sowohl als für L i s z t 4 ) bezeichnend. Hier zeigt sich uns zugleich •) Zw. i. R. 375—376. — Dieselben, geschichtlich auf B e n t h a m zurückführenden Grundgedanken hat
vor I h e r i n g schon W a h l b e r g
verschiedenen Schriften mehrfach entwickelt. sierung in der Strafrechtspflege" 1869:
in seinen
Vgl. „Das Prinzip der Individuali-
„Noch immer wird das Kapital höher
geachtet als der Mensch . . . Jede allzulange Freiheitsstrafe schmälert den Kapitalwert des Gefangenen.
Unverantwortlich ist es, durch die Art des Strafvollzugs
dessen Gesundheit zu untergraben . . .
Leider sind bisher diese nationalökono-
mischen Perspektiven in der Strafrechtswissenschaft wenig beachtet (S. 314).
worden"
Vgl. ferner desselben: „Nationalökonomische Gesichtspunkte im Straf-
recht mit besonderer Rücksicht auf die Geldstrafe" (1871 u. 1873, abgedr. in den Gesammelten kl. Sehr. Bd. II S. 231 ff.); „Kriminalistische und nationalökonomische Gesichtspunkte mit Rücksicht auf das deutsche Reichsstrafrecht", bes. S. 97 ff., 105, 109, „ D a s Maß und die Wertsberechnung im Strafrecht, S. 111 ff. In der letzteren Schrift S. 112, 113 finden sich auch Literaturangaben über die Wertstheorie im Strafrecht. 2)
Vgl. v. L i s z t ,
Grenzgebiete zwischen Privat- und Strafrecht, 1889;
Lehrbuch 116, 189. — Vgl. auch neuestens P r i n s a. a. 0. 47 ff. (mit ausdrücklicher Berufung auf I h e r i n g).
in
(529)
bereits auf dem Grenzgebiete zwischen Privat- und Strafrecht die charakteristische methodologische Eigenart des Zweckgedankens, die uns noch unten des näheren beschäftigen wird und die wir dort, im Hinblick auf die überlieferten juristischen Begriffe, als Eliminierungstendenz bezeichnen. Erkennt man in der Tat einen „einheitlichen Unrechtsbegriff im Privat- und Strafrecht" so verneint man doch damit die Existenz der beiden b e s o n d e r e n Unrechtsbegriffe des Privat- und des Strafunrechts, ja man erblickt (so insbesondere I h e r i n g und P r i n s) in diesem begrifflichen Dualismus mehr eine bloße lebensfremde Konstruktion. — Das ganze Problem wird vom teleologischen Standpunkte aus lediglich als Frage der S t r a f Ö k o n o m i e behandelt. Das Zivilrecht verfügt nach I h e r i n g über eigene Mittel zur Durchsetzung seiner Gebote. Diese spezifisch zivilistischen Mittel sind K l a g e und N i c h t i g keit. „Weigert sich der Verkäufer, den Kaufkontrakt zu erfüllen, oder der Schuldner, das Darlehen zurückzuzahlen, so wird er g e z w u n g e n — einer S t r a f e bedarf es nicht. Dort wie hier endet die Nichtachtung des Gesetzes, die „ A u f lehnung des partikulären gegen den allgemeinen Willen" mit der M a c h t l o s i g k e i t des Ungehorsamen." „Die Mittel des Zivilrechts (Klage und Nichtigkeit) r e i c h e n für die Gesellschaft nach ihrem eigenen Urteil vollkommen a u s , sich jenes Angriffs zu erwehren, die völlige Erfolglosigkeit desselben macht die Strafe überflüssig" (S. 487) 2 ). — Veränderte Umstände können freilich, z. B. im Falle einer gefährlichen Ausbreitung des „Zivilunrechts" eine „kriminelle" Behandlung desselben rechtfertigen. „Die Grenze zwischen beiden bestimmt der Gesetzgeber selber, nicht e r hat den Unterschied von der Theorie, sondern s i e denselben von ihm entgegen zu nehmen" (488). „ D i e Ausdehnungssphäre der Strafe gegenüber dem Zivilunrecht oder, was dasselbe, des Verbrechens im weiteren Sinne, ist eine historisch wandelbare." „Also nochmals: die Frage von der ' ) v. L i s z t ,
Lehrbuch 116 Anm. 3.
») Ebenso v. L i s z t :
„Genauere Betrachtung zeigt, daß der Staat die straf-
rechtliche Unrechtsfolge überall da verwendet, wo ihm die privatrechtliche (Erfüllungszwang, Wiederherstellung, Entschädigung) nicht auszureichen scheint, um das Unrecht einzudämmen."
Lehrb. 189.
112
(530)
legislativen Verwendung der Strafe ist eine reine Frage der sozialen Politik, sie faßt-sich in die Maxime zusammen: Strafe überall da, wo die Gesellschaft ohne sie nicht auskommen kann" (490). Die Bedenken gegen die soeben vorgetragene Theorie sind unten ( 1 1 3 ) dargelegt. An Stelle derselben hat m. E . die Theorie der Funktionsverschiedenheit zu treten. E s sei gestattet, das Wesen dieser Theorie kurz zu charakterisieren. Danach erscheinen die einzelnen Unrechtsbegriffe als qualitativ v e r s c h i e d e n , diese Verschiedenheit aber nur als Folge oder Ausdruck der Verschiedenheit der Ziele differenzierter Rechtsgebiete. Jedes differenzierte Rechtsgebiet hat seinen eigenen, seinen praktischen Zwecken adäquaten Unrechtsbegriff. Ich erblicke diese Theorie auch in der von der soziologischen Schule angenommenen 1 ) Lehre vom sogen. Verwaltungsstrafrecht, die auf der Erkenntnis der Existenz eines besonderen Polizeiunrechts beruht, als „Verletzung eines durch die Verwaltung geäußerten Interesses", also eines spezifischen Unrechts, bei dem von einer materiellen (Rechtsgut-) Verletzung abstrahiert wird. Nach der Theorie der Funktionsverschiedenheit ist in analoger Weise das Privatunrecht durch das spezifische Interesse oder Funktion der Privatrechtsordnung: die o b j e k t i v e Rechtsausgleic h u n g bestimmt, derzufolge vom Moment der antisozialen Gesinnung also abstrahiert werden muß; das Strafunrecht dagegen — durch die besondere Funktion der Strafrechtsordnung: Bekämpfung der antisozialen Gesinnung, bei der umgekehrt vom Momente der objektiven Rechtsverletzung grundsätzlich abgesehen werden muß. Diese Theorie erklärt uns vollkommen, warum einerseits ausschließlich unter das Privatunrecht die nicht-schuldhaften rechtswidrigen Handlungen fallen, wie die eines Geisteskranken oder Kindes nach § 829 B G B . , ferner Tierestaten (833 B G B . ) *), nach 701 und 278 B G B . der (mit *) Vgl. v . L i s z t , Lehrb. 1 1 7 und Anm. 7. s
) Die
(technisch
sogenannte)
„unerlaubte
Handlung"
des
bürgerlichen
Rechts und „das Verbrechen" sind daher, im Gegensatz zu L i s z t a. a. 0 . 1 1 6 , inkommensurabel. Ebenso S e c k e 1 in der Vorlesung „Die unerlaubten Handlungen des B G B . " .
Unrichtig L i s z t s Wendung a. a. O. vom „denselben Gattungs-
begriffs des Unrechts oder des Delikts", während nach der im Texte vorgetragenen
"3
(53i)
dem Einstehen für fremdes Verschulden oder für casus ver< bundene) Betriebs- und Geschäftsschaden, der im Verhältnis zur Schuld des Haftenden mithin als „objektives Unrecht" erscheint, von S e e k e l einfach als Casus bezeichnet wird, endlich die nichtschuldhafte, nur objektiv - rechtswidrige Handlung eines Zurechnungsfähigen nach 2 3 1 ; warum andererseits der Versuch als ausschließliches Kriminalunrecht erscheint. In derselben Weise wie diese Extremfälle erklären sich ferner auch die Mittel fälle des Parallelismus von Privat- und Strafrechtsfolgen durch die Funktionsverschiedenheit des Zivil- und Kriminal rechts, derzufolge an die beiden Seiten der entsprechenden Tatbestände: an die Äußerung einer antisozialen Gesinnung und an die dingliche oder objektive Rechtsverletzung gleichzeitig verschiedene Rechtsfolgen — oft in divergierender Weise *) — geknüpft werden. Die kritisierteTheorie vermag dagegen die Extremfälle nicht zu erklären, weil ihr Ausgangspunkt „ein e i n h e i t l i c h er Unrechtsbegriff im Privat- und Strafrecht" ist. Ebensowenig aber auch die Mittelfälle. Verneint man nämlich jeden begrifflichen Unterschied zwischen Privat- und Strafunrecht, so kann die, Differenz beider lediglich quantitativer Natur sein, indem das Privatdelikt, um in der Sprache der soziologischen Schule zu reden, nur als (im Verhältnis zum Strafdelikt) Objektivation einer minder antisozialen Gesinnung e r s c h e i n t I s t aber die „kleinere Gefährlichkeit" in der Tat ein Wesensmerkmal des Privatdelikts, so zeigt sich diese Theorie nicht imstande, das V e r b l e i b e n der Zivilrechtsfolge auch in dem Falle, wo die Gefährlichkeit einen solchen Grad erreicht, der den Eintritt einer peinlichen Rechtsfolge notwendig macht, also den Parallelismus der beiden Unrechtsfolgen zu erklären. Das ganze Unrechtsproblem ist also m. E. nur m e t h o d o l o g i s c h zu erfassen und zu lösen. Die vorgetragene Theorie das Delikt nur eine spezifische Unterart des Unrechts ist.
Unbegreiflich
erscheint es mir, -wie man die „Haftungsprinzipien" von den Unrechtsbegriffen trennen kann (vgl. v . L i s z t a. a. O. A n m . 3). *) Man denke z. B. an den Fall, wo durch leichte Fahrlässigkeit ein erheblicher materieller Schade entsteht. ») So in der T a t v . L i s z t :
„ D a s Verbrechen unterscheidet sich vom Privat-
delikt inhaltlich nur durch seine größere Gefährlichkeit", a. a. O. 189 A n m . 1. A b h a n d l . d . kriminal i s t . S e m i n a r s .
N. F.
B d . V I , H e f t 4.
8
(532)
H4
Theorie erblickt in den verschiedenen Unrechtsbegriffen nur teleologische Produkte des Rechts selbst; gründet sie aber nicht auf angeblich psychologische oder naturalistische Unterschiede und entgeht dadurch den Verlegenheiten, in die nicht nur die Willenstheorie H e g e l s (peinliches Unrecht — bewußtes, bürgerliches — unbewußtes), sondern auch, wie wir oben gesehen, selbst die Gefährlichkeitstheorie v. L i s z t s im Hinblick auf das positive Recht kommt; sie behält aber zugleich den gesunden rechts p o l i t i s c h e n Kern der kritisierten Theorie, indem sie offenbar, ebenso wie diese, der Legislative die freie Bewegung im Dienste des Zweckgedankens beläßt. V. Zum Schluß seien noch einige Bemerkungen über die Strafrechtssystematik erlaubt. Bei I h e r i n g beruht diese auf der Verschiedenheit des verletzten „Zwecksubjekts" (gleichbedeutend mit der heutigen Einteilung nach dem durch das Delikt verletzten Rechtsgut — vgl. v. L i s z t , Lehrb. 295) und führt zu einer Dreiteilung, in der als „Zwecksubjekte des Verbrechens" Individuum, Gesellschaft und Staat erscheinen (vgl. oben S. 65 f.). Diese Dreiteilung verdient m. E. den Vorzug vor der heute herrschenden Zweiteilung. Letztere ist zunächst formell inkonsequent. Indem man nämlich die materiell gegen die Gesellschaft gerichteten Delikte als Delikte gegen den Einzelnen auffaßt, wird man gezwungen, eine besondere Untergruppe derselben zu bilden als „die durch das Mittel des Angriffs gekennzeichneten Straftaten" *). Damit wird aber das ursprüngliche fundamentum divisionis — „das menschliche Dasein in seinen verschiedenen Ausgestaltungen" — aufgegeben 2 ) und statt dessen ein technisches Moment des Verbrechens hervorgehoben.— Die Zweiteilung ist aber auch materiell unzutreffend, indem sie die (vielfach auch im positiven Recht ausgeprägte) 3) kriminal' ) V g l . V. L i s z t , L e h r b . 298. 2)
Dies wird v o n L i s z t selbst a. a. O. N o t e 3 zugegeben.
3) N a c h v . L i s z t s eigener Definition „erfordert der Begriff der Gemeingefahr nach dem Gesetz:
. . . Gemeingefährdung, d. i. H e r b e i f ü h r u n g eines Zu-
standes, in dem nicht bloß ein einzelner bestimmter T r ä g e r oder mehrere, nach Z a h l und Individualität bestimmte Träger der genannten R e c h t s g ü t e r , sondern ein nicht individuell bestimmter
und begrenzter
Personenkreis
als gefährdet
erscheint",
a. a. O. 491 f. — Hier b e w ä h r t sich I h e r i n g s Begriffsbestimmung der Gesells c h a f t als unbestimmte
Personenvielheit.
(533) psychologische Eigenart der gemeingefährlichen Delikte verwischt und im ungerechtfertigten Widerspruch mit dem natürlichen Rechtsgefühl z. B. solche Delikte, wie Eisenbahnbeschädigung oder Nahrungsmittelfälschung als Delikte gegen den Einzelnen erscheinen läßt. 2. Es ist von vornherein klar, daß einer Strafrechtsphilosophie des geschilderten Typus und der ihr entspringenden Kriminalpolitik ein entschiedener Trieb nach der Einschränkung der abstrakt-theoretischen Elemente innewohnen muß. In der Tat: die Herrschaft des Zweckgedankens im Strafrecht bedeutet nicht nur eine Periode neuer Strafmaßregeln, sondern auch ein neues juristisches Denksystem. Der Zusammenhang ist klar und notwendig. Indem unter der Herrschaft dieses Gedankens das Hauptgewicht des Kriminalrechts in den Strafvollzug, in die Behandlung des verbrecherischen Menschen verlegt wurde, verschob sich naturgemäß auch im juristischen Denken das Gleichgewicht — vom Standpunkt des bisherigen Rechts — zu ungunsten der begrifflichen, d. h. technisch-juristischen Unterscheidungen. Der Wandel ergriff aber nicht nur die eigentlichen Verbrechensformen (Versuch und Vollendung, Täterschaft und Teilnahme, Begriff des Erfolgsdeliktes, Differenzierung der Deliktstatbestände usw.), sondern richtete sich auch — und darin zeigte sich die revolutionierende K r a f t jenes Gedankens — auf die Grundbegriffe des Strafrechts selbst. Es begann also ein Prozeß der U m w ä l z u n g d e r T h e o r i e , und dieser Prozeß — der für den Rechtsphilosophen, namentlich vom methodologischen Standpunkte, eine überaus anziehende Erscheinung ist — scheint noch lange nicht abgeschlossen zu sein, sondern sich vielmehr noch im vollsten Flusse zu befinden. So kann es sich auch im folgenden nicht darum handeln, seine festen Endpunkte, seine Endergebnisse definitiv zu beschreiben, sondern lediglich darum, mit äußerster Vorsicht, aber auch sine ira et studio, die wahrnehmbaren Grundtendenzen dieses P r o z e s s e s vom methodologischen Standpunkte aus zu beleuchten. Eine Tendenz haben wir soeben angedeutet. Wir nennen sie Tendenz zur Begriffseliminierung. Einem Beispiel derselben 8*
116
(534)
sind wir schon im Laufe der vorangehenden Ausführungen begegnet. Es ist das die Ausschaltung der beiden besonderen Begriffe des Zivil- und Strafunrechts Dieselbe Erscheinung wiederholt sich aber auch auf dem speziellen Gebiete des Strafrechts. Denn darüber wollen wir uns nicht täuschen: die von der soziologischen Schule geforderte grundsätzliche „Gleichstellung" von Versuch und Vollendung 2 ), von Täterschaft und Teilnahme 3) ist methodologisch mit einer gänzlichen Ausscheidung dieser Begriffe überhaupt gleichbedeutend. Denn werden diese bisher unterschiedenen juristischen K a t e g o r i e n als „grundsätzlich gleich" anerkannt 4), das heißt aber wird ihnen jede normative Bedeutung aberkannt, so verlieren sie eo ipso auch im Sinne der juristischen Begriffsbildung ihre Sonderexistenz und lösen sich in dem einzig dableibenden einheitlichen Deliktsbegriffe auf. — Noch klarer tritt die Begriffseliminierung im Zusammenhange mit dem Zweckgedanken in einem anderen Falle zutage. Ich denke an die aus dem Besserungsgedanken abgeleitete Beseitigung des Begriffes des „Unterscheidungsvermögens" bei Jugendlichen 5). — Aber auch die „verminderte Zurechnungsfähigkeit", deren Einführung scheinbar eine Bereicherung unserer bisherigen juristischen Begriffe ist, scheint mir methodologisch richtig verstanden, vielmehr eine Z e r s e t z u n g des bisherigen Begriffs der Zurechnungsfähigkeit zu bedeuten 6 ). Zweifellos in richtiger Ahnung dieser „Gefahr" hat B e r n e r seinen erbitterten Kampf gegen den „widersinnigen Begriff" der geminderten Zurechnungsfähigkeit geführt und behauptet: man müsse den „Begriff" (der Zur. f.) in seiner „Einfachheit und Schärfe" festhalten und !
) Vgl. oben S. n o f f . ; zu vgl. auch unten S. 117 f. Anm. 2 über P r i n s ' Theorie. 4 ) Mitteilungen der internationalen kriminalistischen Vereinigung (Mitt. IKV.) Bd. 10 S. 508; v. L i s z t , Verhandl. d. 26. Deutschen Juristen-Tages Bd. I, S. 288. 3) Mitt. IKV. i i , S. 544; v. L i s z t a. a. O. u. Aufs. u. Vortr. II 62; vgl. auch Lehrb. 126 ff., 213. 4) An dieser begrifflichen Gleichstellung ändert freilich nichts das dem Richter gewährte freie Ermessen für die quantitative Abstufung der Strafe innerhalb des selben Strafrahmens bei verschiedener Schuldintensität (vgl. Mitt. IKV. n ,
S- 544)5) Vgl. auch v. L i s z t , Ztschr. f. d. gesamte Strafrechtswiss. 18, S. 253. ( ) Charakteristisch v a n H a m e l in Mitt. IKV. 13, S. 507 ff.
Ii
(535)
7
könne ihm nicht eine „unendliche Abstufbarkeit beilegen"; denn: „es gibt verschiedene Stufen des widerrechtlichen Willens, aber es gibt nur eine Zurechnungsfähigkeit" x). Und ebenso bezeichnend erscheint mir umgekehrt die Stellungnahme G e i b s , der den Begriff der geminderten Zurechnungsfähigkeit für „an und für sich natürlich ebenso undenkbar, wie ein Mittelzustand zwischen Leben und Tod" erklärt, ihn aber, von der „Möglichkeit der Motivierbarkeit des Handelnden durch die Aussicht auf Strafe" ausgehend, annimmt *}. In diesem methodischen Widerspruch spiegelt sich der Gegensatz der alten und der neuen strafrechtlichen Anschauungen wieder. G e i b steht eben auf ihrer methodischen Grenze: er erklärt einen Begriff für „undenkbar" — vom Standpunkt der alten Schule aus, akzeptiert ihn aber zugleich vom neuen teleologischen Standpunkte der „Motivierbarkeit durch die Strafe". — Die hier behauptete umwälzende Wirkung des teleologischen Gedankens auf das juristisch-logische Denken trat aber mit besonderer Deutlichkeit zutage in dem bekannten Vortrag v. L i s z t s über „Die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit" 3), der uns als revolutionäre Tat auf strafrechtswissenschaftlichem Gebiete anmutet. Der leitende Grundgedanke dieses Vortrags ist der folgende: „Maßgebend für den Richter ist einzig und allein die Erwägung, auf welchem Wege (innerhalb des gesetzlichen Rahmens) der von ihm angestrebte Zweck: die Sicherung der Rechtsordnung erreicht werden kann. Ihm bleibt es daher überlassen, im Einzelfall zwischen Strafe und Sicherungsmaßregel zu wählen, oder aber beide miteinander zu verbinden. Damit wird die scharfe Entgegenstellung von Strafe und Sicherungsmaßregel aufgehoben . . . . Der allgemeine Begriff der Zurechnungsfähigkeit entfällt" 4). 0 Kahl
„Grundlinien der kriminalistischen Imputationslehre" 1843, S. 36 f., v g l . in der „Vergleichenden Darstellung des d e u t s c h e n u n d
außerdeutschen
Strafrechts*', Allgem. Teil I S. 11, 1 3 , 1 5 , 16. — Zu vgl. a u c h die charakteristischen Ausführungen B i r k m e y e r s in der Schrift „ W a s l ä ß t v . L i s z t v o m Strafrecht ü b r i g ? " (1907). S. 62/63 (zit. b . K a h l
a. a. O. 47/48).
») Vgl. K a h l a. a. O. S. 11. 3) A b g e d r u c k t in Ztschr. f. d. ges. Strafrechtswiss. 1 7 , S. 70 ff. u. in Aufs, u. Vortr. II 2 1 4 ff. 4) Vgl. den polemischen, sich dem zitierten Vortrag anschließenden A u f s a t z v. L i s z t s in der Ztschr. f. d. ges. Strafrechtswiss. 18, S. 2 5 3 , 265.
1X8
(536)
Noch weiter gehend als L i s z t will P r i n s in seinem neuesten Buche auch die Begriffe des Determinismus und des Indeterminismus aus dem Strafrecht ausmerzen. Hier liegt also eine über die Grenzen der Strafrechtsdogmatik hinaus schon deren Grundlage selbst, die Strafrechtsphilosophie, unmittelbar berührende Begriffseliminierung vor, die wir aber des methodischen Zusammenhanges wegen hier behandeln. Interessant ist auch hier die ausdrückliche Berufung auf I h e r i n g und auf den „caractère téléologique du droit": ,,Le principe de la défense sociale . . . fait mieux participer la justice au finalisme universel et est plus conforme à l'essence du Droit. I h e r i n g a dit, en effet, que le but est par excellence le créateur du Droit" *). Die Staffrage und die Frage nach der Willensfreiheit oder -Unfreiheit sind nach P r i n s „deux ordres d'idées différentes" *). Sobald zum entscheidenden Gesichtspunkt des Strafrechts die défense sociale gemacht wird, ist das Existenzrecht der beiden Begriffe innerhalb desselben nicht einzusehen 3). „La théorie de la Défense sociale . . . conçoit . . . un droit de l'État, indépendant de l'idée de faute et de responsabilité" 4). — Die begriffseliminierende Tendenz behauptet sich endlich auch auf dem Gebiete des „besonderen Teils". Die Beseitigung kriminalpsychologisch indifferenter Tatbestandselemente oder die Fusion kriminalpsychologisch verwandter Delikte sind Zu demselben Resultat gelangt auch P r i n s in seinem neuesten B u c h e : L a defense sociale et les transformations du droit pénal, Leipzig-Bruxelles 1910. Aber während v. L i s z t von der naturwissenschaftlichen Auffassung des Verbrechens in jenem Vortrag ausgeht, konstruiert P r i n s eine sehr gewagte juristische Theorie ad hoc. Aus der Gleichstellung des Straf- und Zivilunrechts folgert P r i n s die Gleichstellung des Straf r e c h t s mit dem Zivil r e c h t , der justice pénale mit der justice civile, qui rend ses „décisions en n'adoptant pas l'unique mesure de la responsabilité." (Vgl. P r i n s a. a. O. 45—54.) In der „Billigkeitshaftung" ( S e c k e 1), Unzurechnungsfähiger im Zivilrecht (aber auch merkwürdigerweise z. B. in der von der soziologischen Schule selbst verurteilten Erfolgshaftung des geltenden Strafrechts) erblickt er daher „des tendances qui . . . provoquées par les realités de la vie, bouleversent la logique pure de l'idée d'imputabilité de l'école classique" . . . (54). ' ) a. a. 3) a. 4) a.
a. a. a. a.
O. O. O. O.
43 u. Note 1. 41. 36 ff., insbes. 38 u. 58. 54.
ii9
(537) hier
die
Schule I).
charakteristischen
Forderungen
der
soziologischen
—
3 . D i e T ä t i g k e i t der soziologischen Schule ist aber nicht lediglich eine destruktive, sondern auch eine schöpferische gewesen. D e r Begriffseliminierung auf der einen, dem überlieferten S t r a f recht zugekehrten
S e i t e steht andererseits die S c h a f f u n g einer
R e i h e neuer kriminologischer Begriffe gegenüber. t i n u i t ä t der kriminalistischen
Erkenntnistheorie
In der
Kon-
bedeutet
diese
neue Begriffsdifferenzierung den E r s a t z der Begriffseinheit des Durchschnittsverbrechers,
auf
der
das
überlieferte
Strafrecht
methodologisch basiert 2 ) . B e t r a c h t e n w i r diese neuen kriminologischen Begriffe näher, so zeigt sich, daß sie sämtlich teleologischer N a t u r sind.
Das
principium divisionis ist immer die soziale A n p a s s u n g s f ä h i g k e i t des Verbrechers, dieses K r i t e r i u m liegt a u c h in der eigentlichen Kriminal-Ätiologie zugrunde 3).
den juristisch
relevanten
Unterscheidungen
D a s biologische (medizinische) E l e m e n t bildet f a s t
I
) „Dagegen wird überall dort die Differenzierung als überflüssig erscheinen, wo als Gegenstand des Angriffes dasselbe Rechtsgut erscheint, wo auch die Art der Ausführung keine verschiedene Bedeutung als Symptom enthält; so wird z. B. die heute vielfach angestrebte Vereinfachung der Tatbestände der Vermögensdelikte als wünschenswert erscheinen." O. T e s a r , Die symptomat. Bedeut. des verbrech. Verhaltens, Berlin 1907, S. 238. — v . L i s z t , Aufs. u. Vortr. II 62; Vergl. Darst. d. deutsch, u. außerdeutsch. Strafr. Bes. Th. V 2 5 ff.; Verhandl. des 26. D. Jur.-T. Bd. 1, S. 288 : „Wir verlangen möglichste Differenzierung nach der Persönlichkeit des Täters, genauer gesprochen, nach den Intensitätsgraden seiner Gesinnung . . . Von diesem Standpunkte aus ergibt sich für mich eine wesentliche Vereinfachung des besonderen Teils des StGB " *) Übereinstimmend W a h l b e r g : „Die Strafgesetzgebung berechnet ihre Gebote und Verbote a:uf die Fiktion eines mittleren Menschen", auf die „Durchschnittsverschuldung" (Gesamm. kl. Schriften Bd. I I I Wien 1882, S. 103); „Eine sansculottische absolut gleiche Behandlung der Verbrecher", „das abstrakte Schema des Verbrechertums" („Das Prinzip der Individualisierung, Wien 1869, S. 5)". In demselben Sinne neuerdings P r i n s a. a. O. 66, 67 („uniformité", „système pénal uniforme"). 3) Vgl. z. B. die Unterscheidungen innerhalb der Gruppe der gemindert Zurechnungsfähigen, dazu R. S o m m e r , Kriminalpsychologie u. strafrechtl. Psychopathologie, Leipzig 1904, S. 281 f., 156 f., vgl. auch C r a m e r , Die Behandlung der Grenzzustände in foro usw. (S.-A. der Berl. Klin. Wochenschr. 1900, Nr. 47, 48), S. 5, Mitt. d. IKV. Bd. X I I I S. 470 ff., insbes. 484, 535. — Der Gedanke der sozialen Anpassung wird allgemein betont (insbesondere im Anschluß an die Selektionstheorie) von L i s z t , Mitt. IKV. Bd. X V I 497 ff-» b e s - 500« vgl. auch P r i n s a. a. O. 154 u. passim.
120
(538)
immer ein konstitutives Element in der Ätiologie des Verbrechens. Aber die Medizin oder die Biologie kommt nur soweit in Betracht, als sie sozialpsychologische Aufschlüsse im oben bezeichneten Sinne, d. h. bezüglich der sozialen Anpassungsfähigkeit zu geben vermag J ) . Im Allgemeinen: wenn irgend ein System, so ist gerade die soziologische Schule zu dem Nachweis besonders geeignet, daß die sozialethischen Normen erkenntnistheoretisch nichts sind, als teleologische Introjektionen von außen her in die an und für sich unzerlegbare Einheit des Individuums s ) 3 ) . In diesem Satze liegt aber auch trotz der Betonung der antisozialen Gesinnung des T ä t e r s die Urvoraussetzung der ganzen Sozialphilosophie und daher Kriminalpolitik der soziologischen Schule 4) 5). — *) Dies zeigt sich besonders klar bei P r i n s a. a. O. S. 125 f. 3
) Auch die Naturwissenschaft operiert, bei näherer Betrachtung, mit ana-
logen Introjektionen.
„Was wir Krankheit nennen, ist nur eine Abstraktion, ein
Begriff, womit wir gewisse Erscheinungskomplexe des Lebens aus der jSumme der übrigen heraussondern, ohne daß in der Natur selbst eine solche Sonderung bestünde", sagt mit aller nur wünschenswerten Klarheit V i r c h o w
(Handb. der
spez. Pathologie und Therapie, Erlangen 1854, Bd. I S. 1 — dazu
Jellinek,
Die sozialeth. Bedeutung usw.
2. Aufl.
S. 22).
Aber in der Sozialwissenschaft
ist das noch klarer, indem hier das heterogene, den Ausgangspunkt b ildende Moment von einem vom Individuum quantitativ sowohl als qualitativ verschiedenen Gebilde — der Gesellschaft — abgegeben wird. 3) Dieser Satz enthält zugleich, aber nur in der schärfsten Zuspitzung, den bereits von I h e r i n g
(vgl. Zw. i. R . Bd. I I „Teleologie des Sittlichen", bes.
S. 120 ff.), sodann insbesondere von J e 11 i n e k (a. a. O. u. S. 2 3 : „Die sittlichen Gesetze sind somit eine Art der Normalgesetze, die uns da entgegentreten, wo immer wir ein Ding teleologisch betrachten und den Weg angeben, wodurch die gedachte Zweckbeziehung verwirklicht und erhalten wird") ausgesprochenen Gedanken.
Seine nähere systematische Untersuchung, insbes. des Verhältnisses dieser
„Sozialethik" zur Individualethik, mit der sich, kraft des Prinzips der Willensautonomie, d i e eigentliche Ethik deckt, bleibt noch aus.
Sie würde vielleicht
ergeben, daß die Bezeichnung Sozial e t h i k eigentlich inkorrekt ist.
Zu vgl.
auch oben S. 26. 4) Mit Recht spricht L a s k in seiner Methodologie der Rechtswissenschaft (a. a. 0 . S. 312) von „teleologischer Psychologie"; a. a. 0 . S. 310 sagt er:
„Das
psychische Sein ist für die juristische Betrachtung in genau demselben Sinn ein bloßes in die praktische Welt des Handelns erst hineinzuverarbeitendes Material wie die Körperwelt." 5) Hierin dürfte auch das Rätsel des p o l i t i s c h e n
Delikts
seine
Lösung finden. Daß das politische Delikt für die soziologische Schule ein ungelöstes
(539)
121
4 . W i e jedes R e c h t s s y s t e m m e h r oder m i n d e r
umfassenden
C h a r a k t e r s , so schließt a u c h das neue P ö n a l s y s t e m der soziologischen
Schule
n o m i e n
eine
in sich.
Reihe
r e c h t s p o l i t i s c h e r
A n t i -
H i e r h ä n g e n sie a b e r n o c h besonders
mit
d e m R e f o r m c h a r a k t e r dieses neuen S t r a f rechts z u s a m m e n , m i t seiner geschichtlichen Position, die es z w i n g t , i m m e r neue G e d a n k e n in sich a u f z u n e h m e n , zugleich a b e r das, w a s a u c h a m alten S t r a f r e c h t w e r t v o l l ist, d o c h n i c h t ohne w e i t e r e s preiszugeben. oben
wurde
angedeutet,
daß
der g a n z e
Kampf
Schon
zwischen
der
alten u n d der neuen S t r a f r e c h t s s c h u l e sich in letzter I n s t a n z u m die R e c h t s n a t u r Um recht
Strafrechts
dreht.
n u n über den inneren W a n d e l , der i m überlieferten
Straf-
mit
der
des v o n neuen
dieser g e f o r d e r t e n
Entwicklung
vorgeht,
ins
Klare
zu
k o m m e n , m u ß m. E . v o r allem der hier einschlagende G e g e n s a t z des J u s t i z ders scharf
u n d des V e r w a l t u n g s p r i n z i p s
hervorgehoben
werden.
R e c h t s v o r a u s s e t z u n g e n der p ö n a l e n
Wirksamkeit
des
Es
müssen m.
u n d die
beson-
a. W .
die
R e c h t s f o l g e n
S t a a t e s i m alten u n d im
neuen
Problem bildet, muß zugegeben werden. Vgl. R a p p a p o r t , L a lutte usw. S. 92 : „Les délits dits „politiques" manifestent, le plus souvent, moins une absence de sentiments sociaux qu'un s u p e r f l u de ces sentiments"; vgl. auch W. ÄJ i 1 1 e r m a i e r , Krit. Beitr. z. Lehre von der Strafrechtsschuld, 1909, S. i l . — Die Anwendung milderer Strafvollzugsformen (Festungshaft usw.) ist selbstverständlich keine Lösung des Problems. Wohl aber weist uns dazu den Weg die im Texte gegebene methodologische Charakteristik der soziologischen Schule. Bei den politischen N o r m e n trifft nämlich die dort charakterisierte Voraussetzung selbst : die Identität von sozialer Teleologie und sozialethischen Normalgesetzen — nicht zu. Das liegt in der Natur der politischen Normen selbst begründet. Ihnen ist der Mangel an Allgemeingültigkeit als sozial-teleologische Normativen angeboren, was sie scharf von der Gesamtheit der übrigen Rechtsnormen abhebt. (Man vergleiche beispielsweise eine Wahlrechtsnorm mit der Rechtsnorm gegen den Betrug oder den unlauteren Wettbewerb). — Damit ist die scheinbare Inkonsequenz in ihrer Notwendigkeit erkannt, zugleich aber dargetan, daß das politische Delikt in das kriminalistische System der soziologischen Schule schlechterdings nicht hineinpaßt und nicht hineinpassen kann. Es kann freilich nicht geleugnet werden, daß das soeben betreffs der politischen Delikte Gesagte auch bei den übrigen Delikten nur analog in Einzelfällen vorkommen mag. (Vgl. M i t t e r m a i e r a . a. 0.). Aber als Einzelfälle scheiden sie eben aus der grundsätzlichen Betrachtung aus, während die Abweichung beim politischen Delikt in seiner Natur selbst gelegen ist.
122
(540)
Strafrecht geprüft und miteinander verglichen werden. Bezüglich der ersteren hat nun die soziologische Schule wiederholter malen erklärt, an der gesetzlichen Bestimmung der Voraussetzungen des Strafeintritts festhalten zu wollen *). Damit und insofern ist der Justizcharakter der Strafe gewahrt, der Satz nulla poena sine lege unverletzt beibehalten, -— während doch im Verwaltungsrecht das Gesetz regelmäßig weder Ursache noch Zweck, sondern nur Schranke der Verwaltungshandlungen ist Freilich bleibt noch die Frage nach dem näheren I n h a l t dieser Voraussetzungen und seiner etwaigen Veränderung — darüber aber später in den Bemerkungen zur Gesetzestechnik des Strafrechts. Der innere Gegensatz kann sich aber nach dem oben Gesagten nur um die R e c h t s f o l g e n des Strafeintritts drehen. M. a. W. es muß der Einfluß der neuen Entwicklung auf das S t r a f z u m e s s u n g s p r i n z i p festgestellt werden 3). In der Tat liegt in dem Wegfall des gesetzlichen Strafmaßes, in dem Ersatz der zeitlichen Beschränkung durch den Zweckmäßigkeitsstandpunkt wie bei den von der soziologischen Schule vertretenen unbestimmten Strafurteilen und der Internierung Gemeingefährlicher ganz zweifellos eine Wandlung vom Justizprinzip zum Verwaltungsprinzip, vom Straf- zum Verwaltungsrecht 4). Diese eigenartige juristische Struktur: Justiz ') v . L i s z t , Aufs. u. Vortr. II 6i, Mitt. d. IKV. XVI 500 f., Lehrbuch 79. — I h e r i n g (G. d. v. R. II 49) bezeichnet den „Weg der Scheidung: die Aufhebung der Identität des Gesetzgebers und Richters . . . kurz die Objektivierung der Regel in Form des Gesetzes" als „ein Weg . . . den die moderne Welt beibehalten hat, und den sie auch nie wieder verlassen wird". J ) A n s c h ü t z „Verwaltungsrecht" in „Kultur der Gegenwart", System. Rechtswiss. S. 346. 3) Übereinstimmend v. L i s z t , Aufs. u. Vortr. II 71: „Das eigentliche Streitgebiet wird durch die Strafzumessung gebildet." Vgl. auch R. S c h m i d t , Die Aufgaben der Strafrechtspflege, Leipzig 1895, Kap. III: Der innere Gegensatz liegt insbesondere im Prinzip des Strafmaßes, Verhängung nach der Schwere der Einzeltat, insbesondere nach der sozialen Bedeutung des Delikts oder polizeilich administrative Behandlung des Verbrechers nach Maßgabe seiner Einzelpersönlichkeit zur Sicherung der Gesellschaft von dieser. (Nach V i e r h a u s , Goltd. Arch. 43, S. 170). Über unbest. Urt. vgl. Begründ. zum Vorentw. Allg. T. 152. 4) Mit Recht sagt J. G o l d s c h m i d t (Begriff und Aufgabe eines Verwaltungsstrafrechts, Berlin 1902, S. 6): „Vielleicht gerade die wichtigsten neukriminalistischen Postulate sind unverkennbar auf die Verpflanzung verwaltungs-
(541)
123
prinzip in den Rechts Voraussetzungen, Verwaltungsprinzip in den Rechtsfolgen ist nicht eine Begriffskonstruktion unserer Theorie, sondern sie hat sich uns aus der Betrachtung der positiven Reformvorschlage der soziologischen Schule ergeben. Ja sie ist nur der juristische Ausdruck des inneren rechtspolitischen Gegensatzes, den die soziologische Schule innerhalb ihrer selbst wie nach außerhalb noch auszukämpfen hat: das Verwaltungsprinzip ist nur der Ausdruck ihrer sozialen Tendenz, das Justizprinzip ist die Basis der individuellen Freiheit *). Und daher auch die Erscheinung, daß die grundsätzliche Betonung des Verwaltungsprinzips seine Selbstkorrektur notwendig macht und daß diese Korrektur von den Reformatoren nun wiederum wenigstens in die Hand der Justiz b e h ö r d e n gelegt wird »). — Wichtig ist aber nicht nur, d a ß die Voraussetzungen des Strafeintritts nach wie vor im Gesetze bestimmt sein werden, sondern auch der I n h a l t dieser Voraussetzungen selbst. Hier drängt sich vor allem die These I der Brüsseler Hauptversammlung der IKV. der Betrachtung auf. Danach soll „an S t e l l e des Begriffs der verfolgten Tat" die „soziale Gefahr" seitens des Täters gesetzt werden 3). Diese These enthält aber in einer wissenschaftlicher Ideen in das Strafrecht zurückzuführen". — Das Bewußtsein des im Texte näher gekennzeichneten inneren Wandels wird auch von den Vertretern der soziol.Schule selbst, allerdings nur in den allgemeinsten Ausdrücken, ausgesprochen. Vgl. P r i n s , a. a. O. 68: „Le principe de la défense sociale dépasse l'horizon du droit pénal et de la pénalité" ; L i s z t , Arch. f. R. u. Wirtschaftsphil. 1910, S. 617: „Der Zweckgedanke im Strafrecht drängt über das Strafrecht selbst hinaus". •) Die Vorentwürfe tragen deutliche Spuren des Kampfes der beiden Prinzipien an sich. Obwohl nach der eigenen Ansicht z. B. des deutschen Vorentw. die Heilung des Trinkers „nicht auf eine fest bestimmte Zeit angeordnet werden kann . . . bestimmt das Gesetz gleichwohl die Höchstdauer auf 2 J a h r e in der Erwägung, d a ß eine so tief in die persönliche Freiheit eingreifende Maßnahme in mäßigen Grenzen gehalten werden m u ß " a. a. O. 161 ; über Erziehung Arbeitsscheuer u. Liederlicher sowie über unbest. Urteile S. 152. 2
) Vgl. Deutscher Vorentw. § 65 I I I (Rekurs an den ordentlichen Richter — ein vollständiges Anaiogon zum § 459 StPO. auf dem eigentlichsten Gebiete des Verwaltungsrechts). Der Schweizer Vorentw. überläßt auch die Entscheidung über die D a u e r der Internierung Gemeingefährlicher der Justizbehörde (Art. 15, 16) im Gegensatz zum deutschen Vorentw. a. a. O. Satz 2. 3) Insofern würden die Worte v. L i s z t s : „. . . i m Rechtsstaate rechtfertigt sich dieVerhängung des Strafübels nur dann, wenn der Täter seine feindliche Gesinnung
124
(542)
allerdings verallgemeinerten Form einen Rechtsgedanken in sich, der zum Teil bereits vom geltenden Recht verwirklicht worden ist. Es genügt hier nur auf die §§ 361 Ziff. 3—8 und 362, sowie auf das Fürsorgeerziehungsgesetz hinzuweisen. Soweit aber dieser Rechtsgedanke eben allgemein ist und in aller Konsequenz ausgebaut und durchgeführt werden soll, stellt er ein noch ungelöstes Problem dar I ). Die Betrachtung des I n h a l t s der Rechtsvoraussetzungen des Strafeintritts leitet uns zur g e s e t z e s t e c h n i s c h e n Seite des Strafrechts hinüber. In diesem Zusammenhange ist nämlich vor allem zu betonen, daß der Strafgesetzestechnik nicht nur der Wert der durch sie zu verrichtenden unmittelbaren Aufgabe, sondern auch ein p o l i t i s c h e r Wert zukommt. Auf diese ihre Bedeutung weist uns die Geschichte der Erpressung im deutschen Recht hin, die in Bedrohung der ökonomischen und individuellen Freiheit ausgeartet ist. Diese Geschichte zeigt uns zugleich, wohin eine übermäßige Ethisierung des Rechts lebens 2 ) führen kann, und dieser Warnung müssen wir uns gerade dann zugänglich zeigen und daher die gesetzestechnische Ausbildung der Deliktstatbestände nicht vernachlässigen, wenn das Hauptgewicht auf die „antisoziale Gesinnung" gelegt werden soll. Unser Gedanke vom politischen Werte der Gesetzestechnik wird vielleicht besonders deutlich gerade bei den wichtigsten Punkten der Strafrechtsreform hervortreten. So vor allem bei dem Begriff des „Gemeingefährlichen". Hier verdient zweifellos der Österreichische Vorentwurf den Vorzug, der eine genauere Begriffsbestimmung zu geben sucht (§ 36), während der Deutsche und der Schweizer Vorentwurf diesen Begriff, an den sich die einschneidensten Strafmaßnahmen knüpfen, einfach Undefiniert lassen. Besondere gesetzestechnische Schwierigkeiten bietet auch der Begriff des Rückfälligen. Derselbe Grundgedanke
durch eine bestimmte, gesetzlich genau umschriebene T a t bewiesen h a t " ( L e h r b . 7 9 ) — nicht mehr vollständig zutreffen. Vgl. aber unten im Texte über das geltende Recht. ' ) Vgl. auch die treffenden Bemerkungen P h i l i p s b o r n s
(Ztschr. f. d.
ges. Strafr.-W. 1 9 1 0 , B d . 3 1 , S. 2 3 9 ff.) in seinem Berichte über die Brüsseler Tagung der I K V . z
) Vgl. dazu die feinen Bemerkungen K o h 1 e r s im Goltd. Arch. B d . 54, S. 1 5 .
(543)
125
wiederholt sich auch bei der Abgrenzung des Mords vom Totschlag. Auch hier ist m . E . dem Österr., insbesondere aber dem Schweizer Vorentw. mit ihrer Spezialregelung (Kasuistik der Motive) jedenfalls vor dem Deutschen Vorentwurf der Vorzug zu geben. Im Gegensatz zu der oben charakterisierten Eliminierungstendenz ist daher für das Gebiet der positiven Gesetzesbestimmungen überhaupt zu betonen, daß die Spezialregelung und die Rechtskasuistik nicht immer und ohne weiteres von der Hand zu weisen sind. —
5. Das soziologische Strafrecht bedeutet nicht nur eine fortschreitende Entwicklung, sondern auch einen inneren Gegensatz im Verhältnis zum Vergeltungsstrafrecht. Der Satz L i s z t s : „Daß Vergeltungsstrafe und Zweckstrafe keine Gegensätze sind, erhellt schon daraus, daß die Vergeltung als Strafzweck gesetzt werden kann" I ), — dieser Satz sucht nur vergeblich der Vergeltungsstrafe eine teleologische Deutung zu geben 2 ) und widerlegt sich m. E. durch seine Dialektik selbst. (Denn wenn darnach die V e r g e l t u n g als S t r a f z w e c k gesetzt wird, so bedeutet dies doch nur, daß der Zweck einer solchen Strafe die V e r g e l t u n g ist, das heißt aber nur, daß die Vergeltungsstrafe ein S e l b s t zweck, aber keine „Zweckstrafe" ist.) Denselben Satz zu fundieren ist auch A d . M e r k e l ebensowenig gelungen 3). — Die Parallele ferner zwischen Vergeltungs- und ' ) Lehrbuch 8 1 . ' ) Anders freilich v . L i s z t selbst in „ D e r Zweckgedanke im S t r a f r e c h t " ( 1 2 7 f.), wo er von „künstlicher, mühseliger und doch erfolgloser Aufpfropfung des Reises des Zweckgedankens auf den Stamm absoluter Vergeltung" spricht. 0 V g l . dessen Aufsatz: „Vergeltungsidee und Zweckgedanke im S t r a f r e c h t " (Festgabe der Straßburger Staats- und Rechtsw. Fakultät an R . v . I h e r i n g zu seinem 5ojähr. Doktorjub. tium.
Straßb. 1892).
E r ist eine concordantia discordan-
In die „Vergeltung" werden heterogene Faktoren, oft unumwunden, hinein-
getragen („vermittelnde Faktoren geistiger und sozialer A r t " S . 1 4 ; ebenda wird ausdrücklich zugegeben: „ D e r Vergeltungstrieb weist von sich aus nicht auf solche Schranken (sc. der Reaktion gegen den Verbrecher) h i n " ) ;
der Zusammenhang
der Vergeltung mit Elementen der Volkspsyche wird einerseits zugegeben ( „ V o l k s ethos" S. 14, „sittliches Volksgefühl" S. 2 7 ) , andererseits wiederum willkürlich zerrissen.
Willkürlich ist auch die „ B e z i e h u n g " der Vergeltung „auf die Befehle eines
126
(544)
Zweckstrafe einerseits, Indeterminismus und Determinismus andererseits 1 ), trifft wenigstens insofern zu, als der V e r g e l t u n g s gedanke jedenfalls den Indeterminismus voraussetzt Die Vereinigung neuerer Vergeltungstheorien mit dem Determinismus ist nur dadurch möglich geworden, daß sie den Vergeltungsgedanken durch ihm fremdartige Elemente modifizieren und aufgeben. Im Gegenteil: in methodologischer Betrachtung ist das Vordringen der soziologischen Schule nichts als ein fortgesetzter Kampf mit dem Vergeltungsgedanken und ein allmähliches Abringen seiner Positionen. Das Zweck- und das Vergeltungsstrafrecht gewähren uns seit einer Reihe von Jahren ein eigentümliches Schauspiel, in dem sie sich gegenseitig bekämpfen, zugleich aber das Zweckstrafrecht die produktive, das Vergeltungsstrafrecht die rezeptive Rolle spielt. Sie wiederholen gleichsam — und dieses Gleichnis ist durchaus kein zufälliges — im engeren Kreise den allgemeinen Prozeß, der sich im Laufe der Entwicklung zwischen der E r f a h r u n g und dem i d e e l l e n B e w u ß t s e i n abspielt: das Zweckstraf recht hebt nämlich die durch die E r f a h r u n g gezeitigten Zwecke hervor und arbeitet praktische Mittel zu deren Erreichung heraus, und die Vergeltungsschule eignet sich in allmählicher, fast unmerklicher Weise diese Gedanken und Anregungen an und erklärt sie schließlich für Postulate und Produkte des Moralbewußtseins in dem i h r eigenen a b s o l u t e n Sinne des Wortes. Nicht aus der Vergeltungsidee heraus sind z. B. die „bedingte Strafaussetzung", die „Rehabilitation" oder übergeordneten Willens", wodurch sich die Vergeltung in eine „Zweckstrafe" zur Aufrechterhaltung der Ordnung verwandeln soll.
Dieser „ Z w e c k " geht z. B. der
lynchenden Volksmasse vollkommen ab. — Bezüglich der Ausführungen M e r k e l s sagt J e 11 i n e k , Die sozialeth. Bedeut. von Recht usw. 1908, 2. Aufl. S. 107 Anm. 8: „Die Vergeltung ist als ein Absolutes das Starre, sich ewig gleich Bleibende, aus dem eine historische Bewegung, wie sie im Strafrechte stattfindet, nicht erklärt werden kann — außer mittelst des dialektischen Apparats". *) Verneint von L i s z t Lehrbuch 82. *) Noch entschiedener K 0 h 1 e r : „Die sogenannte klassische und die sogen, neue Strafrechtsschule" Goltd. Arch. 54 Bd. I : „Man unterscheidet eine sog. neue und eine sog. klassische Schule im Strafrecht. richtig . . . .
Dieser ganze Unterschied ist un-
Es gibt nur einen Unterschied: den Unterschied zwischen dem Straf-
cht mit relndeterminismus und dem Strafrecht mit Determinismus".
(545)
127
die „Unschädlichmachung" entstanden. Bei ihnen wird aber auch gar nicht „vergolten" im eigentlichen Sinne des Wortes 1 ). Das Verdienst der soziologischen Schule ist ein doppeltes: ein theoretisches und ein praktisches. In theoretischer Hinsicht ist es vor allem die Ätiologie der Kriminalität, zu deren Entwicklung sie mit den mächtigsten Anstoß gegeben hat. Auch die oben charakterisierte Begriffseliminierung ist unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten nur eine Begleiterscheinung der gesamten Tendenz der soziologischen Schule: von den rechtlichen „Bedeutungen" zu den „psychophysischen Realitäten" selbst vorzudringen. Die Begriffseliminierung ist eigentlich nur Auflösung oder Differenzierung der überlieferten Begriffe. (Hierin liegt die Wurzel jener auch von Anderen bemerkten Erscheinung, daß die überlieferte Terminologie, soweit sie in der Strafrechtsliteratur der Modernen beibehalten wird, in einem veränderten Sinne gebraucht wird 2 ). Und begreift man unter Schuldlehre nicht nur logische Begriffsbestimmungen der Schuld, sondern die Kenntnis der individual- und sozialpsychologischen Faktoren des Verbrechens, so bedeutet die soziologische Schule mit der von ihr der Psychologie des Verbrechens gegebenen Entwicklung (trotz aller Verneinung z. B. von P t i n s des Schuldbegriffs überhaupt) doch auch eine Vertiefung der Schuldlehre. — In zweiter, praktischer Hinsicht „wird allseitig ") Ebenso im allgemeinen J e l l i n e k (vgl. oben S. 1 2 5 A n m . 3 a . E . ) . — N a c h Berolzheimer
(System V 264 f.) ist auch die bedingte Begnadigung „ v o m
Standpunkte der starren Vergeltungstheorie aus nicht zu rechtfertigen". —
Oet-
k e r (Strafe und Lohn, Festrede, Würzburg 1 9 0 7 ) konstruiert die Rehabilitation als „Vergeltung in Gestalt des L o h n e s " ( S . 20, 2 4 ) ; D e 1 a q u i s (Die Rehabilitation im Strafrecht, Berlin 1907, S. 8) unterstellt sie auch dem Lohnprinzipe (mit B e rufung auf I h e r i n g , a. a. O.), findet aber andererseits, daß sie „auf neutralem Boden steht und von
Schulenstreit nicht berührt w i r d " ( S . 5).
Ergebnis muß auch die Theorie W a c h e n f e l d s
(Zu dem letzteren
kommen, der Rehabilitation
= Verjährung setzt, vgl. dessen Rehabilitation und Verjährung, Arch. für Strafr. u. Strafprozess Bd. 54, S. 1 7 4 f., 1 8 3 ) ; nach der H e g e 1 sehen Straftheorie würde die „lohnweise Vergeltung" ( 0 e t k e r ) als Negation der Negation der Negation erscheinen.
A m natürlichsten fundiert sich die Rehabilitation, wenn wir sie dem
oben entwickelten Gesichtspunkt der Strafökonomie unterstellen (oben S. 109). 2
) Vgl. R a p p a p 0 r t , a. a. 0 . 76, 7 7 .
128
(546)
anerkannt, daß die soziologische Schule — namentlich in ihrer auf die Strafreform gerichteten Ausgestaltung — den Fortschritt in der Strafrechtswissenschaft darstellt", sagt ein selbst außerhalb der soziologischen Schule stehender Schriftsteller r ). — Ein doppelter Fortschritt: denn Kriminologie und Kriminalpolitik sind ohne einander undenkbar. *) B e r o l z h e i m e r , System der Rechts- u. Wirtschaftsphilosophie II 391.