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German Pages 362 Year 2007
Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 255
Religion im Arbeitsverhältnis Freiheitsgarantien und Diskriminierungsschutz in Kooperation
Von
Donat Wege
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
DONAT WEGE
Religion im Arbeitsverhältnis
Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 255
Religion im Arbeitsverhältnis Freiheitsgarantien und Diskriminierungsschutz in Kooperation
Von
Donat Wege
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Bucerius Law School in Hamburg hat diese Arbeit im Jahre 2006 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0227 ISBN 978-3-428-12181-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meiner Familie
Vorwort Auch noch heute trifft es auf unsere Gesellschaft zu: Der Mensch ist homo religiosus. Weil er sich selbst reflektiert und dabei seine eigene Unvollkommenheit und Begrenztheit erfährt, sehnt er sich nach dem Vollkommenen und Unbegrenzten. Geändert hat sich jedoch der Kristallisationspunkt, an dem sich diese religiöse Sehnsucht festmacht. War unsere Gesellschaft bis in das vergangene Jahrhundert hinein eine vor allem christliche, so ist heute ein Pluralismus auch der Religionen eingetreten. Das ist nicht ohne Folgen für die Entscheidungen von Rechtsstreitigkeiten, die gerade im Arbeitsrecht immer wieder virulent werden. Ihnen widmet sich diese Arbeit, die Anfang 2006 von der Bucerius Law School als Dissertation angenommen wurde. Während bislang die grundrechtlich geschützten Freiheitsgarantien das maßgebende Kontrollinstrument darstellten, verlagert sich die Diskussion zunehmend auf das europäische (Anti-)Diskriminierungsrecht. Da dessen Umsetzung in deutsches Recht leider recht zögerlich voranschritt, ließen sich Änderungen an dem im September 2005 fertiggestellten Manuskript nicht vermeiden. Die Entwicklungen konnten bis zum Inkrafttreten des AGG am 18.08.2006 weitgehend berücksichtigt werden. Betreut wurde die Arbeit von Prof. Dr. Gregor Thüsing, der jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stand. Für sein Vertrauen und seine uneingeschränkte Förderung in wissenschaftlicher und persönlicher Hinsicht danke ich von Herzen. Prof. Dr. Matthias Jacobs danke ich für die rekordverdächtige Erstellung des Zweitgutachtens, Prof. Dr. Martin Henssler für die wertvollen Erfahrungen als Student am Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht in Köln. Ich würde mich freuen, den Herren Professoren auch weiterhin verbunden zu bleiben. Ideell und finanziell wurde die Promotion durch ein Stipendium des Cusanuswerks gefördert. Dabei war die Zeit als Stipendiat leider viel zu kurz. Die Johanna und Fritz Buch Gedächtnisstiftung unterstützte die Veröffentlichung der Dissertation durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss. Die kritischen Anregungen von Dr. Christian Hoppe haben in vielen Bereichen ihren Niederschlag gefunden; sie möchte ich auch in Zukunft nicht missen. Imke Wieder danke ich nicht nur für ihre gewissenhaften Korrekturen, sondern vor allem für ihre Geduld, ihr Vertrauen und ihre Toleranz.
8
Vorwort
Den wichtigsten, wenn auch nicht unmittelbarsten Anteil am Gelingen dieser Arbeit hatten meine Eltern, Edith und Horst Wege. Sich ihrer Unterstützung – und der meiner Geschwister Annika und Julian – stets sicher zu sein, ist ein großes Geschenk.
Hamburg, im August 2006
Donat Wege
Inhaltsübersicht
Kapitel 1 Religion in einer pluralistischen Gesellschaft
27
I.
Eine gesellschaftliche Entwicklung....................................................................... 27
II.
Anlass der Untersuchung ...................................................................................... 29
III.
Abgrenzung zu anderen Themenfeldern................................................................ 30
Kapitel 2 Religiöse und arbeitsvertragliche Pflichten im Konflikt
33
I.
Was ist Religion? .................................................................................................. 33
II.
Schutzbereiche der Religionsfreiheiten ................................................................. 35
III.
Unterschiede zur Gewissensfreiheit ...................................................................... 39
IV.
Religion als Freiheit auch im Arbeitsverhältnis .................................................... 46
Kapitel 3 Das Fallmaterial
48
I.
Konflikte bei Einstellung ...................................................................................... 48
II.
Konflikte bei der Arbeitsleistung .......................................................................... 55
10
Inhaltsübersicht Kapitel 4 Eine verfassungsrechtliche Betrachtung
81
I.
Grundrechte und Privatrecht..................................................................................81
II.
Wirkungen der Freiheitsrechte im Zivilrecht.........................................................82
III.
Grundrechtsverzicht im Zivilrecht?.......................................................................93
IV.
Wirkungen der Gleichheitsrechte im Zivilrecht ....................................................96
V.
Grundrechte speziell im Arbeitsrecht ..................................................................102
VI.
Schutzpflichten aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG .......................................................107
VII. Zusammenfassung...............................................................................................115
Kapitel 5 Eine zivilrechtliche Betrachtung
117
I.
Das Anfechtungsrecht des Arbeitgebers und seine Pflichten bei Einstellung......118
II.
Fürsorgepflichten des Arbeitgebers und Treuepflichten des Arbeitnehmers .......123
III.
Auslegung und Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen ........................................128
IV.
Arbeitsverhinderung und allgemeines Leistungsstörungsrecht............................141
V.
Kündigung...........................................................................................................168
VI.
Lohnzahlung........................................................................................................182
VII. Schadensersatzansprüche des Arbeitgebers.........................................................184 VIII. Besonderheiten im öffentlichen Dienst und bei kollektivrechtlichen Regelungen..................................................................................................................189 IX.
Zusammenfassung...............................................................................................197
Kapitel 6 Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung I.
200
Gang der Darstellung...........................................................................................201
Inhaltsübersicht
11
II.
Ein neues (Anti-)Diskriminierungsrecht ............................................................. 201
III.
Das Verhältnis des Antidiskriminierungsrechts zum arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz .............................................................................. 210
IV.
Diskriminierung durch Gleichbehandlung?......................................................... 214
V.
Religion im Verhältnis zu anderen Diskriminierungsmerkmalen........................ 259
VI.
Voraussetzungen und Rechtsfolgen (religiöser) Diskriminierungen ................... 265
Kapitel 7 Religiöse Konflikte im Blickwinkel des AGG
293
I.
Konflikte bei Einstellung .................................................................................... 293
II.
Konflikte bei der Arbeitsleistung ........................................................................ 307
Resümee ...................................................................................................................... 325
Literaturverzeichnis ................................................................................................. 329
Sachwortverzeichnis................................................................................................... 358
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 Religion in einer pluralistischen Gesellschaft
27
I.
Eine gesellschaftliche Entwicklung....................................................................... 27
II.
Anlass der Untersuchung ...................................................................................... 29 1. Die Schuldrechtsreform .................................................................................. 29 2. Das neue Antidiskriminierungsrecht............................................................... 30 3. Die Unterschiede zwischen Religions- und Gewissenskonflikten .................. 30
III.
Abgrenzung zu anderen Themenfeldern................................................................ 30
Kapitel 2 Religiöse und arbeitsvertragliche Pflichten im Konflikt
33
I.
Was ist Religion? .................................................................................................. 33
II.
Schutzbereiche der Religionsfreiheiten ................................................................. 35 1. Einzelne Gewährleistungen der Religionsfreiheiten ....................................... 35 2. Forum internum und forum externum ............................................................. 37
III.
Unterschiede zur Gewissensfreiheit ...................................................................... 39 1. Schutzbereich der Gewissensfreiheit .............................................................. 39 2. Glaube und Gewissen ..................................................................................... 41 3. Unterschiedliche Voraussetzungen ................................................................. 42 4. Unterschiedliche Folgen eines Übergriffs....................................................... 43 5. Nachweis einer Gewissensentscheidung......................................................... 45
IV.
Religion als Freiheit auch im Arbeitsverhältnis .................................................... 46
14
Inhaltsverzeichnis Kapitel 3 Das Fallmaterial
I.
48
Konflikte bei Einstellung.......................................................................................48 1. Fragerecht des Arbeitgebers............................................................................49 2. Gleichbehandlungspflicht bei Einstellung? .....................................................50 3. Offenbarungspflichten des Arbeitnehmers ......................................................53 4. Arbeitsvertragliche Gestaltung........................................................................54
II.
Konflikte bei der Arbeitsleistung ..........................................................................55 1. Tragen religiöser Symbole ..............................................................................55 a) Das „islamische“ Kopftuch.......................................................................56 b) Der Turban des Sikh .................................................................................59 c) Die rote Bhagwan-Kleidung und die Mala ...............................................60 2. Religiöse Betätigung während der Arbeitszeit ................................................61 a) Das Urteil des LAG Düsseldorf.................................................................61 b) Die Urteile des LAG Hamm ......................................................................62 3. Ablehnung von Arbeitshandlungen.................................................................63 a) Phase 1: Die ersten Urteile zur Arbeitsverweigerung aus religiösen Gründen ....................................................................................................64 b) Die sich anschließende Diskussion...........................................................67 c) Phase 2: Zwei Grundsatzurteile des BAG zur Arbeitsverweigerung aus Gewissensgründen..............................................................................68 d) Die Diskussion im Schrifttum...................................................................70 e) Ein Urteil des LAG Düsseldorf .................................................................71 f) Ein Ausblick auf Phase 3 – und ein weiteres BAG-Urteil als Auftakt? ........................................................................................................73 aa) § 612a BGB......................................................................................74 bb) Die Richtlinie 2000/78/EG ...............................................................74 4. Religiöse Werbung..........................................................................................76 a) Missionierungsversuche des Arbeitgebers – ein Urteil des BVerwG ........77
Inhaltsverzeichnis
15
b) Werbung für eine Religionsgemeinschaft durch den Arbeitnehmer – ein Urteil des ArbG Reutlingen................................................................. 78 c) Zurückhaltende Werbung ......................................................................... 78 5. Zusammenfassung........................................................................................... 79
Kapitel 4 Eine verfassungsrechtliche Betrachtung
81
I.
Grundrechte und Privatrecht ................................................................................. 81
II.
Wirkungen der Freiheitsrechte im Zivilrecht ........................................................ 82 1. Unmittelbare und mittelbare Drittwirkung...................................................... 83 2. Grundrechtliche Schutzpflichten des Staates gegenüber Privaten – ein komplexes Dreiecksverhältnis ........................................................................ 85 3. Verfassungskonforme und verfassungsorientierte Auslegung einfachen Rechts ............................................................................................................. 86 4. Zusammenhang zwischen Schutzpflichten und Ausstrahlungswirkung.......... 87 a) Entscheidungsergebnis und Entscheidungsprozess .................................. 88 b) Adressat der Schutzpflichten .................................................................... 90 c) Interessenabwägungen.............................................................................. 91 d) Begründung des systematischen Zusammenhangs ................................... 92
III.
Grundrechtsverzicht im Zivilrecht?....................................................................... 93 1. Der Verzicht auf Grundrechte im verfassungsrechtlichen Sinne..................... 94 2. Der Verzicht auf Grundrechte im Zivilrecht ................................................... 94 3. Freiwilligkeit als Abwägungskriterium auch im Zivilrecht............................. 96
IV.
Wirkungen der Gleichheitsrechte im Zivilrecht .................................................... 96 1. „Mittelbare Drittwirkung“ der Gleichheitsrechte als Teil einer objektiven Werteordnung........................................................................................... 97 2. Das grundrechtlich gebotene Schutzminimum................................................ 97 a) Der allgemeine Gleichheitssatz ................................................................ 98 b) Ein Schutzminimum aus Art. 3 Abs. 3 GG? ............................................. 99
16
Inhaltsverzeichnis aa) Gleichbehandlung contra Privatautonomie.......................................99 bb) Systematik und Zweck des Art. 3 Abs. 3 GG .................................100 3. Ergebnis ........................................................................................................102
V.
Grundrechte speziell im Arbeitsrecht ..................................................................102 1. Grundrechtswirkungen im Arbeitsrecht ........................................................102 2. Sicherung privatautonomer Arbeitsverträge..................................................104 3. Auslegung von Arbeitsverträgen im Lichte der Grundrechte........................104 a) Verfassungskonforme Auslegung von Arbeitsverträgen ........................105 b) Verfassungsfreundliche Auslegung von Arbeitsverträgen......................106
VI.
Schutzpflichten aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG .......................................................107 1. Notwendige Differenzierungen .....................................................................107 2. Konflikte bei Einstellung im Spiegel der Religionsfreiheiten .......................108 a) Fragerecht des Arbeitgebers ...................................................................109 b) Bewerbungsphase und Auswahlentscheidung des Arbeitgebers.............110 c) Offenbarungspflichten des Arbeitnehmers .............................................111 d) Arbeitsvertragliche Gestaltung ...............................................................112 3. Konflikte innerhalb des Arbeitverhältnisses im Spiegel der Religionsfreiheiten .......................................................................................................113 a) Oktroyieren fremder religiöser Ansichten ..............................................113 b) Deutungshoheit über religiöse Symbole .................................................114
VII. Zusammenfassung...............................................................................................115
Kapitel 5 Eine zivilrechtliche Betrachtung I.
117
Das Anfechtungsrecht des Arbeitgebers und seine Pflichten bei Einstellung......118 1. Anfechtung wegen arglistiger Täuschung .....................................................118 2. Anfechtung wegen Eigenschaftsirrtums........................................................120 3. Pflicht zur Gleichbehandlung bei Einstellung? .............................................121
Inhaltsverzeichnis II.
17
Fürsorgepflichten des Arbeitgebers und Treuepflichten des Arbeitnehmers....... 123 1. Rücksichtnahme auf religiöse Belange ......................................................... 123 2. Grenzen der Fürsorgepflichten des Arbeitgebers .......................................... 124 3. Konkretisierung des Begriffs der Betriebsablaufstörungen........................... 125 a) Religion und Gewissen........................................................................... 125 b) Betroffenheit von Arbeitskollegen ......................................................... 127 c) Suche nach Aushilfskräften .................................................................... 127
III.
Auslegung und Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen ........................................ 128 1. Gesetzliche Verbote (§ 134 BGB) ................................................................ 128 2. § 75 Abs. 1 S. 1 BetrVG ............................................................................... 130 3. Sittenwidrige Verträge (§ 138 BGB) ............................................................ 130 a) Die Unterscheidung zwischen Glaube, Religionsausübung und Gewissen..................................................................................................... 131 b) Ein Blick auf Rechtsprechung und Schrifttum ....................................... 131 c) Konsequenzen ........................................................................................ 134 4. Das Diskriminierungsverbot des § 612a BGB .............................................. 135 a) Maßregelung des Arbeitnehmers ............................................................ 136 b) Geltung allein für repressive Maßnahmen.............................................. 136 c) Konsequenz ............................................................................................ 138 5. (Inhalts-)Kontrolle allgemeiner Geschäftsbedingungen................................ 138 a) Überraschende Klauseln (§ 305c Abs. 1 BGB) ...................................... 138 b) Unangemessene Benachteiligung (§ 307 BGB)...................................... 139 6. Zusammenfassung......................................................................................... 141
IV.
Arbeitsverhinderung und allgemeines Leistungsstörungsrecht ........................... 141 1. Die verschiedenen Lösungsansätze nach bisherigem Recht.......................... 142 a) Die Begrenzung des Direktionsrechts des Arbeitgebers ......................... 142 b) Oder ein Leistungsverweigerungsrecht des Arbeitnehmers? .................. 143 c) Leistungsverweigerungsrecht aus § 242 bzw. § 616 BGB ..................... 145 d) Die Einrede entgegenstehender Pflichtenkollision nach § 275 Abs. 3 BGB ...................................................................................................... 146
18
Inhaltsverzeichnis e) Die unterschiedlichen Rechtsfolgen .......................................................147 2. Eine Lösung über das Maßregelungsverbot?.................................................149 3. § 313 BGB als neues Lösungsmodell?..........................................................150 a) Rechtsfolge: Vertragsanpassung.............................................................150 b) Die Vereinbarkeit der Tätigkeit mit religiösen Vorstellungen als Geschäftsgrundlage des Arbeitsvertrags?....................................................152 aa) Der Tatbestand des § 313 Abs. 1 und 2 BGB .................................152 bb) Die sog. subjektive Geschäftsgrundlage.........................................153 cc) Die sog. objektive Geschäftsgrundlage ..........................................154 c) Zusammenfassung ..................................................................................155 4. Ein kooperatives Modell ...............................................................................155 a) Gestaltungsspielraum im Falle rein-religiöser Konflikte ........................156 b) Frage der Zumutbarkeit für den Schuldner im Falle von Gewissenskonflikten................................................................................................157 c) Konsequenzen.........................................................................................158 aa) Leistungsverweigerungsrecht aus § 275 Abs. 3 BGB im Falle von Gewissensnöten .......................................................................159 (1)
Zum Kriterium der Vorhersehbarkeit des Konflikts .............159
(2)
Zu den Kriterien der betrieblichen Interessen und der Wahrscheinlichkeit weiterer Konflikte .................................161
bb) Interessenabwägung im Falle rein-religiös bedingter Konflikte .....162 (1)
Zum Kriterium der Vorhersehbarkeit....................................162
(2)
Zum Kriterium der betrieblichen Interessen .........................164
(3)
Zum Kriterium der Wahrscheinlichkeit weiterer Konflikte ..165
(4)
Privilegierung von Religionsgemeinschaften, die den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts haben?....166
d) Rechtsfolgen ...........................................................................................167 5. Zusammenfassung.........................................................................................167 V.
Kündigung...........................................................................................................168 1. Hauptanwendungsfall: Ordentliche Kündigung durch den Arbeitgeber unter Geltung des KSchG..............................................................................168
Inhaltsverzeichnis
19
a) Verhaltens- oder personenbedingte Kündigung?.................................... 168 aa) Der Unterschied zwischen beiden Kündigungsarten ...................... 169 bb) Religionsausübung und Gewissen im Kündigungsrecht................. 170 cc) Insbesondere: Das Kopftuch der Muslima und das christliche Kreuz ............................................................................................. 171 dd) Keine Unterscheidung nach der Vorhersehbarkeit ......................... 172 b) Tatbestand von verhaltens- und personenbedingter Kündigung ............. 173 aa) Die Interessenabwägung................................................................. 173 bb) Vergangenheitsbetrachtung und Zukunftsprognose ....................... 174 c) Zukunftsprognose bei Kündigungen wegen Gewissenskonflikten ......... 175 d) Weiterbeschäftigungs- und Wiedereinstellungsanspruch ....................... 177 2. Ordentliche Kündigung durch den Arbeitgeber nach den allgemeinen Vorschriften .................................................................................................. 178 a) Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB)................................................................. 178 b) Verbot der Maßregelung (§ 612a BGB) ................................................. 179 c) Treu und Glauben (§ 242 BGB) ............................................................. 179 3. Außerordentliche Kündigung durch den Arbeitgeber ................................... 181 4. Kündigung durch den Arbeitnehmer............................................................. 181 VI.
Lohnzahlung ....................................................................................................... 182 1. Rechtmäßigkeit der Weisung als entscheidendes Kriterium im Falle rein-religiöser Konflikte................................................................................ 182 2. Leistungsverweigerung und Lohnanspruch im Falle von Gewissenskonflikten............................................................................................................ 183
VII. Schadensersatzansprüche des Arbeitgebers......................................................... 184 1. Die Ausgangslage ......................................................................................... 184 2. Die richtige Anspruchsgrundlage: § 280 oder § 311a BGB? ........................ 186 3. Rechtsfolge: Ersatz des negativen oder (auch) des positiven Interesses?...... 186 4. Beweislast ..................................................................................................... 188 5. Zusammenfassung......................................................................................... 189 VIII. Besonderheiten im öffentlichen Dienst und bei kollektivrechtlichen Regelungen.................................................................................................................. 189
20
Inhaltsverzeichnis 1. Besonderheiten im Bereich des öffentlichen Dienstes ..................................190 a) Das Urteil des BVerfG zum Kopftuch einer Lehrerin und seine Bedeutung für den öffentlichen Dienst .......................................................190 b) Beschränkungen der Religionsausübung ................................................192 c) Glaube, Bekenntnis und Gewissen .........................................................193 2. Besonderheiten für Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen.....................194 a) Beschränkungen der Religionsfreiheiten durch Tarifverträge ................194 b) Grenzen für Betriebsvereinbarungen ......................................................196
IX.
Zusammenfassung...............................................................................................197
Kapitel 6 Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
200
I.
Gang der Darstellung...........................................................................................201
II.
Ein neues (Anti-)Diskriminierungsrecht..............................................................201 1. Geschichte der Umsetzung in deutsches Recht .............................................202 a) Ein erster Versuch ..................................................................................202 b) Der Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes vom Mai 2004...........203 c) Der Entwurf vom November 2004 .........................................................203 2. Überblick über Inhalt und Systematik des AGG ...........................................204 3. Historische Vorläufer im internationalen Recht............................................206 4. Die europäische Rechtsentwicklung..............................................................207 5. Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Mangold/Helm .................208
III.
Das Verhältnis des Antidiskriminierungsrechts zum arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz...............................................................................210 1. Ein kollektiver Tatbestand als Voraussetzung...............................................211 2. Keine Anwendung vor Beginn und nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses .......................................................................................................212 3. Reichweite des Gleichbehandlungsgrundsatzes ............................................212 4. Verzichtbarkeit auf den Schutz vor Diskriminierungen ................................213
Inhaltsverzeichnis
21
5. Zusammenfassung......................................................................................... 213 IV.
Diskriminierung durch Gleichbehandlung?......................................................... 214 1. Fragestellung................................................................................................. 214 2. Gleichbehandlung und materielle Diskriminierung – eine Klarstellung diskriminierungsrechtlicher Begriffe ............................................................ 216 a) Unmittelbare, mittelbare und materielle Diskriminierung ...................... 216 b) Gleichbehandlung und Gleichstellung.................................................... 218 c) Positive Diskriminierung (affirmative action) ........................................ 219 d) Abgrenzung zur sog. umgekehrten Diskriminierung.............................. 220 3. Die Regelungen des AGG und der EG-Richtlinien....................................... 221 a) Der Wortlaut der Richtlinien und des AGG ........................................... 222 aa) Diskriminierung und Benachteiligung............................................ 222 bb) Gleichbehandlungsgrundsatz, Ungleichbehandlung und unterschiedliche Behandlung.................................................................. 223 cc) Benachteiligung „in besonderer Weise“ – Einbeziehung auch der Fälle der Gleichbehandlung?.................................................... 225 b) Vergleich mit anderen Diskriminierungsverboten .................................. 226 aa) Allgemeine Gleichheitssätze .......................................................... 227 bb) Grundfreiheiten .............................................................................. 228 cc) Art. 12 EG: Diskriminierungsverbot wegen der Staatsangehörigkeit ............................................................................................. 231 (1)
Kaum Auseinandersetzungen mit dem Problem im Schrifttum ............................................................................. 231
(2)
Die Rechtsprechung des EuGH – Anerkennung der Gleichbehandlung als Diskriminierungsform? ..................... 232
(3)
Mögliche Einwände gegen diese Schlussfolgerung .............. 234
dd) Verbot der Geschlechterdiskriminierung........................................ 235 (1)
Urteil des EuGH in den Verfahren Bötel und Lewark – Grundsatz des gleichen Entgeltes ......................................... 236
(2)
Urteil des EuGH in der Sache Thibault – Art. 5 Abs. 1 RL 76/207/EWG als spezielle Norm .................................... 237
22
Inhaltsverzeichnis (3)
Zwischenergebnis zum Vergleich mit dem Verbot der Diskriminierung wegen des Geschlechts ..............................239
ee) Zwischenergebnis...........................................................................240 c) Umkehrschluss zu Art. 5 RL 2000/78/EG ..............................................241 d) Gleichbehandlung im US-amerikanischen Diskriminierungsrecht .........243 e) Schlussfolgerungen.................................................................................244 4. Diskussion.....................................................................................................245 a) Abgrenzungsschwierigkeiten bei einer Beschränkung auf Ungleichbehandlungen..........................................................................................246 b) Umfassender Schutz vor Diskriminierungen ..........................................247 c) Schwierigkeiten bei einer reinen Wirkungsbetrachtung .........................248 d) Gleichheits- und Freiheitsrechte .............................................................250 e) Stellungnahme und Zwischenergebnis: Diskriminierung setzt Ungleichbehandlung voraus ........................................................................252 5. Ein eigenes Konzept zur Unterscheidung zwischen Gleich- und Ungleichbehandlungen.......................................................................................254 a) Problematik.............................................................................................254 b) Auslegung der Maßnahmen des Arbeitgebers im Lichte ihrer Umstände......................................................................................................255 c) Ein Vorschlag zur Abgrenzung von Gleich- und Ungleichbehandlungen .....................................................................................................256 d) Ein Beispiel ............................................................................................256 6. Ausblick ........................................................................................................258 V.
Religion im Verhältnis zu anderen Diskriminierungsmerkmalen........................259 1. Abgrenzungsschwierigkeiten ........................................................................259 2. Verhältnis zum Diskriminierungsverbot wegen der Staatsangehörigkeit ......260 a) Schutzbereich .........................................................................................260 b) Rechtfertigung einer Benachteiligung ....................................................261 c) Kein Ausschluss von Diskriminierungen wegen der Staatsangehörigkeit durch Art. 3 Abs. 2 der RL 2000/43/EG und 2000/78/EG...........262
Inhaltsverzeichnis
23
3. Verhältnis zum Diskriminierungsverbot wegen Rasse und ethnischer Herkunft........................................................................................................ 263 VI.
Voraussetzungen und Rechtsfolgen (religiöser) Diskriminierungen ................... 265 1. Überblick über die Voraussetzungen einer Benachteiligung......................... 265 2. Anwendungsbereich des arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverbots .......... 266 3. Tatbestand einer Diskriminierung................................................................. 267 a) Ungleichbehandlung............................................................................... 267 aa) Aktives Tun oder Unterlassen ........................................................ 267 bb) Hypothetische Vergleichspersonen (bzw. -gruppen)...................... 268 cc) Bestimmung der Ungleichbehandlung ........................................... 269 b) Konnexität zwischen Ungleichbehandlung und Merkmal ...................... 270 aa) Das Merkmal der Religion ............................................................. 271 bb) Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung................................ 272 cc) Drei Fallgruppen unmittelbarer Diskriminierungen ....................... 274 dd) Nachweis ungleicher Auswirkungen im Rahmen mittelbarer Diskriminierungen.......................................................................... 277 c) Nachteil .................................................................................................. 280 aa) Bekannte Probleme in neuem Gewande ......................................... 280 bb) Benachteiligung „in besonderer Weise“ – geringfügige Nachteile ausgeschlossen? ............................................................. 281 cc) Keine hypothetische Benachteiligung ............................................ 282 dd) Kausalität zwischen Ungleichbehandlung und Nachteil................. 285 d) Zurechenbarkeit oder Finalität als weiteres Tatbestandsmerkmal? ........ 286 4. Rechtfertigungsgründe.................................................................................. 287 a) Wesentliche und entscheidende berufliche Anforderungen (§ 8 Abs. 1 AGG) .......................................................................................... 288 b) Zulässige positive Maßnahmen (§ 5 AGG) ............................................ 289 5. Rechtsfolgen ................................................................................................. 290 a) Schadensersatz und Entschädigung ........................................................ 290 b) Leistungsverweigerungsrecht und Maßregelungsverbot......................... 292
24
Inhaltsverzeichnis Kapitel 7 Religiöse Konflikte im Blickwinkel des AGG
I.
293
Konflikte bei Einstellung.....................................................................................293 1. Fragerecht des Arbeitgebers..........................................................................293 a) Grundsätzliche Unzulässigkeit der Frage nach der Religion ..................294 aa) Keine Benachteiligung durch die Frage selbst................................294 bb) Benachteiligung durch die Anfechtung des Arbeitsvertrags? .........295 cc) Wertungsgesichtspunkte.................................................................296 b) Ausnahmen .............................................................................................297 c) Anfechtung auch bei langfristiger Arbeitsunfähigkeit ausgeschlossen? – Ein Vergleich zur Frage nach der Schwangerschaft ....................298 2. Angabe der Religionszugehörigkeit zwecks Einbehaltung der Kirchensteuer.............................................................................................................299 3. Gleichbehandlung bei Einstellung.................................................................300 a) Gleichbehandlungsanspruch nach dem AGG .........................................301 b) Schadenshöhe .........................................................................................301 c) Insbesondere: Einstellungsgespräche am Samstag .................................303 4. Arbeitsvertragliche Gestaltung......................................................................305 a) Pauschale Formulierungen......................................................................306 b) Differenzierte Klauseln...........................................................................306
II.
Konflikte bei der Arbeitsleistung ........................................................................307 1. Tragen religiöser Symbole ............................................................................308 a) Ungleich- oder Gleichbehandlungen?.....................................................308 aa) Fälle nicht vom AGG erfasster Gleichbehandlungen .....................308 bb) Stattdessen: Lösung weiterhin über arbeitsvertragliche Nebenpflichten..........................................................................................309 cc) Fälle prinzipiell erfasster Ungleichbehandlungen...........................310 dd) Der umgekehrte Fall: Der Arbeitgeber verlangt das Tragen eines religiösen Symbols ...................................................................311 b) Rechtfertigungen unmittelbarer Diskriminierungen ...............................311
Inhaltsverzeichnis
25
c) Rechtfertigungen mittelbarer Diskriminierungen, insbesondere durch entgegenstehende Kundenwünsche (customer preferences)......... 312 2. Religiöse Betätigungen während der Arbeitszeit .......................................... 315 a) Zumeist Fälle nicht vom Diskriminierungsrecht erfasster Gleichbehandlungen ............................................................................................. 315 b) Ungleichbehandlungen durch diskriminierende Ausnahmeregelungen .. 316 c) Rechtfertigungen von Ungleichbehandlungen........................................ 318 3. Ablehnung von Arbeitshandlungen............................................................... 319 a) Gleich- oder Ungleichbehandlungen? .................................................... 319 b) Die erste zaghafte Stellungnahme des BAG............................................ 319 c) Kollisionen mehrerer Benachteiligungstatbestände................................ 320 4. Religiöse Werbung........................................................................................ 322 a) Werbung durch Arbeitnehmer ................................................................ 322 b) Missionierung durch den Arbeitgeber .................................................... 323
Resümee ....................................................................................................................... 325
Literaturverzeichnis .................................................................................................. 329
Sachwortverzeichnis ................................................................................................. 358
Kapitel 1
Religion in einer pluralistischen Gesellschaft „Die menschlichen Gesetze sollen zum menschlichen Geist sprechen und müssen Vorschriften, aber keine Empfehlungen geben. Die Religion soll zum Herzen sprechen und muss viele Empfehlungen, aber wenig Vorschriften geben“, stellte Montesquieu Mitte des 18. Jahrhunderts fest1. Solange die Religion unverbindliche Empfehlungen ausspricht, sind Konflikte weitgehend vermeidbar. Aber darauf beschränkt sie sich eben zumeist nicht. Und man wird es ihr auch nicht vorwerfen können, zeigt sich doch erst im täglichen Leben, wie ernst man es wirklich mit seinen religiösen Überzeugungen meint. Die Rechtsordnung eines in religiösen und weltanschaulichen Fragen neutralen Staates kann religiöse Pflichten des Einzelnen deshalb nicht gänzlich unbeachtet lassen, sie andererseits aber auch nicht per se über das bestehende Pflichtenprogramm stellen. Jener Konfliktlagen widmet sich diese Arbeit.
I. Eine gesellschaftliche Entwicklung Ursprünge religiöser Freiheit lassen sich bereits im Augsburger Religionsfrieden von 1555 erkennen.2 Den weltlichen Reichsständen wird hierin die freie Wahl zwischen katholischem und protestantischem Glauben zugesichert. Getreu dem Motto cuius regio, eius religio3 galt dieses Recht zwar nicht für den
______________ 1 De l’Esprit des Lois, 1748, Livre 24 Chapitre 7. Die Übersetzung entstammt der deutschen Reclam-Ausgabe „Vom Geist der Gesetze“ von 1994. 2 Dessen Bedeutung für die Verfassungsgeschichte Deutschlands erläutert Heckel, JZ 2005, 961; eine prägnante Darstellung der historischen Entwicklung findet sich bei Frhr. von Campenhausen in: Hb Staatsrecht VI, § 136 Rn. 6 ff. 3 „In wessen Gebiet ich lebe, dessen Religion muss ich annehmen.“ Dieser Satz selbst stammt jedoch erst aus dem 17. Jahrhundert.
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Kapitel 1: Religion in einer pluralistischen Gesellschaft
Einzelnen, doch lag hierin der Beginn einer Entwicklung hin zu einer religiöspluralistischen Gesellschaft. 4 Die ersten Kodifikationen einer weiter gehenden, individuellen Religionsfreiheit trafen 1776 die amerikanische Bill of Rights und 1789 die französische Menschen- und Bürgerrechtserklärung. In Deutschland sollte Art. V von Abschnitt VI der Paulskirchenverfassung von 1849 die Religionsfreiheit garantieren. Hier fand sich bereits die heute noch in den beiden ersten Absätzen des Art. 4 GG zum Ausdruck kommende Differenzierung zwischen dem inneren Bekenntnis zu einem Glauben und der Ausübung einer Religion. Während § 144 „volle Glaubens- und Gewissensfreiheit“ zugestand, sollte § 145 jedem Deutschen das Recht gewähren, „unbeschränkt in der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Übung seiner Religion“ zu sein. Obwohl die Reichsverfassung von Frankfurt nie in Kraft trat, prägte sie doch die weitere Entwicklung in Deutschland nachhaltig und so sind Glaubens-, Bekenntnis und Religionsausübungsfreiheit sowie die Gewissensfreiheit heute in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in ähnlicher Weise geregelt. Das gleiche Recht gewähren auch Art. 9 EMRK und Art. II-10 Abs. 1 des Europäischen Verfassungsentwurfs5. War es im 16. Jahrhundert bereits ein Durchbruch, dass der jeweilige Landesherr bestimmen konnte, welche Religion die Bürger anzunehmen hatten, so ist heute die freie Religionswahl des Einzelnen eine Selbstverständlichkeit. Und sie wird immer wichtiger: Je säkularer und multireligiöser eine Gesellschaft wird und je weiter ein einheitliches Wertefundament schwindet, desto gewichtiger werden individuelle religiöse Überzeugungen, die vom mainstream abweichen. Sie fordern die Gesellschaft und ihre Rechtsordnung zu Toleranz und Integration heraus. Kästner sprach 1998 gar von einer Hypertrophie des Grundrechts auf Religionsfreiheit.6 Und das BVerfG hat in seinem viel beachteten Urteil zur „Lehrerin mit Kopftuch“ ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der „mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel (...) Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule“ sein kann.7
______________ 4 Die weiter reichende Freiheit, eine andere Religion als der Landesherr anzunehmen und ihr nachzugehen, wurde erst durch den Westfälischen Frieden 1648 geschaffen. Artikel V zwang mit den §§ 31 bis 37 alle Reichsstände zur gestuften Duldung der anderen zugelassenen Bekenntnisse, sofern diese schon 1624 bestanden hatten. Der Landesherr konnte ihre Anhänger jedoch nach wie vor – unter Wahrung einer Frist von mindestens drei Jahren – zur Auswanderung zwingen. 5 Abl. EG 2003/C 169, 7. 6 Kästner, JZ 1998, 974. 7 BVerfG, NJW 2003, 3111, 3115.
II. Anlass der Untersuchung
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II. Anlass der Untersuchung Anlass zur Neubewertung gibt es auch im Arbeitsrecht. Auslöser dafür sind vor allem die am 01.01.2002 in Kraft getretene Reform des allgemeinen Schuldrechts (s. sogleich 1) sowie die Richtlinien des Rates der Europäischen Union 2000/78/EG und 2000/43/EG.8 Das hierauf beruhende AGG soll in Zukunft sowohl unmittelbare als auch mittelbare Benachteiligungen u.a. wegen der Religion und Weltanschauung im Arbeitsleben verhindern (2). Schließlich ist die bereits in der Paulskirchenverfassung zu Tage getretene Unterscheidung zwischen Glaubens-, Religionsausübungs- und Gewissensfreiheit überfällig (3). Der Ruf nach einer differenzierteren Betrachtung wird von öffentlich-rechtlicher Seite immer lauter; die Untersuchung wird zeigen, dass sie auch dem Arbeitsrecht gut täte.
1. Die Schuldrechtsreform Einfluss auf die in diesem Bereich zu entscheidenden Rechtsstreitigkeiten werden einige durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz herbeigeführte Änderungen erlangen. § 275 Abs. 3 BGB etwa normiert ein Leistungsverweigerungsrecht für Leistungsstörungen aus dem ideell-persönlichen Bereich. Ist damit die bisherige Rechtsprechung, die stattdessen das Weisungsrecht des Arbeitgebers (§ 315 BGB bzw. § 106 GewO) begrenzte, hinfällig (s. Kap 5 IV)? Gleichzeitig wurden die Grundsätze der Störung der Geschäftsgrundlage in § 313 BGB aufgenommen. Eignet sich diese Vorschrift zur Lösung von Konflikten zwischen religiösen und arbeitsvertraglichen Pflichten (s. Kap. 5 IV.3)? Ob und inwieweit die Parteien bereits im Arbeitsvertrag Regelungen über Religion oder Religionsausübung treffen können, war bislang, soweit ersichtlich, (noch) nicht Gegenstand gerichtlicher Streitigkeiten. Es ist jedoch nicht unwahrscheinlich, dass Arbeitgeber angesichts des Urteils des BAG und der sich anschließenden gesellschaftlichen Debatte um das (vom BAG sogenannte) islamische Kopftuch9 auf die Idee kommen werden, Konflikte bereits im Vorhinein durch eine arbeitsvertragliche Regelung zu verhindern. Die Frage nach der Zulässigkeit solcher Arbeitsvertragsklauseln stellt sich insbesondere angesichts der nun auch für das Arbeitsrecht geltenden Vorschriften über allgemeine Geschäftsbedingungen (§§ 305 ff. BGB, vgl. § 310 Abs. 4 S. 2 BGB). ______________ 8
Abl. EG 2000/L 303, 16 und 2000/L 180, 22. Der Ausdruck islamisches Kopftuch wurde vom BAG in seinem Urteil zum Kopftuch einer Verkäuferin (NZA 2003, 483) verwendet. Gemeint ist damit ein Kopftuch, das aus islamisch-religiösen Gründen getragen wird. 9
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Kapitel 1: Religion in einer pluralistischen Gesellschaft
2. Das neue Antidiskriminierungsrecht Beruhend auf Art. 13 EG hat der Ministerrat zwei Antidiskriminierungsrichtlinien erlassen. Während die RL 2000/43/EG Diskriminierungen wegen der Rasse und der ethnischen Herkunft sowohl für den Bereich der Beschäftigung als auch im allgemeinen Zivilrecht für Güter und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen (vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. h RL) verbietet, bezieht sich die RL 2000/78/EG auf Diskriminierungen wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf. Letztere wird – umgesetzt durch das AGG – mit ihrem Verbot religiöser Benachteiligungen maßgeblichen Einfluss auf die Konflikte zwischen religiösen und arbeitsvertraglichen Pflichten entfalten.
3. Die Unterschiede zwischen Religions- und Gewissenskonflikten Das Diskriminierungsverbot wegen der Religion gibt Anlass, ein Diktum bisheriger Rechtsprechung in Frage zu stellen: die Gleichbehandlung von Religions- und Gewissenskonflikten, insbesondere im Zivil- und Arbeitsrecht. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG unterscheidet zwischen Glaube, Bekenntnis und Religionsausübung sowie Gewissen. Gleichwohl differenzierten die Gerichte bislang kaum, sondern stellten lediglich fest, der Arbeitnehmer berufe sich auf seine „Glaubens- und Gewissensfreiheit aus Art. 4 GG“ oder seine Handlungen seien vom Schutzbereich der „Religions- und Gewissensfreiheit“ erfasst. Dementsprechend beschäftigt sich auch das Schrifttum mit beiden Arten von Konflikten im selben Zusammenhang und versucht sie nach gleichem Muster zu lösen.10 Das Antidiskriminierungsrecht, das nur für die Benachteiligung wegen der Religion, nicht aber für Gewissenskonflikte gilt, gibt Anlass zu einer grundlegenden Neuorientierung.
III. Abgrenzung zu anderen Themenfeldern Die Breite der Thematik und die Fülle an Rechtsprechung und Literatur bringen es mit sich, dass der Untersuchung Grenzen gesetzt werden mussten. Eine erste steckt bereits das Rechtsgebiet ab, so werden allein Konflikte im arbeitsrechtlichen Bereich behandelt. Ausgespart werden Rechtsstreitigkeiten, die öffentlich-rechtlicher Natur sind. Die gesellschaftliche und juristische Diskussion um religiöse Symbole in der Schule wird deshalb nicht aufgegriffen. Inso______________ 10
s. Kap. 2 III.4 und die dortigen Nachweise.
III. Abgrenzung zu anderen Themenfeldern
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fern muss die „Lehrerin mit Kopftuch“ außen vor bleiben und mit ihr die Frage, ob die derzeit geplanten und verabschiedeten Landesgesetze mit der RL 2000/78/EG vereinbar sind.11 Im Schnittpunkt von öffentlichem und privatem Bereich liegt die Frage, ob es rechtens ist, dass der Arbeitnehmer seine Religionszugehörigkeit dem Arbeitgeber mitzuteilen hat, damit dieser mit der Lohn- auch die Kirchensteuer einbehalten kann. Da sie eher verfassungsrechtlicher Natur ist und bereits eingehend diskutiert wurde, wird sie nur am Rande gestreift. 12 Der Titel der Arbeit beinhaltet eine weitere Grenze: Es sollen religiöse Konflikte analysiert werden, weltanschauliche werden ausgeblendet. In weiten Bereichen ist ihre Lösung deckungsgleich, was nicht zuletzt daran liegt, dass Art. 4 GG Religion und Weltanschauung gleich behandelt und die Gerichte deshalb eine Differenzierung für überflüssig halten.13 Insofern wird neben dem Topos der Religion im Folgenden häufig auch der der Weltanschauung verwendet. Auch das Antidiskriminierungsrecht verbietet zwar neben Diskriminierungen wegen der Religion auch solche wegen der Weltanschauung (vgl. § 1 AGG). Sein Anwendungsbereich könnte indes weiter reichen als der Begriff der Weltanschauung nach deutschem Verständnis vermuten lässt. Die Richtlinientexte anderer europäischer Länder schließen zumeist auch Diskriminierungen wegen persönlicher Ansichten ein, so spricht die englische Fassung von „belief“ (Glauben, Meinen) und die französische von „convictions“ (Überzeugungen).14 Schlussfolgerungen, wie im Spiegel dessen der diskriminierungsrechtliche Begriff der Weltanschauung zu verstehen ist und wie weit das neue Recht reicht, bleibt anderen Untersuchungen vorbehalten. Keine Beachtung findet das kirchliche Arbeitsrecht, für das das BVerfG und das BAG eigene Maßstäbe entwickelt haben.15 Das aus Art. 140 GG iVm Art. 137 WRV resultierende kirchliche Selbstbestimmungsrecht16 garantiert den Religionsgemeinschaften, dass sie an ihre Mitarbeiter weitreichendere Anforderungen stellen und ihnen höhere Loyalitätspflichten auferlegen dürfen als weltliche Unternehmen. Dem tragen Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG und § 9 AGG Rechnung. Inwieweit das Antidiskriminierungsrecht Auswirkungen auf das ______________ 11
Hiermit beschäftigt sich Thüsing, JZ 2006, 223, 228 f. In Kap. 4 VI.2.c) und Kap. 7 I.2. 13 BVerwGE 90, 1, 4; a.A. Wilms in: FS Maurer, 2001, S. 493, 504; s. hierzu Kap. 2 III.2. 14 Däubler, NJW 2006, 2608; Säcker, ZRP 2002, 286, 289. 15 Grdl. BVerfG, NJW 1986, 367, 368 f. (Rommelfanger); zum kirchlichen Arbeitsrecht s. Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, §§ 5 ff., S. 63 ff.; ders. in: Hb Staatskirchenrecht II, § 67, S. 927; Rüfner in: Hb Staatskirchenrecht II, § 65, S. 877; Thüsing, Kirchliches Arbeitsrecht, 2006. 16 Zum Religionsverfassungsrecht im europäischen und internationalen Kontext s. Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006. 12
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Kapitel 1: Religion in einer pluralistischen Gesellschaft
kirchliche Arbeitsrecht hat, ist eine spannende Frage, kann aber im Rahmen dieser Arbeit nicht näher beleuchtet werden. 17 Sie beschränkt sich deshalb auf säkulare Unternehmen. Zudem wurde auf die Erörterung sozialversicherungsrechtlicher Probleme verzichtet, so dass die Frage dahin gestellt bleiben muss, wann die Agenturen für Arbeit Sperrzeiten für den Bezug von Arbeitslosengeld verhängen dürfen, wenn ein Arbeitsuchender eine ihm angebotene Tätigkeit aus religiösen Gründen ablehnt. § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGB III setzt für die Erhaltung des Anspruches auf Arbeitslosengeld voraus, dass für die Ablehnung ein wichtiger Grund besteht. Das BSG hat sich mit religiös- und gewissensbedingten Ablehnungsentscheidungen bereits befasst,18 die auch im Schrifttum Anklang gefunden haben.19 Hier geht es nicht um konkurrierende Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sondern um eine gerechte Verteilung von Leistungen aus dem Beitragsvolumen der Solidargemeinschaft. Solche sozialversicherungsrechtlichen Fragen bewegen sich deshalb auf anderen Pfaden. Arbeitsverhältnisse des öffentlichen Dienstes unterliegen einigen Besonderheiten, auf die lediglich am Rande in Kap. 5 VIII.1 einzugehen ist. Gleiches gilt für kollektivrechtliche Regelungen von Arbeitsverhältnissen (Kap. 5 VIII.2).
______________ 17 s. hierzu Belling, NZA 2004, 885; Budde, AuR 2005, 353; Germann/de Wall in: GS Blomeyer, 2004, S. 549; Hanau/Thüsing, Europarecht und Kirchliches Arbeitsrecht, 2001, S. 27 ff.; Joussen, RdA 2003, 32; Kehlen, Europäische Antidiskriminierung und kirchliches Selbstbestimmungsrecht, 2003; Lingscheid, Antidiskriminierung, 2004, S. 136 ff.; Link in: GS Blomeyer, 2004, S. 675, 679 ff.; Reichold, NZA 2001, 1054; Thüsing, JZ 2004, 172; Triebel, Das europäische Religionsrecht, 2005. 18 Einem Urteil aus dem Jahre 1980 lag die Entscheidung einer Siebenten-TagsAdventistin zugrunde, eine Stelle als Betriebsarbeiterin aus religiösen Gründen nicht anzutreten, da diese Samstagsarbeit erfordert hätte (BSG, NJW 1981, 1526). Mehrfach hatte sich das BSG mit Gewissensentscheidungen zu befassen, vgl. BSG, SGb. 1984, 30; BSG, NJW 1983, 701, s. hierzu auch BVerfG, NJW 1984, 912; BSG, NZA 1988, 221. Die Entscheidungen ergingen alle zu § 119 Abs. 1 Nr. 1 AFG, der inhaltlich weitgehend § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGB III entspricht. Zu Nachweisen landessozialgerichtlicher Urteile s. Gagel-Winkler, SGB III, Anh. 1 zu § 144 Rn. 71 f. 19 Eiselstein, DÖV 1984, 794 ff.; Hoevels, Islam und Arbeitsrecht, 2003, S. 113 ff.; U. Mayer, AuR 1985, 105, 110 ff.; Rüfner, RdA 1992, 1, 5 f.; Wiegand, SozVers 1983, 57; Zöbeley, SGb 1984, 97.
Kapitel 2
Religiöse und arbeitsvertragliche Pflichten im Konflikt Religion und Weltanschauung widmen sich den Sinnfragen menschlicher Existenz und schlussfolgern hieraus Verhaltensge- und -verbote. Was richtig und was falsch ist, wird maßgeblich dadurch bestimmt, wofür man lebt. Was gerecht ist, hängt davon ab, wie man sich selbst und andere betrachtet und worin man den Sinn und das Ziel menschlichen Lebens sieht. Religion und Weltanschauung hängen deshalb untrennbar mit Recht und Gerechtigkeit zusammen, die in Konflikt geraten, wenn sich eine Gesellschaft säkularisiert und nicht mehr auf einem einheitlichen religiösen Fundament beruht.
I. Was ist Religion? Eine allgemeingültige Definition von Glaube oder Religion hat das BVerfG bislang nicht aufgestellt. Wenn es ausführt, das Grundgesetz habe „nicht irgendeine, wie auch immer geartete freie Betätigung des Glaubens schützen wollen, sondern nur diejenige, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf der Basis gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat”,1 dann ist dies mehr eine Beschreibung als eine Definition. Es wird sich auch in Zukunft einer solchen enthalten, denn die Pflicht des Staates zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität gebietet es, neuen Formen der Religion offen gegenüber zu treten.2 Sie werden auch als Religion anerkannt, wenn sie nicht dem herkömmlichen, durch unsere christlich-abendländische Kultur geprägten Bild einer solchen
______________ 1 2
BVerfGE 12, 1, 4. Bock, AöR 123 (1998), 444, 460.
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Kapitel 2: Religiöse und arbeitsvertragliche Pflichten im Konflikt
entsprechen.3 Thüsing4 hat zur Konkretisierung insbesondere auf zwei Punkte hingewiesen: 1. Notwendige Bedingung für eine Religion ist, dass sie sich den grundlegenden Fragen menschlicher Existenz widmet und die Lebenswelt des Menschen im Hinblick auf Herkunft („Schöpfung“) und Zukunft („Ewigkeit“) deutet. Sie sucht nach Antworten auf das, was den Menschen unbedingt angeht, das “Wo komme ich her?”, “Was darf ich hoffen?”, und das “Was soll ich tun?”. Diese Antworten dürfen sich indes nicht mit agnostizistischen Formeln begnügen. „Ich weiß es nicht“, genügt nicht, denn Agnostizismus ist keine Religion. Da sich auch die Philosophie diesen Fragen widmet, ohne dass sie eine Religion ist, ist dieses Kriterium notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung. 2. Der Glaube an Gott ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für eine Religion. Es gibt einerseits Religionen, die als solche anerkannt sind (den Buddhismus vor allem), die aber nicht den Glauben an eine höhere Macht teilen und andererseits lässt allein der Glaube an eine solche noch keine Religion entstehen. Vielmehr ist erforderlich, dass sich die eben gestellten Fragen menschlicher Existenz gerade hieraus beantworten. Ein dritter Punkt sei angefügt. Durch das neue Antidiskriminierungsrecht wird die Rechtswissenschaft in Bezug auf die Definition des Religionsbegriffs vor eine neue Herausforderung gestellt. Ging es bislang allein um die Frage, ob eine bestimmte Geisteshaltung als Glaube bzw. ob eine darauf fußende Gemeinschaft als Religionsgesellschaft anzuerkennen ist, so wird in Zukunft darüber hinaus die Abgrenzung einer Religion zu anderen Religionen zur Diskussion stehen. Es geht bspw. um die Frage, ob (nur) der (gesamte) Islam als Religion im Sinne von § 1 AGG zu verstehen ist, oder ob sämtliche Muslima, die ein islamisches Kopftuch tragen, als eigene Religion bezeichnet werden können oder ob letztlich nicht sogar jeder Einzelne seine eigene Religion idS hat. Um eine Diskriminierung festzustellen, bedarf es stets eines Vergleichs, denn benachteiligt werden kann man nur gegenüber anderen. Ein Vergleich setzt Vergleichsgruppen voraus. Um also herauszufinden, ob jemand wegen seiner Religion benachteiligt wird, muss er mit denen verglichen werden, die eine andere Religion haben. Hat die muslimische Frau, die den Hijab nicht trägt, eine andere Religion als diejenige, die sich hierzu verpflichtet fühlt, wo sie doch beide dem Islam angehören? Hat der fromme Katholik, der trotz Schichtarbeit die ______________ 3 Einen Überblick über die Geschichte des Religionsbegriffs und seine Bedeutung in soziologischer, philosophischer und theologischer Hinsicht bietet die Studie von F. Wagner, Was ist Religion?, 1991; s. auch Brockhaus, Band 22, Stichwort „Religion“, S. 790 f.; Bock, AöR 123 (1998), 444, 457 f.; Borowski, Glaubens- und Gewissensfreiheit, 2006, S. 388 ff.; von Münch/Kunig-Mager, GG, Art. 4 Rn. 13. 4 In: GS Krüger, 2001, S. 351, 378 ff.; ders., ZevKR 45 (2000), 592 ff.; bei ihm sind es allerdings drei Punkte, die hier in zweien zusammengefasst werden.
II. Schutzbereiche der Religionsfreiheiten
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Sonntagsmesse besuchen möchte, eine andere Religion als derjenige, der zwar auch römisch-katholisch getauft ist, aber auf den Kirchgang keinen Wert legt? Bejaht man diese Fragen, muss man neben „dem Islam“ und „dem Katholizismus“ (oder „dem Christentum“) auch Untergliederungen als eigene Religionen im diskriminierungsrechtlichen Sinne anerkennen (hierzu in Kap. 6 VI.3.b) und VI.3.b)cc)).
II. Schutzbereiche der Religionsfreiheiten Das Grundgesetz enthält zahlreiche Ausformungen der Religionsfreiheit. Neben den Gewährleistungen des Art. 4 GG findet sich die religiöse Vereinigungsfreiheit in den institutionellen staatskirchenrechtlichen Bestimmungen des Art. 140 GG iVm Art. 137 Abs. 2 WRV. Weitere Konkretisierungen der Religionsfreiheit enthalten die Regelungen über den Religionsunterricht an Schulen (Art. 7 Abs. 2 und 3 GG) und das Erziehungsrecht der Eltern in Art. 6 Abs. 2 GG. Daneben verbietet die Verfassung Diskriminierungen aus religiösen Gründen in den Art. 33 Abs. 3 und Art. 3 Abs. 3 GG. Aus einer Zusammenschau der Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 und Art. 140 GG iVm Art. 136 Abs. 1 und 2 und 137 Abs. 1 WRV ergibt sich schließlich die staatliche Neutralitätspflicht.5 Hinsichtlich der Auswirkungen auf das Individualarbeitsverhältnis sind vor allem zwei Aspekte bedeutsam: der Schutz des Freiheitsrechts des Art. 4 GG (s. Kap. 4 II und Kap. 4 VI) und das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG (s. Kap. 4 IV).
1. Einzelne Gewährleistungen der Religionsfreiheiten Art. 4 GG selbst enthält eine ganze Reihe von Gewährleistungen. Geschützt wird sowohl die individuelle als auch die kollektive Religionsfreiheit, sowohl die positive als auch die negative Freiheit und schließlich sowohl die Freiheit einen Glauben zu haben (das sog. forum internum, die sog. Glaubensfreiheit6) und ihn zu bekennen (Bekenntnisfreiheit) als auch ihn auszuüben (forum externum, Art. 4 Abs. 2 GG). ______________ 5
St. Rtspr., s. nur BVerfG, NJW 1965, 961 und BVerfG, NJW 2000, 2626, 2627. Glaubensfreiheit wird häufig synonym für die hier als Oberbegriff verstandene Religionsfreiheit verwendet (so auch das BVerfG, NJW 1969, 31). Trennt man zwischen den einzelnen Gewährleistungen der Religionsfreiheit, so ist es ratsam begrifflich zu unterscheiden und den Terminus der Glaubensfreiheit allein auf das forum internum zu beschränken, also das „Haben“ bzw. „Nicht-Haben“ einer Religion. Vgl. hierzu Mückl, Der Staat 40 (2001), 96, 108; Podlech, Gewissensfreiheit, 1969, S. 22 ff.; MKS-Starck, GG, Art. 4 Rn. 32 ff.; Zacharias in: FS Rüfner, 2003, S. 987, 995. 6
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Kapitel 2: Religiöse und arbeitsvertragliche Pflichten im Konflikt
Glaube kann einerseits auf den Überzeugungen einer bereits bestehenden und verbreiteten Glaubensgemeinschaft beruhen, er kann aber auch aus ganz eigenen, individuellen Vorstellungen resultieren; sie können, müssen sich aber nicht aus einem auf Verbreitung zielenden Sinnsystem ergeben.7 Wichtig war dem BAG dies bspw. im sog. Kopftuchurteil. Das Tragen eines Kopftuchs, so das Gericht, sei auch Ausdruck von Religion, wenn nicht alle Muslima ein Kopftuch trügen. Entscheidend sei, dass der einzelne Grundrechtsträger plausibel darlegen könne, dass seine Überzeugung religiöser Natur sei.8 Dies gilt für das Haben einer Religion ebenso wie für deren Ausübung, also das forum externum. Hierunter fällt nach dem BVerfG die Freiheit, kultische Handlungen vorzunehmen, Riten und Gebräuchen nachzukommen, Gottesdienste abzuhalten, andere für den eigenen Glauben zu werben sowie die Abwerbung von einem fremden Glauben; kurzum schützt Art. 4 Abs. 1 und 2 GG das Recht des Einzelnen „sein gesamtes Verhalten an den Lehren des Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln“.9 Erfasst ist sowohl in Bezug auf forum internum als auch forum externum neben der sog. positiven Religionsfreiheit auch die negative. Sie gewährleistet die Freiheit, sich nicht für einen Glauben zu entscheiden, keine religiösen Überzeugungen zu hegen und keine kultischen Handlungen vorzunehmen.10 Agnostizismus ist demnach zwar keine Religion (s. I), eine agnostizistische Haltung unterliegt trotzdem dem Schutz der Religionsfreiheit.11 Wenn hiervon sowohl die positive Freiheit – zu glauben – als auch die negative – nicht zu glauben – erfasst sind, ist es nur konsequent auch die sozusagen „neutrale“ Freiheit zu schützen, sich weder für die eine noch für die andere Richtung zu entscheiden. Hierfür spricht auch die staatliche Neutralitätspflicht. Der EGMR erstreckt den Schutzbereich der von Art. 9 Abs. 1 und 2 EMRK gewährleisteten Religionsfreiheit deshalb sogar auf Skeptiker und Gleichgültige.12
______________ 7
BVerfG, NJW 1972, 1138 f.; BVerfG, NJW 2003, 3111, 3112. BAG, NZA 2003, 483, 486; hierzu Kap. 3 II.1.a); zur Bestimmung des Symbolgehaltes religiöser Zeichen s. Kap. 4 VI.3.b). 9 BVerfG, NJW 1972, 327, 329. 10 BVerfG, NJW 1976, 947, 948; ausführlich Zacharias in: FS Rüfner, 2003, S. 987, 993 f. 11 Frhr. von Campenhausen in: Hb Staatsrecht VI, § 136 Rn. 44; Maunz/Dürig-Herzog, GG, Art. 4 Rn. 78 f.; Sachs-Kokott, GG, Art. 4 Rn. 28. Zippelius (in: BK, GG, Art. 4 Rn. 31) differenziert zwischen bloßer Gleichgültigkeit und ehrlichen Vergewisserungsversuchen. Vgl. auch BVerwG, NJW 1999, 3063, 3067. 12 EGMR, NJW 2001, 2871, 2872; zust. Uerpmann-Wittzack in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 31. 8
II. Schutzbereiche der Religionsfreiheiten
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2. Forum internum und forum externum Die rechtswissenschaftliche Diskussion lässt eine Trennung der einzelnen Gewährleistungen der Religionsfreiheit häufig vermissen. Das BVerfG betont, es handele sich um ein einheitliches Grundrecht, dessen einzelne Aspekte alle den gleichen verfassungsrechtlichen Schutz genießen. Sowohl Glaube und Bekenntnis als auch die Religionsausübung unterlägen allein verfassungsimmanenten Schranken und insbesondere nicht dem Gesetzesvorbehalt nach Art. 140 GG iVm Art. 136 Abs. 1 WRV, so dass eine Differenzierung nicht geboten sei.13 Seit einiger Zeit regt sich zunehmend Kritik hieran,14 der sich auch das BVerwG angeschlossen hat.15 Ohne an dieser Stelle auf die grundrechtsdogmatische Diskussion ausführlich eingehen zu können, muss konstatiert werden, dass Einiges dafür spricht, die unterschiedlichen Gewährleistungen zu trennen und sie möglicherweise auch verschieden zu behandeln und in unterschiedlichem Maß zu schützen. Bereits der Wortlaut und die Systematik der Verfassung verdeutlichen dies. Art. 4 Abs. 1 GG zufolge sind die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit unverletzlich, wohingegen die Religionsausübung lediglich gewährleistet wird. Letztere Formulierung lässt auf ein gegenüber Abs. 1 reduziertes Schutzniveau schließen.16 Der Begriff der Unverletzbarkeit legt eine Parallele zur Menschenwürdegarantie nahe, die nach Art. 1 Abs. 1 GG unantastbar ist. Dies betont auch das BVerfG, bezieht den Bezug zur Menschenwürde jedoch auf alle Gewährleistungen der Religionsfreiheit, d.h. auch auf die Religionsausübungsfreiheit17 und relativiert damit seine eigenen Aussagen.
______________ 13
St. Rspr. des BVerfG, s. nur NJW 1972, 1183, 1184 und NJW 1980, 575, 578. Frhr. von Campenhausen in: Hb Staatsrecht VI, § 136 Rn. 82; Hillgruber, JZ 1999, 538, 543; Kästner, JZ 1998, 974, 982; M. Mayer, NVwZ 1997, 561, 562 f.; Muckel, Religiöse Freiheit, 1997, S. 224 ff.; ders. in: Berliner Kommentar, GG, Art. 4 Rn. 47 ff.; Mückl, Der Staat 40 (2001), 96, 107; Pauly/Pagel, NVwZ 2002, 441, 444; Schoch in: FS Hollerbach, 2001, S. 149, 153 ff.; MKS-Starck, GG, Art. 4 Rn. 87 ff.; a.A. Dreier-Morlok, GG, Art. 4 Rn. 112. Einige unterwerfen sogar die Gewissensfreiheit den Schranken des Art. 140 GG iVm Art. 136 Abs. 1 WRV, so bspw. Herdgen, Gewissensfreiheit, 1989, S. 288 ff., der hierin einen allgemeinen Rechtsgedanken sieht. Borowski (Glaubens- und Gewissensfreiheit, 2006, S. 528 ff. und S. 573) nimmt einen ungeschriebenen, einfachen Gesetzesvorbehalt an. 15 BVerwG, NJW 2001, 1225, 1226 f. 16 Vgl. Muckel, Religiöse Freiheit, 1997, S. 253 ff.; Denninger/Hohm, AG 1989, 145, 146; Mückl, Der Staat 40 (2001), 96, 107; Schoch in: FS Hollerbach, 2001, S. 149, 153 f. und 166. 17 BVerfG, NJW 1972, 1183 f. Das BVerfG interpretiert das Grundrecht aus Art. 4 GG daher im Lichte von Art. 1 Abs. 1 GG, vgl. BVerfG, NJW 1972, 327, 329 f. Eine „erheblich verstärkte Tragweite“ des Grundrechts der Religions- und Gewissensfreiheit sieht das BVerfG auch darin begründet, dass spezielle verfassungsrechtliche Schranken fehlen und Art. 4 GG nicht zum Kreis der verwirkbaren Grundrechte nach Art. 18 GG gehört. 14
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Kapitel 2: Religiöse und arbeitsvertragliche Pflichten im Konflikt
Auch die systematische Trennung in zwei Absätze des Art. 4 GG spricht für eine unterschiedliche Bewertung. Mag dies auch historisch bedingt sein,18 so kommt es doch bei der Auslegung einer Norm – vor allem einer Verfassungsnorm – besonders auf die objektive Interpretation und damit auf Wortlaut und Systematik an, die in diesem Fall eine recht deutliche Sprache sprechen. Teleologische Argumente vermögen diese Sichtweise zu stützen. Die Ausübung der Religion trägt naturgemäß ein größeres Konfliktpotential in sich als der bloße innere Glaube, so dass sie weitreichenderen Beschränkungen bedarf.19 Daher unterwirft bspw. auch die EMRK in Art. 9 Abs. 2 die Religionsausübungsfreiheit einem qualifizierten Gesetzesvorbehalt.20 Für die in Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit ist eine ähnliche Unterscheidung im Übrigen seit langem anerkannt, obwohl der Wortlaut der Norm dies nicht einmal nahe legt. Danach werden an Berufswahlschranken höhere Rechtfertigungsanforderungen als an objektive Berufsausübungsbeschränkungen gestellt, die wiederum für den Bürger einschneidender sind als subjektive Beschränkungen der Berufsausübung, d.h. solche, die an persönliche Eigenschaften und Fähigkeiten oder Qualifikationen anknüpfen. 21 Auf der unterschiedlichen Konfliktanfälligkeit beruht im Übrigen auch die in Art. 8 Abs. 1 und 2 GG getroffene Unterscheidung zwischen Versammlungen in geschlossenen Räumen und solchen unter freiem Himmel.22 Eine ähnliche Präzisierung des Verhältnismäßigkeitsgebots eignet sich auch im Bereich der Religions- und Weltanschauungsfreiheiten. Die Freiheit des Glaubens, sozusagen die Freiheit der Religionswahl, verdient größeren Schutz als die Freiheit ihrer Ausübung, die naturgemäß häufiger mit Rechten Dritter in Konflikt gerät als der innere Glaube. Eine abschließende Klärung der grundrechtsdogmatischen Zusammenhänge ist nicht Aufgabe dieser Untersuchung. Der Vorteil der Konstruktion eines einheitlichen Grundrechts, wie sie das BVerfG vorzieht, liegt freilich darin, dass die Garantie der ungestörten Religionsausübung über den Bereich der kultischen Handlungen und religiösen Gebräuche hinaus auch auf andere Aus______________ 18
Frhr. von Campenhausen in: Hb Staatsrecht VI, § 136 Rn. 37 und Rn. 6 ff. Zur Genese des Art. 4 GG s. v. Doemming/Füssein/Matz, JöR n.F. 1 (1951), S. 73 ff.; Mückl, Der Staat 40 (2001), 96, 108. 19 Maurer in: FS Brohm, 2002, 455, 456; Pauly/Pagel, NVwZ 2002, 441, 444; Schoch in: FS Hollerbach, 2001, S. 149, 166; Maunz/Dürig-Herzog, GG, Art. 4 Rn. 111. 20 Uerpmann-Wittzack (in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 34) stellt hierzu fest: „Die Schrankensystematik der Konvention ist der grundgesetzlichen in diesem Punkt überlegen“. 21 Grdl. BVerfG, NJW 1958, 1035, 1037 ff.; seitdem anerkannt, s. nur BVerfG, NJW 2004, 2890 f. mwN. 22 Hierzu Wege, NVwZ 2005, 900 und ders., VR 2006, 148.
III. Unterschiede zur Gewissensfreiheit
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übungsweisen, insbesondere weltanschauliche ausgedehnt werden kann. 23 Das BVerfG vermag so auch bspw. die religiöse Erziehung dem Schutzbereich der Religionsfreiheit unterzuordnen,24 was sonst aufgrund des Wortlautes von Art. 4 Abs. 2 GG („Religionsausübung“) schwerer fiel. Dann allerdings wird zwar nicht der Wortlaut, wohl aber die Systematik gebeugt; was überzeugender ist, bleibt verfassungsrechtlichen Erörterungen überlassen. Für das Zivil- und insbesondere das Arbeitsrecht kann aber die von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG vorgegebene Differenzierung gleichwohl Bedeutung erlangen; sie aufzuzeigen ist eine Aufgabe dieser Untersuchung. Die Rechtsprechung erklärte bspw. bereits bislang stets solche Verträge für sittenwidrig und damit für unwirksam nach § 138 BGB, die die Religionswahl beschränkten, sich also auf das forum internum, die Glaubensfreiheit, bezogen. Hingegen ließ sie Verträge bestehen, die allein die Ausübung, das forum externum, zu Gunsten der Interessen des Vertragspartners maßregelten (s. Kap. 5 III.3). Die Unterscheidung lässt sich darüber hinaus auch in anderen Bereichen fruchtbar machen, die in Kapitel 5 dargestellt werden.
III. Unterschiede zur Gewissensfreiheit Religions- und Gewissensfreiheit sind eigenständige Grundrechte, die jedoch in vielerlei Hinsicht miteinander verwoben sind. Systematisch finden sie sich im gleichen Grundgesetzartikel. Historisch hat sich die Gewissensfreiheit aus der Glaubensfreiheit heraus entwickelt und erwarb erst im Laufe der Zeit eigenständigen Charakter.25 Und schließlich bezwecken beide den Schutz persönlicher Überzeugungen.26 Für die Gewissensfreiheit lässt sich daher viel von der grundrechtlichen Substanz übernehmen, die sich im Laufe der Zeit zu den Religionsfreiheiten herausgebildet hat. Und doch werden die Unterschiede nicht selten unterschätzt.
1. Schutzbereich der Gewissensfreiheit In Übereinstimmung mit der Entstehungsgeschichte und dem allgemeinen Sprachgebrauch versteht das BVerfG Gewissen als ein wie auch immer begründbares, jedenfalls aber real erfahrbares Phänomen, dessen Forderungen, ______________ 23
Steiner, JuS 1982, 157, 159. BVerfG, NJW 1976, 947, 948; NJW 1980, 575. 25 Hierzu Borowski, Glaubens- und Gewissensfreiheit, 2006, S. 8 ff. und 356 f.; Listl in: Hb Staatskirchenrecht I, § 14, S. 439, 458 ff.; MKS-Starck, GG, Art. 4 Rn. 3 ff. 26 Von Münch/Kunig-Mager, GG, Art. 4 Rn. 30. 24
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Kapitel 2: Religiöse und arbeitsvertragliche Pflichten im Konflikt
Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind.27 Als Gewissensentscheidung ist danach jede ernstliche, sittliche, d.h. an den Kategorien von Gut und Böse orientierte Entscheidung zu verstehen, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte.28 Kennzeichnend für eine Gewissensentscheidung ist ein innerer Zwang, ohne dass dieser in einen pathologischen Zustand münden muss. Derjenige, der sich auf sein Gewissen beruft, muss auf der einen Seite nicht darlegen, dass ihm der Freitod oder ein grausames Martyrium droht.29 Auf der anderen Seite genügen, wie das BVerwG betont, ausschließlich verstandesmäßige, politische oder weltanschauliche Überzeugungen nicht.30 Rationale Einsichten müssen, um von einer Gewissensentscheidung sprechen zu können, um ein affektives Element ergänzt und in eine innere Not transformiert worden sein.31 Weitgehend anerkannt ist mittlerweile, dass zum Gewissen sowohl forum internum als auch forum externum gehören32 und dass der Begriff des Gewissens recht weit zu interpretieren ist. Eine Einschränkung auf Gewissensentscheidungen eines bestimmten Mindestranges33 oder auf erhebliche Gewissenszwänge34
______________ 27
BVerfGE 12, 45, 54. Grdl. BVerfGE 12, 45, 55; zust. die h.L., s. nur MKS-Starck, GG, Art. 4 Rn. 13. 29 Wendeling-Schröder, Autonomie im Arbeitsrecht, 1994, S. 125 f. mwN. Das BVerwG hält Gewissensentscheidungen sogar dann für beachtlich, wenn der Betreffende aus Willensschwäche oder Bequemlichkeit nicht nach ihnen lebt (BVerwG, NJW 1959, 353, 355). 30 BVerwG, NJW 1959, 353, 355. 31 Bachof, VVDStRL 28 (1970), 104 f.; s. auch BVerwG, NJW 2006, 77, 87 f.; zum Nachweis einer Gewissensentscheidung s. Abschnitt III.5. 32 BVerfG, NJW 1989, 1211; Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), 33, 53; Bethge in: Hb Staatsrecht VI, § 137 Rn. 13 f.; Dreier-Morlok, GG, Art. 4 Rn. 87 f.; von Münch/KunigMager, GG, Art. 4 Rn. 23 jeweils mwN. 33 So aber LAG Düsseldorf, BB 1988, 1750; dagegen insbes. Denninger/Hohm, AG 1989, 145, 151 f. 34 So LAG Nürnberg, SAE 1958, 164, 167; vgl. auch Herdegen, Gewissensfreiheit, 1989, S. 257 ff. und 305 f., der eine Berufung auf das Gewissen nur zulassen will, wenn sich die dahinterstehende Wertung auf Faktoren bezieht, die sich „dem Verantwortungsbereich des Einzelnen zuordnen lassen“. 28
III. Unterschiede zur Gewissensfreiheit
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scheidet aus.35 Der subjektive Gewissensbegriff verträgt keine inhaltliche Kontrolle.36
2. Glaube und Gewissen Glaube und Gewissen beruhen beide auf einer inneren, von Außenstehenden nicht rational nachvollziehbaren Stimme. Hierin gleichen sie sich und so verfolgen Religions- und Gewissensfreiheit mit dem Schutz der individuellen Überzeugung auch den gleichen Zweck. Dennoch ist Glaube nicht mit Gewissen gleichzusetzen. Die Rechtsprechung des BVerfG ist konsequent, eine Abgrenzung zwischen Glaube und Gewissen häufig dahinstehen zu lassen, da sie beide Freiheiten (noch?) den gleichen Schranken unterwirft. Dann ist eine Differenzierung zwischen Religion und Gewissen weitgehend ebenso überflüssig wie zwischen Religion und Weltanschauung.37 Im arbeitsrechtlichen Bereich kann dies für das Begriffspaar Glaube und Gewissen jedenfalls nicht gelten. Gewissensgeleitete Entscheidungen beanspruchen eine höhere Verbindlichkeit als rein religiös bedingte. Glaube und Gewissen haben unterschiedliche Voraussetzungen und binden den Grundrechtsträger in unterschiedlich starkem Maße (hierzu sogleich Abschnitt 3). In der jüngeren Vergangenheit entfernen sich die einzelnen Religionsfreiheiten und die Gewissensfreiheit zusehends voneinander, das öffentlich-rechtliche Schrifttum trennt zunehmend schärfer zwischen ihnen.38 Dies kann auch im Arbeitsrecht nicht unbeachtet bleiben. Was für die Abgrenzung zwischen den einzelnen Gewährleistungen der Religionsfreiheit gilt,39 gilt erst recht für die ______________ 35 Auch der Vorschlag Reuters (BB 1986, 385, 389), Gewissen auf die Fälle zu beschränken, in denen jemandem die Identifikation mit einem oder die Distanzierung von einem von ihm für richtig gehaltenen Standpunkt abverlangt wird, hat sich nicht durchgesetzt. Der Ansatz Muckels (Religiöse Freiheit, 1997, S. 157 ff.), dass die Gewissensfreiheit lediglich das (negatorische) Recht gewährt, (vom Staat) aufgezwungene Gewissenskonflikte abzuwehren, konnte sich ebenfalls (bislang) nicht behaupten. 36 Zu Beweisfragen s. Abschnitt III.5. 37 Auch zwischen ihnen nehmen die Gerichte keine Abgrenzung vor: BVerwGE 90, 1, 4.; zu Differenzierungen s. Borowski, Glaubens- und Gewissensfreiheit, 2006, S. 410 ff.; Wilms (in: FS Maurer, 2001, S. 493, 504) hingegen sieht den entscheidenden Unterschied in der besonderen Verbindlichkeit glaubensgeleiteten Handelns. Die Frage der Verbindlichkeit eines Gebotes ist jedoch kein Unterschied zwischen Glaube und Weltanschauung, sondern zwischen Glaube und Weltanschauung einerseits und Gewissen andererseits. Hierzu unter 1. 38 Fehlau, JuS 1993, 441, 446; Goerlich, JZ 1995, 955 ff.; Hellermann, Negative Seite der Freiheitsrechte, 1993, S. 138 ff.; Maunz/Dürig-Herzog, GG, Art. 4 Rn. 64 ff.; Muckel, Religiöse Freiheit, 1997, S. 126 ff. und S. 253 ff.; Scheuner, DÖV 1967, 585, 588; s. auch die Nachweise in Fn. 14 und 19. 39 s. zuvor Abschnitt II.2.
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Kapitel 2: Religiöse und arbeitsvertragliche Pflichten im Konflikt
Differenzierung zwischen Glaube und Gewissen: Mit Blick auf ihre Unterschiede lassen sich überzeugendere Lösungen gewinnen.
3. Unterschiedliche Voraussetzungen Religion und Gewissen haben unterschiedliche Voraussetzungen, sie binden den Grundrechtsträger verschieden stark und stehen deshalb nicht in einem Größenverhältnis zueinander. Das bedeutet zweierlei: 1. Gewissensentscheidungen können auf religiösen Überzeugungen beruhen, müssen es aber nicht. Historisch hat sich zwar die Gewissens- aus der Glaubensfreiheit heraus entwickelt; im Laufe der Zeit ist die Gewissensfreiheit jedoch zu einem eigenständigen Grundrecht herangereift. Das Gewissen hat zahlreiche Einflüsse und kann sich an jedwedem Maßstab orientieren. Unabweisbare, die Persönlichkeit des Menschen ergreifende Gebote unbedingten Sollens können sich aus Normen ergeben, die auf einem transzendentalen (Religion) oder welt-immanenten Sinnsystem (Weltanschauung) beruhen. Sie können aber ebenso gut allein aus dem Phänomen einer inneren Stimme resultieren, die dem Menschen inne wohnt und ihm Handlungs- und Unterlassungsanweisungen gibt.40 Auch der Agnostiker hat selbstverständlich ein Gewissen. 2. Umgekehrt können religiöse Pflichten Ausfluss einer verbindlichen Gewissensentscheidung sein, sie müssen es aber nicht. Auch religiöse Aussagen orientieren sich an „gut“ und „böse“, mögen sie sich auch aus einem übergeordneten, transzendentalen System ergeben. Sie müssen aber nicht für den Gläubigen völlig verbindlich sein.41 Die Religionsfreiheit schützt religiöse Pflichten, Riten, Gebräuche und kultische Handlungen auch, wenn sie für den Einzelnen nicht bindend sind. Es gibt eine ganze Reihe religiöser Gebote, die nicht zwingend sind, wie z.B. das vierzigtätige Fasten eines Katholiken. Gleiches gilt für die Fronleichnamsprozession und Wallfahrten, für die keine kirchenrechtlichen Pflichten zur Teilnahme bestehen. Sie sind selbstverständlich trotzdem von der Religionsausübungsfreiheit geschützt.42 Da sie aber nicht den ______________ 40
So auch das BVerfG (E 12, 45, 55): „In diesem Sinn ist die Gewissensentscheidung wesenhaft und immer ‚situationsbezogen‘; daß sie zugleich ‚normbezogen‘ sein kann, etwa wenn es sich um die Bewährung einer grundsätzlichen weltanschaulichen Überzeugung oder Glaubenshaltung handelt, wird damit nicht geleugnet, denn dabei geht es um die besondere Frage, welche Maßstäbe und Einflüsse auf das Zustandekommen der Entscheidung (bewußt oder unbewußt) einwirken.“ 41 BVerfG, NJW 1972, 327, 329. 42 Die letzten Beispiele stammen von Böckenförde, NJW 2001, 723, 724, Fn. 8. Er sieht zwar auch zu Recht nicht-imperative Glaubenssätze von der Glaubensfreiheit geschützt, zieht aber keine Schlussfolgerungen daraus, dass zusätzlich die Gewissensfreiheit einschlägig ist,
III. Unterschiede zur Gewissensfreiheit
43
Charakter eines unabweisbaren, den Ernst eines die ganze Persönlichkeit ergreifenden sittlichen Gebotes43 haben, sind sie keine Gewissensentscheidungen. Eine gewissensbedingte Pflicht ist unabdingbar.44 Sie kann nicht mehr gegen Interessen anderer abgewogen werden, um sie vielleicht doch letztlich hintan zu stellen. Gewissensentscheidungen betreffen die Integrität und Identität der Persönlichkeit existentiell und sind für den Grundrechtsträger zwingend. Es macht gerade das Gewissen aus, dass die innere Stimme eines Menschen ihm eine zwingende Handlungs- (oder Unterlassungs-)Pflicht auferlegt, der er, ohne eine Wahl zu haben, nachkommen muss. Religiöse Gebote können ebenso zwingenden Charakter haben – dann sind sie gleichzeitig vom Schutz der Gewissensfreiheit umfasst – müssen es aber nicht. Die grundrechtlichen Freiheiten von Religion und Gewissen können sich im Einzelfall überschneiden; dies ist jedoch keine Besonderheit von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, sondern findet sich ebenso bei anderen Grundrechten und sollte nicht hindern, beide Freiheiten klar voneinander zu unterscheiden. Gewissen ist gegenüber Religion ein aliud.45 Der entscheidende Grenzstein zwischen beiden liegt in der unterschiedlichen Verbindlichkeit ihrer Gebote. Die völlige Verbindlichkeit einer Pflicht ist weder notwendige noch hinreichende Bedingung für ihren Schutz durch die von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG garantierten Religionsfreiheiten. Für eine Gewissensentscheidung hingegen ist es ihrer Definition nach notwendige Voraussetzung, dass sie keiner Abwägung mit Interessen anderer zugänglich ist. „Vor dem Gewissen gibt es keine Entschuldigung“, formulierte Luhmann.46
4. Unterschiedliche Folgen eines Übergriffs Die unterschiedliche Verbindlichkeit führt unweigerlich auch zu einer unterschiedlichen Intensität staatlicher Eingriffe oder eben auch privater Maßnahmen. Beschränken sie rein-religiöse Handlungen, die für den Grundrechtsträger nicht zwingend und nicht gewissensbedingt sind, so sind sie für ihn weit weniger gravierend als in den Fällen, in denen ihm das Gewissen keine Ausweichmöglichkeit lässt. Letztere führen (definitionsgemäß) in eine – wie das BVerfG formuliert – ernste Gewissensnot. Auch ohne pathologischen Zustand ist hier der Mensch in seinem Person-Sein selbst betroffen. Die Beschränkung einer ______________
wenn es sich um verbindliche Gebote handelt. Konzeptionell anders bspw. Classen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht, 2003, S. 23 ff. 43 So die Formulierung in BVerfGE 12, 45, 55. 44 Ausführlich Filmer, Gewissen, 2000, S. 235 ff. 45 Dementsprechend liegt die Annahme einer Idealkonkurrenz statt eines Spezialitätsverhältnisses nahe; hierzu Borowski, Glaubens- und Gewissensfreiheit, 2006, S. 562. 46 Luhmann, AöR 90 (1965), 257, 270.
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Kapitel 2: Religiöse und arbeitsvertragliche Pflichten im Konflikt
Gewissenspflicht wirkt deutlich intensiver als die Begrenzung der Religionsausübung. Dies hat auch im Zivilrecht maßgeblichen Einfluss. Ein Arbeitnehmer, der „nur“ einem religiösen Gebot unterliegt, ein Gebet zu verrichten, ein Kruzifix um den Hals zu tragen oder an bestimmten Tagen nicht zu arbeiten, kann dieses Gebot im Einzelfall den Interessen seines Arbeitgebers gegenüber stellen. Er kann sich gegen, aber auch für die Befolgung der ihm durch den Arbeitgeber aufgetragenen Arbeiten entscheiden. Ist die Entscheidung hingegen (gleichzeitig) eine solche des Gewissens, bleibt ihm keine andere Möglichkeit als sich gegen die Erfüllung seiner Arbeitspflicht und für seine innere Stimme zu entschließen. Er hat – anders als bei allein religiösen Entscheidungen – keine Wahl, das Gewissen lässt nur ein „hartes Entweder-Oder“ zu.47 Die Differenzierung zwischen Religions- und Gewissensfreiheit findet ebenso Niederschlag im Arbeitsrecht wie die zwischen den einzelnen Gewährleistungen der Religionsfreiheit.48 Dies gilt etwa für die Reichweite von Fürsorgeund Treuepflichten (s. Kap. 5 II) sowie die Argumente, die innerhalb ihrer Abwägung zum Tragen kommen können. Insbesondere die drei vom BAG aufgestellten Kriterien (Vorhersehbarkeit, Betroffenheit betrieblicher Interessen und Wiederholungswahrscheinlichkeit) bedürfen vor diesem Hintergrund einer neuen Konturierung (s. Kap. 5 IV.4). Auch die Unterscheidung zwischen verhaltens- und personenbedingter Kündigung wird sich hieran zu orientieren haben (s. Kap. 5 V.1). Die Unterschiede zwischen Glaube, Religionsausübung und Gewissen werden in der bisherigen zivil- und arbeitsrechtswissenschaftlichen Diskussion nicht gewürdigt. So prüfen Gerichte etwa, ob der Schutzbereich „der Religionsfreiheit“ einschlägig ist und stellen dabei nur beiläufig fest, dass sich der Betroffene außerdem in einem Gewissenskonflikt befindet.49 Umgekehrt halten sie die Gewissensfreiheit für einschlägig, um nebenbei anzumerken, dass der Konflikt auf religiösen Vorstellungen beruht.50 Besonders bezeichnend ist das Urteil des BAG zum Kopftuch einer Verkäuferin.51 Es misst die Ausübung des Weisungsrechts inhaltlich an der von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützten Religionsfreiheit, stellt aber darüber hinaus fest, dass die Verkäuferin „das von ihr als verpflichtend angesehene Gebot des Kopftuchtragens aus ihrem Glauben“ herleitet,52 ohne darauf einzugehen, dass deshalb außer der Religions- auch die Gewissensfreiheit einschlägig sein könnte. Ähnlich erwähnt das LAG Hessen ______________ 47 So Rüfner, RdA 1992, 1, 3 in Anlehnung an Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 1990; so auch Muckel, Religiöse Freiheit, S. 22 und 259. 48 Hierzu zuvor Abschnitt II.2. 49 So das LAG Düsseldorf, DB 1985, 391 (hierzu Kap. 3 II.1.c)). 50 So etwa das ArbG Hamburg, AuR 1996, 243, 244 (hierzu Kap. 3 II.1.b)). 51 BAG, NZA 2003, 483; hierzu Kap. 3 II.1.a). 52 BAG, NZA 2003, 483, 486; ähnlich Adam, NZA 2003, 1375, 1380.
III. Unterschiede zur Gewissensfreiheit
45
als Vorinstanz in einem Atemzug, die Klägerin könne sich auf „die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG“ berufen. 53 Die Stellungnahmen des Schrifttums fallen ähnlich undifferenziert aus.54 Sie behandeln einerseits Glaube, Bekenntnis 55 und Religionsausübung und andererseits Religion und Gewissen nach gleichen Maßstäben. Legen sie ihren Fokus auf Gewissenskonflikte im Arbeitsrecht, stellen sie regelmäßig fest, dass religiöse Konflikte genauso zu behandeln seien56 und umgekehrt.57 Ein Grund dafür dürfte sein, dass die Wirkungen der Grundrechte im Arbeitsrecht häufig überschätzt werden (s. Kap. 4).58 Die Unterscheidung zwischen Religion und Gewissen ist auch deshalb geboten, weil das auf der RL 2000/78/EG beruhende AGG nun allein Benachteiligungen aufgrund der Religion oder der Weltanschauung verbietet. Insofern werden Religion und Gewissen im Arbeitsrecht nun ausdrücklich unterschiedlichen Maßstäben unterworfen.
5. Nachweis einer Gewissensentscheidung Die praktischen Schwierigkeiten liegen im Nachweis einer Gewissensentscheidung.59 Niemand kann in den Kopf eines anderen Menschen schauen, um zu sehen, ob es sich tatsächlich um eine hinreichende Tiefe und Ernsthaftigkeit ______________ 53
LAG Hessen, NJW 2001, 3650, 3651 f. Bezeichnend Hansen, Glaubens- und Gewissenkonflikte im Arbeitsverhältnis, 2000, S. 53 f.: „Im Gegensatz zur Abgrenzung der Meinungsfreiheit hat dieses Problem [die Abgrenzung des Gewissens zum Glauben und zur Weltanschauung] jedoch kaum praktische Relevanz, da die Glaubensfreiheit und die Gewissensfreiheit den gleichen schrankenvorbehaltslosen Schutz gemäß Art. 4 Abs. 1 GG genießen“. S. auch Greiner, Ideelle Unzumutbarkeit, 2004, S. 191 sowie die Nachweise in Kap. 5. 55 Die Definition des Bekenntnisses ist eng zu halten. Trennt man wie hier zwischen Glaubensfreiheit und Religionsausübungsfreiheit, so kann unter Bekenntnis iSv Art. 4 Abs. 1 GG nur der Inhalt einer Mitteilung über den eigenen Glauben oder die eigene Religionszugehörigkeit verstanden werden, nicht aber deren Form. Sie unterliegt der Religionsausübungsfreiheit nach Art. 4 Abs. 2 GG. Anders allerdings Schoch (in: FS Hollerbach, 2001, S. 149, 157), obwohl er ebenfalls für eine Trennung der einzelnen Freiheiten plädiert. 56 So z.B. Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 1990, S. 14 und passim. 57 So etwa Hoevels, Islam und Arbeitsrecht, 2003, S. 42 f.; weitere Nachweise in Kap. 5. 58 s. exemplarisch Hansen, Fn. 54: Ob ein Grundrecht unter Gesetzesvorbehalt steht, ist für das Zivilrecht irrelevant; s. hierzu Kap. 4 II.4.c). 59 Hierzu BVerfG, NJW 1985, 1519, 1521; von Münch/Kunig-Mager, GG, Art. 4 Rn. 29; ausführlich Klier, Gewissensfreiheit und Psychologie, 1978, S. 225 ff. mwN. Speziell zum Nachweis einer Gewissensentscheidung im Zivilrecht Berkowsky, NZA-RR 2001, 1, 6; Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 1990, S. 77 ff. und 102 ff.; Leuze, RdA 1993, 16, 17 f.; Wendeling-Schröder, Autonomie im Arbeitsrecht, 1994, S. 127 f. und 131 f. 54
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Kapitel 2: Religiöse und arbeitsvertragliche Pflichten im Konflikt
der Entscheidung handelt. Ein dogmatisches Konzept, dass zwischen Gewissenskonflikten einerseits und (reinen) Glaubenskonflikten andererseits trennt, wird daher dem Vorwurf ausgesetzt sein, dass sich Gewissen nicht nachweisen ließe. Im naturwissenschaftlichen Sinne können Gewissensregungen auch nicht nachgewiesen werden, das ist richtig. An einen Beweis im juristischen Sinne sind aber andere Anforderungen zu stellen. Es genügt, wenn der Richter zur Überzeugung gelangt, dass ein Sachverhalt vorliegt, auch wenn er sich naturwissenschaftlich nicht belegen lässt (vgl. §§ 286 Abs. 1 S. 1 ZPO).60 Dass ein Nachweis in diesem Sinne auch bei Gewissensentscheidungen möglich sein muss, verlangt bereits die Verfassung, indem sie ihn für die Verweigerung des Wehrdienstes nach Art. 4 Abs. 3 GG ausdrücklich fordert.61 Er wird umso eher erbracht werden können, je näher die Überzeugungen des Einzelnen sich mit denen einer Gruppe decken. Religiöse Vorstellungen lassen sich deshalb in aller Regel eher plausibel darlegen als rein individuelle Gewissensentscheidungen, da sie sich meist in den Lehren einer bestimmten Glaubensgemeinschaft widerspiegeln. Letztlich ist aber sowohl der Glaube als auch – im Besonderen – das Gewissen des Einzelnen maßgeblich. „Lästige Alternativen“ können helfen, zwischen einer ernsthaften und einer halbherzigen Entscheidung zu unterscheiden, sofern sie nicht derart gravierend sind, dass das Gewissen gebeugt wird.62
IV. Religion als Freiheit auch im Arbeitsverhältnis Religiöse Ge- und Verbote und rechtliche Handlungs- und Unterlassungspflichten sind beiderseits in Systeme integriert, die einen gewissen Absolutheitsanspruch hegen. Das Recht als Ordnungssystem einer multireligiösen Gemeinschaft bindet sämtliche Mitglieder dieser Gemeinschaft, verbietet das Unrecht und droht für den Fall unrechtmäßigen Verhaltens Sanktionen an. Die Religion andererseits stellt einen ähnlich hohen Verbindlichkeitsanspruch. In der Apostelgeschichte (Apg. 5, 29) heißt es: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Die Konkurrenz von religiösen und arbeitsvertraglichen Pflichten würde zu einem unauflösbaren Paradoxon führen, wenn nicht beide Regelungssysteme Ausnahmen vorsähen. Auf Seiten der Religion ist eine bereits angesprochen worden: Nicht jedes religiöse Gebot ist verbindlich. Es gibt ______________ 60
BGH, NJW 2000, 953, 954 mwN; Jauernig, Zivilprozessrecht, § 49 II. s. hierzu BVerfG, NJW 1985, 1519, 1521; ausführlich BVerwG, NJW 2006, 77, 88 f. 62 BVerfG, NJW 1985, 1519, 1521 ff.; Böckenförde, VVDStRL 28 (1970) 33, 71; Luhmann, AöR 90 (1965), 257, 284 ff.; zur Bedeutung im Zivilrecht Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 1990, S. 69 f.; Leuze, RdA 1993, 16, 20; Rüfner, RdA 1992, 1, 2 f.; Wendeling-Schröder, Autonomie im Arbeitsrecht, 1994, S. 127 f. 61
IV. Religion als Freiheit auch im Arbeitsverhältnis
47
Ge- und auch Verbote, die im Einzelfall für den Gläubigen abwägungsfähig sind. Er ist zwar gehalten, ihnen nachzukommen, ohne aber einem religiösen (und auch gewissensbedingten) Zwang zu unterliegen. Auch das Recht kommt der Religion entgegen. Da im liberalen Verfassungsstaat kein allgemeiner, von allen getragener Wertekonsens herrscht, kann sich das Recht nur an einer kompromisshaften Minimalethik orientieren.63 Darüber hinausgehende ethische Vorstellungen billigt es den Menschen zu, sofern sie mit der grundlegenden Werteordnung vereinbar sind. Auch das deutsche Recht eröffnet die Möglichkeit, religiösen und weltanschaulichen Geboten nachzukommen, obwohl sie über den ethischen Grundkonsens hinausgehen: § 138 BGB knüpft an die guten Sitten an, die §§ 242 und 157 BGB an Treu und Glauben und an die Verkehrssitte; § 275 Abs. 2 und Abs. 3 BGB erlauben eine Befreiung von der vertraglich geschuldeten Leistungspflicht im Falle ihrer Unangemessenheit. Die Liste an Generalklauseln ließe sich fortsetzen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ethische und damit auch religiöse Überzeugungen achten und ihnen unter Umständen den Vorrang einräumen, auch wenn sie von der Mehrheit nicht geteilt werden.64 Im Arbeitsrecht haben solche Ausnahmen eine besondere Bedeutung, da das Arbeitsverhältnis nicht nur dem gewinnorientierten Güteraustausch dient, sondern gerade für den Arbeitnehmer Teil seiner Persönlichkeitsentfaltung ist. Dementsprechend hat das BAG schon vor Jahrzehnten festgestellt, dass Arbeit mehr ist als Broterwerb und billigt dem Arbeitnehmer ein Recht auf Beschäftigung aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG) zu.65 Konflikten zwischen religiösen und arbeitsvertraglichen Pflichten haben sich die (Arbeits-)Gerichte in der Vergangenheit immer wieder angenommen und nicht selten zugunsten der Religion entschieden.
______________ 63
Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 405 ff. Näher hierzu T. Raiser, JZ 2004, 261; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 407 ff.; Schapp, JZ 1995, 15. 65 Grdl. BAG, NJW 1956, 359, 360; s. auch BAG, NJW 1985, 2968, 2969 mwN. 64
Kapitel 3
Das Fallmaterial Die typischen Konfliktlagen zwischen religiösen und arbeitsrechtlichen Pflichten sollen Gegenstand des folgenden Kapitels sein. Die von der Rechtsprechung entschiedenen Fälle werden in der gebotenen Kürze dargestellt; insbesondere dort, wo solche fehlen ist auf entsprechendes Schrifttum einzugehen. Zur groben Systematisierung eignet sich die Unterscheidung zwischen der Anbahnung des Arbeitsvertrages und seinem Vollzug. Gerade für die Phase der Vertragsanbahnung wird das AGG in Zukunft die Anforderungen an die Einstellungspolitik von Arbeitgebern erhöhen (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG). Mit Streitigkeiten während des Arbeitsverhältnisses hatten sich Gerichte dagegen bereits bisher häufig zu befassen. Dabei ging es zum einen um das Tragen von Kleidungsstücken, die eine bestimmte Religion nach außen dokumentierten, sei es das muslimische Kopftuch oder das rote Baghwan-Gewand (hierzu unter II.1). Zum anderen ergaben sich Konflikte aus dem Wunsch zu religiöser Betätigung während der Arbeitszeit (Gebetspausen muslimischer Arbeitnehmer) oder aus einer religiös motivierten Arbeitsverweigerung bzw. Arbeitsverhinderung (II.2 und II.3). Zum Tragen kommen jene Konflikte in verschiedenen rechtlichen Konstellationen. Ob der Arbeitgeber eine Abmahnung ausspricht, gegen die sich der Arbeitnehmer wehren will, ob es sich um eine Kündigungsschutzklage handelt oder ob es um gegenseitige Schadensersatzansprüche geht, wird Ansatzpunkt für die zivilrechtliche Betrachtung in Kapitel 5 sein.
I. Konflikte bei Einstellung In der Phase der Vertragsanbahnung geht es zunächst um die Auswahlentscheidung des Arbeitgebers. Dabei tauchen zwei Fragen auf: 1. Darf der Arbeitgeber im Bewerbungsgespräch Fragen nach der Religionszugehörigkeit bzw. religiösen Auffassungen des Bewerbers stellen? Und 2. Darf der Arbeitgeber einen Bewerber allein wegen einer bestimmten Religion oder wegen religiöser Überzeugungen ablehnen? Beide Fragen sind bereits gestellt worden,
I. Konflikte bei Einstellung
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und die – z.T. unterschiedlichen – Antworten sollen kurz dargestellt werden. Anschließend ist auf die Pflicht des Arbeitnehmers einzugehen, von sich aus seine Religionszugehörigkeit bzw. religiöse Ansichten zu offenbaren (unter 3), sowie die arbeitsvertragliche Gestaltung im Hinblick auf religiöse Pflichten (4).
1. Fragerecht des Arbeitgebers Die Grenzen, die dem Fragerecht des Arbeitgebers gesteckt sind, sind immer noch Gegenstand zahlreicher Kontroversen;1 für die Frage nach religiösen Auffassungen dürfte die Rechtslage bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist für die RL 2000/78/EG jedoch zumindest in ihren Grundsätzen als geklärt gegolten haben. Das BAG selbst hatte zwar über einen solchen Fall noch nicht eigens zu entscheiden, die allgemeinen Anforderungen, die die Rechtsprechung entwickelt hat, lassen sich auf die Frage nach der Religionszugehörigkeit bzw. nach dem Glauben eines Bewerbers aber übertragen.2 In ständiger Rechtsprechung hat das BAG eine Abwägung der beiderseitigen Interessen vorgenommen.3 Dem Arbeitgeber ist daran gelegen, sich ein möglichst umfassendes Bild von den Bewerbern zu verschaffen, wohingegen diese davor geschützt werden müssen, allzu persönliche Eigenschaften, die für die Tätigkeit keine oder nur untergeordnete Bedeutung haben, preis zu geben. Beide Seiten können sich dabei auf Grundrechte berufen. Die Vertragsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und die unternehmerische Freiheit des Arbeitgebers (Art. 12 Abs. 1 GG) stehen (zumindest) dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG) des Arbeitnehmers gegenüber. Die Rechtsprechung hat daher seit jeher das Fragerecht des Arbeitgebers begrenzt. Es ist nur insoweit anzuerkennen, als der Arbeitgeber ein „berechtigtes, billigenswertes und schutzwürdiges Interesse an der Beantwortung seiner Fragen im Hinblick auf das Arbeitsverhältnis hat“.4 Zur Konsequenz hat dies, dass der Arbeitgeber den Arbeitsvertrag später auch dann nicht nach den §§ 142 Abs. 1, 123 BGB mit der Begründung anfechten kann, der Arbeitnehmer habe ihn arglistig getäuscht, wenn der Bewerber diese Frage gar nicht oder – um seine Rechte effektiv zu wahren – sogar falsch beantwortet hat. Denn eine arglistige Täuschung im Sinne von § 123 Abs. 1 BGB setzt voraus, dass diese Täuschung widerrechtlich ist, auch wenn der Wortlaut der Norm dies ausdrücklich nur für die außerdem in § 123 BGB genannte Drohung fordert.5 Widerrechtlich kann die Täuschung aber eben ______________ 1
Sie beziehen sich insbes. auf die Frage nach der Schwangerschaft und einer Behinderung, s. hierzu Kap. 7 I.1. 2 Degener, Fragerecht, 1975, S. 135; ErfK-Dieterich, Art. 2 GG Rn. 97 sowie ErfK-Preis, § 611 BGB Rn. 349; Löwisch, Arbeitsrecht, Rn. 1232; Oetker, RdA 2004, 8, 14. 3 BAG, NZA 1986, 635. 4 BAG, NZA 1986, 739; NZA 1994, 407, 408; NZA 1996, 371 f. 5 Die Rechtswidrigkeit der Täuschung ist ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal von § 123 Abs. 1 BGB. Im Wege der teleologischen Reduktion muss es hinzugefügt werden, denn der Schutzzweck des § 123 BGB, die freie Willensentschließung zu sichern, ist nicht berührt,
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Kapitel 3: Das Fallmaterial
nur sein, wenn dem Arbeitgeber ein Recht, derart zu fragen, auch zusteht. Ist dies nicht der Fall, scheidet eine Anfechtung nach den §§ 142, 123 BGB aus. Dem Arbeitnehmer steht damit praktisch ein „Recht zur Lüge“ zu:6 Er kann die Frage sanktionslos falsch beantworten. Das Schrifttum ist dem Ansatz des BAG gefolgt.7
So sicher diese grundsätzlichen Aussagen auch für die Frage nach der Religion gelten, so unsicher sind ihre konkreten Konsequenzen. Das Interesse des Arbeitgebers überwiegt jedenfalls in den Fällen, in denen die religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen des Bewerbers für die Tätigkeit relevant sind, d.h. wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung Grundvoraussetzung ist, um überhaupt die Arbeit zu verrichten, zu der der Arbeitnehmer verpflichtet werden soll. Praktisch wird dies meist nur in Tendenzbetrieben und Religionsgemeinschaften der Fall sein.8 Wie steht es aber mit dem Wunsch, von Gleichgesinnten umgeben zu sein? Es ist Teil der grundgesetzlich geschützten Religionsfreiheit – nicht nur der Vertragsfreiheit –, sich seinen Vertragspartner auch nach dessen religiösen Vorstellungen auszusuchen.9 Christen bspw. unterliegen einem Missionsauftrag, den sie gerade dadurch erfüllen können, indem sie Ihresgleichen bevorzugt einstellen. Ob dies allerdings den recht strengen Anforderungen der Rechtsprechung genügt, ist bislang ebenso ungeklärt wie es die Auswirkungen des Antidiskriminierungsrechts sind. Diesen Problemkreisen wird zum einen im Rahmen der verfassungsrechtlichen (Kap. 4) und zum anderen der diskriminierungsrechtlichen Würdigung (Kap. 6) nachzugehen sein.
2. Gleichbehandlungspflicht bei Einstellung? Das AGG bestimmt nun ausdrücklich, von welchen Kriterien der Arbeitgeber sich bei seinen Einstellungsentscheidungen grundsätzlich nicht leiten lassen darf. Dazu gehört auch die Religion (vgl. die §§ 1, 7 Abs. 1 und 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG). Vor Ablauf der Umsetzungsfrist für die RL 2000/43/EG und ______________
wenn die Täuschung zwar arglistig, aber rechtlich erlaubt war (BAG, NZA 1991, 719; APSPreis, Grundlagen K Rn. 54). 6 Dieser Begriff tauchte in der Rspr. erstmals im Urteil des BAG v. 22.09.1961 – 1 AZR 241/60, NJW 1962, 74, 75 auf; krit. zur Terminologie MünchHbArbR-Buchner, § 41 Rn. 176. 7 MünchHbArbR-Buchner, § 41 Rn. 113; Hromadka/Maschmann, Arbeitsrecht I, § 5 Rn. 46 ff.; Löwisch, Arbeitsrecht, Rn. 1232; ErfK-Preis, § 611 BGB Rn. 330 ff.; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, § 11 5. a), S. 149 jeweils mwN; enger hingegen Däubler, CR 1994, 101, 104, der ein billigenswertes und schutzwürdiges Arbeitgeberinteresse nur bei Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Unternehmens annimmt. 8 Dieterich (in: ErfK, Art. 2 GG Rn. 97) und Löwisch (Arbeitsrecht, Rn. 1232 a.E.) beschränken das Fragerecht auf jene Fälle, ohne auf die auch durch Art. 4 GG geschützte Wahlfreiheit des Vertragspartners einzugehen. 9 Hierzu Kap. 4 VI.2.b).
I. Konflikte bei Einstellung
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2000/78/EG war die Reichweite der Entscheidungskompetenz des Arbeitgebers indes unklar.10 Allein für den öffentlichen Dienst bestimmt Art. 33 Abs. 2 GG, dass nur nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung zu entscheiden ist und gerade nicht nach den im speziellen Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG genannten Kriterien. Sollte die einzig sachgerechte Entscheidung in der Einstellung eines Bewerbers liegen, hat dieser einen durchsetzbaren Anspruch auf Abschluss des entsprechenden Vertrags.11 Für den Bereich der Privatwirtschaft war ein Befund hingegen schwieriger. Weitgehend Einigkeit bestand zwar darin, dass niemand einen Anspruch auf Einstellung geltend machen kann, weil er wegen eines in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmals nicht eingestellt wurde.12 Einen solchen sieht auch das AGG für den arbeitsrechtlichen Bereich nicht vor (vgl. § 15 Abs. 6 AGG) und er wäre auch mit der verfassungs- und europarechtlich garantierten unternehmerischen Freiheit unvereinbar. Deshalb haben auch die bisherigen Diskriminierungsverbote einen Einstellungsanspruch ausdrücklich ausgeschlossen (vgl. § 611a Abs. 2 letzter Hs. BGB a.F. und § 82 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 Hs. 2 SGB IX a.F.). Auch der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz vermag ihn nicht zu erzeugen, denn dieser gilt nur in bestehenden Arbeitsverhältnissen und nicht bereits im Anbahnungsstadium.13 Der Arbeitgeber war deshalb grundsätzlich nicht gehalten, die Ablehnung eines Bewerbers zu rechtfertigen. Offen blieb indes, ob sich Arbeitgeber schadensersatzpflichtig machten, wenn sie Bewerber allein aufgrund ihrer Religion ablehnten. Diese Problematik ist von der des unter 1. erörterten Fragerechts des Arbeitgebers im Vorstellungsgespräch zu trennen. Sie spielt insbesondere eine Rolle, wenn eine Religion etwa durch Tragen eines islamischen Kopftuches oder roter BaghwanGewänder offenbar wird oder wenn der Arbeitgeber auf andere Weise von der Religionszugehörigkeit eines Bewerbers erfährt, z.B. durch einen Anruf beim vorherigen Arbeitgeber. Die Gerichte urteilten uneinheitlich. Das Bayerische ______________ 10
Vgl. auch den Fall des EuGH in der Sache Prais, Rs. 130/75, Slg. 1976, 1589; s. hierzu Kap. 7 I.3.c). 11 BVerfG, NJW 1990, 501; BAG, NJW 1987, 2699, 2701; BAG, NZA 2005, 1243, 1245; Sachs-Battis, GG, Art. 33 Rn. 41. 12 G. Hueck, Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung, 1958, S. 234 f.; MünchHbArbRBuchner, § 39 Rn. 83; Hanau/Adomeit, Arbeitsrecht, Rn. 635; a.A. allerdings Grabau, BB 1991, 1257, 1260 f.; Delbrück in: FS Weber, 1974, S. 223, 233; hiergegen Kühner, NJW 1986, 1397, 1401 mwN; auch das BAG hielt im sog. Schülerzeitungsfall einen Anspruch auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses nach Beendigung einer Ausbildung offensichtlich zumindest für möglich (AP Nr. 2 zu § 17 BBiG, unter II. 3. c. der Gründe); zust. Löwisch, Arbeitsrecht, Rn. 1209; dagegen Boemke, NJW 1993, 2083, 2084 f.; Oldiges in: FS Friauf, 1996, S. 281, 293 ff. mwN; aus rechtspolitischer Sicht plädiert Gamillscheg für einen Einstellungsanspruch (in: FS Weber, 1974, S. 793, 803). 13 s. Kap. 6 III und die dortigen Nachweise in Fn. 47.
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Kapitel 3: Das Fallmaterial
Oberste Landesgericht hat bspw. entschieden, dass in der generellen Ablehnung eines Gaststättenbetreibers von Angehörigen der US-Army sowie Farbigen eine nach § 185 StGB strafbare Beleidigung liegen kann, die – mittelbar über ihre Strafbarkeit – zur Gleichbehandlung zwingt.14 Das OVG Münster hat demgegenüber in einem nicht rechtskräftig gewordenen Beschluss festgestellt, dass Gastwirte Ausländern den Zutritt generell verweigern dürfen.15 Und das ArbG Wuppertal hat sich in einem Urteil vom 10.12.2003 gegen eine Gleichbehandlungspflicht des Arbeitgebers bei der Einstellung von Bewerben um einen Arbeitsplatz ausgesprochen.16 Im Schrifttum findet sich die gesamte Bandbreite möglicher Argumentationen. Salzwedel hat bereits 1964 die These entwickelt, dass eine Diskriminierung wegen eines in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmals eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes darstellen kann, die unter Umständen auch einen Ersatz materiellen Schadens und ein angemessenes Schmerzensgeld nach § 823 Abs. 1 GG iVm Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 3 GG nach sich zieht.17 Hieran anknüpfend wurde von einigen Autoren die Auffassung vertreten, der Arbeitgeber sei gehalten, sich von den in Art. 3 Abs. 3 GG niedergelegten Gesichtspunkten nicht leiten zu lassen. Die hier und in den dahinter stehenden Freiheitsrechten (wie Art. 4 GG) zum Ausdruck kommenden verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen gewännen gegenüber der Vertragsfreiheit größeres Gewicht.18 Andere lehnten eine derartige Beschränkung der Vertragsfreiheit teilweise von zivil-,19 teilweise von öffentlich-rechtlicher Seite her strikt ab.20 Die Diskussion dürfte sich für den arbeitsrechtlichen Bereich mit Inkrafttreten des AGG entschärft haben. In § 1 AGG sind nun ausdrücklich verpönte ______________ 14
BayObLG, NJW 1983, 2040; in diesem Sinne auch Kühner, NJW 1986, 1397 ff. OVG Münster, GewArch 1967, 118 f. 16 ArbG Wuppertal, LAGE Nr. 2a zu § 626 BGB; hierzu Kap. 6 V und VI.4.a). 17 Salzwedel in: FS Jahrreiss, 1964, S. 339, 347 ff.; so auch von Koppenfels, WM 2002, 1489, 1493; s. zudem Kap. 3. Weitere Anspruchsgrundlagen könnten § 826 BGB und § 823 Abs. 2 BGB iVm § 75 BetrVG sein, sofern man letztgenannte Norm für ein Schutzgesetz hält (s. einerseits BAG, AP Nr. 2 zu § 17 BBiG und andererseits die ablehnende Anm. von Herschel). § 823 Abs. 2 BGB ist nicht einschlägig, da Art. 3 Abs. 3 GG kein Schutzgesetz in diesem Sinne darstellt (Rädler, NJW 1998, 1621 ff.). Für Auszubildende könnte ein Anspruch auch aus § 823 Abs. 2 iVm § 15 BBiG resultieren. 18 MünchHbArbR-Buchner, § 39 Rn. 84 und § 40 Rn. 148 ff.; Canaris, AcP 184 (1984), 201, 235; Gläser, Einfluß der Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit, 1972, S. 131 ff.; Grabau, BB 1991, 1257, 1260 f.; Löwisch, Arbeitsrecht, Rn. 1209; vgl. auch Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 409. 19 Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, § 11 III. 2., S. 159. 20 Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 76 IV.6.c), S. 1580 f.; so auch Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 356. 15
I. Konflikte bei Einstellung
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Kriterien festgeschrieben. Für dort nicht genannte Merkmale und Eigenschaften des Arbeitnehmers bleibt die Problematik indes die alte. Dies gilt etwa, wenn der Arbeitgeber einen Bewerber ablehnt, weil er eine Zeit lang im Gefängnis saß.21 Hier wird sich weiterhin die Frage stellen, ob der Arbeitgeber letztlich nur nach sachlichen, in der Arbeitsleistung begründeten Kriterien entscheiden darf oder ob auch bei der Begründung von Arbeitsverhältnissen vollständige Privatautonomie besteht.
3. Offenbarungspflichten des Arbeitnehmers Offenbarungspflichten können den Arbeitnehmer sowohl im Bewerbungsverfahren als auch nach erfolgter Einstellung treffen. In Bezug auf das Einstellungsverfahren war die Rechtslage vor Ablauf der Umsetzungsfrist für die RL 2000/78/EG klar umrissen. Selbst wenn der Arbeitgeber nicht nach der Religionszugehörigkeit fragt, ist der Arbeitnehmer verpflichtet sie zu offenbaren, wenn sie zu Beeinträchtigungen bei der Arbeitsleistung führt. Dies folgt aus der allgemeinen, vorvertraglichen Nebenpflicht des Arbeitnehmers, all jenes mitzuteilen, was seine Tätigkeit behindern, einschränken oder gar unmöglich machen kann.22 Insoweit hilft auch die von Art. 4 GG geschützte Religionsfreiheit nicht darüber hinweg. Die Frage ist nur, wie weitreichend die Einschränkungen sein müssen, um eine Offenbarungspflicht anzunehmen. Das LAG Hamm hat hierzu in einem Urteil zu Gebetspausen eines muslimischen Arbeiters ausgeführt: 23 „Wenn schon ein Fragerecht nicht besteht, ist der Arbeitnehmer erst recht nicht zur Offenbarung [seines religiösen Bekenntnisses] verpflichtet. Etwas anderes wird nur zu gelten haben, wenn der Arbeitnehmer auf Grund seines religiösen Bekenntnisses nur erheblich eingeschränkt oder überhaupt nicht in der Lage ist, die vertraglich geschuldeten Leistungen zu erbringen. Dies kann bei einer dreiminütigen täglichen Gebetspause jedoch nicht angenommen werden.“
Auch nach Abschluss des Arbeitsvertrags können dem Arbeitnehmer gewisse Mitteilungspflichten obliegen. Bekannt ist dies bspw. für behinderte Arbeitnehmer. Hält man die Frage nach einer Schwerbehinderung nunmehr für unzulässig, muss der Arbeitnehmer zumindest nach Einstellung seine Behinderung dem Arbeitgeber offenbaren, damit dieser seinen Verpflichtungen aus den §§ 71 ff. SGB IX nachkommen kann. Unterlässt er es, können hieraus Scha______________ 21
Allerdings dürfte sich für die meisten Kriterien ein Anknüpfungspunkt an das AGG finden lassen. In der Benachteiligung eines ehemaligen Strafgefangenen könnte bspw. eine Diskriminierung wegen der ethnischen Herkunft oder des Geschlechts liegen; zu politischen Meinungen s. Kap. 1 III. 22 Zum Pflichtenprogramm s. Kap. 5 II. 23 LAG Hamm, NZA 2002, 675, 677.
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Kapitel 3: Das Fallmaterial
densersatzansprüche des Arbeitgebers resultieren (vgl. §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB).24 In Bezug auf die Religionszugehörigkeit besteht aus lohnsteuerrechtlichen Gründen eine gesetzliche Offenbarungspflicht, 25 die seit einiger Zeit verfassungsrechtlicher Kritik ausgesetzt ist, 26 der sich das BVerfG jedoch bislang nicht angenommen hat.27 Sie wird sich nunmehr auch diskriminierungsrechtlichen Bedenken stellen müssen (s. Kap. 7 I.2).
4. Arbeitsvertragliche Gestaltung Hat sich der Arbeitgeber für einen Bewerber entschieden, folgt der – meist schriftliche – Abschluss des Arbeitsvertrags. Jedenfalls zum Teil besteht er in aller Regel aus Formularklauseln, die der Inhaltskontrolle nach den §§ 305 ff. BGB unterliegen (vgl. § 310 Abs. 4 S. 2 BGB). Erstaunlich ist, dass bislang – soweit ersichtlich – kein Fall höchstrichterlich entschieden wurde, in dem es um solche Arbeitsvertragsklauseln ging, die den Umgang mit religiösen Praktiken der Arbeitnehmer regelten. Arbeitgeber werden dem Problem auch dadurch aus dem Weg gehen, dass sie niemanden einstellen, bei dem sie Gefahr laufen, mit dessen religiösen Pflichten in Konflikt zu geraten. Dies wird mit Inkrafttreten des AGG indes schwieriger und so werden in Zukunft derartige Klauseln vielleicht häufiger auftauchen. Nach der Entscheidung des BAG zum Kopftuch einer Verkäuferin liegt es nahe, im Arbeitsvertrag von vorne herein aufzunehmen, dass religiöse Symbole – und insbesondere das islamische Kopftuch – am Arbeitsplatz nicht geduldet werden. Bei der Inhaltskontrolle solcher Vertragsklauseln geht es zum einen um den Schutz des Arbeitnehmers vor der Verhandlungsstärke des Arbeitgebers, der meist in der Lage ist faktisch die Vertragsklauseln einseitig zu diktieren. In den Fällen, in denen der Arbeitnehmer in seiner Entscheidung frei ist, geht es jedoch auch um einen Schutz des Arbeitnehmers vor sich selbst, der bei Abschluss des Arbeitsvertrags auf Rechte verzichtet und dies anschließend bereut. Diesem Komplex widmet sich Kap. 5 III. ______________ 24
ErfK-Preis, § 611 BGB Rn. 325 f. mwN. Sie resultiert aus § 39 Abs. 1 S. 1 EStG iVm den Kirchensteuergesetzen der Länder, vgl. z.B. § 4 Abs. 1 Nr. 1 lit. a KiStG NRW oder Art. 13 Abs. 1 S. 1 Bay. KirchStG. 26 Anke/Zacharias, DÖV 2003, 140; Adam, NZA 2003, 1375, 1380; Wasmuth/Schiller, NVwZ 2001, 852. 27 BVerfG, NJW 1977, 1677; NJW 1979, 209 und NVwZ 2001, 909. In sämtlichen der genannten Fälle nahm das BVerfG die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung an, weil sie offensichtlich unbegründet seien. 25
II. Konflikte bei der Arbeitsleistung
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II. Konflikte bei der Arbeitsleistung Die meisten bislang von der Rechtsprechung entschiedenen Fälle spielten sich während des Vollzugs des Arbeitsverhältnisses ab, ohne dass sich eine ausdrückliche arbeitsvertragliche Vereinbarung fand.
1. Tragen religiöser Symbole Die aktuellsten und medienwirksamsten Konflikte drehten sich dabei um das Tragen religiöser Symbole während der Arbeit, wobei in jüngster Zeit das islamische Kopftuch die heftigsten Reaktionen auslöste. Das Urteil des BAG vom 10.10.2002 fügt sich in eine ganze Reihe von Streitigkeiten um den traditionellen Kopfschmuck der Muslima ein, der zur Zeit nicht nur in Deutschland, sondern im gesamten europäischen Raum für Konfliktstoff sorgt. Die französische Nationalversammlung hat – ganz in laizistischer Tradition – am 10.02.2004 mit breiter Mehrheit ein Gesetz beschlossen, dass das Tragen von „offenkundigen Zeichen einer religiösen oder politischen Zugehörigkeit“ untersagt – und zwar nicht etwa nur den Lehrern, sondern auch den Schülern. Selbst in der multikulturellen Gesellschaft Großbritanniens, in der es bspw. Gang und Gäbe ist, dass Polizistinnen unter ihrer Uniform ein Kopftuch tragen, sorgten Urteile zum Hijab28 für Aufsehen. Auch in der Türkei stellte sich die Frage des Kopftuchs jüngst neu.29 In Deutschland hat der Streit um das Kopftuch einer Lehrerin spätestens seit der Entscheidung des BVerfG die Gemüter erhitzt und er ist noch lange nicht beendet. Nach und nach werden sich die einzelnen Landesgesetze verfassungs- und europarechtlichen Prüfungen unterziehen müssen und es ist längst nicht sicher, dass sie diese bestehen.30 Dabei geht es in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zumeist nur vordergründig um das Kopftuch der Muslima, das nicht nur ein religiöses Symbol ist, sondern für viele ein Zeichen mangelnder oder gar abgelehnter Integration, Geschlechterdiskriminierung oder religiösen Fanatismus. Die Gerichte haben diesen Assoziationen stets eine Absage erteilt und die Bedeutung des Kopftuchs für das Individuum in den Vordergrund gestellt. Gerade bei denjenigen Frauen, die für den Hijab vor Gericht ziehen, sind solche Zweifel auch kaum ______________ 28 s. das Urteil des Employment Appeal Tribunal (Hussain v. MCSL [2002] Emp.L.R. 713) vom 09.05.2002; zu weiteren Beispielen A. Weber, ZAR 2004, 53, 55 f. 29 Zum Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen Türk. VerfG, EuGRZ 1990, 146. 30 Die entsprechende Änderung des baden-württembergischen Schulgesetzes wurde bspw. vom BVerwG für verfassungsgemäß erklärt (NJW 2004, 3581, 3583 f.). Ob dies auch für andere Landesgesetze gilt, ist noch ungeklärt. Europarechtliche Bedenken ergeben sich im Hinblick auf die RL 2000/78/EG; s. hierzu Thüsing, JZ 2006, 223, 228 f.
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Kapitel 3: Das Fallmaterial
angebracht. Sie sind gut ausgebildete, selbstbewusste Frauen, die ihr Kopftuch freiwillig und aus eigener Überzeugung tragen. Der rechtswissenschaftlichen Diskussion wird es gut tun, sich auf einer sachlichen Ebene fortzubewegen. Einer Darstellung der Urteile zum Tragen islamischer Kopftücher folgen weitere Gerichtsentscheidungen, die sich um religiöse Symbole während der Arbeitszeit ranken.
a) Das „islamische“ Kopftuch31 „Und sage den gläubigen Frauen, dass sie manche von ihren Blicken zurückhalten und ihre Scham hüten und nicht ihren Schmuck sichtbar machen, außer was davon außen ist, und sie sollen ihre Kopftücher über ihre Kleiderausschnitte schlagen, und nicht ihren Schmuck sichtbar machen (...).“ So steht es im Koran (Sure 24, 31) und aus dieser und anderer Textstellen32 folgert ein Teil des Islam, dass Muslima ab der Pubertät in der Öffentlichkeit ein Kopftuch zu tragen haben. Dieses Gebot führte zu gesellschaftlichen Spannungen, die auch das BAG33 erreicht haben.34 Der Zweite Senat hatte darüber zu befinden, ob die Weigerung einer Verkäuferin, ihr Kopftuch bei der Arbeit abzulegen, eine verhaltens- oder personenbedingte Kündigung nach § 1 Abs. 2 KSchG rechtfertigt. Die klagende Verkäuferin begann im Jahre 1989 bei der Beklagten, die in einer hessischen Kleinstadt das dort einzige Kaufhaus mit knapp 100 Arbeitnehmern betrieb, eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau und wurde nach deren Abschluss in ein Angestelltenverhältnis übernommen. Sie heiratete und bekam ein Kind. Kurz vor Beendigung ihres Erziehungsurlaubs teilte die Klägerin der Arbeitgeberin Anfang Mai 1999 mit, sie werde bei der Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit künftig ein Kopftuch tragen. Ihre religiösen Vorstellungen hätten sich gewandelt, ihr muslimischer Glaube gebiete ihr dies. Die Personalleitung der Beklagten widersprach dem Einsatz der Klägerin mit Kopftuch. Es entspreche nicht dem Stil des Hauses, Verkaufspersonal mit Kopfbedeckung zu beschäftigen und dies sei auch dem Großteil der Kunden nicht zuzumuten. Nachdem die Klägerin bei ihrer Haltung blieb, kündigte die Arbeitgeberin das 35 Arbeitsverhältnis ordentlich. Sowohl erste als auch zweite Instanz gaben ihr Recht und
______________ 31
s. hierzu Fn. 9 in Kap. 1. Sure 24, 60 und Sure 33, 59; s. auch Hoevels, NZA 2003, 701. 33 BAG v. 10.10.2002 – 2 AZR 472/01, NZA 2003, 483; s. hierzu Thüsing/Wege, ZEuP 2004, 404 sowie die dort in Fn. 5 (S. 405) genannten Nachweise; außerdem Bachmann, SAE 2003, 336; Hoevels, Islam und Arbeitsrecht, 2003, S. 228 ff. und passim; Preis/Greiner in: FS Rüfner, 2003, S. 653. 34 Zu einem ähnlichen Fall des ArbG Dortmund im Bereich des öffentlichen Dienstes s. Kap. 5 VIII.1. 35 LAG Hessen v. 21.06.2001 – 3 Sa 1448/00, NJW 2001, 3650. 32
II. Konflikte bei der Arbeitsleistung
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wiesen die Klage ab bzw. die Berufung zurück. Das BAG entschied anders und sein 36 Urteil wurde vom BVerfG bestätigt.
Eher en passent lehnte das BAG eine Kündigung aus personenbedingten Gründen ab. Durch das Tragen des „- islamischen - Kopftuches“, so die Formulierung des BAG, werde weder ein von der Arbeitnehmerin zu führendes Verkaufsgespräch unmöglich gemacht noch ein von ihr betreuter Verkaufsvorgang so behindert, dass nicht mehr von einer branchenüblichen Tätigkeit einer Verkäuferin einerseits oder – ohne weitere detaillierte Darlegungen durch die Arbeitgeberin – von einer wirtschaftlich wertlosen Arbeitsleistung oder einer den Arbeitgeber sogar schädigenden Tätigkeit andererseits gesprochen werden könne.37 Mit der Frage, ob der Arbeitnehmerin verhaltensbedingt gekündigt werden konnte, befasste sich der Zweite Senat hingegen eingehender. Offen blieb, ob die Arbeitgeberin der Klägerin eine – zumindest konkludente – Weisung erteilt hatte, das Kopftuch abzulegen oder ob sich die Betreiberin des Kaufhauses auf die Verletzung einer vertraglichen Nebenpflicht berufen konnte.38 In beiden Fällen sei eine Berücksichtigung der widerstreitenden grundrechtlich geschützten Positionen geboten, entweder bei der Auslegung des Begriffs des billigen Ermessens (§ 315 BGB, nunmehr § 106 S. 1 GewO) oder bei der Interpretation von Treu und Glauben (§ 242 BGB39). Das BAG gelangte so zu einer Abwägung im Sinne praktischer Konkordanz zwischen der unternehmerischen Betätigungsfreiheit auf Seiten der Arbeitgeberin, geschützt durch Art. 12 Abs. 1 GG, und der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) der Arbeitnehmerin. Die Glaubensfreiheit erfasse auch die Freiheit, nach eigenen Glaubensüberzeugungen zu leben und diese durch religiöse Symbole nach außen hin zu dokumentieren. Das Kopftuch sei – und darauf komme es an – nach dem Selbstverständnis der Trägerin ein solches Glaubenszeugnis und nicht lediglich ein allgemeines kulturelles Zeichen einer ethnischen Gruppe. Ob dieses Verständnis der Kopfbedeckung allgemein von islamischen Gläubigen geteilt wird, spiele keine Rolle.40 Hingegen sah das BAG die Berufsfreiheit der Arbeitgeberin nicht tangiert. Sie habe nicht hinreichend dargelegt, dass es bei einem weiteren Einsatz der kopftuchtragenden Verkäuferin zu konkreten betrieblichen Störungen oder wirtschaftlichen Einbußen komme. Ob und inwieweit entgegenstehende Kun______________ 36
NJW 2003, 2815. BAG, NZA 2003, 483, 485. 38 Hierzu Kap. 5 II und IV. 39 Nicht-leistungsbezogene Nebenpflichten sind mittlerweile in § 241 Abs. 2 BGB erwähnt. 40 BAG, NZA 2003, 483, 486; zu den verfassungsrechtlichen Bezügen s. Kap. 4. 37
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Kapitel 3: Das Fallmaterial
denwünsche, wenn sie nachgewiesen werden könnten, überhaupt eine Beeinträchtigung der Glaubensfreiheit der Arbeitnehmerin rechtfertigen könnten, ließ das BAG offen.41 Die Auffälligkeit des Kopftuchs mit den sich daraus ergebenden Assoziationen rechtfertigten „jedenfalls nicht per se“ die Beeinträchtigung der Religionsfreiheit der Klägerin. Die Grundrechte dürften – so formulierte der Zweite Senat und zitiert Ernst-Wolfgang Böckenförde42 – nicht auf einen möglichen „Verdacht hin beiseite gestellt“ werden.43 Die Abwägung ging also zugunsten der Arbeitnehmerin aus, die – verhaltensbedingte – Kündigung war mithin nicht sozial gerechtfertigt (§ 1 Abs. 2 KSchG) und daher unwirksam. Ebenso hatte 1992 bereits das Arbeitsgericht Frankfurt a. M. in einem ähnlichen Fall entschieden.44 Eine als Verkäuferin und Kassiererin in einem Supermarkt tätige Arbeitnehmerin marokkanischer Abstammung und muslimischen Glaubens trug seit September 1991 während der Arbeitszeit ein Kopftuch, das sie auch nach mehrmaligen Aufforderungen nicht ablegte. Mangels verhaltensbedingter Gründe verwarf das Gericht die Kündigung. „Ohne Darlegung derjenigen Tatsachen, die nachvollziehbar erscheinen lassen, wieso eine Verkäuferin oder Kassiererin ein Kopftuch nicht zu tragen hat und das Tragen eines Kopftuches den ‚üblichen Gepflogenheiten in unserem Lande‘ widerspricht, kann nicht festgestellt werden, welcher Maßstab an das Äußere der Klägerin anzulegen ist und damit gleichzeitig arbeitsvertragliche Pflichten verletzt werden.“45
Diese Argumentation ist der des BAG auffallend ähnlich und es ist erstaunlich, dass weder das BAG noch das Berufungsgericht das Urteil des ArbG Frankfurt a. M. erwähnen, war es doch seinerzeit das einzig veröffentlichte, das sich mit kopftuchtragenden Arbeitnehmerinnen befasste. Zum einen wurde der Kündigung in beiden Fällen deshalb keine Wirkung zuerkannt, weil die Arbeitgeberin nicht konkret darlegen konnte, dass das Tragen des Kopftuchs zu erheblichen Schwierigkeiten oder sogar Gewinneinbußen führt. Zum anderen wurde in beiden Fällen eine personenbedingte Kündigung abgelehnt, obwohl diese näher gelegen hätte als eine verhaltensbedingte (ausführlich hierzu in Kap. 5 V.1.a)). Während das ArbG Frankfurt a. M. eine solche überhaupt nicht
______________ 41
Zur Problematik entgegenstehender Kundenwünsche (sog. customer preferences) s. insbesondere Kap. 7 II.1.c). 42 NJW 2001, 723, 728. 43 BAG, NZA 2003, 483, 486; ebenso das BVerfG, NJW 2003, 2815, 2816. 44 ArbG Frankfurt a. M. v. 24.06.1992 – 17 Ca 63/92. Eine Zusammenfassung des Sachverhalts und der Gründe findet sich in AiB 1993, 472 mit Anm. Hartwigs. 45 Seite 7 des Urteils.
II. Konflikte bei der Arbeitsleistung
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in Erwägung zieht,46 prüft sie das BAG zwar, lehnt sie aber mit recht knapper Begründung ab.
b) Der Turban des Sikh Ebenso entschied auch das ArbG Hamburg47 1996 im Falle eines angestellten Sikh, der sich weigerte, seine Kopf- und Bartbehaarung zu stutzen und statt des Turbans eine vom Arbeitgeber gestellte Papierfaltmütze zu tragen. Der Arbeitnehmer arbeitete an einem Grill in einem Restaurantbetrieb, in dem ca. 70 Mitarbeiter beschäftigt waren. Nachdem er seinem Arbeitgeber mitgeteilt hatte, dass er in Zukunft seinen Bart und seine Kopfbehaarung nicht mehr schneiden, sondern sie frei wachsen lassen und einen Turban tragen werde, wurde ihm schriftlich gekündigt. Die Kündigungsschutzklage hatte mangels Kündigungsgrundes (vgl. § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG) Erfolg.
In Betracht zog das Gericht – hier zeigt sich bereits eine Gemeinsamkeit zu den „Kopftuchurteilen“ – einzig eine Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen. Eine Pflichtverletzung des Sikh wurde mit der Begründung verneint, die Weisung des Arbeitgebers, der Arbeitnehmer möge seine Haare stutzen und statt des Turbans die Papierfaltmütze tragen, entspreche nicht billigem Ermessen und sei deshalb für den Arbeitnehmer unverbindlich gewesen (vgl. § 315 Abs. 3 S. 1 BGB48). Dies ergab sich aus einer Abwägung der gegenseitigen Interessen, wobei auf Seiten des Arbeitnehmers wiederum Art. 4 GG herangezogen wurde, denn auch die Gemeinschaft der Sikhs ist eine Glaubensgemeinschaft, deren Anhänger sich auf die Religions- und Religionsausübungsfreiheit berufen können und sowohl das Tragen des Turbans als auch das Wachsenlassen der Kopf- und Bartbehaarung sind religiöse Pflichten männlicher Sikhs. Im Rahmen dieser Abwägung würdigte das ArbG Hamburg, dass der Arbeitnehmer hinsichtlich „des äußeren Erscheinungsbildes (...) einen angenehmen äußeren Eindruck macht“, da seine Haare „weitgehend unter dem Turban verborgen, der Bart (...) zwar länger als üblich, jedoch sehr gepflegt“ sei, so dass die Anordnung des Arbeitgebers weder mit hygienischen Bedenken noch damit begründet werden könne, dass der Anblick des Sikh den Gästen unzumutbar sei. Außerdem sei das äußere Erscheinungsbild der Mitarbeiter bereits durch gleiche Hemden, Hosen, Kochjacken, Schürzen und Hals______________ 46
Auf Seite 5 des Urteils heißt es: „Es handelt sich um einen verhaltensbedingten Kündigungsgrund.“ 47 AuR 1996, 243. 48 Für das Weisungsrecht des Arbeitgebers findet sich seit dem 01.01.2003 eine Regelung in § 106 GewO. Satz 2 bestimmt nunmehr ausdrücklich, dass es sich auch auf die Ordnung und das Verhalten der Arbeitnehmer im Betrieb bezieht. Die Rechtsfolge der Unverbindlichkeit solcher Weisungen bestimmt allerdings weiterhin § 315 Abs. 3 S. 1 BGB, s. Kap. 5 IV.1.e).
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Kapitel 3: Das Fallmaterial
tücher gewährleistet, so dass es dem Arbeitgeber angesichts des Glaubenskonflikts des Arbeitnehmers zumutbar sei, darauf zu verzichten, ihm das Tragen der Papierfaltmütze vorzuschreiben.49
c) Die rote Bhagwan-Kleidung und die Mala Vor dem Kopftuch kam die Mala. Im Jahre 1984 hatte das LAG Düsseldorf 50 über einen Fall zu entscheiden, in dem es um die Kündigung eines Arbeitnehmers ging, der der Bhagwan-Bewegung angehörte, die mittlerweile OshoRajneesh-Bewegung heißt. Nach der Lehre Bhagwan Shree Rajneeshs muss jeder „Jünger“ vier Regeln beachten. Neben bestimmten Meditationsübungen und dem Benutzen eines neuen Namens gehört hierzu auch die Verpflichtung, sich in den Farben des Sonnenaufgangs, also vornehmlich in Rottönen, zu kleiden und die Mala, eine Holzperlenkette mit dem Bild Bhagwans, um den Hals zu tragen. Der betreffende Arbeitnehmer hatte bereits lange Zeit vor Ausspruch der Kündigung die rote Bhagwan-Kleidung getragen, ohne dass dies zu Irritationen geführt hatte. Die Kündigung erfolgte erst, als er ausdrücklich darauf hinwies. Das LAG Düsseldorf hat die Kündigung für unwirksam gehalten gem. § 134 BGB iVm Art. 4 und Art. 3 Abs. 3 GG nichtig.51 Das Gericht hing damit seinerzeit noch der von Nipperdey begründeten Lehre von der unmittelbaren Grundrechtsbindung der Arbeitsvertragsparteien an.52 Sie ist mittlerweile überholt, so dass die Urteilsbegründung nur zurückhaltend zur Analyse der Problematik herangezogen werden kann. Interessant ist und bleibt jedoch die Argumentation des Gerichtes zu der vom Arbeitgeber geäußerten Befürchtung, es könne zu finanziellen Einbußen kommen, wenn die Hinwendung des Arbeitnehmers zur Bhagwan-Bewegung bekannt werde. Sie war dem LAG Düsseldorf zu unkonkret, um Berücksichtigung zu finden, so dass es dem Arbeitgeber zumutbar sei, abzuwarten, welche Konsequenzen sich im Einzelnen aus der geänderten inneren Einstellung des Arbeitnehmers für das Arbeitsverhältnis ergäben.53 Diese Begründung hat große Ähnlichkeit zu denen in den Streitigkeiten um das Kopftuch. Auch dort wurden befürchtete Nachteile mangels hinreichend substantiierter Darlegung nicht berücksichtigt. Der Arbeitgeber müsse abwarten, ob und in welchem Umfang Einbußen entstünden (zu entgegenstehenden Kundenwünschen, sog. customer preferences s. Kap. 7 II.1.c)). ______________ 49
ArbG Hamburg, AuR 1996, 243, 244, rechte Spalte. LAG Düsseldorf v. 22.03.1984 – 14 Sa 1905/83, DB 1985, 391. 51 LAG Düsseldorf, DB 1985, 391. 52 BAG, NJW 1955, 606, 607 f.; s. hierzu Kap. 4 II und Kap. 5 III.1. 53 LAG Düsseldorf, DB 1985, 391, rechte Spalte oben. 50
II. Konflikte bei der Arbeitsleistung
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2. Religiöse Betätigung während der Arbeitszeit Die Gerichte entschieden in den Streitigkeiten um religiöse Symbole am Arbeitsplatz recht großzügig, die Kündigungsschutzklagen hatten letztlich allesamt Erfolg. Es war in keinem der entschiedenen Fälle zu betrieblichen Störungen gekommen. Allein das Tragen eines religiösen Symbols wird auch selten dazu führen, dass der Arbeitnehmer seine Tätigkeit nicht oder nur eingeschränkt ausüben kann oder dass die Qualität der Arbeitsleistung leidet. Allenfalls ein Mindererwerb aufgrund ablehnender Kundeninteressen ist denkbar, der aber in keinem Fall ausreichend begründet werden konnte. Anders sieht es hingegen aus, wenn ein Arbeitnehmer aus religiösen Gründen die Arbeit (vorübergehend) ruhen lässt. 1985 hatte das LAG Düsseldorf54 über einen Fall zu entscheiden, in dem ein türkischer Arbeitnehmer muslimischen Glaubens während der Arbeitszeit Gebetspausen verrichtet hatte, und im Jahre 2002 befand das LAG Hamm über einen ähnlichen Fall in gleich zwei Urteilen55. Ein markanter Unterschied zu den vorgenannten Fällen liegt darin, dass es zu betrieblichen Ablaufstörungen und sogar dadurch bedingten Umsatzeinbußen kommen kann, wenn ein Arbeitnehmer seine Arbeit (aus religiösen Gründen) einstellt. Und so kommen auch die Urteile in ihrem Ergebnis nicht so einmütig daher, wie die bereits besprochenen. Während das LAG Düsseldorf dem Arbeitgeber zumutete, den Arbeitsprozess so einzurichten, dass der Arbeitnehmer Zeit für seine Gebetspausen findet, untersagte das LAG Hamm dem Arbeitnehmer diese.
a) Das Urteil des LAG Düsseldorf Der 29-jährige Arbeitnehmer war als Maschinenführer im Schichtdienst tätig. Er war türkischer Staatsbürger und gläubiger Muslim, der die ihm obliegenden Gebete während der Arbeitszeit verrichtete. Nachdem die Arbeitgeberin ihm dies mehrfach untersagt und ihn abgemahnt hatte, sprach sie die Kündigung aus. Sie berief sich dabei auf die negative Signalwirkung, die das Verhalten des Arbeitnehmers auf seine Arbeitskollegen habe. Außerdem komme es zu erheblichen Ausfällen, da die Maschine, an der er arbeitete, während der Pause abgeschaltet werden müsse. Beide Argumente hielt das LAG Düsseldorf nicht für stichhaltig und gewichtete die Interessen des Arbeitnehmers höhere als die seiner Arbeitgeberin.56 Zu dem Argument der negativen Signalwirkung führte das Gericht aus, der Kläger sei offensichtlich der Einzige, für den sich ein Kon______________ 54
LAG Düsseldorf v. 09.08.1985 – 2 Ca 2253/84, n.v. LAG Hamm, NZA 2002, 675 und NZA 2002, 1090. 56 Seite 12 des Urteils. 55
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flikt ergebe, da sich bisher kein anderer Mitarbeiter darauf berufen habe. Wie zu entscheiden sei, wenn dies doch geschehe, ließ es ausdrücklich offen.57 Betriebliche Störungen hielt das LAG Düsseldorf nicht für gegeben. Zum einen hätte die beklagte Arbeitgeberin mehrere Möglichkeiten, die Freistellung des Arbeitnehmers zu gewährleisten, z.B. durch eine individuelle Pausenregelung oder die Vereinbarung einer Arbeitszeitverkürzung.58 Zum anderen käme es selbst dann, wenn der Arbeitnehmer seine Gebete weiterhin verrichte, nicht zu Ausfällen an der von ihm betreuten Maschine. „Der Kläger hat unwidersprochen vorgetragen, dass seine Kollegen sich etwa für eine Zigarettenpause von ihrer Maschine entfernen, ohne dass Komplikationen eintreten. Er könnte, wenn die Beklagte es für erforderlich hielte, daß er für die Gebete seinen Arbeitsplatz verließe, dem Arbeitnehmer so konkrete Anweisungen geben, daß ein Schaden nicht zu befürchten wäre. Im übrigen hat er auch in den Jahren 1980 – 1982 seine Gebete verrichtet – in welchem Umfang, sei dahingestellt – ohne daß es zu Störungen des Betriebsablauf gekommen ist.“59
Die Problematik, dass der Arbeitgeber Zigarettenpausen zulässt, Gebete aber untersagt und insofern seine Mitarbeiter möglicherweise wegen ihrer Religion benachteiligt, wird im Rahmen der diskriminierungsrechtlichen Betrachtung aufzugreifen sein (s. Kap. 7 II.2).
b) Die Urteile des LAG Hamm Hingegen bejahte das LAG Hamm in zwei Urteilen aus dem Jahre 2002 in einem ähnlichen Fall betriebliche Störungen durch zwischenzeitliche Gebetspausen.60 Das Gericht kommt, wenn auch auf unterschiedlichen Wegen,61 zu der ______________ 57
Seiten 13 f. des Urteils. Seite 12 des Urteils. 59 Seiten 12 f. des Urteils. 60 Beide Urteile bezogen sich auf den gleichen Konfliktfall. Während es in dem einen Rechtsstreit um den Erlass einer einstweiligen Verfügung ging, die der Arbeitnehmer begehrte, um eine bis zu dreiminütige Freistellung von der Arbeit zwischen sechs und acht Uhr morgens zur Verrichtung seines Morgengebets zu erhalten (NZA 2002, 675), richtete sich die zweite Klage gegen eine von der Arbeitgeberin ausgesprochene Abmahnung wegen unentschuldigten Fernbleibens vom Arbeitsplatz (NZA 2002, 1090). In beiden Fällen unterlag der Arbeitnehmer. 61 Im Urteil vom 18.01.2002 ging es um den Erlass einer einstweiligen Verfügung, so dass es darauf ankam, ob sich aus § 616 oder § 242 BGB ein Verfügungsanspruch ergibt. Ein Anspruch auf Rücknahme und Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte ergibt sich aus den §§ 242, 1004 BGB. Dieser setze, so das LAG Hamm im Urteil vom 26.02.2002, voraus, dass der Arbeitnehmer keinen Anspruch darauf habe, für kurze Zeit die Arbeit niederzulegen. 58
II. Konflikte bei der Arbeitsleistung
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Frage, ob der Arbeitnehmer einen Anspruch auf vorübergehende Arbeitsbefreiung geltend machen kann, um seine Gebete zu verrichten. Ein solcher Anspruch könne sich entweder aus § 616 BGB noch aus § 242 BGB iVm dem bestehenden Arbeitsverhältnis ergeben. Im Rahmen beider Ansprüche ist dem LAG Hamm zufolge eine Abwägung der grundrechtlich geschützten Belange geboten, die in den entschiedenen Fällen jeweils zugunsten der Arbeitgeberin ausgegangen ist. Ihren grundrechtlich gewährleisteten Schutzrechten aus den Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG stehe die Freiheit der ungestörten Religionsausübung aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gegenüber, auf die der Arbeitnehmer – so das LAG Hamm – nicht konkludent bei Vertragsschluss verzichtet habe (zum Grundrechtsverzicht s. Kap. 4 III). Die beklagte Arbeitgeberin habe im entschiedenen Fall nachweisen können, dass es zu betrieblichen Ablaufstörungen durch die vorübergehende Arbeitsniederlegung gekommen sei. In der Abteilung, in der der Kläger tätig war, musste im Team gearbeitet werden. Fiel ein Arbeitnehmer aus, entstanden Produktionsausfälle, da der andere die Arbeit nicht alleine verrichten konnte. Die Arbeitgeberin sei nicht verpflichtet, Betriebsablaufstörungen hinzunehmen, damit der Arbeitnehmer seine Gebetspausen einhalten könne (zum Topos der „Betriebsablaufstörung“ s. Kap. 5 II.3). Insoweit habe die Vertragstreue Vorrang.62
3. Ablehnung von Arbeitshandlungen Die Ablehnung von bestimmten Tätigkeiten, die dem Glauben oder dem Gewissen von Arbeitnehmern zuwider laufen, beschäftigt die Gerichte und das rechtswissenschaftliche Schrifttum seit langem. Bereits Ende der vierziger Jahre hatte das LAG Hessen darüber zu entscheiden, ob ein Siebenten-TagsAdventist aus religiösen Gründen die Arbeit an einem Samstag, dem nach seinen Vorstellungen arbeitsfreien Sabbat, verweigern darf. Blieb dieses Urteil anfangs noch wenig beachtet, lösten die Apothekerin, die sich weigerte, empfängnisverhütende Mittel zu veräußern und der türkische Arbeitnehmer, der sich aus Anlass des Kurban-Beyram-Festes „selbst beurlaubte“, eine lebhafte Diskussion aus. Dazu beigetragen haben weitere Fälle, in denen Arbeitnehmer Tätigkeiten zwar nicht aus religiösen Motiven, aber aus Gewissensgründen verweigerten, allen voran die „erste Druckerentscheidung“ des BAG (s. sogleich Abschnitt a)). Die von Bosch und Habscheid in den fünfziger Jahren begonnene Debatte (b)) drehte sich danach hauptsächlich um die Wirkung der Gewissensfreiheit im Vertragsrecht, ohne dass der Religionsfreiheit eigene Bedeutung beigemessen wurde. Anschließend verebbte die Diskussion und bekam in einer ______________ 62
LAG Hamm, NZA 2002, 675, 677.
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zweiten Phase erst in den 80er Jahren wieder Auftrieb durch zwei Grundsatzentscheidungen des BAG in den Jahren 1984 und 1989 (c) und d)). Hervorzuheben ist ein Urteil des LAG Düsseldorf aus dem Jahre 1993, in dem ein Konzertmeister die Mitarbeit an einer blasphemischen Operninszenierung wegen Unvereinbarkeit mit seinem christlichen Glauben ablehnte (e)). Eine dritte Phase könnte im Zuge des Antidiskriminierungsrechts einsetzen (f)).
a) Phase 1: Die ersten Urteile zur Arbeitsverweigerung aus religiösen Gründen 1947 hatte das LAG Frankfurt a. M.63 über die Arbeitsverweigerung eines Siebenten-Tags-Adventisten zu befinden, der es aus religiösen Gründen ablehnte, samstags zu arbeiten. Der Angestellte der Reichsbahn bat daher um Dienstbefreiung für sämtliche Samstage. Nachdem diese Bitte abgelehnt und fristlose Entlassung angedroht wurde für den Fall, dass der Arbeitnehmer samstags der Arbeit fern bliebe, erschien dieser am darauffolgenden Samstag nicht im Betrieb. Die fristlose Kündigung seitens der Arbeitgeberin hielt das LAG Frankfurt a. M. für wirksam. „Eine solche grundsätzliche Freistellung würde nicht nur die Aufstellung des Dienstplanes und die Abwicklung des Fahrdienstes gefährden, sondern auch eine Unbilligkeit gegenüber Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften darstellen und schon aus diesem Grunde der Beklagten nicht zuzumuten sein. Denn ein Unternehmen, wie das der Beklagten, muß nach großen allgemeinen Gesichtspunkten geführt werden, welche auch der Allgemeinheit gegenüber in bezug auf ihre Billigkeit und Gleichmäßigkeit gegenüber allen ohne Ansehnung der Religion bestehen muß.“64
Ein ähnlicher Fall spielte sich ein Jahr später in Hamburg ab. Einem Siebenten-Tags-Adventist wurde zunächst gestattet, samstags der Arbeit fern zu bleiben, diese Vergünstigung später jedoch aus betrieblichen Gründen wieder aufgehoben. Als der Angestellte daraufhin samstags nicht zur Arbeit erschien, wurde ihm fristlos gekündigt. Auch diese Kündigung hatte vor dem ArbG Hamburg bestand.65 Mehr Beachtung fand ein Urteil des LAG Mainz66 aus dem Jahre 1952. Eine approbierte Pharmazeutin arbeitete als Angestellte in einer Apotheke. Sie hatte sich geweigert, die Mittel Gronomol, Ivonnex, Speton und Patentex zu veräu______________ 63
LAG Frankfurt a. M. v. 16.09.1947 – II LA 81/47, ARST I Nr. 327. LAG Frankfurt, ARST I Nr. 327. 65 ArbG Hamburg v. 26.02.1948 – 3 Ca 192/48, ARST I Nr. 654 und 857. 66 LAG Mainz v. 15.04.1952 – Sa 125/51, ARST X Nr. 317; eine Zusammenfassung bietet auch Kayserling, DAZ 1952, 499. 64
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ßern, da diese in erster Linie der Empfängnisverhütung dienten und sie dies als gläubige Katholikin nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren könne. Sie selbst hat deshalb das Arbeitsverhältnis fristlos gekündigt, nachdem der Arbeitgeber sie überreden wollte, die Medikamente an die Kunden abzugeben und verlangte Schadensersatz. Das LAG Mainz hatte – insofern eine eher ungewöhnliche Konstellation – über einen Schadensersatzanspruch der Apothekerin aus § 628 Abs. 2 BGB zu entscheiden und lehnte ihn ab. Sie hatte u.a. zur Begründung vorgetragen, sie sei zum Verkauf „gezwungen“ worden. Das Gericht stellte fest, der beklagte Arbeitgeber habe zwar versucht, der Klägerin ihre Ansicht auszureden. Aber: „Eine solche Einflußnahme mußte die Klägerin sich um so eher gefallen lassen, als sie zugegebenermaßen damit gerechnet hat, daß, wie allgemein üblich, auch in dieser Apotheke derartige Mittel gehandelt werden würden. Dennoch hat sie bei Vertragsschluß nicht hervorgehoben, dass sie sich von diesen Dingen ihrer religiösen Überzeugung wegen ausschließen müsse. Da der Beklagte als Prinzipal deshalb als vereinbart unterstellen konnte, dass seine Angestellte alle in seinem Geschäft üblichen Verrichtungen auszuführen bereit sei, kann auch ein wiederholtes und nachdrückliches Zureden nicht als vertragswidrig (§ 628 BGB) angesehen werden.“67
Gingen die genannten Urteile alle zu Lasten des Arbeitnehmers aus, wies die erste Grundsatzentscheidung des BAG68 in eine andere, arbeitnehmerfreundlichere Richtung. Ein Hilfsarbeiter einer graphischen Kunstanstalt, Dreierei und Verlag lehnte es ab, im Rahmen seiner Tätigkeit eine Beilage in eine Ausgabe der Zeitschrift Nation Europa einzusortieren. Sie habe neofaschistischen Charakter und habe insbesondere einen die ehemaligen Konzentrationslagerhäftlinge verunglimpfenden Artikel veröffentlicht. Er könne die Arbeit daher aus Gewissensgründen nicht verrichten. Wurde er zunächst für den Rest des Tages mit einem anderen Projekt betraut, eröffnete der Abteilungsleiter ihm am nächsten Morgen, er müsse die Tätigkeit nunmehr ausführen, da nur noch die Zeitschrift Nation Europa zur Bearbeitung anstehe und sie termingerecht fertig werden müsse. Der Arbeitnehmer erklärte daraufhin, er gehe zur Betriebsleitung. Dort traf er den Prokuristen an, dem er erklärte, er nehme einen Tag Erholungsurlaub, weil in seiner Abteilung nichts für ihn zu tun sei. Den Grund für sein Urlaubsbegehren legte er nicht dar. Er offenbarte sich der Betriebsleitung erst im Laufe des Tages, woraufhin der Arbeitnehmer erneut zur Arbeit gerufen und ihm später gekündigt wurde. Hatte die Vorinstanz, das LAG Nürnberg, die Kündigungsschutzklage noch abgewiesen und dem Kläger eine „subjektiv überspannte Gewissensnot“ be______________ 67 68
LAG Mainz, ARST X Nr. 317. BAG v. 29.01.1960 – 1 AZR200/58, BAGE 9, 1.
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scheinigt und geurteilt, „er wäre verpflichtet gewesen mit ‚offenen Karten zu spielen‘“,69 wies das BAG „mit Nachdruck“70 in die entgegengesetzte Richtung. Es stellte fest, „daß kein Bürger der Bundesrepublik nach seinem Arbeitsvertrag verpflichtet sein kann, für eine Zeitschrift auch nur im geringsten tätig zu werden, die den freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat angreift oder das blutbefleckte Gewalt- und Unrechtsregime des Nazismus verherrlicht oder verharmlost. Ein Arbeitnehmer hat bei einem derartigen Verlangen seines Arbeitgebers das Recht und auch die Pflicht, eine solche Tätigkeit abzulehnen.“71
Freilich ging es dabei allein um einen Gewissens- und nicht um einen Glaubenskonflikt, die Argumentation hätte jedoch gewiss nicht anders ausgesehen, wenn sich der Arbeitnehmer außerdem auf religiöse Gründe hätte berufen können. Die Täuschungshandlung des Klägers, dem Prokuristen zu berichten, es gäbe für ihn keine zu erledigenden Arbeiten, lieferten dem BAG zufolge ebenfalls keinen Grund für eine fristlose Kündigung.72 1963 hatte das LAG Düsseldorf 73 über die Selbstbeurlaubung eines türkischen Arbeiters zum Kurban-Beyram-Fest zu befinden. Aus Kulanzgründen gewährte die Arbeitgeberin ihren Arbeitnehmern am ersten Tag des viertätigen, größten Religionsfestes des Islam einen Tag arbeitsfrei. Der Kläger erschien im Gegensatz zu seinen Kollegen auch an den darauffolgenden drei Tagen des Festes nicht zur Arbeit und wurde fristlos entlassen. Während die erste Instanz die Kündigungsschutzklage für begründet gehalten hatte, war die Berufung erfolgreich. Das Gericht sah im unentschuldigten Fernbleiben vom Arbeitsplatz einen wichtigen Grund iSv § 124a GewO a.F.74 Weder § 9 Abs. 1 des nordrhein-westfälischen Gesetzes über die Sonn- und Feiertage, der den Arbeitgeber lediglich verpflichtet, den Arbeitnehmern die Teilnahme an einem Gottesdienst zu ermöglichen, noch die Glaubens- und Gewissensfreiheit könne das Fehlen entschuldigen. Es könne zwar Fälle geben, in denen eine Gewissensnot im Rahmen von § 242 BGB zur Arbeitsverweigerung berechtige. „In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung ist die Berufungskammer jedoch der Auffassung, dass die Arbeitsleistung für einen in Gewissensnot befindlichen Arbeitnehmer dann nicht ______________ 69
LAG Nürnberg, SAE 1958, 164, 167 f. BAGE 9, 1, 3. 71 Vgl. auch ArbG Heidelberg v. 28.03.1967, ARST 1967 Nr. 211. 72 BAGE 9, 1, 5 f. 73 LAG Düsseldorf v. 24.01.1963 – 7 Sa 581/62, JZ 1964, 258; hierzu Küchenhoff, AuR 1964, 225, 228 f.; Reyer, BlStSozArbR 1970, 107, 108. 74 § 124a GewO lautete: „Außer den in §§ 123 und 124 bezeichneten Fällen kann jeder der beiden Teile aus wichtigen Gründen vor Ablauf der vertragsmäßigen Zeit und ohne Innehaltung einer Kündigungsfrist die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses verlangen, wenn dasselbe mindestens auf vier Wochen oder wenn eine längere als vierzehntägige Kündigungsfrist vereinbart worden ist.“ 70
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unzumutbar ist, wenn er beim Abschluß des Arbeitsvertrages damit rechnen musste, dass die ordnungsmäßige Erfüllung des Arbeitsvertrages mit seinen Verpflichtungen gegenüber seinem Glauben und Gewissen kollidieren könnte“. Und hier konnte der Arbeitnehmer „nur erwarten, gegenüber der Beklagten die Rechte und Pflichten eines deutschen Arbeitnehmers zu haben. Wollte er auch in der Bundesrepublik Deutschland wie in seinem Heimatland seinen durch den Islam geprägten Gewissenspflichten nachkommen, so hätte er eine Freistellung von der Arbeit für die Tage des Kurban-Beyram im Arbeitsvertrag mit der Beklagten vereinbaren müssen.“75
b) Die sich anschließende Diskussion Die Gerichte stützten ihre Entscheidungen auf unterschiedliche dogmatische Grundlagen oder verzichteten sogar gänzlich – wie das BAG76 – darauf. Die erste Auseinandersetzung mit den Konfliktfällen von Vertragspflicht und Gewissensentscheidung im Schrifttum legten Bosch und Habscheid vor,77 deren Erkenntnisse auch heute noch in weiten Teilen die Diskussion bestimmen. Sie schlussfolgerten, dass § 242 BGB dazu führe, „daß ein Vertragspartner von dem anderen grundsätzlich (...) nicht verlangen darf, sich über sein Gewissen hinwegzusetzen“, es sei denn der Gewissenskonflikt sei für den anderen Vertragspartner vorherzusehen gewesen. Verträge, die den guten Sitten zuwiderliefen, seien zwar bereits nach § 138 BGB nichtig, dies genüge jedoch nicht. Es gehe nicht an, „dem Rechtsgenossen zuzumuten, im Rechtsverkehr stets auf die Durchschnittsmoral herabzusteigen.“78 Für Verträge, die die nähere Bestimmung der Leistung einem der Vertragspartner überlassen, also insbesondere Arbeitsverträge, verorteten Bosch und Habscheid den Konflikt dagegen dogmatisch nicht in § 242 BGB, sondern in § 315 BGB und begrenzten so das Weisungsrecht des Arbeitgebers. Hieran hat auch die höchstrichterliche Rechtsprechung bis dato festgehalten.79 Beschränkten sie sich zunächst darauf zu untersuchen, ob die Erfüllung der Leistungspflicht von dem Schuldner verlangt werden kann, der sich auf eine entgegenstehende Gewissensentscheidung beruft, weiteten sie ihre Ausführungen später – nach einem Hinweis von Blomeyer80 – auf die Frage einer Schadensersatzforderung aus.81 Erst rund zehn Jahre nach der ersten Stellungnahme ______________ 75
LAG Düsseldorf, JZ 1954, 258, 259. BAGE 9, 1; s. oben Seite 65. 77 Bosch/Habscheid, JZ 1954, 213. 78 Bosch/Habscheid, JZ 1954, 213, 215; Hervorhebungen im Original. 79 s. sogleich Abschnitt II.3.c) und die dortigen Nachweise. 80 JZ 1954, 309, 311 f. 81 Bosch/Habscheid, JZ 1956, 297, 301 ff. 76
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Kapitel 3: Das Fallmaterial
war es wiederum Habscheid, der sich mit der Möglichkeit einer (fristlosen oder fristgerechten) Kündigung von Arbeitnehmern befasste, die aus Gewissensgründen Arbeitsleistungen verweigerten.82 Im Laufe der Diskussion entwickelten sich Gegenstimmen, die die Vertragstreue höher bewerteten und eine Berufung auf den Glauben oder das Gewissen überhaupt nicht oder nur in engeren Grenzen zuließen. 83 Eine Differenzierung nach dem Inhalt des jeweiligen Anspruchs unternahm erstmals Horst Kaufmann.84 Er plädierte außerdem gegen die Heranziehung von § 242 BGB und stattdessen für eine eigenständige Einrede einer entgegenstehenden Gewissenspflicht, die er aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG, dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, ableitete, und die „unmittelbar neben § 242 BGB zu bestimmen sein dürfte“.85
c) Phase 2: Zwei Grundsatzurteile des BAG zur Arbeitsverweigerung aus Gewissensgründen Erst im Anschluss an die Diskussion der 50er und 60er Jahre fand die rechtswissenschaftliche Debatte in Rechtsprechung und Schrifttum einen weitgehenden Konsens in Bezug auf sog. mittelbare Wirkungen der Grundrechte im Privatrecht. Die Urteile des BAG, des LAG Mainz und des LAG Nürnberg hatten Art. 4 Abs. 1 und 2 GG noch unerwähnt gelassen. Dies änderte sich in den Grundsatzurteilen des BAG aus den Jahren 1984 und 1989 zur Arbeitsverweigerung aus Gewissensgründen, die eine zweite Phase der Diskussion einleiteten. Das BAG hatte 198486 erneut über die Kündigung eines Druckers zu entscheiden, der als anerkannter Kriegsdienstverweigerer und Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes die Mitarbeit am Druck einer Werbebroschüre ablehnte, mit der für Bücher geworben wurde, die das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg verharmlosten und verherrlichten. Das Gericht hielt den Arbeitnehmer im Gegensatz zur Vorinstanz für berechtigt, die Arbeit aus ______________ 82 Habscheid, JZ 1964, 246, 247 f.; ausführlich später Isenhardt, Freiheit des Gewissens im Privatrecht, 1972, S. 141 ff.; vgl. auch Mayer-Maly in: FS G. Müller, 1981, S. 325 ff. 83 Wieacker, JZ 1954, 466, 468; vgl. auch Kraft, AcP 163 (1963), 472; Herb. Krüger, NJW 1949, 163; Hild. Krüger, RdA 1954, 365; Küchenhoff, AuR 1964, 225; Diederichsen in: FS Michaelis, 1972, S. 36, 51 ff. 84 H. Kaufmann, AcP 161 (1962), 289, 301 ff. 85 H. Kaufmann, AcP 161 (1962), 289, 314; zu § 275 Abs. 3 BGB s. Kap. 5 IV. 86 BAG v. 20.12.1984 – 2 AZR 436/83, NZA 1986, 21; s. hierzu Brox, AP Nr. 27 zu § 611 BGB Direktionsrecht; Kissel, NZA 1988, 145, 151; U. Mayer, AuR 1985, 105; Preuß, AuR 1986, 382.
II. Konflikte bei der Arbeitsleistung
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Gewissensgründen zu verweigern, so dass die Kündigung keinen Bestand hatte. Der Arbeitgeber habe bei der Ausübung seines Weisungsrechts nach § 315 Abs. 1 BGB den Gewissenskonflikt des Arbeitnehmers nicht hinreichend berücksichtigt und hätte ihm diese Arbeit nicht zuweisen dürfen. Damit erteilte das Gericht zunächst sowohl den Stimmen eine Absage, die sich vollständig gegen eine Beachtung von Gewissenskonflikten im Arbeitsverhältnis ausgesprochen hatten,87 als auch denjenigen, die die Problematik zivilrechtlich in den Regelungen über die Unmöglichkeit (§ 275 BGB), § 242 BGB oder einer eigenständigen Einrede in Form eines Leistungsverweigerungsrechts88 vororteten. In Bezug auf die Definition des Gewissens schloss sich das BAG der Rechtsprechung des BVerfG89 an und ergänzte sie um die Beschreibung: „Wesen der Gewissensentscheidung ist es gerade, daß sie ‚vernünftigen‘ Argumenten nicht mehr zugänglich ist.“90 Für die Abwägung der gegenseitigen Interessen im Rahmen des § 315 Abs. 1 BGB (nunmehr § 106 S. 1 GewO) stellte das Gericht drei Kriterien auf: 1. Die Voraussehbarkeit: „Derjenige Arbeitnehmer, der einen Arbeitsvertrag mit dem Inhaber eines Rüstungsbetriebes abschließt, kann sich daher nicht darauf berufen, die Zuweisung einer bestimmten, der Rüstung dienenden Tätigkeit sei unbillig, denn er könne aus Gewissensgründen diese Tätigkeit nicht ausüben.“ Ähnlich hatten bereits das LAG Mainz im Fall der Apothekerin und das LAG Düsseldorf im Fall der Selbstbeurlaubung zum Kurban-Beyram-Fest entschieden (s. a)). 2. Die betrieblichen Erfordernisse: Stehen mehrere Arbeitnehmer zur Verfügung, handele der Arbeitgeber unbillig, der denjenigen Arbeitnehmer auswählt, der die Tätigkeit aus Gewissensgründen ablehne. 3. Die Wahrscheinlichkeit weiterer Konflikte: Es sei „zu berücksichtigen, ob der Arbeitgeber in der Zukunft mit zahlreichen weiteren Gewissenskonflikten rechnen muß und ob er gegebenenfalls in der Lage ist, dem Arbeitnehmer einen freien Arbeitsplatz anzubieten, an dem der Gewissenskonflikt nicht auftritt.“91
Im zu entscheidenden Fall sprachen alle drei Kriterien für den Arbeitnehmer, so dass die Zuweisung der Arbeit durch den Arbeitgeber unbillig war und die Revision Erfolg hatte. In einem nur wenige Jahre später erlassenen Urteil aus dem Jahre 1989 bestätigte das Gericht die genannten Argumente, stellte jedoch fest, „[d]em Merkmal der Vorhersehbarkeit dürfte dabei keine absolute Bedeutung beizumessen ______________ 87
s. hierzu die Nachweise im Urteil des BAG sowie Kap. 5. Ein solches nahm das BAG hingegen im Falle eines Arbeitnehmers an, der einen zweimonatigen Wehrdienst in seinem Heimatland, der Türkei, abzuleisten hatte (BAG, NJW 1983, 2782); s. hierzu Kap. 5 IV.1.b). 89 s. Kap. 2 III.1. 90 BAG, NZA 1986, 21, 23. 91 BAG, NZA 1986, 21, 22. 88
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Kapitel 3: Das Fallmaterial
sein (...) noch ist es irrelevant (...), was vorliegend jedoch aus tatsächlichen Gründen keiner abschließenden Entscheidung bedarf.“92 Dabei ging es um die Kündigung eines Arztes, der bei einem international tätigen, englischen Pharmakonzern angestellt war. Eine bei der englischen Muttergesellschaft tätige Projektgruppe fand Anfang der 80er Jahre einen Wirkstoff, der Erbrechen unterdrückte. An deren Entwicklung sollte der Arbeitnehmer mitwirken, der dies jedoch aus medizinisch-ethischen Gründen ablehnte. Die Substanz sei geeignet, Symptome atomarer Verstrahlung kurzfristig zu unterdrücken und dadurch den weiteren Einsatz von Soldaten zu gewährleisten. Er bezog sich auf eine Äußerung eines der Mitarbeiter, der davon sprach, dass der militärische Bereich einen „huge market“ für die Veräußerung des Mittels darstelle.
Das BAG hielt sowohl am subjektiven Gewissensbegriff fest als auch an der Anknüpfung an § 315 BGB. Den entscheidenden Gewissenskonflikt des klagenden Arbeitnehmers sah das BAG nicht in der Mitarbeit an der Substanz, sondern darin, dass dieses Mittel bei Soldaten im Kriegsfall eingesetzt werden kann und vor allem auch eingesetzt werden sollte.93 Damit habe der Arzt nicht rechnen müssen und weitere vergleichbare Konflikte seien nach Abschluss dieser Medikamentenentwicklung auch nicht abzusehen. Als entscheidungserheblich hat das BAG die Frage betrachtet, ob der Arzt auch anderweitig beschäftigt werden konnte und diese Frage hat es bejaht, so dass die Kündigung keinen Bestand hatte.
d) Die Diskussion im Schrifttum Die Diskussion um die Wirkungen der Gewissensfreiheit im Zivil- und insbesondere im Arbeitsrecht nahm im Anschluss an die Urteile des BAG sowie weiterer von den Gerichten entschiedenen Fällen94 erneut Fahrt auf.95 Sie dreh-
______________ 92 BAG v. 24.05.1989 – 2 AZR 285/88, NZA 1990, 144, 146; hierzu Bydlinski, SAE 1991, 6; Kohte, NZA 1989, 161; Leuze, RdA 1993, 16; U. Mayer, AuR 1990, 267; Kempff, AiB 1990, 48; Berger-Delhey und Kraft/Raab, Anm. zu BAG, AP Nr. 1 zu § 611 BGB Gewissensfreiheit; zum vorinstanzlichen Urteil des LAG Düsseldorf, BB 1988, 1750, v.a. Denninger/Hohm, AG 1989, 145 und Kempff, AiB 1988, 256. 93 BAG, NZA 1990, 144, 147. 94 Übersichten finden sich bei Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 1990, S. 4 ff., und Wendeling-Schröder, Autonomie im Arbeitsrecht, 1995, S. 134 ff. 95 Allen voran Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 1990, mit umfangreichen Nachweisen; s. auch Derleder, AuR 1991, 193; Grabau, BB 1991, 1257; Häusele, Weisung und Gewissen, 1989; Henssler, AcP 190 (1990), 538; Kohte, NZA 1989, 161; Wendeling-Schröder, Autonomie im Arbeitsrecht, 1995, S. 116 ff.; dies., BB 1988, 1742; weitere Nachweise in Kap. 5. Eine jüngere Untersuchung stammt von Greiner, Ideelle Unzumutbarkeit, 2004.
II. Konflikte bei der Arbeitsleistung
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te und dreht sich im Wesentlichen um folgende Fragen, die z.T. Gegenstand der zivilrechtlichen Untersuchung sein werden: ²
Kann das Gewissen einschränkend ausgelegt werden, um die Fälle der Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit zu begrenzen? Die Vorschläge sind vielfältig, die Gerichte haben ihnen jedoch klare Absagen erteilt. Sie vertreten ebenso wie die herrschende Ansicht im Schrifttum einen subjektiven, weiten Gewissensbegriff (s. Kap. 2 III.1).
²
Wo ist der Konflikt zivilrechtsdogmatisch zu verorten? Während das BAG § 315 BGB heranzieht (heute § 106 GewO) und damit das Weisungsrecht des Arbeitgebers begrenzt, plädieren andere für eine unmittelbare Wirkung von Art. 4 GG oder ein Leistungsverweigerungsrecht, für das wiederum unterschiedliche Ansatzpunkte in Betracht kommen (s. Kap. 5 IV).
²
Kann für die Fälle der Leistungsverweigerung aus Gewissensgründen § 616 BGB zur Anwendung kommen (s. Kap. 5 VI)?
²
Welche Argumente dürfen innerhalb der Abwägung zwischen den religiösen Belangen des Arbeitnehmers und seinen Arbeitspflichten herangezogen werden und wie sind die drei vom BAG entwickelten Kriterien zu bewerten? Vor allem das der Vorhersehbarkeit steht dabei in der Kritik (s. Kap. 5 IV.4.c).
²
Wann löst die Verweigerung von Tätigkeiten aufgrund von entgegenstehenden religiösen Überzeugungen Schadensersatzpflichten aus (s. Kap. 5 VII)?
²
Unter welchen Umständen kann dem Arbeitnehmer (personen- oder verhaltensbedingt) gekündigt werden (s. Kap. 5 V)?
e) Ein Urteil des LAG Düsseldorf Erwähnung finden soll schließlich noch ein Urteil des LAG Düsseldorf von 199296, das sich mit der Weigerung eines stellvertretenden Konzertmeisters im Philharmonischen Orchester Essen auseinandersetzte, der es abgelehnt hatte, an der Aufführung des Troubadour, einer Oper von Guiseppe Verdi, mitzuwirken. Die von Dietrich Hilsdorf geleitete Inszenierung hatte zum Teil blasphemischen Charakter, den der Musiker als überzeugter Christ ablehnte. Seine Bemühungen, eine Freistellung zu erwirken, blieben erfolglos, obwohl er auch anderweitig hätte eingesetzt werden können. Er blieb den weiteren beiden Aufführungen daraufhin fern und wurde von seiner Arbeitgeberin jeweils abge______________ 96
LAG Düsseldorf v. 07.08.1992 – 9 Sa 794/92, NZA 1993, 411.
72
Kapitel 3: Das Fallmaterial
mahnt. Die Kosten für eine Ersatzkraft behielt diese ein. Der Musiker klagte deshalb auf Entfernung der Abmahnungen aus der Personalakte (nach den §§ 242, 1004 BGB) und auf Zahlung des Lohns. Seine Klage wurde zwar vom Arbeitsgericht abgewiesen, hatte aber in der Berufungsinstanz Erfolg. Im Rahmen der Auslegung des Begriffs des billigen Ermessens in § 315 Abs. 1 BGB zog das Gericht die Grundrechte heran, und zwar nicht nur – wie in den bereits beschriebenen Fällen – die Gewissensfreiheit (Art. 4), den Berufs- und Eigentumsschutz (Art. 12 und 14 GG), sondern auf Seiten des Arbeitgebers auch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG, die Kunstfreiheit. Die Arbeitgeberin mache zu Recht darauf aufmerksam, „daß eine provokante Inszenierung in der Öffentlichkeit immer zu Ablehnung wie Beifall führt und daß auf der Bühne auch das Böse und Blasphemische dargestellt werden kann.“97 Dies ist allgemein gesprochen sicher richtig und liegt auf der Linie der ständigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Ob die Arbeitgeberin allerdings auch ihrem Arbeitnehmer ihre künstlerische Freiheit entgegenhalten kann, ist zweifelhaft und wird im Rahmen der verfassungsrechtlichen Betrachtung zu klären sein (s. Kap. 4 II.4.d)). Für den Ausgang des Verfahrens blieb dieser Einwand der beklagten Arbeitgeberin ohnehin ohne Erfolg.
Das Gericht zog zwei der drei vom BAG entwickelten Kriterien heran, die für den Konzertmeister sprachen. Der Kläger hätte – und das war für das LAG Düsseldorf das entscheidende Argument – auch anderweitig beschäftigt werden können, so dass „auf seiten der Beklagten keine greifbaren betrieblichen Beeinträchtigungen eintraten, wenn sie den Kläger von der weiteren Wahrnehmung seiner musikalischen Leistungsverpflichtungen bei der Aufführung des Troubadour entband“. Hingegen relativierte das Gericht das Kriterium der Vorhersehbarkeit eines eventuellen Konflikts. Der Kläger hätte zwar bei Abschluss des Arbeitsvertrages nicht mit einem derartigen Gewissenskonflikt rechnen können. Aber: „Darauf kommt es nach Auffassung der Berufungskammer entscheidend schon deshalb nicht an, weil sich die sittlichen Wertvorstellungen eines Menschen auch im Verlauf eines Arbeitslebens grundsätzlich ändern können und damit Gewissenskonflikte auszulösen vermögen, die zuvor nicht aufgetreten sind.“98
Das LAG Düsseldorf verurteilte die Arbeitgeberin daher dazu, die Abmahnungen aus der Personalakte zu entfernen und dem Kläger den geforderten Lohn zu zahlen.
______________ 97 98
LAG Düsseldorf, NZA 1993, 411, 413. LAG Düsseldorf, NZA 1993, 411, 413.
II. Konflikte bei der Arbeitsleistung
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f) Ein Ausblick auf Phase 3 – und ein weiteres BAG-Urteil als Auftakt? In eine dritte Phase könnte die Diskussion in naher Zukunft eintreten, ausgelöst durch Änderungen der zivilrechtlichen Grundlagen. Zum einen wurde durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz ein Leistungsverweigerungsrecht in § 275 Abs. 3 BGB eingeführt, das es nahe legt, die Fälle der Arbeitsverweigerung aus religiösen oder aus Gewissensgründen zivilrechtsdogmatisch bei den Regelungen der Unmöglichkeit anzusiedeln, anstatt – wie bislang die Rechsprechung – das Weisungsrecht des Arbeitgebers zu begrenzen. Zum anderen wird das Antidiskriminierungsrecht Einfluss entfalten. Die Richtlinie 2000/78/EG hat lange vor ihrer Umsetzung ihre Schatten voraus geworfen. Bereits im sog. „Kopftuchurteil“ hat sich der Zweite Senat des BAG stillschweigend an der RL 2000/78/EG orientiert.99 Noch deutlicher geschah dies in einem Urteil desselben Senats vom 22.05.2003, das sich mit der Kündigung eines Angehörigen einer Sinti-Familie beschäftigte, der es aus „kulturellen und religiösen Gründen“ abgelehnt hatte, Bestattungsarbeiten zu verrichten.100 Der klagende Sinto war bei der Stadt Köln als Hilfsgärtner beschäftigt. Im Verlaufe des Einstellungsgesprächs wurde er darauf hingewiesen, dass er dabei auch Bestattungsarbeiten durchzuführen habe, womit er sich einverstanden erklärte. Er wurde in einer Bestatterkolonne auf dem Friedhof Schönrather Hof eingesetzt. Diese Tätigkeit lehnte er mit der Begründung ab, ihm seien Arbeiten als Hilfsgärtner zuzuweisen. Er habe jeden Kontakt mit Toten zu vermeiden. Der Vertreter der Stadt Köln erklärte ihm daraufhin, der Vertrag als Hilfsgärtner sei ihm versehentlich gegeben worden, er war als Bestattungsgehilfe vorgesehen. Entweder unterschreibe er nun eine entsprechend lautende Vertragsänderung oder er werde innerhalb der Probezeit gekündigt. Der Sinto erklärte sich hierzu nicht bereit. Nach Ausspruch der Kündigung erhob er Kündigungsschutzklage, die in sämtlichen Instanzen erfolglos blieb.
Erwartungsgemäß maß das BAG die Kündigung mangels Anwendbarkeit des KSchG an § 242 BGB, konnte aber zu Recht weder eine unzulässige Rechtsausübung noch eine nicht zu rechtfertigende Einschränkung der durch Art. 4 GG gewährleisteten Religionsfreiheit feststellen. Die Arbeiten seien für den Kläger vorhersehbar gewesen und die Stadt sei darauf angewiesen, dass er Bestattungsarbeiten durchführte. Die weitere Urteilsbegründung des Zweiten Senats überrascht jedoch, denn sie beschäftigt sich auffallend intensiv mit diskriminierungsrechtlichen Vorschriften und ist damit eines der ersten Urteile zum neuen Recht.
______________ 99
Thüsing/Wege, ZEuP 2004, 404, 422. BAG, AP Nr. 18 zu § 1 KSchG Wartezeit; s. hierzu Kort, SAE 2004, 51.
100
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Kapitel 3: Das Fallmaterial
aa) § 612a BGB Fristete § 612a BGB in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung lange nach seiner Einführung im Jahre 1980 zunächst ein Schattendasein, wie Thüsing 1994 noch feststellte,101 nahm seine Bedeutung in den letzten Jahren stetig zu.102 Erstmals jedoch gelangte die Norm in ein Urteil des BAG zur Arbeitsverweigerung aus Gewissensgründen, obwohl sie bereits in den Grundsatzurteilen 1984 und 1989 hätte Eingang finden dürfen. Möglicherweise ist dies auf die wachsende Bedeutung des Diskriminierungsrechts im Allgemeinen zurück zu führen, das nunmehr mit der Umsetzung der RL 2000/78/EG und 2000/43/EG durch das AGG weiter an Boden gewinnen wird. Im Fall des die Arbeit verweigernden Sinto konnte die zulässige Rechtsausübung des Arbeitnehmers zum einen in der Ablehnung der Bestattungsarbeiten liegen, zum anderen in der Ausschlagung des Änderungsangebots. Die erste Alternative erwähnte das Gericht nicht, denn den in seiner Rechtsprechung vertretenen Grundsätzen zufolge war der Sinto dazu verpflichtet, die Bestattungsarbeiten auszuführen, so dass dessen Ablehnung keine zulässige, sondern eine unzulässige Rechtsausübung darstellte. Für ihn war der Gewissenskonflikt vorhersehbar und die Arbeitgeberin konnte überwiegende, berechtigte betriebliche Interessen geltend machen, so dass er aus Glaubens- oder Gewissensgründen die Arbeit nicht ablehnen durfte.103 Daher prüfte das Gericht als zulässige Rechtsausübung im Rahmen von § 612a BGB lediglich die Ablehnung des Änderungsangebots durch den Sinto. Aber § 612a BGB setze voraus, dass „die Ausgestaltung des Änderungsangebots selbst sich als unerlaubte Maßregelung darstellt, sich also gewissermaßen als ‚Racheakt‘ für eine zulässige Rechtsausübung durch den Arbeitnehmer darstellt“.104 Angesichts der Ziele der Arbeitgeberin, sicherzustellen, dass der Wortlaut des schriftlichen Arbeitsvertrags mit den mündlichen Vereinbarungen übereinstimmt, liege die subjektive Komponente des § 612a BGB nicht vor, eine Diskriminierung sei daher ausgeschlossen.
bb) Die Richtlinie 2000/78/EG Intensiver befasste sich das BAG mit einem Verstoß gegen die RL 2000/78/EG. Formell prüfte das Gericht, ob die Kündigung mit Art. 3 Abs. 3 ______________ 101
Thüsing, NZA 1994, 728. s. hierzu Kort, RdA 2003, 122. 103 s. hierzu Kap. 5 IV. 104 BAG, AP Nr. 18 zu § 1 KSchG Wartezeit, Abschnitt B. III. 2. c) bb) der Gründe. 102
II. Konflikte bei der Arbeitsleistung
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und Abs. 1 GG vereinbar war, lehnte dabei aber seine Argumentation eng an die Erfordernisse der Rahmenrichtlinie an. Dazu gehört vor allem die Trennung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung, die der verfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz nicht trifft. In den Gründen heißt es: „Die Beklagte hat mit der Kündigung nicht unmittelbar an die genannten Merkmale angeknüpft, sondern an die Weigerung des Klägers, die ihm abverlangte Arbeitsleistung zu erbringen. Allerdings ist der vom Kläger geltend gemachte Grund für die Weigerung mit seinen weltanschaulichen Vorstellungen verbunden, die ihrerseits von seiner Herkunft nicht getrennt werden können. Mittelbar hat die Kündigung ihre Ursache darin, dass der Kläger der Gruppe der Sinti angehört.“105
Die Argumentation demonstriert eine erfreuliche Offenheit des Gerichts für die neuen Antidiskriminierungsvorschriften, die Subsumtion ist allerdings noch recht unbeholfen. Unklar bleibt, ob nun eine Diskriminierung wegen der Religion oder wegen der ethnischen Herkunft in Rede steht oder beides. Hier hätte klarer getrennt werden müssen, wie es § 4 AGG nun auch ausdrücklich fordert.106 Darüber hinaus fehlt eine Auseinandersetzung mit den Unterschieden zwischen unmittelbarer und mittelbarer Benachteiligung.107 Der Sachverhalt eröffnet jedoch Problembewusstsein. Gerade bei der Ablehnung von Arbeitshandlungen ist die Verknüpfung zwischen der Ungleichbehandlung durch den Arbeitgeber und einem verpönten Merkmal (in diesem Fall dem der Religion oder der ethnischen Herkunft) alles andere als offensichtlich. Dem BAG zufolge diskriminiert der Arbeitgeber nur mittelbar (wegen der Religion?), weil er den Sinto ja nicht aufgrund seiner Religion, sondern aufgrund seiner Arbeitsverweigerung entlasse. Dabei ist das BAG in guter Gesellschaft, in die gleiche Richtung weist das Urteil des britischen Employment Appeal Tribunal vom 13.02.2004, das eine Diskriminierung eines Arbeitgebers verneinte, der einen Arbeitnehmer entlassen hatte, weil sich dieser weigerte, samstags zu arbeiten. „The reason he was dismissed was not because he held, or wished to manifest, particular religious beliefs. It was because he declined to work seven-day shifts“, führte das Tribunal aus.108
Diese Argumentation klingt recht formal. Danach läge auch dann bloß eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn nicht an die Religion, sondern an die ______________ 105
BAG, AP Nr. 18 zu § 1 KSchG Wartezeit, Abschnitt B. II. 4. a) der Gründe. s. Kap. 6 VI.4.b). 107 Daher hierzu später ausführlicher in Kap. 6 VI.3.b) und Kap. 7 II.3.b). 108 Copsey v. Devon Clays Ltd., [2004] WL 412973, pa. 24, EAT. Allerdings konnte das Employment Appeal Tribunal letztlich offen lassen, ob es sich um eine Diskriminierung handelte und ob sie zu rechtfertigen war, da die Employment Equality (Religion or Belief) Regulations 2003 zum Zeitpunkt der Kündigung noch nicht galten. 106
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Kapitel 3: Das Fallmaterial
Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft angeknüpft würde; schließlich wird auch hier nicht die Religion des Einzelnen Ausgangspunkt für eine Reglementierung, sondern dessen Religionszugehörigkeit. Dies ginge zu weit und so bleibt offen, wo die Grenze zu ziehen ist. Für die Auslegung und Anwendung des AGG bietet das Urteil des BAG insofern Denkanstöße. In Kap. 7 II.3.b)) wird hierauf zurückzukommen sein. Ob eine mittelbare Benachteiligung des Klägers vorlag, ließ das Gericht dahingestellt, da die Arbeitgeberin jedenfalls einen sachlichen Grund für ihr Verhalten habe. „Die Bereitschaft des Klägers, auch Bestattungsarbeiten auszuführen, stellte eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung dar (vgl. Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG).“
Ohne Ausführungen über die unmittelbare Anwendbarkeit einer Richtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist und ohne den dogmatischen Anknüpfungspunkt einer möglichen richtlinienkonformen Auslegung zu erwähnen, übernimmt das BAG das Rechtfertigungskriterium der „wesentlichen und entscheidenden beruflichen Anforderungen“ innerhalb seiner Prüfung von Art. 3 GG. 109 Das Urteil stellt damit die Weichen für das europäische Diskriminierungsverbot, ohne die in Rede stehende Kündigung explizit daran zu messen. Dies könnte der Auftakt zu Phase 3 der Diskussion im Rahmen der Arbeitsverweigerung aus Glaubens- bzw. Gewissensgründen sein.
4. Religiöse Werbung Die von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützte Religionsfreiheit umfasst allgemeiner Ansicht zufolge auch die Freiheit, für seinen Glauben zu werben sowie das Abwerben anderer von ihrem Glauben. Dies gilt sogar dann, wenn damit nicht die Werbung für eigene religiöse oder irreligiöse Überzeugungen verbunden ist.110 Diese Freiheiten können sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber für sich reklamieren.
______________ 109
s. hierzu auch die Entscheidung des EuGH in Sachen Mangold/Helm, Kap. 6 II.5. BVerfGE 12, 1, 3 f.; Jarass/Pieroth-Jarass, GG, Art. 4 Rn. 10; Sachs-Kokott, GG, Art. 4 Rn. 31 mwN. 110
II. Konflikte bei der Arbeitsleistung
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a) Missionierungsversuche des Arbeitgebers – ein Urteil des BVerwG So geschehen zunächst in einem Fall des BVerwG aus dem Jahre 1962.111 Einem Lehrherrn war die Befugnis zur Ausbildung von Lehrlingen aberkannt worden, weil er über längere Zeit intensiv Versuche unternommen hatte, Lehrmädchen von ihrem Glauben abzubringen und für die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas zu gewinnen. Die Klage des Lehrherren gegen die Entziehung der Anleitungsbefugnis gemäß § 20 Abs. 1 HandwO in der Fassung vom 28.12.1965112 blieb – ebenso wie die Revision vor dem BVerwG – erfolglos. Das Gericht bejahte eine gröbliche Pflichtverletzung des Lehrherren. Bezug nahm es dabei auf das BVerfG, das in seinem grundlegenden Urteil aus dem Jahre 1960 auch die Werbung für eine Religion vom Schutzbereich des Art. 4 GG umfasst sah, solange nicht ein „Mißbrauch dieser Freiheit“ vorliege. Die an sich erlaubte Glaubenswerbung und Glaubensabwerbung werde missbraucht, so das BVerfG, „wenn jemand unmittelbar oder mittelbar den Versuch macht, mit Hilfe unlauterer Methoden oder sittlich verwerflicher Mittel, andere ihrem Glauben abspenstig zu machen oder zum Austritt aus der Kirche zu bewegen“.113 Das BVerwG erklärte daran anknüpfend, Gespräche mit Lehrlingen über ihren Glauben seien einem Lehrherrn zwar grundsätzlich erlaubt, verboten seien aber bevorzugte Behandlungen von Lehrmädchen, die einer Werbung für die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas zugänglich waren, herabsetzende Äußerungen gegenüber katholischen Geistlichen sowie das Angebot an Lehrlinge, sie könnten bei ihm wohnen, wenn sie aus religiösen Gründen Schwierigkeiten mit ihrem Elternhaus bekämen. Das Gericht billigte infolgedessen die Entziehung der Ausbildungsbefugnis. Anhand dieser Entscheidung wird zunächst deutlich, dass es nicht allein der Arbeitnehmer sein kann, der religiöse Freiheiten im Arbeitsleben für sich reklamiert. Die Ansicht des BVerfG, von der auch das BVerwG ausging, dass eine „missbräuchliche“ Werbung nicht vom Schutzbereich des Art. 4 GG erfasst sei, hat sich erstaunlicherweise in einigen Kommentaren und Entscheidungen bis heute gehalten.114 Hingegen hat sich die verfassungsgerichtliche Rechtspre______________ 111
BVerwG v. 09.11.1962 – VII C 84/59, NJW 1963, 1170. § 20 Abs. 1 HandwO in der Fassung vom 17.09.1953 lautete: „Die höhere Verwaltungsbehörde kann nach Anhörung der Handwerkskammer Personen, die ihre Pflichten gegen die ihnen anvertrauten Lehrlinge wiederholt gröblich verletzt haben oder gegen die Tatsachen vorliegen, die sie in sittlicher Beziehung zum Halten oder Anleiten von Lehrlingen ungeeignet erscheinen lassen, die Befugnis, Lehrlinge zu halten oder anzuleiten, ganz oder auf Zeit entziehen.“ (BGBl. I, S. 1411). Dies ist nun in den §§ 21 ff. HandwO geregelt; § 21 Abs. 1 S. 1 bestimmt, dass nur derjenige ausbilden darf, der hierzu persönlich geeignet ist. 113 BVerfGE 12, 1, 4 f. 114 So etwa ErfK-Dieterich, Art. 4 GG Rn. 23; BVerwG, NJW 1999, 3063, 3066. 112
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Kapitel 3: Das Fallmaterial
chung zum Grundrecht der Religionsfreiheit gewandelt, so dass der Schutzbereich mittlerweile weit verstanden wird. In der Entscheidung vom 08.11.1960 hielt das BVerfG missbräuchliche Werbung für eine Religionsgemeinschaft für nicht vom Schutzbereich des Art. 4 GG erfasst, um einer Diskussion um dessen Schranken aus dem Weg zu gehen, die damals noch in den Kinderschuhen steckte.115 Ebenso wie für die Kunst- und die Meinungsfreiheit lehnt das BVerfG auch für die Religionsfreiheit116 eine enge Begrenzung des Schutzbereichs ab und nimmt Korrekturen auf Schrankenebene vor. Werbung für eine Religionsgemeinschaft fällt deshalb nicht allein aus dem Schutzbereich von Art. 4 GG heraus, weil sie „missbräuchlich“ ist.117
b) Werbung für eine Religionsgemeinschaft durch den Arbeitnehmer – ein Urteil des ArbG Reutlingen Über Werbung einer Arbeitnehmerin für ihren Glauben hatte das ArbG Reutlingen 1993 zu entscheiden.118 Ihr wurde gekündigt, nachdem sie als Kinderkrankenschwester mehrfach versucht hatte, Patienten zu missionieren und ihnen nahe brachte, dass Krankheit aus der Lebensschuld des Patienten und seiner Familie resultiere. Bei einem dieser Gespräche hatte sie erklärt, im Krankenhaus regiere der Teufel und sie habe die Aufgabe, Christus in die Klinik zu tragen. In einer Teambesprechung hatte sie Bedenken an einer Chemotherapie geäußert mit der Begründung „Jesus und Gott können auch ohne Ärzte helfen“. Da die Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen gerechtfertigt sei, wies das Arbeitsgericht die Kündigungsschutzklage ab. Als Krankenschwester habe die Arbeitnehmerin die Verpflichtung, alles zu unterlassen, was den Heilungserfolg der jungen Patienten gefährden könnte. Dazu gehöre auch, die Patienten und ihre Eltern nicht zu ängstigen. Mangels Einsicht in ihr fehlerhaftes Verhalten sei sogar eine Abmahnung verzichtbar gewesen.
c) Zurückhaltende Werbung Geprägt waren die beschriebenen Fälle von recht massiven Missionierungsversuchen. Im Fall des BVerwG nutzte der Arbeitgeber das besondere Abhängigkeitsverhältnis zu seinen Lehrlingen aus und die Krankenschwester hätte die ______________ 115
BVerfGE 12, 1, 4. s. BVerfG, NJW 1972, 327, 329. 117 Muckel, Religiöse Freiheit, 1997, S. 130 Fn. 35. 118 ArbG Reutlingen v. 05.01.1993 – 1 Ca 378/92, KirchE 31 (1997), 1. 116
II. Konflikte bei der Arbeitsleistung
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Patienten im Fall des ArbG Reutlingen ernsthaft in Lebensgefahr gebracht, wäre man ihren Vorstellungen gefolgt. Offen bleibt danach, inwieweit eine zurückhaltendere Werbung zulässig ist, die z.B. allein im Verteilen von Werbebroschüren oder Gesprächen mit Mitarbeitern am Arbeitsplatz über religiöse Fragen besteht. Im Hinblick auf die Werbung für Religionsgemeinschaften hat das BAG sich hierzu soweit ersichtlich noch nicht geäußert, wohl aber waren Konflikte um (partei-)politische Werbung bereits häufiger Gegenstand arbeitsgerichtlicher Entscheidungen. Angesichts der Bedeutung der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) und der Betriebsgemeinschaft für die soziale Kommunikation der Betriebsangehörigen sei sie nicht schlechthin unzulässig, entschied das BAG erstmals 1982 im Fall des Arbeitnehmers, der mit einer „Strauß – nein danke!“ – Plakette zur Arbeit erschien. Begrenzt werde die Meinungsfreiheit des Arbeitnehmers aber durch „die Grundregeln über das Arbeitsverhältnis“, so dass es zu einer Abwägung der gegenseitigen Interessen komme.119 Daraus folge die Pflicht, so das BAG, eine provozierende parteipolitische Betätigung zu unterlassen, durch die sich andere Belegschaftsangehörige oder der Arbeitgeber belästigt fühlten, durch die der Betriebsfriede oder der Betriebsablauf in sonstiger Weise konkret gestört oder die Erfüllung der Arbeitspflicht beeinträchtigt werde.120 Für eine außerordentliche Kündigung forderte das BAG zwar eine konkrete Störung des Betriebsfriedens121 und ließ eine bloße Gefährdung nicht genügen; ob eine solche ausreicht, um dem Arbeitnehmer die politische Meinungsäußerung zu untersagen, ließ das BAG bislang allerdings ausdrücklich offen.122
Für die Zulässigkeit religiöser Werbung im Betrieb sind diese Grundsätze durchaus übertragbar.
5. Zusammenfassung In Bezug auf religiöse Konflikte am Arbeitsplatz lässt sich trotz der unterschiedlichen Begründungsansätze und kontroverser Diskussionen im Schrifttum ein gewisser gemeinsamer Befund feststellen. Der Arbeitgeber ist grundsätzlich gehalten, dem Arbeitnehmer auch während der Arbeitszeit die Mög______________ 119
BAG, NJW 1984, 1142; bestätigt durch BAG v. 21.12.1983 – 7 AZR 131/82, juris. Der Betriebsrat hat hingegen jede parteipolitische Betätigung zu unterlassen (§ 75 Abs. 2 S. 3 BetrVG). 121 Vgl. auch den Fall des LAG Nürnberg, NZA-RR 2004, 347. Einem Arbeitnehmer, der die Terroranschläge vom 11.09.2001 billige, könne allein aus diesem Grunde weder außerordentlich noch ordentlich (verhaltensbedingt) gekündigt werden. Die Äußerungen, „die Anschläge seien zu begrüßen, damit die Amerikaner wüssten, wie Krieg im eigenen Land sei“ und „hierfür seien noch viel zu wenige Menschen umgekommen“, zeigten keine derart menschenverachtende Gesinnung, dass man bei einem Pflegehelfer im Krankenhaus auf die Gefahr schließen könne, dieser werde sich gegenüber amerikanischen Patienten in irgendeiner Weise negativ verhalten. 122 BAG, NJW 1984, 1142. 120
80
Kapitel 3: Das Fallmaterial
lichkeit zu geben, religiösen Bedürfnissen nachzugehen. Dies folgt aus seiner vertraglichen Nebenpflicht, die in Abwägung der gegenseitigen Interessen vor allem auf die durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützte Religionsfreiheit Rücksicht zu nehmen hat (näher hierzu Kap. 5 II). Die Grenzen dieser Pflicht sind jedenfalls erreicht, wenn es zu Ablaufstörungen im Betrieb kommt, die der Arbeitgeber nicht durch Umstrukturierungsmaßnahmen auffangen kann. Am deutlichsten wird dies in den Urteilen des LAG Hamm zu Gebetspausen muslimischer Arbeitnehmer; aber auch das BAG hat im sog. Kopftuchurteil maßgeblich darauf abgestellt, dass die Arbeitnehmerin mit dem Hijab ihrer Arbeit nachkommen kann und das ArbG Hamburg sah keine hygienischen Bedenken beim Turban des Sikh, die seine Arbeit am Grill verhindert und eine Störung des Betriebsablaufs provoziert hätten. Gleiches gilt für Arbeitnehmer, die aus religiösen und/oder Gewissensgründen an bestimmten Tagen die Arbeit ablehnen. Die Gerichte billigten dies, sofern der Arbeitgeber ihre Abwesenheit kompensieren konnte; in den von der Rechtsprechung entschiedenen Fällen war dies allerdings nicht möglich (ausführlich hierzu s. Kap. 5 II.3). Anders entschied das BAG hingegen im Fall des Sinto, der Bestattungsarbeiten ablehnte, denn er war gerade (auch) hierfür eingestellt worden. Die Arbeitgeberin musste deshalb nicht versuchen, seinen Wünschen nachzukommen. Auch Werbung für eine Religionsgemeinschaft dürfte bis zur Grenze betrieblicher Störungen zulässig sein, wie es der Vergleich mit den Streitfällen um politische Werbung nahe legt.
Kapitel 4
Eine verfassungsrechtliche Betrachtung Arbeitsrecht sei „viel mehr Verfassungsrecht als Vertragsrecht“, stellte 1925 Heinz Potthoff fest.1 In der Tat wird derart häufig auf grundrechtliche Wertungen zur Lösung arbeitsvertraglicher Fragen zurückgegriffen, dass man geneigt sein könnte, Arbeitsrecht für Verfassungsrecht zu halten. Die Gründe liegen auf der Hand: Arbeitsrecht ist in weiten Teilen Richterrecht und zeichnet sich durch besonders intensive Beziehungen der Vertragspartner zueinander aus, die geprägt sind von einem Über-/Unterordnungsverhältnis, in dem der Arbeitgeber regelmäßig die wirtschaftlich stärkere und deshalb mächtigere Position einnimmt. Und trotzdem ist Arbeitsrecht Privatrecht. Dies hat zu Versuchen geführt, die Macht des Arbeitgebers auch unter Zuhilfenahme der Grundrechte zu zügeln und mündete in die Diskussion um unmittelbare und mittelbare Wirkungen der Grundrechte. Zu zeigen, dass weit weniger arbeitsrechtliche Konflikte verfassungsrechtlich vorgeprägt sind als weithin angenommen und auf diese Weise das Arbeitsrecht wieder ein wenig von der verfassungsrechtlichen Überlagerung zu befreien, ist Ziel des folgenden Kapitels.
I. Grundrechte und Privatrecht Privatrecht zeichnet sich dadurch aus, dass sich Bürger auf gleicher Augenhöhe gegenüber stehen, die – darüber ist man sich heute weitgehend einig – nicht grundrechtsverpflichtet sind, sondern privatautonom handeln und nur gegenüber dem Staat grundrechtsberechtigt sind. Dennoch weist letztlich jede Handlung auch von Bürgern untereinander Bezüge zu Grundrechten auf. Bei der Diskussion um deren Wirkungen zwischen gleichgeordneten Bürgern steht man in einem nur schwer lösbaren Konflikt. Einerseits sollen die Grundrechte aufgrund ihrer überragenden Bedeutung auf irgendeine Weise auch in privatrechtlichen Beziehungen Einfluss entfalten. Andererseits muss einer zunehmenden „Konstitutionalisierung der einfachen Rechtsordnung“ – wie es Ossen______________ 1
Potthoff, Einwirkung der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht, 1925, S. 24.
82
Kapitel 4: Eine verfassungsrechtliche Betrachtung
bühl formulierte2 – entgegen getreten werden. Immer häufiger wird eine verfassungsrechtliche Überfrachtung des Privatrechts beklagt.3 Allen zivilrechtlichen Rechtsgebieten voran gilt dies im Arbeitsrecht. Die geringe Normdichte verleitet dazu, verfassungsrechtliche Wertungen als „argumentatorischen ‚Joker‘“ (Oeter4) dort heranzuziehen, wo die gesetzlichen Vorschriften Lücken aufweisen. Klar und deutlich mahnt Henssler deshalb: „Der im Arbeitsrecht gelegentlich zutreffenden Tendenz, zivilrechtliche Rechtsprobleme zu reinen Verfassungsfragen hochzustilisieren, ist unmissverständlich entgegenzutreten.“5 Je mehr zivilrechtlichen Fällen man verfassungsrechtliche Bedeutung beimisst und je häufiger man privatrechtliche Entscheidungen als verfassungsrechtlich determiniert ansieht, desto geringer wird der Spielraum des Gesetzgebers und desto starrer und unflexibler wird die Zivilrechtsordnung. Für die Behandlung religiöser Konflikte im Arbeitsleben sind vor allem zwei Grundrechtsnormen von Bedeutung: Art. 4 GG und Art. 3 Abs. 3 (und Abs. 1) GG. Die eine ist ein Freiheits-, die andere ein Gleichheitsrecht, ihre jeweiligen Einflüsse im Zivilrecht sollen im Folgenden unter II und IV untersucht werden. Die gewonnenen Resultate werden dann auf das Arbeitsrecht im Allgemeinen (V) und auf die Behandlung religiöser Konflikte im Arbeitsverhältnis im Besonderen (VI) heruntergebrochen.
II. Wirkungen der Freiheitsrechte im Zivilrecht „Religiöse Konflikte am Arbeitsplatz erfordern eine Abwägung der gegenseitigen Grundrechtspositionen. Die von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützte Religionsfreiheit steht der von Art. 12 Abs. 1 GG gewährleisteten unternehmerischen Freiheit gegenüber. Beide Grundrechte müssen im Sinne praktischer Konkordanz zu einem verhältnismäßigen Ausgleich gebracht werden.“
So oder so ähnlich wird regelmäßig auf verfassungsrechtlich geschützte Rechtspositionen Bezug genommen, um Konflikte im Arbeitsverhältnis zu ______________ 2
DVBl. 1995, 904, 910. Bereits Dürig sprach von der Gefahr der „Verstaatlichung (Sozialisierung) des Privatrechts“ (in: FS Nawiasky, 1956, S. 157, 183 f.; Hervorhebungen im Original); ähnlich Hesse, JZ 1995, 265, 267 f.; Medicus, AcP 192 (1992), 35, 60; Oldiges in: FS Friauf, 1996, S. 281; Papier in: 25 Jahre BVerfG, 1976, S. 432, 446; Sendler, NJW 1994, 709 ff.; Wahl, NVwZ 1984, 401, 407; umfassend zum Ganzen Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 499 ff. und passim; s. auch die Nachweise in den folgenden Fußnoten; weniger kritisch und allgemein zur Konstitutionalisierung der Rechtsordnung Schuppert/Bumke, Konstitutionalisierung, 2000, S. 74 ff. und passim. 4 Oeter, AöR 119 (1994), 529, 545. 5 Henssler, AcP 190 (1990), 538, 550. 3
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lösen. Die folgende Auseinandersetzung mit dem oftmals als mittelbare Drittwirkung bezeichneten Einfluss der Grundrechte auf das Arbeitsverhältnis wird zeigen, dass dieser Lösungsansatz – obwohl er häufig zu angemessenen Ergebnissen führt – zu kurz greift. Aufgezeigt werden soll, wann eine Interessenabwägung notwendig ist und was dabei zu beachten ist.
1. Unmittelbare und mittelbare Drittwirkung Nicht durchgesetzt hat sich die anfangs sogar vom BAG6 vertretene Lehre der unmittelbaren Drittwirkung, d.h. man ist sich weitgehend einig darin, dass Private untereinander – sofern sie nicht ausnahmsweise hoheitliche Befugnisse ausüben – nicht („unmittelbar“) an Grundrechte gebunden sind.7 Eine solche „unmittelbare“ Bindung würde die Privatautonomie zu stark einschränken und wäre mit unserem liberalen Freiheitsverständnis nicht vereinbar.8 Grundrechtsschranken sind außerdem auf die Begrenzung staatlicher Eingriffe zugeschnitten, Gesetzesvorbehalte für das Handeln Privater wären sinnlos.9 Und nicht zuletzt spricht Art. 1 Abs. 3 GG eine deutliche Sprache, der staatliche Gewalt, nicht aber Private verpflichtet.10 Auch die Auffassung Schwabes, der jedes private Handeln auf staatliches Handeln bzw. Unterlassen zurückführt, konnte nicht überzeugen.11 Schwabe legt seinen Ausführungen den Gedanken zugrunde, jede private Gewalt beruhe letztlich auf der Anerkennung bzw. einem Nicht-Verbot durch den Staat. Es gehe also gar nicht um Grundrechtsstörungen durch Private, sondern stets um dem Staat zuzurechnende Eingriffe, so dass mit der klassischen Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte befriedigende Lösungen gefunden werden könnten. Dem widerspricht einerseits das liberalistische Freiheitsverständnis seit der ______________ 6
Grdl. BAG, NJW 1955, 606, 607 f.; aufgeben seit der Entscheidung des Großen Senats, NZA 1985, 702, 703 f.; s. hierzu Badura in: FS Molitor, 1988, S. 1, 10 ff. sowie die Nachweise in Fn. 102. 7 Prominentester Vertreter einer unmittelbaren Drittwirkung ist Gamillscheg, Grundrechte im Arbeitsrecht, 1989, S. 31 ff. (hierzu Abschnitt V.1). Darüber hinaus halten nur Wenige an ihr fest, so z.B. Hager, JZ 1994, 373; Ramm, JZ 1991, 1, 6 ff.; Lücke (JZ 1999, 377) begründet eine unmittelbare Drittwirkung (recht exotisch) über Art. 19 Abs. 3 GG. 8 Dürig in: FS Nawiasky, S. 157, 158 ff.; Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 76 III.2.b), S. 1554 ff. 9 Canaris, JuS 1989, 161, 162; erstaunlicherweise wird dennoch vertreten, eine Abwägung der vorbehaltlos gewährleisteten Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) mit einfachrechtlich geschützten Gütern und Interessen komme auch im zivilrechtlichen Bereich nicht in Betracht; hierzu Abschnitt II.4.c). 10 Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 76 III.2.b), S. 1553 f. 11 Schwabe, Drittwirkung der Grundrechte, 1971, S. 14 ff.; ders., Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 213; s. auch Schwabe, JR 1975, 13; ders., AcP 185 (1985), 1.
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Kapitel 4: Eine verfassungsrechtliche Betrachtung
Aufklärung, das einem Bild des Menschen entgegensteht, der von einem umfassenden, in all seinen Lebensbereichen ihn tangierenden, staatlichen Regelwerk unterliegt (vgl. Art. 1 Abs. 1 GG).12 Andererseits ist die Zurechnung jedes privaten Handelns zum Staat gekünstelt.13 Stattdessen beherrscht heute das Schlagwort der mittelbaren Drittwirkung14 die Diskussion. Sie geht zurück auf Dürig, der sich 1956 in der Festschrift für Hans Nawiasky gegen eine unmittelbare Drittwirkung aussprach und feststellte, dass „die normativen Mittel zur Abwehr von Angriffen aus der Drittrichtung, mit deren Hilfe bei Fehlen spezieller zivilrechtlicher Schutznormen das objektive Privatrecht seinen Schutzauftrag (vgl. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG) erfüllt, (...) seine wertausfüllungsfähigen und wertausfüllungsbedürftigen Generalklauseln“ sind.15 Damit war der Grundstein gelegt für die später so bezeichnete mittelbare oder indirekte Drittwirkung. Sie wurde insbesondere durch zwei verfassungsrechtliche Überlegungen dogmatisch untermauert und konkretisiert. Zum einen besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Grundrechte nicht nur subjektive (Abwehr-)Rechte, sondern auch einen objektiv-rechtlichen Gehalt besitzen. Sie stellen eine Werteordnung dar, die Einfluss auch auf (u.a.) zivilrechtliche Regelungen entfaltet (vom BVerfG Ausstrahlungswirkung genannt).16 Zum anderen hat der Staat nicht nur die Pflicht, übermäßige eigene Eingriffe in Grundrechtspositionen zu unterlassen, sondern einen umfassenden Schutzauftrag, der es auch beinhaltet, Bürger vor grundrechtlich relevanten Störungen durch Dritte, also vor allem durch andere Privatrechtssubjekte, zu schützen. Für den Bereich der Religionsfreiheit ist er dieser Verpflichtung sogar strafrechtlich nachgekommen, indem er in § 166 StGB die Beschimpfung von Bekenntnissen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften unter Strafe gestellt hat. Diese Schutzgebotsfunktion der Grundrechte, die bereits Dürig stillschweigend als selbstverständlich anerkannt hatte,17 wurde dogmatisch erhärtet und wird heute
______________ 12
Erichsen, Jura 1996, 527, 529; s. auch Canaris, AcP 184 (1984), 201, 218 f. s. Fn. 12; ausführlich setzt sich Pietzcker in: FS Dürig, 1990, S. 345, 349 ff., mit der Ansicht Schwabes auseinander; s. auch Calliess, JZ 2006, 321, 325. 14 Die Bezeichnung Drittwirkung für die Wirkung der Grundrechte unter Privaten stammt von Hans Peter Ipsen (in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte II, 1954, S. 111, 143). Andere sprechen von Horizontalwirkung; s. hierzu die Nachweise bei Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 76 Fn. 6. 15 S. 157, 176. 16 So das BVerfG seit dem Lüth-Urteil (BVerfGE 7, 198) in st. Rspr., s. aus jüngerer Zeit z.B. BVerfG, NJW 2005, 1561, 1565; ausführlich zum objektiv-rechtlichen Gehalt Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 69, S. 890 ff. 17 Dürig in: FS Nawiasky, 1956, S. 157, 176; hierauf wies bereits Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 76 III.4.b), S. 1560 Fn. 275, hin. 13
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kaum mehr bezweifelt.18 Sie hat spätestens in den Abtreibungsurteilen des BVerfG Eingang in die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung gefunden.19
2. Grundrechtliche Schutzpflichten des Staates gegenüber Privaten – ein komplexes Dreiecksverhältnis Die aus den Grundrechten resultierenden Schutzpflichten20 sind echte Handlungsaufforderungen. Normadressat ist dabei aber nicht das Privatrechtssubjekt, sondern der Gesetzgeber. Der Bürger kann also aus den Grundrechten subjektive Schutzrechte ableiten, die sich aber nicht gegen andere Bürger, sondern gegen den Staat richten. Es ist gerade dieses Dreiecksverhältnis21, dass die Sache kompliziert macht. Beteiligt sind nicht nur zwei Privatrechtssubjekte, sondern zwei Privatrechtssubjekte, die jeweils vom Staat den Schutz ihrer Grundrechte und die Unterlassung unverhältnismäßiger Übergriffe einfordern (können). Es geht daher – bei der verfassungsrechtlichen Prüfung – nicht darum, zwischen beiden Parteien einen angemessenen Ausgleich herzustellen, wie es bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung von staatlichen Eingriffen der Fall ist. Die eine Partei muss den ihr garantierten Mindeststandard an Freiheit erhalten, ohne dass dabei die Grundrechte der anderen über Gebühr eingeschränkt werden. Es ist also zu fragen: Ist das von den Grundrechten gebotene Minimum an Freiheit für A gesichert, ohne dass in die Rechte des B unverhältnismäßig eingegriffen wird?22 Der Staat hat hier einerseits das Untermaßverbot (auf Seiten des A) und andererseits das Übermaßverbot (auf Seiten des B) zu beachten.23
______________ 18 Ausführlich zur Herleitung und Entwicklung der Schutzpflichten Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 69 IV.5, S. 943 ff. sowie § 76 III.4.b), S. 1560 und § 76 IV.5, S. 1572 ff.; Szczekalla, Schutzpflichten, 2002, S. 143 ff. jeweils mwN. 19 BVerfG, NJW 1975, 573, 575 und NJW 1993, 1751, 1753 ff.; in Bezug auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG BVerfG, NJW 1976, 947, 948 f. 20 Sie werden zumeist dem objektiv-rechtlichen Charakter der Grundrechte als Werteordnung entnommen. Zu ihrer dogmatischen Herleitung s. Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 69 IV.5.b) und c), S. 947 ff. mit zahlreichen Nachweisen in den Fn. 271 ff. und Szczekalla, Schutzpflichten, 2002, S. 146 ff. mwN. 21 J. Isensee in: Hb Staatsrecht V, § 111 Rn. 5; s. auch Calliess, JZ 2006, 321, 325 ff. 22 Möstl, Staatliche Garantie, 2002, S. 102; Michael, JuS 2001, 148, 151; Calliess, JZ 2006, 321, 329 f. 23 Zum Verhältnis zwischen Übermaß- und Untermaßverbot s. die Nachweise in Fn. 22.
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Kapitel 4: Eine verfassungsrechtliche Betrachtung
3. Verfassungskonforme und verfassungsorientierte Auslegung einfachen Rechts Erfüllt der Staat seine Pflicht nicht, weil entweder die von ihm erlassenen Normen dies nicht zulassen oder weil ein Gerichtsurteil dieses Schutzminimum nicht wahrt, ist verfassungsrechtlich eine Korrektur geboten. Dann ist entweder eine Norm nichtig (wie z.B. in der Handelsvertreterentscheidung des BVerfG § 90a Abs. 2 S. 2 HGB24), es muss eine Norm geschaffen werden (wie z.B. § 1629a BGB zum Schutz Minderjähriger vor Überschuldung25) oder eine Vorschrift ist (sofern möglich) verfassungskonform auszulegen. Die Schwierigkeit bei dieser verfassungsrechtlichen Prüfung liegt darin, dass sich nicht Bürger und Staat, sondern (mindestens) zwei Privatrechtssubjekte dem Staat gegenüber stehen. In diesem Dreiecksverhältnis kann eine Privatpersonen ein Minimum an Schutz ihrer Grundrechte vom Staat, aber gegenüber dem jeweils anderen verlangen. Da die Schutzpflichten dem Staat in aller Regel keine bestimmte Maßnahme gebieten, sondern ihm einen weiten Ermessensspielraum zugestehen, stellt sich die Frage, wie zwischen den verbleibenden, für sich genommen verfassungsrechtlich zulässigen Auslegungsvarianten des einfachen (Privat-)Rechts zu entscheiden ist. Dann geht es nicht um eine verfassungskonforme Auslegung im engeren Sinne, sondern um eine verfassungsfreundliche oder verfassungsorientierte.26 Erstere ist ein Unterfall der Letztgenannten.27 Sind mehrere Deutungen möglich, von denen einige zur Verfassungsmäßigkeit und andere zur Verfassungswidrigkeit der Norm führen, ist eine derjenigen zu wählen, nach denen das Gesetz vor dem Grundgesetz Bestand hat.28 Dieses Gebot der verfassungskonformen Auslegung dient der Normerhaltung. Zwischen den verbleibenden Varianten ist verfassungsorientiert zu entscheiden: Lässt eine Norm verschiedene Interpretationen zu, ist diejenige zu wählen, die den in der Verfassung
______________ 24
BVerfG, NJW 1990, 1469. Die Norm wurde aufgenommen, nachdem das BVerfG, NJW 1986, 1859 ff., einen solchen Schutz eingefordert hatte. 26 Wank bezeichnet die verfassungskonforme Auslegung (im engeren Sinne) als „rangkonforme Auslegung als Inhaltskontrolle“ und die verfassungsorientierte als „rangkonforme Auslegung als Inhaltsbestimmung“ (Wank, Auslegung von Gesetzen, § 6 III.1.d), S. 86 ff.). 27 Stern, Staatsrecht I, § 4 III.8.d), S. 136; in diesem Sinne auch Bettermann, Verfassungskonforme Auslegung, 1986, S. 20 ff.; zur Unterscheidung bereits Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm, 1969, S. 43 ff.; gegen eine Differenzierung Schmalz, Methodenlehre, Rn. 367. 28 Larenz, Methodenlehre, S. 339; Lüdemann, JuS 2004, 27, 28 f. 25
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geschützten Gütern und Interessen am ehesten entspricht.29 Canaris konstatierte zutreffend: „Soweit die Lösung des einfachen Rechts demgemäß weder durch das Übermaßverbot nach der einen noch durch das Untermaßverbot nach der anderen Richtung determiniert ist, haben die Grundrechte keine verfassungsrechtlich bindende Wirkung. Wohl aber können sie auch insoweit als ‚Wegweiser‘ oder ‚Elemente‘ bei der Auslegung und Rechtsfortbildung dienen wie andere allgemeine Rechtsprinzipien und -werte des einfachen Rechts auch (...). Das kann man ebenfalls mit dem – undeutlichen – Ausdruck der ‚Ausstrahlungswirkung‘ bezeichnen, doch stellt eine falsche Rechtsanwendung oder -fortbildung dann keinen Verfassungsverstoß dar, so daß eine Verfassungsbeschwerde insoweit von vornherein unbegründet ist.“30
Die Grundrechte dienen hier lediglich als ein systematisches Argument unter vielen weiteren.31 Das Ergebnis ist dann nicht verfassungsrechtlich vorgegeben und wird vom BVerfG nicht korrigiert.32
4. Zusammenhang zwischen Schutzpflichten und Ausstrahlungswirkung Der Zusammenhang zwischen den Schutzpflichten und jener skizzierten verfassungsorientierten Auslegung einfachen Rechts ist folgender: Die Schutzpflichten geben dem (einfachen) Gesetzgeber einen gewissen Rahmen vor, innerhalb dessen er agieren und die Mittel zum Schutz der Grundrechte selbst ______________ 29 Wank, Auslegung von Gesetzen, § 6 III.1.c), S. 85; speziell zur Grundrechtswirkung im Arbeitsrecht wie hier Boemke/Gründel, ZfA 2001, 245, 248 f. Eine verfassungsorientierte Auslegung lässt sich mit dem Vorrang der Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG) und der Einheit der Rechtsordnung rechtfertigen, s. Lüdemann, JuS 2004, 27, 29. Hierin liegt keine Besonderheit der Grundrechte gegenüber anderen Normen, stattdessen handelt es sich um eine ganz normale, systematische Auslegung anhand – in diesem Fall – höherrangigem Recht (Wank, Auslegung von Gesetzen, § 6 III.1.d), S. 86 ff.). Häufig wird allerdings auch insofern von einer verfassungskonformen Auslegung (im weiteren Sinne) gesprochen, so z.B. Larenz, Methodenlehre, S. 339. 30 Canaris, JuS 1989, 161, 164; so auch J. Isensee in: Hb Staatsrecht V, § 111 Rn. 134 f.; Schuppert, AöR 103 (1978), 43, 47; Simon, EuGRZ 1974, 85, 86; diese Differenzierung traf bereits Dürig, in: FS Nawiasky, S. 157, 181 ff. unter a) und b). 31 Wank, Auslegung von Gesetzen, § 6 III.1., S. 82 ff., insbes. S. 85; Lüdemann, JuS 2004, 27, 28. 32 Das BVerfG unterscheidet freilich nicht immer zwischen verfassungskonformer und verfassungsorientierter Auslegung, sondern erwähnt beide in einem Atemzug: „Von mehreren Auslegungsmöglichkeiten einer Bestimmung ist diejenige auszuschließen, die der Verfassung zuwiderläuft. Denn das Grundgesetz ist als ranghöchstes innerstaatliches Recht nicht nur Maßstab für die Gültigkeit von Rechtsnormen aus innerstaatlicher Rechtsquelle; auch inhaltlich ist jede dieser Rechtsnormen im Einklang mit dem Grundgesetz auszulegen“ (NJW 1980, 169, 172). Dies dürfte der Grund dafür sein, dass auch im Schrifttum häufig keine Differenzierung vorgenommen wird.
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Kapitel 4: Eine verfassungsrechtliche Betrachtung
wählen kann. Die gesteckten Grenzen darf er nicht überschreiten. Aber auch innerhalb dieser Grenzen gebieten die Schutzpflichten eine Auslegung des einfachen Rechts anhand der Verfassung. Sie stellt eine allgemeine Werteordnung auf, die nicht bloß das Ergebnis einer (gerichtlichen) Entscheidung determiniert, sondern auch verbindliche Anhaltspunkte für den Entscheidungsprozess beinhaltet. Dass das einfache (Zivil-)Recht verfassungsorientiert auszulegen ist, ist also auch ein Gebot grundrechtlicher Schutzpflichten. Für welche der verbleibenden Varianten sich der Rechtsanwender entscheidet, ist allerdings nicht verfassungsrechtlich vorgegeben, sondern Sache der Instanzgerichte.33 Wichtig ist allein, dass sämtliche Wertentscheidungen der Verfassung einbezogen und gewichtet werden. Das BVerfG prüft nach eigenem Bekunden, ob das Instanzgericht „Bedeutung und Tragweite“34 bzw. „Reichweite und Wirkkraft der Grundrechte (...) zutreffend beurteilt hat“.35 Die Schwelle eines Verfassungsverstoßes sei erreicht, „wenn die angegriffene Entscheidung Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind“.36 Die Grenzen der Eingriffsmöglichkeiten seien „nicht starr und gleichbleibend“, stattdessen bestehe „ein gewisser Spielraum“, „der die Berücksichtung der besonderen Lage des Einzelfalles“37 ermögliche.38
a) Entscheidungsergebnis und Entscheidungsprozess Dabei muss nicht nur das Ergebnis eines zivilgerichtlichen Urteils Schutzpflichten und Übermaßverbot einhalten, auch seine Begründung hat Grundrechte hinreichend zu würdigen. Besonders deutlich ist dies in der BVerfGEntscheidung „Schülerzeitung“39 geworden, die – zu Unrecht – Kritik erfahren hat.40 Ein Arbeitgeber hatte die Übernahme eines Auszubildenden in ein Ar______________ 33 Einen Überblick über den Meinungsstand zum Verhältnis zwischen Ausstrahlungswirkung und Schutzpflichten bietet Szczekalla, Schutzpflichten, 2002, S. 248 ff. 34 BVerfG, NJW 2001, 3474, 3475 mwN. 35 BVerfG, NJW 1958, 257 im sog. Lüth-Urteil. 36 BVerfG, NJW 1964, 1715, 1716; st. Rtspr., s. nur BVerfG, NJW 1994, 36, 38. 37 BVerfG, NJW 1976, 1677. 38 s. hierzu Röthel, JuS 2001, 424; Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 75 IV.5, S. 1496 ff.; Schuppert, AöR 103 (1978), 43. Ein Überblick über die Konkretisierungsversuche im Schrifttum findet sich bei Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 310 ff. 39 BVerfG, NJW 1992, 2409; das aufgehobene Urteil des BAG ist abgedruckt in NZA 1985, 329. 40 Boemke/Gründel, ZfA 2001, 245, 257; Hillgruber, ZRP 1995, 6, 9; Oldiges in: FS Friauf, 1996, S. 281, 293 ff.; Ossenbühl, DVBl. 1995, 904, 911.
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beitsverhältnis mit der Begründung abgelehnt, der Bewerber habe sich in einem Artikel in einer Schülerzeitung positiv zur Gewaltanwendung als Mittel zur Durchsetzung von politischen Forderungen geäußert. Der Bewerber klagte bis zum BAG erfolglos auf Einstellung. Das Urteil des BAG wurde vom BVerfG aufgehoben. Nicht beanstandet wurde der Urteilstenor, schließlich geht auch das BVerfG nicht davon aus, dass es (aus verfassungsrechtlichen Gründen) einen Anspruch auf Einstellung in ein Arbeitsverhältnis geben müsse. Nicht das Ergebnis der Gerichtsentscheidung, sondern allein deren Begründung wurde gerügt. Die Meinungsäußerung könne auch anders verstanden werden und Art. 5 Abs. 1 GG gebiete es, sämtliche in Betracht kommenden Deutungen zumindest heranzuziehen. Mit dieser Entscheidung überschreitet das BVerfG nicht, wie häufig behauptet, die Grenzen einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung. Die von Art. 5 Abs. 1 GG geschützte Freiheit, seine Meinung zu äußern, gebietet nicht nur bestimmte Ergebnisse, z.B. dass ein Journalist nicht gezwungen werden kann, einen Artikel unter seinem Namen zu veröffentlichen, mit dessen Inhalt er nicht konform geht. Sie gebietet auch bestimmte Vorgehensweisen, etwa – wie im Fall „Schülerzeitung“ –, dass sämtliche in Frage kommenden Deutungsmöglichkeiten einer Meinungsäußerung bei dessen Auslegung herangezogen werden. Dies hatte das BVerfG bereits lange vor dem hier geschilderten Fall entschieden.41 Der Fehler lag nicht beim BVerfG, sondern beim BAG, das einen Kontrahierungszwang überhaupt erst in Betracht gezogen hatte.42 Ein solcher ist verfassungsrechtlich nicht zwingend und auch zivilrechtlich nicht ableitbar.43 Nicht durchgesetzt hat sich gerade die sog. Schumann’sche Formel. Danach sollte ein zivilgerichtliches Urteil gegen Grundrechte verstoßen, wenn der angefochtene Richterspruch eine Rechtsfolge annimmt, die der einfache Gesetzgeber nicht als Norm erlassen dürfte.44 Das bedeutet, die gerichtliche Entscheidung muss als allgemeingültiges Gesetz formuliert gegen Grundrechte verstoßen, um den Grundrechtsträger im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG in einem seiner Grundrechte zu verletzen. Diese – an Kants kategorischen Imperativ angelehnte – Überlegung scheitert zwar bereits daran, dass eine gerichtliche ______________ 41
BVerfG, NJW 1990, 1980, 1981 mwN; BVerfG, NJW 1991, 95, 96. Zwar kann eine Verfassungsbeschwerde nicht alleine darauf gestützt werden, dass das Gericht in den Gründen seiner Entscheidung eine Rechtsauffassung vertreten habe, die grundrechtswidrig sei (BVerfG, NJW 1959, 29, 30; NJW 1988, 2594, 2595). Hierauf weist Hillgruber, ZRP 1995, 6, 9, zutreffend hin. Im Fall „Schülerzeitung“ hatte das BAG aber gerade einen Kontrahierungszwang erwogen, so dass eine Verletzung von Grundrechten aus Sicht des BVerfG zu Änderungen im Ergebnis hätte führen können. 43 Hierzu Kap. 4 VI.2.b) und Kap. 5 I.3. 44 Schumann, Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde, 1963, S. 206 ff. 42
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Einzelfallentscheidung nicht in ein allgemeingültiges Gesetz transformiert werden kann.45 Aber auch der ihr zugrunde liegende Gedanke konnte sich zu Recht nicht behaupten. Die Formel von Schumann beruht – ebenso wie der aus jüngerer Zeit stammende Vorschlag von Rennert46 – auf dem Gedanken, dass von den Grundrechten gebotene Minimum gebiete u.U. ein bestimmtes Ergebnis einer gerichtlichen Entscheidung. Dies ist zwar richtig, es wird jedoch außer acht gelassen, dass auch deren Begründung an Grundrechten zu messen ist.
b) Adressat der Schutzpflichten Mit Schutzpflichten muss man vorsichtig umgehen, denn Adressat ist – wie bereits beschrieben – der Staat. Je großzügiger die Reichweite von Schutzpflichten bestimmt wird, desto höher ist das Risiko, dass letztlich nicht der Staat, sondern der Bürger an sie gebunden wird. Bestimmt man bspw. arbeitsvertragliche Nebenpflichten auch anhand von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und schlussfolgert, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, auf religiöse Bedürfnisse seines Arbeitnehmers Rücksicht zu nehmen – was im Ergebnis sicherlich richtig ist (ausführlich Kap. 5 II) –, dann ist dies eine verfassungsfreundliche Auslegung von § 241 Abs. 2 BGB. Verpflichtet wird dadurch aber nicht der Staat, sondern der Arbeitgeber, denn er ist es, dem – infolge dieser Interpretation des einfachen Rechts – die Nebenpflicht auferlegt wird auf religiöse Belange seiner Arbeitnehmer einzugehen. Die Gefahr ist offensichtlich: Je stärker in diesem Zusammenhang die Grundrechte betont werden, desto eher droht die Gefahr einer Determination des Zivilrechts durch verfassungsrechtliche Vorgaben und desto näher rückt man in Richtung einer unmittelbaren Geltung der Grundrechte im Privatrechtsverkehr. Und gerade die ist nicht gewollt. Besonders deutlich hat Zöllner formuliert: „Durch die Lehre von der mittelbaren Grundrechtswirkung (...) wurde verhindert, daß man klar ausgesprochen hat, was eigentlich auszusprechen war: Daß die Grundrechte für die Vertragsgestaltung nicht gelten.“ Bei der mittelbaren Drittwirkung gehe es „nicht um die Geltung von Grundrechten als Normen, weder unmittelbar noch mittelbar, was immer das letztere überhaupt sein sollte“.47 So ist es.
______________ 45
Hierzu ausführlich Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht, 1976, S. 72 ff. NJW 1991, 12, 13. 47 Zöllner, AcP 196 (1996), 1, 7 (Hervorhebung im Original). 46
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c) Interessenabwägungen Die Schutzpflichten gebieten Schutz auch vor Privaten. Das erfordert einen Abwägungsprozess zwischen den zu schützenden Grundrechten des A und den Grundrechten des B, in die hierfür eingegriffen wird, der Staat hat also auf der einen Seite das Unter- und auf der anderen das Übermaßverbot zu beachten (s. 2). Eine bloße Interessenabwägung zwischen den Interessen des A und denen des B wird den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht gerecht, denn sie würde in ein bestimmtes Ergebnis münden, das z.B. lautet: „Den Interessen des A gebührt Vorrang vor denen des B.“ Genau dies gebieten staatliche Schutzpflichten aber nur in seltenen Fällen. Eine Abwägung der gegenseitigen Interessen verführt dazu, das Ergebnis als verfassungsrechtlich zwingend zu betrachten, was nicht der Fall sein muss.48 Dem Staat steht bei der Erfüllung seiner Schutzpflicht eine weite Einschätzungsprärogative zu, die negiert würde, und dies förderte eine Überfrachtung des privaten durch das Verfassungsrecht, vor der so häufig gewarnt wird. Eine Abwägung gegenseitiger Interessen kann dennoch geboten sein, dann wird sie aber nicht durch das Verfassungs-, sondern das Zivilrecht gefordert. Selbstverständlich erfordert die Frage nach der Wirksamkeit einer personenoder verhaltensbedingten Kündigung nach § 1 Abs. 2 KSchG eine umfassende Würdigung der Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Und auch die Frage, ob ein Arbeitnehmer aus religiösen Gründen die Arbeit niederlegen darf, kommt nicht ohne eine Gegenüberstellung der jeweiligen Rücksichtnahmepflichten aus. Gegeneinander abgewogen werden dann aber nicht Grundrechte, denn sie entfalten ja gerade keine normative Wirkung, sondern die gegenseitigen Interessen, seien diese auch wiederum grundrechtlich geschützt. Das Ergebnis dieser Abwägung – und darüber muss man sich im Klaren sein – ist nicht verfassungsrechtlich determiniert. Deshalb muss der These entgegen getreten werden, die vorbehaltlos gewährleistete Religions- und Gewissensfreiheit könne auch im arbeitsrechtlichen Bereich nicht von einfach-rechtlich geschützten Gütern oder Interessen eingeschränkt werden.49 Die Differenzierung zwischen vorbehaltlos gewährleisteten ______________ 48 So aber – in Bezug auf religiöse Konflikte am Arbeitsplatz – Preis/Greiner in: FS Rüfner, 2003, S. 653, 659. 49 So z.B. Greiner, Ideelle Unzumutbarkeit, 2004, S. 336 ff.; Preis/Greiner, RdA 2003, 244, 245; dies. in: FS Rüfner, 2003, S. 653, 660 mit Hinweis auf Böckenförde, NJW 2001, 723, 724. Dieser beschäftigt sich aber mit dem Streit um das Kopftuch einer Lehrerin (Frau Ludin), innerhalb dessen die Grundrechte unmittelbar und in ihrer Funktion als Abwehrrechte zum Tragen kommen. Aus seinen Aussagen lassen sich für die Drittwirkung keine Rückschlüsse ziehen. Im Übrigen ist die Angst vor Umsatzeinbußen in einem „ländlichkonservativ geprägten“ Kundenkreis ein unternehmerisches Interesse und unterliegt damit jedenfalls dem Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG.
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Kapitel 4: Eine verfassungsrechtliche Betrachtung
Grundrechten und solchen mit (einfachem oder qualifiziertem) Gesetzesvorbehalt wendet sich an den Staat, denn nur er ist in der Lage, überhaupt grundrechtsbeschränkende Gesetze zu erlassen. Zwischen Privaten spielt die Frage nach Gesetzesvorbehalten keine Rolle, da für sie Grundrechte gerade keine normative Wirkung haben. Dies war übrigens ein wichtiges Argument gegen die sog. unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Zivil- und besonders im Arbeitsrecht.50
d) Begründung des systematischen Zusammenhangs Im Zuge der Abwägung gegenseitiger Interessen ist nur dann auf Grundrechte einzugehen, wenn sie auch tatsächlich Erkenntnisse liefern können. Eine Norm bietet nur dann Auslegungshilfe, wenn sie nach Regelungsbereich und Zweck eine gewisse Nähe zu dem Bedeutungszusammenhang aufweist, in den sie gestellt werden soll.51 Dies gilt für Grundrechte genauso wie für alle anderen Normen. Allzu oft wird eine solche Prüfung durch den allgemeinen Hinweis ersetzt, die Grundrechte würden aufgrund der objektiven Werteordnung Ausstrahlungswirkung entfalten. Das ist zwar richtig; ob sich aber gerade das ins Auge gefasste Grundrecht verwerten lässt, ist eine zweite Frage, die beantwortet werden muss, bevor aus ihm Wertungen abgeleitet werden. Nicht allein deshalb, weil der Arbeitnehmer Jesuit ist, kommt Art. 4 GG zum Tragen, wenn sich der Konflikt überhaupt nicht um religiöse Pflichten dreht. Als Beispiel für eine überspannte Grundrechtsrelevanz soll das bereits dargestellte Urteil des LAG Düsseldorf von 199252 dienen, das sich mit der Weigerung eines stellvertretenden Konzertmeisters auseinandersetzt, der es abgelehnt hatte, an der Aufführung einer blasphemisch inszenierten Oper mitzuwirken. Das Gericht wägt die grundrechtlichen Positionen gegeneinander ab und bezieht dabei auf Seiten der Arbeitgeberin ihr durch Art. 5 Abs. 3 GG geschütztes Recht auf künstlerische Entfaltung ein. Dass ihr ein solches Recht zusteht, ist nicht zu beanstanden – es wirkt jedoch nicht im Verhältnis zu ihren Arbeitnehmern. Sie kann staatlichen Restriktionen dieses Recht entgegenhalten und es muss z.B. auch Beachtung finden in einem Konflikt zwischen ihr und eventuellen Anwohnern, die sich über die Lautstärke der Aufführung beschweren; hier kann die Kunstfreiheit gebieten, dass die Nachbarn unter Umständen eine höhere Lärmbelästigung hinzunehmen haben als bei nicht-künstlerischen Veranstal______________ 50
Ohnehin lässt sich jedes Interesse meist an ein Grundrecht anknüpfen, zumindest an die von Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit; s. auch Abschnitt II.1 und dort insbes. Fn. 9. 51 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 327 f. 52 LAG Düsseldorf, NZA 1993, 411, s. Kap. 3 II.3.e).
III. Grundrechtsverzicht im Zivilrecht?
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tungen. Im Verhältnis zu ihrem Arbeitnehmer vermag die Kunstfreiheit jedoch keine weitgehenderen Rechte begründen, die sie sonst, ohne künstlerische Betätigung, nicht hätte. Der Arbeitnehmer ist nicht deshalb eher gehalten, seiner Arbeitspflicht trotz religiöser Vorbehalte nachzukommen, weil sich seine Chefin künstlerisch betätigt. Ähnliches ist aus dem Bereich der von Art. 5 Abs. 1 GG geschützten sog. inneren Pressefreiheit bekannt. Sie schützt auf der einen Seite die Presseunternehmen vor dem Einfluss der Mitbestimmung auf die Tendenzbestimmung und Tendenzverwirklichung (vgl. § 118 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BetrVG),53 verhindert aber vor allem auf Seiten der Journalisten und Redakteure, dass diese gezwungen werden, Beiträge zu schreiben, die sie nicht vertreten können oder die gar mit ihrem Gewissen unvereinbar sind.54 Die Arbeitnehmer genießen also gerade einen besonderen (Überzeugungs-)Schutz. Die Pressefreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG vermag dem Direktionsrecht des Arbeitgebers deshalb Grenzen zu setzen, es aber nicht zu erweitern.55 Gleiches gilt für die grundrechtlich geschützte Kunstfreiheit. Die Heranziehung von Art. 5 Abs. 3 GG auf Seiten der Arbeitgeberin hätte deshalb im Fall des LAG Düsseldorf unterbleiben müssen. Im Übrigen müsste man ansonsten die gleiche Freiheit zumindest auch auf Seiten des Arbeitnehmers würdigen. Aber selbst wenn man das anders sähe und dem Mitglied eines Orchesters eine gegenüber einem normalen Arbeitnehmer gesteigerte Treuepflicht auferlegen würde, ist das jedenfalls begründungsbedürftig.
III. Grundrechtsverzicht im Zivilrecht? Im Zusammenhang mit den Wirkungen der Grundrechte im Zivilrecht wird immer wieder die Figur des Grundrechtsverzichts thematisiert.56
______________ 53
BVerfG, NJW 1980, 1093, 1094. Lerche, Innere Pressefreiheit, 1974, S. 70 ff. Freilich ist der Verleger befugt, den Presseerzeugnissen eine bestimmte publizistische Richtung zu geben und sie seiner Meinung entsprechend zu gestalten (von Münch/Kunig-Wendt, GG, Art. 5 Rn. 39). 55 W. Weber, Innere Pressefreiheit, 1973, S. 71; s. hierzu auch ArbG Mannheim, AfP 1998, 240, 244 f. 56 LAG Hamm, NZA 2002, 675, 677; Adam, NZA 2003, 1375, 1377; Hild. Krüger, RdA 1954, 365, 373; Gläser, Einfluß der Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit, 1972, S. 122; Heffter, Glaubens- und Gewissensfreiheit im Schuldverhältnis, 1968, S. 67 ff.; Soergel-Teichmann, § 242 BGB Rn. 52; Preis/Greiner in: FS Rüfner, 2003, S. 653, 662; Zöllner, AcP 196 (1996), 1, 13 f. 54
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Kapitel 4: Eine verfassungsrechtliche Betrachtung
1. Der Verzicht auf Grundrechte im verfassungsrechtlichen Sinne Obwohl im Schrifttum monographisch erörtert,57 hat die Rechtsprechung dem Topos des Grundrechtsverzichts bislang keine große Aufmerksamkeit geschenkt.58 Im Allgemeinen wird unter einem Verzicht die Aufgabe eines Rechts durch den Berechtigten in rechtlich bindender Form verstanden. 59 Er kann kurzzeitig oder dauerhaft erfolgen, er kann widerruflich oder unwiderruflich erklärt werden. Herrschend wird ein Verzicht auf Grundrechtspositionen grundsätzlich für zulässig gehalten, denn auch die Aufgabe eines Rechts ist Grundrechtsausübung und zumindest von Art. 2 Abs. 1 GG geschützt.60 Allerdings werden Grenzen gesetzt. So wird die vollständige Aufgabe eines Grundrechts abgelehnt. Auf die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) könne man nicht verzichten und sofern man in jedem Grundrecht einen Menschenwürdekern erblickt, gilt dies auch hierfür. Eine weitere Grenze wird in der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG gesehen. Ob auf ein Grundrecht verzichtet werden kann, lässt sich nicht allgemein beantworten, sondern nur im Hinblick auf die einzelne grundrechtlich geschützte Rechtsposition; ein allgemeiner Einwilligungstatbestand wird abgelehnt. 61
2. Der Verzicht auf Grundrechte im Zivilrecht Bei der Übertragung dieser Grundsätze auf die Wirkungen von Grundrechten im zivilrechtlichen Bereich ist Vorsicht geboten. Der Verzicht auf ein Recht ist logisch nur dort möglich, wo ein Recht besteht. Grundrechte gelten normativ zwischen Bürger und Staat. Erkennt man ihre sog. Schutzgebotsfunktion an, gelten sie auch dann zwischen Bürger und Staat, wenn Privatrechtssubjekte zivilrechtlich agieren. Insoweit mag das Stichwort des Grundrechtsverzichts der richtige Topos sein, um darzustellen, inwieweit Parteien auf grundrechtlich relevante Positionen rechtswirksam verzichten können.
______________ 57 s. die Nachweise bei Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 86 I.2, S. 888 Fn. 5; einen knapperen Überblick bietet Robbers, JuS 1985, 925. 58 Das BVerfG hat in keinem Fall ausdrücklich von einem Grundrechtsverzicht gesprochen. Eine detaillierte Übersicht über die Rechtsprechung der Instanzgerichte gibt Stern, Staatsrecht, III/1, 1988, § 86 I.5, S. 899 ff. 59 Stern, Staatsrecht, III/1, 1988, § 86 I.4, S. 889 f. in Anlehnung an Quaritsch in: GS Martens, 1987, S. 407, 408. Der Terminus Grundrechtsverzicht wird allerdings nicht immer einheitlich verwendet. 60 Bleckmann, JZ 1988, 57, 58 f.; Stern, Staatsrecht, III/1, 1988, § 86 I.5, S. 894 ff. mwN. 61 Bleckmann, JZ 1988, 57, 62; Stern, Staatsrecht, III/1, 1988, § 86 I.4, S. 906 ff. mwN.
III. Grundrechtsverzicht im Zivilrecht?
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Geht es demgegenüber nicht um das Minimum an Grundrechtsschutz, das der Staat auch im Privatrechtsverkehr zu gewährleisten hat, sondern um originär zivilrechtliche Fragen, scheidet die Heranziehung der Figur des Grundrechtsverzichts aus. Wird eine einfach-rechtliche Norm wie z.B. § 138 BGB unter Zuhilfenahme von Grundrechten interpretiert (verfassungsfreundliche, systematische Auslegung), kann gewürdigt werden, ob und in welcher Weise der Belastete seine Zustimmung signalisiert hat; die strengen Voraussetzungen eines Grundrechtsverzichts müssen jedoch nicht erfüllt sein und so sollte denn die Verwendung dieses Begriffs vermieden werden. Ein Beispiel: Ein Arbeitnehmer verpflichtet sich arbeitsvertraglich dazu, bei Kollegen, Kunden und anderen Kontakten am Arbeitsplatz keine Werbung für die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas zu verbreiten, der er angehört. Stellt man zunächst die (verfassungsrechtliche) Frage, ob die grundrechtlichen Schutzpflichten es gebieten, dass der Staat den Arbeitnehmer insofern vor sich selbst schützt und eine solche Regelung für wirkungslos erklärt (durch § 138 BGB z.B.), mag man insofern von einem Grundrechtsverzicht sprechen, obwohl auch dies dogmatisch fragwürdig ist. Das Grundrecht (Art. 4 Abs. 2 GG) steht dem Arbeitnehmer gegenüber dem Staat zu, auch die hieraus resultierenden Schutzpflichten wenden sich an den Staat, der Verzicht wird aber gegenüber dem Arbeitgeber erklärt. Andererseits ist es ja gerade diese Dreiecksbeziehung, in der Grundrechte im Privatrechtsverkehr Wirkung entfalten. Wie dem auch sei, ein Verzicht auf die auch von der Religionsausübungsfreiheit geschützte Werbung für eine Gemeinschaft ist sicherlich möglich, so dass die Grundrechte (in ihrer „unmittelbaren“ Wirkung, als Schutzpflichten des Staates) es nicht gebieten, die Vertragsklausel für unwirksam zu erklären. Im Allgemeinen wird für einen Grundrechtsverzicht vorausgesetzt, dass der Verzichtende überhaupt Grundrechtsträger ist und dass er über das Grundrecht verfügen darf, was von der einzelnen Verfassungsbestimmung abhängt. Der Verzicht muss jedenfalls freiwillig, unzweideutig und hinreichend konkret erklärt werden.62 Häufig wird vorausgesetzt, dass er schriftlich erfolgt, was zumeist einem Rechtsgedanken aus § 130 BGB entnommen wird.63 Bereits hier zeigt sich, dass sich jene Anforderungen nicht nahtlos ins Zivilrecht einfügen, denn Arbeitsverträge müssen nun einmal nicht schriftlich abgeschlossen werden, was vor nicht allzu langer Zeit durch die Einfügung von § 623 BGB nochmals zum Ausdruck gebracht wurde, der nur für die Beendigung und nicht die Begründung von Arbeitsverhältnissen gilt.
______________ 62 63
Stern, Staatsrecht, III/1, 1988, § 86 II.6, S. 913 f. mwN. So Malorny, JA 1974, 475; Stern, Staatsrecht, III/1, 1988, § 86 II.6, S. 914 f.
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Kapitel 4: Eine verfassungsrechtliche Betrachtung
3. Freiwilligkeit als Abwägungskriterium auch im Zivilrecht Ist diese Frage geklärt und geht es um die zivilrechtliche nach einem gerechten Ausgleich zwischen den Parteien, können Grundrechte nur als Auslegungshilfe herangezogen werden. Jedenfalls in diesem Zusammenhang verbietet sich ein Rückgriff auf den Topos des Grundrechtsverzichts. Ob die Klausel im eben erwähnten Beispiel nach § 138 BGB oder § 307 Abs. 1 BGB unwirksam ist, muss zwar auch unter Würdigung der Verfassungsnormen entschieden werden. Und insofern ist zu beachten, dass der Arbeitnehmer den Vertrag freiwillig unterschrieben hat und Werbung nicht zu einem so zentralen Bestandteil der Religionsfreiheiten zählt, dass man nicht auf sie verzichten könnte. Ob hier ein Grundrechtsverzicht im originären Sinne vorliegt, ist aber unerheblich, weil die Grundrechte gerade keine normative Wirkung entfalten, sondern allein als Auslegungshilfe dienen. Verzichten kann man aber nur auf die Rechte, die einem auch zustehen. Ohnehin ist ein Verzicht häufig bloße Fiktion. Im Schrifttum wird immer wieder argumentiert, derjenige, der bei Vertragsschluss mit einem (Glaubensoder Gewissens-)Konflikt rechnen konnte, habe auf die Ausübung seines Grundrechtes verzichtet.64 Ein Grundrechtsverzicht muss aber gerade hinreichend konkret erklärt werden; selbst wenn der Arbeitnehmer mit Konflikten gerechnet hat, wird er regelmäßig darauf vertraut haben, dass sie sich einvernehmlich lösen lassen.65
IV. Wirkungen der Gleichheitsrechte im Zivilrecht Während Art. 4 Abs. 1 und 2 GG als Freiheitsrechte die religiöse Entfaltung schützen, verbietet Art. 3 Abs. 3 GG Benachteiligungen wegen der Religion. Die Wirkungen der Gleichheitsrechte im Privatrecht erfreuen sich weit weniger Diskussion als die der Freiheitsrechte. Angesichts des nun europarechtlich geforderten (einfach-rechtlichen) Diskriminierungsverbots wegen der Religion (vgl. § 7 Abs. 1 und § 1 AGG), gewinnt die Wirkung von Art. 3 Abs. 3 GG indes an Bedeutung. Gebietet womöglich bereits die Verfassung, dass auch im Privatrechtsverkehr Diskriminierungen wegen der Religion verboten sind? Oder gebietet Art. 3 Abs. 1 GG gar, dass der Arbeitgeber bei der Einstellung von Bewerbern nur nach objektiven, in der Arbeitsleistung begründeten Kriterien entscheidet? ______________ 64 So Hild. Krüger, RdA 1954, 365, 373; Gläser, Einfluß der Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit, 1972, S. 122; MüKo-Emmerich, 3. Aufl. 1994, § 275 BGB Rn. 38. 65 Isenhardt, Freiheit des Gewissens im Privatrecht, 1972, S. 121 f.; Hoevels, Islam und Arbeitsrecht, 2003, S. 74
IV. Wirkungen der Gleichheitsrechte im Zivilrecht
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1. „Mittelbare Drittwirkung“ der Gleichheitsrechte als Teil einer objektiven Werteordnung Dass auch die Gleichheitsrechte Teil der von der Verfassung aufgestellten objektiven Werteordnung sind, wird nicht bestritten.66 Die Verfassung enthält grundlegende Regelungen, die das menschliche Zusammenleben prägen sollen und hierzu gehören neben Freiheits- eben auch Gleichheitsrechte. Gesetze können deshalb nicht bloß im Lichte von Art. 4, Art. 5 oder Art. 12 GG, sondern auch anhand von Gleichheitsrechten interpretiert werden. Manche Verfassungsnormen enthalten ohnehin sowohl gleichheits- als auch freiheitssichernde Funktionen, so schützt bspw. Art. 6 Abs. 1 GG einerseits die Freiheit, über die Art und Weise der Gestaltung des ehelichen und familiären Zusammenlebens selbst zu entscheiden,67 und verbietet andererseits, Ehe und Familie gegenüber anderen Lebens- und Erziehungsgemeinschaften schlechter zu stellen.68
2. Das grundrechtlich gebotene Schutzminimum Bislang ungeklärt ist hingegen, ob auch den Gleichheitsrechten, namentlich Art. 3 Abs. 3 und Abs. 1 GG, ein grundrechtlich gebotenes Schutzminimum zu entnehmen ist, das die Zivilrechtsordnung zu sichern hat. M.a.W.: Gebieten Art. 3 Abs. 3 und Abs. 1 GG, dass auch Privatleute in bestimmten Bereichen und bei bestimmten Handlungen einander gleich zu behandeln haben, ungeachtet v.a. der in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmale? Ein Blick ins Schrifttum offenbart große Uneinigkeit. 69 Die Stellungnahmen reichen von der gänzlichen Ablehnung von Schutzpflichten aus Gleichheitsrechten70 bis zu solchen, die sämtliche Gleichheitsrechte für schutzpflichttauglich halten.71 Zwischen diesen Positionen finden sich einige Differenzierungen. Manche halten zwar den allgemeinen Gleichheitssatz für nicht schutzpflichttauglich, folgern aber aus den besonderen Diskriminierungsverboten (Art. 3 ______________ 66
Jedenfalls nicht von denen, die diese objektive Werteordnung anerkennen, s. nur Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 69 II.3, S. 917 mwN. 67 BVerfG, NJW 1983, 271. 68 BVerfG, NJW 1999, 557, 558. 69 Eine Übersicht bietet Szczekalla, Schutzpflichten, 2002, S. 338 f.; ausführlich zu Schutzpflichten aus Gleichheitsrechten Dammann, Diskriminierung im allgemeinen Zivilrecht, 2005, S. 84 ff. 70 J. Isensee in: Hb Staatsrecht V, § 111 Rn. 96; Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 76 IV.6.c), S. 1580 f.; i.E. wohl auch Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 409, s. hierzu Fn. 82. 71 Aussem, Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das Arbeitsrecht, 1994, S. 104 und 109 ff.; Dammann, Diskriminierung im allgemeinen Zivilrecht, 2005, S. 85 ff.; Szczekalla, Schutzpflichten, 2002, S. 338 f.; Unruh, Schutzpflichten, 1996, S. 75.
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Kapitel 4: Eine verfassungsrechtliche Betrachtung
Abs. 3, Art. 6 GG etc.) Pflichten des Staates zum Schutz vor Beeinträchtigungen durch Dritte.72 Andere verneinen dies, bejahen aber die Schutzpflichttauglichkeit von Art. 3 Abs. 2 GG in Bezug auf die Gleichberechtigung der Geschlechter.73 Um dieser Frage nachzugehen, ist zwischen dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und den besonderen Gleichheitssätzen zu trennen, von denen hier allein Art. 3 Abs. 3 GG in die Untersuchung einbezogen wird.
a) Der allgemeine Gleichheitssatz Das überwiegende Schrifttum sieht im allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG keinen Mindestschutz, den der Staat auch zwischen Privatleuten zu wahren hätte.74 Dem ist zuzustimmen, denn sowohl Wortlaut als auch Zweck des Art. 3 Abs. 1 GG sind eindeutig. „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Das Gesetz erlässt der Gesetzgeber, nicht ein Privatmann und auch nicht der Arbeitgeber, der sich womöglich an selbstgesetzte Normen halten muss. Die grammatikalische Betrachtung lässt kaum einen anderen Schluss zu, als hierin allein eine Aufgabe des Gesetzgebers und der vollziehenden Gewalt zu sehen.75 Gegenüber privaten Dritten ist die von Art. 3 Abs. 1 GG gewährleistete Rechtssetzungs- und Rechtsanwendungsgleichheit auch nicht zu schützen, denn Private können sie nicht beeinträchtigen. 76 Aus Art. 3 Abs. 1 GG lässt sich demnach kein Schutzminimum ableiten. Dieser Befund ändert indes nichts daran – darauf sei hingewiesen –, dass der allgemeine Gleichheitssatz im Rahmen einer einfachen, systematischen Auslegung herangezogen werden kann. Unterliegt der Arbeitgeber bspw. aus arbeitsrechtlichen Gesichtspunkten heraus einer Pflicht zur Gleichbehandlung, kann zur Interpretation und Konkretisierung auf die Erkenntnisse zu Art. 3 Abs. 1 GG zurückgegriffen werden. So sieht auch das BAG den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz als „inhaltlich durch den allgemeinen Gleichheits______________ 72
Dietlein, Schutzpflichten, 1992, S. 84 f.; Canaris, AcP 184 (1984), 201, 235 ff.; Erichsen, Jura 1997, 85, 87; Classen (AöR 122 (1997), 65, 93) hält Schutzpflichten allein aus den speziellen Gleichheitssätzen für „ernsthaft diskutabel“. 73 Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 76 IV.5, S. 1573 und § 76 IV.6, S. 1581; vgl. auch Classen, AöR 122 (1997), 65, 93. 74 Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 356; G. Hueck, Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung, 1958, S. 97 ff.; Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 403; Palandt-Heinrichs, § 242 BGB Rn. 9. Dieser Ansicht sind auch die meisten derjenigen, die aus Art. 3 Abs. 3 GG ein Schutzminimum ableiten, s. Fn. 72 und zur gegenteiligen Ansicht Fn. 71. 75 Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 403. 76 Dietlein, Schutzpflichten, 1992, S. 84.
IV. Wirkungen der Gleichheitsrechte im Zivilrecht
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satz des Art. 3 Abs. 1 GG“ bestimmt, 77 betont aber, dass „[d]er Gleichheitssatz des Grundgesetzes (...) mit dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verwechselt werden“ dürfe.78
b) Ein Schutzminimum aus Art. 3 Abs. 3 GG? Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob aus dem besonderen Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG ein Schutzminimum abzuleiten ist, das der Staat auch gegenüber privaten Dritten zu wahren hat. M.a.W.: Dürfen Private im Zivilrechtsverkehr gerade auch nach den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten verpönten Merkmalen (Staatsangehörigkeit, Rasse, Religion, politische Anschauungen etc.) unterscheiden oder muss der Staat hier eingreifen, um solches zu verhindern? Verneint man eine staatliche Schutzpflicht, darf der Arbeitgeber – lässt man das Antidiskriminierungsrecht zunächst einmal außer acht – bspw. bei der Einstellung nach der Religion unterscheiden.
aa) Gleichbehandlung contra Privatautonomie Auch die Schutzpflichten werden zumeist dem objektiv-rechtlichen Charakter der jeweils einschlägigen Grundrechtsnorm entnommen.79 Da auch Gleichheitsrechte Teil dieser Werteordnung sind, ist ein Mindeststandard, den der Staat auch im Privatrechtsverkehr zu sichern hat, prinzipiell denkbar. Allerdings muss nicht aus jedem Grundrecht ein solcher Mindestschutz folgen und für Gleichheitsrechte ist Vorsicht geboten. Geprägt sind Privatrechtsverhältnisse gerade von der Freiheit, Verträge abzuschließen (oder es sein zu lassen), den Inhalt der Verträge selbst zu bestimmen und sich den Vertragspartner frei aussuchen zu können – und nicht von der Gleichbehandlung. So wurde vor allem gegen die unmittelbare Wirkung der Grundrechte im Zivilrecht stets angeführt, dies führe zur Abschaffung der Privatautonomie.80 Die Einbeziehung der Gleichheitsrechte in die sog. mittelbare Grundrechtswirkung würde aber zum gleichen Ergebnis führen, jedenfalls zu einer starken Einschränkung privatautonomer Freiheit.81 Dies müssen auch diejenigen zugeben, ______________ 77
BAG, NZA 1999, 606, 608. BAG, NJW 1957, 318; hierzu nochmals sogleich in Abschnitt IV.2.b)bb). 79 s. die Nachweise in Fn. 20. 80 Exemplarisch Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 76 III.2.b), S. 1555: „Dies wäre in der Tat das Ende des Privatrechts“. 81 J. Isensee in: Hb Staatsrecht V, § 111 Rn. 96; Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 76 IV.5, S. 1572 f.; Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 356. 78
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Kapitel 4: Eine verfassungsrechtliche Betrachtung
die aus den Gleichheitssätzen Schutzpflichten gewinnen wollen.82 Wenn Canaris zur Rechtfertigung anführt, „daß ein legitimes Interesse an der Vornahme von Diskriminierungen durch den Inhalt von Rechtsgeschäften nicht ersichtlich ist“83, handelt es sich um ein rechtspolitisches, nicht um ein normatives Argument. Im Privatrechtsverkehr bedarf es keines legitimen Interesses, um Verträge abzuschließen oder zu verweigern. Unangemessenen Rechtsausübungen muss der einfache Gesetzgeber entgegentreten, soweit er es für richtig hält und die Gerichte sind aufgerufen, diese Wertungen umzusetzen. Die Verfassung stellt nur äußerst geringe Vorgaben auf. Sie zu erhöhen, indem Entscheidungen als verfassungsrechtlich determiniert dargestellt werden, führt zur zunehmend häufiger kritisierten Überfrachtung des einfachen Rechts durch grundrechtliche Wertungen.84
bb) Systematik und Zweck des Art. 3 Abs. 3 GG Gegen die Annahme eines gleichheitsrechtlichen Minimums spricht ein weiterer Einwand: Art. 3 Abs. 3 GG stellt nach allgemeiner Auffassung eine besondere Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes dar.85 Rüfner konstatiert etwa ausdrücklich: „Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG stellt also weithin nur klar, was ohnehin schon gilt.“86 Die Norm soll dem Gesetzgeber allein besonders enge Grenzen setzen, wenn es um Ungleichbehandlungen von Personen aufgrund der genannten Merkmale geht. Wenn aber Art. 3 Abs. 3 nur ein Spezialfall von Abs. 1 darstellt und dieser gerade nur Gleichheit vor dem Gesetz fordert, ist kaum erklärbar, dass die ihn konkretisierende Norm weit darüber hinaus reichen und auch („mittelbar“) für den Privatrechtsverkehr Geltung beanspruchen soll.87 Die Ergänzung des allgemeinen Gleichheitssatzes um Abs. 3 ist vielmehr historisch bedingt und resultiert vor allem aus den Erfahrungen des totalitären Systems des „Dritten Reiches“;88 neben der Systematik legt damit auch der ______________ 82
So etwa Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 408; Canaris, AcP 184 (1984), 201, 236 f. Canaris, AcP 184 (1984), 201, 237. 84 s. bereits Abschnitt II. 85 s. nur von Münch/Kunig-Gubelt, GG, Art. 3 Rn. 1; Sachs-Osterloh, GG, Art. 3 Rn. 78; BK-Rüfner, GG, Art. 3 Rn. 541; MKS-Starck, GG, Art. 3 Rn. 366; zu Art. 3 Abs. 3 GG speziell in Bezug auf Religion und Weltanschauung Borowski, Glaubens- und Gewissensfreiheit, 2006, S. 703 ff. 86 BK-Rüfner, GG, Art. 3 Rn. 541. 87 Zahlreiche GG-Kommentare stellen (dem gesamten) Art. 3 deshalb auch die Überschrift „Gleichheit vor dem Gesetz“ voran, so etwa Sachs-Osterloh; AK-Stein; Umbach/ClemensPaehlke-Gärtner. 88 Zur Entstehungsgeschichte v. Doemming/Füsslein/Matz, JöR n.F. 1 (1951), 66, 69; Hesse, AöR 109 (1984), 174 ff. 83
IV. Wirkungen der Gleichheitsrechte im Zivilrecht
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historische Kontext eine Beschränkung auf Gleichheit vor und durch den Staat nahe. Ein gleichheitsrechtliches Schutzminimum aus Art. 3 Abs. 3 GG würde überdies weiter reichen als häufig angenommen. Verboten sind danach nicht nur Schlechterstellungen aufgrund eines der genannten Merkmale, sondern auch die Besserstellung Einzelner („Niemand darf ... benachteiligt oder bevorzugt werden.“) Solches verbietet aber nicht einmal der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz.89 Würde man in Art. 3 Abs. 3 GG auch Anforderungen für die Regelung des Privatrechtsverkehrs sehen, wäre der Gleichbehandlungsgrundsatz im Arbeitsrecht wohl eines der ersten Anwendungsbeispiele. Schließlich wird gerade für das Arbeitsrecht immer wieder die Bedeutung der Grundrechte betont.90 Dann wäre es allerdings inkonsequent, Art. 3 Abs. 3 GG nur in einer Tatbestandsalternative zur Geltung zu bringen. Stattdessen ist der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz nicht Ausdruck von Verfassungsrecht, sondern arbeitsrechtlicher Besonderheiten.91 Es besteht weitgehend Einigkeit darin, dass er nicht aus Art. 3 GG abzuleiten ist, sondern aus arbeitsrechtlichen Prinzipien, wenn auch umstritten ist, aus welchen.92 Die Ansätze sind vielfältig. Vorgeschlagen wird u.a., ihn aus der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers93 bzw. dem Bestehen eines Gemeinschaftsverhältnisses94 herzuleiten, dem Gebot zu Treu und Glauben,95 dem Machtgefälle zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer,96 dem Ideal der (Verteilungs-)Gerechtigkeit97 dem Vollzug einer selbstgesetzten Norm oder (mittlerweile) dem Gewohnheitsrecht98 – nicht aber aus Grundrechten. Bereits in einem Urteil aus dem Jahre 1956 – also zu einer Zeit, zu der das BAG noch von der unmittelbaren Bindung des Arbeitgebers an die Grundrechte ausging – widmete das Gericht einen Leitsatz der Erkenntnis, dass der arbeitsrechtliche nicht mit dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz ______________ 89
s. hierzu Kap. 6 III.1 und die dortigen Nachweise. s. die Einl. zu Kap. 4 und Abschnitt I. 91 ErfK-Dieterich, Art. 3 GG Rn. 30; Maute, Gleichbehandlung, 1993, S. 20 f.; hier findet sich auch ein Überblick über die Begründungsansätze. 92 A.A. Gamillscheg, Arbeitsrecht I, S. 80, der allerdings auch nahezu allein auf weiter Flur für eine unmittelbare Bindung des Arbeitgebers an die Grundrechte eintritt; s. hierzu Abschnitt V. 93 Vgl. RAG, ARS 33, 172, 176; BAG, AP Nr. 3 zu § 242 BGB Gleichbehandlung; G. Hueck, Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung, 1958, S. 58 f. 94 G. Hueck, Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung, 1958, S. 127 ff. 95 BAG, AP Nr. 15 zu § 242 BGB Gleichbehandlung unter II. 3.a) der Gründe; Kunkel, DB 1953, 693, 694. 96 L. Raiser, JZ 1958, 1, 3 ff.; Söllner/Waltermann, Arbeitsrecht, Rn. 772. 97 MüKo-Müller-Glöge, § 611 BGB Rn. 1121; MünchHbArbR-Richardi, § 14 Rn. 8. 98 Boemke, NZA 1993, 532, 536; dagegen MünchHbArbR-Richardi, § 14 Rn. 8. 90
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Kapitel 4: Eine verfassungsrechtliche Betrachtung
verwechselt werden dürfe.99 Heute nimmt das Gericht zwar im Zusammenhang mit dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz immer wieder auf Art. 3 GG Bezug, führt aber aus, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz „inhaltlich durch den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG“ bestimmt werde.100 Er folgt indes nicht aus dem verfassungsrechtlichen Gebot zur Gleichbehandlung.
3. Ergebnis Es spricht einiges dafür, ein gleichheitsrechtliches Schutzminimum aus Art. 3 Abs. 3 GG abzulehnen. Der Staat ist nicht gehalten, Private zur Gleichbehandlung untereinander zu verpflichten. Mangels spezieller zivilrechtlicher Regelungen durfte deshalb der Arbeitgeber vor Erlass der Antidiskriminierungsrichtlinien Bewerber um einen Arbeitsplatz auch nach der Religion, der Hautfarbe oder der Nationalität aussuchen. Hierin liegt eine der bedeutendsten Folgen des AGG. Der Arbeitgeber wird dadurch ausdrücklich auch bei der Einstellung von Bewerbern verpflichtet, niemanden aufgrund der verpönten Merkmale zu diskriminieren (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG; hierzu Kap. 6).
V. Grundrechte speziell im Arbeitsrecht Eine Modifikation dieser allgemeinen Grundsätze für das Arbeitsrecht ist – das sei vorweggenommen – nicht geboten.101
1. Grundrechtswirkungen im Arbeitsrecht Arbeitsverhältnisse sind seit der Industrialisierung geprägt von Über-/Unterordnungsverhältnissen. Der Arbeitgeber ist Inhaber der Produktionsmittel, der Arbeitnehmer ist zur Sicherung seiner Existenz darauf angewiesen, ihm seine Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Es besteht zwar rechtliche Parität, aber keine tatsächliche. In der Praxis kann der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einerseits in aller Regel die Konditionen des Arbeitsverhältnisses diktieren und andererseits hat er während des Arbeitsverhältnisses das Weisungsrecht inne. Um ______________ 99
BAG v. 09.11.1956 – 1 AZR 75/55, NJW 1957, 318. BAG, NZA 1999, 606, 608 f. 101 Vgl. Bauschke, ZTR 1994, 490, 492; Oeter, AöR 119 (1994), 529, 542 ff.; Oetker, RdA 2004, 8, 10 f.; Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 76 IV.8, S. 1591 ff.; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, § 7 I, S. 90 ff. 100
V. Grundrechte speziell im Arbeitsrecht
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diesem Machtgefälle angemessen zu begegnen, wendete das BAG unter dem Einfluss seines ersten Präsidenten Hans Carl Nipperdey102 zu Anfang die Grundrechte unmittelbar an, rückte jedoch bald hiervon wieder ab.103 Einen weiteren Ansatz lieferte Gamillscheg, indem er die unmittelbare Geltung der Grundrechte zwar ebenfalls verneinte, jedoch eine Analogie befürwortete.104 Soziale Mächte, zu denen vor allem Arbeitgeber zählten, müssten erst recht an die Grundrechte gebunden sein: Wenn diese schon für den Staat gelten, dann – a maiore ad minus – auch für Unternehmer. Denn erstens sei der Staat im Gegensatz zum einzelnen Arbeitgeber demokratisch legitimiert und zweitens beabsichtige der Gesetzgeber die Förderung des Gemeinwohls, der Unternehmer hingegen strebe nach Gewinn. So gravierend das Machtgefälle zwischen den Arbeitsvertragsparteien auch sein mag, so wenig überzeugt doch die analoge Heranziehung der Grundrechte. Die wesentlichen Argumente sind bereits genannt worden: Arbeitsrecht bleibt trotz in weiten Bereichen bestehender Vertragsdisparität nun einmal Privatrecht105 und so bleibt der Unternehmer Privatperson und wird nicht durch Erlangung faktischer, sozialer Macht zu einem Teil des Staates.106 Und eine Bindung von Privaten an die Grundrechte ist ausgeschlossen. Gerade im Arbeitsrecht kommt man über den Umkehrschluss zur ausdrücklichen Anordnung der unmittelbaren Grundrechtswirkung in Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG nicht hinweg. 107 Es besteht also weder eine planwidrige Regelungslücke, noch eine vergleichbare Interessenlage, die eine analoge Anwendung der Grundrechte, wie sie Gamillscheg vorschlägt, notwendig werden ließe. Um einen hinreichenden Schutz des Arbeitnehmers zu garantieren, bedarf es auch der normativen Geltung der Grundrechte nicht. Der Staat hat – wenn man eine Schutzgebotsfunktion der Grundrechte anerkennt – den Arbeitnehmer auch in einer übermäßigen grundrechtlich relevanten Störung durch Dritte, also auch durch den Arbeitgeber, zu schützen. Ein gewisser Mindeststandard ist deshalb gesichert. Darüber hinaus mag zwar politisch ein Mehr an Schutz sinnvoll und wünschenswert sein, er ist aber Sache des (einfachen) Gesetzgebers.
______________ 102
Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, 1961, S. 14; Enneccerus/Nipperdey, BGBAT I, 1959, S. 91, 93 ff.; s. auch Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 285 ff. 103 s. die Nachweise in Fn. 6. 104 Gamillscheg, Grundrechte im Arbeitsrecht, S. 31 ff.; ders. AcP 164 (1964), 385, 419 ff. 105 Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 76 IV.8.c), S. 1591. 106 Ausführlich Stern, Staatsrecht III/1, 1988, § 76 IV.8.c), S. 1591 f. 107 Zöllner, AcP 196 (1996), 1, 8; Erichsen, Jura 1996, 527, 530.
104
Kapitel 4: Eine verfassungsrechtliche Betrachtung
2. Sicherung privatautonomer Arbeitsverträge Eine besondere Bedeutung im Arbeitsrecht erfährt dabei die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Privatautonomie. Art. 2 Abs. 1 GG verlangt, dass Privatrechtssubjekten ein gewisses Minimum an wirklicher Entscheidungsmöglichkeit verbleibt.108 Das BVerfG erkannte diesen – wie Stern formulierte – „mitunter vergessen[en]“109 grundrechtlichen Schutzauftrag an. Am bekanntesten sind die sog. Handelsvertreterentscheidung zu § 90a HGB110 sowie die Bürgschaftsentscheidungen111. Die Gewährleistung privatautonomer Handlungsfreiheit ist freilich keine dogmatische Besonderheit des Arbeitsrechts; stattdessen kommt es aus rein tatsächlichen Gründen im Arbeitsverhältnis häufig zu einer gestörten Vertragsparität, die einen Schutz des Arbeitnehmers vor sich selbst gebietet.112 Das BAG hat sich dem angenommen und zieht fremdbestimmten, vom Arbeitgeber diktierten vertraglichen Regelungen Grenzen. 113 Die Sicherung privatautonomer Entscheidungen des Arbeitnehmers ist keine Frage, die sich speziell um religiöse Konflikte im Arbeitsverhältnis rankt. Insoweit muss auf die allgemeine Literatur verwiesen werden.114
3. Auslegung von Arbeitsverträgen im Lichte der Grundrechte Nicht nur das Zustandekommen von Arbeitsverträgen kann verfassungsrechtlichen Zweifeln begegnen, auch deren Inhalt. Für die Behandlung religiöser Konflikte stellt sich damit die Frage, inwieweit Verträge an Grundrechten, speziell an Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu messen sind.
______________ 108 Maunz/Dürig-Di Fabio, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 107 ff.; s. auch Singer, JZ 1995, 1133, 1138 ff. 109 Stern, Staatsrecht, III/1, 1988, § 76 IV.8, S. 1595. 110 BVerfG, NJW 1990, 1469; s. hierzu die Anm. von Canaris in AP Nr. 65 zu Art. 12 GG; s. auch BVerfG, AP Nr. 35 zu Art. 2 GG und Oldiges in: FS Friauf, 1996, S. 281, 295 ff. 111 BVerfG, NJW 1994, 36 und NJW 1994, 2749; s. hierzu Fastrich, RdA 1997, 65. 112 s. Singer, JZ 1995, 1133, 1138 ff.; Preis, Vertragsgestaltung, 1993, S. 37 ff., der außer einer eigenen Würdigung auch eine Übersicht über Rechtsprechung und Schrifttum bereitstellt. 113 s. beispielhaft BAG, AP Nr. 18 und 19 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe. 114 Lieb, AcP 178 (1978), 196; Preis, Vertragsgestaltung, 1993; Zöllner, AcP 196 (1996), 1 jeweils mwN.
V. Grundrechte speziell im Arbeitsrecht
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a) Verfassungskonforme Auslegung von Arbeitsverträgen Das BAG hat in der Vergangenheit Arbeitsverträge häufig „verfassungskonform“ ausgelegt. Ein Arbeitsvertrag, der eine Nebentätigkeit des Arbeitnehmers von einer Genehmigung des Arbeitgebers abhängig macht, sei bspw. verfassungskonform dahin auszulegen, dass der Arbeitgeber die begehrte Nebentätigkeit nur verbieten könne, wenn er an ihrer Unterlassung ein berechtigtes Interesse habe.115 Ebenso könnte das BAG auf den Gedanken kommen, vertragliche Abreden, die die Religionsfreiheit des Arbeitnehmers tangieren wie z.B. ein Kopftuchverbot am Arbeitsplatz verfassungskonform auszulegen und sie in ihrem Geltungsbereich zu reduzieren. Hier wie dort sind dieser Terminus und die dahinterstehende Methodik verfehlt. Die Grundrechte wenden sich gerade nicht an Private und können deshalb auch keine Handlungsge- oder -verbote aufstellen wie die Arbeitsvertragsparteien ihre Verträge auszugestalten haben. Sie stellen aber – und darin liegt der kleine aber feine Unterschied – Anforderungen an die Zivilrechtsordnung. Diese muss dafür sorgen, dass bestimmte, den Arbeitnehmer in grundrechtlichen Freiheiten zu stark einschränkende Klauseln keine Wirkungen entfalten. Insofern können § 138 BGB, § 242 BGB oder § 307 BGB dahin ausgelegt werden, dass sie eine solche Klausel für nichtig erklären, Maßstab für den Arbeitsvertrag selbst ist aber nicht das Grundgesetz, sondern der Wille der Parteien.116 Ebenso wenig wie Grundrechte (außer Art. 9 Abs. 3 GG) als Verbotsgesetze im Rahmen von § 134 BGB herangezogen werden können,117 ist eine verfassungskonforme Vertragsauslegung möglich. Beides sind Überbleibsel der Lehre einer unmittelbaren Grundrechtsbindung118 des Arbeitgebers. Die verfassungskonforme Auslegung von Arbeitsvertragsklauseln, die das BAG vornimmt, führt dazu, dass diese Klauseln so aufrecht erhalten werden, dass sie gerade noch den von der Verfassung garantierten Gewährleistungen gerecht werden. Das ist nichts anderes als eine geltungserhaltende Reduktion.119 Und sie ist eine Frage des Zivilrechts, nicht des Verfassungsrechts. ______________ 115
BAG, AP Nr. 60 und 68 zu § 626 BGB; vgl. auch BAG, NZA 2002, 965, 967: Hier verwendet das Gericht zwar nicht den Topos der verfassungskonformen Auslegung, stellt aber fest, dass die arbeitsvertragliche Klausel mit Art. 12 GG vereinbar sei. Dies ist nichts anderes als eine – unzulässige – Prüfung des Vertrags am Maßstab der Verfassung. 116 A.A. Wank, Nebentätigkeit, 1995, Rn. 366; ders., Anm. zu BAG, AP Nr. 5 zu § 611 BGB Nebentätigkeit, unter III. 2.; s. aber Larenz, Methodenlehre, S. 346 f. 117 So die Rechtsprechung bis in die heutige Zeit, etwa BAG v. 18.11.1988 – 8 AZR 12/86, NZA 1989, 389, 390; bestätigt durch BAG v. 06.09.1990 – 2 AZR 165/90, NZA 1991, 221, 223; s. auch Kap. 5 III.1. 118 Zu ihr Abschnitt II.1. 119 Preis, Vertragsgestaltung, 1993, S. 155.
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Kapitel 4: Eine verfassungsrechtliche Betrachtung
Art. 12 Abs. 1 GG mag fordern, dass eine Abrede, die die Genehmigung von Nebentätigkeiten des Arbeitnehmers in das freie Ermessen des Arbeitgebers stellt, so nicht Geltung beanspruchen darf. Ob und inwiefern sie aber reduziert gilt (also z.B. beschränkt auf die Fälle eines berechtigten Interesses des Arbeitgebers), oder ob sie insgesamt unwirksam ist (so dass Nebentätigkeiten ohne Genehmigung zulässig sind), vermag Art. 12 GG nicht zu klären. Dies ist eine Frage des einfachen Rechts, der sich das BAG nicht ausreichend stellt, wenn es Klauseln verfassungskonform auslegt. Gerade gegen die daraus resultierende geltungserhaltende Reduktion bestehen erhebliche Bedenken. Der Arbeitgeber ist nicht gehalten, zu versuchen, angemessene Klauseln im Arbeitsvertrag zu vereinbaren. Praktisch ohne Risiko kann er stark belastende und damit einseitig für ihn günstige Regelungen aufnehmen, da sie ein Gericht im Ernstfall ohnehin auf das gerade noch zulässige Maß zurecht stutzt.120 Dem Schutz des Arbeitnehmers läuft die sonst so arbeitnehmerfreundliche Rechtsprechung der Arbeitsgerichte mit der Konstruktion einer verfassungskonformen Vertragsauslegung daher diametral entgegen. Sie ist weder methodisch korrekt noch praktisch sinnvoll.
b) Verfassungsfreundliche Auslegung von Arbeitsverträgen Aber auch eine systematische, verfassungsfreundliche Auslegung von Arbeitsverträgen im Lichte der Grundrechte ist nicht statthaft.121 Arbeitsverträge sind privatautonome Vereinbarungen, die einzig auf dem Willen der Vertragsparteien beruhen. Die Auslegung von Verträgen dient dazu, diesen Willen – so, wie er sich im Vertrag niedergeschlagen hat – zu erforschen und damit den Inhalt des Vertrags zu ermitteln. Wenn man hierzu grundrechtliche Gewährleistungen heranzieht, unterstellt man den Vertragsparteien, sie wollten die Grundrechte des jeweils anderen wahren. Das aber ist bloße Fiktion.122 Im Gegenteil wird jede Partei in der Regel versuchen, für sich selbst optimale Bedingungen auszuhandeln, ohne Wert darauf zu legen, dass diese auch für den Vertragspartner angemessen sind. Sollte dem Arbeitgeber im Einzelfall daran gelegen sein, z.B. gerade auf die religiösen Bedürfnisse seiner Arbeitnehmer besondere Rücksicht zu nehmen, kann dieser Wille nach § 133 BGB Einfluss auf die Interpretation des Arbeitsvertrags erlangen. Und für die Frage, welche Bedürfnisse religiöser Art sind, kann dann auch auf die Erkenntnisse zu Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zurückgegrif______________ 120
Preis, Vertragsgestaltung, 1993, S. 155. Zum Unterschied s. Abschnitt II. 122 Preis, Vertragsgestaltung, 1993, S. 154 f.; s. auch Larenz, Methodenlehre, S. 346 f. 121
VI. Schutzpflichten aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG
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fen werden. Dies dient dann aber der Erforschung des Parteiwillens und nicht der Realisierung (vermeintlichen) verfassungsrechtlichen Einflusses. Dem Gesetzgeber darf unterstellt werden, er wolle verfassungskonform handeln, nicht aber dem Arbeitgeber, der an Grundrechte nicht gebunden ist. Gegenstand verfassungsrechtlicher Kontrolle sind nicht die Arbeitsvertragsklauseln, sondern die Vertragskontrollnormen.
VI. Schutzpflichten aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG Nachdem nun die grundlegenden verfassungsrechtlichen Vorgaben geklärt wurden, soll ein Blick speziell auf die Gewährleistungen von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geworfen werden.123 Der Frage, was eine Religion ist, wurde bereits nachgegangen (s. Kap. 2 I). Nun muss – soweit möglich – der Mindeststandard präzisiert werden, den Art. 4 Abs. 1 und 2 GG für das Arbeitsrecht gebieteten.124 M.a.W.: Was ist in Bezug auf die religiöse Freiheit im Arbeitsleben bereits verfassungsrechtlich geboten (und muss mit Hilfe des Zivilrechts umgesetzt werden), so dass sich auch der (einfache) Gesetzgeber hierüber nicht hinwegsetzen kann?
1. Notwendige Differenzierungen Die bereits dargelegten Differenzierungen dürften bereits von Verfassungs wegen beachtlich sein. Aufgrund der unterschiedlichen Konfliktanfälligkeit von Religionsausübung und Glauben einerseits und der unterschiedlichen Verbindlichkeit von Religionsausübung und Gewissen andererseits müssen die einzelnen von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleisteten Freiheiten voneinander getrennt werden. Die Würdigung dieser Unterschiede ist auch im Rahmen der Schutzpflichten von Bedeutung. Nicht jede Maßnahme wirkt gleich intensiv: Wird einem Arbeitnehmer verboten, in eine Religionsgemeinschaft einzutreten oder wird er nur unter der Bedingung eingestellt, dass er in eine bestimmte Gemeinschaft eintritt, ist dies eine weitaus intensivere Maßregelung als das Verbot, ein Kruzifix offen um den Hals zu tragen und es stattdessen unter dem Hemd zu verstecken. Dementsprechend wird man privatrechtliche Beschränkungen der Religionsausübung aus verfassungsrechtlichen Gründen in weitem Maße zulassen müssen, sofern ______________ 123 Zur Begründung von Schutzpflichten aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG s. Borowski, Glaubens- und Gewissensfreiheit, 2006, S. 623 ff. mwN. 124 Zur Dogmatik der Schutzpflichten existiert mittlerweile umfangreiche Literatur; selten werden diese jedoch konkret auf die einzelnen Grundrechte herunter gebrochen.
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Kapitel 4: Eine verfassungsrechtliche Betrachtung
den jeweils betroffenen Arbeitnehmern die Möglichkeit zur Ausübung ihres Glaubens außerhalb des Arbeitslebens verbleibt. Beschränkungen des Glaubens selbst oder gar des Gewissens müssen demgegenüber unter dem Blickwinkel grundrechtlicher Schutzpflichten geprüft werden. Sie sind jedenfalls rechtfertigungsbedürftig. Beschränkungen der religiösen Betätigungsfreiheit während der Arbeit sind – soweit davon nicht imperative Glaubensgebote betroffen sind – danach grundsätzlich zulässig. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist nichts dagegen einzuwenden, dass der Arbeitsvertrag religiöse Werbung oder religiöse Symbole am Arbeitsplatz verbietet, sofern die Vereinbarung privatautonom und nicht fremdbestimmt getroffen wird.125 Im Einzelfall kann es sein, dass eine solche Vereinbarung dennoch unwirksam ist oder dass sich der Arbeitgeber auf sie nicht berufen kann. Dann ist dies aber Ausfluss einer zivilrechtlichen Überlegung (die in Zukunft maßgeblich vom AGG bestimmt werden wird), auch wenn bspw. § 138 oder § 242 BGB im Lichte von Art. 4 GG ausgelegt werden. Seine Fürsorgepflicht kann es dem Arbeitgeber gebieten, dass er seinen Mitarbeitern die Möglichkeit beläst, in begrenztem Umfang für ihre Religionen zu werben, weil bei der Bestimmung von Fürsorgepflichten auch die Wertentscheidungen der Grundrechte herangezogen werden. Verfassungsrechtlich geboten ist das aber nicht. Wenn kein Arbeitnehmer im Betrieb gegen den Willen des Arbeitgebers Werbung für seine Religionsgemeinschaft betreiben dürfte, wäre dies zwar mit einem Verlust an religiöser Vielfalt verbunden, es wäre aber mit der Gewährleistung von Art. 4 Abs. 2 GG zu vereinbaren, der nun einmal Dritten gegenüber nur sehr begrenzt Wirkung entfaltet. Hier endet die Schutzpflicht des Staates und beginnt die Privatautonomie, sofern der Gesetzgeber nicht weitere Einschränkungen statuiert oder sie die Gerichte durch Auslegung von Generalklauseln gewinnen.
2. Konflikte bei Einstellung im Spiegel der Religionsfreiheiten Diese Schutzpflichten sollen nun in einem zweiten Schritt auf die konkreten Konfliktfälle heruntergebrochen werden, um zu bestimmen, inwieweit sie in den jeweiligen Stadien des Arbeitsverhältnisses Vorgaben für das Zivilrecht liefern.
______________ 125
s. Abschnitt IV.2.
VI. Schutzpflichten aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG
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a) Fragerecht des Arbeitgebers Die Frage nach der Religionszugehörigkeit im Vorstellungsgespräch tangiert in erster Linie die Bekenntnisfreiheit126 des Bewerbers. Wie bei der Glaubensfreiheit127 und der Gewissensfreiheit muss der Gesetzgeber dafür sorgen, dass die Bekenntnisfreiheit nicht tangiert wird. Der Arbeitgeber darf deshalb grundsätzlich nicht nach der Religionszugehörigkeit oder religiösen oder weltanschaulichen Auffassungen fragen bzw. eine solche Frage ist – wenn sie wahrheitsgemäß beantwortet werden muss – rechtfertigungsbedürftig. Kirchen und Tendenzbetriebe dürfen deshalb fragen, der säkulare Arbeitgeber grundsätzlich nicht. Die Begrenzung des Fragerechts, wie sie Rechtsprechung und Schrifttum vornehmen,128 ist also (zumindest z.T.) bereits der aus Art. 4 Abs. 1 GG abzuleitenden Schutzpflicht des Staates wegen geboten. Rechtfertigungen lässt Art. 4 GG gleichwohl zu, bei Kirchen und Tendenzunternehmen ist sie unbestritten. Möglich und zulässig ist sie aber auch in säkularen Betrieben. Von Art. 4 Abs. 2 GG wird auch die Freiheit erfasst, sich seinen Vertragspartner gerade nach dessen Religion auszusuchen (hierzu sogleich ausführlich unter b)). Wenn der Arbeitgeber aus diesem Grunde im Bewerbungsverfahren danach fragt, zwingt Art. 4 GG den Gesetzgeber nicht dazu, dieses Verhalten zu unterbinden. Hier finden die Schutzpflichten des Staates ihre Grenzen. Andererseits heißt dies nicht, dass der Staat die Frage nicht unterbinden darf – von Verfassungswegen muss er es aber nicht. Das Schrifttum beschränkte bislang das Fragerecht des Arbeitgebers in Anlehnung an die Rechtsprechung des BAG insoweit auf die Fälle, in denen er ein „berechtigtes schützenswertes Interesse“ geltend machen kann, wobei ein solches nur angenommen wurde, wenn die Religionszugehörigkeit Voraussetzung für die Fähigkeit war, die Arbeit zu verrichten. 129 Verfassungsrechtlich ist diese Einschränkung nicht notwendig. Erst das AGG wird nun Forderungen in diese Richtung stellen, denn nach § 8 Abs. 1 AGG ist Voraussetzung für die Rechtfertigung einer Diskriminierung, dass das betreffende Merkmal eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung für die Tätigkeit darstellt (s. Kap. 6 VI.4.a)).
______________ 126 Betroffen ist hier (jedenfalls mittelbar) der Inhalt des Bekenntnisses, nicht deren Form. Sie unterläge allein der weniger schutzwürdigen Religionsausübungsfreiheit (s. Kap. 2 Fn. 55). 127 Zum Verständnis der Glaubensfreiheit s. Kap. 2 Fn. 6. 128 s. Kap. 3 I.1. 129 s. Kap. 3 I.1.
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Kapitel 4: Eine verfassungsrechtliche Betrachtung
b) Bewerbungsphase und Auswahlentscheidung des Arbeitgebers Gebietet die Schutzpflicht, die dem Staat gegenüber dem Arbeitgeber nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG obliegt, darüber hinaus, dass dieser bei der Auswahl von Bewerbern gerade auch nach der Religion entscheiden darf? Damit gelangt man zugleich zur Gretchenfrage für das neue Antidiskriminierungsrecht. Sollte sich aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ableiten lassen, dass es verfassungsrechtlich geboten ist, dass der Arbeitgeber bei der Auswahlentscheidung von Arbeitnehmern auch danach differenzieren darf, welcher Religionsgemeinschaft die Bewerber angehören oder welche religiösen Vorstellungen sie hegen, wäre das neue Gesetz insoweit verfassungswidrig, denn es beschränkt gerade auch die Auswahlentscheidung des Arbeitgebers (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG). Damit würde europäisches Recht mit deutschen Grundrechten kollidieren.130 Anders als bei den übrigen Merkmalen ist es Wesen der Religion, für diese Weltsicht zu werben, den anderen für den eigenen Glauben zu begeistern, zu missionieren im weitesten Sinne. Daher kann es legitimer Ausdruck der Religion sein, entweder den anderen mit der gleichen Religion zu bevorzugen oder gerade Anders- oder Nichtgläubige bevorzugt einzustellen, um ihnen Werte des eigenen Glaubens zu vermitteln.131 Es kann also ein religiöses Anliegen sein, auch im Vertragsschluss nach der Religionszugehörigkeit zu unterscheiden.132 Zu Recht betont das BVerfG zum einen, dass Art. 4 Abs. 1 GG das Recht gewährt, sein „gesamtes Verhalten“ an den Lehren seiner religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen auszurichten und sieht zum anderen auch die Werbung für den eigenen Glauben und sogar das Abwerben von Andersgläubigen vom Schutzbereich erfasst.133 Dann muss dies auch für die Auswahl des Vertragspartners nach der Religionszugehörigkeit gelten. ______________ 130
Das BVerfG misst nach eigenem Bekunden europäisches Recht nur dann an deutschen Grundrechten, wenn sich herausstellen sollte, dass der EuGH einen vergleichbaren Grundrechtsstandard auf europäischer Ebene erheblich unterschreitet (sog. Solange-Rechtsprechung, s. BVerfG, NJW 1974, 1697; NJW 1987, 577 und NJW 1993, 3047). Im jüngst erlassenen Beschluss zum Europäischen Haftbefehl mahnte das BVerfG allein die Verfassungswidrigkeit des deutschen Ausführungsgesetzes an (NJW 2005, 2289, 2294). 131 Dabei sind allerdings die Grenzen der Werbung für die eigene Religion zu beachten (Kap. 3 II.4 sowie Kap. 7 II.4). 132 Thüsing, JZ 2004, 172, 173: „Der hl. Paulus schreibt an die Galater: ‚Deshalb wollen wir, solange wir noch Zeit haben, allen Menschen Gutes tun, besonders aber denen, die mit uns im Glauben verbunden sind.‘ (Gal. 6,10), und in der Tat, das Gebot der christlichen Nächstenliebe erstreckt sich auf alle Menschen, jedoch bilden die im Glauben Verbundenen eine Gemeinschaft, die durch ihr Gemeindesein zu besonderen Einstandspflichten aufgerufen ist. Schon das biblische Verbot des Zinses erstreckte sich nur auf die Glaubensbrüder und auch der Zakat, die Armensteuer des Islam, soll nach dem Gebot dieser Religion den Bedürftigen allein des eigenen Glaubens zukommen.“ 133 Hierzu Kap. 3 II.4.
VI. Schutzpflichten aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG
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Es stehen sich also das Recht des Arbeitnehmers, kein Bekenntnis abzugeben (und sein allgemeines Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG) einerseits, und das Recht des Arbeitgebers, auch beim Vertragsschluss nach der Religionszugehörigkeit zu entscheiden – das wie gezeigt auch von Art. 4 GG geschützt wird –, andererseits gegenüber. Die Verfassung trifft weder eine Entscheidung für die eine noch für die andere Seite. Im Privatrechtsverkehr, in dem aus dem Grundgesetz abgeleitete Schutzpflichten mit Vorsicht verwendet werden sollten, darf der Gesetzgeber frei entscheiden, welchem Recht er den Vorzug gewährt. Dies gilt sowohl im Hinblick auf Art. 3 Abs. 3 GG,134 als auch für Art. 4 GG. Das Grundgesetz gebietet es daher nicht, dem Arbeitgeber zu untersagen, seine Auswahlentscheidung auch von der Religion der Bewerber abhängig zu machen, wenn dies für ihn selbst ein religiöses Anliegen ist; es verhindert andererseits aber auch nicht, dass der Gesetzgeber genau dies untersagt. Die bisherige Rechtslage – ohne AGG – lässt es mangels anderweitiger zivilrechtlicher Regelungen (s. Kap. 5 I.3) zu, dass der Arbeitgeber bei der Einstellung nach der Religion oder Religionszugehörigkeit des Bewerbers entscheidet. Er darf Bewerber ablehnen, weil sie Muslime, Juden oder weil sie Christen sind, weil sie ein Kopftuch oder ein Kruzifix um den Hals tragen, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen.135 Einstellungsgespräche, die allein an Samstagen stattfanden, begegneten deshalb auch dann keinen Bedenken, wenn sich Juden und Siebenten-Tags-Adventisten bewarben, deren Religionen die Teilnahme an Vorstellungsgesprächen am Sabbat verbieten. Ob und inwieweit sich dies nach Ablauf der Umsetzungsfrist für die RL 2000/78/EG bzw. nach Inkrafttreten des AGG geändert hat, ist Gegenstand der diskriminierungsrechtlichen Betrachtung (s. Kap. 6 IV und Kap. 7 I.3).
c) Offenbarungspflichten des Arbeitnehmers Vor dem Hintergrund der von Art. 4 Abs. 1 GG geschützten Bekenntnisfreiheit begegnet die Praxis der Lohnsteuererhebung nach § 39 Abs. 1 S. 1 EStG iVm den Kirchensteuergesetzen der Länder136 gewichtigen verfassungsrechtlichen Bedenken.137 Dadurch ist der Arbeitnehmer verpflichtet, seinem Arbeitgeber seine Religionszugehörigkeit mitzuteilen und damit ein Bekenntnis abzugeben, das er unter Umständen nicht abgeben will. Die Verletzung der Be______________ 134
s. Abschnitt IV.2.b). s. Abschnitt IV und Kap. 5 I.3. 136 Vgl. z.B. § 4 Abs. 1 Nr. 1 lit. a KiStG NRW oder Art. 13 Abs. 1 S. 1 Bay. KirchStG. 137 Anke/Zacharias, DÖV 2003, 140; Wasmuth/Schiller, NVwZ 2001, 852; Adam, NZA 2003, 1375, 1380. 135
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Kapitel 4: Eine verfassungsrechtliche Betrachtung
kenntnisfreiheit erfordert einen verfassungsimmanenten Rechtfertigungsgrund.138 Selbst wenn man einen solchen finden könnte – was durchaus zweifelhaft ist, denn insbesondere Art 140 GG iVm Art. 136 Abs. 3 S. 2 WRV gewährt allein den „Behörden“ ein Nachfragerecht139 – muss die Begrenzung der von Art. 4 Abs. 1 GG garantierten Bekenntnisfreiheit verhältnismäßig und damit erforderlich sein. Mildere Mittel liegen aber auf der Hand: Die Kirchensteuer könnte ebenso gut von der Einkommensteuer abgekoppelt und direkt beim Steuerpflichtigen erhoben werden wie es auch bei anderen Steuerarten der Fall ist. Dass dieses Mittel weniger wirksam ist, ist kaum anzunehmen, wäre aber gewiss anhand konkreter Zahlen nachprüfbar. Diesen Bedenken wird sich die Rechtsprechung bei nächster Gelegenheit stellen müssen.
d) Arbeitsvertragliche Gestaltung Vertragsgestaltung setzt ein Mindestmaß an privatautonomer Entscheidungsfreiheit voraus, das hat das BVerfG insbesondere in seinen sog. Bürgschaftsentscheidungen sowie der Handelsvertreterentscheidung deutlich gemacht.140 Aber nicht nur Art. 2 Abs. 1 GG, der Privatautonomie für alle am Vertrag Beteiligten garantiert, sondern auch die speziellen Freiheitsrechte wie Art. 4 Abs. 1 und 2 GG vermögen der Macht des Verhandlungsstärkeren Grenzen zu setzen. Hierfür gilt Obengesagtes entsprechend. Soll die Glaubensfreiheit oder die Freiheit des Bekenntnisses im Arbeitsvertrag beschränkt werden, bedarf es hierfür eines legitimen Grundes. Die Ausübung der Religion einzuschränken begegnet demgegenüber auch dann keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn hierfür kein näherer Grund besteht. Die Arbeitsvertragsparteien können demnach – aus verfassungsrechtlicher Sicht – vereinbaren, dass der Arbeitnehmer innerhalb des Betriebes keine Werbung für seine Religion betreiben darf oder dass er auf alle religiösen Handlungen, die nicht zwingend (und damit Gewissensentscheidungen) sind, verzichtet. Hier mag das Zivilrecht weitgehendere Anforderungen an eine solche Vereinbarung stellen (s. unten Kap. 5 III), das Verfassungsrecht gebietet sie nicht.
______________ 138 Dies gilt auch dann, wenn man für die Religionsausübungsfreiheit nach Art. 4 Abs. 2 GG eine Schranke in Art. 140 GG iVm Art. 136 Abs. 1 WRV sieht (hierzu Kap. 2 II.2). 139 Hierzu ausführlich Wasmuth/Schiller, NVwZ 2001, 852. 140 Hierzu Abschnitt V.2.
VI. Schutzpflichten aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG
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3. Konflikte innerhalb des Arbeitverhältnisses im Spiegel der Religionsfreiheiten Besonders schwer greifbar, weil facettenreich, sind Konflikte innerhalb bestehender Arbeitsverhältnisse, sei es, dass ein Arbeitnehmer aus religiösen Gründen Arbeit verweigert oder für seine Religion aktiv Werbung betreibt, sei es, dass der Arbeitgeber seinen Betrieb mit christlichen Symbolen schmückt, die den Arbeitnehmern unlieb sind. Hier steht die positive Freiheit stets der negativen, von der Religion anderer unbehelligt zu bleiben, gegenüber; gleichzeitig können betriebliche Interessen betroffen sein, die von Art. 12 GG geschützt werden. Das Verfassungsrecht eröffnet dem Gesetzgeber insofern einen weiten Beurteilungsspielraum. Verfassungsrechtlich geboten ist es weder, dass der Betrieb völlig von religiösen Symbolen frei bleibt, noch zuzulassen, dass der Arbeitgeber ihn nach Herzenslust mit solchen ausstattet. Die Bestimmung der arbeitsrechtlichen gegenseitigen Rücksichtnahmepflichten führt hier zu angemessenen Ergebnissen im Einzelfall, die aber verfassungsrechtlich kaum determiniert sind. Einige Grenzen gibt es freilich dennoch, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen.
a) Oktroyieren fremder religiöser Ansichten Eine Grenze besteht darin, dass Arbeitnehmer nicht dazu gezwungen werden können, Ansichten zu vertreten, die ihrem Glauben zuwiderlaufen, denn dies würde sowohl die von Art. 4 Abs. 1 GG (vorbehaltlos) geschützte Bekenntnisfreiheit141 als auch die (negative Seite der) Freiheit der Meinungsbildung und Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 GG) unangemessen einschränken.142 Verlangt der Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern kultische Handlungen ab, zwingt er sie bspw. zu morgendlichen Gebeten, greift die Schutzpflicht des Staates aus Art. 4 Abs. 1 GG. Dass solche Fälle nicht fernliegend sind, hat das Urteil des BVerwG gezeigt, das über die Missionierungsversuche eines Lehrherrn zu entscheiden hatte, der massiv für die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas geworben hatte.143 Dies ist ebenso wenig zulässig wie das Verlangen einer Filiale einer saudi-arabischen Bank in Deutschland, ihre weiblichen Angestellten sollten während der Arbeit ein Kopftuch tragen. Hier wird den Arbeitnehmern ein nach außen sichtbares Bekenntnis abverlangt, das ihrem eigenen nicht entspricht. Dies betrifft nicht mehr nur die Ausübungs-, sondern die Bekenntnisfreiheit: Jeder hat das Recht, sich nicht zu einer Religion oder Weltanschau______________ 141
s. Kap. 2 Fn. 55 und Kap. 4 126. s. BVerfG, NJW 1997, 2871. 143 Hierzu Kap. 3 II.4.a). 142
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ung zu bekennen. Die negative Religionswahlfreiheit, die Bekenntnis- und die Meinungsfreiheit gebieten hier ein Einschreiten des Staates auch im Privatrechtsverkehr.
b) Deutungshoheit über religiöse Symbole Art. 4 Abs. 1 und 2 GG schützen neben der kollektiven vor allem die individuelle Religionsfreiheit. Glaubensinhalte sind Ergebnisse von höchst persönlichen Erkenntnisprozessen. Sie sind deshalb nicht überprüfbar, der Betreffende muss allein plausibel machen, dass es sich um solche handelt, wenn es darauf ankommt. Ihm steht deshalb auch die Kompetenz zu, Gegenständen oder Handlungen einen religiösen Symbolgehalt zu geben, auch wenn andere ihn nicht erkennen können oder gar teilen. Die Definitionsmacht für religiöse Symbole liegt also bei demjenigen, der sich auf die Freiheit zur Religionsausübung beruft. Zwar mag die Wirkung eines Symbols in die Abwägung gegenseitiger Interessen einfließen, den Bedeutungsinhalt des Symbols legt jedoch der Gläubige selbst fest.144 Mag der Hijab für Außenstehende auch ein Symbol für die Diskriminierung von Frauen darstellen, ist doch maßgebend, was die Trägerin mit ihm verbindet. Ist er für sie ein religiöses Zeichen, kann sich die Rechtsordnung darüber nicht hinwegsetzen. „Zwar kann nicht jegliches Verhalten einer Person allein nach deren subjektiver Bestimmung als Ausdruck der besonders geschützten Glaubensfreiheit angesehen werden; vielmehr darf bei der Würdigung eines vom Einzelnen als Ausdruck seiner Glaubensfreiheit reklamierten Verhaltens das Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft nicht außer Betracht bleiben (...). Eine Verpflichtung von Frauen zum Tragen eines Kopftuchs in der Öffentlichkeit lässt sich nach Gehalt und Erscheinung als islamisch-religiös begründete Glaubensregel dem Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG hinreichend plausibel zuordnen“, führte das BVerfG im Streit um das Kopftuch von Frau Ludin aus.145
Insoweit gilt das Gleiche wie bei der von Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Meinungsfreiheit. Eine Äußerung muss, so das BVerfG, unter sämtlichen denkbaren Blickwinkeln betrachtet werden, um jeden möglichen Sinngehalt zu erforschen.146 Im Fall Ludin wies das BVerfG deshalb auch darauf hin, es seien „alle denkbaren Möglichkeiten, wie das Tragen eines Kopftuchs verstanden werden ______________ 144 BVerfG, NJW 2003, 2815, 2816 mwN; Heckel, DVBl. 1996, 453, 468 ff.; A. Weber, ZAR 2004, 54, 58; s. auch Dreier-Morlok, GG, Art. 4 Rn. 55; zum Bedeutungsgehalt des Kopftuches Mückl, Der Staat 40 (2001), 96, 118 f. und Oebbecke in: FS Rüfner, 2003, S. 593. 145 BVerfG, NJW 2003, 3111, 3112. 146 BVerfG, NJW 1990, 1980, 1981; BVerfG, NJW 1991, 95, 96; s. auch BVerfG, NJW 1992, 2409, 2410 (Schülerzeitung) und hierzu Kap. 4 II.4.a).
VII. Zusammenfassung
115
kann, bei der Beurteilung zu berücksichtigen“.147 Hierin liegt in Bezug auf religiöse Symbole die entscheidende Weichenstellung, vor allem bei solchen Zeichen, die wie das islamische Kopftuch facettenreich gedeutet werden können.
VII. Zusammenfassung Es gäbe „kein Gebiet, in dem die Grundrechte so zum Kleingeld täglicher Rechtsanwendung geworden sind, wie im Arbeitsrecht“, stellte bereits vor über 20 Jahren Gamillscheg fest.148 Diese Entwicklung ist nicht frei von Bedenken und so ist es umso wichtiger dem gesetzgeberischen Entscheidungsspielraum zur Geltung zu verhelfen. Auch Schutzpflichten haben ihre Grenzen. Sie fordern eine praktische Konkordanz zwischen dem Schutz des Einen und den Abwehrrechten des Anderen, aber gerade keine Abwägung der Grundrechte im Privatrechtsverhältnis. Erstens gelten diese im Horizontalverhältnis gerade nicht normativ und zweitens verführt eine solche Abwägung dazu, das (eine) gewonnene Ergebnis für das einzig mögliche zu halten. Erst die Würdigung dieser Dreieckskonstellation lässt es zu, Grundrechte auch im Arbeitsrecht zur Geltung zu bringen, ohne Arbeitsrecht zu Verfassungsrecht zu erklären. Fordert das Zivil- und insbesondere das Arbeitsrecht eine solche Abwägung, geht es nicht um die Gegenüberstellung von Grundrechten, sondern um die von Interessen, mögen sie auch grundrechtlich geschützt sein. Das müssen sie indes nicht, auf einfach-rechtlicher Ebene können auch Interessen miteinander in Ausgleich zu bringen sein, von denen einige grundrechtlich gewährleistet sind und andere nicht. Ohnehin greift in aller Regel Art. 2 Abs. 1 GG.149 Die sich aus einer solchen verfassungsorientierten Auslegung ergebenden Schlussfolgerungen sind dann nicht vom Grundgesetz determiniert. Allerdings sind auch im Rahmen der Begründung grundrechtliche Wertentscheidungen zu beachten, denn nicht nur das Ergebnis eines Erkenntnisprozesses sondern auch der Prozess selbst muss sie hinreichend wahren. Für religiöse Konflikte am Arbeitsplatz bedeutet dies z.B., dass es dem Träger eines religiösen Symbols zusteht, selbst dessen Bedeutungsgehalt zu bestimmen. Ob dieser, von ihm behauptete Symbolgehalt plausibel ist, muss – wie bei Meinungsäußerungen – unter Heranziehung aller in Betracht kommenden Deutungsmöglichkeiten entschieden werden. Auch die Differenzierung zwischen Glaube, Gewis______________ 147
BVerfG, NJW 2003, 3111, 3114. Gamillscheg, ZfA 1983, 307, 312. 149 Ob eine Verfassungsnorm tatsächlich Wertentscheidungen trifft, die auch im Zivilrecht Beachtung finden, ist begründungsbedürftig, s. Abschnitt II.4.d). 148
116
Kapitel 4: Eine verfassungsrechtliche Betrachtung
sen und Religionsausübung dürfte durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG vorgegeben sein (zu weiteren Schlussfolgerungen s. Abschnitt VI). Die Terminologie des Grundrechtsverzichts ist im Zivilrecht fehl am Platze. Hier mögen die Freiwilligkeit und die privatautonome Entscheidungsfreiheit gewürdigt werden, mit einem Grundrechtsverzicht im verfassungsrechtlichen Sinne hat dies jedoch nichts zu tun. Ebenso wenig können Arbeitsverträge verfassungskonform oder auch nur im Lichte von Grundrechten ausgelegt werden. Der Rechtsanwender ist stattdessen auf eine Auslegung der Vertragskontrollnormen angewiesen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist der Arbeitgeber nicht gehalten, Bewerber um einen Arbeitsplatz gleich zu behandeln, er darf vielmehr gerade auch nach den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Kriterien entscheiden. Das spezielle Gleichheitsrecht entfaltet keine Schutzpflichten für den Privatrechtsverkehr.150
______________ 150
Zum Fragerecht s. Abschnitt VI.2.a).
Kapitel 5
Eine zivilrechtliche Betrachtung Die Diskussion um die Wirkungen der Religions- und Gewissensfreiheit im Zivilrecht wird sowohl von öffentlich-rechtlicher als auch von zivilrechtlicher Seite geführt, denn sie bewegt sich auf dem Grad zwischen beiden Disziplinen. Von Seiten der Privatrechtswissenschaft wird dabei regelmäßig die Frage nach der richtigen dogmatischen Einordnung von Rechtsgüter- und Pflichtenkollisionen gestellt. Bislang existiert keine zivilrechtliche Norm, die unzweifelhaft geeignet wäre, derartige Konflikte zu erfassen und einer angemessenen Lösung zuzuführen. Noch schwieriger und dementsprechend kontrovers diskutiert ist ihre Behandlung im Arbeitsrecht, das sich mangels spezieller Regelungen in weiten Bereichen der allgemeinen Vorschriften des Schuldrechts bedient, obwohl z.T. andere Maßstäbe gelten. Auch insoweit haben sich in den vergangenen Jahren mit der Einbeziehung des Arbeitsrechts ins AGB-Recht (vgl. § 310 Abs. 4 BGB) und der Kodifikation von § 275 Abs. 3 und § 313 BGB zahlreiche Neuerungen ergeben, die religiöse und Gewissenskonflikte in ein neues Licht rücken. Abschnitt I behandelt die Konflikte bei Einstellung,1 für die das AGG in Zukunft ohnehin weiter gehende Regelungen bereit hält (s. Kap. 7 I), so dass sich die Untersuchung auf das Wesentliche beschränken kann. Im Anschluss daran wird zunächst – grundlegend für die weitere Darstellung – die Reichweite der gegenseitigen Rücksichtnahmepflichten der Arbeitsvertragsparteien in Bezug auf religiöse Bedürfnisse analysiert (s. II), bevor auf die Auslegung und Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen einzugehen ist (III). Gegenstand umfangreicher Diskussionen ist seit den fünfziger Jahren die Behandlung der Fälle der Arbeitsverhinderung bzw. Arbeitsverweigerung aus religiösen und/oder Gewissensgründen. Die wichtigsten Meilensteine dieser
______________ 1
s. bereits Kap. 3 I.
118
Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
Kontroverse werden in der gebotenen Kürze in Abschnitt IV dargestellt, bevor ein eigenes „kooperatives Modell“ vorgestellt wird.2 Abschnitt V betrifft das Kündigungsrecht. Lohnzahlung und Ansprüche des Arbeitgebers auf Schadensersatz werden in den Abschnitten VI und VII behandelt, bevor auf Besonderheiten im öffentlichen Dienst und bei kollektivrechtlichen Regelungen einzugehen ist (VIII). Eine Zusammenfassung rundet die Untersuchung ab (IX).
I. Das Anfechtungsrecht des Arbeitgebers und seine Pflichten bei Einstellung Dass Arbeitsverträge anfechtbar sind und dass das Anfechtungsrecht aus § 142 Abs. 1 BGB nicht durch das Recht zur außerordentlichen Kündigung (§ 626 BGB) verdrängt wird, ist unbestritten.3
1. Anfechtung wegen arglistiger Täuschung Das BAG hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass eine Frage im Bewerbungsgespräch nur zulässig ist, wenn sie berechtigten Interessen des Arbeitgebers dient und diese gegenüber denjenigen des Arbeitnehmers am Schutz seiner Persönlichkeit und der Wahrung seiner Individualsphäre überwiegen. Zweifel an der Anwendung dieser Grundsätze auch auf die Frage nach der Religion bestehen nicht.4 Die Religionszugehörigkeit und erst recht die Glaubensüberzeugungen eines Stellenbewerbers gehören zur Privatsphäre des Arbeitnehmers, an deren Kenntnis der Arbeitgeber in der Regel kein berechtigtes, überwiegendes Interesse hat. Beantwortet der Bewerber also die Frage nach seiner Religion falsch, kann der Arbeitgeber später den Arbeitsvertrag5 in der Regel nicht nach den §§ 142 Abs. 1, 123 Abs. 1 BGB anfechten. Zur Begrün______________ 2 Da auch der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz ein (allgemeines) Diskriminierungsverbot darstellt, wird er erst in Kap. 6 III behandelt und zum AGG in Beziehung gesetzt. 3 St. Rtspr., s. nur BAG, NZA 1994, 407; APS-Preis, § 626 BGB Rn. 23. Während das Recht zur Anfechtung die freie Selbstbestimmung auf rechtsgeschäftlichem Gebiet schützt (Motive zum BGB I, § 103, S. 204), hat das Recht zur außerordentlichen Kündigung nicht die Beseitigung einer seinerzeit fehlerhaften Willensbildung zum Gegenstand, sondern die Beseitigung eines Vertrags wegen aktueller Leistungsstörung (BAG, AP Nr. 3 zu § 119 BGB unter 1. der Gründe; KR-Fischermeier, § 626 BGB Rn. 44). 4 s. die Nachweise in den Fn. 2 bis 4 des Kap. 3. 5 Angefochten wird gem. § 142 Abs. 1 BGB allein die (eigene) Willenserklärung. Es hat sich aber mittlerweile eingebürgert, auch von einer Anfechtung des Vertrags zu sprechen.
I. Anfechtungsrecht und Pflichten bei Einstellung
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dung kann nunmehr auch das Benachteiligungsverbot wegen der Religion nach § 7 Abs. 1 und § 1 AGG dienen, das das Fragerecht des Arbeitgebers weiter einschränkt (hierzu ausführlich Kap. 7 I.1). Anders ist dies allerdings in Tendenzbetrieben (vgl. § 9 AGG). Eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung setzt neben der Rechtswidrigkeit der Täuschung auch einen Irrtum des Getäuschten voraus, also des Arbeitgebers. Irrt sich dieser nicht, scheidet sie aus. Erscheint bspw. eine Frau im Bewerbungsgespräch mit Kopftuch, das unmissverständlich von ihrem muslimischen Glauben zeugt, kann der Arbeitgeber den Arbeitsvertrag später nicht mit der Begründung anfechten, die Bewerberin habe auf seine Frage hin erklärt, sie sei Christin. Wenn die Religionszugehörigkeit offensichtlich ist, ist ein Irrtum des Arbeitgebers ausgeschlossen. So hat das BAG in einem parallelen Fall eine Anfechtung abgelehnt. Dort hatte ein Bewerber, dessen angeborener Minderwuchs offensichtlich war, beim Ausfüllen eines Personalbogens vor Einstellung die Frage nach einer Schwerbehinderung mit „Nein“ beantwortet.6 Da bislang – soweit ersichtlich – keine Rechtsprechung speziell zur Frage nach der Religion oder religiösen Geboten existiert, konnte auch nicht entschieden werden, wie weit betriebliche Interessen anzuerkennen sind und wo im Einzelfall die Grenze liegt. Der Gesetzgeber selbst hat – sieht man einmal vom AGG ab – insoweit keine einschränkende Entscheidung getroffen, so dass man betriebliche Interessen in weitem Maße anzuerkennen hat. Die Grundrechte, insbesondere Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, lassen es zu, dass der – säkulare – Arbeitgeber auch dann nach der Religionszugehörigkeit fragt, wenn er beabsichtigt, nur Seinesgleichen einzustellen; denn auch die Auswahl des Vertragspartners nach der Religion ist von Art. 4 Abs. 2 GG geschützt.7 Das Zivilrecht schränkt diese Freiheit nicht weiter ein; jenes Recht ist vielmehr auch ein betriebliches Interesse des Arbeitgebers, der es in der Hand hat, seine unternehmerischen Ziele selbst zu bestimmen und auch selbst zu entscheiden, mit wem er sie verwirklichen will.8 Ist er der Ansicht, dies am besten mit Glaubensbrüdern zu können, ist diese Entscheidung anzuerkennen. Eine Einschränkung dieser Freiheit brachte erst das AGG mit sich (s. Kap. 7 I.1). Eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung kommt darüber hinaus in Betracht, wenn der Arbeitnehmer seine Offenbarungspflichten verletzt.9 Weiß er bereits bei der Einstellung, dass er aus religiösen Gründen (und/oder seines Gewissens wegen) nicht in der Lage sein wird, die Tätigkeiten zu verrichten, für die er eingestellt werden will, muss er dies dem Arbeitgeber mitteilen ______________ 6
BAG, NZA 2001, 315. s. Kap. 4 VI.2.b). 8 Vgl. z.B. BAG, NZA 2003, 549, 550. 9 St. Rspr., vgl. nur BAG, NZA 1991, 719; NZA 2000, 99, 102; BGH, NJW 2001, 3331. 7
120
Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
(s. Kap. 3 I.3). Die Anfechtung wirkt der Rechtsprechung zufolge entgegen § 142 Abs. 1 BGB allerdings nur ex nunc.10 Der Arbeitnehmer ist dann u.U. schadensersatzpflichtig aus culpa in contrahendo (vgl. die §§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB; hierzu Abschnitt VII). Die Anfechtung scheidet hingegen aus, wenn der Arbeitnehmer erst im Laufe des Arbeitsverhältnisses seine Ansichten ändert, weil er bspw. einer Glaubensgemeinschaft beitritt oder seine religiösen Vorstellungen sich verfestigen. Hier liegt bei der Einstellung nicht einmal ein Irrtum vor, vielmehr decken sich wirkliche und vorgestellte Situation.11 Darüber hinaus fehlt es an einer Täuschungshandlung.
2. Anfechtung wegen Eigenschaftsirrtums Das Recht des Arbeitgebers zur Anfechtung wegen Irrtums über eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Arbeitnehmers nach den §§ 142 Abs. 1, 119 Abs. 2 BGB hat in der Praxis weniger Bedeutung. Nach den Eigenschaften eines Arbeitnehmers, die für die Tätigkeit von Bedeutung sind, wird der Arbeitgeber im Vorstellungsgespräch in aller Regel fragen, um sich nicht dem Risiko auszusetzen, einen Arbeitnehmer einzustellen, den er nicht produktiv einsetzen kann. Wenn die Frage unzulässig ist, wird der Irrtum in aller Regel nicht verkehrswesentlich sein, so dass eine Anfechtung nach den §§ 142 Abs. 1, 119 Abs. 2 BGB ausscheidet.12 Der Anwendungsbereich von § 119 Abs. 2 BGB ist für die Fälle des Irrtums des Arbeitgebers bei der Einstellung von Arbeitnehmern deshalb kaum größer als der von § 123 Abs. 1 BGB.13 Bedeutung gewinnt § 119 Abs. 2 BGB allerdings, wenn der Arbeitgeber den Arbeitsvertrag wegen einer Eigenschaft des Arbeitnehmers anficht, die keine Auswirkungen auf die Tätigkeit hat, z.B. weil dieser Mitglied einer bestimmten Religionsgemeinschaft ist. Das LG Darmstadt hat die Anfechtung eines Personalberatungsvertrags auf Honorarbasis für zulässig gehalten, die allein darauf gestützt wurde, dass der Personalberater Mitglied der Scientology-Sekte ist.14 ______________ 10 Dies folgt aus dem besonderen Charakter des Arbeitsverhältnisses als Dauerschuldverhältnis sowie praktischen Problemen der Rückabwicklung bereits erbrachter Leistungen (grdl. BAG, NJW 1958, 516). Eine Ausnahme erkennt die Rechtsprechung lediglich dann an, wenn das Arbeitsverhältnis zwischenzeitlich wieder außer Funktion gesetzt wurde (BAG, NZA 1999, 584, 585). 11 Hansen, Glaubens- und Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 2000, S. 91 f. 12 Vgl. Palandt-Heinrichs, § 119 BGB Rn. 25 f. 13 So im Ergebnis auch Hansen, Glaubens- und Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 2000, S. 91 f. 14 LG Darmstadt, NJW 1999, 365, 366.
I. Anfechtungsrecht und Pflichten bei Einstellung
121
Die Mitgliedschaft sei deshalb verkehrswesentlich gewesen, weil dem Personalberater besonderes Vertrauen entgegen gebracht wurde, er erhielt Einblicke in sensible Firmeninterna. Hätte das Unternehmen gewusst, dass er der Scientology-Sekte angehört, hätte sie ihm den Beratungsauftrag nicht erteilt, da sie eine Schädigung ihres guten Rufs fürchtete, wenn bekannt werden würde, dass sie mit Hilfe eines Mitglieds der Scientology-Sekte nach Führungskräften sucht. Scientology ist aber der Rechtsprechung deutscher Gerichte zufolge gerade keine Religion und auch keine Weltanschauung.15 Allein aufgrund der Mitgliedschaft in einer Religion oder Weltanschauung ist eine Anfechtung ausgeschlossen, wobei allerdings offen ist, inwieweit der EuGH in Zukunft aufgrund der RL 2000/78/EG oder des europäischen Gleichheitssatzes weitgehenderen Schutz gewähren wird. Der Begriff der Weltanschauung, den die deutsche Fassung verwendet, wird hierzulande enger verstanden als die entsprechenden Worte in Fassungen anderer Mitgliedstaaten (s. Kap. 1 III). Sollte der EuGH z.B. Scientology als Weltanschauungsgemeinschaft anerkennen, wäre eine Anfechtung wegen Eigenschaftsirrtums auch insoweit ausgeschlossen.
3. Pflicht zur Gleichbehandlung bei Einstellung? Die verfassungsrechtliche Betrachtung hat gezeigt, dass die Grundrechte kein Mindestmaß an Gleichbehandlung zwischen Privaten gebieten. Dennoch wird zum Teil angenommen, dass auch Private einen Vertragsschluss mit anderen Privaten nicht aus bestimmten, von der Rechtsordnung missbilligten Gründen ablehnen dürfen.16 Dies folgt dann nicht aus den Vorgaben, die die Verfassung zwingend an das Zivilrecht stellt, sondern aus privatrechtlichen Regelungen, die im Lichte der Verfassung ausgelegt werden.17 Es geht also um zivilrechtliche, nicht um verfassungsrechtliche Wertungen, es geht um eine systematische, verfassungsfreundliche Auslegung anhand der Grundrechte. Mit Inkrafttreten des AGG dürfte sich die Diskussion, nach welchen Kriterien sich der Arbeitgeber bei seinen Einstellungsentscheidungen richten darf, entschärft haben (s. hierzu Kap. 3 I.2). § 1 AGG bestimmt ausdrücklich verpönte persönliche Merkmale, die nicht Gegenstand dieser Entscheidungen sein dürfen. Das führt indes nicht dazu, dass der Arbeitgeber – gleich einem öffent______________ 15
BAG, NZA 1995, 823, 827 ff.; hierzu sowie zu den Rechtsprechungen anderer Staaten Thüsing, ZevKR 45 (2000), 592; ders. in: GS Krüger, 2001, S. 351. 16 Anders hingegen im Bereich des öffentlichen Dienstes, hierzu Abschnitt VIII.1 und weiterführend Müller, Arbeitsrecht im Öffentlichen Dienst, Rn. 311 ff.; MünchHbArbR-Freitag, § 188 Rn. 4 ff. mwN. 17 Zu diesem Unterschied Kap. 4 II.
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Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
lichen Arbeitgeber – gehalten wäre, allein nach persönlicher und fachlicher Eignung zu entscheiden. Er darf weiterhin alle Kriterien für seine Einstellungsentscheidungen heranziehen, die nicht im AGG genannt sind.18 Es wird allerdings schwierig sein, persönliche Merkmale zu finden, die nicht zumindest mittelbar mit einem der im AGG genannten korrespondieren. Stattdessen stellt sich ein neues Problem, das die Konkurrenz zwischen dem AGG und den allgemeinen Vorschriften des Zivilrechts betrifft. Die Ablehnung eines Bewerbers wegen eines in § 1 AGG genannten Merkmals kann im Ausnahmefall eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts darstellen, die zu einem Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB führt, sofern sie besonders gravierend wirkt. So hat das BAG in der Zurückweisung von weiblichen Bewerbern um einen Arbeitsplatz eine nach § 823 Abs. 1 BGB ersatzpflichtige Diskriminierung gesehen.19 Vorausgesetzt hat das Gericht allerdings, dass der Eingriff erheblich ist. Dies hänge vom Grad des Verschuldens, von Art und Schwere der Benachteiligung, von Nachhaltigkeit und Fortdauer der Interessenschädigung sowie von Anlass und Beweggrund des Handelnden ab.
Die Ausschlussfrist des § 15 Abs. 4 AGG gilt allerdings zunächst lediglich für die aus § 15 Abs. 1 und 2 AGG resultierenden Ansprüche. Bejahte man nun zusätzlich einen Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB, bestünde die Gefahr, dass § 15 Abs. 4 AGG unterlaufen wird.20 Dies könnte für eine analoge Anwendung des Abs. 4 auch auf deliktsrechtliche Schadensersatzansprüche sprechen. Andererseits lässt § 15 Abs. 5 AGG ausdrücklich Ansprüche aus anderen Rechtsvorschriften unberührt. Zudem ist ein Absenken des Schutzniveaus, das mit der Übertragung der Ausschlussfrist auf deliktische Ansprüche verbunden wäre, gem. Art. 8 Abs. 2 RL 2000/78/EG und Art. 6 Abs. 2 RL 2000/43/EG unzulässig. Ein ähnliches Konkurrenzproblem stellt sich bei Ansprüchen wegen einer Diskriminierung während des Arbeitsverhältnisses (s. Kap. 6 VI.5.a)).
______________ 18
Nur im Ausnahmefall kann hierin eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts liegen, die zu einem Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB führt; hierzu sogleich. 19 BAG, NJW 1986, 2529, 2533. 20 In Betracht kommt zudem ein Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 Nr. 1 und 2 BGB iVm § 7 Abs. 3 AGG. Letztgenannte Norm erklärt Verstöße gegen das AGG zu Vertragsverletzungen, obwohl Maßstab für Vertragspflichten und ihre Verletzungen eigentlich der Vertrag und nicht das Gesetz ist.
II. Fürsorge- und Treuepflichten
123
II. Fürsorgepflichten des Arbeitgebers und Treuepflichten des Arbeitnehmers Jedem Schuldverhältnis wohnen außer den vereinbarten Hauptleistungspflichten weitere Nebenpflichten inne. Im Zuge der Reform des Schuldrechts wurde dies ausdrücklich in § 241 Abs. 2 BGB aufgenommen. Diese Pflichten erlangen im Arbeitsverhältnis besondere Bedeutung, weil es durch einen intensiven Kontakt der Vertragsparteien geprägt ist. Hinzu kommt, dass weite Bereiche arbeitsrechtlich nicht durch Gesetzes-, sondern Richterrecht bestimmt werden und sich die im Vertrag niedergelegten Pflichten zudem erst durch Weisungen des Arbeitgebers konkretisieren.
1. Rücksichtnahme auf religiöse Belange Den Arbeitgeber trifft ein ganzes Bündel von Schutz-, Obhuts-, Auskunftsund anderen Interessenwahrungspflichten, die unter dem Sammelbegriff der Fürsorgepflichten zusammengefasst werden.21 „Die Fürsorgepflicht verlangt vom Arbeitgeber, dass er bei allen seinen Maßnahmen, auch soweit er Rechte ausübt, auf das Wohl seines Arbeitnehmers Bedacht nimmt“, so das BAG.22 Er ist gehalten, „alle Handlungen zu unterlassen, die die Rechtsstellung des Arbeitnehmers ungerechtfertigt nachteilig beeinflussen können“.23
Hierzu gehört auch die Pflicht, auf bestehende religiöse Belange Rücksicht zu nehmen,24 denn wenn schon ein so weitreichendes Pflichtenprogramm besteht, muss der Arbeitgeber gerade die Belange des Arbeitnehmers beachten, die bereits grundrechtlich einen besonderen Schutz genießen und hierzu gehören die Religions- und Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG). Zum Teil ist dies bereits verfassungsrechtlich geboten, insbesondere dann, wenn es um die Glaubens-, Bekenntnis- und Gewissensfreiheit geht (s. Kap. 4 VI). Aber auch im Übrigen muss § 241 Abs. 2 BGB verfassungsorientiert ausgelegt werden: Die Bestimmung der „Rechte, Rechtsgüter und Interessen“ des Arbeitnehmers, die der Arbeitgeber zu berücksichtigen hat, hat gerade auch im Lichte der Wertentscheidungen zu erfolgen, die der Gesetzgeber aufgestellt hat ______________ 21 Die Terminologie variiert, in der Sache besteht hingegen Einigkeit; s. ErfK-Preis, § 611 BGB Rn. 753 ff.; Gamillscheg, Arbeitsrecht I, S. 378. 22 BAG, AP Nr. 6 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht. 23 BAG, AP Nr. 67 zu § 616 BGB. 24 Brox, Anm. zu BAG AP Nr. 27 zu § 611 BGB Direktionsrecht; ErfK-Dieterich, Art. 4 GG Rn. 21; Preis/Greiner in: FS Rüfner, 2003, S. 653, 660; Oetker, RdA 2004, 8, 11 und 14.
124
Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
und damit in erster Linie vor der des Grundgesetzes (s. Kap. 4 II.3 und II.4). Die Heranziehung der Gewährleistungen von Art. 4 GG ist dabei deshalb möglich,25 weil sich Glaube und Gewissen in jeder Lebenslage äußern und dem Einzelnen Handlungspflichten auferlegen, die gerade im Arbeitsleben zu Konflikten mit anderen, den Interessen des Arbeitgebers, denen von Arbeitskollegen und sogar Dritten führen können. Hierfür spricht auch § 75 Abs. 1 S. 1 BetrVG, der zwar nicht unmittelbar zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Geltung entfaltet, aber als kollektivrechtliche Norm Diskriminierungen aufgrund der Religion verhindern will. Er bestimmt maßgeblich das Pflichtenprogramm des Arbeitgebers auch im Verhältnis zum einzelnen Arbeitnehmer mit.26 Die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers stößt dabei auf Nebenpflichten des Arbeitnehmers (die sog. Treuepflicht), die es ihm gebieten alles zu unterlassen, was die Funktionsfähigkeit des Betriebs oder die notwendige betriebliche Ordnung gefährdet oder beeinträchtigt.27 Hierzu gehört zum einen, die eigene Religionszugehörigkeit oder religiöse Überzeugungen zu offenbaren, wenn sie für das Arbeitsverhältnis relevant sind und der Arbeitgeber nach Treu und Glauben mit der Mitteilung rechnen darf.28 Zum anderen kann die Treuepflicht des Arbeitnehmers ihm gebieten, den Arbeitgeber (sowie die Arbeitskollegen) von seinen religiösen Überzeugungen frei zu halten, nicht für sie zu werben oder sie gar anderen oktroyieren zu wollen (negative Seite der Religionsfreiheit, s. Kap. 4 VI.3.a)).29
2. Grenzen der Fürsorgepflichten des Arbeitgebers Da es in der Regel der Arbeitnehmer ist, der eine Sonderstellung für sich reklamiert, weil er besonderen religiösen Verpflichtungen unterliegt, ist die Reichweite der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers eine entscheidende Weichenstellung. Ihm obliegt es zumindest, die Anliegen seiner Arbeitnehmer, die religiös bedingt sind, ernsthaft und wohlwollend auf ihre Vereinbarkeit mit betrieblichen Interessen hin zu prüfen. Sollten betriebliche Interessen nicht entgegenstehen, muss er sie berücksichtigen. Betrachtet man die bereits skizzierte Rechtsprechung, bildet sich eine recht trennscharfe Grenze heraus. Danach hat der Arbeitgeber den Arbeitsablauf umzustrukturieren, um den Bedürfnissen ______________ 25
Zur Begründungspflicht s. Kap. 4 II.4.d). ErfK-Kania, § 75 BetrVG Rn. 1; GK-Kreutz, § 75 BetrVG Rn. 25. 27 V. Hoyningen-Huene/Linck, KSchG, § 1 Rn. 273. Jene Pflicht kann sich sogar auf das Privatleben des Arbeitnehmers erstrecken, s. ErfK-Preis, § 611 BGB Rn. 892 ff. Dies gilt insbes. im Bereich des öffentlichen Dienstes, hierzu Abschnitt VIII.1. 28 BAG, NZA 1991, 719; ErfK-Preis, § 611 BGB Rn. 353. 29 ErfK-Dieterich, Art. 4 GG Rn. 21 und 19. 26
II. Fürsorge- und Treuepflichten
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seines Arbeitnehmers Rechnung zu tragen, Betriebsablaufstörungen muss er allerdings nicht hinnehmen.30 Maßnahmen der Umorganisation des Betriebsablaufs sind also notwendig, auch wenn sie einen gewissen Aufwand erfordern; die Einstellung eines zusätzlichen Mitarbeiters oder die Inkaufnahme von Produktionsausfällen wären jedoch unangemessen. Ähnlich sieht es das US-amerikanische Recht, das jene Konflikte allerdings im Rahmen des Antidiskriminierungsrechts behandelt. Title VII des Civil Rights Act von 1964, sec. 701(j) bestimmt, dass der Arbeitgeber reasonable accommodations zu ergreifen hat, um den Bedürfnissen der Arbeitnehmer entgegen zu kommen, bis zur Grenze von undue hardship on the conduct of the business. Die Rechtsprechung konkretisierte die Grenze unverhältnismäßiger Belastungen dahingehend, dass weder eventuell entstehende Nachteile für Arbeitskollegen noch die aufzuwendenden Kosten eine de-minimis-Grenze übersteigen dürfen (s. Kap. 6 IV.3.d) und Kap. 7 II.2.a)). Wann Umstrukturierungsmaßnahmen jene Grenze überschreiten, ist freilich auch dort eine Wertungsfrage, die vom konkreten Einzelfall abhängt. Für den Bereich des öffentlichen Dienstes gelten in Bezug auf das Verhalten und die Religionsausübung der Arbeitnehmer strengere Anforderungen.31
3. Konkretisierung des Begriffs der Betriebsablaufstörungen Gegen den Topos der Betriebsablaufstörung sollen keine Einwände erhoben werden. In der Tat kann hierin der Beginn einer Grenzziehung der Pflichten des Arbeitgebers liegen. Sie bedarf jedoch der Konkretisierung.
a) Religion und Gewissen Insbesondere dann, wenn von den notwendigen Umstrukturierungsmaßnahmen Arbeitskollegen betroffen sind, ist die Reichweite dieser Maßnahmen problematisch. Muss unter Umständen ein Arbeitnehmer in einen anderen Betrieb versetzt werden, wenn dort jemand aus religiösen Gründen die Tätigkeit einstellt? Ist dies auch notwendig, wenn dieser Betrieb weit von dem entfernt liegt, in dem der Arbeitnehmer bislang beschäftigt war? Muss der Arbeitgeber nur innerhalb einer Abteilung, innerhalb des Betriebs oder gar im gesamten Unternehmen oder Konzern nach Aushilfskräften suchen, die die Arbeit übernehmen können? ______________ 30 31
Hierzu Kap. 3 II und dort insbes. Abschnitt II.5. Hierzu Abschnitt VIII.1.
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Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
Generelle Aussagen lassen sich kaum formulieren. Letztlich ist es eine Frage des konkreten einzelnen Falles und bedarf eben jener skizzierten Abwägung der gegenseitigen Pflichten, die Rechtsprechung und Schrifttum stets vornehmen. An dieser Stelle soll lediglich versucht werden zu verdeutlichen, dass auch innerhalb dieser Abwägung religiöse und Gewissenskonflikte unterschiedlichen Lösungswegen folgen.32 Beruft sich ein Arbeitnehmer auf sein Gewissen, können die vom Arbeitgeber abverlangten Bemühungen weitreichender sein als in den Fällen, in denen der Arbeitnehmer zwar religiösen Geboten nachgehen möchte, diese für ihn aber keine absolute Verbindlichkeit besitzen wie sie Gewissensentscheidungen beanspruchen. Das Gewissen ist Kompromissen nicht zugänglich,33 ein schonender Ausgleich zwischen den gegenläufigen Interessen ist bei Betroffenheit der Gewissensfreiheit regelmäßig nicht möglich. 34 Das bedeutet, der Arbeitnehmer kann seinem Gewissen nachkommen oder er muss das Arbeitsverhältnis beenden. Gegen sein Gewissen zu handeln, würde ihn in seinem unverzichtbaren, innersten Persönlichkeitskern treffen und das kann von ihm nicht verlangt werden. Ein Kompromiss, der vorsieht, dass der SiebentenTags-Adventist etwa nur jeden vierten Samstag arbeitet oder dass die Muslima bei Kundenkontakt das Kopftuch ablegt, existiert nicht, wenn beide Entscheidungen für die Betreffenden absolut verbindlich sind. Ob dem so ist, ist freilich Tatfrage. Dahingegen ließe sich durchaus über eine Vereinbarung nachdenken, die es einem Muslim erlaubt, statt wie gewünscht um acht Uhr erst um halb neun sein Morgengebet zu verrichten (sofern seine religiösen Pflichten dies zulassen) oder einem Christen lediglich bei Kundenkontakt verbietet, ein Kruzifix am Revers zu tragen. Bei reiner Religionsausübung sind solche Kompromisse möglich. Daher ist es zwar richtig, wenn Böckenförde – der sowohl vom LAG Hamm in den Urteilen zu Gebetspausen muslimischer Arbeitnehmer als auch dem LAG Hessen, dem BAG und dem BVerfG im Streit um das Kopftuch zitiert wird – schreibt, „dass ein Verhalten, das sich als Bekenntnisakt darstellt, unabhängig davon von der Bekenntnisfreiheit umfasst wird, ob es generell Erfüllung einer religiösen Pflicht für die Angehörigen des Bekenntnisses ist oder lediglich eine religiöse Tradition oder einen religiösen Brauch darstellt, der sich eingebürgert hat“.35 Die Anforderungen an die Bemühungen des Arbeitgebers sind im erstgenannten Fall jedoch höher. ______________ 32
Hierzu bereits Kap. 2 III und Kap. 4 VI.3. Luhmann, AöR 90 (1965), 257, 270. 34 Rüfner, RdA 1992, 1, 3 in Anlehnung an Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 1990; so auch Muckel, Religiöse Freiheit, 1997, S. 22 und 259. 35 Böckenförde, NJW 2001, 723, 724; vgl. aber Preis/Greiner, RdA 2003, 244, 245; s. auch Kap. 3 II.1 und II.2. 33
II. Fürsorge- und Treuepflichten
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b) Betroffenheit von Arbeitskollegen Häufig sind dadurch, dass der Arbeitgeber auf religiöse Belange eines Mitarbeiters Rücksicht nimmt, auch andere Arbeitnehmer betroffen, weil sie etwa ihren Arbeitsplatz räumen müssen, um dem Betreffenden die Möglichkeit zu geben, dort beschäftigt zu werden. Unter Umständen müssen sie sogar in einen anderen Betrieb versetzt werden, mittels Direktionsrechts oder sogar einer Änderungskündigung. Gerade hier zeigt sich die unterschiedliche Reichweite der Pflichten des Arbeitgebers. Geht es allein um ein religiöses Gebot, das für den Arbeitnehmer nicht derart verbindlich ist, dass er hierauf im Ernstfall nicht auch verzichten kann, wird es in der Regel unzumutbar sein, Kollegen über weite Distanzen hinweg in einen anderen Betrieb zu versetzen. Kann der Arbeitnehmer nicht anders und besteht für ihn – da es sich um eine Gewissensentscheidung handelt – nur die Alternative, seinen Arbeitsplatz aufzugeben, mag eine derartige Versetzung gemessen am Interesse des Arbeitnehmers am Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses gerechtfertigt sein. Der Betriebsrat ist dann gehalten ihr zuzustimmen, er darf die Zustimmung nicht nach § 99 Abs. 2 Nr. 3 BetrVG verweigern.36 Auswirkungen hat dies insbesondere, wenn dem Arbeitnehmer aufgrund seiner Arbeitsverhinderung gekündigt werden soll und der Bestandsschutz des KSchG greift. Die Interessenabwägung, die sowohl bei verhaltens- als auch personenbedingter Kündigung notwendig ist, erfordert eine klare Unterscheidung zwischen rein-religiösen und gewissensgebundenen Pflichten (s. V.1).
c) Suche nach Aushilfskräften Auf der anderen Seite stellt sich für den Arbeitgeber die Frage, wie intensiv seine Suche nach Aushilfskräften sein muss, um religiösen Wünschen oder Pflichten eines einzelnen Arbeitnehmers Rechnung zu tragen.37 Lehnt jemand aus rein-religiösen Gründen bspw. eine bestimmte Tätigkeit ab, ist der Arbeitgeber zwar gehalten zu prüfen, ob er mit vertretbarem Aufwand dem Wunsch des Arbeitnehmers nachkommen kann. Da dieser aber durchaus in der Lage ist, auch gegen diesen Wunsch weiterzuarbeiten, wird es in der Regel genügen, wenn sich der Arbeitgeber bemüht, den Ablauf des Betriebs umzustrukturieren, um Kollegen mit der Tätigkeit zu betrauen.
______________ 36
Vgl. hierzu Beck, Gewissenskonflikt und Arbeitsverhältnis, 1995, S. 174 ff. Vgl. Rüthers/Henssler, Anm. zu BAG, AP Nr. 9 zu § 1 KSchG Personenbedingte Kündigung. 37
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Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
Handelt der Betreffende aber aus einem Gewissenskonflikt heraus, gibt es für ihn keine Alternative. Entweder findet der Arbeitgeber einen neuen Tätigkeitsbereich oder er beschäftigt ihn eine Zeitlang, ohne dass er arbeitet, oder er kündigt ihm. Die Kündigung aber ist ultima-ratio, insofern kann es notwendig sein, nicht nur im Betrieb, sondern im gesamten Unternehmen nach Aushilfskräften zu suchen, unter Umständen sogar im Konzern.38
III. Auslegung und Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen Bislang hatte sich die Rechtsprechung mit Arbeitsverträgen zu befassen, die keine besonderen Regelungen in Bezug auf religiöse oder weltanschauliche Konflikte enthielten. Es ist keine gängige Praxis arbeitsvertraglich festzulegen, ob eine Frau mit islamischem Kopftuch erscheinen darf, ob und wann ein muslimischer Arbeiter Gebetspausen verrichten darf oder in welcher Weise für religiöse Auffassungen am Arbeitsplatz Werbung betrieben werden darf. Dies ist vermutlich auch gut so, sonst müssten Arbeitnehmer mit weitreichenden Reglementierungen rechnen. Angesichts der zunehmenden Bedeutung religiöser Konflikte sowohl im Arbeits-, als auch im Beamtenrecht, könnte sich dies in naher Zukunft jedoch ändern.39 Gerade das Kopftuchurteil des BAG und der Streit um den Hijab von Frau Ludin haben Aufsehen erregt, so dass die Vermutung nahe liegt, dass Arbeitgeber zukünftig versuchen werden, solchen Konflikte im Voraus mittels vertraglicher Regelung aus dem Weg zu gehen. Inwieweit die allgemeinzivilrechtlichen Normen solche Regelungen zulassen, gilt es zu klären. 40
1. Gesetzliche Verbote (§ 134 BGB) § 134 BGB diente dem BAG in der Vergangenheit häufig zur Heranziehung grundrechtlich geschützter Rechtspositionen. So erklärte das Gericht etwa eine sog. Zölibatsklausel, nach der ein Lehrverhältnis spätestens mit Ablauf des Monats der Eheschließung ende, u.a. nach § 134 BGB iVm Art. 6 GG für nich______________ 38
Entsprechend hat das BAG ausnahmsweise einen konzernweiten Weiterbeschäftigungsanspruch anerkannt, s. hierzu BAG, NJW 1984, 381, 382 und jüngst BAG, ZIP 2005, 1044. 39 Auch die Literatur hat sich mit den arbeitsvertraglichen Möglichkeiten bislang kaum auseinander gesetzt; eine Ausnahme bilden Preis und Greiner in: FS Rüfner, 2003, S. 653, 662 f. 40 Auf die Auswirkungen des Antidiskriminierungsrechts wird in den Kap. 6 und 7 eingegangen.
III. Auslegung und Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen
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tig.41 In einem anderen Fall lehnte das BAG zwar eine Nichtigkeit der vertraglichen Regelung ab, erklärte aber, dass die Kündigung eines Arbeitnehmers, die allein aufgrund seiner politischen Ansichten erfolgt, gemäß § 134 BGB iVm Art. 5 GG oder iVm Art. 3 Abs. 3 GG unwirksam sein könne.42 Erstaunlicherweise hat sich jene Rechtsprechung bis in die heutige Zeit fortgesetzt. Lange nach Dürigs grundlegendem Beitrag zur sog. mittelbaren Drittwirkung, worin er die Heranziehung von Grundrechten als gesetzliche Verbote bereits ausgeschlossen hatte,43 bestätigte das BAG44 im Jahre 1990 eine damals knapp zwei Jahre alte Entscheidung, in der es eine Nebentätigkeitsvereinbarung an Art. 12 GG maß und in Erwägung zog, dass diese nach § 134 GG iVm Art. 12 GG unwirksam sein könne.45 Ebenso wie die Prämisse der verfassungskonformen Auslegung von Arbeitsverträgen46 ließe sich dies nur aufrecht erhalten, wenn man weiterhin von einer Grundrechtsbindung des Arbeitgebers ausginge. Als Verbotsgesetz im Rahmen von § 134 BGB kommen solche Normen in Betracht, die sich gegen die Vornahme des Arbeitsvertrags bzw. gegen die Vereinbarung einer Vertragsklausel richten, um bestimmte Gemeinschaftsinteressen zu schützen.47 Voraussetzung dafür, dass ein Grundrecht ein Verbotsgesetz darstellt, ist demnach, dass es sich gegen die Vornahme eines Rechtsgeschäfts richtet, was nur der Fall sein kann, wenn man von einer Grundrechtsbindung der Parteien ausginge. Jene statuiert Art. 9 Abs. 3 GG, alle anderen Grundrechte binden aber nur die staatliche Gewalt.48 § 134 BGB kann deshalb entgegen der Rechtsprechung des BAG nicht iVm Grundrechtsnormen zur Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen herangezogen werden.49 Dies gilt für sämtliche Grundrechte, die sich nicht (wie Art. 9 Abs. 3 GG) an Private richten, also auch für Art. 3 Abs. 3 GG. Lehnt man eine Bindung Privater ab, kann aus einem Grundrecht nicht die Unwirksamkeit einer privatrechtlichen Vereinbarung folgen, auch nicht über den Umweg des § 134 BGB. Die Norm setzt voraus, dass das Verbotsgesetz selbst die Unwirksamkeit des zivil______________ 41
BAG, AP Nr. 1 zu Art. 6 GG Ehe und Familie, Teil VI. BAG, NJW 1973, 77 f. 43 Dürig in: FS Nawiasky, 1956, S. 157, 162 ff.; vgl. von Koppenfels, WM 2002, 1489, 1493 Fn. 39. 44 BAG v. 06.09.1990 – 2 AZR 165/90, NZA 1991, 221, 223. 45 BAG v. 18.11.1988 – 8 AZR 12/86, NZA 1989, 389, 390. 46 Vgl. Kap. 4 V.3.a). 47 BGH, NJW 1983, 109. 48 Hierzu Kap. 4 II.1. 49 Boemke/Gründel, ZfA 2001, 245, 251 f.; Dürig in: FS Nawiasky, S. 157, 162 ff.; Palandt-Heinrichs, § 134 BGB Rn. 4; Hoevels, Islam und Arbeitsrecht, 2003, S. 50; Preis, Vertragsgestaltung, 1993, S. 156. 42
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Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
rechtlichen Vertrags bezweckt und das ist bei Freiheitsrechten ebenso wenig der Fall wie bei Gleichheitsrechten.50 Außerdem existiert ein gleichheitsrechtliches Schutzminimum, das der Staat zwischen Privaten zu sichern hätte, nicht.51 Bereits deshalb ist eine Heranziehung von Art. 3 Abs. 3 GG im Rahmen von § 134 BGB verfehlt.
2. § 75 Abs. 1 S. 1 BetrVG Auch § 75 Abs. 1 S. 1 BetrVG scheidet auf individualrechtlicher Ebene als Verbotsgesetz aus. Die Norm wendet sich explizit an die Betriebsvertragsparteien und bestimmt, wie sich diese zu verhalten haben, ohne den Arbeitgeber gegenüber seinen Arbeitnehmern zu binden. § 75 BetrVG hat kollektiven Charakter,52 begründet aber weder subjektive Ansprüche des einzelnen Arbeitnehmers noch führt er (über § 134 BGB) zur Unwirksamkeit einer diskriminierenden Vertragsregelung.53 Es wäre auch nicht einzusehen, weshalb solche Regelungen nur in Betrieben mit Betriebsrat unwirksam sein sollten, nicht jedoch in allen anderen. Dennoch bestimmt § 75 Abs. 1 S. 1 BetrVG maßgeblich das Pflichtenprogramm der Arbeitsvertragsparteien mit und ist deshalb für die Bestimmung der gegenseitigen Rücksichtnahmepflichten von Bedeutung (s. II).
3. Sittenwidrige Verträge (§ 138 BGB) Statt als Verbotsgesetz können grundrechtliche Gewährleistungen über den Tatbestand der Sittenwidrigkeit ins einfache Recht einfließen. § 138 BGB vermag auf diese Weise die Möglichkeit zur Inhaltskontrolle unangemessener Verträge zu bieten. Gegen die guten Sitten verstoßen Regelungen, die dem „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ widersprechen.54 Hierher gehören einerseits grundlegende, der Rechtsordnung immanente Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens, wie sie in den Grundrechten zum Ausdruck kommen, andererseits auch die in der Gemeinschaft anerkannten moralischen ______________ 50 Boemke/Gründel, ZfA 2001, 245, 251 f.; Oetker, RdA 2004, 8, 13; a.A. Canaris, AcP 184 (1984), 201, 236; ihm zust. Hoevels, Islam und Arbeitsrecht, 2003, S. 50, allerdings ohne weitere Auseinandersetzung mit der Frage, ob sich aus Art. 3 Abs. 3 GG überhaupt Schutzpflichten ableiten lassen; hiergegen Rädler, NJW 1998, 1621, 1622. 51 s. Kap. 4 IV. 52 BAG, AP Nr. 2 zu § 74 BAT, vorletzter Absatz; ErfK-Kania, § 75 BetrVG Rn. 1; GKKreutz, § 75 BetrVG Rn. 23 f. 53 Oetker, RdA 2004, 8, 13; GK-Kreutz, § 75 BetrVG Rn. 139. 54 St. Rspr. seit RGZ 48, 114, 124; vgl. aus neuerer Zeit nur BGHZ 69, 295, 297; BAG, NJW 1976, 1958.
III. Auslegung und Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen
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Anschauungen.55 Beide Aspekte stellen recht niedrige Anforderungen an privatrechtliche Vereinbarungen, die gern als Minimalethik beschrieben werden.
a) Die Unterscheidung zwischen Glaube, Religionsausübung und Gewissen Eine genauere Konkretisierung ist in Bezug auf die Regelung religiöser Pflichten und Bedürfnisse im Arbeitsvertrag bislang nicht gelungen. Anknüpfen lässt sich auch insoweit an die Differenzierungen, die bereits die Verfassung in den Abs. 1 und 2 von Art. 4 GG trifft.56 Das rechtsethische Minimum, das § 138 BGB gewährleistet, liegt demzufolge jedenfalls in der Freiheit, eine Religion zu haben, d.h. sich für eine Religion zu entscheiden, an Gott oder eine andere höhere Macht zu glauben usw., kurzum in der Glaubensfreiheit. Dass niemand einem anderen seinen Glauben oktroyieren darf, dürfte dem Grundkonsens unserer Gesellschaft entsprechen.57 Die Ausübung religiöser Bräuche, Traditionen oder Wünsche gerät hingegen häufig in Konflikt mit arbeitsvertraglichen Pflichten, so dass die Ausübung der Religion in weitem Maße arbeitsvertraglich geregelt werden kann und unter Umständen auch muss. Diese Unterscheidung legt folgende These nahe: Solang eine arbeitsvertragliche Klausel allein die Religionsausübung beschränkt, widerspricht sie nicht den guten Sitten. Sofern sie aber den Glauben unmittelbar betrifft oder Gewissensentscheidungen des Arbeitnehmers unterdrückt, ist sie zumindest rechtfertigungsbedürftig. Im Einzelfall kann sie nach § 138 BGB nichtig sein, wenn sowohl objektiver als auch subjektiver Tatbestand erfüllt sind. Rechtfertigen lässt sich diese Beschränkung des Glaubens oder des Bekenntnisses58 regelmäßig bei kirchlichen und Tendenzbetrieben. 59
b) Ein Blick auf Rechtsprechung und Schrifttum Ein Blick auf Rechtsprechung und Schrifttum scheint diese These zu bestätigen. Als besonders verwerflich wurden und werden stets solche Angebote und Vereinbarungen angesehen, die die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit betreffen. So hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerde eines Häftlings gegen die Ent______________ 55
Palandt-Heinrichs, § 138 BGB Rn. 2 ff. s. Kap. 2 III.4 und Kap. 5 II.2. 57 s. hierzu die Nachweise in den Fn. 60 ff. 58 Zum Begriff s. Kap. 2 Fn. 55 und Kap. 4 Fn. 126. 59 Sie werden hier nicht behandelt, s. Kap. 1 III. 56
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Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
scheidung des BGH für unbegründet erklärt, der ein Gesuch um bedingte Entlassung aus der Strafhaft abgelehnt hatte. 60 Der Gefangene hatte während der Haft unter seinen Mitgefangenen für den Kirchenaustritt geworben und ihnen hierfür Tabak angeboten. Der Beschwerdeführer sei, so das BVerfG, nicht in seinem Grundrecht aus Art. 4 GG verletzt, da er es missbraucht habe. Auch wenn diese Argumentation so nicht haltbar ist (s. bereits Kap. 3 II.4.a)), zeigt sie doch, dass eine Störung im Bereich der Glaubensfreiheit als besonders gravierend angesehen wird. Vermutlich wäre die Entscheidung anders ausgefallen, wenn der Gefangene lediglich dafür geworben hätte, an den folgenden Sonntagen nicht zum Gottesdienst zu gehen, denn dann ist lediglich die Ausübung der Religion und nicht der Glaube selbst betroffen. Auch im bereits erwähnten Urteil des BVerwG61 wurde einem Lehrherren die Befugnis zur Ausbildung entzogen, weil er versucht hatte, seine Lehrlinge für die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas zu gewinnen und auf diese Weise Einfluss auf ihren Glauben und nicht bloß auf ihre Religionsausübung genommen hatte. Bereits das Reichsgericht hat entschieden, dass der Entschluss zum Glaubenswechsel nicht mit Geldzuwendungen beeinflusst werden darf. In zwei Urteilen aus den Jahren 188862 und 191363 erklärte es jeweils eine Verfügung von Todes wegen insoweit für nichtig, als sie die Zuwendung davon abhängig machte, dass der Bedachte seine Religion beibehält. „Denn es widerspricht gröblich der Auffassung sittlich ernstdenkender Volkskreise, in religiösen Dingen auf die Freiheit der Entschließung eines anderen, die nur Sache eigener innerster Überzeugung sein darf, durch Inaussichtstellen von äußeren Vermögensvorteilen oder Nachteilen einzuwirken“.64
Im Jahre 1933 entschied das Kammergericht, dass ein Kaufvertrag insoweit sittenwidrig sei, als er dem Käufer Vertragsstrafen aufbürde für den Fall, dass er sich oder eines seiner Kinder katholisch taufen lassen sollte.65 Dies gelte selbst dann, hebt das Gericht hervor, wenn die Verpflichtung aus freien Stücken eingegangen worden sei.66 Besonders deutlich klingt die vorgeschlagene Differenzierung in einem Beschluss des OLG Braunschweig aus dem Jahre 1975 an.67 Als Inhalt eines Erb______________ 60
BVerfGE 12, 1. s. Kap. 3 II.4.a). 62 RGZ 21, 279. 63 RG, SeuffA 69 (1914) Nr. 48. 64 RG, SeuffA 69 (1914) Nr. 48, S. 91. 65 KG, HRR 1933 Nr. 1830. 66 KG, HRR 1933 Nr. 1830, Ende der ersten und Anfang der zweiten Spalte. 67 OLG Braunschweig, OLGZ 1976, 52. 61
III. Auslegung und Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen
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baurechts sollte ins Grundbuch eingetragen werden, dass der Grundstückseigentümerin ein Heimfallanspruch für den Fall zustehe, dass „einer der jeweiligen Erbbauberechtigten nicht der evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig angehört oder wenn er oder seine mit ihm in Hausgemeinschaft lebenden Familienangehörigen (Ehegatte und Kinder) sich kirchenfeindlich betätigen.“ Das Gericht erklärte den ersten Teil der Klausel für sittenwidrig, da der Vertrag die „auf religiösem Gebiete zu treffende Entscheidung in sittenwidriger Weise mit wirtschaftlichen Vorteilen und Nachteilen verknüpft“.68 Den zweiten Teil der vertraglichen Regelung hielt das OLG Braunschweig hingegen für wirksam. „Hier wird nicht auf die Freiheit der Entschließung auf religiösem Gebiete eingewirkt, sondern Toleranz gegenüber der Kirche, der gesetzlichen Vertreterin der Ausgeberin des Erbbaurechts, gefordert.“69 Die Stellungnahmen des Schrifttums weisen in die gleiche Richtung. Sittenwidrigkeit wird in den Fällen angenommen, in denen mittels Vermögenszuwendungen bzw. Vermögenseinbußen Einfluss auf die freie Religionswahl genommen wird.70 Teilweise wird die Beschränkung der Religionsausübung für zulässig gehalten, ohne auf die Unterscheidung zwischen Glaubensfreiheit und Religionsausübungsfreiheit bzw. zwischen Religionswahl und Religionsausübung einzugehen.71 Recht einmütig fallen auch die Stellungnahmen zur Beschränkung der Gewissensfreiheit aus. Hier wird stets das Verhandeln über einen Gewissensvorbehalt für zulässig gehalten, wohingegen ein Vertrag sittenwidrig sein soll, wenn das Gewissen „gezielt abgekauft wird“.72 Niloufar Hoevels schreibt in ______________ 68
OLG Braunschweig, OLGZ 1976, 52, 54. OLG Braunschweig, OLGZ 1976, 52, 56. 70 So Flume, BGB-AT II, S. 368 f.; Soergel-Hefermehl, § 138 BGB Rn. 21 ff.; Heffter, Glaubens- und Gewissensfreiheit im Schuldverhältnis, 1968, S. 8; Larenz/Wolf, BGB-AT, § 41 Rn. 46 und 48; Otto, Personale Freiheit und soziale Bindung, 1978, S. 120; StaudingerSack, § 138 BGB Rn. 467; ebenso die Vorauflage Staudinger-Dilcher, 12. Auflage 1979, § 138 BGB Rn. 86; Scheschonka, Leistungsverweigerung aus Glaubens- oder Gewissensnot, 1972, S. 16; Scherner, BGB-AT, S. 229 f.; Bamberger/Roth-Wendtland, § 138 BGB Rn. 75; ebenso Canaris, AcP 184 (1984), 201, 237, der allerdings den Rückgriff auf § 138 BGB für überflüssig hält (s. Kap. 4 II) sowie Rädler, NJW 1998, 1621, 1622. 71 So Adam, NZA 2003, 1375, 1377; a.A. offenbar ErfK-Dieterich, Art. 4 GG Rn. 22, der auch den „Verzicht auf religiöse Betätigung“ für sittenwdrig hält. 72 So etwa Beck, Gewissenskonflikt und Arbeitsverhältnis, 1995, S. 70; Diederichsen in: FS Michaelis, 1972, S. 36, 39 Fn. 19 und S. 60; Häusele, Weisung und Gewissen, 1989, S. 150; ähnlich Hansen, Glaubens- und Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 2000, S. 90; Isenhardt, Freiheit des Gewissens im Privatrecht, 1972, S. 53 f.; H. Kaufmann, AcP 161 (1962), S. 289, 305; Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 1990, S. 110; Kraft, AcP 163 (1963), 472, 483; Otto, Personale Freiheit und soziale Bindung, 1978, S. 119 ff.; Preis/Greiner in: FS Rüfner, 2003, S. 653, 659; Scheschonka, Leistungsverweigerung aus Glaubens- oder Gewissensnot, 1972, S. 16. 69
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Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
ihrer Dissertation „Islam und Arbeitsrecht“ (2003, S. 51) zu § 138 BGB: „Nur wenn beispielsweise eine Gewissensentscheidung mit materiellen Zuwendungen ‚gekauft‘ oder ‚verkauft‘ wird, in dem also der Mensch zum bloßen Objekt herabgewürdigt wird, liegt Nichtigkeit vor.“
c) Konsequenzen Folgt man dieser Unterscheidung für § 138 BGB, hat dies zur Konsequenz, dass Verträge, die allein die Religionsausübung einschränken, nicht sittenwidrig sind.73 Die Parteien könnten also vereinbaren, dass der Arbeitnehmer seinen Arbeitsplatz nur während der Pausenzeiten verlassen darf, auch wenn der muslimische Arbeitnehmer gerne außerhalb dieser Zeiten seine Gebete verrichten möchte. Ihnen ist es ebenso unbenommen festzulegen, dass verzichtbare religiöse Symbole nicht während der Arbeitszeit getragen werden dürfen oder dass Werbung für Religionsgemeinschaften auf dem Betriebsgelände nichts zu suchen hat. Nicht ausgeschlossen ist freilich, dass sich der Arbeitnehmer auf § 242 BGB oder § 275 Abs. 3 BGB beruft (s. Abschnitt IV). Er hat dann aber die Möglichkeit, der Vereinbarung Folge zu leisten, auch wenn sie seine Religionsausübung stark einschränkt. Sittenwidrig sind nur solche Klauseln, die jegliche religiöse Betätigung – auch in der Freizeit – ausschließen, denn dass ein Mindestmaß gewahrt bleiben muss, fordert bereits Art. 4 Abs. 2 GG.74 Diese These kann nicht nur auf die bereits in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG angelegte Differenzierung verweisen, sie bietet auch die Möglichkeit zur relativ trennscharfen Abgrenzung sittenwidriger Rechtsgeschäfte und liefert damit ein größeres Maß an Rechtssicherheit. Der Glaube, also das „Haben“ einer Religion, kann im säkularen Arbeitsverhältnis deshalb nicht eingeschränkt werden; dies wird heutzutage in unseren Breiten aber auch kaum noch vorkommen. Von Relevanz sind hingegen Regelungen, die im Einzelfall Gewissensentscheidungen des Arbeitnehmers tangieren. Verbietet der Arbeitsvertrag bspw. pauschal das Tragen religiöser Symbole, so kann die sich zum Islam bekennende Arbeitnehmerin dieser vertraglich vereinbarten Unterlassungspflicht u.U. nicht nachkommen, weil sie den Hijab nicht ablegen darf. Ist das Tragen des Kopftuchs für sie verbindlich und handelt es sich deshalb um eine Gewissensentscheidung, stellt sich die Frage nach der Wirksamkeit der entsprechenden Klausel. Die Antwort hierauf hängt entschei______________ 73 Gebietet eine vertragliche Klausel hingegen gewisse religiöse Praktiken, so ist bereits aus grundrechtlichen Erwägungen eine Einschränkung geboten (hierzu Kap. 4 VI.3.a)). Die Klausel wäre dementsprechend gem. § 138 BGB sittenwidrig. 74 s. Kap. 4 VI.1.
III. Auslegung und Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen
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dend von der Ausgestaltung des Vertrags ab. Verbietet er generell religiöse Symbole, kann eine Auslegung bspw. dahingehend möglich sein, dass hiervon nur rein-religiöse Symbole, deren Tragen nicht verpflichtend ist, gemeint sind. Im Übrigen wird man um eine Einzelfallbetrachtung nicht umhin kommen. Je eher der Arbeitgeber für eine die Gewissensfreiheit des Arbeitnehmers beschränkende Klausel eine Rechtfertigung bieten kann, desto eher ist sie zulässig. Es ist deshalb denkbar, dass vereinbart wird, dass die Managerin eines Dessous-Herstellers kein Kopftuch trägt. Sie stellt das Unternehmen nach außen hin dar und dieser Darstellung käme es nicht zupass, wenn sie ihre Reize bedeckt, obwohl gerade die Produkte des Unternehmens die weiblichen Reize hervorheben wollen. Andererseits wäre eine Klausel, die pauschal ein Handeln nach dem eigenen Gewissen untersagt, wirkungslos da sittenwidrig. Insofern bleibt es bei einer Abwägung der gegenseitigen Interessen unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Wertentscheidungen. Kleidungsvorschriften werden in aller Regel jedoch höchstens die Religionsausübung und nicht das Gewissen beeinträchtigen. So ist das Kruzifix am Revers eines Christen allein ein nach außen sichtbares Zeichen seines Glaubens.75 Weder Katholiken, noch Protestanten, weder Anglikaner noch Orthodoxe sehen hierin ein zwingendes, elementares Gebot, so dass allein die Religionsausübung betroffen ist. Lässt sich der Arbeitnehmer auf die Vereinbarung ein, dass religiöse Symbole am Arbeitsplatz nicht erlaubt sind, verstößt der Vertrag nicht gegen die guten Sitten. Insoweit hält allerdings § 7 Abs. 1 AGG Änderungen bereit. Danach darf nicht zwischen den Religionen unterschieden werden, solange dies nicht wesentlich und entscheidend ist für die Ausübung der betreffenden Tätigkeiten (§ 8 Abs. 1 AGG). Da das Diskriminierungsverbot auch die Arbeits- und Einstellungsbedingungen erfasst (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG), beschränkt es insoweit die Möglichkeiten der freien Vereinbarung von Arbeitsverträgen (s. hierzu Kap. 7 I.4).
4. Das Diskriminierungsverbot des § 612a BGB Das Diskriminierungsverbot des § 612a BGB soll verhindern, dass Arbeitnehmer benachteiligt werden, weil sie in zulässiger Weise ihre Rechte ausüben.
______________ 75
Hierzu bereits Kap. 2 III.3 und Kap. 5 II.3.a).
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Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
a) Maßregelung des Arbeitnehmers Dem recht unmissverständlichen Wortlaut zufolge setzt die Norm voraus, dass der Diskriminierte bereits Arbeitnehmer ist. Arbeitnehmer wird man erst mit Begründung des Arbeitsverhältnisses, also mit Abschluss des Arbeitsvertrags. Der Arbeitsvertrag selbst kann deshalb keine Vereinbarung im Sinne von § 612a BGB darstellen, durch die der Arbeitnehmer benachteiligt werden könnte. Dies verdeutlicht auch der Vergleich mit dem neuen Antidiskriminierungsrecht. Dort wurde ausdrücklich klargestellt, dass das Gesetz bereits für die Einstellungsbedingungen Geltung entfaltet (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG), was europarechtlich auch geboten ist (vgl. die jeweiligen Art. 3 Abs. 1 lit. a der RL 2000/78/EG und RL 2000/43/EG). Trotz des Wortlauts plädiert Preis für eine Anwendung von § 612a BGB auch auf Stellenbewerber, also solche, die noch keine Arbeitnehmer sind. 76 Der Fall der Zölibatsklausel, nach der im Falle der Heirat der Arbeitnehmerin das Arbeitsverhältnis endet, soll ihm zufolge deshalb unter § 612a BGB statt unter § 138 BGB subsumierbar sein. § 612a BGB würde damit zu einem Instrument der (Inhalts-)Kontrolle von Arbeitsverträgen. Dies kann angesichts des klaren Wortlauts (Arbeitnehmer) nicht überzeugen. Auch der Vergleich zu § 611a BGB a.F. führt zu keinem anderen Ergebnis. Es ist zwar richtig, dass sich die europarechtlichen Vorgaben für § 612a BGB (Art. 5 RL 1975/117/EWG und Art. 7 RL 1976/207/EWG) allein auf die Geschlechtergleichbehandlung beziehen und dass dementsprechend die Vorschriften über die Diskriminierung wegen des Geschlechts zur Interpretation unter Umständen hilfreich sein können. Der Vergleich zu § 611a BGB a.F. legt jedoch gerade einen Umkehr- statt eines Parallelschlusses77 nahe. Im ersten Satz des ersten Absatzes wird der Anwendungsbereich dieser Vorschrift konkretisiert und explizit darauf hingewiesen, dass auch eine Diskriminierung „bei der Begründung des Arbeitsverhältnisses“ ausscheidet. Ebenso ist es nunmehr in § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG. Ein solcher Zusatz fehlt in § 612a BGB, so dass davon auszugehen ist, dass nur Arbeitnehmer, nicht aber Bewerber um einen Arbeitsplatz in den Schutzbereich einbezogen sind.
b) Geltung allein für repressive Maßnahmen Darüber hinaus wird man unter § 612a BGB nur solche Maßnahmen und Vereinbarungen subsumieren können, die als Reaktion auf die Rechtsausübung ______________ 76 77
Preis, Vertragsgestaltung, 1993, S. 172 f. So aber Schliemann-Schliemann, Arbeitsrecht im BGB, § 612a Rn. 8.
III. Auslegung und Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen
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des Arbeitnehmers dieser zeitlich nachfolgen.78 Vereinbarungen, die im Arbeitsvertrag selbst getroffen werden, folgen aber der Rechtsausübung nicht nach, sondern gehen ihr voraus. Zuzugeben ist, dass der Wortlaut indifferent ist; er ließe es auch zu, Vereinbarungen und Maßnahmen einzuschließen, die der Rechtsausübung vorangehen, denn § 612a BGB verbietet sie, soweit sie den Arbeitnehmer benachteiligen, weil dieser in zulässiger Weise seine Rechte ausübt und nicht etwa ausgeübt hat.79 Historische und teleologische Auslegung sind indes deutlicher. Die zugrunde liegenden EG-Richtlinien wollen ausdrücklich nur Reaktionen des Arbeitgebers auf eine Rechtsausübung des Arbeitnehmers erfassen.80 Der deutsche Gesetzgeber ging zwar über die europäischen Vorgaben hinaus, dies galt jedoch nur im Hinblick auf den sachlichen Anwendungsbereich. Während die Richtlinien den Geltungsbereich auf Kündigungen erstrecken, sind vom deutschen Recht nunmehr sämtliche Maßnahmen erfasst. Dass das Diskriminierungsverbot auch in zeitlicher Hinsicht über Europarecht hinausgehen sollte und damit auch der Rechtsausübung vorangehende Vereinbarungen erfasst, wird weder in der Gesetzesbegründung noch im Wortlaut des Gesetzes deutlich. Eine Maßregelung folgt der Sache nach bereits dem zu maßregelnden Verhalten nach.81 Es ist auch erklärbar, weshalb das Gesetz davon spricht, dass der Arbeitnehmer seine Rechte ausübt und nicht etwa einschränkend davon, dass er Rechte ausgeübt hat. Es gibt Rechte, die der Arbeitnehmer nicht punktuell, für kurze Zeit geltend macht, sondern über einen längeren Zeitraum, innerhalb dessen der Arbeitgeber ihn irgendwann maßregelt. M.a.W.: Die Rechtsausübung kann zum Zeitpunkt der Maßregelung noch andauern. Die Gesetzesformulierung ist also durchaus sinnvoll. Aus ihr schließen zu wollen, dass auch Maßnahmen und Vereinbarungen erfasst sind, die der Rechtausübung vorangehen, überzeugt deshalb nicht. Vor allem gebietet aber der Zweck des § 612a BGB diese Interpretation. Die Norm schützt die Willensfreiheit des Arbeitnehmers bei seiner Entscheidung darüber, ob er ein Recht ausübt oder nicht. Er soll also vor den unvorhersehbaren Folgen geschützt werden, die dadurch eintreten können, dass der Arbeitgeber ein ihm grundsätzlich zustehendes rechtliches Mittel zweckwidrig einsetzt, ______________ 78 Thüsing, NZA 1994, 728, 731; a.A. Preis, Vertragsgestaltung, 1993, S. 172 f. Das BAG hat diese Frage bislang offen gelassen, s. BAG, BB 2005, 1967, 1970 mwN. 79 Hierauf stützt sich Preis, Vertragsgestaltung, 1993, S. 172. 80 So heißt es in Art. 7 RL 1976/207/EWG: „Die Mitgliedstaaten treffen die notwendigen Maßnahmen, um Arbeitnehmer vor jeder Entlassung zu schützen, die eine Reaktion des Arbeitgebers auf eine Beschwerde im Betrieb oder gerichtliche Klage auf Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung darstellt.“ Ähnlich auch Art. 5 RL 1975/117/EWG. 81 Thüsing, NZA 1994, 728, 731.
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Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
gerade um dieses Verhalten zu ahnden.82 Vorangegangene Vereinbarungen oder Maßnahmen begründen jedoch keine unvorhersehbaren Folgen. Die Nachteile sind für den Arbeitnehmer vielmehr abschätzbar. § 612a BGB schützt aber nicht vor jeglichen Nachteilen, die mit der Ausübung eines Rechts verbunden sind.
c) Konsequenz Das Maßregelungsverbot des § 612a BGB eignet sich demnach nicht für die Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen. Noch nicht entschieden ist damit freilich, inwieweit § 612a BGB herangezogen werden kann, um Konflikte während des Arbeitsverhältnisses zu lösen. Hiermit beschäftigt sich Abschnitt IV.2.
5. (Inhalts-)Kontrolle allgemeiner Geschäftsbedingungen Die Frage, inwieweit religiös bedingte Tätigkeiten während der Arbeitszeit im Vorhinein mittels Arbeitsvertrag geregelt werden können, hängt nach der Reform des Schuldrechts auch von der Kontrolle allgemeiner Geschäftsbedingungen ab. Die §§ 305 ff. BGB gelten nunmehr ausdrücklich auch für Arbeitsverträge mit der Maßgabe, die Besonderheiten des Arbeitsrechts hinreichend zu würdigen (§ 310 Abs. 4 S. 2 BGB). Sie stellen strengere Maßstäbe für arbeitsvertragliche Regelungen auf als § 138 BGB. Da die einzelnen Klauselverbote der §§ 308 und 309 BGB für die Behandlung religiöser Pflichten im Arbeitsleben kaum virulent werden dürften, beschränkt sich die Betrachtung auf § 305 c Abs. 1 (überraschende Klauseln) und § 307 BGB.
a) Überraschende Klauseln (§ 305c Abs. 1 BGB) Bereits vor dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz war das Verbot überraschender Klauseln im Arbeitsrecht anerkannt,83 die Hürde ist für arbeitsvertragliche Klauseln allerdings recht niedrig. Ein Arbeitsvertrag ist für den Arbeitnehmer kein alltägliches Geschäft, sondern eine sehr bedeutsame Angelegenheit, die wohl überlegt wird, so dass ein subjektives Überraschungsmoment in aller Regel ausscheidet.84 Außer in Fällen sog. formaler Überraschung, wenn ______________ 82
Thüsing, NZA 1994, 728, 731. Das BAG stützte dies auf § 242 BGB und einen allgemeinen Rechtsgedanken, s. nur BAG, NZA 1996, 702, 703; NZA 2001, 723, 724. 84 ErfK-Preis, §§ 305-310 BGB Rn. 32. 83
III. Auslegung und Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen
139
die belastende Regelung drucktechnisch versteckt war,85 hielt sich die Rechtsprechung mit der Anerkennung eines „Überrumpelungs- oder Übertölpelungseffektes“ zurück. Überraschenden Charakter hat eine Regelung, wenn sie von den Erwartungen des Vertragspartners deutlich abweicht und dieser mit ihr den Umständen nach vernünftigerweise nicht zu rechnen braucht. Die Erwartungen des Vertragspartners werden von allgemeinen und individuellen Begleitumständen des Vertragsschlusses bestimmt. Hierzu zählen der Grad der Abweichung vom dispositiven Gesetzesrecht und die für den Geschäftskreis übliche Gestaltung einerseits, Gang und Inhalt der Vertragsverhandlungen sowie der äußere Zuschnitt des Vertrags andererseits.86
Im säkularen Betrieb dürften Regelungen über religiöse Pflichten und Bedürfnisse bislang zwar nicht gängige Rechtspraxis sein. Sie liegen allerdings auch nicht derart fern, dass ein Arbeitnehmer mit ihnen nicht zu rechnen bräuchte. Zum Kernbestandteil eines Arbeitsvertrags gehört die Spezifizierung von Nebenpflichten und sie können eben auch religiöse Riten und Gebräuche betreffen. Das aufmerksame Lesen dieser Beschreibungen der arbeitsvertraglichen Nebenpflichten kann von einem Bewerber erwartet werden. Unterliegt er besonderen religiösen Pflichten, muss er prüfen, ob sie mit der Tätigkeit vereinbar sind. Sofern eine solche Klausel nicht im Vertragswerk versteckt ist, so dass es dem Arbeitnehmer schwer fällt, sie zu finden, verstößt sie deshalb trotz ihrer bisherigen Ungebräuchlichkeit nicht gegen § 305c Abs. 1 BGB.
b) Unangemessene Benachteiligung (§ 307 BGB) § 307 BGB stellt ebenfalls sowohl formale als auch inhaltliche Anforderungen an allgemeine Arbeitsbedingungen. Das bereits vor seiner Kodifikation in Abs. 1 S. 2 anerkannte Transparenzgebot87 gebietet, dass Klauseln klar und verständlich sein müssen. Im Vertragstext muss deutlich werden, inwiefern der Arbeitnehmer daran gehindert sein soll, religiöse Bekenntnisse im Betrieb zu offenbaren. Eine Vertragsbestimmung, die nebulös davon spricht, dass sich Mitarbeiter „religiös neutral“ zu verhalten haben, ist im Hinblick auf § 307 Abs. 1 S. 2 BGB Bedenken ausgesetzt. Stattdessen könnte bspw. festgelegt werden, dass sich der Arbeitnehmer gegenüber Dritten (Kunden, Geschäftspartnern etc.) nicht zu Äußerungen über seine religiösen Überzeugungen hinreißen lässt oder dass es ihm nicht gestattet ist, die Arbeit ruhen zu lassen, um
______________ 85
s. die Nachweise bei ErfK-Preis, §§ 305-310 BGB Rn. 32 und Palandt-Heinrichs, § 305c BGB Rn. 4. 86 BGH, NJW 1995, 2553, 2554; BAG, NJW 2000, 3299, 3300 f. 87 Hierzu Däubler/Dorndorf-Dorndorf, § 307 BGB Rn. 139 f.
140
Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
Gebete zu verrichten. Derartige Bestimmungen würden dem Transparenzgebot genügen. Materiell dürfen Pflichtenmodifikationen in allgemeinen Geschäftsbedingungen den Arbeitnehmer nicht unangemessen benachteiligen (§ 307 Abs. 1 S. 1 BGB), insbesondere nicht gegen wesentliche Grundgedanken einer gesetzlichen Regelung verstoßen (Abs. 2 Nr. 1). Voraussetzung für eine Inhaltskontrolle nach den §§ 307 bis 309 BGB ist allerdings, dass der Arbeitsvertrag von Rechtsvorschriften abweicht oder diese ergänzende Regelungen enthält gem. § 307 Abs. 3 S. 1 BGB. Von einer Angemessenheitsprüfung freigehalten werden sollen dadurch deklaratorische Klauseln sowie die eigentlichen Leistungsbeschreibungen und Entgeltabreden.88 Der Wortlaut ist insofern missverständlich. Anhand des Schutzzwecks der AGBKontrolle wird eine Inhaltskontrolle für notwendig gehalten, wenn eine Klausel die Bedingungen der Leistungserbringung regelt, nicht hingegen, wenn sie die zu erbringende Leistung selbst beschreibt,89 denn es geht § 307 Abs. 3 S. 1 BGB allein darum, Vereinbarungen über den Austausch von Leistung und Gegenleistung von richterlicher Kontrolle freizuhalten. Hierzu existiert in einer Marktwirtschaft kein geeigneter Maßstab und dies ist bereits aus Gründen der Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1 GG) geboten.90 Insofern wird man die Regelung der gegenseitigen Rücksichtnahmepflichten auch einbeziehen müssen, wenn es hierfür keine gesetzliche Rechtsvorschrift 91 gibt, die sie näher bestimmt.92
Solange eine Klausel religiöse Betätigungen allein von deren Vereinbarkeit mit betrieblichen Interessen abhängig macht, begegnet sie im Hinblick auf § 307 Abs. 2 Nr. 1 iVm Abs. 1 BGB keinen Bedenken. Sie gibt damit nur die geltende Rechtslage wieder, die ohne eine besondere vertragliche Regelung bestünde.93 Da sie deklaratorischer Natur ist, weicht sie nicht von Rechtsvorschriften iSd § 307 Abs. 3 S. 1 BGB ab. Klauseln, die religiöse Bedürfnisse stärker einschränken und damit vom typischen arbeitsvertraglichen Modell abweichen, unterliegen hingegen der Angemessenheitskontrolle. Sie sind § 307 Abs. 1 BGB zufolge nur insoweit zulässig, als sie durch betriebliche Belange gerechtfertigt werden. Um eine Einzelfallbetrachtung kommt man hier nicht umhin.94 Sie muss vor allem auch vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Werteordnung vorgenommen werden und die dort getroffenen Differenzierungen zwischen Glaube, Bekenntnis, Religionsausübung und Gewissen einbeziehen. Auch eine Begrenzung der Religionsausübung ist danach rechtfer______________ 88
BGH, NJW 1985, 3013 f.; Däubler/Dorndorf-Dorndorf, § 307 BGB Rn. 263 ff. MüKo-Basedow, § 307 BGB Rn. 12. 90 Bamberger/Roth-Schmidt, § 307 BGB Rn. 44. 91 § 241 Abs. 2 BGB sagt zwar, dass es sie gibt, gestaltet sie aber nicht näher aus. 92 Däubler/Dorndorf-Dorndorf, § 307 BGB Rn. 254 f. 93 Hierzu Kap. 3 I und II sowie Kap. 5 II.3. 94 s. Preis/Greiner in: FS Rüfner, 2003, S. 653, 663 ff. 89
IV. Arbeitsverhinderung und allgemeines Leistungsstörungsrecht
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tigungsbedürftig. An Formulararbeitsverträge werden also höhere Anforderungen gestellt als an Individualverträge. Während eine Beschränkung der Religionsausübung nicht den Vorwurf der Sittenwidrigkeit iSv § 138 BGB impliziert (s. Abschnitt 3.c)), muss der Allgemeine Arbeitsbedingungen verwendende Arbeitgeber im Ernstfall belegen, dass der Ausschluss der religiösen Betätigung erforderlich und angemessen ist. Darüber hinaus darf er nicht diskriminierend ausgestaltet sein (hierzu insbes. Kap. 7 I.4).
6. Zusammenfassung Die Grenzen der Vertragsgestaltung sind – sieht man zunächst von den Wirkungen der RL 2000/43/EG und 2000/78/EG ab – recht großzügig bemessen. Sittenwidrig sind Verträge nur, wenn sie dem Arbeitnehmer ein bestimmtes religiöses Bekenntnis abnötigen, das er nicht teilt95 oder wenn sie die Orientierung am eigenen Gewissen etwa gänzlich ausschließen. Religionsausübung kann demgegenüber privatautonom begrenzt werden, ohne dass sich der Arbeitgeber hierfür rechtfertigen muss. Die Zuweisung einer Tätigkeit muss zwar auch insofern billigem Ermessen entsprechen (hierzu sogleich Abschnitt IV); die Wirksamkeit des Arbeitsvertrags wird allerdings nicht berührt. Allein für Formularverträge gelten weitgehendere Einschränkungen. Klauseln unterliegen auch dann einer Angemessenheitskontrolle nach § 307 BGB, wenn sie allein die Religionsausübung beschränken (hierzu im Einzelnen unter 5.b)). Die §§ 134 und 612a BGB sowie § 75 BetrVG stellen keine Maßstäbe für eine entsprechende Inhaltskontrolle dar.
IV. Arbeitsverhinderung und allgemeines Leistungsstörungsrecht Die häufigsten Fälle religiöser oder gewissensbedingter Konflikte am Arbeitsplatz waren die, in denen der Arbeitnehmer eine bestimmte Tätigkeit ablehnte oder die Arbeit an bestimmten Tagen oder zu bestimmten Zeiten verweigerte (s. Kap. 3 II.3). Explizite Pflichten zur Freistellung von der Arbeitsleistung enthalten die Feiertagsgesetze der Bundesländer, die den Arbeitnehmern bspw. die Möglichkeit zur Teilnahme am Gottesdienst sichern.96 Für darüber ______________ 95
Hierzu bereits Kap. 4 VI.3.a). Eine Übersicht über die einschlägigen Regelungen findet sich bei Hoevels, Islam und Arbeitsrecht, 2003, S. 48 Fn. 222. Die Frage, inwieweit diese Regelungen an der RL 2000/78/EG zu messen sind und ihren Anforderungen stand halten, ist bislang – soweit ersichtlich – nicht gestellt, geschweige denn beantwortet worden. 96
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Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
hinausreichende Wünsche des Arbeitnehmers musste die Rechtsprechung bislang auf die allgemeinen, zivilrechtlichen Instrumentarien zurückgreifen.
1. Die verschiedenen Lösungsansätze nach bisherigem Recht Während die Rechtsprechung bislang das Weisungsrecht des Arbeitgebers (§ 106 GewO, § 315 BGB) begrenzte (s. sogleich a)), plädierten einige Autoren für ein Leistungsverweigerungsrecht des Arbeitnehmers (b)), ohne sich über dessen dogmatische Herleitung einig zu sein. Die wichtigsten Ansätze sollen in der gebotenen Kürze erläutert und analysiert werden (c) und d)), bevor die unterschiedlichen Rechtsfolgen aufgezeigt werden (e)). Im Anschluss daran ist zu untersuchen, ob sich das Maßregelungsverbot (§ 612a BGB bzw. § 16 AGG, s. 2.) oder § 313 BGB, der die Grundsätze der Störung der Geschäftsgrundlage kodifiziert (3.), zur Lösung eignen. Schließlich wird ein eigenes Lösungsmodell unter 4. vorgestellt.
a) Die Begrenzung des Direktionsrechts des Arbeitgebers Den Schutz des Arbeitnehmers vor religiösen und Gewissenskonflikten verwirklichte die Rechtsprechung bislang durch eine Begrenzung des Direktionsrechts des Arbeitgebers. Dieses dürfe nur nach billigem Ermessen ausgeübt werden, was früher aus § 315 BGB (analog) folgte und seit dem 01.01.2002 in § 106 S. 1 GewO ausdrücklich kodifiziert ist. Der unbestimmte Rechtsbegriff des billigen Ermessens erfordere eine Interessenabwägung zwischen den Belangen des Arbeitgebers und denen des Arbeitnehmers, innerhalb derer auch die entgegenstehenden grundrechtlich geschützten Freiheiten gewürdigt werden müssten. Insofern werde der Begriff des billigen Ermessens bei religiösen oder gewissensgeleiteten Konflikten inhaltlich durch das Grundrecht des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG bestimmt. Entwickelt hat das BAG diese Grundsätze in seinem Urteil aus dem Jahre 1984 zur Weigerung eines Druckers, sich an der Herstellung eines Blattes mit neonazistischem Inhalt zu beteiligen.97 Ebenso haben die Gerichte später rein religiös bedingte Konflikte eingeordnet. Sowohl das LAG Düsseldorf als auch das LAG Hamm haben in den Fällen der Gebetspausen muslimischer Arbeit-
______________ 97 BAG, NZA 1986, 21 (s. Kap. 3 II.3.c)); s. hierzu Brox, Anm. zu BAG, AP Nr. 27 zu § 611 BGB Direktionsrecht; Preuß, AuR 1986, 382; U. Mayer, AuR 1985, 105; Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 1990, passim.
IV. Arbeitsverhinderung und allgemeines Leistungsstörungsrecht
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nehmer auf § 315 BGB zurückgegriffen,98 das BAG hielt im Streit um das Kopftuch der muslimischen Verkäuferin hieran fest.99
b) Oder ein Leistungsverweigerungsrecht des Arbeitnehmers? Der unbestimmte Rechtsbegriff des billigen Ermessens lädt geradezu dazu ein, grundrechtliche Wertungen einfließen zu lassen, um dem Gestaltungsspielraum des Arbeitgebers Grenzen zu setzen. Bei genauerer Betrachtung ergeben sich jedoch Schwierigkeiten. Zwar ist mit Einführung des § 106 GewO das Argument gegen eine solche Begrenzung des Weisungsrechts hinfällig, dies werde nur „im Zweifel“ nach billigem Ermessen ausgeübt und es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Arbeitgeber damit einverstanden sei, jede Weisung einer gerichtlichen Billigkeitskontrolle zu unterwerfen;100 denn in § 106 S. 1 GewO fehlen die Worte „im Zweifel“. Woher aber soll der Arbeitgeber bei der Erteilung einer Weisung wissen, ob der Arbeitnehmer hierdurch in einen Glaubens- bzw. Gewissenskonflikt gestürzt wird? Die gegenseitigen Pflichten hängen entscheidend davon ab, wie schwer der jeweilige Konflikt wiegt und wie verbindlich die Verhaltensregeln für den Arbeitnehmer sind. Selbst wenn der Arbeitgeber von der Religionszugehörigkeit des Arbeitnehmers Kenntnis hat,101 kann er die Intensität des Glaubens- oder Gewissenskonflikts seines Mitarbeiters kaum einschätzen, so dass er seine Weisungen schwerlich daran orientieren kann. Darüber hinaus ist nur dann eine Billigkeitskontrolle nach § 106 GewO, § 315 BGB notwendig, wenn der Arbeitgeber die Wahl zwischen mehreren, für sich genommen rechtmäßigen Weisungen hat. Solche, die den Arbeitnehmer in einen Gewissenskonflikt stürzen, sind aber gem. § 242 BGB treuwidrig und bereits deshalb unverbindlich.102 Zudem behielte der Arbeitnehmer seinen Lohnanspruch, was bei Gewissensentscheidungen häufig als ungerecht empfunden wird.103 ______________ 98
s. Kap. 3 II.2. s. Kap. 3 II.1.a). 100 So etwa Henssler, AcP 190 (1990), 538, 543; Reuter, BB 1986, 385; 387 f.; Brox, Anm. zu BAG, AP Nr. 27 zu § 611 BGB Direktionsrecht. 101 Dies wird häufig nicht der Fall sein, denn er darf hiernach im Vorstellungsgespräch grundsätzlich nicht einmal fragen (s. Kap. 3 I.1 und Kap. 5 I.1). Um die Kirchensteuer einbehalten zu können, wird der Arbeitgeber zwar darüber in Kenntnis gesetzt, ob der Arbeitnehmer einer steuererhebungsberechtigten Religionsgesellschaft angehört; mehr erfährt er aber auch nicht. 102 Henssler, AcP 190 (1990), 538, 543 ff. 103 Vgl. Henssler, AcP 190 (1990), 538, 567; Larenz, Schuldrecht AT, § 10 II c, S. 136. 99
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Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
Aus diesen Gründen wurde bereits früh Kritik an der Lösung der Rechtsprechung geübt. Diejenigen, die jegliche Pflichtenmodifikation ablehnten, konnten sich nicht durchsetzen, wohl auch deshalb, weil die heraufbeschworene „’Inflation‘ von Gewissensentscheidungen“ (Reuter104) ausblieb. Stattdessen begann eine Suche nach dogmatischen Ansätzen für ein Recht des Arbeitnehmers, bestimmte Tätigkeiten oder die Arbeit zu bestimmten Zeiten (wie im Falle der Gebetspausen) abzulehnen. Vor der Reformierung des Schuldrechts war sie kaum von Erfolg gekrönt. Die Regelungen der Unmöglichkeit (§ 275 BGB a.F.) heranzuziehen,105 war jedenfalls für die Fälle rein religiös bedingter Konflikte nicht überzeugend, denn der Arbeitnehmer kann in einem solchen Fall ja die Arbeit verrichten. Er ist sowohl physisch als auch psychisch dazu in der Lage, so dass sich derartige Konstellationen nicht in die Fallgruppen der Unmöglichkeit einreihen ließen.106 Zudem kann sich ein Arbeitnehmer auch trotz eines Glaubenskonflikts dazu entscheiden, wie vereinbart zu leisten. Weshalb soll ihm eine überobligationsmäßige Leistung versagt werden?107 Zöge man die strengen Regelungen der Unmöglichkeit heran, wäre aber genau dies die Folge, denn § 275 Abs. 1 und 2 BGB a.F. war (und § 275 Abs. 1 n.F. ist) eine rechtsvernichtende Einwendung.108 Ebenso wenig konnte die Verortung des Leistungsverweigerungsrechts unmittelbar in Art. 4 GG überzeugen,109 denn dies würde bedeuten zur überwundenen Kategorie der unmittelbaren Drittwirkung zurückzukehren. Das BAG erkannte hingegen ein einredeweise geltend zu machendes Leistungsverweigerungsrecht eines Arbeitnehmers an, der in seinem Heimatland, der Türkei, einen zweimonatigen Wehrdienst abzuleisten hatte.110 Zwar folge ______________ 104
Reuter, BB 1986, 385, 390 (Hervorhebung im Original). Ähnliches befürchtete auch Diederichsen: „Mit einer so weitgreifenden Toleranz würde sich die Rechtsordnung selbst aus den Angeln heben“ (in: FS Michaelis, 1972, S. 36, 52). 105 So etwa Kohte, NZA 1989, 161, 164 ff.; vgl. auch Fabricius, Leistungsstörungen im Arbeitsverhältnis, 1970, S. 108 ff. 106 Vgl. Hoevels, Islam und Arbeitsrecht, 2003, S. 54 f. mwN; Scheschonka, Leistungsverweigerung aus Glaubens- oder Gewissensnot, 1972, S. 33. Offen ließ das BAG diese Frage in einem Urteil aus dem Jahre 1992, in dem eine Arbeitnehmerin zur Betreuung ihres Kindes der Arbeit fern geblieben war (NZA 1993, 115, 116). 107 Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 1990, S. 19 und 122; Henssler, AcP 190 (1990), 538, 542; Scheschonka, Leistungsverweigerung aus Glaubens- oder Gewissensnot, 1972, S. 33. 108 Zum neuen Recht Huber/Faust-Faust, Schuldrechtsmodernisierung, 2002, S. 23 f. 109 So bspw. noch H. Kaufmann, AcP 161 (1962), 289, 313 ff.; Denninger/Hohm, AG 1989, 145, 155 f.; U. Mayer, AuR 1985, 105, 109. 110 BAG, NJW 1983, 2782, 2783 f.; hingegen lehnte das BAG ein Leistungsverweigerungsrecht im Falle eines einjährigen Wehrdienstes ab (AP Nr. 9 zu § 1 KSchG Personenbedingte Kündigung).
IV. Arbeitsverhinderung und allgemeines Leistungsstörungsrecht
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ein solches weder aus den §§ 273, 320 BGB noch aus anderen Normen, aber „immerhin“ zeigten bereits die Motive zu § 616 BGB „die Ansätze eines Leistungsverweigerungsrechtes bei Kollisionen zwischen Arbeitspflicht und Wehrdienstverpflichtung“. Hierfür spreche außerdem der Rechtsgedanke der §§ 228 und 904 BGB. Nicht nur diese unklare dogmatische Herleitung stieß auf Kritik,111 auch die Inkonsistenz der Entscheidungen des Zweiten Senats. Weshalb er bei einer solchen Pflichtenkollision ein Leistungsverweigerungsrecht anerkennt, nicht jedoch, wenn sie aus einer Glaubens- oder Gewissensentscheidung des Arbeitnehmers resultiert, blieb im Dunkeln.
c) Leistungsverweigerungsrecht aus § 242 bzw. § 616 BGB In der Folge setzte sich im Schrifttum immer mehr ein einheitliches Lösungsmodell mittels Leistungsverweigerungsrechts des Arbeitnehmers durch, das zumeist auf § 242 BGB gestützt wurde, aber bereits – wie es auch das BAG ausführte – in § 616 BGB angelegt ist.112 Dieses Modell kann einige Vorteile für sich verbuchen. Zum einen setzt die Ausübung des Weisungsrechts nach billigem Ermessen für den Arbeitgeber Alternativen voraus. Er muss die Wahl zwischen mehreren Weisungen haben, wobei diese allesamt für sich genommen rechtmäßig sind. Ob sie rechtmäßig sind, bestimmt sich aber nicht nach § 106 S. 1 GewO, sondern nach den allgemeinen zivilrechtlichen Vorschriften, vor allem unterliegen sie dem Gebot zu Treu und Glauben. § 242 BGB bildet eine allen Rechten immanente Inhaltsbegrenzung, die auch für das Weisungsrecht des Arbeitgebers gilt.113 Die Prüfung einer Weisung anhand von § 242 BGB geht also notwendiger Weise der Billigkeitskontrolle nach § 106 S. 1 GewO voraus. Zum anderen geht man mit der Anwendung von § 242 BGB der beschriebenen Problematik aus dem Weg. Die Abwägung gegenseitiger Interessen ist in ______________ 111 Dagegen insbes. Rüthers/Henssler, Anm. zu BAG, AP Nr. 9 zu § 1 KSchG Personenbedingte Kündigung, unter II. 2. Umständlich ist v.a. die Konstruktion des Wegfalls der Gegenleistung. Das BAG bejahte die Voraussetzungen von § 616 BGB, der Anspruch sei jedoch nach § 323 BGB (a.F.; entspr. § 326 Abs. 1 S. 1 BGB) analog ausgeschlossen. Stattdessen hätte es nahe gelegen, zwei Monate als verhältnismäßig erhebliche Zeit anzusehen und damit den Tatbestand des § 616 BGB zu verneinen. Vgl. hierzu Henssler, AcP 190 (1990), 538, 567. 112 § 616 S. 1 BGB enthält weder in direkter noch analoger Anwendung ein Leistungsverweigerungsrecht, es setzt ein solches lediglich unausgesprochen voraus. So zu Recht Rüthers/Henssler, Anm. zu BAG, AP Nr. 9 zu § 1 KSchG Personenbedingte Kündigung, unter II.2.a. Aus § 616 S. 1 BGB lässt sich nicht der Umkehrschluss ziehen, dass ein Leistungsverweigerungsrecht nur in Fällen vorübergehender Leistungshindernisse bestünde, Henssler, AcP 190 (1990), 538, 563 Fn. 108. 113 Henssler, AcP 190 (1990), 538, 544 f.
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Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
einem ihm zustehenden Leistungsverweigerungsrecht besser untergebracht als im Rahmen der Ausübung des Weisungsrechts des Arbeitgebers, denn dieser kann schwerlich den religiösen Konflikt des Arbeitnehmers bewerten; der Arbeitnehmer hingegen kennt den betrieblichen Ablauf und kann, nachdem der Arbeitgeber ihm die betrieblichen Belange erläutert hat, die Interessen des Betriebs seinen religiösen Pflichten gegenüberstellen. Ein dritter Vorteil dieser Lösung liegt in der Möglichkeit des Arbeitnehmers zur überobligationsmäßigen Leistung. Ergibt eine Abwägung der gegenseitigen Interessen (wo auch immer man sie dogmatisch ansiedelt), dass der Arbeitnehmer zur Tätigkeit nicht verpflichtet ist, kann er sich dennoch zur Leistung entscheiden und seine religiösen Belange zum Wohle des Betriebs zurückstellen. Es ist nicht einzusehen, weshalb ihm diese Möglichkeit verwehrt werden sollte.
d) Die Einrede entgegenstehender Pflichtenkollision nach § 275 Abs. 3 BGB Man hätte meinen können die Diskussion hätte sich mit der Schuldrechtsmodernisierung erledigt. Mit § 275 Abs. 3 BGB wurde eine Vorschrift eingeführt, die scheinbar just jene Fälle erfasst und die im Sinne des überwiegenden Schrifttums zugunsten eines Leistungsverweigerungsrechts entscheidet. 114 § 275 Abs. 3 BGB gibt dem Schuldner die Möglichkeit, die Leistung zu verweigern, wenn sie ihm unter Abwägung des seiner Leistung entgegenstehenden Hindernisses mit dem Leistungsinteresse des Gläubigers nicht zugemutet werden kann. Voraussetzung dafür ist, dass er die Leistung persönlich zu erbringen hat, was im Arbeitsverhältnis stets der Fall ist (vgl. § 613 S. 1 BGB). Ein Hinweis des Gesetzgebers führte allerdings zu einem neuen Diskussionspunkt. In der Gesetzesbegründung heißt es zu § 275 BGB: „Auch Fälle der Leistungsverweigerung aus Gewissensgründen lassen sich nicht mit § 275 Abs. 2 Satz 1 RE [entspr. § 275 Abs. 2 S. 1 BGB], sondern nur über § 313 RE [entspr. § 313 BGB] oder über die Anwendung von Treu und Glauben lösen.“115
Dies erstaunt, hatte doch die bisherige Rechtsprechung sich gerade gegen ein Leistungsverweigerungsrecht aus § 242 BGB ausgesprochen und die Grundsät______________ 114 Insofern preferieren nunmehr zahlreiche Autoren eine Lösung über § 275 Abs. 3 BGB, so etwa Henssler/Graf von Westphalen-Dedek, Schuldrechtsreform, § 275 BGB Rn. 36; Gotthardt, Arbeitsrecht nach der Schuldrechtsreform, Rn. 115; Henssler, RdA 2002, 129, 131; Henssler/Muthers, ZGS 2002, 219, 222; Schaub-Linck, Arbeitsrechtshandbuch, § 45 Rn. 30; Staudinger-Löwisch, § 275 BGB Rn. 90; Staudinger-Otto, § 280 BGB Rn. C 10; Richardi, NZA 2002, 1004, 1007. 115 BT-Drucks. 14/6040, S. 130.
IV. Arbeitsverhinderung und allgemeines Leistungsstörungsrecht
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ze der Störung (bzw. des Wegfalls) der Geschäftsgrundlage gar nicht erwogen.116 Diesen Hinweis des Gesetzgebers wird man daher eher als Versehen denn als brauchbaren Ansatz zur genetischen Interpretation begreifen müssen, zumal die Rechtsfolge von § 313 BGB für die von den Gerichten entschiedenen Fälle nicht passt. § 313 BGB sieht einen Anspruch auf Vertragsanpassung vor. Ein solcher war bis dato aber gar nicht notwendig geworden, weil der Arbeitnehmer per Direktionsrecht an einen anderen Arbeitsplatz versetzt werden konnte. So stellte das BAG im (zweiten) Druckerurteil von 1984 fest, der Arbeitgeber habe den Kläger „an eine andere Druckmaschine stellen können“117 und im Urteil von 1989 verwies es den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurück, da es die Frage für entscheidend hielt, „ob die Beklagte außerstande war, den Kläger anderweitig zu beschäftigen“.118 Im Falle des Konzertmeisters, der sich weigerte an einer blasphemischen Inszenierung des „Troubadour“ mitzuwirken, war „[z]wischen den Parteien (...) unstreitig gestellt worden, daß die Beklagte imstande gewesen wäre, den Kläger anderweitig einzusetzen“.119 Es ging in den entschiedenen Rechtsstreitigkeiten also einzig um die Frage, ob der Arbeitnehmer die Tätigkeit ausüben muss, an der sich der Konflikt entzündete, oder nicht. Hier nutzt es nichts, den Vertrag zu ändern, da er so weit formuliert war, dass der Arbeitnehmer problemlos mit anderen Aufgaben hätte betraut werden können.120
e) Die unterschiedlichen Rechtsfolgen Der bedeutendste Unterschied zwischen den aufgezeigten Lösungsmodellen – der Begrenzung des arbeitgeberseitigen Weisungsrechts einerseits und der Anerkennung eines Leistungsverweigerungsrechts des Arbeitnehmers andererseits – liegt in den unterschiedlichen Rechtsfolgen. Ist die Weisung rechtswidrig, weil sie nicht billigem Ermessen entspricht, ist sie unverbindlich. Das ergibt sich zwar nicht aus § 106 S. 1 GewO, da die Rechtsfolge einer unrechtmäßigen Weisung dort nicht geregelt wurde, aber – weiterhin – aus § 315 Abs. 3 BGB (analog). Sieht man in § 106 S. 1 GewO einen Unterfall von § 315 BGB, wird man § 315 Abs. 3 BGB direkt anwenden können; hält man die Regelung des Weisungsrechts für eigenständig, ist § 315 Abs. 3 BGB analog heranzuziehen.121 ______________ 116
Das Schrifttum nahm hingegen auch hierauf Bezug, s. Abschnitt IV.3. BAG, NZA 1986, 21, 23; hierzu Kap. 3 II.3.c). 118 BAG, NZA 1990, 144, 147. 119 LAG Düsseldorf, NZA 1993, 411, 413. 120 Ausführlicher zu § 313 BGB Abschnitt IV.3. 121 Hoppe/Wege, Anm. zu ArbG Wuppertal, LAGE Nr. 2a zu § 626 BGB, S. 5, 31. 117
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Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
Wenn die Weisung unverbindlich ist und der Arbeitnehmer ihr nicht nachkommen muss, behält er den Anspruch auf die Gegenleistung, den Lohn. Billigt man dem Arbeitnehmer hingegen ein Leistungsverweigerungsrecht zu, verliert er grundsätzlich seinen Lohnanspruch. Diejenigen, die ein Leistungsverweigerungsrecht aus § 242 BGB fordern, stellen diesen Fall der Unmöglichkeit gleich, so dass der Lohnanspruch nach § 326 Abs. 1 S. 1 BGB entfällt.122 Wendet man nunmehr § 275 Abs. 3 BGB an, folgt dies bereits aus dem Wortlaut des § 326 Abs. 1 S. 1 BGB. Allein wenn es sich um eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit handelt, wird der Lohnanspruch nach § 616 S. 1 BGB aufrecht erhalten (hierzu Abschnitt VI). Lehnt der Arbeitnehmer aus Gewissensgründen eine Tätigkeit ab, sprechen nicht nur die bereits aufgezeigten dogmatischen Aspekte, sondern auch die Rechtsfolgen für ein Leistungsverweigerungsrecht. Der Arbeitnehmer muss dann bereit sein, die Konsequenzen zu tragen. Zu diesen gehört auch der Verlust seines Lohnanspruchs, wenn er nicht anderweitig beschäftigt werden kann. Die Störung des Arbeitsverhältnisses geht schließlich von ihm und nicht vom Arbeitgeber aus. Ein gern verwendetes Argument überzeugt auch in diesem Zusammenhang: Eine ernsthafte Gewissensentscheidung zeigt sich gerade auch in der Akzeptanz damit verbundener Nachteile.123 Mit dieser Argumentation muss zwar vorsichtig umgegangen werden, denn die Nachteile dürfen nicht derart gravierend sein, dass sie faktisch die Entscheidung des Gewissens unmöglich machen. Der Verlust des Lohnanspruchs ist jedoch nicht derart einschneidend, dass zu befürchten ist, der Arbeitnehmer werde sein Gewissen allein diesem Nachteil wegen verraten. Das Arbeitsverhältnis bleibt bestehen, so dass der Anspruch auf die Gegenleistung wieder entsteht, sobald der Arbeitnehmer eingesetzt werden kann. § 616 S. 1 BGB mildert die Folgen, indem er bei kurzen Zeitspannen den Anspruch aufrecht erhält. 124 Kann der Arbeitnehmer dauerhaft nicht beschäftigt werden, ist im Übrigen eine (personenbedingte125) Kündigung unumgänglich. Diese ist aber kein Spezifikum religiös- oder gewissensbedingter Konflikte, sondern eine allgemeine, in allen Fällen dauernder Arbeitsunfähigkeit hinzunehmende Konsequenz.
______________ 122 Henssler, AcP 190 (1990), 538, 567; Larenz, Schuldrecht AT, § 10 II c, S. 136; a.A. Hoevels, Islam und Arbeitsrecht, 2003, S. 99. 123 s. Kap. 2 III.5. 124 s. Abschnitt VI. 125 Hierzu Abschnitt V.1.a).
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2. Eine Lösung über das Maßregelungsverbot? Bevor ein eigenes, kooperatives Modell vorgestellt wird (unter 4), soll klar gestellt werden, dass sich weder § 612a BGB (bzw. § 16 AGG) noch § 313 BGB (hierzu sogleich Abschnitt 3) zur Lösung der in Rede stehenden Konflikte eignen.126 § 612a BGB setzt tatbestandlich voraus, dass der Arbeitnehmer in zulässiger Weise seine Rechte ausübt; ob der Arbeitnehmer ein entsprechendes Recht besitzt und ob dessen Ausübung rechtmäßig ist, bestimmt die Norm hingegen nicht.127 Dieses Recht folgt vielmehr aus anderen Vorschriften oder Rechtsgrundsätzen. Insoweit besteht ein Unterschied zum Tatbestand der Sittenwidrigkeit. Auch § 138 BGB sagt zwar nicht, wann eine Rechtsausübung sittenwidrig ist. Dieser unbestimmte Rechtsbegriff kann und muss aber durch die Rechtsprechung konkretisiert werden. Ob ein Arbeitnehmer ein Recht hat und es zulässig ausübt, wird hingegen allein durch die Menge aller anderen Rechtsnormen bestimmt. Erst wenn sich aus ihnen ergibt, dass eine Handlung oder ein Unterlassen des Arbeitnehmers geltenden Rechts entspricht, kann § 612a BGB greifen. Insbesondere die Grundrechte können nicht (unmittelbar) herangezogen werden, um festzustellen, ob ein solches Recht besteht oder nicht, denn sie statuieren keine Rechte des Arbeitnehmers, die dieser gegenüber seinem Arbeitgeber geltend machen könnte.128
Zur Beantwortung der Frage, ob ein Arbeitnehmer aus religiösen Gründen die Arbeit verweigern darf, taugen weder § 612a BGB noch § 16 Abs. 1 und 2 AGG. Ein Leistungsverweigerungsrecht kann bspw. aus § 275 Abs. 3 oder § 242 BGB folgen, die Frage der Lohnzahlung klären die §§ 326, 612 ff. BGB und ob dem Arbeitnehmer eine bestimmte Tätigkeit zugewiesen werden kann, ist eine Frage des Direktionsrechts129 – aber keine des Maßregelungsverbots. Auch für die Fälle religiöser Werbung im Betrieb gilt nichts anderes. Die gegenseitigen Rücksichtnahmepflichten bestimmen, inwieweit Arbeitnehmer und Arbeitgeber jeweils Werbung des anderen für religiöse Vereinigungen im Betrieb dulden müssen und wo die Grenzen liegen. Diese werden jedoch nicht von § 612a BGB gezogen. Andererseits vermögen § 612a BGB – und § 16 Abs. 1 und 2 AGG als lex specialis zu § 612a BGB – dort zur Anwendung zu gelangen, wo die Rechte des Arbeitnehmers durch eben jene anderen Vorschriften und Rechtsgrundsätze geklärt sind. Steht dem Arbeitnehmer bspw. ein Leistungsverweigerungsrecht zu, so darf der Arbeitgeber ihn gemäß § 612a BGB nicht deshalb benachteili______________ 126
Vgl. aber Preis, Vertragsgestaltung, 1993, S. 173; zur Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen anhand von § 612a BGB s. bereits III.4. 127 Thüsing, NZA 1994, 728, 730. 128 Hierzu Kap. 4 II; a.A. Preis, Vertragsgestaltung, 1993, S. 173. 129 Zu alldem sogleich in den folgenden Abschnitten.
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gen, weil er es ausübt. Er darf ihm also nicht allein deshalb weniger Überstunden zuweisen als seinen Arbeitskollegen, weil er zu Recht aus Gewissensgründen die Arbeit einstellt (sofern man in einem solchen Fall ein Leistungsverweigerungsrecht anerkennt, hierzu Abschnitt 4). § 612a BGB und § 16 Abs. 1 und 2 AGG vermögen nicht den eigentlichen Konflikt zwischen religiöser und arbeitsvertraglicher Pflicht zu lösen, sondern greifen erst ein, wenn sich aus diesem Konflikt heraus ein weiterer dadurch ergibt, dass der Arbeitgeber nunmehr den Arbeitnehmer benachteiligt, weil sich dieser auf seine aus seiner Religion oder seinem Gewissen resultierenden Rechte beruft.
3. § 313 BGB als neues Lösungsmodell? Nicht erst seit der missglückten Gesetzesbegründung zu § 313 BGB130 plädieren einige Autoren für eine Lösung religiös bedingter Konflikte über die Grundsätze der Störung der Geschäftsgrundlage. Unter einer „Störung“ der Geschäftsgrundlage ist dabei sowohl das Fehlen als auch der Wegfall derselben zu verstehen. Die von Beginn an fehlende Geschäftsgrundlage ist nunmehr in § 313 Abs. 2 BGB, der Wegfall in Abs. 1 geregelt. Blomeyer erwog bereits 1954 eine solche Lösung für die Fälle, in denen der Arbeitnehmer bei Vertragsschluss mitteilt, er sei an eine bestimmte Sittenordnung gebunden.131 Seine diesbezüglichen Vorstellungen seien dann – auch wenn sie unwidersprochen im Raum stehen – zur Grundlage des Vertrags geworden. Isenhardt schlug später vor, ein eigenes Rechtsinstitut der Störung der immateriellen Geschäftsgrundlage zu kreieren, um über den Bereich der Konflikte im wirtschaftlichen Bereich hinaus auch die im geistig-seelischen Bereich erfassen zu können.132 Er stützte seine Lösung auf § 242 BGB. Der Vorschlag, auf die Störung der Geschäftsgrundlage zurückzugreifen, wurde häufiger aufgegriffen.133
a) Rechtsfolge: Vertragsanpassung Die Stellungnahmen, die aus der Zeit vor der Schuldrechtsmodernisierung stammen, sind aus zwei Gründen nur noch begrenzt aussagekräftig. Zum einen ist nunmehr der Weg zu einem eigenen Rechtsinstitut in Form der Störung der ______________ 130
s. Abschnitt IV.1.d). Blomeyer, JZ 1954, 309, 311. 132 Isenhardt, Freiheit des Gewissens im Privatrecht, 1972, S. 71 f. 133 Otto, Personale Freiheit und soziale Bindung, 1978, S. 122; Molitor, SAE 1958, 167; vgl. zu § 313 BGB n.F. Canaris, JZ 2001, 499, 501; AnwK-Dauner-Lieb, § 275 BGB Rn. 19. 131
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immateriellen Geschäftsgrundlage verstellt, zum zweiten hat sich die Rechtsfolge entscheidend gewandelt. § 313 Abs. 1 BGB sieht eine Anpassung des Vertrags vor. Erst wenn diese ausscheidet, kann gekündigt werden (§ 313 Abs. 3 BGB). Die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung verwendete die Grundsätze der Störung der Geschäftsgrundlage hauptsächlich, um Arbeitsverhältnisse in Ausnahmefällen ohne rechtsgestaltenden Akt für beendet zu erklären.134 Angenommen hat das BAG dies bspw. in einem Fall, in dem ein Arbeitnehmer, der 1979 aus der DDR in die BRD ausgewiesen worden war, nach der Wende auf Wiedereinstellung geklagt hatte. Das Gericht bejahte eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch ohne Kündigung nach den Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage.135 Dieser Rechtsprechung ist nunmehr der Boden entzogen – nicht nur weil es die DDR nicht mehr gibt. Denn § 313 BGB sieht in Abs. 1 einen Vertragsanpassungsanspruch und in Abs. 3 ein an diese Stelle tretendes Kündigungsrecht vor. Die Auflösung des Arbeitsverhältnisses ohne rechtsgestaltenden Akt ist – anders als nach bisherigem Recht – nach § 313 BGB grds. nicht möglich. Diese Entscheidung hat der Gesetzgeber bewusst getroffen, damit „die Parteien zunächst selbst über die Anpassung verhandeln“.136 Das Recht zur Kündigung nach § 313 Abs. 3 S. 2 BGB wird überdies durch die Möglichkeit zur außerordentlichen Kündigung (§ 626 BGB, § 13 Abs. 1 KSchG) ausgeschlossen, denn dieses ist nichts anderes als ein spezieller Anwendungsfall der Störung der Geschäftsgrundlage137 und gegenüber § 313 Abs. 3 S. 2 (und § 314 BGB) lex specialis. Im Arbeitsrecht bleibt daher als Rechtsfolge des § 313 BGB grds. allein die Vertragsanpassung, wenn die Grundlage des Vertrags von Beginn an nicht bestanden hat oder später weggefallen ist. § 313 BGB eignet sich seiner Rechtsfolge nach deshalb ohnehin nur dann zur Lösung von religiösen und Gewissenskonflikten, wenn das Direktionsrecht nicht ausreicht, um Arbeitnehmern einen anderen freien Arbeitsplatz zuzuweisen. Jene Fälle werden aber im Rahmen des Kündigungsrechts mit Hilfe des ultima ratio-Grundsatzes gelöst (s. auch Abschnitt V.1.d)).
______________ 134
Vgl. BAG, AP Nr. 4, 5 und 6 zu § 242 BGB Geschäftsgrundlage. BAG, AP Nr. 17 zu § 242 BGB Geschäftsgrundlage. 136 BT-Drucks. 14/6040, S. 176. Außerdem fände sich auch in § 60 VwVfG ein Anspruch auf Anpassung eines öffentlich-rechtlichen Vertrags. Der Gesetzgeber schließt sich damit neueren Stellungnahmen der Literatur an, vgl. Eidenmüller, ZIP 1995, 1063 und Horn, AcP 181 (1981), 255, 276; s. auch Palandt-Heinrichs, § 313 BGB Rn. 41. 137 Staudinger-Preis, § 626 BGB Rn. 5; APS-Preis, Grundlagen K Rn. 72. 135
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b) Die Vereinbarkeit der Tätigkeit mit religiösen Vorstellungen als Geschäftsgrundlage des Arbeitsvertrags? Aber auch tatbestandlich taugt § 313 BGB als Lösungsmodell nicht.
aa) Der Tatbestand des § 313 Abs. 1 und 2 BGB Das Reichsgericht138 hat die von Oertmann139 entwickelten Grundsätze des Wegfalls der Geschäftsgrundlage übernommen, um insbesondere nach dem ersten Weltkrieg die Folgen der Inflation und Not abzufedern. Ihr Anwendungsbereich erweiterte sich seitdem stetig. Erfasst werden vor allem Äquivalenzstörungen, bei denen das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung unzumutbar wird. Einigkeit bestand vor Einführung des § 313 BGB darin, dass zur Grundlage des Vertrags sowohl Vorstellungen gehören, die bei Abschluss zutage getreten sind (sog. subjektive Geschäftsgrundlage) als auch objektive Umstände, die erforderlich sind, damit der Vertrag im Sinne der Intentionen beider Vertragsparteien noch als eine sinnvolle Regelung bestehen kann (sog. objektive Geschäftsgrundlage). Weiterhin war man sich einig, dass sowohl der Wegfall als auch das Fehlen der Geschäftsgrundlage von Beginn an hierunter fallen.140 § 313 BGB nimmt nun eine recht zweifelhafte Unterscheidung in seinen ersten beiden Absätzen vor: Abs. 1 spricht von Umständen, Abs. 2 hingegen von Vorstellungen. Während Abs. 2 also subjektive Elemente erfasst, bezieht sich Abs. 1 auf die objektive Geschäftsgrundlage, dem Wortlaut zufolge ausschließlich auf die objektive. Auch die Systematik spricht dafür, denn Abs. 2 erweitert gerade Abs. 1 um Vorstellungen, also um die sog. subjektive Geschäftsgrundlage, so dass Abs. 1, der allein von Umständen spricht, sich auf objektive Verhältnisse beschränkt. Dies bestätigt der historische Kontext. Die Rechtsprechung hat in ihrer subjektiven Formel den Begriff der Vorstellungen gebraucht, in Bezug auf die objektive Geschäftsgrundlage wurde indes stets der der Umstände verwendet.141 Darüber hinaus fällt ein weiterer Unterschied der Tatbestände ins Gewicht. Während Abs. 1 nur den Wegfall der Geschäftsgrundlage regelt (es müssen sich Umstände „nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert“ haben), bezieht ______________ 138
RGZ 103, 328, 332; so später auch der BGH, vgl. nur BGHZ 25, 390, 392 f.; Z 128, 230, 236 und das BAG, NJW 1991, 1652, 1563. 139 Oertmann, Geschäftsgrundlage, 1921. 140 s. die Fn. 138 und 139. 141 Grdl. Locher, AcP 121 (1923), 1, 71 f.; Larenz, Geschäftsgrundlage, 1963, S. 14 ff. und 52 ff.
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sich Abs. 2 allein auf das Fehlen der Geschäftsgrundlage (Vorstellungen müssen sich „als falsch herausstellen“). Folglich sollte man meinen, Abs. 1 befasse sich allein mit dem Wegfall der objektiven, Abs. 2 lediglich mit dem Fehlen der subjektiven Geschäftsgrundlage. Die wechselseitigen Kombinationen, also der Wegfall der subjektiven und das Fehlen der objektiven Geschäftsgrundlage, sind dem Wortlaut nach nicht erfasst. Hierfür müsste Abs. 2 differenzierter formuliert sein. Er müsste einerseits wesentliche Vorstellungen den Umständen nach Abs. 1 gleich stellen und es müsste andererseits – davon unabhängig – das Fehlen dem Wegfall der Geschäftsgrundlage gleich gestellt werden. Abs. 2 hingegen nennt beide Kriterien kumulativ: Eine Gleichstellung erfolgt für den Fall der (subjektiven) Vorstellungen, sofern sie von Beginn an fehlen. Allgemein wird dennoch angenommen, § 313 Abs. 1 und 2 BGB erfasse sämtliche vier möglichen Kombinationen, denn der Gesetzgeber habe die von der Rechtsprechung anerkannten Grundsätze nicht ändern wollen.142 Die Gesetzesbegründung ist zwar widersprüchlich, denn es heißt dort einerseits: „Im Übrigen sind die Fälle des Wegfalls der rein subjektiven Geschäftsgrundlage in § 313 Abs. 2 RE [entspr. § 313 Abs. 2 BGB] geregelt.“143 Auf der gleichen Seite der Begründung wird dann jedoch ausgeführt: „Absatz 2 betrifft das ursprüngliche Fehlen der subjektiven Geschäftsgrundlage.“144 Trotzdem wird man nicht umhin kommen, sämtliche vier Kombinationen unter § 313 BGB zu subsumieren, um die Grundsätze der Störung der Geschäftsgrundlage in ihrem gesamten Umfang zu erfassen. Die Wortlautgrenze des Abs. 1 ist dabei nicht erreicht, denn Umstände können auch innere Umstände, also Vorstellungen sein. Die Einbeziehung von objektiven Gegebenheiten in Abs. 2, der ausdrücklich von Vorstellungen spricht, fällt indes schwerer. Womöglich bedarf es insofern einer Analogie.
bb) Die sog. subjektive Geschäftsgrundlage Um § 313 BGB auf die hier in Rede stehenden Fallkonstellationen anzuwenden, müsste es zur Geschäftsgrundlage des Arbeitsvertrags gehören, dass die Tätigkeit des Arbeitnehmers mit seinen religiösen Vorstellungen (und seinem Gewissen) vereinbar ist. Zu unterscheiden ist dabei zwischen subjektiver und objektiver Geschäftsgrundlage.
______________ 142
Bamberger/Roth-Grüneberg, § 313 BGB Rn. 6; Palandt-Heinrichs, § 313 BGB Rn. 25 und 38. 143 BT-Drucks. 14/6040, S. 176; linke Spalte, vierter Absatz. 144 BT-Drucks. 14/6040, S. 176; rechte Spalte unter „Zu Absatz 2“.
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Zur Geschäftsgrundlage gehören in subjektiver Hinsicht die bei Abschluss des Vertrags zutage getretenen, dem anderen Teil erkennbar gewordenen und von ihm nicht beanstandeten Vorstellungen der einen Partei oder die gemeinsamen Vorstellungen beider Parteien von dem Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt bestimmter Umstände, sofern der Geschäftswille der Parteien auf diesen Vorstellungen aufbaut.145 Treten während des Arbeitsablaufs Konflikte zu religiösen Geboten auf, geht es meist um Fälle, in denen sich die Vertragsparteien hierüber bei Aufnahme der Tätigkeit keine Gedanken gemacht haben. Wenn sie derartige Fälle bedacht und hierfür Regelungen vorgesehen haben, ist die Auslegung und Inhaltskontrolle des Arbeitsvertrags entscheidend (s. hierzu oben Abschnitt III). Zur subjektiven Geschäftsgrundlage können jene Vorstellungen daher nicht gehören.146
cc) Die sog. objektive Geschäftsgrundlage Daneben erfasst die Geschäftsgrundlage auch diejenigen Umstände und allgemeinen Verhältnisse, deren Vorhandensein oder Fortdauer objektiv erforderlich ist, damit der Vertrag im Sinn der Intentionen beider Vertragsparteien noch als eine sinnvolle Regelung bestehen kann. Dem BGH zufolge genügt es dabei, dass die Parteien „bestimmte Umstände als selbstverständlich ansahen, ohne sich diese bewusst zu machen“.147 Im Falle von religiösen oder Gewissenskonflikten kann dieser „Umstand“ darin gesehen werden, dass der Arbeitnehmer aufgrund seiner moralischen Überzeugungen die Tätigkeiten ganz oder zum Teil nicht mehr ausüben kann. Ob er allerdings zur Grundlage des Vertrags zählt, ist zweifelhaft. Wichtigste Fallgruppe der objektiven Geschäftsgrundlage ist das Vorliegen einer Äquivalenzstörung, bei der das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung unzumutbar wird. Anerkannt sind außerdem die sog. Zweckstörung, wenn der Leistungserfolg zwar noch erreicht werden kann, der Gläubiger an ihm aber kein Interesse mehr hat, sowie Änderungen von Gesetzen und anderen Rechtsvorschriften.148 Dabei setzt – wie auch diese Fallgruppen zeigen – ein Wegfall der Geschäftsgrundlage stets voraus, dass die neue, tatsächliche Situation in irgendeiner Weise nicht mehr zum ursprünglich ausgehandelten Vertrag passt. Das ist bei einer (teilweisen) Verhinderung des Arbeitnehmers in Bezug auf seine Arbeit aber nicht anzunehmen. Vielmehr würde die Leistungsstörung hier auch auftreten, wenn der Vertrag anders gefasst wor______________ 145
s. die Nachweise in den Fn. 138 und 139. Bosch/Habscheid, JZ 1954, 213, 214; Isenhardt, Freiheit des Gewissens im Privatrecht, 1972, S. 58; Hoevels, Islam und Arbeitsrecht, 2003, S. 58 f. 147 BGHZ 131, 209, 215; s. auch die Nachweise in Fn. 138. 148 Palandt-Heinrichs, § 313 BGB Rn. 35 f. mwN. 146
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den wäre.149 Die Nichterbringbarkeit der Leistung aufgrund einer religiösen oder einer Gewissensentscheidung des Arbeitnehmers ist weniger die von beiden Parteien vorausgesetzte Geschäftsgrundlage eines Vertrags als vielmehr eine Leistungsstörung unter vielen. Wie bei anderen Leistungsstörungen ist der Arbeitnehmer an der Arbeit gehindert. Und hierfür hält das Gesetz – wie in Abschnitt IV erläutert – durchaus brauchbare Instrumentarien bereit. Im Ernstfall kann der Arbeitgeber selbst unter Geltung des KSchG dem Arbeitnehmer kündigen (s. V.1). Die Lehre vom Wegfall (bzw. dem Fehlen) der Geschäftsgrundlage ist insbesondere für Störungen im materiell-ökonomischen Bereich entwickelt worden. Die wichtigsten Fallgruppen wie die der Äquivalenz- oder der Zweckstörung betreffen nicht ideelle oder persönliche Eigenschaften von Arbeitnehmern oder Arbeitgebern, sondern das wirtschaftliche Austauschverhältnis von Leistung und Gegenleistung. Jene Konflikte unterliegen jedoch anderen Mustern als Störungen im ideell-persönlichen Bereich.150
c) Zusammenfassung Bereits die Rechtsfolge des § 313 BGB passt in Fällen der Ablehnung von Tätigkeiten aus religiösen oder Gewissensgründen nur, wenn der Arbeitnehmer zu Recht die Leistung verweigert und er auf einem Arbeitsplatz weiter beschäftigt werden könnte, auf den der Arbeitgeber ihn nicht mittels Direktionsrechts versetzen kann. Nur dann ist überhaupt eine Anpassung des Arbeitsvertrags nach § 313 Abs. 1 BGB notwendig. Jene Fälle werden indes über den ultimaratio-Grundsatz im Kündigungsrecht gelöst und zwingen den Arbeitgeber u.U. vor einer Beendigungs- eine Änderungskündigung auszusprechen.151 Zudem fehlt es regelmäßig weder an der objektiven noch der subjektiven Geschäftsgrundlage. § 313 BGB ist vielmehr auf Störungen im materiell-ökonomischen Bereich zugeschnitten.
4. Ein kooperatives Modell Sowohl für die Begrenzung des Weisungsrechts als auch für eine Lösung über ein – wo auch immer zu verortendes – Leistungsverweigerungsrecht des Arbeitnehmers sprechen plausible Gründe. Im Folgenden soll der Versuch ______________ 149
Henssler, AcP 190 (1990), 538, 545. Henssler, AcP 190 (1990), 538, 552 f.; Greiner, Ideelle Unzumutbarkeit, 2004, S. 406. 151 s. hierzu LAG München, NZA-RR 2005, 291, 294. 150
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unternommen werden, beide Modelle zu vereinen und jedem seinen eigenen Anwendungsbereich zuzuweisen.
a) Gestaltungsspielraum im Falle rein-religiöser Konflikte Henssler hat darauf hingewiesen, dass religiöse und gewissensbedingte Konflikte (häufig) keine Frage des Gestaltungsspielraums des Arbeitgebers sind, sondern ebenso aufträten, wenn die konkret verlangte Arbeitsleistung von vorne herein als einzige vereinbart worden wäre. 152 Der Arzt, der sich weigert, an der Entwicklung eines Medikaments mitzuarbeiten, würde sich auch dann weigern, wenn er gerade hierfür eingestellt worden wäre und die Verkäuferin, die dem Islam beitritt, würde sich auch dann weigern, das Kopftuch abzulegen, wenn im Arbeitsvertrag der Verzicht auf religiöse Symbole vereinbart worden wäre. Dies ist ein gewichtiges Argument gegen die von der Rechtsprechung praktizierte Begrenzung des Weisungsrechts. Henssler plädiert demzufolge für eine Heranziehung von § 275 Abs. 3 BGB.153 Ihm ist im Grundsatz zuzustimmen. Allerdings kann wie beschrieben (s. III) im Arbeitsvertrag die Religionsausübung während der Arbeitszeit wirksam beschränkt werden. In solchen Fällen stellt sich die Frage eines Leistungsverweigerungsrechts des Arbeitnehmers nicht mehr. Wenn die entsprechende Klausel wirksam ist, ist der Arbeitnehmer zur Verrichtung der Tätigkeit verpflichtet. Der Katholik, der vertraglich auf das Tragen religiöser Symbole verzichtet, kann nicht verlangen, während der Arbeit ein Kruzifix um den Hals tragen zu dürfen und der Muslim, der laut Vertrag die Maschine nur während der Pausenzeiten verlassen darf, kann grds. nicht verlangen, außerhalb der Pausen Gebete verrichten zu dürfen.154 Geht es allein um Religionsausübung, steht den Vertragsparteien ein weiter Gestaltungsspielraum offen. Wird er genutzt und Religionsausübung arbeitsvertraglich begrenzt, muss sich der Arbeitnehmer daran festhalten lassen (s. III). Hier stellt sich weder die Frage nach der Billigkeit einer Weisung noch die nach einem Leistungsverweigerungsrecht. Der Konflikt ist zu Gunsten des Arbeitgebers entschieden. Wurden im Arbeitsvertrag demgegenüber keine Einschränkungen für religiöse Wünsche des Arbeitnehmers vereinbart, steht dem Arbeitgeber ein Gestaltungsspielraum zu. Rein-religiöse Bedürfnisse sind im Gegensatz zu Gewis-
______________ 152
Henssler, AcP 190 (1990), 538, 545. Henssler, RdA 2002, 129, 131. 154 Allein für Formulararbeitsverträge gelten einschränkende Regelungen, s. hierzu Abschnitt III.5. 153
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157
sensentscheidungen verzichtbar155 und deshalb kann der Arbeitgeber ihnen den Vorzug einräumen, er darf sich aber auch anders entscheiden und den Arbeitnehmer zur Erbringung seiner Leistung anhalten. Beide Weisungen sind für sich genommen rechtmäßig und es ist eine Frage der Billigkeit (bzw. der Fürsorgepflicht, hierzu Abschnitt II), welche der in Betracht kommenden der Arbeitgeber wählt. Im Falle der Religionsausübung besteht eine durch § 106 S. 1 GewO begrenzte Gestaltungsfreiheit.156 Auch insoweit bedarf es eines Leistungsverweigerungsrechtes nicht.
b) Frage der Zumutbarkeit für den Schuldner im Falle von Gewissenskonflikten Anders ist es bei Gewissensentscheidungen. Hieraus resultierende Konflikte entstehen ebenso in den Fällen, in denen die zu verrichtenden Tätigkeiten von vorne herein vertraglich detailliert geregelt wurden. Auch wenn die Leistung bestimmt ist und keiner näheren Konkretisierung durch den Gläubiger bedarf, wird sie der Schuldner verweigern, wenn sie mit seinem Gewissen nicht vereinbar ist. Dies ist in der Tat keine Frage des Gestaltungsspielraums des Gläubigers, sondern eine der Zumutbarkeit für den Schuldner und deshalb eine des Leistungsverweigerungsrechts des Arbeitnehmers. Hat der Arbeitnehmer keine andere Wahl, weil sein Gewissen ihm keine lässt, bleibt dem Arbeitgeber hinsichtlich des Arbeitseinsatzes kein Ermessensspielraum, denn der Arbeitnehmer kann nicht zur Verrichtung einer Tätigkeit gezwungen werden, die sein Gewissen verbietet (s. Kap. 2 III.4). Er kann sich dann möglicherweise auf ein Leistungsverweigerungsrecht (aus § 275 Abs. 3 BGB) berufen, der Arbeitgeber kann ihm auch mittels Direktionsrechts eine andere Arbeit zuweisen; die Frage, ob er die Tätigkeit ausführen muss, die den Gewissenskonflikt hervorruft, ist aber keine Frage der Leistungsbestimmung durch den Arbeitgeber.157 Seit der Schuldrechtsreform stellt das BGB mit § 275 Abs. 3 nun auch eine ausdrückliche Regelung bereit, die gerade auf Fälle der Pflichtenkollisionen aus dem ideell-persönlichen Bereich zugeschnitten ist. Wenn die Sängerin, deren Kind erkrankt ist, die Arbeit nach § 275 Abs. 3 BGB verweigern darf – dieses Beispiel nannte die Gesetzesbegründung zu § 275 Abs. 3 BGB158 –, liegt es nahe, dem gläubigen Siebenten-Tags-Adventisten das gleiche Recht zuzugeste______________ 155
s. Kap. 2 III. Die Feiertagsgesetze der Bundesländer treffen z.T. spezielle Regelungen; s. hierzu Hoevels, Islam und Arbeitsrecht, 2003, S. 47 f., mit einer Übersicht über die Normen der einzelnen Länder in Fn. 222 157 Henssler, AcP 190 (1990), 538, 545. 158 BT-Drucks. 14/6040, S. 130. 156
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hen, wenn er Samstagsarbeit ablehnt und auch einem Konzertmusiker, der aus religiösen Gründen die Mitwirkung an einer blasphemischen Opernaufführung verweigert. Sie alle unterliegen Zwängen, die aus dem ideell-persönlichen Bereich stammen.159
c) Konsequenzen Das bedeutet: Im Falle rein-religiöser Konflikte stellt sich die Frage nach der Billigkeit der entsprechenden Direktive des Arbeitgebers (§ 106 S. 1 GewO); bringt sie den Arbeitnehmer demgegenüber in Gewissensnöte, steht ihm ein Leistungsverweigerungsrecht aus § 275 Abs. 3 BGB zu. Sowohl § 106 S. 1 GewO als auch § 275 Abs. 3 BGB fordern ihrem Wortlaut nach eine Abwägung der entgegenstehenden Interessen. Im Falle rein reinreligiöser Konflikte ist dem auch so. Hier bedarf es einer umfassenden Würdigung der Situation, um festzustellen, ob der Arbeitgeber sich nach billigem Ermessen für die richtige Weisung entschieden hat und der Arbeitnehmer diese deshalb ausführen muss. Im Falle einer Gewissensentscheidung besteht für den Arbeitnehmer demgegenüber keine Alternative. Der bereits dargestellte absolute Charakter des Gewissens und die unumstößliche Verbindlichkeit seiner Forderungen lassen Kompromisse nicht zu. Um eine Gewissensentscheidung handelt es sich gerade – definitionsgemäß – erst dann, wenn jede andere Lösung ausscheidet und dem Arbeitnehmer nur noch die Verweigerung der Leistung bleibt. Mangels Alternative kann er in einem solchen Fall auch nicht zur Leistung gezwungen werden. Das ist bereits verfassungsrechtlich geboten, lässt sich aber auch zivilrechtlich einordnen. Henssler zieht einen ähnlichen Schluss aus dem Vergleich zwischen materiellökonomisch bedingten und individuell-persönlichen Leistungsstörungen und stellt fest: „Anders als bei den materiellen Erschwernissen gibt es daher Formen von Pflichten- und Rechtsgüterkollisionen, bei denen dem Schuldner ein Leistungsverweigerungsrecht unabhängig von den Kriterien der Kenntnis und Vorhersehbarkeit eingeräumt werden muß. Maßgeblich ist im Einzelfall der Schutzbereich der jeweils einschlägigen Verfassungsbestimmung, auf die sich der Leistungspflichtige stützt.“160 Dem ist mit der Maßgabe zuzustimmen, dass Glaubens-, Gewissens- und Religionsausübungsfreiheit eben
______________ 159 Dabei schadet es auch nicht, dass § 275 Abs. 3 BGB lediglich für persönliche Leistungspflichten gilt (vgl. § 613 S. 1 BGB) und deshalb nicht auf sämtliche Fälle von Gewissenskonflikten im Zivilrecht anwendbar ist (vgl. aber Greiner, Ideelle Unzumutbarkeit, 2004, S. 140 ff.). § 275 Abs. 3 BGB ist insoweit eine bereichsspezifische Konkretisierung des Gebots zu Treu und Glauben; s. nur Henssler/Graf von Westphalen-Dedek, Schuldrechtsreform, § 275 BGB Rn. 28. 160 Henssler, AcP 190 (1990), 538, 553.
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unterschiedliche Handlungen schützen und auch eine unterschiedliche Schutzintensität aufweisen.
aa) Leistungsverweigerungsrecht aus § 275 Abs. 3 BGB im Falle von Gewissensnöten Die Unterscheidung zwischen Religionsausübung, Glaube und Gewissen fügt sich auch in das zivilrechtliche Regelungssystem ein. Nimmt man die Gewissensfreiheit ernst, ist der Arbeitnehmer überhaupt nicht in der Lage, der entsprechenden Tätigkeit nachzukommen, die ihn in Gewissensnöte brächte. Da aber niemand zu einer Leistung verpflichtet werden kann, die ihm physisch oder psychisch (das wäre hier der Fall) unmöglich ist (impossibilium nulla obligatio), scheidet eine Verurteilung zur Leistung aus.161 Ebenso wenig wie ein Urteil zur Selbstgeißelung verpflichten kann, kann es zu Verletzungen der eigenen Persönlichkeit anhalten, die zwangsläufig mit dem Verrat des Gewissens verbunden wäre.162 Bei Gewissenskonflikten bleibt demnach für eine Gegenüberstellung der Interessen des Arbeitnehmers mit denen des Arbeitgebers kein Raum. Die nach § 275 Abs. 3 BGB notwendige Abwägung ist vielmehr durch Art. 4 Abs. 1 GG vorgeprägt; ohnehin stellt § 275 Abs. 3 BGB primär auf die Zumutbarkeit für den Schuldner ab, wenn es um Leistungshindernisse aus dem persönlichen Bereich geht. Das Leistungsinteresse des Gläubigers ist danach – im Gegensatz zu § 275 Abs. 2 BGB – zum im Rahmen einer Abwägung zu berücksichtigenden Faktor degradiert. Der Schuldner soll leichter befreit werden können als in Fällen finanzieller Unzumutbarkeit.163
(1) Zum Kriterium der Vorhersehbarkeit des Konflikts Für die Würdigung der drei vom BAG aufgestellten Kriterien (Vorhersehbarkeit des Konflikts, betriebliche Interessen sowie die Wahrscheinlichkeit weiterer Konflikte) ist deshalb im Falle von Gewissensentscheidungen kein Raum. Ob der Arbeitnehmer den Konflikt hätte voraussehen können (oder ihn sogar vorausgesehen hat), ändert nichts daran, dass er außerstande ist zu leisten und die Leistung nach § 275 Abs. 3 BGB verweigern darf. Freilich bestehen dann in ______________ 161
Boemke/Gründel, ZfA 2001, 245, 260. Blomeyer, JZ 1954, 309, 312; Preuß, AuR 1986, 382, 384; Isenhardt, Freiheit des Gewissens im Privatrecht, 1972, S. 121; ähnlich Kohte, NZA 1989, 161, 167. Ein konkludenter Verzicht auf die Betätigung des Gewissens im Arbeitsvertrag ist reine Fiktion, s. Kap. 4 III.3 und die Nachweise in den Fn. 64 f. 163 Huber/Faust-Faust, Schuldrechtsmodernisierung, 2002, S. 57 f. 162
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aller Regel Schadensersatzansprüche des Arbeitgebers und ggf. auch ein Recht zur Kündigung.164 Hiergegen mag man einwenden, auch der Schadensersatzanspruch übe Druck auf den Arbeitnehmer aus, seine Gewissensbedenken außen vor zu lassen.165 Dieser Druck hat jedoch eine andere Qualität. Verurteilt ein Gericht einen Menschen zu einer Handlung, muss er diese – kraft hoheitlichen Aktes – ausführen, so steht es jedenfalls im Tenor. Der Staat verlangt eine Beugung des Gewissens. Die Leistung eines Schadensersatzanspruchs erscheint demgegenüber als das geringere Übel und ist mit der Gewissensfreiheit des Verpflichteten vereinbar. Es ist ja die Primärleistung, die das Gewissen verbietet und nicht die Geldzahlung. Die Rechtsprechung hat Ähnliches bereits bei anderen Zahlungspflichten anerkannt, bspw. bei Steuerpflichten, gegen die das Gewissen keinen Schutz bietet.166 Ein Schadensersatzanspruch mag deshalb davon abhängen, ob der Arbeitnehmer den Konflikt voraussehen konnte, die Primärleistung hingegen – im Falle von Gewissenskonflikten – nicht. Insofern erlangt das Kriterium der Vorhersehbarkeit allein auf dem Gebiet des Prozessrechts Beachtung, worauf Kohte zutreffend hingewiesen hat: Je eher ein Konflikt vorhersehbar war, desto höher sind die Anforderungen an die Darlegungslast des Arbeitnehmers, dass und wann er eine neue und abweichende Gewissensentscheidung getroffen hat.167 Ergänzend muss allerdings hinzugefügt werden, dass die Frage der Vorhersehbarkeit bei (rein) religiösen Entscheidungen darüber hinaus auch im Rahmen der Primärleistungspflicht bedeutsam sein kann (hierzu noch Abschnitt bb)(1)).
______________ 164
Hierzu Abschnitte V und VII; u.U. kann der Arbeitgeber den Vertrag anfechten, hierzu Abschnitt I. 165 So Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 1990, S. 141. Sie sehen außerdem einen Wertungswiderspruch darin, die vorwerfbare Verletzung des Vertrags im Rahmen des Leistungsverweigerungsrechts als gerechtfertigt, sie iRd Schadensersatzanspruchs aber mit der Wertung der schuldhaften Vermeidbarkeit zu versehen. Erstens sind Rechtfertigung und Vermeidbarkeit strafrechtliche Kriterien, die hier kaum passen. Zweitens liegt ein Wertungswiderspruch nicht darin, dass der Arbeitnehmer die Arbeit nicht zu verrichten hat, aber Schaden ersetzen muss. Primär- und Sekundärleistung können unterschiedliche Wege gehen, das ist auch in anderen Fällen so. 166 BVerfG, NJW 1993, 455 f. 167 Kohte, NZA 1989, 161, 168 unter Bezugnahme auf Schreiber, Freie Entfaltung des Arbeitnehmers, 1973, S. 96, 100.
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(2) Zu den Kriterien der betrieblichen Interessen und der Wahrscheinlichkeit weiterer Konflikte Auch das zweite und dritte vom BAG genannte Kriterium der betrieblichen Interessen und der Wiederholungswahrscheinlichkeit müssen außen vor bleiben. Eine staatliche Anordnung, ein Urteil, dass zur Beugung des eigenen Gewissens und damit zu einer intensiven Persönlichkeitsverletzung zwingt, rechtfertigen auch betriebliche Interessen nicht. Selbst in einer Notsituation für den Betrieb, die zu hohen Verlusten führen kann, ist ein Arbeitnehmer nicht zu Tätigkeiten verpflichtet, die sein Gewissen tangieren.168 Wie hoch die daraus resultierenden Verluste auch sein mögen, sie sind mit Geld wieder gut zu machen. Das gilt sogar in dem von Henssler gelieferten Beispiel,169 wenn ein Arbeitnehmer es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann, weiterhin in einem Unternehmen zu arbeiten, das Medikamente wie die im sog. „NatoPillen-Fall“170 herstellt. Da die Gewissensentscheidung selbst nicht bewertet werden darf, sie nicht in Kategorien wie „begründet oder unbegründet“, „berechtigt oder unberechtigt“, „unmittelbar oder mittelbar“ eingeteilt werden kann, muss auch diejenige Beachtung finden, die einem Außenstehenden als weit entfernt von der eigentlich nicht akzeptierten Situation erscheinen mag. Ist es das Gewissen, das spricht, hindert es die Leistungsverpflichtung des Schuldners. Selbstverständlich darf die Vertragsbindung „nicht zur Disposition hypersensibler Neurotiker stehen“;171 der Ausgleich erfolgt aber nicht auf Primärleistungs-, sondern auf Sekundärleistungsebene durch entsprechende Schadensersatzansprüche. Allerdings können und müssen die Gerichte in einem solchen Fall eine dezidierte, glaubhafte Darlegung der Gewissensgründe verlangen; die Schwierigkeiten liegen also auf Tatsachenebene (s. hierzu Kap. 2 III.5). Sich ihnen anzunehmen, ist im Einzelfall schwierig, aber unerlässlich. Folgerichtig entfällt der Lohnanspruch grundsätzlich gem. § 326 Abs. 1 S. 1 BGB.172 Die Verfassung selbst ist es übrigens, die dem Gewissen einen solch hohen Rang einräumt und von einer Abwägung frei hält. 173 Auch das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nach Art. 4 Abs. 3 GG ist nicht abwägungsfähig. ______________ 168
A.A. (ohne Differenzierungen) die h.M., vgl. nur BAG, NZA 1986, 21, 22; Rüfner, RdA 1992, 1, 5; Boemke/Gründel, ZfA 2001, 245, 26; ErfK-Dieterich, Art. 4 GG Rn. 70. 169 Henssler, AcP 190 (1990), 538, 549. 170 Kap. 3 II.3.c). 171 So Henssler, AcP 190 (1990), 538, 548. 172 s. Abschnitt VI; dort auch zu § 616 BGB, der den Anspruch aufrecht erhält, wenn der Arbeitnehmer für eine verhältnismäßig kurze Dauer zur Verrichtung der Tätigkeit außer stande ist. 173 s. jüngst BVerwG, NJW 2006, 77, 102 ff.
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Der Einzelne kann danach den Dienst an der Waffe selbst in ernsten Konfliktlagen ablehnen. „Das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen setzt der verfassungsrechtlich verankerten Pflicht, sich an der bewaffneten Landesverteidigung und damit insoweit an der Sicherung der staatlichen Existenz zu beteiligen, eine unüberwindliche Schranke entgegen“, führte das BVerfG aus.174
bb) Interessenabwägung im Falle rein-religiös bedingter Konflikte Im Falle rein-religiös bedingter Konflikte ist hingegen eine umfassende Interessenabwägung möglich und notwendig. Welche Kriterien einzubeziehen sind, wird in Rechtsprechung und Schrifttum uneinheitlich beurteilt.
(1) Zum Kriterium der Vorhersehbarkeit Das BAG würdigte in seiner (zweiten) „Druckerentscheidung“ 1984, ob und wieweit der Arbeitnehmer den Konflikt zwischen seinem Gewissen und seinen arbeitsvertraglichen Pflichten bei Abschluss des Vertrags vorhersehen konnte. Der Drucker, der sich weigerte an der Herstellung einer Zeitschrift neofaschistischen Inhalts mitzuwirken, konnte ihn nicht vorhersehen, was das Gericht positiv für ihn verbuchte. In der zweiten Entscheidung 1989 relativierte das BAG seine Rechtsprechung dahingehend, dass dem Kriterium der Vorhersehbarkeit „keine absolute Bedeutung“ beizumessen sei.175 Hingegen erwähnte es dieses Argument in den Fällen des im Ausland zum Wehrdienst verpflichteten Arbeitnehmers überhaupt nicht mehr.176 Ganz sicher scheint sich das BAG also nicht zu sein, ob es im Rahmen der Primärpflicht darauf ankommt, inwieweit der Arbeitnehmer den Konflikt vorhergesehen hat bzw. vorhersehen konnte. Die Stellungnahmen des Schrifttums sind vielfältig. Sie reichen von der gänzlichen Ablehnung dieses Kriteriums177 über Ansichten, nach denen die Vorhersehbarkeit zwar nicht für die Primärleistung aber für einen Schadenser______________ 174
BVerfG, NJW 1985, 1519, 1520; jüngst auch BVerwG, NJW 2006, 77, 83 ff. BAG, NZA 1990, 144, 146. 176 s. BAG, NJW 1983, 2782; BAG, NZA 1989, 464; hierzu Henssler, AcP 190 (1990), 538, 553 Fn. 62. 177 Boemke/Gründel, ZfA 2001, 245, 260; Herdegen, Gewissensfreiheit, 1989, S. 304 f.; Kohte, NZA 1989, 161, 168; Mayer-Maly in: FS G. Müller, 1981, S. 325, 331; ähnlich auch Esser-Schmidt, Schuldrecht I/1, § 10 III.2.f), S. 181; Diederichsen (in: FS Michaelis, 1972, S. 36, 51 ff.) lehnt jegliche Pflichtenmodifikation ab; ähnlich Leuze, RdA 1993, 16, 19 f. und Hohn, Freiheit des Gewissens, 1990, S. 306. 175
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satzanspruch des Arbeitgebers Bedeutung haben soll,178 bis zur Anerkennung des Kriteriums als genereller Voraussetzung eines Leistungsverweigerungsrechts179. Teilweise wird auch zwischen der subjektiven Kenntnis und einer objektiven Vorhersehbarkeit unterschieden.180 Diese Diskussion, die bereits seit den ersten Stellungnahmen in den fünfziger Jahren geführt wird,181 verliert angesichts zweier Überlegungen an Brisanz. Zum einen lässt die ZPO unmittelbaren Zwang zur Vollstreckung ohnehin nicht zu und auch Zwangsgeld und Zwangshaft sind gem. § 62 Abs. 2 ArbGG iVm § 888 Abs. 3 ZPO (analog) in aller Regel ausgeschlossen.182 Dem Arbeitgeber nützt ein Leistungsurteil deshalb wenig, in der Praxis bleibt ihm ohnehin nur die Möglichkeit des Schadensersatzes;183 § 61 Abs. 2 ArbGG erleichtert lediglich die prozessuale Durchsetzbarkeit des Schadensersatzanspruchs ohne einen
______________ 178 Beck, Gewissenskonflikt und Arbeitsverhältnis, 1995, S. 100; Blomeyer, JZ 1954, 309, 311 f.; Bosch/Habscheid, JZ 1956, 297, 301 (anders noch dies., JZ 1954, 213, 215); Habscheid, JZ 1964, 246, 247; Denninger/Hohm, AG 1989, 145, 149; Henssler, AcP 190 (1990), 538, 553 ff.; Isenhardt, Freiheit des Gewissens im Privatrecht, 1972, S. 120 ff. und 132 ff.; für den Fall einer Leistungsverhinderung aus familiären Gründen auch Löwisch, AcP 165 (1965), 421, 431. Misera (SAE 1983, 271, 272) stellt darauf ab, ob der Arbeitnehmer dem Konflikt ausweichen kann. 179 Grabau, BB 1991, 1257, 1260; Heffter, Glaubens- und Gewissensfreiheit im Schuldverhältnis, 1968, S. 67 ff. und 122 ff.; Maunz/Dürig-Herzog, GG, Art. 4 Rn. 146 f.; Hoevels, Islam und Arbeitsrecht, 2003, S. 75 ff.; Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 1990, S. 138 ff.; Hild. Krüger, RdA 1954, 365, 373; Larenz, Schuldrecht AT, § 10 II c, S. 136; Otto, Personale Freiheit und soziale Bindung, 1978, S. 121 f.; Scheschonka, Leistungsverweigerung aus Glaubens- oder Gewissensnot, 1972, S. 112 f. 180 Wieacker, JZ 1954, 466, 467; Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 1990, S. 140, stellen auf die objektive Voraussehbarkeit im Hinblick auf das typische Berufsbild der Tätigkeit ab. Hieran anknüpfend auch Hansen, Glaubens- und Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 2000, S. 129 ff. 181 Vgl. nur Bosch/Habscheid, JZ 1954, 213, 215; dies., JZ 1956, 297, 301; Blomeyer, JZ 1954, 309, 311 f. 182 Söllner/Waltermann, Arbeitsrecht, Rn. 739. Eine im Vordringen begriffene Ansicht will eine Vollstreckung bei einfachen Tätigkeiten zulassen, weil es aus Sicht des Arbeitgebers dann gleichgültig sei, wer die Arbeit ausführe und es sich deshalb nicht um eine unvertretbare Handlung iSv § 888 ZPO handele (so etwa Schwab/Weth-Walker, ArbGG, § 62 Rn. 66; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, § 12 V, S. 168 jeweils mwN). Hiergegen wird die Höchstpersönlichkeit der Arbeitsleistung (vgl. § 613 BGB) ins Feld geführt (BAG, NZA 2004, 727, 732; Boemke, Arbeitsrecht, Rn. 110 jeweils mwN). 183 Verklagt der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auf Verrichtung der Arbeitsleistung, so kann er seine Klage nach § 264 Nr. 3 ZPO auf die Sekundärleistung umstellen, wenn der Arbeitnehmer die Einrede aus § 275 Abs. 3 BGB erhebt. Die später eingetretene Veränderung idS liegt in der Erhebung der Einrede (Huber/Faust-Faust, Schuldrechtsmodernisierung, 2002, S. 24).
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darüber hinaus gehenden Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung zu gewähren.184 Zum anderen wird es dem Arbeitnehmer schwer nachweisbar sein, dass er den Konflikt hätte voraussehen können. Seine religiösen Vorstellungen können sich im Laufe der Zeit ändern und an Gewicht zunehmen.185 Erwartet er bei Vertragsschluss noch, dass er in der Lage sein wird, die Arbeiten auszuführen, kann er anschließend diese mit der Begründung verweigern, er habe die Kraft seiner religiösen Überzeugungen unterschätzt und sei nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss gekommen, dass sich seine Arbeit doch nicht mit ihnen vereinbaren ließe. Widerlegen wird man eine solche Argumentation nur selten können.186
(2) Zum Kriterium der betrieblichen Interessen Zu einem berechtigten Abwägungskriterium werden auch betriebliche Interessen, wenn der Arbeitnehmer allein religiöse Ge- oder Verbote anführt, die mit seiner Tätigkeit in Konflikt geraten, sofern diese für ihn nicht völlig verbindlich und damit gleichzeitig eine Gewissensfrage darstellen. 187 Die Kritik Kohtes188 hieran, dieses Argument scheide bereits „aus logischen Gründen“ aus, da dieser Gesichtspunkt angemessen im Rahmen einer etwaigen Kündigung berücksichtigt werden müsse, überzeugt nicht. Dass es auch im Rahmen einer Kündigung, des Lohn- und Schadensersatzanspruchs Berücksichtigung findet, hindert nicht daran, es bereits bei der Frage des Primäranspruchs einzubeziehen; schließlich setzen Sekundäransprüche voraus, dass geklärt ist, ob der Arbeitnehmer überhaupt zur Leistung verpflichtet ist. Geht es um das Tragen religiöser Symbole, ist der für den Arbeitgeber regelmäßig wichtigste Gesichtspunkt die Wirkung dieses Symbols nach außen hin. So hatte sich die Kaufhausbetreiberin im Fall des BAG damit verteidigt, die Kunden der hessischen Kleinstadt akzeptierten eine kopftuchtragende Verkäuferin nicht. Ein Halbmond an einer Kette um den Hals hätte vermutlich noch ______________ 184
Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge-Germelmann, ArbGG, § 61 Rn. 36 f. Kohte, NZA 1989, 161, 168; Heffter, Glaubens- und Gewissensfreiheit im Schuldverhältnis, 1968, S. 70 ff. 186 Freilich muss der Arbeitnehmer dies darlegen. Im Falle des zu Bestattungsarbeiten verpflichteten Sinto (BAG, AP Nr. 18 zu § 1 KSchG Wartezeit, s. Kap. 3 II.3.f)) war dies nicht geschehen. 187 s. auch Abschnitt II.3. Das Kriterium der betrieblichen Interessen hat im Schrifttum größtenteils Anklang gefunden, s. nur ErfK-Dieterich, Art. 4 GG Rn. 70; Henssler, AcP 190 (1990), 538, 549 f. 188 NZA 1989, 161, 167. 185
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niemanden gestört, ein Symbol aber, das derart auffällig ist wie das Kopftuch und das neben religiösen auch andere Assoziationen hervorrufen kann, erregt größeres Aufsehen. Die Außenwirkung eines religiösen Symbols oder auch religiöser Praktiken ist ein bedeutsamer Aspekt betrieblicher Interessen, 189 er ist allerdings mit Vorsicht zu behandeln. Erstens bleibt für seine Würdigung kein Raum, wenn es sich um eine Gewissensentscheidung handelt und zweitens bleibt für die Beurteilung eines religiösen Symbols die Entscheidung des Einzelnen maßgebend, der es trägt. Ihm steht bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen das Recht zu, Symbolen den Gehalt zuzuschreiben, den er in ihnen sieht. Maßstab ist der eigene Glaube, nicht der Dritter.190 Ein besonderes betriebliches Interesse stellt die staatliche Neutralitätspflicht im Bereich des öffentlichen Dienstes dar. Dort ist deshalb die Wahrnehmung eines Mitarbeiters in der Öffentlichkeit von herausragender Bedeutung, da diese das Verhalten von öffentlichen Bediensteten mit einem strengeren Maßstab misst als das privat Bediensteter. Insofern kann hier anders zu urteilen sein (s. Abschnitt VIII.1).
(3) Zum Kriterium der Wahrscheinlichkeit weiterer Konflikte Das BAG bezog bereits in seinem ersten Grundsatzurteil in die Abwägung ein, „ob der Arbeitgeber in der Zukunft mit zahlreichen weiteren Gewissenskonflikten rechnen muß“191. Nachdem das LAG Düsseldorf als Berufungsinstanz im sog. „Nato-Pillen-Fall“192 die Wiederholungswahrscheinlichkeit nicht nur in Bezug auf den Betroffenen, sondern auch in Bezug auf alle übrigen Arbeitnehmer des Betriebs verstanden wissen wollte,193 konkretisierte das BAG im zweiten Grundsatzurteil aus dem Jahre 1989 das Kriterium dahingehend, dass es allein auf den Betroffenen ankomme.194 Bei reinen Religionsausübungskonflikten mag es Eingang in die Argumentation finden, es ist jedoch ein schwaches Argument. Schließlich geht es um die Frage, ob der Arbeitnehmer berechtigt ist, die konkrete, aktuell notwendige Arbeitsleistung zu verweigern. Um sie zu beantworten, nutzt es wenig darauf ______________ 189
Darauf haben insbes. Preis/Greiner hingewiesen in: FS Rüfner, 2003, S. 653, 660 f. s. Kap. 4 VI.3.b). 191 BAG, NJW 1986, 85, 86. 192 s. Kap. 3 II.3.c). 193 Hiergegen bereits ausführlich Denninger/Hohm, AG 1989, 145, 152 f., die darauf hinweisen, dass die Gefahr von Gewissenskonflikten bei anderen Arbeitnehmern eher für als gegen deren Anerkennung spricht. 194 BAG, NZA 1990, 144, 147. 190
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abzustellen, wie viele Konflikte in der Zukunft zu erwarten sind.195 Die Zukunftsprognose hat demgegenüber im Kündigungsrecht Bedeutung.
(4) Privilegierung von Religionsgemeinschaften, die den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts haben? Ein weiteres, viertes Kriterium ließe sich womöglich dem Grundgesetz selbst entnehmen. Die Verfassung differenziert zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften. Nach Art. 140 GG iVm 137 WRV und den entsprechenden Landesgesetzen wird einigen der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zuerkannt (vgl. Art. 137 Abs. 4 WRV), anderen hingegen nicht. Es ließe sich überlegen, diese Unterscheidung auch im Zivilrecht zur Geltung zu bringen. Sind Symbole eher zuzulassen, wenn sie Ausdruck einer Religion sind, deren Anhänger Mitglieder einer Religionsgemeinschaft sind, die als öffentlichrechtliche Körperschaft anerkannt ist? Dies wäre ein Pluspunkt für das Kruzifix und die Mönchskutte, ein Minuspunkt für den Hijab. Vielen würde dies wohl aus der Seele sprechen. Allerdings hat das eine mit dem anderen nichts zu tun. Die Zuerkennung des besonderen Status mit all seinen Folgen (Steuererhebungsrecht, Einstellung kirchlicher Beamter usw.) betrifft die Religionsgemeinschaft, nicht aber den Einzelnen. Sie hängt davon ab, ob die Religionsgesellschaft durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bietet (Art. 140 GG iVm Art. 137 Abs. 4 S. 2 WRV) und diese Frage hat nichts zu tun mit religiösen Geboten des einzelnen Arbeitnehmers. Im Gegenteil gebietet Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, den Glauben des Individuums unabhängig davon zu würdigen und zu respektieren, ob er einer Religionsgemeinschaft anhängt und wie groß oder gefestigt diese ist. 196 Der Staat unterliegt trotz der besonderen Regelungen für Religionsgemeinschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, einer Neutralitätspflicht. Aus der von der Verfassung vorgegebenen Differenzierung kann daher kein Argument im Rahmen der Abwägung der gegenseitigen Interessen gewonnen werden. Dies zeigt indes erneut, dass die Heranziehung verfassungsrechtlicher Wertungen im Zivil- und insbesondere im Arbeitsrecht einer Begründung bedarf, die sich nicht im schematischen Abspulen der Grundsätze über die sog. Ausstrahlungswirkung von Grundrechten erschöpfen sollte. 197 ______________ 195
Vgl. Hansen, Glaubens- und Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 2000, S. 125 f. s. Kap. 2 II. 197 Hierzu Kap. 4 II.4.d). 196
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d) Rechtsfolgen Die Begrenzung des Weisungsrechts im Falle rein-religiöser Konflikte einerseits und die Anerkennung eines Leistungsverweigerungsrechts aus § 275 Abs. 3 BGB im Falle von Gewissensentscheidungen andererseits führt jeweils zu unterschiedlichen Rechtsfolgen. Im erstgenannten Fall hängt der Lohnanspruch des Arbeitnehmers davon ab, ob die Weisung des Arbeitgebers billigem Ermessen entsprach. Liegt hingegen der Grund der Arbeitsablehnung im Gewissen des Arbeitnehmers, verliert er gem. § 326 Abs. 1 S. 1 BGB den Lohnanspruch, sofern nicht § 616 S. 1 BGB etwas anderes bestimmt. Dies ist überzeugend, wird doch zu Recht seit Luhmann auf die „lästige Alternative“198 hingewiesen, in deren Hinnahme sich die Ernsthaftigkeit einer Gewissensentscheidung manifestiert.199
5. Zusammenfassung Sowohl eine Begrenzung des Direktionsrechts des Arbeitgebers als auch die Anerkennung eines Leistungsverweigerungsrechts des Arbeitnehmers haben im Falle von religiösen und Gewissenskonflikten ihre Berechtigung; es bedarf nur einer stichhaltigen Abgrenzung dieser unterschiedlichen Lösungsmodelle. Voraussetzung für eine Weisung nach billigem Ermessen iSd § 106 S. 1 GewO ist, dass dem Arbeitgeber ein Spielraum bei der Zuweisung einer Tätigkeit verbleibt. Dies ist bei Gewissensentscheidungen regelmäßig nicht der Fall, so dass eine Entscheidung nach billigem Ermessen ausscheidet. Das Ermessen ist praktisch auf Null reduziert. Stattdessen steht dem Arbeitnehmer ein Leistungsverweigerungsrecht aus § 275 Abs. 3 BGB zu. Beruhen Konflikte hingegen allein auf dem Wunsch des Arbeitnehmers zur Religionsausübung und ist sein Wunsch dementsprechend abwägungsfähig und verzichtbar, liegt die Letztentscheidung beim Arbeitgeber. Dieser hat die Wahl zwischen mehreren, jeweils für sich rechtmäßigen Direktiven und so ist die Frage, ob der Arbeitgeber nach billigem Ermessen entschieden hat iSv § 106 S. 1 GewO hier der richtige Anknüpfungspunkt. Insofern ist der Rechtsprechung und der von ihr favorisierten Begrenzung des Direktionsrechts zuzustimmen. Die Entwicklung des AGG wird der Rechtsprechung Anlass zur Neubestimmung bieten. Die Gerichte haben bislang religiöse Konflikte einerseits und Gewissenskonflikte andererseits nach gleichen Maßstäben behandelt. Das AGG ______________ 198 199
Luhmann, AöR 90 (1965), 257, 284 ff. Zum Lohnanspruch s. Abschnitt VI.
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wird in Zukunft darauf aufmerksam machen, dass das nicht zwangsläufig so sein muss, denn Gewissenskonflikte werden hiervon gerade nicht erfasst. Die Entwicklung im öffentlichen Recht geht in eine ähnliche Richtung und trennt zunehmend schärfer zwischen den einzelnen Gewährleistungen des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.200 Auch wenn die Hürden für eine Rechtsprechungsänderung recht hoch hängen,201 gibt schließlich die Kodifikation von § 275 Abs. 3 BGB willkommenen Anlass zur Korrektur.
V. Kündigung Konflikte um Religion, Glauben, Bekenntnis und Gewissen münden häufig in eine Kündigung. Der Arbeitgeber kündigt, weil der Arbeitnehmer aus religiösen Gründen seine Arbeit verweigert, weil er seine Kollegen zu missionieren versucht oder weil er während der Arbeit darauf besteht, auffallende religiöse Symbole zu tragen. Die Wirksamkeit der ordentlichen Kündigung richtet sich nach dem KSchG, sofern es Anwendung findet (hierzu sogleich 1), und nach den Vorschriften des allgemeinen bürgerlichen Rechts, insbesondere den §§ 138 und 242 BGB (s. 2). Eine außerordentliche Kündigung ist an § 626 BGB zu messen (s. 3). Unter 4. ist auf den umgekehrten Fall einer arbeitnehmerseitigen Kündigung einzugehen.
1. Hauptanwendungsfall: Ordentliche Kündigung durch den Arbeitgeber unter Geltung des KSchG Meist geht es um eine vom Arbeitgeber ausgesprochene ordentliche Kündigung, auf die das KSchG Anwendung findet. Dies sind zugleich die problemträchtigsten, da der Arbeitgeber die Kündigung auf einen der in § 1 Abs. 2 KSchG genannten Gründe stützen muss.
a) Verhaltens- oder personenbedingte Kündigung? In Betracht kommen verhaltens- und personenbedingte Gründe; eine betriebsbedingte Kündigung erfordert den Wegfall eines Arbeitsplatzes, bei religiösen Konflikten ist dies nicht Anlass der Entlassung. 202 ______________ 200
s. Kap. 2 II.2. s. BAG, NZA 1996, 48, 52 f. 202 Hoevels, Islam und Arbeitsrecht, 2003, S. 108 mwN. 201
V. Kündigung
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aa) Der Unterschied zwischen beiden Kündigungsarten Der Unterschied zwischen verhaltens- und personenbedingter Kündigung liegt in der Vorwerfbarkeit des Verhaltens. Hat der Arbeitnehmer gegen Pflichten aus dem Arbeitsvertrag verstoßen, kommt eine verhaltensbedingte Kündigung in Betracht. Fehlt eine Verletzung von Haupt- oder Nebenpflichten, bleibt nur eine personenbedingte Kündigung.203 V. Hoyningen-Huene und Linck formulieren anschaulich: „Ein Grund in der Person liegt vor, wenn der Arbeitnehmer will, aber nicht kann; ein Grund im Verhalten ist demgegenüber gegeben, wenn der Arbeitnehmer kann, aber nicht will.“204 Die Differenzierung zwischen Religionsausübung auf der einen und Glaube und Gewissen auf der anderen Seite (vgl. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) spiegelt sich wider in der Unterscheidung zwischen verhaltens- und personenbedingtem Kündigungsgrund. Religiöse Riten und Gebräuche, die für den Arbeitnehmer nicht verpflichtend sind, sondern denen er nur nachkommen möchte soweit es eben geht, sind von ihm steuerbar. Er kann entscheiden, ob er sie hinter die arbeitsvertraglichen Pflichten zurückstellt oder ob sie ihm so viel bedeuten, dass er ihnen auch dann nachkommt, wenn dies zu Lasten seiner Arbeitsleistung geht. Gewissensentscheidungen – und das können, müssen aber nicht religiös bedingte sein205 – setzen demgegenüber voraus, dass dem Betreffenden gerade kein Entscheidungsspielraum bleibt. Will er einem ernsten, inneren Konflikt entgehen, muss er sie beherzigen. Lehnt er aus Gewissensgründen eine Arbeit ab oder trägt er aus Gewissensgründen ein religiöses Symbol, dann „will er zwar“, er „kann aber nicht“. An diesem Punkt greift die besondere, unverletzliche Gewährleistung der Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG). Der Arbeitnehmer muss zwar die sich daraus ergebenden Nachteile hinnehmen; vorgeworfen werden kann ihm sein Verhalten aber nicht. Die Unterscheidung zwischen verhaltens- und personenbedingter Kündigung knüpft an eben jenes Kriterium an. Konflikte, die sich allein aus religiösen Pflichten ergeben, ohne dass diese zugleich Gewissensentscheidungen darstellen, können deshalb zu einer verhaltensbedingten Kündigung führen; beruft sich der Arbeitnehmer hingegen (zurecht) auf sein Gewissen, kann ihm allenfalls personenbedingt gekündigt werden.
______________ 203 BAG, NZA 1997, 487, 488 f.; ErfK-Ascheid, § 1 KSchG Rn. 288; APS-Dörner, KSchR, § 1 KSchG Rn. 266. Herrschend wird deshalb die Steuerbarkeit des (Fehl-)Verhaltens vorausgesetzt; zur a.A. vgl. KR-Etzel, § 1 KSchG Rn. 396, 400. 204 V. Hoyningen-Huene/Linck, KSchG, § 1 Rn. 185 b. 205 Hierzu Kap. 2 III.2.
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bb) Religionsausübung und Gewissen im Kündigungsrecht Weder Rechtsprechung noch Schrifttum treffen bislang diese Unterscheidung hinreichend konsequent. Während sie zu Recht bei der Ablehnung von Tätigkeiten aus Gewissensgründen eine personenbedingte Kündigung annehmen, 206 prüfen sie in den Fällen religiöser Symbole in erster Linie verhaltensbedingte Gründe.207 Dabei kann auch das Tragen eines religiösen Symbols eine ernste, innerlich verbindliche Entscheidung des Gewissens darstellen.208 Sowohl das ArbG Hamburg, das sich mit dem turbantragenden Sikh beschäftigte, als auch das ArbG Frankfurt a. M. im Falle der Verkäuferin mit Kopftuch prüften einzig eine verhaltensbedingte Kündigung, zogen personenbedingte Gründe hingegen nicht in Betracht. Das BAG erwähnte selbige eher knapp und ging deutlich ausführlicher auf eine verhaltensbedingte Rechtfertigung ein.209 Erstaunlicherweise stellte das BAG andererseits fest, die Arbeitnehmerin unterliege einem für sich als „verpflichtend“ angesehenen „Gebot des Kopftuchtragens“.210 Und das ArbG Hamburg sprach gar davon, der Sikh, der einen Turban trage und die Haare frei wachsen lasse, habe „eine nach außen tretende, rational mitteilbare und intersubjektiv nachvollziehbare Tiefe, Ernsthaftigkeit und absolute Verbindlichkeit seiner religiösen Überzeugung dargelegt“. 211 Dies ist genau die Formulierung, die das BAG – angelehnt an ein Urteil des BVerwG zur Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen – in einem seiner Grundsatzurteile zur Arbeitsverweigerung aus Gewissensgründen verwendet hatte. 212 Den Schluss, dass die Arbeitnehmerin sich deshalb nicht bloß auf die Religionsausübungs-, sondern auch auf die von Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Gewissens-
______________ 206
BAG, NZA 1990, 144, 145; ArbG Hamburg, NZA-RR 2002, 87, 88; ErfK-Ascheid, § 1 KSchG Rn. 260; Boemke/Gründel, ZfA 2001, 245, 273; KR-Etzel, § 1 KSchG Rn. 314; v. Hoyningen-Huene/Linck, KSchG, § 1 Rn. 213; Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 1990, S. 145 f. 207 Bachmann (SAE 2003, 336) hält die Unterscheidung im sog. Kopftuchurteil sogar für überflüssig, da der Arbeitnehmerin in jedem Falle erfolglos die Gelegenheit gegeben worden sei, ihr Verhalten zu ändern. 208 Dies erwägen auch Loschelder in: Essener Gespräche 20 (1986), S. 149, 157, in seinem Gutachten und J. Isensee in: Essener Gespräche 20 (1986), S. 186, 187, im Rahmen der Aussprache sowie Mückl, Der Staat 40 (2001), 96, 120; so auch LAG Düsseldorf, DB 1985, 391 (s. Fn. 213). 209 Zum Urteil des ArbG Hamburg s. Kap. 3 II.1.b); zu den beiden übrigen Entscheidungen s. Kap. 3 II.1.a). 210 BAG, NZA 2003, 483, 486. 211 ArbG Hamburg, AuR 1996, 243, 244. 212 BAG, NZA 1990, 144, 145 in Anlehnung an BVerfG, NVwZ 1989, 60.
V. Kündigung
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freiheit berufen kann, zogen die Gerichte jedoch nicht.213 Zumindest im Fall des BAG hätte dies nahe gelegen, denn auch die Vorinstanz hatte allein eine personenbedingte Kündigung in Betracht gezogen und die beklagte Arbeitgeberin hatte sich auf ebensolche Gründe berufen.214 Auch in anderen Zusammenhängen prüft das BAG personenbedingte Gründe, wenn Arbeitnehmer aus Gewissensnöten die Arbeit verweigern.215 Warum dies anders sein soll, wenn die Gewissensentscheidung auf religiösen Motiven beruht, ist nicht ersichtlich, schließlich kann dem Grundrechtsträger nicht zum Nachteil gereichen, dass ihn die religiöse Freiheit als zusätzliches Grundrecht schützt.
cc) Insbesondere: Das Kopftuch der Muslima und das christliche Kreuz Die Pflicht, in der Öffentlichkeit ein Kopftuch anzulegen, ist damit nicht vergleichbar mit solchen Pflichten, die zwar auch religiösen Ursprungs sind, die aber keine derartige Verbindlichkeit besitzen. So ist etwa der Christ zwar gehalten, in der vierzigtägigen Zeit vor Ostern zu fasten. In aller Regel wird es ihm jedoch keine Gewissensnot bereiten, wenn er nicht fastet. Gleiches gilt für die Fronleichnamsprozession und Wallfahrten, für die keine kirchenrechtlichen Pflichten zur Teilnahme bestehen. Jene Riten sind aber selbstverständlich trotzdem von der Religionsausübungsfreiheit geschützt.216 Deshalb ist auch das Kreuz, das ein Christ um den Hals trägt, nicht mit dem Symbol des Kopftuchs vergleichbar. Der Hijab kann – und im Fall des BAG spricht das Gericht gerade von einer für die Arbeitnehmerin innerlich verbindlichen Entscheidung – untrennbar zur Identität seiner Trägerin gehören.217 Das Gewissen lässt sich nicht von der Persönlichkeit abspalten, es ist gerade einer ihrer elementaren Teile, das den Menschen zum Menschen macht.218 Deshalb ist auch die Gewissensfreiheit besonders eng mit der Menschenwürde ver______________ 213
Einzig das LAG Düsseldorf (DB 1985, 391, linke Spalte) stellte im Fall des BhagwanAnhängers fest, dass er durch die Anweisung, sich nicht seiner Religion entsprechend zu kleiden, „in einen Gewissenskonflikt (...) gestürzt wird“. 214 LAG Hessen, NJW 2001, 3650, 3651; zum Vortrag der Arbeitgeberin s. die Zusammenfassung des Sachverhalts bei BAG, NZA 2003, 483 sowie Abschn. B. II. der Gründe (S. 484). Auch das LAG Düsseldorf sah die Gewissens- und nicht allein die Religionsfreiheit im Fall des Konzertmusikers tangiert, der die Mitwirkung an einer blasphemischen Operninszenierung ablehnte (NZA 1993, 411, 412, s. Kap. 3 II.3.e)). 215 BAG, NZA 1990, 144, 145. 216 Böckenförde, NJW 2001, 723, 724 Fn. 8; s. bereits Kap. 2 III.3. 217 s. die Nachweise in Fn. 208. 218 s. nur BVerfGE 12, 45, 55; BVerfG, NJW 2002, 2626; MKS-Starck, GG, Art. 4 Rn. 67.
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knüpft, worauf die Gerichte immer wieder übereinstimmend hingewiesen haben.219 Plakativ formuliert: Der Arbeitgeber darf eher das Kruzifix am Hals seines christlichen Mitarbeiters als den Hijab der Muslima verbieten. Wenn die Gerichte dagegen eine verhaltensbedingte Kündigung prüfen, suggerieren sie, die Arbeitnehmerin stünde vor der Wahl, so oder anders zu handeln und sich wenigstens in Zukunft pflichtgemäß zu verhalten.220 Das Kopftuch gibt aber nicht bloß Zeugnis von religiösen Vorstellungen – wie das Kruzifix –, sondern entspringt einem imperativen Gebot, dem sich Muslime verpflichtet fühlen, die den Koran entsprechend auslegen. Der vermeintliche Kompromiss, dass die Arbeitnehmerin ohne Kopftuch weiter arbeitet, existiert daher nicht. Es bleibt nur die Möglichkeit, die Arbeitnehmerin (das gleiche gilt wohl für den Sikh mit Turban und den in rot gekleideten Osho-Rajneesh-Jünger mit der Mala) weiterzubeschäftigen und das religiöse Symbol zu tolerieren oder sie zu entlassen. Es ist nicht so, dass sie „kann, aber nicht will“; sie „kann“ gar nicht.221 Genau dies ist die Unterscheidung zwischen verhaltens- und personenbedingter Kündigung.
dd) Keine Unterscheidung nach der Vorhersehbarkeit Teilweise wird hingegen vorgeschlagen die Unterscheidung zwischen verhaltens- und personenbedingter Kündigung nach der Vorhersehbarkeit des Konflikts zu treffen. War er nicht vorhersehbar, liege ein personenbedingter Kündigungsgrund vor, denn hier fehle die persönliche Eignung des betroffenen Arbeitnehmers. Ein vorhersehbarer Konflikt führe dagegen zu einem verhaltensbedingten Kündigungsgrund, da dem Arbeitnehmer in diesem Fall kein Leistungsverweigerungsrecht zustehe und somit die Arbeitsverweigerung eine Pflichtverletzung darstelle.222 Die Vorhersehbarkeit ist als Argument im Rahmen des Leistungsverweigerungsrechts allerdings nur bei rein religiös bedingten Konflikten heranzuziehen, nicht hingegen bei Gewissenskonflikten;223 und selbst bei ersteren ist es nur ein Argument unter vielen, das über die Pflichtwidrigkeit einer Handlung des Arbeitnehmers mitentscheiden kann. Freilich können verhaltensbedingte Gründe für eine Kündigung vorliegen, wenn der Arbeitnehmer seinen Gewissenskonflikt dem Arbeitgeber gegenüber ______________ 219
Vgl. BVerfG, NJW 1972, 327, 329 und NJW 1972, 1183. So ausdrücklich sogar Bachmann, SAE 2003, 336. 221 Ausdrücklich a.A. ist Adam, Anm. zu BAG, AP Nr. 44 zu § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung (s. III. 2. a). 222 So Hoevels, Islam und Arbeitsrecht, 2003, S. 109. 223 s. Abschnitt IV.4.c). 220
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nicht offen legt, sondern ohne Begründung (oder mit anderer Begründung) die Arbeit verweigert. Die Pflichtverletzung liegt hier nicht in der Ablehnung der Tätigkeit, sondern in der Verletzung der Mitteilungspflicht.224
b) Tatbestand von verhaltens- und personenbedingter Kündigung Eine Kündigung anlässlich eines religiös bedingten Konflikts unterliegt den gleichen Tatbestandsvoraussetzungen wie jede andere Kündigung. Stützt sie sich auf das Verhalten des Arbeitnehmers, bedarf es eines Sachverhalts, der an sich einen Kündigungsgrund darstellt, sowie einer umfassenden, einzelfallbezogenen Interessenabwägung. Die Ablehnung einer Tätigkeit, zu der der Arbeitnehmer nach dem Arbeitsvertrag (und ggf. konkretisierender Weisungen) verpflichtet ist, ist ein solcher An-Sich-Grund. Eine personenbedingte Kündigung setzt die negative Prognose bezüglich der weiteren Erfüllung der Arbeitspflicht durch den Arbeitnehmer, eine erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen sowie – ebenfalls – die konkrete Interessenabwägung im Einzelfall voraus.225
Während die Rechtsfolgen von personen- und verhaltensbedingter Kündigung selbstverständlich identisch sind (das Arbeitsverhältnis wird durch Gestaltungsakt beendet), hat die erläuterte Differenzierung maßgebliche Auswirkungen auf die Voraussetzungen einer Kündigung nach dem KSchG und ist deshalb nicht bloß akademischer Natur.
aa) Die Interessenabwägung Hält man Religion und Gewissen, personen- und verhaltensbedingte Kündigung konsequent auseinander, präzisiert sich die Abwägung der gegenseitigen Interessen. Ist das Gewissen betroffen, gibt es keinen schonenden Ausgleich. Der vermeintliche Kompromiss, dass die Muslima z.B. weiter arbeitet, aber bei der Arbeit kein Kopftuch trägt oder dass der Siebenten-Tags-Adventist nur alle vier Wochen samstags arbeitet, existiert nicht, wenn es sich bei den religiösen Überzeugungen gleichzeitig um Gewissensentscheidungen handelt. Ob dies so ist – das sei nochmals betont – ist Tatfrage.226 Die Entscheidung des Arbeitgebers, dass der Arbeitnehmer für den Betrieb nicht mehr tragfähig ist, trifft diesen daher härter, wenn er seinem Gewissen gemäß gehandelt hat als im Falle ______________ 224 Boemke/Gründel, ZfA 2001, 245, 273; Hoevels, Islam und Arbeitsrecht, 2003, S. 107 f. mwN; vgl. auch BAG, NJW 1984, 575, 576. 225 ErfK-Ascheid, § 1 KSchG Rn. 169 ff. und 286 ff.; v. Hoyningen-Huene/Linck, KSchG, § 1 Rn. 176 ff. und 270 ff. jeweils mwN. 226 Zu Beweisfragen s. Kap. 2 III.5.
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rein-religiöser Entscheidungen. Der Rechtfertigungsdruck des Arbeitgebers ist deshalb höher als bei einer Kündigung, die ergeht, nachdem der Arbeitnehmer mitgeteilt hat, dass ihm seine religiösen Pflichten wichtiger sind. Dies deckt sich mit den unterschiedlichen Anforderungen von verhaltensund personenbedingter Kündigung. Die Rechtfertigungsanforderungen an eine personenbedingte sind höher als die an eine verhaltensbedingte Kündigung, da der Arbeitnehmer es bei letzterer selbst in der Hand hat, sich vertragstreu zu verhalten.227 Auch insofern fügt sich die Differenzierung zwischen Religionsausübung, Glaube und Gewissen überzeugend in das Zivilrecht ein.
bb) Vergangenheitsbetrachtung und Zukunftsprognose Für eine verhaltensbedingte Kündigung bedarf es einer Pflichtverletzung des Arbeitnehmers, die nicht unbedingt schuldhaft erfolgt sein muss.228 Zudem muss die objektiv begründete Gefahr bestehen, dass es künftig zu weiteren Vertragsverletzungen kommen wird, oder durch die zurückliegende Pflichtwidrigkeit muss das notwendige Vertrauen des Arbeitgebers zum Arbeitnehmer nachhaltig gestört sein.229 Während Gründe im Verhalten des Arbeitnehmers also sowohl einen Blick in die Vergangenheit als auch in die Zukunft erfordern, ist die personenbedingte Kündigung ausschließlich zukunftsgerichtet.230 Diese unterschiedlichen Betrachtungsweisen sind für die Fälle der Religions- und Gewissenskonflikte jeweils passend. Bei Gewissenskonflikten steht die Eignung der Person für die Tätigkeiten an sich in Frage. Insofern ist allein entscheidend, ob sie in Zukunft ihre Aufgaben wird erfüllen können. Auch insoweit gilt, dass der Arbeitgeber nach Möglichkeit den Bedürfnissen des Arbeitnehmers Rechnung zu tragen hat (s. II.2). Voraussetzung für die Kündigung ist eine Störung des Betriebsablaufs, die sich auch durch Umstrukturierungsmaßnahmen nicht beheben lässt (s. II.3). Möchte der Arbeitnehmer allerdings religiösen Bedürfnissen während der Arbeitszeit nachgehen – ein religiöses Symbol, etwa ein Kreuz tragen, Gebete verrichten, bestimmte Tätigkeiten lieber nicht ausführen oder an bestimmten Projekten nicht mitarbeiten usw. –, ist die Betrachtung vielschichtiger. Der Arbeitnehmer kann dann selbst entscheiden, wie er seine religiösen Gebote und arbeitsvertraglichen Pflichten gewichtet. Insofern genügt eine bloße Zukunfts______________ 227
V. Hoyningen-Huene/Linck, KSchG, § 1 Rn. 277; Birk, JuS 1986, 537; einschränkend Rüthers/Henssler, ZfA 1988, 31, 46. 228 So etwa im Fall einer Verdachtskündigung BAG, AP Nr. 39 zu § 1 KSchG; s. die Nachweise bei v. Hoyningen-Huene/Linck, KSchG, § 1 Rn. 279, Fn. 903. 229 BAG, NZA 1997, 487, 488 f.; v. Hoyningen-Huene/Linck, KSchG, § 1 Rn. 274. 230 BAG, BB 2004, 1685, 1686.
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betrachtung nicht. Zunächst muss er seine Pflichten, die sich aus dem Arbeitsverhältnis ergeben, verletzt haben. Hierin kann im Extremfall bereits ein so großer Vertrauensbruch liegen, dass eine weitere Zusammenarbeit nicht möglich ist.
c) Zukunftsprognose bei Kündigungen wegen Gewissenskonflikten Demjenigen Arbeitnehmer, der seines Gewissens wegen die Arbeitsleistung verweigert, steht aus § 275 Abs. 3 BGB ein Recht hierauf zu (s. IV.4). Diese Leistungsverweigerung kann sich sowohl auf die Hauptleistungspflicht selbst beziehen, also die entsprechende Tätigkeit, zu der er sich verpflichtet hat, als auch auf eine Nebenpflicht wie die, kein religiöses Symbol zu tragen.231 Im Rahmen der Interessenabwägung stellt sich dann allerdings die Frage, wie lange ein entsprechender Ausfall des Arbeitnehmers dem Arbeitgeber zugemutet werden kann und wann ebendies seine Grenze erreicht und eine personenbedingte Kündigung rechtfertigt. „Es ist klar, dass einige Tage Arbeitsverhinderung pro Jahr kein Grund sind, den Arbeitnehmer fristlos zu entlassen“, stellte bereits 1964 Habscheid fest.232 Diese Frage enthält zwei Komponenten, eine zeitliche und eine quantitative: Wie lang muss die Zeitspanne sein, in der der Arbeitnehmer voraussichtlich nicht wird arbeiten können, um ihm personenbedingt kündigen zu können? Und wie groß muss der Anteil der Tätigkeit an der Gesamtarbeitsleistung sein, den er nicht ausfüllen kann? Jedenfalls hinnehmbar ist es für den Arbeitgeber, den Arbeitnehmer so lange weiter zu beschäftigen, wie dieser gemäß § 616 S. 1 BGB seinen Lohnanspruch behält (s. VI). In dieser Zeit bleibt zwar der Arbeitgeber verpflichtet, Lohn zu zahlen, das Gesetz hält aber gerade dies für zumutbar. Aber auch wenn die Zeit, in der der Arbeitnehmer aus religiösen oder gewissensbedingten Gründen nicht arbeiten kann, darüber hinausreicht, weil z.B. die Oper, an der sich der Arbeitnehmer weigert mitzuwirken,233 über eine längere Zeitspanne aufgeführt wird, ist eine Kündigung nicht zwangsläufig berechtigt. Dann entfällt der Lohnanspruch nach § 326 Abs. 1 S. 1 BGB, so dass sich die Kosten für den Arbeitgeber erheblich reduzieren. Auf der anderen Seite ist eine personenbedingte Kündigung jedenfalls möglich, wenn der Arbeitnehmer überhaupt nicht mehr arbeiten können wird. In den Fällen der zum Wehrdienst im Ausland verpflichteten Arbeitnehmer hat das BAG eine Zeitspanne von zwei Monaten für den Arbeit-
______________ 231
s. hierzu Preis/Greiner in: FS Rüfner, 2003, S. 653, 672 f. Habscheid, JZ 1964, 246, 248. 233 s. LAG Düsseldorf, NZA 1993, 411 und hierzu Kap. 3 II.3.e). 232
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geber gerade noch für zumutbar gehalten.234 Hieran wird man sich faustformelhaft orientieren können. Die zweite Frage bezieht sich auf die Menge der Arbeit, die der Arbeitnehmer nicht mehr ausüben kann. Ist eine personenbedingte Kündigung gerechtfertigt, wenn der Arbeitnehmer einen von fünf gleichzeitig zu bearbeitenden Aufträgen nicht erfüllen kann, weil eben jener darin besteht, an der Entwicklung eines Medikaments mitzuarbeiten, das im Kriegsfall eingesetzt werden soll? 235 Auch dieser Aspekt muss unter Umständen im Rahmen der Interessenabwägung berücksichtigt werden, ohne dass feste Grenzen ausgemacht werden könnten. Sollte absehbar sein, dass der Arbeitnehmer für eine erhebliche Zeitspanne nur teilweise eingesetzt werden kann, rechtfertigt auch dies eine personenbedingte Kündigung, denn es ist dem Arbeitgeber nicht zumutbar, dauerhaft eine Arbeitskraft zu beschäftigen, die nur zum Teil einsatzfähig ist. Der Arbeitgeber ist andererseits verpflichtet, alles ihm Mögliche zu unternehmen, um den Arbeitnehmer doch noch sinnvoll einsetzen zu können. Er muss den Organisationsablauf, wenn notwendig, umstellen, neue Mitarbeiter muss er hingegen nicht einstellen. Insoweit gilt das bereits zu den vertraglichen Nebenpflichten Gesagte (s. II.2). Orientierungspunkt kann hier das AGG bieten. Zwar enthält es kein Diskriminierungsverbot wegen des Gewissens – was schon wegen dessen höchstpersönlichem Bezug nicht sinnvoll wäre – aber es regelt in § 8 Abs. 1 AGG eine ähnliche Frage. Danach ist eine unterschiedliche Behandlung wegen eines verpönten Merkmals zulässig, wenn dies wesentlich und entscheidend für die berufliche Tätigkeit ist. Das Kriterium der Wesentlichkeit idS erfordert einen Vergleich zwischen dem gesamten Aufgabenbereich des Arbeitnehmers und dem Teil, den er nicht ausüben kann. Ist dieser erheblich, ist eine Ungleichbehandlung möglich.236 Wann diese Erheblichkeitsschwelle erreicht ist, werden die Gerichte im Laufe der Zeit zu konkretisieren haben und die Rechtsprechung zur Geschlechterdiskriminierung gibt erste Anhaltspunkte. Jene Erkenntnisse können auch in diesem Zusammenhang Früchte tragen.
______________ 234 BAG, NJW 1983, 2782, 2784, bestätigt durch BAG, NJW 1984, 575; zumindest i. Erg. zust. Misera, SAE 1983, 271; Schaub-Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, § 177 Rn. 1; KRWeigand, § 2 ArbPlSchG Rn. 5. Eine darüber hinaus reichende Zeitspanne muss der Arbeitgeber nicht hinnehmen, so BAG, NZA 1989, 464, 466. 235 Vgl. den „Nato-Pillen-Fall“ des BAG, s. Kap. 3 II.3.c). 236 Hierzu in Kap. 6 VI.4.a).
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d) Weiterbeschäftigungs- und Wiedereinstellungsanspruch Auch im Falle religiöser oder gewissensbedingter Konflikte gilt der Vorrang der Änderungs- vor der Beendigungskündigung. Der Arbeitnehmer kann insofern einen Anspruch darauf haben, einen anderen freien Arbeitsplatz angeboten zu bekommen. In Fällen, in denen es allein um Religionsausübung geht,237 wird dies regelmäßig nicht relevant werden, denn jene Wünsche sind gerade für den Arbeitnehmer verzichtbar, so dass er gehalten sein kann, trotz seiner religiösen Bedürfnisse weiter zu arbeiten. Lehnt der Arbeitnehmer aber Tätigkeiten aus Gewissensgründen ab, steht ihm nach § 275 Abs. 3 BGB ein Leistungsverweigerungsrecht zu (s. IV.4). Ist der Arbeitnehmer deshalb nicht mehr (oder weniger effektiv) einsetzbar, hat der Arbeitgeber ein Kündigungsrecht. Existiert nun im Betrieb ein weiterer freier Arbeitsplatz, den der Arbeitnehmer einnehmen könnte, kann er dorthin versetzt werden, wenn es das Direktionsrecht zulässt. Das setzt freilich voraus, dass der Arbeitsvertrag die Versetzung zulässt. Ist das nicht der Fall, könnte der Arbeitnehmer dort aber seinen Qualifikationen zufolge gleichwohl arbeiten, muss der Arbeitgeber ihm diesen Arbeitsplatz anbieten.238 Zumeist wird eine solche Fallkonstellation bei besonders qualifizierten Arbeitnehmern auftreten oder in einem Betrieb mit sehr hoher betrieblicher Arbeitsteilung; hier sind Arbeitnehmer flexibel einsetzbar, auch wenn es der Arbeitsvertrag nicht zulässt.239 Ergibt sich erst nach Ausspruch einer Kündigung, aber noch während des Ablaufs der Kündigungsfrist eine neue Einsatzmöglichkeit, ist der Arbeitgeber gehalten, dem Arbeitnehmer jene anzubieten. Das BAG bejaht in ständiger Rechtsprechung einen Anspruch auf Wiedereinstellung eines bereits betriebsbedingt gekündigten Arbeitnehmers, wenn sich noch während des Ablaufs der Kündigungsfrist eine neue Stelle (etwa wegen Betriebsübergangs) ergibt. 240 Dies dürfte auf die Fälle personenbedingter Gründe übertragbar sein.
______________ 237
s. Kap. 2 III.3 und III.4 sowie Kap. 5 II.3.a), III.3.a) und IV.4. Vgl. Kraft/Raab, Anm. zu BAG, AP Nr. 1 zu § 611 BGB Gewissensfreiheit, unter IV.3; Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 1990, S. 143 und 158 f. 239 Derleder, AuR 1991, 193, 200; vgl. aber Hansen, Glaubens- und Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 2000, S. 107. 240 BAG, NZA 1997, 757, 758 ff. Voraussetzung ist, dass der Arbeitgeber mit Rücksicht auf die Wirksamkeit der Kündigung noch keine Dispositionen getroffen hat und ihm die unveränderte Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zumutbar ist. 238
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2. Ordentliche Kündigung durch den Arbeitgeber nach den allgemeinen Vorschriften Neben denen des KSchG muss eine Kündigung den allgemeinen zivilrechtlichen Anforderungen genügen, sie darf daher nicht gegen die guten Sitten (§ 138) oder Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstoßen.241 Dies gilt insbesondere, wenn das KSchG keine Anwendung findet (vgl. §§ 1 Abs. 1, 23 KSchG).
a) Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) Für die Sittenwidrigkeit einer Kündigung stellt die Rechtsprechung hohe Anforderungen. Sie kann jedenfalls nicht auf Gründe gestützt werden, die in den Schutzbereich des Kündigungsschutzgesetzes fallen, denn dieses regelt grundsätzlich abschließend den Bestandsschutz für Arbeitnehmer.242 Dennoch können Kündigungen auch gegen die guten Sitten verstoßen, was der Gesetzgeber durch § 13 Abs. 2 KSchG ausdrücklich anerkannt hat.243 Das BAG hält Kündigungen „daher nur in besonders krassen Fällen“ für sittenwidrig, und zwar „wenn die Kündigung auf einem verwerflichen Motiv des Kündigenden, wie z.B. Rachsucht, beruht oder wenn sie aus anderen Gründen dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden widerspricht.“244 Eine verwerfliche Gesinnung ist dem Kündigenden nur anzulasten, wenn er sich derjenigen Tatsachen bewusst ist, die seine Kündigung zu einem sittenwidrigen Vorgehen machen245 und für diese Tatsachen ist der Arbeitnehmer darlegungs- und beweispflichtig.246 Mit dem Vorwurf der Sittenwidrigkeit der Kündigung wird er deshalb in den seltensten Fällen durchdringen.247 Stattdessen korrigiert die Rechtsprechung unliebsame Ergebnisse über § 242 BGB statt über § 138 BGB (s. unter c)).
______________ 241 Vgl. BAG, NZA 2001, 833, 834 ff.; BVerfG, NZA 1998, 470; BAG, NZA 2002, 87; auch diese Unwirksamkeitsgründe müssen innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung gerichtlich geltend gemacht werden gem. § 4 S. 1 KSchG. 242 Sonst würden Arbeitnehmer, die nicht dem Schutz des KSchG unterliegen, über den Umweg des § 138 BGB ihm unterworfen, KR-Friedrich, § 13 KSchG Rn. 119. 243 BAG, NZA 2001, 833, 834 f.; KR-Friedrich, § 13 KSchG Rn. 116. 244 BAG, NZA 2001, 833, 835 mwN. 245 KR-Friedrich, § 13 KSchG Rn. 126. 246 BAG, NZA 1989, 962. 247 Deshalb wurde auch im Schrifttum Kritik an der Rechtsprechung des BAG geübt und für ein objektiveres Verständnis der Sittenwidrigkeit plädiert, s. Schwerdtner, JZ 1973, 377 ff.; KR-Friedrich, § 13 KSchG Rn. 129 mwN. Ob es sich dem anschließen wird, ließ das BAG (NZA 1989, 962 f.) offen.
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b) Verbot der Maßregelung (§ 612a BGB) Eignet sich § 612a BGB zwar nicht zur Inhaltskontrolle,248 so findet das Maßregelungsverbot doch gerade Anwendung auf Kündigungen, die der Arbeitgeber ausspricht, weil der Arbeitnehmer in zulässiger Weise seine Rechte ausübt. Im Falle von Gewissenskonflikten am Arbeitsplatz sind dies vor allem Leistungsverweigerungsrechte aus § 275 Abs. 3 BGB.249 In Betracht kommt eine Anwendung von § 612a BGB – bzw. nun § 16 Abs. 1 und 2 AGG – aber auch, wenn der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber ein Entgegenkommen verlangt, damit er seinen religiösen Geboten nachgehen kann. Bittet der Arbeitnehmer bspw. den Arbeitgeber, den Arbeitsablauf so zu strukturieren, dass er während der Arbeitszeit seine Gebete verrichten kann, dann macht er einen Anspruch aus einer arbeitsvertraglichen Nebenpflicht geltend. Die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers gebietet es, die Bitte wohlwollend zu prüfen und ihr nach Möglichkeit entgegenzukommen.250 Lehnt der Arbeitgeber dies von vorne herein ab und kündigt stattdessen den Arbeitsvertrag ohne jede weitere Bemühung, ist diese Kündigung nach § 612a BGB bzw. nunmehr §§ 16 Abs. 1 und 2, 7 Abs. 1, 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG unwirksam.
c) Treu und Glauben (§ 242 BGB) Anders als bei der Begründung von Arbeitsverhältnissen (vgl. hierzu I) existierte bereits vor Erlass der Antidiskriminierungsrichtlinien ein Schutz vor ungerechtfertigten Benachteiligungen bei der Beendigung von Arbeitsverhältnissen. Das BAG betonte zwar, dass § 242 BGB für Kündigungen nur in beschränktem Umfang Anwendung finden könne, um den Bestandsschutz des KSchG nicht auf die vom Gesetz gerade nicht erfassten Fälle auszudehnen (vgl. §§ 1 und 23 KSchG).251 Dennoch ist auch im Kleinbetrieb ein Mindestmaß an sozialer Rücksichtnahme notwendig.252 So hatte das BAG bspw. eine Kündigung für treuwidrig gehalten, die allein aufgrund der Homosexualität des Mitarbeiters erging.253
______________ 248
Hierzu Abschnitt III.4. Hierzu bereits Abschnitt IV.2. 250 s. Abschnitt II. 251 BAG, NZA 2002, 87, 89; BAG, NZA 2001, 833, 834. 252 Gleiches gilt, wenn das KSchG aus anderen Gründen keine Anwendung findet, wenn also der Arbeitnehmer noch keine sechs Monate beschäftigt war (vgl. § 1 Abs. 1 KSchG). 253 BAG, NZA 1994, 1080, 1082 f. 249
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§ 242 BGB kann einer Kündigung vor allem entgegen gehalten werden, wenn sie auf sachfremden Motiven beruht, insbesondere wenn sie eine Diskriminierung wegen eines in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmals darstellt.254 Seit Ablauf der Umsetzungsfrist für die Antidiskriminierungsrichtlinien ist dies auch europarechtlich geboten.255 Das BAG hat deshalb im Fall des Sinto, der als Bestattungshelfer eingestellt worden war, später aber aus kulturellen und religiösen Gründen Bestattungsarbeiten ablehnte, die Kündigung (mittelbar) an den Voraussetzungen der EG-Richtlinien gemessen. 256 Sofern der Arbeitgeber aber ein irgendwie geartetes, legitimes Interesse geltend machen kann, entfiel bislang der Vorwurf unzulässiger Rechtsausübung. 257 Entschließt sich der protestantische Arbeitgeber, in Zukunft seine unternehmerischen Ziele ausschließlich mit Protestanten zu verfolgen und entlässt er aus diesem Grunde einen katholischen Mitarbeiter, dürfte hierin ein legitimes Interesse zu sehen sein; immerhin unterliegt diese Entscheidung nicht nur der Berufs-, sondern auch der Religionsausübungsfreiheit.258 Außerhalb des Anwendungsbereichs des KSchG wird gerade kein Bestandsschutz gewährt. Nach Ablauf der Umsetzungsfrist für die RL 2000/43/EG und 2000/78/EG gelten nun strengere Anforderungen. Eine Unterscheidung muss durch die Tätigkeit selbst bedingt sein (vgl. § 8 Abs. 1 AGG).259 Es obliegt grundsätzlich dem Arbeitnehmer darzulegen und zu beweisen, dass die Kündigung nach § 242 BGB treuwidrig ist. In einem ersten Schritt muss er, der die Überlegungen des Arbeitgebers, die zu seiner Kündigung geführt haben, regelmäßig nicht kennt, lediglich einen Sachverhalt vortragen, der die Treuwidrigkeit der Kündigung indiziert. Der Arbeitgeber muss sich sodann nach § 138 Abs. 2 ZPO qualifiziert auf diesen Vortrag einlassen, um ihn zu
______________ 254
BAG, NZA 2001, 833, 835; BAG, NZA 2002, 87, 89. Zur richtlinienkonformen Auslegung s. die Nachweise in Fn. 5. 256 BAG, AP Nr. 18 zu § 1 KSchG Wartezeit, unter B.II.4.a. der Gründe. 257 BAG, NZA 2002, 87, 89; APS-Preis, Grundlagen J Rn. 52 mwN; zu eng indes Wank (in: MünchHbArbR, § 122 Rn. 43 und 73), der stets dann eine Kündigung für treuwidrig hält, wenn sie auf Gründen beruht, die mit dem Arbeitsverhältnis nicht in Zusammenhang stehen. 258 s. Kap. 4 VI.2.b). 259 So bereits bisher Wank (in: MünchHbArbR, § 122 Rn. 43 und 73). Aber auch in Zukunft gilt die von ihm geforderte Relevanz für die Tätigkeit nur im Falle einer Ungleichbehandlung nach den in den RL 2000/43/EG und 2000/78/EG genannten Merkmalen sowie dem Geschlecht. 255
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entkräften.260 Die in § 22 AGG vorgesehene Beweislast liegt damit durchaus auf der Linie der bisherigen Rechtsprechung.261
3. Außerordentliche Kündigung durch den Arbeitgeber Eine außerordentliche Kündigung lässt § 626 Abs. 1 BGB zu, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Insoweit ergeben sich in Bezug auf Kündigungen von säkularen Arbeitsverhältnissen, die auf religiösen Konflikten beruhen, keine Modifikationen der allgemeinen Regeln.262 Einen wichtigen Grund zur sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses wird ein Arbeitgeber selten haben, wenn sich der Arbeitnehmer in einem religiösen Konflikt befindet. Allerdings muss dieser ein Fernbleiben vom Arbeitsplatz mit dem Arbeitgeber absprechen und seine Zustimmung einholen. Weigert er sich beharrlich und fortdauernd, die geschuldete Leistung zu bestimmten Zeiten, z.B. an religiösen Feiertagen, zu erbringen, kann dies eine fristlose Kündigung rechtfertigen.263
4. Kündigung durch den Arbeitnehmer Ordentlich kann der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis jederzeit kündigen, außerordentlich nur, sofern er ebenfalls die Anforderungen des § 626 Abs. 1 BGB einhält.264 Ein wichtiger Grund kann z.B. vorliegen, wenn der Arbeitgeber wiederholt auf das Verlangen des Arbeitnehmers, die Arbeit so umzustellen, dass er seinen religiösen Pflichten nachgehen kann, überhaupt nicht eingeht. 265 ______________ 260 BAG, NZA 2001, 833; BAG, AP Nr. 18 zu § 1 KSchG Wartezeit, unter B. II. 1. der Gründe; s. auch BAG, NZA 2005, 870, 872. 261 Hierzu Boesche, EuZW 2005, 264; s. auch Klumpp, NZA 2005, 848, 852; Wiedemann, RdA 2005, 193, 194 sowie EuGH, Rs. 196/02 (Nikoloudi), EuZW 2005, 406, 410, Rn. 68 f., in Bezug auf die Diskriminierung wegen des Geschlechts. Was allerdings mit dem Beweis von Indizien iSv § 22 AGG gemeint ist und ob diese Regelung europarechtskonform ist, ist einstweilen unklar. Sie ist buchstäblich in letzter Minute in das Gesetz eingefügt worden. 262 ErfK-Müller-Glöge, § 626 BGB Rn. 61 ff. mwN. 263 Vgl. ErfK-Müller-Glöge, § 626 BGB Rn. 103 ff. 264 s. nur BAG, NJW 1963, 2340; BAG, NJW 1967, 2030 f. und aus jüngerer Zeit BAG, NZA 1998, 420, 421; KR-Fischermeier, § 626 BGB Rn. 463; Staudinger-Preis, § 626 Rn. 237; a.A. KDZ-Däubler, § 626 BGB Rn. 30 und 177 ff. 265 Hoevels, Islam und Arbeitsrecht, 2003, S. 112.
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In einem solchen Fall ist die Kündigung durch ein Fehlverhalten des Arbeitgebers veranlasst, dessen Fürsorgepflichten es gebieten, auf den Wunsch des Arbeitnehmers einzugehen und ihn wohlwollend zu prüfen.266 Der Arbeitnehmer kann deshalb nach § 628 Abs. 2 BGB Schadensersatz verlangen. 267
VI. Lohnzahlung Insbesondere in den Fällen der Arbeitsverweigerung bzw. Arbeitsverhinderung aus religiösen oder aus Gewissensgründen stellen sich im Rahmen der Rechtsfolgen neben der Möglichkeit zur Vertragsbeendigung durch Kündigung stets zwei Fragen. Zum einen begehrt der Arbeitnehmer auch dann Lohn, wenn er die Arbeit niedergelegt hat, zum anderen verlangt der Arbeitgeber Schadensersatz, weil der Arbeitnehmer nicht wie vorgesehen geleistet hat (s. VII).
1. Rechtmäßigkeit der Weisung als entscheidendes Kriterium im Falle rein-religiöser Konflikte Mittlerweile dürfte sich die Erkenntnis durchgesetzt haben, dass die Anerkennung eines Leistungsverweigerungsrechts weder die Lohnzahlungspflicht noch eventuelle Schadensersatzansprüche präjudiziert: Ob der Arbeitgeber zur Lohnzahlung verpflichtet ist und ob er oder der Arbeitnehmer Schäden ersetzt verlangen kann, hängt von den jeweiligen spezifischen Voraussetzungen ab.268 Entspricht die Weisung des Arbeitgebers nicht billigem Ermessen iSd § 106 S. 1 GewO, ist sie gem. § 315 Abs. 3 BGB unverbindlich.269 Erteilt er dem Arbeitnehmer daraufhin keine neue Weisung oder hält er die unrechtmäßige Weisung aufrecht, gerät er in Annahmeverzug, so dass der Lohnanspruch gem. § 615 S. 1 BGB bestehen bleibt.270 Das Risiko, dass die Weisung des Arbeitge______________ 266
s. Abschnitt II. Vgl. hierzu LAG Mainz, ARST X Nr. 317; s. auch Kap. 3 II.3.a). Fischermeier (in: KR, § 626 BGB Rn. 468) hält den Arbeitnehmer auch dann für berechtigt, fristlos zu kündigen, wenn er ein Leistungsverweigerungsrecht aus § 275 Abs. 3 BGB geltend macht und er dadurch in Zukunft generell an der Arbeitsleistung gehindert sein wird; s. auch ArbG Heidelberg, ARST 1967, 165. 268 s. nur BAG, NJW 1961, 749 f.; BAG, AP Nr. 47 zu § 616 BGB, unter 2.b) der Gründe; Henssler, AcP 190 (1990), 538, 560; Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 1990, S. 131; ausführlich Greiner, Ideelle Unzumutbarkeit, 2004, S. 452 ff. 269 Hierzu Abschnitt IV.4. 270 Hoevels, Islam und Arbeitsrecht, 2003, S. 99 f.; hierzu ausführlich Greiner, Ideelle Unzumutbarkeit, 2004, S. 440 ff., der freilich von der Annahme ausgeht, dass sowohl Religionsausübungskonflikte als auch solche, die im Gewissen des Arbeitnehmerns wurzeln, zu einem 267
VI. Lohnzahlung
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bers entgegen der Ansicht des Arbeitnehmers doch rechtmäßig ist, trägt indes der Arbeitnehmer.271 Folgt er der Direktive nicht und stellt stattdessen die Arbeit ein, kann dies eine Abmahnung und im Ernstfall eine verhaltensbedingte Kündigung rechtfertigen, wenn sich später herausstellen sollte, dass der Arbeitgeber rechtmäßig gehandelt hat und der Arbeitnehmer zur Leistung verpflichtet war. Ihm ist daher in der Regel zu raten, die – für die verhaltensbedingte Kündigung insoweit erforderliche – Abmahnung gerichtlich anzugreifen und im Übrigen vorerst der Weisung nachzukommen.272
2. Leistungsverweigerung und Lohnanspruch im Falle von Gewissenskonflikten Im Falle von Gewissensnöten hingegen steht dem Arbeitnehmer ein Leistungsverweigerungsrecht aus § 275 Abs. 3 BGB zu, und zwar unabhängig von eventuell entgegenstehenden betrieblichen Interessen.273 Er ist daher – anders als in den zuvor geschilderten rein-religiösen Konflikten – nicht dem Risiko ausgesetzt, vorwerfbar gegen arbeitsvertragliche Pflichten zu verstoßen. Handelt es sich tatsächlich um einen ernsthaften Gewissenskonflikt, hat ein Gericht keine Wahl. Der Arbeitnehmer darf nach § 275 Abs. 3 BGB die Leistung unabhängig vom Interesse des Arbeitgebers verweigern. Erhebt der Arbeitnehmer ein ihm nach § 275 Abs. 3 BGB zustehendes Leistungsverweigerungsrecht, entfällt gemäß § 326 Abs. 1 S. 1 BGB grundsätzlich der Anspruch auf die Gegenleistung. Der Grundsatz „Ohne Arbeit, kein Lohn“ wird allerdings von § 616 S. 1 BGB durchbrochen, wonach der Lohnanspruch bestehen bleibt, wenn der Dienstnehmer für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Dienstleistung gehindert ist.274 Die Anwendbarkeit von § 616 S. 1 BGB bei gewissensbedingten Konflikten ist seit langem umstritten,275 nach überzeu______________
Leistungsverweigerungsrecht führen können. Indes kommt nach der hier vertretenen Konzeption § 297 BGB nur bei Gewissenskonflikten zur Anwendung, denn nur in diesen Fällen ist der Arbeitnehmer zur Leistung außerstande (vgl. § 275 Abs. 3 BGB). Bei reinen Religionsausübungskonflikten bleibt für § 297 BGB hingegen regelmäßig kein Raum. 271 V. Hoyningen-Huene/Linck, KSchG, § 1 Rn. 317. 272 s. Berkowsky, NZA-RR 2001, 1, 8. 273 Hierzu Abschnitt IV.4. 274 In Annahmeverzug gerät der Arbeitgeber dagegen nicht, da dem Arbeitnehmer bei Erhebung eines Leistungsverweigerungsrechts aus § 275 Abs. 3 BGB die Arbeitsleistung unmöglich und damit § 615 BGB durch § 297 BGB ausgeschlossen ist. Zur Anwendbarkeit des § 297 BGB auch auf Fälle des § 275 Abs. 3 BGB s. Greiner, Ideelle Unzumutbarkeit, 2004, S. 443 f. 275 s. die Nachweise bei Greiner, Ideelle Unzumutbarkeit, 2004, S. 150 ff.
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Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
gender Ansicht aber zu bejahen. Dies hat jüngst Greiner ausführlich dargestellt276 und dem ist nichts hinzuzufügen.277 § 616 S. 1 BGB soll den Arbeitnehmer vor wirtschaftlichen Einbußen schützen, weil er kurzfristig aus persönlichen Gründen an der Ausübung der Tätigkeit verhindert ist und legt dieses Risiko entgegen § 326 Abs. 1 S. 1 BGB dem Arbeitgeber auf. Es gibt kaum ein Motiv, das so sehr in der Persönlichkeit des Arbeitnehmers wurzelt wie dessen religiöse Verpflichtungen oder die innere Stimme seines Gewissens. Eine langfristige Sicherung des Lohnanspruchs vermag § 616 S. 1 BGB indes nicht zu begründen. Eine Aufrechterhaltung des Lohnanspruchs über den in § 616 S. 1 BGB bestimmten Zeitraum hinaus kommt allerdings ausnahmsweise in Betracht, wenn der Arbeitgeber für den zum Leistungsverweigerungsrecht führenden Konflikt gem. § 326 Abs. 2 S. 1 1. Alt. BGB verantwortlich ist. Vorstellbar ist dies bspw., wenn der Arbeitgeber im Vorstellungsgespräch ausdrücklich hervor gehoben hat, dass er keine Geschäftsbeziehungen mit Unternehmen der Waffenindustrie unterhält und sich später jedoch gerade dies herausstellt, woraufhin der Arbeitnehmer die Tätigkeit aus Gewissensgründen niederlegt.
VII. Schadensersatzansprüche des Arbeitgebers Auch die Frage nach einem Schadensersatzanspruch des Arbeitgebers gegen den Arbeitnehmer, der aus religiösen, insbesondere aber aus Gewissensgründen die Arbeit einstellt, ist nicht durch die Verpflichtung oder Befreiung von der Primärleistungspflicht entschieden, sondern richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften.278
1. Die Ausgangslage Lehnt der Arbeitnehmer aus rein-religiösen Gründen eine Tätigkeit ab, ohne dass sein Gewissen ihm dies zwingend gebietet, ergeben sich kaum größere Probleme. Ob der Arbeitnehmer zur Leistung verpflichtet ist, bestimmt die Reichweite des Direktionsrechts (vgl. § 106 GewO, s. hierzu IV.4). Entspricht ______________ 276 277
Greiner, Ideelle Unzumutbarkeit, 2004, S. 150 ff.; s. auch S. 378 ff. und 429 f. So im Übrigen in Bezug auf religiöse Pflichten ausdrücklich auch BAG, NJW 1983,
2600. 278 s. die Nachweise in Fn. 268. Schadensersatzansprüche des Arbeitnehmers sind zwar denkbar, über den Fall des § 628 Abs. 2 BGB hinaus aber bislang soweit ersichtlich nicht praktisch geworden (s. Abschnitt V.4 und dort insbes. Fn. 267). Sie sollen hier außen vor bleiben.
VII. Schadensersatzansprüche des Arbeitgebers
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eine Weisung billigem Ermessen und verweigert der Arbeitnehmer die Tätigkeit dennoch, liegt hierin regelmäßig eine Verletzung vertraglicher Pflichten, die zu einem Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1 BGB (iVm §§ 280 Abs. 3, 283 BGB) führt und zur Abmahnung bzw. zur (verhaltensbedingten) Kündigung berechtigen. Problemträchtiger sind Ansprüche des Arbeitgebers, weil der Arbeitnehmer aus Gewissensgründen seine Arbeit niederlegt. Henssler verortete sie vor der Reform des Schuldrechts im Rechtsinstitut der culpa in contrahendo.279 Vorhersicht bzw. Vorhersehbarkeit eines Konflikts führten zwar nicht zur Ablehnung eines Leistungsverweigerungsrechts, sie bildeten aber die Voraussetzung für Nachforschungs- bzw. Aufklärungspflichten. Kennt der Schuldner die Risiken für die Vertragsdurchführung bzw. konnte er sie erkennen und ist zugleich das entsprechende Informationsdefizit der anderen Partei für ihn ersichtlich, dürfe er seinem Vertragspartner über diese für den Vertragsschluss eminent wichtigen Umstände nicht im Unklaren lassen.280 Schließt jemand einen Vertrag, obwohl er weiß oder zumindest hätte ahnen können, dass er ihn nicht einhalten wird, erscheint es gerecht, ihn dafür einstehen zu lassen, wenn sich das Risiko tatsächlich realisiert und er die Arbeit verweigert. Andererseits kann niemandem vorgeworfen werden, dass er ein Gewissen hat oder dass er seinem Gewissen gemäß handelt. Beide Klippen wurden mit der Konstruktion von Schadensersatzansprüchen aus culpa in contrahendo elegant umschifft. Indem Anknüpfungspunkt für den Schadensersatzanspruch nicht die Leistungsverweigerung selbst ist, sondern die fehlende Aufklärung des Vertragspartners, wurde vermieden dem Arbeitnehmer aus seiner Religiösität oder seinem Gewissen einen Vorwurf zu machen. Andererseits konnte trotzdem eine Haftung bejaht werden, denn eine Freizeichnung von jeder Verantwortung wäre in der Tat unbillig. Freilich führt allein die Vorhersehbarkeit einer Leistungsstörung nicht zwangsläufig zur Schadensersatzpflicht, für die Verschulden und nicht bloß Vorhersehbarkeit Voraussetzung ist. Hieran fehlt es z.B., wenn der Arbeitgeber den Pflichtenkonflikt ebenfalls vorausgesehen hat und deshalb keine Mitteilungspflicht des Arbeitnehmers bestand.281 Erscheint eine türkischstämmige Frau zum Einstellungsgespräch mit Kopftuch und nimmt sie dieses während des Gesprächs auch nicht ab, wird man eine Pflicht ihrerseits verneinen müssen, den Arbeitgeber davon in Kenntnis zu setzen, dass sie während der Arbeit auf den Hijab besteht. ______________ 279
Henssler, AcP 190 (1990), 538, 554 (vgl. nunmehr § 311 Abs. 2 BGB); zu weiteren Ansätzen Hoevels, Islam und Arbeitsrecht, 2003, S. 93 ff. 280 Henssler, AcP 190 (1990), 538, 554. 281 Henssler, AcP 190 (1990), 538, 556.
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Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
2. Die richtige Anspruchsgrundlage: § 280 oder § 311a BGB? Die Schuldrechtsreform modifizierte das Leistungsstörungsrecht grundlegend. Schadensersatzansprüche folgen nun im Allgemeinen aus § 280 Abs. 1 BGB; eine Sonderregel mit denselben Rechtsfolgen existiert in § 311a BGB für Leistungshindernisse, die bereits bei Vertragschluss vorliegen. Zwar wird betont, § 311a BGB eigene sich zur Erfassung von Verletzungen vorvertraglicher Aufklärungspflichten;282 indes ist die Norm für Schadensersatzansprüche des Arbeitgebers gegen den Arbeitnehmer, weil dieser eine Leistung aus religiösen Gründen und/oder aus Gewissensgründen ablehnt und dies hätte voraussehen können, in aller Regel unanwendbar.283 § 311a Abs. 1 BGB setzt voraus, dass „das Leistungshindernis schon bei Vertragsschluss vorliegt“. Dies wäre nur der Fall, wenn der Arbeitnehmer bereits von Beginn an die Arbeitsleitung nicht erbringen kann. Im Arbeitsverhältnis entsteht ein Gewissenskonflikt regelmäßig aber erst durch Zuweisung einer bestimmten Tätigkeit durch den Arbeitgeber (vgl. § 106 S. 1 GewO). Zum einen ist erst dann die Arbeitsleistung hinreichend konkretisiert, zum anderen manifestiert sich erst zu diesem Zeitpunkt das Gewissen. Es ist zwar als geistig-seelisches Phänomen stets vorhanden, die den Konflikt auslösende Gewissensentscheidung wird jedoch einzelfallbezogen und erst in der konkreten Situation getroffen. Die Umstände, die zur Leistungsstörung führen, liegen also nicht bereits bei Vertragsschluss vor, sondern treten erst später ein.284
3. Rechtsfolge: Ersatz des negativen oder (auch) des positiven Interesses? Es bleibt also auch nach der Schuldrechtsreform bei der von Henssler skizzierten Rechtslage: Lehnt der Arbeitnehmer aus Gewissensgründen eine Tätigkeit ab und hätte er den Konflikt voraussehen können, verletzt er also eine Aufklärungspflicht nach § 241 Abs. 2 BGB, haftet er aus culpa in contrahendo nach § 280 Abs. 1 BGB auf das negative Interesse. Ein Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung nach den §§ 280 Abs. 1 und 3, 283 BGB besteht demgegenüber nicht. Jener würde voraussetzen, dass der Arbeitnehmer eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis verletzt hat. Worin im Falle der Unmöglichkeit die Pflichtverletzung liegt, ist nicht einfach zu bestimmen, denn die Leistungspflicht wird durch § 275 (Abs. 3) BGB ja gerade aufgehoben und eine nicht bestehende Pflicht kann auch nicht verletzt werden. ______________ 282
AnwK-Dauner-Lieb, § 311a BGB Rn. 12 mwN. I. Erg. ebenso Greiner, Ideelle Unzumutbarkeit, 2004, S. 460 ff. 284 Vgl. hierzu MüKo-Ernst, § 311a BGB Rn. 34. 283
VII. Schadensersatzansprüche des Arbeitgebers
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Auch die Erhebung einer dem Schuldner zustehenden Einrede kann keine Verletzung einer Pflicht darstellen, wenn das Gesetz ihm diese Einrede zubilligt. 285 Zum Teil wird deshalb die Pflichtverletzung in der Herbeiführung des der Einrede zugrundeliegenden Leistungshindernisses286 oder in der bloßen Nichtleistung287 gesehen.288 Beide Varianten führen nicht zu vollends überzeugenden Ergebnissen. Die erstgenannte Alternative entspräche der Rechtslage vor der Schuldrechtsreform, die gem. den §§ 280, 325 BGB a.F. allein eine vom Schuldner zu vertretende Unmöglichkeit voraussetzte, sowie dem gesetzgeberischen Willen.289 Dem Wortlaut des § 280 Abs. 1 S. 1 BGB, der unzweideutig die Verletzung einer Pflicht voraussetzt, entspräche hingegen die zweitgenannte Sichtweise. Wie dem auch sei, im Falle eines Gewissenskonflikts scheitert ein Anspruch jedenfalls am fehlenden Vertretenmüssen (§ 280 Abs. 1 S. 2 BGB), denn aus seinem Gewissen kann dem Arbeitnehmer kein Vorwurf gemacht werden. Sieht man die Pflichtverletzung in der Herbeiführung des Leistungshindernisses, ist dies offensichtlich: Dass man ein Gewissen hat und dass sich dieses äußert, ist weder vorsätzlich noch fahrlässig.290 Aber selbst wenn man an die bloße Nichtleistung anknüpft, gilt nichts anderes. Zwar erfolgt die Leistungsverweigerung bewusst, das voluntative Element des Vorsatzes fehlt jedoch. Nimmt man das Gewissen und die Freiheit seiner Betätigung ernst, kann der Arbeitnehmer gar nicht anders als die Arbeit nicht zu erledigen, auch wenn er sie eigentlich ausführen will. Die Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) gebietet es hier, das für den Vorsatz erforderliche Wollen zu verneinen.291 Das bereits im Bereich des Kündigungsrechts Festgestellte gilt auch hier: Auch wenn der Arbeitgeber „will“, er „kann gar nicht.“292 Die Tatsache, dass er den Konflikt bei Vertragsschluss hätte voraussehen können, ändert hieran nichts,293 denn Haftungsgrund kann allenfalls die Herbeiführung des Leistungshindernisses oder die Nichtleistung sein, nicht aber das Wissen um das Leistungshindernis zu einem früheren Zeitpunkt. Dies ist ent______________ 285
So auch Greiner, Ideelle Unzumutbarkeit, 2004, S. 462. Lorenz/Riehm, Neues Schuldrecht, 2002, Rn. 344; Greiner, Ideelle Unzumutbarkeit, 2004, S. 462 f. 287 Canaris, JZ 2001, 499, 512; Regierungsentwurf BT-Drucks. 14/6040, S. 135 f.; i. Erg. auch Huber/Faust-Faust, Schuldrechtsmodernisierung, 2002, S. 114. 288 Auswirkungen hat dies insbes. für die Beweislast, hierzu ausführlich Huber/FaustFaust, Schuldrechtsmodernisierung, 2002, S. 113 f. 289 Regierungsentwurf BT-Drucks. 14/6040, S. 134 ff. 290 Kohte, NZA 1989, 161, 168; Hoevels, Islam und Arbeitsrecht, 2003, S. 97 mwN. 291 A.A. Greiner, Ideelle Unzumutbarkeit, 2004, S. 462. 292 s. Abschnitt V.1. 293 A.A. Greiner, Ideelle Unzumutbarkeit, 2004, S. 463. 286
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Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
scheidend für eine Haftung aus vorvertraglicher Pflichtverletzung und daraus kann sich nur ein Anspruch auf das negative Interesse ergeben.294 Haftungsgrund und Vertretenmüssen sind auseinanderzuhalten. Allein im Falle des § 311a Abs. 2 BGB fallen Haftungsgrund und Vertretenmüssen ausnahmsweise auseinander und um dies deutlich zu machen, wurde die Norm gerade ins BGB aufgenommen. Haftungsgrund ist dort die Nichterfüllung der Leistungspflicht, während das Vertretenmüssen an das Wissen um die Unmöglichkeit bzw. Unzumutbarkeit der Leistung anknüpft.295 Für § 280 Abs. 1 BGB gilt dies nicht. Es bleibt deshalb dabei: Der Arbeitnehmer haftet allein auf das negative Interesse aus culpa in contrahendo nach § 280 Abs. 1 S. 1 BGB, selbst wenn er den Gewissenskonflikt hätte voraussehen können oder gar vorausgesehen hat. Eine Haftung nach den §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 283 BGB ließe sich nur in den Fällen erwägen, in denen während des Arbeitsverhältnisses eine weitere Pflichtverletzung begangen wird. Führt der Arbeitnehmer etwa selbst die Direktive herbei, die ihn letztlich zu einem Leistungsverweigerungsrecht berechtigt, kann es zu einer Haftung auf das positive Interesse kommen. Man denke an den Fall, dass der Arbeitgeber im sog. „Nato-Pillen-Fall“ dem Mediziner aufgibt, mit anderen Firmen Kontakt über die Entwicklung des entsprechenden Medikaments aufzunehmen. Weiß der Arbeitnehmer dabei bereits, dass er es sein wird, der die Forschung anschließend leitet und weiß er auch, dass er das mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann, liegt in der unterlassenen Aufklärung des Arbeitgebers eine Nebenpflichtverletzung, die zu einem Anspruch aus den §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 283 BGB führen kann. Das Vertretenmüssen bezieht sich dann auf diese Pflichtverletzung und in Bezug auf sie handelte der Arbeitnehmer regelmäßig zumindest fahrlässig.
4. Beweislast Gem. § 280 Abs. 1 S. 2 BGB muss sich der Arbeitnehmer hinsichtlich seines Vertretenmüssens exkulpieren. Diese Beweislastumkehr ist bei der Verletzung von Aufklärungspflichten bei Vertragsschluss auch überzeugend und wird nicht durch § 619a BGB rück-umgekehrt. Zum einen gilt § 619a BGB seinem Wortlaut nach ausdrücklich allein bei „der Verletzung einer Pflicht aus dem Arbeitsverhältnis“ und damit nicht im vorvertraglichen Bereich. Aber selbst wenn man dies anders sähe, müsste man die Norm insofern teleologisch reduzieren. Die Beweislast des Arbeitnehmers nach § 280 Abs. 1 S. 2 BGB widerspricht arbeitsrechtlichen Besonderheiten, wenn der Arbeitgeber überlegene Erkenntnis______________ 294
Ausnahmen, in denen aus cic auf das positive Interesse gehaftet wird, sind allerdings anerkannt, s. hierzu Palandt-Heinrichs, § 311 BGB Rn. 58. 295 Huber/Faust-Faust, Schuldrechtsmodernisierung, 2002, S. 210 f.
VIII. Öffentlicher Dienst und kollektivrechtliche Regelungen
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möglichkeiten besitzt, um die Verursachung von Schäden aufzuklären, weil er es ist, der den Arbeitsablauf koordiniert und verantwortet. Dann käme es auch zu Wertungswidersprüchen zu den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs.296 Im Falle von religiösen und/oder Gewissenskonflikten fehlt es indes an eben jener überlegenen Kenntnis des Arbeitgebers.
5. Zusammenfassung Im Falle reiner Religionsausübungskonflikte stellt sich die Frage nach einem Schadensersatzanspruch des Arbeitgebers regelmäßig nicht, denn der Arbeitnehmer kann notfalls auch entgegen seinen religiösen Bedürfnissen die Arbeitsleistung wie vom Arbeitgeber gewünscht verrichten. Ob der Arbeitnehmer zur Leistung verpflichtet ist, bestimmt die Reichweite des Direktionsrechts (vgl. § 106 GewO, s. hierzu IV.4). Entspricht eine Weisung billigem Ermessen und verweigert der Arbeitnehmer die Tätigkeit dennoch, liegt hierin regelmäßig eine Verletzung vertraglicher Pflichten, die zu einem Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1 BGB (iVm §§ 280 Abs. 3, 283 BGB) führt und zu einer Abmahnung und im Ernstfall zur (verhaltensbedingten) Kündigung berechtigt. Betrifft der Konflikt nicht nur religiöse Überzeugungen, sondern auch das Gewissen des Arbeitnehmers, steht ihm ein Leistungsverweigerungsrecht aus § 275 Abs. 3 BGB zu. Zwar ist die Ausübung dieses Rechts für sich genommen keine Pflichtverletzung, dennoch kann der Arbeitgeber Schadensersatzansprüche geltend machen, wenn der Arbeitnehmer den Konflikt fahrlässig nicht vorausgesehen hat. Die (vorvertragliche) Pflichtverletzung liegt hier in der unterlassenen Offenbarung gegenüber dem Arbeitgeber und der unterlassenen Nachforschung, ob es tatsächlich zu Konflikten kommen kann. Der Anspruch resultiert aus § 280 Abs. 1 BGB und ist auf den Ersatz des negativen Interesses gerichtet. Gerade dies wurde bereits vor der Schuldrechtsreform überwiegend angenommen und hierauf sollte man sich zurück besinnen.
VIII. Besonderheiten im öffentlichen Dienst und bei kollektivrechtlichen Regelungen Die bislang aufgetretenen Konfliktherde spielten sich im Bereich der Privatwirtschaft ab, ohne dass besondere kollektivrechtliche Regelungen einschlägig ______________ 296 Dedek, ZGS 2002, 320, 322; Gotthardt, Arbeitsrecht nach der Schuldrechtsreform, Rn. 157 und 197; Henssler, RdA 2002, 129, 132 f.; Lindemann, AuR 2002, 81, 85; Oetker, BB 2002, 43, 44; ErfK-Preis, § 619a BGB Rn. 4.
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Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
gewesen wären.297 Auf die Besonderheiten, die sich im Bereich des öffentlichen Dienstes (s. sogleich 1) und bei Vorliegen spezieller Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen ergeben (s. 2), ist deshalb nur in gebotener Kürze einzugehen.
1. Besonderheiten im Bereich des öffentlichen Dienstes Im öffentlichen Dienst unterliegen Arbeitnehmer gegenüber der Privatwirtschaft besonderen Verhaltenspflichten. Sie haben sich so zu verhalten, wie es von Angehörigen des öffentlichen Dienstes erwartet wird (vgl. § 8 Abs. 1 S. 1 BAT, § 41 TVöD und Art. 33 Abs. 4 GG). Hierzu gehört bspw. eine gewisse Mäßigung und Zurückhaltung bei politischer Betätigung.298 Auch im Privatleben haben Angestellte des öffentlichen Dienstes die ungeschriebenen Anstandsgesetze zu wahren, die das Amt fordert, weil die Öffentlichkeit das Verhalten eines öffentlichen Bediensteten mit einem strengeren Maßstab misst als das privat Bediensteter.299 Religionsausübung trifft hier auf die besondere Neutralitätspflicht, die dem Staat aus einer Gesamtschau der Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 und Art. 140 GG iVm Art. 136 Abs. 1 und 2 und Art. 137 Abs. 1 WRV obliegt und die öffentliche Bedienstete zu wahren haben.
a) Das Urteil des BVerfG zum Kopftuch einer Lehrerin und seine Bedeutung für den öffentlichen Dienst Für eine Beschränkung der Religionsfreiheit von Beamten durch den Staat hat das BVerfG in seinem Urteil zum Kopftuch einer Lehrerin den Vorbehalt des Gesetzes betont.300 Dieser aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip abzuleitende Grundsatz beherbergt iVm den jeweils einschlägigen Grundrechten die sog. Wesentlichkeitslehre.301 Danach muss der Gesetzgeber die für die Grundrechtsausübung maßgeblichen Regelungen selbst treffen. Ebendies war nicht geschehen und so konnte das Land Baden-Württemberg Frau Ludin das Tragen des Kopftuchs nicht auf Grundlage der entsprechenden Landesgesetze verbieten. ______________ 297
s. das in Kap. 3 dargestellte Fallmaterial sowie Kap. 1 III. BAG, NJW 1982, 2888 ff.; s. hierzu Müller, Arbeitsrecht im Öffentlichen Dienst, Rn. 581 ff. 299 BAG, NZA 1998, 323, 324. 300 BVerfG, NJW 2003, 3111, 3116. 301 Hierzu Stern, Staatsrecht I, § 20 IV.4.b), S. 812 ff. und Stern, Staatsrecht III/1, § 74 II.3, S. 1349 ff. 298
VIII. Öffentlicher Dienst und kollektivrechtliche Regelungen
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Im Schrifttum wurde daraufhin vertreten, dies gelte – a maiore ad minus – erst recht für Angestellte des öffentlichen Dienstes.302 Das würde allerdings voraussetzen, dass die vom BVerfG angesprochene Wesentlichkeitslehre auch auf die Regelung des Privatrechtsverkehrs Anwendung findet, denn Angestellte im öffentlichen Dienst sind anders als Beamte zunächst einmal privatrechtlich Beschäftigte. Dass der Gesetzgeber – oder gar die Tarifvertragsparteien – auch im Verhältnis der Bürger untereinander die wesentlichen Regelungen selbst zu treffen haben, hat das BVerfG allerdings bislang nicht angenommen. Stattdessen betont es insbesondere im Bereich des Arbeitskampfrechts, dass der Staat selbst dann nicht zum Erlass von Normen verpflichtet sei, wenn staatliche Schutzpflichten eine Regelung erforderten. Insofern genügt Richterrecht. “Die vom BVerfG entwickelte Lehre, daß der Gesetzgeber in grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen muß (Wesentlichkeitstheorie [...]), gilt für das Verhältnis zwischen Staat und Bürger. (...) Im vorliegenden Fall geht es jedoch um das Verhältnis gleichgeordneter Grundrechtsträger. Zwar hat das BVerfG mehrfach geäußert, es sei ‚Sache des Gesetzgebers‘, die Koalitionsfreiheit näher auszugestalten (…). Folgerungen für die Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Koalitionen ergeben sich daraus aber nicht. Die Gerichte müssen bei unzureichenden gesetzlichen Vorgaben das materielle Recht mit den anerkannten Methoden der Rechtsfindung aus den allgemeinen Rechtsgrundlagen ableiten, die für das betreffende Rechtsverhältnis maßgeblich sind. Das gilt auch dort, wo eine gesetzliche Regelung, etwa wegen einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht, notwendig wäre“.303
Hieran lässt sich gewiss Kritik üben und sie ließ auch nicht lange auf sich warten.304 Aus Grundrechten resultierende Schutzpflichten sind gerade an den Staat gerichtet und nicht an Private.305 Dann wäre es nur konsequent, die zu ihrer Erfüllung notwendigen Regelungen auch durch den Staat zu verlangen.306 Insofern hat auch das BVerfG in seinem Urteil zum Schutz Minderjähriger vor einer ausufernden Haftung durch ein ererbtes Handelsgeschäft ausdrücklich den Gesetzgeber in die Pflicht genommen und ihm auferlegt, für eine entsprechende, die Haftung beschränkende Norm zu sorgen.307 Andererseits schlussfolgert das BVerfG die Wesentlichkeitslehre nicht aus den Grundrechten (alleine), sondern aus dem Parlamentsvorbehalt, der seinerseits Ausfluss des Rechts______________ 302
Adam, ZTR 2004, 450, 453. BVerfG, NJW 1991, 2549, 2550; so auch BVerfG, NJW 1993, 1379, 1380; s. aber auch BVerfG, NVwZ 1997, 54, 55 und LAG Hamburg v. 14.06.2002 – 3 Sa 37/02, n.v. 304 s. nur Kloepfer, NJW 1985, 2497, 2499 ff.; Friauf, RdA 1986, 188, 192. 305 s. Kap. 4 II.2 und II.4.b). 306 Vgl. Kloepfer, NJW 1985, 2497, 2499 f. 307 BVerfG, NJW 1986, 1859, 1861: „Der Gesetzgeber hat danach in Erfüllung seines Wächteramts das verbleibende Defizit auszugleichen.“ Daraufhin wurde § 1629a BGB geschaffen. 303
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Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
staats- und Demokratieprinzips ist (Art. 20 Abs. 2 und 3 GG).308 Der Vorbehalt des Gesetzes gilt jedoch nicht für den Privatrechtsverkehr und dessen gesetzlichen Regelungen. Im Einzelnen ist im Bereich der Wesentlichkeitslehre noch einiges unklar. Nicht nur für den Begriff des Wesentlichen fehlt eine hinreichende Konkretisierung, auch der Anwendungsbereich dieses Grundsatzes ist nicht abschließend geklärt. In Zukunft wird seine Bedeutung indes zunehmen, hat doch auch der EuGH jüngst eine der deutschen Wesentlichkeitslehre entsprechende Anforderung auf EU-Ebene aufgestellt.309 Hier besteht Forschungsbedarf. Entscheidend werden dabei insbesondere die Wurzeln des Wesentlichkeitserfordernisses sein. Sieht man es vorwiegend im Rechtsstaatsprinzip begründet, besteht zunächst kein Grund, es auch auf die Regelung der Privatrechtsordnung zu erstrecken. Leitet man es (alleine oder überwiegend) aus den Grundrechten ab, liegt dies indes näher. Dann bedarf es zudem einer Klärung des Verhältnisses zwischen der Wesentlichkeitslehre und der Schutzpflichtdogmatik. Hält man an der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG zunächst fest, wird man die Wesentlichkeitslehre aber (noch?) nicht auf das privatrechtliche Normengefüge erstrecken können. Ein Verbot religiöser Betätigung oder religiöser Kleidung für Angestellte des öffentlichen Dienstes dürfte deshalb jedenfalls solange nicht am Fehlen einer detaillierten gesetzlichen (oder tarifvertraglichen) Regelung scheitern, solange das Gericht nicht seine Rechtsprechung fortentwickelt.310
b) Beschränkungen der Religionsausübung Auch in Bezug auf religiöse Konflikte von Angestellten des öffentlichen Dienstes ist zu differenzieren zwischen Religionsausübung einerseits und Glaube und Gewissen andererseits. Geht es allein um Religionsausübung, wird sich die Neutralitätspflicht gegenüber den Interessen des einzelnen Arbeitnehmers in aller Regel durchsetzen. Er hat deshalb sämtliche verzichtbaren religiösen Handlungen und Symbole zu unterlassen. Einem Angestellten des öffentlichen Dienstes kann insofern aufgegeben werden, ein Kruzifix abzulegen, das er um den Hals trägt, es kann ihm untersagt werden, Broschüren über eine Glau______________ 308
BVerfG, NJW 2003, 3111, 3116 mwN. Der EuGH entschied, der Gemeinschaftsgesetzgeber sei „verpflichtet, in dem Basisrechtsakt die wesentlichen Elemente der betreffenden Harmonisierungsmaßnahme festzulegen“ (EuGH, Rs. C-66/04, JZ 2006, 358, Rn. 48; hierzu Ohler, JZ 2006, 359). 310 § 41 TVöD ist allerdings enger gefasst als § 8 Abs. 1 S. 1 BAT. Ob § 41 TVöD eine hinreichende Grundlage bietet, um religiöse Betätigungen stärker einzuschränken als in der Privatwirtschaft, ist deshalb zweifelhaft. 309
VIII. Öffentlicher Dienst und kollektivrechtliche Regelungen
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bensgemeinschaft auszulegen oder gar aktiv in Gesprächen mit Mitarbeitern oder außenstehenden Bürgern Werbung für sie zu betreiben.
c) Glaube, Bekenntnis und Gewissen Für die Beschränkung des Glaubens, des Bekenntnisses311 und von Gewissensentscheidungen sind die Voraussetzungen bereits im Arbeitsverhältnis mit privaten Arbeitgebern recht hoch. Notwendig sind konkrete Störungen des betrieblichen Ablaufs, die auch durch Organisationsmaßnahmen oder die Versetzung von anderen Mitarbeitern nicht behoben werden können (s. im Einzelnen die Abschnitte II.3. und V.1.c)). Nichts anderes gilt auch für öffentliche Arbeitgeber und so ist es nicht verwunderlich, dass das ArbG Dortmund im Fall einer kopftuchtragenden Erzieherin in einem Kindergarten zu dem gleichen Schluss kam wie das BAG im seinem Kopftuchurteil312 und den Hijab zuließ.313 Einige Tage nachdem das BVerwG entschieden hatte, dass einer Lehrerin die Einstellung in den Schuldienst verweigert werden dürfe, wenn sie bei der Arbeit nicht auf ihr Kopftuch verzichte,314 erklärte der Jugendamtsleiter der Erzieherin, dass er das Kopftuch im Kindergarten nicht dulden werde. Ihr wurde – zu Unrecht, wie das ArbG Dortmund befand – gekündigt. Anders als beamtete Lehrer würden, so das Gericht, Erzieherinnen nicht als Repräsentantinnen des Staates wahrgenommen, so dass die beklagte Kommune auch dann in religiös weltanschaulichen Dingen neutral sein könne, wenn eine ihrer Angestellten durch das Tragen der Kopfbedeckung zum Ausdruck bringe, dass sie Muslimin sei. Auch christliche Feste wie Weihnachten und Ostern könne der Kindergarten in einem christlich geprägten Kulturkreis trotz staatlicher Neutralität nicht ausblenden. Eine Gefahr der Beeinflussung der „noch recht kleinen Kinder“ sah das Gericht nicht, prägend blieben Herkunft und Elternhaus.
Dem kann nur zugestimmt werden. Für das Verhalten eines Angestellten des öffentlichen Dienstes gelten strengere Regeln als im Bereich der Privatwirtschaft (vgl. § 8 Abs. 1 S. 1 BAT, § 41 TVöD und Art. 33 Abs. 4 GG), so dass Religionsausübung in stärkerem Maße beschränkt werden kann. Hingegen unterliegen Gewissensentscheidungen und solche, die das „Haben“ einer Religion, also den Glauben selbst betreffen, den gleichen Maßstäben wie bei Arbeitsverhältnissen mit privaten Arbeitgebern. Gerade im öffentlichen Dienst wird eine Beschränkung der Glaubens- und Gewissensfreiheit entscheidend davon abhängen, wie der Mitarbeiter in der Öffentlichkeit wahrgenommen ______________ 311
Zum Begriff s. Kap. 2 Fn. 55 und Kap. 4 Fn. 126. s. Kap. 3 II.1.a). 313 ArbG Dortmund v. 16.01.2003 – 6 Ca 5736/02, juris. 314 BVerwG, NJW 2002, 3344; aufgehoben durch BVerfG, NJW 2003, 3111; s. allerdings nunmehr BVerfG, NJW 2004, 3581. 312
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Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
wird. Je eher er als Repräsentant des Staates betrachtet werden kann, desto eher ist eine Beschränkung seiner Freiheiten möglich.
2. Besonderheiten für Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen Die in Kapitel 3 dargestellten Konflikte sind allesamt weder durch spezielle Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien noch der Betriebspartner entstanden oder beeinflusst worden. Im Großen und Ganzen ist man sich begrüßenswerter Weise wohl darin einig, dass es sich bei Glaubens- und Gewissenskonflikten um Grenzfälle von Pflichtenkollisionen handelt, die nur schwer im Vorhinein durch Kollektivvereinbarungen geregelt werden können. Dass solche Regelungen aber auch in Deutschland nicht völlig auszuschließen sind, zeigte zuletzt die Praxis der US-amerikanischen Firma Wal-Mart, die mittels Ethik-Richtlinie versuchte, Einfluss auf das Privatleben ihrer Beschäftigten auszuüben. Darin verbat sie ihnen u.a. mit Kollegen auszugehen oder gar eine Liebesbeziehung mit denjenigen zu unterhalten, mit denen sie eng zusammenarbeiteten. Zwar hatte das Unternehmen den Betriebsrat nicht einmal von der Einführung dieses Verhaltenskodex in Kenntnis gesetzt, so dass dessen Unwirksamkeit kaum zweifelhaft war (vgl. § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG).315 Das Beispiel zeigt jedoch, dass die Gefahr besteht, dass gerade ausländische Unternehmen in Zukunft versuchen werden, sich größeren Einfluss auf das Verhalten ihrer Belegschaft auch durch kollektivrechtliche Regelungen zu sichern. Der Weg von der Einflussnahme auf das Liebesleben bis zur Beschränkung der Religionsfreiheit ist nicht besonders weit.
a) Beschränkungen der Religionsfreiheiten durch Tarifverträge Ob die Tarifvertragsparteien im Rahmen ihrer Normsetzungsbefugnis (vgl. § 4 Abs. 1, 1 Abs. 1 TVG) unmittelbar an die Grundrechte gebunden sind oder nicht, ist bekanntlich seit jeher umstritten, die Rechtsprechung des BAG uneinheitlich. Während das BAG früher von einer (unmittelbaren) Bindung ausging,316 verfolgen einige Senate heute die gegenteilige Richtung und schließen sich den lauter werdenden Stimmen im Schrifttum317 an, die eine Lösung über ______________ 315 LAG Düsseldorf, NZA-RR 2006, 81, 84 ff. (nicht rkr.); s. hierzu Junker, BB 2005, 602 und Schuster/Darsow, NZA 2005, 273. 316 Grundlegend BAG, NJW 1955, 684, 686 f.; aus jüngerer Zeit BAG, NZA 1992, 739 f.; NZA 1997, 1294, 1295. 317 Grundlegend Dieterich in: FS Schaub, 1998, S. 117 ff. und ders. in: FS Wiedemann, 2002, S. 229 ff.
VIII. Öffentlicher Dienst und kollektivrechtliche Regelungen
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die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte bejahen.318 Dem kann hier nicht weiter nachgegangen werden.319 Bejahte man eine unmittelbare Grundrechtsbindung, dürften Einschränkungen der Religions- und Gewissensfreiheit für säkulare Unternehmen in den wenigsten Fällen Bestand haben. Insbesondere setzt das Gebot der Verhältnismäßigkeit enge Grenzen. Einschränkungen religiöser Freiheiten bedarf es zum Schutz betrieblicher Belange regelmäßig nur in Unternehmen einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft oder im Bereich des öffentlichen Dienstes, der der staatlichen Neutralitätspflicht unterliegt.320 Aber auch dann, wenn man eine Bindung der Tarifvertragsparteien an die Grundrechte ablehnt, ziehen die staatlichen Schutzpflichten engere Grenzen als sie für die Begründung von Individualarbeitsverträgen321 gelten. Bei Eintritt in eine Gewerkschaft ist für Arbeitnehmer nicht vorhersehbar, welche Rechte und Pflichten durch spätere Tarifverträge auf sie zukommen. Da die Tarifvertragsparteien ihre Regelungslegimitation aus dem Verbandsbeitritt ihrer Mitglieder ableiten, muss sich diese im Rahmen des von Arbeitnehmern bzw. Arbeitgebern erteilten Regelungsauftrags halten. Auch diejenigen, die eine (unmittelbare) Bindung an die Grundrechte ablehnen, sehen deshalb in der Zumutbarkeit eine Grenze der Tarifautonomie.322 Sie realisiert sich insbesondere dort, wo der persönliche Lebensbereich der Arbeitnehmer betroffen ist. Die Verbände müssen sich bei Abschluss eines Tarifvertrags zwar an den Interessen der Gesamtheit der Arbeitnehmer orientieren und hierfür Bedürfnisse Einzelner schon einmal hintanstellen; dies darf aber nicht dazu führen, dass grundrechtlich geschützte höchstpersönliche Belange völlig vernachlässigt werden. Dieses Verhältnismäßigkeitsgebot führt unabhängig davon, ob es nun aus der Bindung der Parteien an die Grundrechte oder aus einem einfach-rechtlichen Verbot unangemessener Regelungen abzuleiten ist, zu einem Rechtfertigungszwang für solche Regelungen, die in die persönliche ______________ 318 BAG, NZA 1998, 715, 716 (Siebter Senat). Der Dritte Senat hat sich der Rechtsprechung des Siebten angeschlossen, hält aber an einer unmittelbaren Wirkung des Art. 3 Abs. 1 GG fest, BAG, NZA 2002, 917, 918 und NZA 2002, 912, 916 (nun allerdings offen gelassen von BAG, NZA 2005, 1128, 1129); ebenso der Zehnte Senat, NZA 2001, 508, 509. Hingegen lehnt der Vierte Senat auch eine Bindung an den verfassungsrechtlichen allgemeinen Gleichheitssatz ab, BAG, NZA 2001, 613, 616 f., mit ausführlicher Begründung und zahlreichen Nachweisen; so auch der Sechste Senat, NZA 2004, 1399, 1401 f. 319 Zum Ganzen Wiedemann-Wiedemann, TVG, Einleitung Rn. 198 ff.; ders., RdA 2005, 193, 195 f.; Preis, Kollektivarbeitsrecht, 2003, § 105 V, S. 226 ff. und § 103, S. 206 ff.; zur mittelbaren Drittwirkung s. Kap. 4 II. 320 s. hierzu einerseits Kap. 1 III und andererseits Kap. 5 VIII.1. 321 Hierzu Abschnitt III. 322 ErfK-Dieterich, Einl. GG Rn. 49 ff. mwN; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 432, 102 f. und 430 f.; differenzierend Wiedemann-Wiedemann, TVG, Einleitung Rn. 206 ff.
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Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
Lebensgestaltung der Verbandsmitglieder eingreift; Art. 9 Abs. 3 GG überträgt den Tarifvertragsparteien die Regelungsbefugnis allein für Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Auch Religionsausübungsregelungen sind deshalb begründungsbedürftig und nur zulässig, wenn betriebliche Interessen betroffen sind. Dieses Abwägungserfordernis ist es, das Verbandsmitgliedern einen weitreichenderen Schutz vor beschränkenden Tarifnormen gewährt als es die Generalklauseln des BGB für individualarbeitsvertragliche Klauseln vermögen.
b) Grenzen für Betriebsvereinbarungen Auf betriebsverfassungsrechtlicher Ebene323 ist das Mitwirkungsrecht des Betriebsrats in personellen Angelegenheiten zu beachten, insbesondere hat der Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG in Bezug auf die Ordnung des Betriebs und das Verhalten der Arbeitnehmer im Betrieb ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht. Hierunter fallen z.B. Kleiderordnungen, die in Betrieben mit Betriebsrat deshalb nicht ohne dessen Zustimmung Wirkungen entfalten können.324 Dabei haben die Betriebsparteien vor allem § 75 Abs. 1 und Abs. 2 BetrVG zu beachten. Dadurch wird – dem Wortlaut von Abs. 1 S. 1 entsprechend – ausdrücklich jede Diskriminierung wegen der Religion verboten. Darüber hinaus sind Arbeitgeber und Betriebsrat verpflichtet, die freie Entfaltung der Persönlichkeit der Arbeitnehmer zu schützen und zu fördern (Abs. 2) und nicht in unverhältnismäßiger Weise in deren Freiheiten einzugreifen.325 Die Betriebspartner müssen sich also ebenfalls an ein – einfachrechtliches – Übermaßverbot halten. Kleiderordnungen, die bspw. religiöse Symbole verbieten, dürfen deshalb nur aufgestellt werden, wenn sie erforderlich und in ihrer Ausgestaltung angemessen sind, um unternehmerische Interessen zu wahren. Religiöse Symbole, die Ausfluss einer (verbindlichen) Gewissensentscheidung sind, dürfen nur untersagt werden, wenn der Unternehmenszweck auf andere Weise nicht erreicht werden kann. Das Interesse an einheitlicher Kleidung mag zwar ein Verbot solcher religiösen Symbole rechtfertigen, die allein Ausdruck der Religionsausübungsfreiheit sind; wird ihr Tragen aber als verpflichtend angesehen – wie es beim Hijab der Fall sein kann –, genügt der Wunsch nach einem einheitlichen Erscheinungsbild der Belegschaft nicht.326 Muslimas kann daher auch per Betriebsvereinba______________ 323 Inwiefern Betriebsvereinbarungen an Grundrechten zu messen sind, ist ebenfalls umstritten, s. hierzu Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 103 f. 324 BAG, AP Nr. 15 zu § 87 BetrVG Ordnung des Betriebes. 325 Richardi-Richardi, BetrVG, § 75 Rn. 38 f. 326 s. bereits Abschnitt V.1.a).
IX. Zusammenfassung
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rung nur dann das Tragen des Hijab untersagt werden, wenn dies bspw. aus hygienischen Gründen notwendig ist. Meist wird es hingegen genügen, dass die Frauen über dem Kopftuch eine weitere, den Vorschriften entsprechende Kopfbedeckung tragen.327 Sowohl den Tarifvertragsparteien als auch den Betriebspartnern sind daher in Bezug auf die Beschränkungen religiöser Freiheiten der Belegschaftsangehörigen enge Grenzen gesetzt.
IX. Zusammenfassung Das vor Inkrafttreten des AGG geltende Recht – das hat Abschnitt I gezeigt – statuierte entgegen landläufiger Meinung328 keinen umfassenden Schutz vor Diskriminierungen wegen der Religion. Zwar ist der Arbeitgeber zur Fürsorge gegenüber seinen Arbeitnehmern verpflichtet und dies schließt auch die Beachtung ihrer religiösen Belange ein. In der Phase der Einstellung eines Arbeitnehmers bieten aber weder die Grundrechte noch die zivilrechtlichen Regelungen dem Bewerber den Schutz, den nun die RL 2000/43/EG und 2000/78/EG fordern.329 Eine Pflicht zur Gleichbehandlung lässt sich weder aus den Freiheits- noch den Gleichheitsrechten der Verfassung ableiten und auch der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz gilt erst nach Abschluss des Arbeitsvertrags.330 Die Grundsätze des Fragerechts des Arbeitgebers vermögen den Arbeitnehmer zwar vor einigen unliebsamen Fragen zu schützen, aber auch insofern ist der Schutz nicht lückenlos. Die Frage nach der Religion war bspw. zulässig, wenn der Arbeitgeber geltend machte, unter Seinesgleichen sein zu wollen. Das AGG erhöht diesen Schutz insbesondere im Bewerbungsverfahren. Religion und Gewissen sind nicht nur verfassungsrechtlich unterschiedliche Kategorien, religiöse und Gewissenskonflikte folgen auch zivilrechtlich unterschiedlichen Lösungswegen. Dies schlägt sich in zahlreichen Konstellationen und zivilrechtlichen Instrumentarien nieder. Handelt ein Arbeitnehmer seinem Gewissen entsprechend, reicht das Pflichtenprogramm des Arbeitgebers weiter ______________ 327
Vgl. Preis/Greiner in: FS Rüfner, 2003, S. 653, 667 ff. Kam es in der Vergangenheit zu Auseinandersetzungen zwischen Arbeitnehmergruppen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit, so kann auch dies allenfalls ein Verbot von nicht als verbindlich angesehenen religiösen Symbolen rechtfertigen. 328 von Koppenfels, WM 2002, 1489, 1494; Säcker, BB-Special 6/2004, S. 16, 17 f. 329 Zu Besonderheiten im öffentlichen Dienst s. Abschnitt VIII.1. 330 Hierzu Kap. 6 III.
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Kapitel 5: Eine zivilrechtliche Betrachtung
als bei rein-religiösen Ge- oder Verboten. Auch die Arbeitskollegen müssen in einem solchen Fall ein höheres Maß an Toleranz aufbringen (s. II.3). Die Religionsausübung kann individualvertraglich in weitem Maße begrenzt werden, einem Verzicht des Arbeitnehmers – wohlgemerkt handelt es sich nicht um einen Grundrechtsverzicht331 – steht insofern nichts im Wege. Für ihn verbindliche Glaubenssätze, die sein Gewissen betreffen, sind demgegenüber einer vertraglichen Abrede zumindest im säkularen Arbeitsverhältnis grundsätzlich entzogen.332 Die Unterscheidung setzt sich fort in den Fällen der Leistungsverhinderung bzw. Leistungsverweigerung. Die Uneinigkeit zwischen Rechtsprechung und Schrifttum hinsichtlich der dogmatischen Einordnung löst sich auf, wenn man den unterschiedlichen Ansätzen die jeweiligen Konfliktlagen zuordnet: Reinreligiös bedingte Konflikte sind regelmäßig im Rahmen des Weisungsrechts zu lösen, denn sie stellen den Arbeitgeber vor die Wahl, welche von mehreren, für sich rechtmäßigen Direktiven er erteilt. Die von der Rechtsprechung genannten Abwägungskriterien der Vorhersehbarkeit eines Konflikts, den betrieblichen Interessen und der Wiederholungswahrscheinlichkeit weiterer Fälle mögen hier gewürdigt werden. Demgegenüber steht dem Arbeitnehmer im Falle einer ernsthaften Gewissensentscheidung ein Leistungsverweigerungsrecht aus § 275 Abs. 3 BGB zu, das einer Abwägung mit unternehmerischen Interessen nicht zugänglich ist. Aus den verschiedenen Ansätzen ergeben sich auch unterschiedliche Rechtsfolgen. Im Falle einer nicht billigem Ermessen entsprechenden Weisung bleibt der Lohnanspruch bestehen, im Falle eines Leistungsverweigerungsrechts nur (vgl. § 326 Abs. 1 S. 1 BGB), sofern die Verhinderung der Arbeitsleistung eine verhältnismäßig kurze Zeit in Anspruch nimmt iSv § 616 S. 1 BGB. Eine Schadensersatzpflicht des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber nach § 280 Abs. 1 BGB, weil er den Konflikt hätte voraussehen können, setzt die Verletzung einer Offenbarungspflicht des Arbeitnehmers voraus. Mit der Anerkennung solcher Mitteilungspflichten sind Rechtsprechung und Schrifttum zu Recht zurückhaltend; allerdings hat der Arbeitnehmer sich nach § 280 Abs. 1 S. 2 BGB zu entlasten. § 619a BGB ist insofern teleologisch zu reduzieren.333 Die dargestellte Differenzierung gewinnt auch im Kündigungsrecht an Bedeutung. Im Falle von Konflikten, die allein aus dem Wunsch nach religiöser ______________ 331
s. hierzu Kap. 4 III. s. hierzu Abschnitt III.3; zu den Besonderheiten bei kollektivrechtlichen Regelungen s. Abschnitt VIII.2. 333 s. Abschnitt VII. 332
IX. Zusammenfassung
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Betätigung resultieren, ist regelmäßig eine Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen einschlägig, im Falle von Gewissenskonflikten kommen allein personenbedingte Gründe in Betracht (vgl. § 1 Abs. 2 KSchG). Ist das Tragen des Hijab eine zwingende und verbindliche Entscheidung, kann die Muslima also allenfalls personen-, nicht aber verhaltensbedingt gekündigt werden, sofern der Schutz des KSchG greift.
Kapitel 6
Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung „Gleichgeschlechtliche Betätigung verstößt eindeutig gegen das Sittengesetz“, stellte das BVerfG noch 1957 fest und begründete den sittlichen Verstoß u.a. damit, dass „die beiden großen christlichen Konfessionen, aus deren Lehren große Teile des Volkes die Maßstäbe für ihr sittliches Verhalten entnehmen, die gleichgeschlechtliche Unzucht als unsittlich verurteilen“.1 Das Blatt hat sich gewendet, keine 50 Jahre später existiert in Deutschland ein Diskriminierungsverbot wegen der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf. Und das ist gut so. Auch ein Sittenverstoß würde heute wohl nicht mehr mit den Auffassungen der christlichen Kirchen begründet werden, die in vielen Fragen eher Randpositionen einnehmen als die Volkesmeinung widerzuspiegeln. Toleranz wird von der RL 2000/78/EG nicht nur für die sexuelle Orientierung, sondern auch für die Religion und Weltanschauung anderer gefordert. Das AGG hat den Katalog verpönter Merkmale über das des Geschlechts und einer Behinderung hinaus erweitert und damit ein neues Kapitel im Arbeitsrecht aufgeschlagen, dessen Auswirkungen vermutlich irgendwo zwischen dem Ende der Vertragsfreiheit2 und einem reinen Placebo-Effekt3 liegen.
______________ 1
BVerfGE 6, 389, 434 f. Das BVerfG erklärte die Strafvorschriften gegen die männliche Homosexualität (§§ 175 f. StGB a.F.) in seinem Urteil vom 10.05.1957 damit für verfassungskonform. 2 Vgl. Säcker, BB-Special 6/2004, S. 16 ff.; hiergegen Wölfl, ZRP 2003, 297. Adomeit formuliert: „Ein Privatrecht, das den Teilnehmern am Rechtsverkehr nicht mehr die freie Entscheidung belässt, wen man sich als Vertragspartner wünscht und wen nicht, ist eigentlich kein Privatrecht mehr“ (NJW 2002, 1622, 1623). Weitere Nachweise bei Baer, ZRP 2002, 290, 291. 3 s. etwa von Koppenfels, WM 2002, 1489, 1494; von Münch, NJW 1999, 260, 262.
II. Ein neues (Anti-)Diskriminierungsrecht
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I. Gang der Darstellung Voranzustellen ist ein knapper Überblick über die bisherige, recht turbulente Gesetzgebungsgeschichte und die historischen Vorläufer im internationalen und außereuropäischen Recht (sogleich unter II). Das wichtigste Instrument gegen Diskriminierungen war auf nationaler Ebene bislang der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz. Abschnitt III legt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihm und dem AGG dar. Bislang unklar ist, ob die RL 2000/43/EG und 2000/78/EG sowie das AGG neben ungerechtfertigten Ungleichbehandlungen auch sachlich nicht begründete Gleichbehandlungen verbieten. Dass allgemeine Gleichheitssätze wie Art. 3 Abs. 1 GG oder der entsprechende europarechtliche Gleichheitssatz nicht nur verbieten, Gleiches ungleich zu behandeln, sondern auch Ungleiches gleich zu behandeln, bedarf keiner Diskussion. Für spezielle Diskriminierungsverbote ist dies jedoch zweifelhaft. Die Frage ist bislang kaum gestellt, geschweige denn beantwortet worden. Da hierdurch entscheidend die Reichweite des neuen Antidiskriminierungsrechts bestimmt wird und die Problematik gerade für religiösbedingte Konfliktfälle bedeutsam ist, widmet sich ihr Abschnitt IV ausführlich. Schließlich wird das Verhältnis zwischen dem Merkmal der Religion und anderen Diskriminierungsmerkmalen beleuchtet (V), bevor auf Voraussetzungen und Rechtsfolgen (religiöser) Diskriminierungen nach dem AGG einzugehen ist (V). Aus den in Abschnitt IV gezogenen Schlussfolgerungen wird versucht, das Merkmal der Religion näher zu bestimmen, herauszuarbeiten, wann eine Ungleichbehandlung auf der Religion beruht und wie der nach § 3 Abs. 1 und 2 AGG notwendige Nachteil beschaffen sein muss. Dies ist Voraussetzung für die in Kapitel 7 erfolgende Betrachtung der Konfliktfälle zwischen religiösen und arbeitsvertraglichen Pflichten im Spiegel des neuen Gesetzes.
II. Ein neues (Anti-)Diskriminierungsrecht4 Bis zu einem Gesetz, das die europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien umsetzt, war es ein langer Weg. Ihre Umsetzungsfrist lief bereits im Jahre 2003 ab,5 Ende April 2005 stellte der EuGH nach einer Klage der Kommission gegen ______________ 4 Die Begriffe Diskriminierungsrecht und Antidiskriminierungsrecht werden im Schrifttum synonym verwendet. Selbstverständlich geht es auch dann, wenn man vom Diskriminierungsrecht spricht, um ein Verbot ungerechtfertigter Benachteiligungen. 5 Allein für die Merkmale des Alters und einer Behinderung hätte Deutschland gem. Art. 18 Abs. 2 RL 2000/78/EG eine um drei Jahre verlängerte Umsetzungsfrist in Anspruch
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
die Bundesrepublik Deutschland sogar ausdrücklich fest, dass der deutsche Gesetzgeber seiner Verpflichtung nicht nachgekommen sei.6
1. Geschichte der Umsetzung in deutsches Recht a) Ein erster Versuch Im November 2001 stellte das Bundesministerium der Justiz erstmals einen Diskussionsentwurf für ein Gesetz zur Verhinderung von Diskriminierungen im Zivilrecht vor,7 der nach Kritik insbesondere aus der Wissenschaft8 zurückgezogen wurde. Diese bezog sich vor allem auf die Übererfüllung des europarechtlich Gebotenen. Der Entwurf sah ein allgemeines zivilrechtliches Diskriminierungsverbot wegen sämtlicher in den Richtlinien genannter Merkmale in den §§ 319a ff. BGB-E vor, das für die Begründung, Beendigung und Ausgestaltung aller Verträge gelten sollte, die öffentlich angeboten werden (vgl. § 319a Abs. 1 Nr. 1a BGB-E). Ausgenommen waren alleine das Familien- und Erbrecht. Nicht nur die Aufnahme sämtlicher Merkmale ins allgemeine Zivilrecht stieß auf Kritik, sondern auch die weite Einbeziehung privater Rechtsgeschäfte. Ebenso großzügig wie der Anwendungsbereich sollten die Rechtfertigungsoptionen sein. Grundsätzlich genügten dem Diskussionsentwurf vom November 2001 zufolge sachliche Gründe zur Rechtfertigung einer Benachteiligung; bei Verträgen rund um Beschäftigung (sowie medizinischer Versorgung und Bildung) wurde vorausgesetzt, dass das Vorhandensein oder Fehlen eines Merkmals „entscheidende Voraussetzung für die Tätigkeit“ sei (vgl. § 319d Abs. 1 BGB-E). Eine Tendenzschutzklausel fehlte, so dass auch die Kirchen in vollem Umfang den Diskriminierungsverboten verpflichtet gewesen wären. Mit dem verfassungsrechtlich garantierten Selbstverwaltungsrecht der Religionsgemeinschaften (Art. 140 GG iVm Art. 137 WRV) wäre dies kaum zu vereinbaren gewesen. ______________
nehmen können. Zu Fragen der unmittelbaren Wirkung der Antidiskriminierungsrichtlinien und der richtlinienkonformen Auslegung deutschen Rechts vor ihrer Umsetzung s. Hoppe/Wege, Anm. zu ArbG Wuppertal, LAGE Nr. 2a zu § 626 BGB 2002, S. 5, 18 ff.; Thüsing, NJW 2003, 3441; Thüsing/Wege, NZA 2006, 136, 137 ff. 6 EuGH, Rs. C-329/04, EuZW 2005, 444, in Bezug auf die RL 2000/43/EG. 7 Entwurf vom 29.11.2001, abgedruckt in DB 2002, 470. 8 Adomeit, NJW 2002, 1622; J. Braun, JuS 2002, 424; Mahlmann, ZEuS 2002, 407; Neuner, JZ 2003, 57; Picker, JZ 2003, 540; Reichold, JZ 2004, 384, 389 ff.; Säcker, ZRP 2002, 286; Wiedemann/Thüsing, DB 2002, 463.
II. Ein neues (Anti-)Diskriminierungsrecht
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b) Der Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes vom Mai 2004 Auch ein zweiter Versuch scheiterte. Die Projektgruppe zur Umsetzung der EG-Richtlinien im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erarbeitete im Mai 2004 einen Diskussionsentwurf9, der eine Aufteilung der diskriminierungsrechtlichen Regelungen auf verschiedene Gesetze vorsah. Zivilrechtliche Verbote sollten – wie im vorhergehenden Entwurf – im BGB (den §§ 319a ff.) integriert werden (durch Art. 3 ADG-E) und sich allein auf Rasse, ethnische Herkunft und Behinderung beziehen und nur für das letztgenannte Merkmal damit über die europarechtlichen Vorgaben hinausgehen. Für Beschäftigung und Beruf sollte ein eigenes Arbeitsrechtliches Antidiskriminierungsgesetz (AADG-E) geschaffen werden (Art. 2 ADG-E), das – entgegen seinem Titel – nicht nur für das Arbeitsrecht, sondern auch für Soldaten, Richter und Beamte Geltung beanspruchte. Politisch konnte sich der Entwurf jedoch nicht behaupten. Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen bestand einerseits auf einem einheitlichen Gesetz, das sämtliche Regelungen vereint. Andererseits sollte das zivilrechtliche Diskriminierungsverbot sämtliche Merkmale enthalten, wie es bereits im Entwurf von 2001 der Fall gewesen ist. Bei Erlass des AGG hielt man daran fest – auch ohne Beteiligung der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Auf Kritik stieß vor allem die Regelung über immateriellen Schadensersatz im Falle einer Diskriminierung in § 14 Abs. 1 S. 3 AADG-E. Dort hieß es: „Die Höhe der Entschädigung muss geeignet sein, den Arbeitgeber von künftigen Benachteiligungen abzuhalten.“
Mit dieser Regelung wäre der Weg frei gewesen zu einem Strafschadensersatz, wie er dem deutschen Recht bislang fremd war und in den USA (sog. punitive damages) zu fragwürdigen Ergebnissen geführt hat.10 Von dieser Regelung nahm der Gesetzgeber dann auch wieder Abstand.
c) Der Entwurf vom November 2004 Das AGG (hierzu sogleich unter 2) beruht maßgeblich auf dem Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes des koordinierenden Ministeriums für Fami-
______________ 9 s. hierzu Herms/Meinel, DB 2004, 2370, sowie die Beiträge von Thüsing und Wank in der Sonderbeilage der NZA zu Heft 22/2004, S. 3 ff. und 16 ff. 10 Thüsing, ZfA 2001, 397, 413 f.; ders., NZA-Sonderbeilage zu Heft 22/2004, S. 3, 15; s. aber auch Mörsdorf-Schulte, NJW 2006, 1184.
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
lie, Senioren, Frauen und Jugend vom 25.11.2004.11 Jener vereinte sowohl Elemente des ersten als auch des zweiten Entwurfs, seine Umsetzung in deutsches Recht scheiterte aber (zunächst) an der vorgezogenen Bundestagswahl im September 2005. Dabei konnte sich die Fraktion der Bündnis 90/Die Grünen mit ihrer Forderung nach einem einheitlichen Gesetz durchsetzen, das auch im Zivilrecht Unterscheidungen nach sämtlichen Merkmalen pönalisierte. Inhaltlich glichen die Vorschriften eher dem zweiten als dem ersten Entwurf. So existierte eine Tendenzschutzklausel für Kirchen (§ 9 ADG-E) und die Rechtfertigungsmöglichkeiten waren differenzierter. Für Ungleichbehandlungen in Beschäftigung und Beruf aufgrund des Geschlechts wurde das nicht unproblematische12 Unverzichtbarkeitskriterium aus § 611a Abs. 1 S. 2 BGB a.F. zunächst übernommen, nach der Expertenanhörung im Ausschuss des Bundestages für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am 07.03.2005 dann aber dem Rechtfertigungserfordernis der übrigen Merkmale angepasst.
2. Überblick über Inhalt und Systematik des AGG Das AGG vom 14.08.2006,13 in Kraft getreten am 18.08.2006, vereint die einzelnen Diskriminierungsvorschriften in einem Gesetz. Ein allgemeiner Teil geht in Abschnitt 1 voran, der das Ziel des Gesetzes (§ 1 AGG), den Anwendungsbereich (§ 2 AGG) und Begriffsbestimmungen von unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung sowie Belästigung und Anweisung zur Diskriminierung (§ 3 AGG) enthält. So sinnvoll eine solche vorweggenommene allgemeine Regelung grundsätzlich ist, so unübersehbar sind Verständnisschwierigkeiten dieser konkreten Ausgestaltung. Der Anwendungsbereich ist nun einerseits in § 2 AGG allgemein geregelt, für Beschäftigung und Beruf wird er eingeschränkt in § 6 AGG und für das allgemeine Zivilrecht gilt § 19 Abs. 2 AGG, der wiederum auf § 2 AGG Bezug nimmt. Der Verweis auf das Arbeitsrecht in § 19 Abs. 3 des Entwurfs vom November 2004 für „andere zivilrechtliche Sachverhalte im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 4“ wurde nach der Expertenanhörung im Bundestagsausschuss im April 2005 zwar gestrichen, denn dort war er fehl am Platze: Niemand sucht Regelungen für den Anwendungsbereich des arbeitsrechtlichen ______________ 11
BT-Drucks. 15/4538; hierzu Armbrüster, ZRP 2005, 41; S. Braun, ZTR 2005, 5; Thüsing, Ausschuss-Drucks. 15(12)440-C, S. 1 ff. Der Entwurf wurde nach Diskussionen im Bundestag und dessen Ausschüssen nochmals überarbeitet (Fassung vom 08.04.2005). 12 s. hierzu ErfK-Schlachter, § 611a BGB Rn. 22. 13 BGBl. I, S. 1897; s. hierzu den Regierungsentwurf BT-Drucks. 16/1780.
II. Ein neues (Anti-)Diskriminierungsrecht
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Benachteiligungsverbots (Abschnitt 2) im zivilrechtlichen Teil des Gesetzes (Abschnitt 3). Dennoch ist die vorgezogene Regelung in § 2 AGG, die sowohl für den zweiten als auch den dritten Abschnitt des Gesetzes gelten soll, verwirrend, betreffen doch die in Abs. 1 Nr. 1 bis 4 geregelten Sachverhalte allein den Bereich von Beschäftigung und Beruf, die in Nr. 5 bis 8 normierten dagegen allein den allgemein-privatrechtlichen. Dann sollten sie systematisch auch dort untergebracht werden. Zumindest hätte ihre unterschiedliche Bedeutung in § 2 AGG hervorgehoben werden müssen. Hier wurde zu Lasten der Systematik die Regelung in Art. 3 Abs. 1 RL 2000/43/EG übernommen. 14 Dem allgemeinen Teil des AGG folgt in Abschnitt 2 der beschäftigungsrechtliche. Der persönliche Anwendungsbereich wurde beibehalten und in § 6 AGG normiert, dem das allgemeine Benachteiligungsverbot in § 7 Abs. 1 folgt. § 7 Abs. 2 bestimmt nun ausdrücklich, dass diskriminierende Vereinbarungen unwirksam sind15. Auf den Schutz des AGG kann der Beschäftigte auch nicht verzichten (§ 31 AGG). § 7 Abs. 3 AGG regelt – wie bereits der vorherige Entwurf –, dass eine Benachteiligung eine Verletzung vertraglicher Pflichten darstellt. Die skizzierten Rechtfertigungsmöglichkeiten enthalten die §§ 8 bis 10 AGG, darin findet sich die Tendenzschutzklausel und eine zusätzliche Rechtfertigungsnorm für Altersdiskriminierungen. Der frühere § 611b BGB (Gebot geschlechtsneutraler Stellenausschreibungen) wurde in § 11 AGG integriert und bezieht sich somit nicht nur auf das Merkmal des Geschlechts, sondern auf sämtliche verpönten Merkmale. § 12 AGG regelt Maßnahmen und Pflichten des Arbeitgebers, insbesondere auch die, die notwendig sind, wenn Benachteiligungen von Kollegen oder Dritten (Kunden, Lieferanten etc.) ausgehen. Da sich Abs. 1 in generalklauselartigen Formulierungen erschöpft, wurde Abs. 2 eingefügt. Die Rechte der Beschäftigen sind in den §§ 13 ff. AGG zusammengefasst. Schadensersatzansprüche erstrecken sich sowohl auf materielle (§ 15 Abs. 1 AGG) als auch auf immaterielle Schäden (§ 15 Abs. 2 und 3 AGG). Die umstrittene Haftung im Falle von Benachteiligungen durch Dritte, wie sie noch § 16 des Entwurfs vom November 2004 vorsah, wurde nach der Expertenanhörung im Bundestagsausschuss gestrichen. Schwierigkeiten der neuen Regelungen offenbaren sich allerdings bereits jetzt (s. Kap. 5 I.3 und Kap. 6 VI.5.a)). Einen Anspruch auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses schließt § 15 Abs. 6 AGG ausdrücklich aus. Dies entspricht der bisherigen Rechtslage,16 auch im Hinblick auf § 611a Abs. 2 S. 2 BGB a.F. Gleiches gilt für das allge______________ 14
Ausführlicher zum Anwendungsbereich des AGG Abschnitt VI.2. Vgl. Art. 16 lit. b RL 2000/78/EG und Art. 14 lit. b RL 2000/43/EG. 16 s. bereits Kap. 3 I.2 und Kap. 5 I.3 sowie Hoppe/Wege, Anm. zu ArbG Wuppertal, LAGE Nr. 2a zu § 626 BGB 2002, S. 5, 10 ff. 15
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
meine Zivilrecht. Während § 21 Abs. 2 ADG-E vom November 2004 noch einen Kontrahierungszwang vorsah, wenn ohne Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot ein Vertragsschluss erfolgt wäre, fehlt eine entsprechende Regelung im AGG17. Die zivilrechtlichen Vorschriften sind in Abschnitt 3, den §§ 19 ff. AGG enthalten. Nach vorübergehendem Zögern kam es dann doch zu einer Regelung, die auch im allgemeinen Zivilrecht Diskriminierungen wegen sämtlicher in den RL 2000/43/EG und 2000/78/EG genannten Merkmale verbietet. Entscheidend für die Praxis werden das Verständnis der sog. Massengeschäfte (§ 19 AGG) und die Reichweite der Ausnahmebestimmungen in § 20 AGG sein. Abschnitt 4 des AGG enthält Regelungen über die Beweislast und die Unterstützung durch Antidiskriminierungsverbände, Abschnitt 5 Sonderregelungen für den öffentlichen Dienst, die im Entwurf vom Mai 2004 noch in den Vorschriften über den Anwendungsbereich integriert waren. Der frühere Art. 1 ADG-E, der sich auf die Antidiskriminierungsstelle des Bundes bezieht, wurde zu Abschnitt 6 des AGG. § 31 AGG statuiert die Unabdingbarkeit der gesetzlichen Vorschriften zuungunsten der geschützten Personen.
3. Historische Vorläufer im internationalen Recht Der Prozess in Deutschland und Europa fügt sich ein in eine weltweite politische Entwicklung. Eine Reihe von völkerrechtlichen Übereinkommen, die von Deutschland ratifiziert wurden, verbieten Diskriminierungen aufgrund ähnlicher Merkmale wie sie das AGG nennt.18 In Bezug auf religiöse Diskriminierungen ist vor allem die Erklärung der Vereinten Nationen über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion oder der Überzeugung vom 25.11.1981 zu nennen. Prägend für die internationale und europäische Entwicklung war das USamerikanische Recht, das seit langem Diskriminierungsverbote kennt. Bereits 1964 trat der Civil Rights Act in Kraft, der in Title VII Diskriminierungen wegen race, color, religion, sex or national origin verbietet. 1967 folgte der Age Discrimination in Employment Act mit differenzierenden Regelungen über ______________ 17 Ein Kontrahierungszwang stößt angesichts der europarechtlich und von Art. 2 Abs. 1 GG garantierten Privatautonomie auch auf erhebliche Bedenken; s. hierzu Armbrüster, ZRP 2005, 41, 43; zust. C. Wagner, ZRP 2005, 136 f.; deutliche, eher rechtspolitische Kritik an der Statuierung eines Kontrahierungszwangs übt Picker in: Karlsruher Forum 2004, S. 7, 63 ff.; eine gekürzte Fassung dieses Beitrags findet sich in ZfA 2005, 167. 18 Die wichtigsten internationalen Übereinkommen werden in Erwägungsgrund Nr. 3 der RL 2000/43/EG und Nr. 4 der RL 2000/78/EG genannt.
II. Ein neues (Anti-)Diskriminierungsrecht
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die Benachteiligung von Arbeitnehmern wegen des Alters und der Americans with Disabilities Act zur Förderung der Integration behinderter Menschen.19 Zwar ist das amerikanische Diskriminierungsrecht mit den europäischen Regelungen nicht vergleichbar, denn es übernimmt Aufgaben, die hierzulande andere gesetzestechnische Mittel ausfüllen, in Deutschland etwa der Kündigungsschutz. Wer in den USA gegen eine Kündigung vorgehen will, beruft sich auf eine nicht zu rechtfertigende Benachteiligung, in Deutschland stützt sich der Arbeitnehmer auf eine falsche Sozialauswahl. Allerdings ist nicht zu leugnen, dass die US-amerikanische Entwicklung als Vorbild für die europäische Gesetzgebung diente. So stammt etwa die Einbeziehung des Belästigungsschutzes ins Diskriminierungsrecht20 aus dem angloamerikanischen Recht. Anhaltspunkte für die Auslegung des europäischen und deutschen Rechts lassen sich dem amerikanischen Recht vor allem hinsichtlich der Reichweite des Diskriminierungsschutzes entnehmen. Für die Frage, ob eine Diskriminierung zwangsläufig eine Ungleichbehandlung voraussetzt und wie diese beschaffen sein muss, soll deshalb auch ein Blick über den großen Teich geworfen werden.21
4. Die europäische Rechtsentwicklung Die deutschen Diskriminierungsverbote haben ihre Grundlage im europäischen Recht. So stark die Europäische Gemeinschaft einerseits die Freiheit des Wettbewerbs fördert, so stark reglementiert sie andererseits die Ausübung der Vertragsfreiheit durch diskriminierungsrechtliche Normen.22 Deutschland setzt diese z.T. nur unzureichend um, wie etwa das Verbot der Diskriminierung Behinderter durch § 81 Abs. 2 SGB IX a.F.23 Häufig wird die Umsetzungsfrist ______________ 19
Vom 26.07.1990, in Kraft getreten am 26.07.1992. Vgl. § 3 Abs. 3 und 4 AGG sowie jeweils Art. 2 Abs. 3 der RL 2000/43/EG und 2000/78/EG; s. hierzu die Kritik von Wiedemann/Thüsing, DB 2002, 463, 466 sowie Abschnitt VI.3.c)cc). 21 s. Abschnitt. IV.3.d). 22 s. Adomeit, NJW 2002, 1622 f.; zur gesellschaftspolitischen Bedeutung der RL s. Wendeling-Schröder, NZA 2004, 1320 ff. 23 Zum einen gelten § 81 Abs. 2 und Abs. 4 SGB IX nur für Schwerbehinderte iSv § 2 Abs. 2 und 3 SGB IX, die Richtlinie aber für Behinderte im Allgemeinen und damit auch für diejenigen, deren Behinderung nicht den in § 2 SGB IX genannten Grad erreicht (s. hierzu Thüsing/Wege, FA 2003, 296 f.; s. nun auch EuGH, Rs. C-13/05, NZA 2006, 839, 840, Rn. 43: „[D]er Begriff ‚Behinderung‘ [ist] so zu verstehen, dass er eine Einschränkung erfasst, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist und die ein Hindernis für die Teilhabe des Betreffenden am Berufsleben bildet.“). Zum anderen fordert Art. 5 RL 2000/78/EG auch und gerade Maßnahmen, die die Einstellung von Behinderten erst ermöglichen, wohingegen die deutsche Regelung nur auf bereits Beschäftigte Anwendung findet (Thüsing/Wege, NZA 2006, 136). 20
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
überschritten, wie bei den RL 2000/43/EG und 2000/78/EG, teilweise geht der deutsche Gesetzgeber aber auch über die europarechtlichen Vorgaben hinaus, wie mit § 612a BGB24 und nun mit dem AGG. Bereits das europäische Primärrecht ist gespickt mit Diskriminierungsverboten. Einige haben unmittelbare Wirkung wie das Verbot der Benachteiligung aufgrund der Staatsangehörigkeit in Art. 12 EG und die zumindest ursprünglich auch als Diskriminierungsverbote konzipierten Grundfreiheiten. Dogmatische Muster wie etwa die Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung wurden später auch auf andere Diskriminierungsverbote übertragen und finden sich mittlerweile in den Normtexten der einzelnen Richtlinien wieder (s. die jeweiligen Art. 2 Abs. 2 der RL 2000/43/EG, 2000/78/EG und 2002/73/EG). Erster Umsetzungsbedarf kam auf die Mitgliedstaaten durch das Geschlechtergleichbehandlungsgebot zu, das in Art. 141 EG bereits primärrechtlich fundiert und in zahlreichen Richtlinien konkretisiert wurde (RL 75/117/EWG, RL 76/207/EWG, RL 97/80/EG und RL 2002/73/EG). Neben diesen Diskriminierungsverboten aufgrund persönlicher Merkmale, zu denen auch die RL 2000/43/EG und 2000/78/EG gehören, traten Benachteiligungsverbote für besondere Arbeitsverhältnisse wie z.B. die Richtlinien zur Teilzeit (RL 97/81/EG) und zur Befristung von Arbeitsverhältnissen (RL 99/70/EG), die Diskriminierungen von Teilzeit- und befristet Beschäftigten verbieten und in Deutschland in § 4 Abs. 1 und 2 TzBfG ihren Niederschlag gefunden haben.
5. Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Mangold/Helm Frühzeitig stellte der EuGH fest, dass Gleichbehandlung eines der Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts sei25 und entwickelte einen allgemeinen Gleichheitssatz durch Richterrecht, den er in ständiger Rechtsprechung bestätigte.26 In seiner Entscheidung in der Rechtssache Mangold/Helm27 hat der EuGH jüngst eine Verbindung zwischen den Antidiskriminierungsrichtlinien und dem allgemeinen europäischen Gleichheitssatz gezogen, die zu einigen Kontroversen Anlass gab. Der Gerichtshof maß § 14 Abs. 3 TzBfG, der den Abschluss befristeter Arbeitsverträge mit älteren Beschäftigten ab dem vollen______________ 24
Hierzu Kap. 5 III.4. EuGH, Rs. 1/72 (Frilli), Slg. 1972, 457, Rn. 19. 26 Grdl. EuGH, verb. Rs 117/76 und 16/77 (Ruckdeschel), Slg. 1977, 17530, Rn. 7; s. aus jüngerer Zeit nur EuGH, Rs. C-320/00 (Lawrence u.a.), Slg. 2002, I-7325, 7352, Rn. 12. 27 EuGH, Rs. C-144/04, NJW 2005, 3695. Der Entscheidung lag allerdings ein Prozess vor dem ArbG München zugrunde, der offensichtlich allein deshalb initiiert wurde, um § 14 Abs. 3 TzBfG durch den EuGH überprüfen zu lassen; s. hierzu Bauer, NZA 2005, 800. 25
II. Ein neues (Anti-)Diskriminierungsrecht
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deten 52. Lebensjahr gestattet, (vor allem) an der RL 2000/78/EG und stellte seine Europarechtswidrigkeit fest. Hieran mag man Kritik üben, dogmatisch ist die Entscheidung in dieser Hinsicht keine große Überraschung. Darüber hinaus stellte der EuGH allerdings unter Zuhilfenahme des allgemeinen Gleichheitssatzes die Unanwendbarkeit des § 14 Abs. 3 TzBfG fest.28 Die Diskriminierungsvorschriften der RL 2000/78/EG hätten ihren „Ursprung in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen und den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten“. Das Verbot der Altersdiskriminierung sei deshalb ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts und daraus folge, dass die nationalen Gerichte die europarechtswidrige Norm nicht anwenden dürften.29 Das BAG hat darauf hin sogar einen Schutz des Vertrauens in die bestehende nationale Rechtslage abgelehnt.30 Auch wenn der EuGH deutlich den deutschen Gesetzgeber und nicht den Arbeitgeber rügt, der den Arbeitsvertrag in unzulässiger Weise befristet hat, so betrifft das Urteil doch unmittelbar die Arbeitsvertragsparteien, denn die Unanwendbarkeit des § 14 Abs. 3 TzBfG führt zur Unzulässigkeit der Befristung und damit zu einem unbefristeten Arbeitsvertrag. Das war nicht zu erwarten, ging man doch bis dato überwiegend davon aus, dass Richtlinien gerade keine horizontale Drittwirkung entfalten und allein eine richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts mittelbar zu einer Geltung der Richtlinienbestimmungen führen könne.31 In Bezug auf die Antidiskriminierungsrichtlinien könnte man nun befürchten, der EuGH werde in Zukunft stets dort auf den allgemeinen europäischen Gleichheitssatz zurückgreifen, wo die Richtlinien ihm nicht weit genug reichen und sich so zum (Ersatz-)Gesetzgeber aufschwingen. Damit würde Art. 13 EG samt der sich auf ihn gründenden Richtlinien und den nationalen Umsetzungsgesetzen weitgehend überflüssig. Für solche Bedenken ist es allerdings zu früh. Dem EuGH ging es in erster Linie darum, der RL 2000/78/EG in Bezug auf die Altersdiskriminierung zur effektiven Geltung zu verhelfen, ohne sich dabei für oder gegen eine generelle unmittelbare Geltung von Richtlinien auszusprechen. Zwischen den Richtern und Generalanwälten des EuGH herrscht hierüber seit jeher Streit, dem der ______________ 28
EuGH, Rs. C-144/04, NJW 2005, 3695, 3698, Rn. 74 ff. Davon hatte Generalanwalt Tizzano in seinen Schlussanträgen noch ausdrücklich abgeraten (Rn. 106 ff.). 29 Zu Recht wurde an der Begründung des EuGH, die nicht mehr ist als eine bloße Behauptung, Kritik geübt; s. insbes. Preis, NZA 2006, 401, 406 ff.; Reich, EuZW 2006, 20, 21; Richter/Bouchouaf, NVwZ 2006, 538, 539 f.; Körner, NZA 2005, 1395, 1396 ff.; Strybny, BB 2005, 2753, 2754; Thüsing, ZIP 2005, 2149; zu den Folgen für das deutsche Arbeitsrecht Annuß, BB 2006, 325. 30 BAG, BB 2006, 1858. 31 Zur richtlinienkonformen Auslegung s. die weiterführenden Hinweise in Fn. 5.
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
EuGH abermals32 ausgewichen ist.33 Besonders gelungen scheint die Heranziehung des allgemeinen europäischen Gleichheitssatzes dabei zwar nicht. Hieraus abzuleiten, die Antidiskriminierungsrichtlinien gälten generell auch zwischen Privaten oder sie seien gar gänzlich überflüssig, ginge jedoch zu weit.34 Auch eine richterrechtlich entwickelte europäische Verfassung, mit Hilfe derer der EuGH sämtliche unliebsamen Regelungen kassiert, steht nicht in Aussicht. Zudem bleiben allein der europäische Gesetzgeber und der nationale Gesetzgeber, soweit er europäisches Recht umsetzt, an den allgemeinen europäischen Gleichheitssatz gebunden, nicht der private Arbeitgeber.35 Insoweit bleibt es bei den Regelungen der Richtlinien. Befürchtungen, die Richtlinien seien jetzt nicht mehr das diskriminierungsrechtliche Maß, sondern alle Arbeitgeber seien kraft ungeschriebenen Rechts an die Diskriminierungsverbote gebunden, sind unbegründet.
III. Das Verhältnis des Antidiskriminierungsrechts zum arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz Im Folgenden wird das wichtigste Schutzinstrument im Kampf gegen Diskriminierungen, der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz, dem AGG gegenüber gestellt.36 Inhaltlich wird der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz durch § 75 Abs. 1 S. 1 BetrVG und § 67 Abs. 1 S. 1 BPersVG mitbestimmt, so dass auch eine Ungleichbehandlung aus Gründen der Religion oder der Weltanschauung verboten ist.37
______________ 32 Zuletzt hat der EuGH auch im Verfahren Pfeiffer, Rs. C-397/01 u.a., NZA 2004, 1145, eine Festlegung in dieser Frage vermieden, indem er auf die Möglichkeit der richtlinienkonformen Reduktion hinwies; s. hierzu Thüsing, ZIP 2004, 3201. 33 s. C. Herrmann, EuZW 2006, 69, 70 in Erwiderung zu Gas, EuZW 2005, 737. 34 Vgl. die Einschätzungen von C. Herrmann, EuZW 2006, 69, 70; Thüsing, ZIP 2005, 2149 ff.; tendentiell anders Abele, BB-Editorial zu Heft 51 und 52/05 („In der Konsequenz bedeutet diese Konstruktion, dass der EuGH EU-weit zur Superrevisionsinstanz in allen arbeitsrechtlichen Diskriminierungsstreitigkeiten wird.“); Bauer/Arnold, NJW 2006, 6, 9 f.; Koenigs, DB 2006, 49 f.; Nicolai, DB 2005, 2641 f.; Preis, NZA 2006, 401, 402 ff. 35 s. Thüsing/Wege, NZA 2006, 136, 138 mwN. In der Entscheidung Adeneler hat der EuGH jüngst bestätigt, dass Richtlinien keine unmittelbare Wirkung zwischen Privaten entfalten (EuGH, Rs. C-212/04, NJW 2006, 2465, 2467 f., insbes. Rn. 113). 36 s. hierzu auch Waas, ZIP 2000, 2151, 2154 f. 37 ErfK-Preis, § 611 BGB Rn. 713 und 732.
III. AGG und arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
211
1. Ein kollektiver Tatbestand als Voraussetzung Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz fußt – jedenfalls unter anderem auch – auf dem rechtsphilosophischen und gesellschaftspolitischen Ideal der Gerechtigkeit.38 Die Arbeitnehmer, die vergleichbare Aufgaben und ähnliche Qualifikationen haben und die zu vergleichbaren Arbeitsbedingungen beschäftigt sind, sollen auch gleiche Vorteile genießen. Der Arbeitgeber darf deshalb Einzelne bei der Vergabe von Leistungen nach einem bestimmten, generalisierenden Prinzip nicht schlechter stellen als den Rest der Belegschaft.39 Der Gleichbehandlungsgrundsatz geht mit diesem Erfordernis eines kollektiven Tatbestands eher in Richtung eines Benachteiligungsverbotes als eines Gleichbehandlungsgebots.40 Erfasst werden dementsprechend vor allem freiwillige Leistungen des Arbeitnehmers, aber auch die Anordnung von Mehrarbeit41 oder die Anwendung bzw. Nichtanwendung tariflicher Regelungen42. Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz gilt insofern grundsätzlich nicht für Kündigungen oder Beförderungen, die stets einzelfallbezogen sind. Er verbietet nicht die Bevorzugung einzelner Arbeitnehmer gegenüber der restlichen Belegschaft.43 Anders das Antidiskriminierungsrecht. Es erfasst auch jene Tatbestände, die keinen kollektiven Charakter haben. Selbst wenn nur ein einzelner Arbeitnehmer von einer Maßnahme betroffen ist, kann hierin eine Benachteiligung iSd §§ 7 Abs. 1, 3 AGG liegen.44 Arbeitnehmer können sich deshalb auch auf die Diskriminierungsvorschriften berufen, wenn ein einzelner Arbeitnehmer befördert wird, weil er Katholik ist, da der Arbeitgeber zu Katholiken regelmäßig großes Vertrauen hat; oder wenn ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer von der Schichtarbeit frei stellt, weil er – wie der Arbeitgeber selbst – homosexuell ist. Erreicht wird dieser erweiterte Schutz vor allem durch die Annahme hypothetischer Vergleichspersonen. Sowohl für eine unmittelbare als auch eine mittelbare Benachteiligung genügt es, dass eine Person gegenüber einer anderen Person benachteiligt würde, wenn denn diese andere Person existierte.45 Dies ist bereits
______________ 38
s. hierzu Kap. 4 IV.2.b)bb) und die dortigen Nachweise in den Fn. 93 ff. St. Rtspr. des BAG, vgl. statt vieler BAG, NZA 1996, 829, 830. 40 G. Hueck, Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung, 1958, S. 60; ErfK-Preis, § 611 BGB Rn. 715. 41 LAG Hessen, NZA-RR 2002, 348. 42 BAG, NZA 1996, 84, 86. 43 BAG, AP Nr. 4 und 5 zu § 242 BGB Gleichbehandlung; G. Hueck, Anm. zu BAG, AP Nr. 4 zu § 242 BGB Gleichbehandlung; Schaub-Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, § 112 Rn. 5. 44 Vgl. Bauer, NJW 2001, 2672, 2674; Berger-Delhey, ZTR 2001, 162, 163. 45 Hierzu Abschnitte VI.3.a)bb), VI.3.b)cc) und VI.3.b)dd). 39
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
durch die europäischen Vorgaben geboten und wurde in § 3 Abs. 1 und 2 AGG aufgenommen.46
2. Keine Anwendung vor Beginn und nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz findet nur im Rahmen eines bestehenden Arbeitsverhältnisses Anwendung und damit weder vor Abschluss des Arbeitsvertrags noch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses. 47 Eine der bedeutendsten Neuerungen durch das AGG wird in dessen Anwendbarkeit bereits in der Phase der Einstellung von Arbeitnehmern liegen.48
3. Reichweite des Gleichbehandlungsgrundsatzes Bis zur Entscheidung des BAG von 1998 galt der Gleichbehandlungsgrundsatz regelmäßig nur betriebs-, nicht unternehmens- oder gar konzernweit. Etwas anderes sollte nur gelten, wenn „über den einen Betrieb hinaus im Arbeitsleben ein enger lebensmäßiger Zusammenhang zwischen den Angehörigen verschiedener Betriebe desselben Unternehmens besteht“.49 Später hat das BAG die Frage ausdrücklich offen gelassen und eine Festlegung vermieden. 50 Das AGG knüpft seine Diskriminierungsverbote hingegen ausdrücklich an den Arbeitgeber als Verpflichteten (§ 6 Abs. 2 AGG) und findet damit unternehmens- und nicht bloß betriebsweit Anwendung. In seinen Urteilen vom 26.05.199851 und 17.11.199852 machte der Erste Senat des BAG allerdings deutlich, dass er eine Ausweitung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes auf die Unternehmensebene befürwortet. Wenn das BAG diese Tendenz weiter verfolgt, besteht insofern zwischen den Geltungsbereichen des AGG und des Gleichbehandlungsgrundsatzes kein Unterschied.
______________ 46
Vgl. jeweils Art. 2 Abs. 2 lit. a und b der RL 2000/43/EG und 2000/78/EG. G. Hueck, Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung, 1958, S. 234; ErfK-Preis, § 611 BGB Rn. 718; Schaub-Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, § 112 Rn. 20; das BAG bezieht allerdings auch Ruhestandsverhältnisse in den Anwendungsbereich ein (BAG, NJW 1975, 78). 48 Hierzu Kap. 7 I. 49 BAG, AP Nr. 117 zu § 1 TVG Auslegung, unter IV. 2. der Gründe. 50 BAG, NZA 1995, 1063; BAG, AP Nr. 54 zu § 242 BGB Gleichbehandlung, unter II.1. b. der Gründe. 51 BAG, NZA 1998, 1292, 1294. 52 BAG, NZA 1999, 606, 608 f. 47
III. AGG und arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
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4. Verzichtbarkeit auf den Schutz vor Diskriminierungen Grundsätzlich kann auf den Schutz durch den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz nach der Rechtsprechung53 und einem Großteil der Literatur54 verzichtet werden, sofern nicht Rechtsnormen dies untersagen. Hierzu zählen z.B. Art. 9 Abs. 3 GG und § 611a BGB a.F., aber auch § 75 BetrVG, § 67 BPersVG und Art. 3 Abs. 3 GG,55 so dass eine Ungleichbehandlung aufgrund der dort genannten Merkmale nicht durch einen Verzicht des Arbeitnehmers zulässig wird. Insofern ergeben sich durch das AGG keine Änderungen, denn alle in den RL 2000/43/EG und 2000/78/EG genannten Merkmale finden sich entweder in § 75 Abs. 1 S. 1 BetrVG (bzw. § 67 Abs. 1 S. 1 BPersVG) oder in Art. 3 Abs. 3 GG oder in beiden Vorschriften. Auf den Schutz des AGG kann der Arbeitnehmer aufgrund der ausdrücklichen Regelung in § 31 AGG ebenfalls nicht verzichten.
5. Zusammenfassung Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz hat einen gegenüber dem AGG recht begrenzten Anwendungsbereich. Insbesondere bindet er den Arbeitgeber in der Phase der Vertragsanbahnung nicht, so dass ein Schutz vor willkürlichen Einstellungen erst durch die RL 2000/43/EG und 2000/78/EG geschaffen wurde. Das AGG schützt darüber hinaus auch den Einzelnen und erfordert keinen kollektiven Tatbestand wie ihn der Gleichbehandlungsgrundsatz voraussetzt. Gegenüber dem von den Richtlinien geforderten Diskriminierungsrecht hat der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz in einer Hinsicht allerdings auch einen weitreichenderen Anwendungsbereich, wenn für eine Benachteiligung iSd § 3 Abs. 1 und 2 AGG zwingend eine Ungleichbehandlung vorausgesetzt wird. Der Gleichbehandlungsgrundsatz verbietet sowohl die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung von Gleichem als auch umgekehrt die Gleichbehandlung von Ungleichem.56 Ob das neue Recht tatsächlich auch vor letztgenannter Alternative schützt, ist Gegenstand der folgenden Erörterung.
______________ 53
Vgl. BAG, AP Nr. 30 und 32 zu § 242 BGB Gleichbehandlung. s. nur ErfK-Preis, § 611 BGB Rn. 717; Schaub-Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, § 112 Rn. 25 mwN. 55 Schaub-Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, § 112 Rn. 25. 56 G. Hueck, Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung, 1958, S. 106. 54
214
Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung? Chancengleichheit besteht nicht darin, dass jeder einen Apfel pflücken darf, sondern dass der Zwerg eine Leiter bekommt. Reinhard Turre57
Für Behinderte liegt es in der Tat auf der Hand, dass ihnen formelle Gleichheit nichts nützt, sie bedürfen materieller Gleichheit, d.h. sie müssen gerade anders behandelt werden als Nicht-Behinderte. Aber gilt das auch für die übrigen in § 1 AGG genannten Merkmale, insbesondere für das der Religion? Die Frage ist grundsätzlicher Natur und wegweisend für die Reichweite des Diskriminierungsrechts. Erfasst dieses neben dem Verbot, Gleiches ungleich zu behandeln auch das Verbot, Ungleiches gleich zu behandeln? M.a.W.: Kann eine Regelung, etwa ein Ge- oder Verbot eines Arbeitgebers, auch dann benachteiligen, wenn sie selbst zwar alle Adressaten gleich behandelt, sich diese Maßnahme aber im Ergebnis unterschiedlich auswirkt?
1. Fragestellung Zur Verdeutlichung der Problematik sei ein Beispiel gebildet, das sich an die sog. Kopftuch-Entscheidung des BAG anlehnt:58 Ein Unternehmer führt ein Kaufhaus und ordnet mit Zustimmung des Betriebsrats für die gesamte Belegschaft an, dass während der Arbeitszeit keiner der Mitarbeiter eine Kopfbedeckung tragen darf. Dies widerspräche dem Image des Hauses. Kurz danach kehrt eine Verkäuferin aus ihrem Mutterschaftsurlaub zurück und ist empört. Sie ist während ihrer Elternzeit zum islamischen Glauben übergetreten und besteht auch in ihrer Arbeitszeit auf den Hijab. Nachdem sie sich weigert das Tuch abzulegen, wird ihr gekündigt.
Die Vermutung liegt nahe, dass ein solcher Fall geradezu ein Paradebeispiel einer religiösen Diskriminierung darstellt, die das europäische Diskriminierungsrecht verhindern will und die nach § 7 Abs. 1 AGG unzulässig ist. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass das neue Recht nicht nur Ungleichbehandlungen, sondern auch Gleichbehandlungen verbietet, die sich auf Vertreter verschiedener Religionen unterschiedlich auswirken; denn der Arbeitgeber, der Kopfbedeckungen jeglicher Art verbietet, behandelt alle Mitarbeiter (formal) gleich. Die Regelung wirkt sich aber auf Frauen verschiedener Religionen unterschiedlich aus: Während Christinnen von ihr weitgehend unbehelligt blei______________ 57 58
Frankfurter Rundschau v. 18.10.1997, Rubrik „Aufgespiesst“, S. 2. BAG, NZA 2003, 483; bestätigt durch BVerfG, NJW 2003, 2815; s. hierzu Kap. 3 II.1.a).
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung?
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ben, geraten Muslima in Bedrängnis, wenn sie aus religiösen Gründen den Hijab tragen. Der Arbeitgeber diskriminiert hier nur dann wegen der Religion, wenn reine Wirkungsunterschiede einer formal unterschiedslosen Maßnahme ausreichen, um eine Benachteiligung zu begründen. Ob dem so ist, ist eine Frage der Auslegung des jeweiligen Diskriminierungsverbots. Sie lässt sich nicht allgemein beantworten.59 Für das Prinzip der Lohngerechtigkeit (vgl. Art. 141 Abs. 1 EG) ist bspw. anerkannt, dass der Arbeitgeber keinem Gebot zur Ungleichbehandlung unterliegt.60
In den ersten Stellungnahmen des deutschen Schrifttums regt sich hiergegen Widerstand.61 Diesen Bedenken soll im Folgenden auch mit einem Blick auf die bisherigen europäischen Diskriminierungsverbote sowie das US-amerikanische Recht nachgegangen werden (unter 3), bevor versucht wird, ein eigenes Konzept zu entwickeln (s. 4 und 5). Hierfür ist zunächst eine grundsätzliche Klarstellung der verwendeten Begriffe notwendig (sogleich unter 2). Von Bedeutung ist diese Frage für das gesamte Antidiskriminierungsrecht, vor allem aber für Benachteiligungen wegen der Religion. Zahlreiche religiöse Konflikte im Arbeitsleben beruhen auf einer Gleich- und nicht auf einer Ungleichbehandlung. Wenn der Arbeitgeber sämtlichen Arbeitnehmern – unter ihnen auch Muslimen – verbietet, die Arbeit zwischenzeitlich niederzulegen, behandelt er (formal) alle gleich. Besonders hart trifft die Verweigerung zwischenzeitlicher Pausen aber muslimische Arbeitnehmer, die sich zu mehreren Gebeten am Tag verpflichtet fühlen. Ähnlich ist es, wenn alle Apothekenmitarbeiter – und unter ihnen die strenge Katholikin – Verhütungsmittel verkaufen sollen, alle Orchestermusiker an der (blasphemischen) Operninszenierung mitzuwirken haben oder alle Bewerber um einen Arbeitsplatz samstags zum Vorstellungsgespräch gebeten werden, obwohl der eine Siebenten-Tags-Adventist dies vehement ablehnt.62 Die Problematik stellte sich bei den bisherigen Diskriminierungsverboten kaum, denn entweder ging es um Fälle formaler Ungleichbehandlung, etwa ______________ 59
Wiedemann, Gleichbehandlungsgebote, 2001, S. 35. Dies legt Wiedemann (Gleichbehandlungsgebote, 2001, S. 48 f.) unter Bezug auf das Weinberggleichnis Jesu (Mt. 20, 1) besonders anschaulich dar. 61 Plötscher, Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 284 f. und 290; Lingscheid, Antidiskriminierung, 2004, S. 47 und 135; Thüsing, ZfA 2001, 397, 399 ff.; ders., NZA 2001, 1061, 1062; ders., NZA-Sonderbeilage zu Heft 22/2004, S. 3, 6 f.; vgl. nunmehr allerdings ders., JZ 2006, 223, 224. Häufig wird ohne weitere Erörterung festgestellt, die Richtlinie erfasse nur Ungleichbehandlungen (so Fuchs/Marhold-Marhold, Europäisches Arbeitsrecht, S. 115; Küttner-Kania, Personalbuch 2005, Diskriminierung Rn. 24; Högenauer, Richtlinien gegen Diskriminierung, 2002, S. 241) oder sie erfasse auch Gleichbehandlungen (so z.B. ausdrücklich für religiöse Diskriminierungen Kummer, Umsetzungsanforderungen, 2003, S. 9). 62 s. hierzu die Darstellung des Fallmaterials in Kap. 3 II. 60
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
wenn Inländer besser gestellt wurden als Mitglieder anderer EU-Länder (Art. 12 EG), oder es existierten besondere Vorschriften zum Schutz von Gruppen, wie sie etwa nun in Art. 5 RL 2000/78/EG für Behinderte zu finden sind. Auch in Bezug auf die Geschlechterdiskriminierung hatten die Gerichte fast ausschließlich (zu Ausnahmen s. 3.b)dd)) über formale Ungleichbehandlungen zu befinden, etwa wenn Schwangere nicht eingestellt oder schlechter behandelt wurden als andere Frauen oder als Männer.
2. Gleichbehandlung und materielle Diskriminierung – eine Klarstellung diskriminierungsrechtlicher Begriffe Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung, formelle und materielle Diskriminierung, intersektionelle, umgekehrte und hypothetische Diskriminierung, sex-plus-Diskriminierung und affirmative action, Gleichbehandlung, Ungleichbehandlung und Gleichstellung – das Diskriminierungsrecht wimmelt von einer Vielzahl von Begriffen, über deren Bedeutung bislang nicht immer Einigkeit herrscht. Was unter einer unmittelbaren und einer mittelbaren Benachteiligung zu verstehen ist, ergibt sich zwar aus § 3 Abs. 1 und 2 AGG, der Begriff der materiellen Diskriminierung ist hingegen nicht genannt und muss von ihnen abgegrenzt werden (hierzu sogleich a)). Häufig verwendet wurde bereits bislang der Terminus der Gleichstellung, der unter b) zur Gleichbehandlung in Beziehung gesetzt wird. Daran schließt sich eine Erklärung sog. positiver (affirmative action, unter c)) und umgekehrter Diskriminierung (d)) an.
a) Unmittelbare, mittelbare und materielle Diskriminierung In Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH definieren die RL 2000/43/EG, 2000/78/EG und 2002/73/EG einheitlich die unmittelbare Diskriminierung als weniger günstige Behandlung, die eine Person eines bestimmten Merkmals gegenüber anderen Personen, die dieses nicht aufweisen, in einer vergleichbaren Situation erfährt. Für eine mittelbare Diskriminierung ist Voraussetzung, dass scheinbar neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die ein verpöntes Merkmal aufweisen, in besonderer Weise benachteiligen können. Beide Formen erfassen jedenfalls die Fälle, in denen der Verpflichtete (z.B. der Arbeitgeber) einige Personen anders behandelt als andere. Knüpft er bei seiner Maßnahme direkt an ein verbotenes Merkmal an, werden also durch sie z.B. alle Schwarzen, Muslime oder Homosexuelle erfasst, liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor. Bezieht sich die Maßnahme nicht ausdrücklich auf ein bestimmtes Merkmal, erfasst sie aber im Ergebnis weit überwiegend Menschen mit einem solchen – wie etwa bei der geringeren
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung?
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Entlohnung von Teilzeitbeschäftigten gegenüber Vollzeitbeschäftigten – kann eine mittelbare Diskriminierung vorliegen. Hiervon zu unterscheiden ist die sog. materielle Diskriminierung. Auch sie erfordert eine Betrachtung der tatsächlichen Auswirkungen einer Maßnahme, allerdings mit einem Unterschied: Hierdurch werden (auch) Fälle der Gleichbehandlung erfasst. Ob eine Diskriminierung vorliegt, wird nicht formell anhand des Anwendungsbereichs der Maßnahme, sondern materiell, anhand ihrer Wirkungen bestimmt. Danach liegt auch dann eine Diskriminierung vor, wenn zwar sämtliche Personen gleich behandelt werden, einige durch die in Rede stehende Maßnahme aber deutlich intensiver betroffen sind als andere.63 Im US-amerikanischen Recht ist dies unter dem Stichwort der substantive equality bekannt.64 In Bezug auf die Diskriminierung Behinderter ist eine Einbeziehung von materieller Diskriminierung notwendig und geltendes Recht.65 Behinderten nutzt es nichts, formell genauso behandelt zu werden wie Nicht-Behinderte, sie brauchen besondere Unterstützungen, um tatsächlich die gleichen Chancen zu haben. Ihr Schutz ist nur effektiv, wenn sie gerade unter anderen, an sie angepassten Bedingungen arbeiten dürfen. Der Satz Reinhard Turres bezieht sich auf einen Zwerg und nicht auf einen Muslim. Das europäische Recht hat das erkannt und in Art. 5 RL 2000/78/EG dann auch so geregelt. Materielle Diskriminierung kann sowohl unmittelbar als auch mittelbar iSv § 3 Abs. 1 und 2 AGG erfolgen. Ein Fall mittelbarer Benachteiligung liegt bspw. vor, wenn der Arbeitgeber (ernsthaft) sämtliche Kopfbedeckungen verbietet. Hier behandelt er alle Arbeitnehmer gleich, besonders hart trifft es allerdings diejenigen, die aus religiösen Gründen den Hijab oder einen Turban66 tragen. Um eine unmittelbare Diskriminierung handelt es sich demgegenüber, wenn der Arbeitgeber alle Arbeitnehmer zur Teilnahme an einem ökumenischen Gottesdienst verpflichtet oder wenn er ihnen aufträgt, während der Arbeit ein Kruzifix um den Hals zu tragen, um dem besonderen, christlichen Image des Hauses gerecht zu werden. Hier behandelt er ebenfalls alle formal gleich und Nicht-Christen sind besonders betroffen (materielle Ungleichheit). Aber die Maßnahme unterscheidet sich von der vorhergehenden dadurch, dass sie selbst bereits Bezug auf das Merkmal der Religion nimmt. Es handelt sich also um eine unmittelbare, materielle Ungleichbehandlung (und damit eine formelle Gleichbehandlung). Sie wird zugegebenermaßen weit seltener vorkommen und ______________ 63
Jacobs, 7 Yale J.L. and Feminism, 137, 151 (1995); Wiedemann, Gleichbehandlungsgebote, 2001, S. 29 und 34 f.; Plötscher, Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 284 f. und 290; z.T. wird der Begriff der materiellen Diskriminierung auch für die hier sog. mittelbare Diskriminierung verwendet, so z.B. Calliess/Ruffert-Epiney, Art. 12 EG Rn. 13 ff. 64 s. Abschnitt IV.3.d). 65 Ausführlicher hierzu unter IV.3.c) und VI.4.b). 66 s. bspw. das Urteil des ArbG Hamburg, AuR 1996, 243, und hierzu Kap. 3 II.1.b).
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
häufig – wie im vorgenannten Beispiel – bereits aus grundrechtlichen Erwägungen unzulässig sein.67
b) Gleichbehandlung und Gleichstellung Die Begriffe Ungleichbehandlung und Gleichbehandlung können jeweils in einem formellen und einem materiellen Sinne verstanden werden und gerade hieran entzündet sich die Diskussion um die sog. materielle Diskriminierung. Das Begriffspaar Gleichbehandlung/Gleichstellung knüpft dagegen an die Unterscheidung zwischen Normanwendungs- und Ergebnisgleichheit an. 68 Bezweckt eine Norm Gleichstellung – und nicht bloß Gleichbehandlung –, soll die benachteiligte Gruppe im Ergebnis die gleichen Vorteile genießen wie die andere. Hierfür wird bewusst eine Gruppe gefördert.69 Gleichstellung ist also eine Form der materiellen Gleichheit (zu den dennoch bestehenden Unterscheiden sogleich).70 Dies hat Fastrich in einem Beitrag in der RdA aus dem Jahre 2000 (S. 65) überzeugend dargelegt. Seine Schlussfolgerung, dass sämtliche besonderen Diskriminierungsverbote Gleichstellungsgebote seien, überzeugt indes nicht. Gleichstellung, also Ergebnisgleichheit, setzt voraus, dass die entsprechende Norm eben auch formelle Gleichbehandlung und nicht nur formelle Ungleichbehandlung verbietet. Wenn Behinderte im Ergebnis die gleichen Chancen haben sollen, dann – das ist einzusehen – muss gerade die Gleichbehandlung mit Nicht-Behinderten verboten werden. Es genügt eben nicht, allen das Recht zuzugestehen, einen Apfel zu pflücken, der Zwerg braucht eine Leiter. Nicht jedes Diskriminierungsverbot geht aber zwangsläufig so weit. Es hängt vielmehr vom Zweck des jeweiligen Verbots ab.71 So kann es sein, dass Art. 12 EG allein die Ungleichbehandlung von Ausländern gegenüber Inländern verbietet, ohne beiden Gruppen im Ergebnis gleiche Chancen eröffnen zu wollen, weil der EU nur daran gelegen ist, dass alle Mitgliedstaaten Ausländer ebenso behandeln wie ihre eigenen Staatsangehörigen, ohne Ausländern einen darüber hinausgehenden Schutz zu Teil werden zu lassen. Art. 12 EG kann, muss aber nicht das Gebot entnommen werden, Ausländer (formell) anders zu behandeln als Inländer, wenn nur dies
______________ 67
s. Kap. 4 VI.3.a). Fastrich, RdA 2000, 65, 67. 69 Wiedemann, Gleichbehandlungsgebote, 2001, S. 40. 70 s. hierzu auch Kocher, RdA 2002, 167, 169. 71 Wiedemann, Gleichbehandlungsgebote, 2001, S. 35. 68
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung?
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Ergebnisgleichheit bewirkt.72 Ob Art. 12 EG nur (formelle) Gleichbehandlung oder auch Gleichstellung fordert, ist Auslegungssache.73
c) Positive Diskriminierung (affirmative action) Gleichstellung kann also sowohl durch Gleich- als auch durch Ungleichbehandlung realisiert werden. Manchmal genügt es, formelle Gleichbehandlung zu gebieten, etwa wenn sowohl In- als auch Ausländer Anspruch auf eine staatliche Zuwendung haben sollen. Bereits formale Gleichbehandlung beider Gruppen führt dazu, dass auch Ausländer in ihren Genuss kommen. Hingegen ist an anderen Stellen – insbesondere bei Behinderten – Gleichstellung, also materielle Gleichheit und damit ein Gebot zur Ungleichbehandlung erforderlich (sog. positive Diskriminierung). Der Zwerg braucht eine Leiter, die NichtZwerge nicht bekommen. Diese Ergebnisgleichheit kann auf zwei verschiedene Arten erreicht werden. Zur Gleichstellung können einerseits bloße unterschiedliche Regelungen genügen, andererseits können aber auch zusätzliche positive Maßnahmen notwendig sein.74 Sie sind im US-amerikanischen Antidiskriminierungsrecht in Bezug auf Behinderte unter dem Stichwort der affirmative action bekannt.75 M.a.W.: Zum Teil kann es genügen, dem Kleinwüchsigen zusätzlich zur Möglichkeit, Äpfel zu pflücken, auch das Recht zuzugestehen, sich eine Leiter mitzubringen. Über formelle Gleichbehandlung (Jeder darf einen Apfel pflücken.) hinaus besteht hier ein Verbot materieller Diskriminierung: Zwerge müssen anders behandelt werden als Nicht-Zwerge; dies ist ein Gebot zur Ungleichbehandlung. Hat der Zwerg keine Leiter und kann er sich auch keine besorgen, ist es zur Verwirklichung von Ergebnisgleichheit (Gleichstellung) notwendig, ihm eine zur Verfügung zu stellen. Hier ist also eine zusätzliche (und meist kostenintensive) Maßnahme des Verpflichteten notwendig. Zur Gleichstellung ist also ein Verbot nicht nur formeller, sondern auch materieller Diskriminierung notwen-
______________ 72
Zu dieser Frage bei Art. 12 EG s. Abschnitt IV.3.b)cc). So i. Erg. in Bezug auf die RL 2000/43/EG und 2000/78/EG auch Thüsing, ZfA 2001, 397, 399 ff.; s. allerdings nunmehr ders., JZ 2006, 223, 224. 74 Vgl. Kocher, RdA 2002, 167, 169. 75 Der Begriff geht zurück auf einen Executive Order von Präsident Kennedy aus dem Jahre 1961; hierzu Brody, 29 Akron L.Rev. 291, 313 ff. (1996); Davis, 107 Dick. L. Rev. 503 (2003); Rutherglen, Employment Discrimination Law, 2001, S. 91 ff.; aus dem deutschen Schrifttum Empt, DÖV 2004, 239; Plötscher, Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 266 f.; Sacksofsky, Grundrecht auf Gleichberechtigung, 1991, S. 207 ff.; Schlachter, Wege zur Gleichberechtigung, 1993, S. 244 ff.; Thüsing, ZfA 2001, 397, 415 ff. 73
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dig. Unter Umständen kann Gleichstellung aber auch erst durch positive Maßnahmen erreicht werden. Solche sieht die RL 2000/78/EG in Art. 5 vor. Behinderte haben danach Ansprüche auf Hilfsmittel, die es ihnen ermöglichen, ihre Arbeit im Ergebnis genauso erbringen zu können, wie ihre nicht-behinderten Kollegen. Der Arbeitgeber muss etwa Rampen für Rollstuhlfahrer, absenkbare Schreibtische oder behindertengerechte Stühle installieren. Dies hat Vorläufer im USamerikanischen Recht, das allerdings affirmative action nicht nur für Behinderte fordert, sondern der Rechtsprechung des Supreme Court zufolge auch in Bezug auf andere verpönte Merkmale wie das der Rasse76 und des Geschlechts77. Das europäische Recht hält sich insofern zurück, in Bezug auf die übrigen Merkmale fehlt eine vergleichbare Regelung (zu Schlussfolgerungen daraus s. Abschnitt 3.c)). Dies mag rechtspolitisch kritisiert werden, ist aber als Entscheidung des europäischen Gesetzgebers hinzunehmen. In Deutschland wird es daher insofern bei der bisherigen Rechtslage bleiben. Fördermaßnahmen zugunsten von Muslimen oder Siebenten-Tags-Adventisten können aus arbeitsvertraglichen Nebenpflichten resultieren, nicht aber aus dem AGG. Dass eine spezielle Förderung darüber hinaus trotzdem zulässig ist, stellt das europäische Recht in Art. 7 Abs. 1 RL 2000/78/EG klar und das AGG übernimmt diese Vorschrift in § 5.
d) Abgrenzung zur sog. umgekehrten Diskriminierung Gleichstellung kann seinerseits zur Diskriminierung derjenigen führen, die dem Diskriminierungsschutz verpflichtet sind. Deshalb hat der EuGH sog. harte Frauenquoten, die Frauen bei der Einstellung, Ernennung oder Beförderung „absolut und unbedingt“ den Vorrang einräumen, für unzulässig gehalten, flexible Quoten hingegen zugelassen.78 Die Frage, ob positive Maßnahmen zugunsten benachteiligter Gruppen notwendig oder zulässig sind, ist deshalb eine Frage der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen.79 Diskriminierungsschutz kann auch überzogen und deshalb kontraproduktiv sein (im angloamerikanischen Recht reserve discrimination genannt).80 ______________ 76
United Steelworkers of America v. Weber, 443 U.S. 193 (1979). Johnson v. Transportation Agency, 480 U.S. 616 (1987). 78 Grdl. EuGH, Rs. C-450/93 (Kalanke), NZA 1995, 1095, 1096, Rn. 22; s. auch EuGH, Rs. C-158/97 (Badeck), NZA 2002, 473, 475 f., Rn. 26 ff. 79 Zu § 5 AGG s. Abschnitt VI.4.b). 80 Davis, 107 Dick. L. Rev. 503 f. (2003); s. auch Wiedemann, Gleichbehandlungsgebote, 2001, S. 43 f. 77
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung?
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Eine andere Konstellation betrifft die sog. umgekehrte Diskriminierung. Die mit diesem Begriff illustrierte Problematik stellte sich insbesondere bei Art. 12 EG und betrifft die Frage, ob auch Inländer von dem Diskriminierungsverbot geschützt werden, d.h. ob auch eine Schlechterstellung von Angehörigen des eigenen Staates gegenüber Ausländern europarechtlich verboten ist.81 In Bezug auf die europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien und das AGG stellt sich das Problem nicht, sie gelten in beide Richtungen. Es werden sowohl Frauen vor Benachteiligungen gegenüber Männern geschützt als auch umgekehrt, auch wenn selbstverständlich Erstgenanntes der Anlass zum Erlass eines Diskriminierungsverbots gewesen ist. Gleiches gilt in Bezug auf die übrigen Merkmale. Für die Religion bedeutet das, dass nicht etwa nur „Minderheitenreligionen“ gegenüber „Mehrheitsreligionen“ geschützt sind, sondern dass überhaupt keine Benachteiligungen aus Gründen der Religion zulässig sind. Diese symmetrische Reichweite des Diskriminierungsschutzes wurde auch im US-amerikanischen Recht für die Rassendiskriminierung frühzeitig klargestellt 82 und später auf das Diskriminierungsverbot wegen der Religion übertragen.83
3. Die Regelungen des AGG und der EG-Richtlinien Inwieweit gebietet nun das Verbot der Diskriminierung wegen der Religion oder Weltanschauung, der Rasse oder ethnischen Herkunft, des Alters, einer Behinderung und der sexuellen Identität neben formeller auch materielle Gleichheit bzw. Gleichstellung? Dieser gerade für religiöse Konflikte bedeutsamen Frage soll im Folgenden mit Blick auf den Wortlaut der Richtlinien und des AGG (sogleich unter a)) sowie weiterer Diskriminierungsverbote (b)) nachgegangen werden. Dabei ist auch eine Betrachtung von Art. 5 RL 2000/78/EG (c)) sowie des US-amerikanischen Diskriminierungsrechts (d)) unumgänglich.
______________ 81 s. hierzu Calliess/Ruffert-Epiney, Art. 12 EG Rn. 24 ff.; Feige, Gleichheitssatz, 1973, S. 48 f.; zur allgemeinen Bedeutung für das Antidiskriminierungsrecht Plötscher, Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 77 ff. 82 McDonald v. Santa Fe Trail Transportation Co., 427 U.S. 273, 280 (1976). 83 Trans World Airlines v. Hardison, 432 U.S. 63, 81.
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
a) Der Wortlaut der Richtlinien und des AGG aa) Diskriminierung und Benachteiligung Diskriminierung geht etymologisch auf das lateinische Verb discriminare zurück, das abtrennen, teilen, unterscheiden bedeutet. Dieses ist einerseits dem Wort discrimen (Trennendes, Unterschied, Abstand), andererseits cernere (scheiden) entlehnt.84 Diese zunächst neutrale Bedeutung wandelte sich im Laufe der Zeit. Im deutschen Sprachgebrauch hat Diskriminierung spätestens seit der Zeit der Nationalsozialisten eine negative Färbung erhalten. Während die Antidiskriminierungsrichtlinien den Begriff der Diskriminierung verwenden, spricht das AGG – wie bereits zuvor § 611a BGB a.F. – von der Benachteiligung.85 Aus dem Wortlaut der Vorschriften lässt sich zweierlei schließen: 1. Beide Begriffe setzen zunächst einen Vergleich voraus. Diskriminiert oder benachteiligt werden kann jemand nur gegenüber einem anderen. 2. Darüber hinaus implizieren sie, dass die eine Vergleichsperson schlechter da steht als die andere. Bei dem Wort Diskriminierung folgt dies nicht aus der etymologischen Betrachtung, sondern dem modernen Bedeutungsgehalt; Benachteiligung trägt bereits das Wort Nachteil in sich. Ob dieser Nachteil durch eine Gleichbehandlung von Ungleichem oder durch eine Ungleichbehandlung von Gleichem ausgelöst wird, lässt sich hieraus alleine aber nicht ableiten. Ebenso wenig lässt sich allein aus dem Begriff Diskriminierung schlussfolgern, auf welcher Ebene eine Differenzierung erfolgt. Verbietet der Arbeitgeber Muslima ein Kopftuch zu tragen, ist bereits in der Maßnahme eine Unterscheidung angelegt; verbietet er generell Kopfbedeckungen jeglicher Art, findet ebenfalls eine Differenzierung statt, allerdings liegt diese nicht bereits in der Behandlung durch den Arbeitgeber, sondern erst in ihren Auswirkungen: Muslima sind von ihr betroffen, andere Arbeitnehmerinnen hingegen nicht. Auch dies ist eine Unterscheidung, die für einzelne Personengruppen Nachteile mit sich bringen kann, aber nicht auf Handlungs-, sondern auf Erfolgsebene. Dass der Begriff der Diskriminierung insoweit neutral ist, belegen auch Rechtsprechung und Schrifttum zu Art. 34 Abs. 2 S. 2 EG. Danach wird jede Diskriminierung zwischen Erzeugern oder Verbrauchern innerhalb der Gemeinschaft ausgeschlossen. Der EuGH folgert hieraus sowohl, dass vergleich______________ 84
Duden, Band 7: Herkunftswörterbuch, Stichwort „diskriminieren“. Die Verfasser des Entwurfs haben den Begriff gewählt, „um deutlich zu machen, dass nicht jede unterschiedliche Behandlung, die mit der Zufügung eines Nachteils verbunden ist, diskriminierenden Charakter hat“ (BT-Drucks. 16/1780, S. 30). Unterschiedliche Behandlungen können eben auch gerechtfertigt sein. 85
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung?
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bare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden dürfen, als auch, dass unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich zu behandeln seien. 86 Obwohl mittlerweile bezweifelt wird, ob tatsächlich letztgenannter Fall dem Anwendungsbereich des Art. 34 Abs. 2 S. 2 EG unterfällt,87 folgen die Kommentare wie selbstverständlich den Urteilen des EuGH.88 Unabhängig davon, ob man Gleichbehandlung letztlich von Art. 34 Abs. 2 S. 2 EG erfasst sieht oder nicht, lässt sich doch konstatieren, dass die Bedeutung des Wortes Diskriminierung es offensichtlich nicht ausschließt, hierunter auch Fälle der Gleichbehandlung zu subsumieren. Weder aus dem Wort Diskriminierung, noch dem der Benachteiligung lassen sich also zwingende Rückschlüsse auf die aufgeworfene Frage ziehen. Es geht im Folgenden nicht um eine – in der Tat unzulässige – Reduktion89 des Anwendungsbereichs der RL 2000/78/EG und des AGG, sondern um die Bestimmung der Reichweite der Diskriminierungsverbote.
bb) Gleichbehandlungsgrundsatz, Ungleichbehandlung und unterschiedliche Behandlung Richtungsweisender könnte der von den Richtlinien verwendete Begriff des Gleichbehandlungsgrundsatzes sein (vgl. die jeweiligen Art. 2 Abs. 1 der RL 2000/43/EG und 2000/78/EG), impliziert er doch bereits den Begriff der Gleichbehandlung. Das gilt nun auch für das AGG, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Allerdings bleibt auch insofern offen, ob sich die gebotene Gleichheit auf die Handlungs- oder die Erfolgsebene bezieht. Der Begriff Gleichbehandlungsgrundsatz erfasst – obwohl er von einer Gleichbehandlung spricht – gerade im deutschen Recht häufig sowohl Ungleich- als auch Gleichbehandlungen. So wird allgemein vom arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz gesprochen, der auch die unterschiedliche Behandlung von Ungleichem seiner Ungleichheit entsprechend gebietet.90 Gleichbehandlungsgrundsatz meint demnach häufig in Wahrheit Gleichheitssatz, ohne allein ein Gebot der Gleichbehandlung zu statuieren. Ernst zu nehmende Zweifel entstehen hingegen bei der Betrachtung der Rechtfertigungsgründe. Die genannten Richtlinien sprechen in ihren jeweiligen ______________ 86
EuGH, Rs. 106/83, Slg. 1984, 4209, Rn. 28. Plötscher, Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 90 ff. mwN. 88 Streinz-Kopp, Art. 34 EGV Rn. 92; Schwarze-Hix, Art. 34 EGV Rn. 71; Calliess/Ruffert-Thiele, Art. 34 EGV Rn. 41. 89 Bultmann, JZ 2004, 1100, 1102. 90 G. Hueck, Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung, 1958, S. 106. 87
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
Art. 4 von „Ungleichbehandlung[en]“, die gerechtfertigt sind, wenn ein bestimmtes Merkmal eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung für die Ausübung der Tätigkeit darstellt. Auch die Fassungen anderer Länder lauten entsprechend, die englische Fassung spricht bspw. von „a difference of treatment“ und die französische von „une différence de traitement“. Das AGG übernimmt dies durch den Terminus der „unterschiedliche[n] Behandlung“ in den §§ 8 bis 10 für die beschäftigungsrechtlichen Diskriminierungsverbote und in § 20 für das allgemeine Zivilrecht.91 Diese Wortwahl wird kaum in einem materiellen Sinne verstanden werden können. Zwar wird der Begriff der Gleichbehandlung wie gezeigt durchaus als Oberbegriff für Gleich- und Ungleichbehandlungen verwendet. Wer hingegen von einer Ungleichbehandlung spricht, meint damit regelmäßig formelle Ungleichheit. Eindeutige Schlussfolgerungen fallen jedoch auch insoweit schwer. Bei der Fassung der Richtlinien hat man sich über materielle Diskriminierungen keine Gedanken gemacht, so dass der Formulierung nicht allzu viel Bedeutung beigemessen werden sollte. Möglicherweise ist sie als Redaktionsversehen einzustufen und weit zu interpretieren. Nimmt man sie hingegen ernst, spricht einiges dafür, generell nur Ungleichbehandlungen vom Diskriminierungsrecht erfasst zu sehen. Es wäre kaum einzusehen, dass allein Ungleichbehandlungen gerechtfertigt werden können, denn gerade Gleichbehandlungen bedürfen einer Rechtfertigung, werden doch traditionell an Ungleichbehandlungen strengere Maßstäbe angelegt als an Gleichbehandlungen.92 Es wäre zwar rechtspolitisch begründbar, ihnen weitreichendere Rechtfertigungsoptionen an die Seite zu stellen, nicht aber geringere. Hiergegen ließe sich allerdings wiederum einwenden, dass anstößige Gleichbehandlungen regelmäßig mittelbar und nur in seltenen Fällen unmittelbar diskriminieren (s. 2.a)). Für mittelbare Benachteiligungen existiert aber eine Rechtfertigungsmöglichkeit auf Tatbestandsebene, die nicht an eine Ungleichbehandlung anknüpft. Die besonderen Rechtfertigungen nach Art. 4 der RL 2000/43/EG und 2000/78/EG bzw. §§ 8 bis 10 und § 20 AGG kommen also überhaupt nicht zur Anwendung, weil es ihrer nicht bedarf. Fälle der Gleichbehandlung könnten insofern – dem Wortlaut der Richtlinien und des AGG zufolge – als mittelbare Diskriminierungen erfasst sein. Diese setzen eine Benachteiligung voraus und benachteiligt kann auch derjenige sein, der wie alle anderen ______________ 91
s. hierzu Abschnitt VI.4.a). Deshalb war auch für Art. 3 Abs. 1 GG eine Regelung im Gespräch, nach der Gleiches zwingend gleich, Ungleiches aber nicht unbedingt ungleich zu behandeln sei. „Das Gesetz muß Gleiches gleich, es kann Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln“, sollte es in Art. 3 Abs. 1 GG heißen (Hervorhebungen durch den Verfasser). S. hierzu v. Doemming/Füsslein/Matz, JöR n.F. 1 (1951), 66, 68. 92
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung?
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vom Anwendungsbereich einer Maßnahme erfasst ist, der ihre Rechtsfolgen aber besonders hart zu spüren bekommt. Der Wortlaut der Richtlinien und des AGG lässt deshalb keinen eindeutigen Schluss zu. Die Verwendung der Begriffe der Ungleichbehandlung bzw. unterschiedlichen Behandlung ist allenfalls ein Tendenzargument gegen Gleichbehandlung als Diskriminierungsform.
cc) Benachteiligung „in besonderer Weise“ – Einbeziehung auch der Fälle der Gleichbehandlung? Eine mittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn eine scheinbar neutrale Maßnahme Personen eines bestimmten Merkmals gegenüber anderen Personen benachteiligen kann (Art. 2 Abs. 1 lit. b RL 2000/78/EG sowie § 3 Abs. 2 AGG). Diese Definition ist derart weit, dass hierunter problemlos auch Fälle der materiellen Diskriminierung subsumiert werden können: Wenn der Zwerg keine Leiter bekommt, ist er dadurch gegenüber anderen benachteiligt. Der Tatbestand der mittelbaren Benachteiligung stellt auf das Ergebnis einer Maßnahme ab; ausreichend ist dabei auch formelle Gleichbehandlung. Der weite Anwendungsbereich der mittelbaren Diskriminierung wird aber durch ein Kriterium eingeschränkt: Es bedarf einer Benachteiligung in besonderer Weise. Zu Recht weist Thüsing darauf hin, dass dieses Tatbestandsmerkmal weder gegen noch für die Einbeziehung von Fällen der Gleichbehandlung spricht.93 An dieser Stelle sei jedoch ein ergänzender Hinweise erlaubt: Dieses Tatbestandsmerkmal hat mit der hier aufgeworfenen Frage überhaupt nichts zu tun. Zur Begründung muss ein wenig ausgeholt werden. Für eine mittelbare Diskriminierung nach der Beweislastrichtlinie 97/80/EG zur Geschlechtergleichbehandlung (Art. 2 Abs. 2) ist es notwendig, dass „dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren einen wesentlich höheren Anteil der Angehörigen eines Geschlechts benachteiligen“. Nunmehr heißt es sowohl in der RL 1979/207/EWG (Art. 2 Abs. 2, nach Änderung durch Art. 1 RL 2002/73/EG) als auch in den RL 2000/43/EG und 2000/78/EG (jeweils Art. 2 Abs. 2 lit. b), dass eine solche vorliegt, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die eines der jeweiligen Merkmale aufweisen, „in besonderer Weise (...) benachteiligen können“. Von statistischen Nachweisen wie bei der Beweislastrichtlinie zur Geschlechtergleichbehandlung wird für die übrigen Diskriminierungsmerkmale nur noch in den Erwägungsgründen der betreffenden Richtlinien gesprochen. Danach kann in den nationalen Rechtsvorschriften „vorgesehen sein, dass mit______________ 93
Thüsing, NZA-Sonderbeilage zu Heft 22/2004, S. 3, 6 f.
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
telbare Diskriminierung mit allen Mitteln, einschließlich statistischer Beweise, festzustellen ist“ (jeweils Erwägungsgrund Nr. 15). Der Unterschied liegt also allein darin begründet, dass für die RL 2000/43/EG und 2000/78/EG keine ausdrückliche Beweislastregel existiert, die statistische Nachweise zulässt, sondern sich dies allein aus den Erwägungen des Richtliniengebers ergibt, die aber selbstverständlich wichtige Auslegungshilfen darstellen. Dieser Unterschied ist auch einzusehen. Ob scheinbar neutrale Maßnahmen letztlich wirklich diskriminierend sind, ist beim Geschlecht häufig am sinnvollsten durch statistische Erhebungen zu ermitteln; denn hier gibt es neben Männern und Frauen keine weiteren Personengruppen, die verglichen werden müssten. Bei Merkmalen hingegen, die eine Vielzahl von Personengruppen bilden, die ineinander übergehen und deren Abgrenzung im Einzelfall schwierig ist, stoßen statistische Nachweise häufig an ihre Grenzen. Deshalb lassen die Richtlinien sowie § 3 AGG neben statistischen Nachweisen nunmehr auch normative Kriterien zu,94 die bereits bisher sowohl vom EuGH95 als auch vom BAG96 verwendet wurden.97 Diese Differenzierung zwischen statistischem und wertendem Nachweis einer mittelbaren Diskriminierung hat indes nichts zu tun mit der Frage, ob grundsätzlich für eine Diskriminierung auch eine Gleichbehandlung mit unterschiedlichen Auswirkungen ausreicht; denn ob auch dann eine Diskriminierung vorliegt, wenn alle Personen formal gleich behandelt werden, hängt von der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Benachteiligung ab. Das zusätzliche Kriterium der Benachteiligung in besonderer Weise stellt eine Eingrenzung der Fälle der Benachteiligung dar. Es genügt danach bspw. eine Abweichung von 1% der Vergleichsgruppen nicht, um eine mittelbare Diskriminierung festzustellen. Das Tatbestandsmerkmal in besonderer Weise vermag aber das der Benachteiligung nicht zu erweitern um die Fälle formaler Gleichbehandlung.
b) Vergleich mit anderen Diskriminierungsverboten Einen Anhaltspunkt dafür, inwieweit nun die RL 2000/43/EG und 2000/78/EG bzw. das AGG Gleichbehandlung ver- bzw. Gleichstellung gebieten, können möglicherweise die bisherigen, bereits bestehenden Diskriminie______________ 94 Zum grundsätzlichen Unterschied Plötscher, Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 56 ff., der zwischen faktischer und normativer Äquivalenz unterscheidet sowie Abschnitt VI.3.b)dd). 95 So im Fall O’Flynn, EuGH, Rs. 237/94, Slg. 1996, I-2617, Rn. 21 f., bzgl. der Diskriminierung von Wanderarbeitnehmern; s. hierzu auch Schiek, NZA 2004, 873, 875. 96 BAG, NJW 1982, 2013, 2015. 97 Hierzu Abschnitt VI.3.b)dd).
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung?
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rungsverbote im deutschen und europäischen Recht liefern. Besteht hier eine einheitliche Dogmatik, liegt es nahe, diese auf die neuen Diskriminierungsvorschriften zu übertragen. Hierzu sollen zunächst die allgemeinen Gleichheitssätze in den Blick genommen werden (hierzu sogleich unter aa)). Daran schließt sich eine Betrachtung der im EG-Vertrag niedergelegten Grundfreiheiten an. Auch sie wurden als Diskriminierungsverbote konzipiert (bb)). Das Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit in Art. 12 EG ist deshalb interessant, weil sich hier bereits im Wortlaut der Norm der Terminus Diskriminierung findet und daher auffallende Parallelen zu Art. 13 EG bestehen (hierzu unter cc)). Darüber hinaus verbietet Art. 12 EG – ebenso wie das anschließend unter dd) zu betrachtende Verbot der Geschlechterdiskriminierung – eine Benachteiligung wegen eines bestimmten persönlichen Merkmals.98
aa) Allgemeine Gleichheitssätze Allgemeine Gleichheitssätze verbieten nicht nur die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung von Menschen, die gleiche Merkmale aufweisen, sondern auch die Gleichbehandlung von Menschen, die aufgrund ihrer Andersartigkeit ungleich hätten behandelt werden müssen. Gleiches darf nicht willkürlich ungleich, Ungleiches aber auch nicht willkürlich gleich behandelt werden. Dies gilt für den vom EuGH entwickelten europäischen Gleichheitssatz99 genauso wie für Art. 3 Abs. 1 GG100. Beim arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz macht die Rechtsprechung eine Ausnahme, indem sie die Besserstellung
______________ 98
Weitere Diskriminierungsverbote wie etwa Art. 75 Abs. 1, Art. 87 Abs. 2 lit. a oder Art. 95 Abs. 6 EG bleiben außer Betracht. Sie erfreuen sich nicht einer ähnlich ausgeprägten Diskussion in Rechtsprechung und Literatur und lassen deshalb über die hier erörterten Diskriminierungsverbote hinaus keine weiteren Schlussfolgerungen zu. 99 s. beispielhaft das Urteil des EuGH in der Sache National Farmers’ Union u.a. (Rs. C354/95, Slg. 1997 I-4559, Rn. 61 ff.): Der Gerichtshof maß Art. 9 der VO Nr. 3887/92 am Diskriminierungsverbot. Die Kläger des Ausgangsverfahrens rügten eine Gleichbehandlung zwischen Inhabern eines Agrarbetriebs, die gutgläubig ihre angegebenen Flächen überschätzten und solchen, die dies grob fahrlässig oder absichtlich taten. Der EuGH entschied, dass Art. 9 der VO insofern allerdings unterschiedliche Sanktionen festlege; während erstgenannte nur dann keine Beihilfen mehr erhielten, wenn sie sich zu ihren Gunsten über 20% verschätzten, verlören letztere jeglichen Anspruch ohne weitere Einschränkung. Insofern liege keine Gleichbehandlung vor, die zu rechtfertigen sei. 100 Teilweise wird dies allerdings selbst beim allgemeinen Gleichheitssatz kritisiert, s. Sachs, NWVBl 1988, 295, 300.
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
Einzelner nicht von ihm erfasst sieht. 101 Diese Erkenntnis hat freilich nur begrenzte Aussagekraft für das neue Antidiskriminierungsrecht, unterscheiden sich doch allgemeine und spezielle Gleichheitssätze grundlegend voneinander.102 Allgemeine Gleichheitssätze sind Grundsätze, die sich – jedenfalls auch – aus Gerechtigkeitserwägungen ergeben, denn gerecht ist vor allem das, was gleiche Bedingungen schafft. Dazu gehört seit Aristoteles neben der Gleichbehandlung von Gleichem auch die Ungleichbehandlung von Ungleichem. 103 Spezielle Gleichbehandlungsverbote sind hingegen sozialpolitisch motiviert. Sie setzen eine Wertung des Gesetzgebers voraus, der den Verpflichteten, z.B. den Arbeitgeber, in Anspruch nimmt, um bestimmte gesellschaftspolitisch motivierte Ziele zu erreichen. Erst durch spezielle Diskriminierungsverbote werden Differenzierungsgründe untersagt, die eigentlich, d.h. ohne die entsprechende gesetzliche Regelung, sachliche Gründe zur Unterscheidung darstellten.104 Das Gebot der Geschlechtergleichbehandlung verbietet bspw. auch die Diskriminierung Schwangerer, obwohl wirtschaftliche Erwägungen – dem allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz zufolge – eigentlich einen sachlichen Grund für die Benachteiligung schwangerer Frauen darstellen.105 Die Differenzierung zwischen allgemeinen und speziellen Gleichheitssätzen bietet jedoch noch keinen Anhaltspunkt dafür, ob auch letztere die Fälle der Gleichbehandlung einschließen.106 Da sie politisch motiviert sind und gesetzgeberisch umgesetzt werden müssen, kann der Gesetzgeber auch bestimmen, wie weit ihr Anwendungsbereich reicht107. Er kann sie auf Gleichbehandlungsfälle erstrecken, muss es aber nicht.
bb) Grundfreiheiten Da das AGG auf europarechtlicher Initiative beruht, ist es sinnvoll, vor allem die europäischen Diskriminierungsverbote in den Blick zu nehmen, um Rückschlüsse auf die Diskriminierungen wegen der in den RL 2000/43/EG und 2000/78/EG genannten Merkmale ziehen zu können. Zu ihnen gehören in vorderster Front die Grundfreiheiten. Sie wurden ursprünglich als Diskriminie______________ 101
BAG, AP Nr. 4 und 5 zu § 242 BGB Gleichbehandlung; BAG, NJW 1982, 2687, 2688; zust. das überwiegende Schrifttum, s. nur Schaub-Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, § 112 Rn. 5; zum Ganzen Wiedemann, RdA 2005, 193, 196 f. 102 Hierzu instruktiv Fastrich, RdA 2000, 65 und Wiedemann, RdA 2005, 193. 103 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, Kap. 6, 1131a. 104 Fastrich, RdA 2000, 65, 67. 105 Fastrich, RdA 2000, 65, 74. 106 s. Abschnitt IV.2.b). 107 Wiedemann, Gleichbehandlungsgebote, 2001, S. 35.
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung?
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rungsverbote konstruiert und sind damit diejenigen, zu denen die umfangreichste Rechtsprechung und Literatur existiert, was sie für die Analyse interessant werden lässt. Entsprechend wurde insbesondere dem Recht auf Freizügigkeit zunächst nur das Verbot entnommen, einen Bürger eines EU-Mitgliedstaates, der in einem anderen Mitgliedstaat Beschäftigung sucht, schlechter zu behandeln als einen Inländer in vergleichbarer Position. Spätestens seit der Bosman-Entscheidung des EuGH108 ist jedoch anerkannt, dass Art. 39 EG neben dem Verbot zur Ungleichbehandlung wegen der Staatsangehörigkeit – insofern ist es lex specialis zu Art. 12 EG109 – ein allgemeines Beschränkungsverbot enthält.110 Der EuGH entschied, dass bestimmte Transferregelungen, nach denen Berufsfußballspieler auch nach Ablauf ihres Arbeitsvertrags nur dann bei einem anderen Verein beschäftigt werden dürfen, wenn dieser dem bisherigen Verein eine Transfer-, Ausbildungs- oder Förderungsentschädigung zahlt, mit Art. 39 EG (damals Art. 48 EGV) unvereinbar sei. Derartige Regelungen waren bis dato übereinstimmend in den Verbandssatzungen sämtlicher nationaler Fußballverbände der EU wie auch in den Regelwerken der UEFA und der FIFA enthalten. Unabhängig von einer Ungleichbehandlung von Ausländern im Verhältnis zu Inländern seien die Transferregelungen an Art. 39 EG (bzw. Art. 48 EGV a.F.) zu messen, weil sie geeignet seien, „die Freizügigkeit der Spieler, die ihre Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausüben wollen, ... einzuschränken“.111 Hindere eine Bestimmung den Unionsbürger daran, „sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen“, werde das Freizügigkeitsrecht des Arbeitnehmers beeinträchtigt, „auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer Anwendung findet“.112 Die Beschränkungswirkung ist es, die eine mobilitätshindernde Regelung unter den Tatbestand des Art. 39 EG fallen lässt, nicht ihre formelle Unterscheidung nach der Staatsangehörigkeit. Zur Begründung bezieht sich der EuGH insbesondere auf den fundamentalen Charakter des Freizügigkeitsrechts.113
Art. 39 EG ist damit als umfassendes Beschränkungsverbot auszulegen, das unverhältnismäßige Eingriffe in die grenzüberschreitende Bewegungsfreiheit von Arbeitnehmern verbietet. Für die Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 ff. EG),114 die Dienstleistungs-115 und Niederlassungsfreiheit116 war dies seit langem aner______________ 108
EuGH, Rs. C-415/93, NZA 1996, 191. Hierzu unter IV.3.b)cc). 110 Hilf/Pache, NJW 1996, 1169 ff.; aus der Kommentarliteratur s. bspw. SchwarzeSchneider/Wunderlich, Art. 39 EGV Rn. 41 f. 111 EuGH, Rs. C-415/93 (Bosman), NZA 1996, 191, Rn. 99. 112 Rn. 96 der Urteilsgründe. 113 Rn. 93 der Urteilsgründe. 114 EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649, Rn. 8. 115 EuGH, Rs. 33/74 (Van Binsbergen), Slg. 1974, 1299, Rn. 10; EuGH, Rs. 39/75 (Coenen), Slg. 1975, 1547, Rn. 5 ff.; Hailbronner/Nachbaur, EuZW 1992, 105, 109 f. mwN. 109
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
kannt. Diskriminierungen stellen lediglich eine Fallgruppe möglicher Beschränkungen dar. Diese Erkenntnis lässt sich jedoch für die Auslegung des Art. 13 EG, der RL 2000/43/EG und 2000/78/EG und des AGG nur begrenzt fruchtbar machen; denn der EuGH hat nicht nur Fälle der Gleichbehandlung einbezogen, sondern verlangt für einen Verstoß gegen eine der Grundfreiheiten nicht einmal unterschiedliche Wirkungen einer beschränkenden Maßnahme. Im Fall Bosman etwa galten die bei grenzüberschreitendem Wechsel von Fußballspielern zu zahlenden Transferentschädigungen auch für Inlandswechsel, ohne dass insofern unterschiedliche Wirkungen feststellbar wären. Die von den Grundfreiheiten aufgestellten „umfassenden Beschränkungsverbote“ erfassen also alle unverhältnismäßigen Beeinträchtigungen der gewährleisteten Freiheiten. Sie entwickelten sich damit nicht nur zu Diskriminierungsverboten, die grundsätzlich auch nicht zu rechtfertigende Gleichbehandlungen erfassen, sondern zu Freiheitsrechten, die kaum mehr eine vergleichende, horizontale Betrachtung erfordern. Diskriminierung ist dann nur eine Eingriffsform einer – generell verbotenen – Beschränkung. Derart weitreichende Schlussfolgerungen lassen sich jedoch für das Verbot der Benachteiligung wegen Rasse oder ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alters, sexueller Identität und Geschlechts nicht treffen. Der Wortlaut sämtlicher Rechtsvorschriften ist jedenfalls insofern eindeutig, als dass er eine Diskriminierung bzw. Benachteiligung und damit eine irgendwie geartete Unterscheidung voraussetzt. Deren Reichweite gilt es zu bestimmen, ein Verständnis im Sinne eines Freiheitsrechts ist hingegen ausgeschlossen und nicht beabsichtigt117. Aus dem Vergleich zu den europäischen Grundfreiheiten lässt sich deshalb wiederum nur schlussfolgern, dass der Wortlaut wenig aussagekräftig ist. Wenn die Vorschriften über die Freizügigkeit von Arbeitnehmern maßgeblich eine unterschiedliche Behandlung (Art. 39 Abs. 2 EG) verbieten, sie aber dennoch mittlerweile allgemein als Beschränkungsverbot angesehen werden, zeigt dies, dass der Wortlaut der Norm selbst eine solch extensive Auslegung zulässt.118 Materielle Diskriminierung und damit ein Gebot zur Ungleichbehandlung kann also von Art. 2 Abs. 1 lit. b RL 2000/78/EG bzw. § 3 Abs. 1 und 2 AGG prinzipiell erfasst sein. Darüber hinaus bieten die europäischen Grundfreiheiten jedoch keine Anhaltspunkte für Prognosen über die Entwicklung der neuen Diskriminierungsverbote in Rechtsprechung und Schrifttum. ______________ 116
EuGH, Rs. C-19/92 (Kraus), NVwZ 1993, 661, Rn. 32; EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), NJW 1996, 579, Rn. 37; zust. Schwarze-Schlag, Art. 43 EGV Rn. 45. 117 Hieran hat auch die Mangold/Helm-Entscheidung des EuGH nichts geändert; s. hierzu Abschnitt II.5 sowie Abschnitt IV.4.d). 118 Dies hat im Übrigen auch der Vergleich zu Art. 34 EG belegt, s. Abschnitt IV.3.a)aa).
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung?
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cc) Art. 12 EG: Diskriminierungsverbot wegen der Staatsangehörigkeit Aufschlussreicher könnte eine Analyse des Art. 12 EG sein, der in Wortlaut und Systematik eher dem Diskriminierungsverbot des Art. 13 EG entspricht als die Grundfreiheiten. Art. 12 EG beinhaltet zum einen – wie Art. 13 EG – das Wort Diskriminierung und bezieht sich zum anderen auf ein bestimmtes persönliches Merkmal. Das Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit wird in weiteren vertraglichen Vorschriften aufgegriffen und konkretisiert (den Grundfreiheiten in Art. 39, 43, 49 EG z.B.), es wird gern als „Leitmotiv“ des EG-Vertrags herangezogen und als Auslegungsgrundsatz für alle weiteren Bestimmungen verwendet.119 Es bietet sich daher als Auslegungshilfe für die RL 2000/43/EG und 2000/78/EG besonders an.
(1) Kaum Auseinandersetzungen mit dem Problem im Schrifttum Das Schrifttum geht davon aus, Art. 12 EG sei kein „allgemeines Beschränkungsverbot“.120 Zu Recht wird unter Hinweis auf den sonst uferlosen Anwendungsbereich betont, dass Art. 12 EG nicht jede Behinderung verbiete, die mit der Staatsangehörigkeit zusammen hängt. Hieraus kann bereits dem Wortlaut der Norm zufolge (Diskriminierungen) kein Freiheits-, sondern nur ein Gleichheitsrecht resultieren, wie auch immer dessen Anwendungsbereich abgesteckt wird. Vereinzelt finden sich konkretere Aussagen, die Fälle der Gleichbehandlung nicht unter Art. 12 EG zu subsumieren.121 Zur Begründung wird angeführt, Art. 12 EG postuliere aufgrund seiner „besonderen Normstruktur“ Statusgleichheit.122 Andere sehen auch Fälle der Gleichbehandlung von Art. 12 EG erfasst.123 Holoubek führt hierzu aus: „Denn bei einer Differenzierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit wird in aller Regel jedenfalls eine Gruppe von Staatsangehörigen erschwerten Bedingungen unterworfen“. Die „dahinter ste______________ 119 Grabitz/Hilf-von Bogdandy, 1999, Art. 6 EGV Rn. 1; Calliess/Ruffert-Epiney, Art. 12 EGV Rn. 1; Auch Plötscher (Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 101) bedient sich demzufolge Art. 12 EG als Ausgangspunkt einer Betrachtung des Diskriminierungsrechts. 120 Schwarze-Holoubek, Art. 12 EGV Rn. 44. 121 Kischel, EuGRZ 1997, 1, 4; Meier, ZHR 133, 61, 63 Fn. 6 mwN; zum Diskriminierungsbegriff im Allgemeinen s. auch Plötscher, Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 284 f. und S. 290; ausdrücklich a.A. sind Feige, Gleichheitssatz, 1973, S. 41 f. und Zuleeg in: Von der Groeben/Schwarze, Art. 12 EG Rn. 1. 122 Kischel, EuGRZ 1997, 1, 4. 123 Schwarze-Holoubek, Art. 12 EGV Rn. 40; Streinz-Streinz, Art. 12 EGV Rn. 41; Epiney (in: Calliess/Ruffert, Art. 12 EG Rn. 13 ff.) sieht zwar materielle Diskriminierung von Art. 12 EG erfasst, versteht hierunter aber mittelbare Diskriminierung im o.g. Sinne.
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
hende Differenzierung zwischen Inländern und ‚Fremden‘ ist insofern ein klares Abgrenzungskriterium, das regelmäßig zwei vergleichbare Gruppen schafft.“124 Dies wäre bei den Merkmalen der RL 2000/43/EG und 2000/78/EG indes anders; die Vergleichsgruppen sind gerade nicht derart klar voneinander abzugrenzen wie bei dem Merkmal der Staatsangehörigkeit oder des Geschlechts.
(2) Die Rechtsprechung des EuGH – Anerkennung der Gleichbehandlung als Diskriminierungsform? Der EuGH hat in früheren Urteilen hingegen wie selbstverständlich auch die Gleichbehandlung von Verschiedenartigem von Art. 12 EG erfasst gesehen. So definierte er in einem Urteil aus dem Jahre 1963 eine Diskriminierung dahingehend, dass „gleichgelagerte Sachverhalte ungleich oder verschieden gelagerte gleich behandelt“ werden.125 In den vergangenen Jahren vermied der EuGH eine Definition des Begriffs der Diskriminierung in Art. 12 EG.126 In einem Urteil vom 02.10.2003127 scheint der Gerichtshof nunmehr allerdings ausdrücklich auch einen Fall der Gleichbehandlung unter Art. 12 EG subsumieren zu wollen. Carlos Garcia Avello hatte im Namen seiner beiden Kinder auf deren Namensänderung gegen den belgischen Staat geklagt. Garcia Avello war spanischer Staatsangehöriger und lebte mit seiner Frau I. Weber, die Belgierin ist, in Belgien. Die Kinder besitzen sowohl die belgische als auch die spanische Staatsangehörigkeit. Nach belgischem Recht erhalten Kinder den Nachnamen des Vaters. Dieser verlangte jedoch die Änderung des Namens in Garcia Weber mit der Begründung, dass sich nach der im spanischen Recht verankerten Übung der Name der Kinder eines Ehepaares aus dem ersten Namen ihres Vaters gefolgt vom ersten Namen ihrer Mutter zusammensetze, was die belgischen Behörden ablehnten. Der EuGH maß diese Entscheidung an den Art. 12 und 17 EG: „Das Diskriminierungsverbot verlangt nach ständiger Rechtsprechung, dass gleiche Sachverhalte nicht ungleich behandelt und ungleiche Sachverhalte
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Schwarze-Holoubek, Art. 12 EGV Rn. 40. EuGH v. 17.07.1963, Rs. 13/63, Slg. 1963, 359, 384. 126 Exemplarisch seien die Urteile in Sachen Grzelczyk (v. 21.09.2001, Rs. C-184/99, EuZW 2002, 52, Rn. 27 ff.) und Kommission/Belgien (v. 29.06.1999, Rs. C-172/98, Slg. 1999 I-3999, Rn. 11) genannt, in denen Art. 12 EG (bzw. Art. 6 EGV a.F.) ohne Bezug zu den Grundfreiheiten zur Anwendung kam. 127 EuGH, Rs. C-148/02 (Garcia Avello), Slg. 2003, I-11613, Rn. 31 ff.; krit. hierzu Helms, GPR 2005, 36, 37 f. 125
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung?
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nicht gleich behandelt werden“,128 führt der Gerichtshof unter Berufung auf ein Urteil zum allgemeinen europäischen Gleichheitssatz129 aus. Im zu entscheidenden Fall sei „unstreitig, dass Personen, die neben der belgischen Staatsangehörigkeit noch die eines anderen Mitgliedstaats besitzen, in der Regel in gleicher Weise behandelt werden wie die Personen, die nur die belgische Staatsangehörigkeit besitzen“. „Ebenso wie belgischen Staatsangehörigen wird spanischen Staatsangehörigen, die zusätzlich die belgische Staatsangehörigkeit besitzen, gewöhnlich das Recht auf Änderung ihres Familiennamens mit der Begründung versagt, dass in Belgien Kinder den Namen ihres Vaters führten.“130
Der EuGH geht also von einer Gleichbehandlung zwischen den in Rede stehenden Personengruppen aus. Es sei deshalb zu prüfen, „ob sich diese beiden Personengruppen in der gleichen Situation befinden oder ob sich im Gegenteil ihre Situationen voneinander unterscheiden und sie dann aufgrund des Diskriminierungsverbots als belgische Staatsangehörige, die, wie die Kinder von Herrn Garcia Avello, auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, verlangen können, anders als die Personen, die nur die belgische Staatsangehörigkeit besitzen, behandelt zu werden, es sei denn, dass die beanstandete Behandlung durch sachliche Gründe gerechtfertigt ist.“131 Im Rahmen der Begründung, dass im vorliegenden Fall eine Gleichbehandlung von Ungleichem besteht, stellt der Gerichtshof auf die „schwerwiegenden Nachteile beruflicher wie auch privater Art“ ab, die bei den betroffenen Kindern „unstreitig“ zu erwarten seien;132 eine Rechtfertigung lehnt er ab.
Die Formulierungen deuten daraufhin, dass der EuGH materielle Diskriminierung als von Art. 12 EG erfasst ansieht. Ausdrücklich spricht er von einer Gleichbehandlung der verschiedenen Gruppen, von denen die eine (derjenigen, die zusätzlich zur belgischen noch eine weitere Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates haben) einen Anspruch darauf hat, anders behandelt zu werden, weil ihr durch die Gleichbehandlung empfindliche Nachteile entstehen. Der Gerichtshof stellt also auf die Wirkungen ab, die die Regelung des belgischen Staates hat. Indem er hieraus eine Diskriminierung schlussfolgert, die im konkreten Fall auch nicht zu rechtfertigen war, erkennt er an, dass eine solche eben auch durch eine formell gleich behandelnde Vorschrift entstehen kann, ohne Art. 12 EG zu einem allgemeinen Beschränkungsverbot auszubauen. Dies wäre nur der Fall, wenn der EuGH unabhängig von einer nachteiligen Wirkung Art. 12 und 17 EG herangezogen hätte. Da er das nicht tat, sondern gerade mit Hilfe der entstehenden Nachteile das Vorliegen einer Diskriminierung begrün______________ 128
Rn. 31 der Urteilsgründe. EuGH, Rs. C-354/95 (National Farmers' Union u. a.), Slg. 1997, I-4559, Rn. 61. 130 Rn. 32 der Urteilsgründe. 131 Rn. 34 der Urteilsgründe. 132 Rn. 35 ff. der Urteilsgründe, insbes. Rn. 36. 129
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
dete, nimmt er eine, nicht aber zwei Stufen: Er bezieht (scheinbar) Fälle der Gleichbehandlung ein, ohne Art. 12 EG zu einem Freiheitsrecht oder „allgemeinen Beschränkungsverbot“ umzudeuten.
(3) Mögliche Einwände gegen diese Schlussfolgerung Gegen diese Schlussfolgerung lassen sich zwei Einwände erheben. Der erste bezieht sich auf das Vorliegen einer Gleichbehandlung. Die Versagung des Namens nach spanischer Tradition ließe sich ebenso gut an einem Verbot der Ungleichbehandlung messen. Nicht jedes Kind mit (auch) belgischer Staatsangehörigkeit muss zwangsläufig den Namen des Vaters annehmen, in Belgien existiert mit Art. 3 des Gesetzes vom 15. Mai 1987 über Namen und Vornamen eine Ausnahmevorschriften, die bestimmt: „Der Justizminister kann der Änderung von Vornamen zustimmen, wenn die beantragten Vornamen nicht zu Verwechslungen Anlass geben und dem Antragsteller oder dritten Personen nicht schaden können. Der König kann der Änderung des Namens ausnahmsweise zustimmen, wenn der Antrag seiner Ansicht nach auf schwerwiegenden Gründen beruht sowie der beantragte Name nicht zu Verwechslungen Anlass gibt und dem Antragsteller oder dritten Personen nicht schaden kann.“
Es ließe sich nun eine Ungleichbehandlung darin sehen, dass zum Teil Ausnahmen zulässig sind, diese für die Kinder von Garcia Avello aber abgelehnt wurden, so dass es einer Gleichbehandlung zwischen den Ausnahmen nach Art. 3 des Gesetzes über Namen und Vornamen und dem Fall Garcia Avello bedarf.133 Es würden damit nicht die belgisch-spanischen Doppelstaatlern den Belgiern gegenübergestellt, sondern denjenigen Ausländern, für die Art. 3 des entsprechenden Gesetzes angewendet wird.134 Wenn für sie Ausnahmen von der Regel zugelassen werden, so ließe sich argumentieren, dürfen auch diese Ausnahmen nicht diskriminierend ausgestaltet sein.135 Dies wäre dann eine ungleiche Behandlung, die durch eine Gleichbehandlung ausgeglichen werden muss. Dass der EuGH hiervon allerdings nicht ausging, belegt die Urteilsbegründung. Der zweite und vielleicht noch gewichtigere Einwand knüpft an die Begründung des EuGH selbst an. Der Gerichtshof nimmt nicht allein an Art. 12 EG, sondern auch an Art. 17 EG Maß, der Staatsangehörigen eines (oder mehrerer) ______________ 133
Eine ähnliche Problematik stellt sich im Rahmen der Betrachtung der Geschlechterdiskriminierung, wenn man das Urteil des EuGH in Sachen Thibault analysiert; s. hierzu Abschnitt dd). 134 Vgl. Mörsdorf-Schulte, IPRax 2004, 315, 319. 135 Zu diskriminierenden Ausnahmevorschriften s. auch Kap. 7 II.2.b).
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung?
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Mitgliedstaaten eine Unionsbürgerschaft garantiert. Es liegt nahe, dass Art. 17 EG der eigentliche, entscheidende Maßstab ist, mit dem die belgische Ablehnung des in Spanien üblichen Namens nicht zu vereinbaren ist. Und so lautet einer der zentralen Sätze136 des EuGH denn auch: „Es ist nämlich nicht Sache eines Mitgliedstaats, die Wirkungen der Verleihung der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats dadurch zu beschränken, dass er eine zusätzliche Voraussetzung für die Anerkennung dieser Staatsangehörigkeit im Hinblick auf die Ausübung der im Vertrag vorgesehenen Grundfreiheiten verlangt.”137
Die Garantie einer Unionsbürgerschaft könnte es also sein, die einen Mitgliedstaat dazu zwingt, die traditionelle Namensgebung von Personen anderer Mitgliedstaaten zu achten.138 Zumindest lässt sich erst aus einer Zusammenschau der Art. 12 und Art. 17 EG ableiten, dass im Fall Garcia Avello ein Recht auf einen Nachnamen nach spanischer Tradition bestand. Aus dem Urteil des EuGH zu schlussfolgern, dass Art. 12 EG darüber hinaus stets ein Verbot der Gleichbehandlung von Ungleichem erfasst, ist deshalb keineswegs zwingend.
dd) Verbot der Geschlechterdiskriminierung Eine unmissverständliche Antwort auf die gestellte Frage gewährt auch eine Analyse des Verbots der Diskriminierung wegen des Geschlechts nicht. Es weist einige Gemeinsamkeiten mit den übrigen im AGG genannten Diskriminierungsverboten auf und soll daher in die Betrachtung einfließen: Es bezieht sich – wie bereits das Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit – auf eine bestimmte Eigenschaft, ist darüber hinaus aber auch sekundärrechtlich ausgestaltet139 und in eigene Normen des deutschen Rechts aufgenommen worden (§§ 611a, 611b und 612 Abs. 3 BGB a.F.). Zwar kann auf umfangreiche Literatur und Rechtsprechung zurückgegriffen werden, erstaunlicherweise wird darin jedoch die Problematik der Diskriminierung durch Gleichbehandlung kaum behandelt. Der EuGH hat zwar in einigen Urteilen von „unterschiedslos“ anwendbaren Maßnahmen gesprochen, die verschiedene Wirkungen für Vergleichsgruppen entfalten. Diese Aussagen bezogen sich jedoch auf Fälle der mittelbaren Diskriminierung, in denen bereits die Maß-
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So auch Henrich, FamRZ 2004, 173. EuGH, Rs. C-148/02 (Garcia Avello), Slg. 2003, I-11613, Rn. 28. 138 s. auch EuGH, Rs. C-147/03, EuZW 2005, 465, 466, Rn. 45; Hilpold, EuZW 2005, 647, 650 f.; vgl. auch Fischer in: FS Winkler, 1977, S. 237, 243 ff.; Staeglich, ZEuS 2003, 485 ff. 139 Vgl. die RL 75/117/EWG, 76/207/EWG, 92/85/EWG, 97/80/EG, 2002/73/EG sowie 2004/113/EG, alle beruhend auf Art. 141 EG. 137
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
nahme eine Unterscheidung traf, die zwar nicht an das Geschlecht, aber an andere Merkmale anknüpfte.140
(1) Urteil des EuGH in den Verfahren Bötel und Lewark – Grundsatz des gleichen Entgeltes Sofern in einer Regelung sowohl eine Gleich- als auch eine Ungleichbehandlung gesehen werden konnte, entschied sich der EuGH dafür, auf letztere Bezug zu nehmen und sie auf eine – mittelbare – Diskriminierung hin zu überprüfen. So geschehen in Bezug auf § 37 Abs. 2 und 6 BetrVG 141: Vor dem Reformgesetz zum BetrVG vom 23.07.2001 hatten Mitglieder des Betriebsrats zwar Anspruch auf die Teilnahme an Schulungs- und Bildungsveranstaltungen, die die für die Betriebsarbeit erforderlichen Kenntnisse vermitteln, ohne dass ihnen jedoch ein Freizeitausgleich für Schulungen außerhalb der regelmäßigen Arbeit gewährt wurde. Der EuGH sah hierin eine mittelbare Geschlechtsdiskriminierung, da Teilzeitbeschäftigte aufgrund tatsächlicher Verhältnisse weit überwiegend Frauen seien, die durch diese Regelung schlechter stünden als Vollzeitbeschäftigte. Er knüpfte dabei nicht an die Gleichbehandlung an, dass nämlich Voll- und Teilzeitkräfte jeweils das Gehalt für ihre individuelle Arbeitszeit fortgezahlt erhielten, sondern daran, dass – im Ergebnis – Teilzeitkräfte, die an einer Schulungs- oder Bildungsveranstaltung teilnehmen, eine niedrigere Erstattung beziehen als Vollzeitkräfte, da sie noch einen Teil ihrer Freizeit unvergütet aufwenden müssten. Hierin eine Diskriminierung zu sehen, ist höchst fragwürdig und wurde deshalb in der deutschen Arbeitsrechtswissenschaft scharf kritisiert,142 vom BAG zunächst nicht übernommen,143 aber letztlich vom EuGH in einem zweiten Urteil bestätigt.144 Die Urteile des EuGH werden von Plötscher angeführt, um zu belegen, dass der Gerichtshof materielle Diskriminierung nicht unter Art. 141 EG subsumiert, sondern sogar dort auf Ungleichbehandlungen abstellt, wo es eigentlich um ______________ 140
s. beispielhaft EuGH, Rs. C-33/89 (Kowalska), Slg. 1990 I-2591, Rn. 15 und EuGH, Rs. 343/92 (Roks u.a.), Slg. 1994 I-571, Rn. 33; s. auch Fredman, Discrimination Law, 2002, S. 136 ff. 141 EuGH, Rs. C-360/90 (Bötel), NZA 1992, 687, Rn. 16 f. und EuGH, Rs. 457/93 (Lewark), NZA 1996, 319, Rn. 25 f. 142 Junker, NJW 1994, 2527 f.; Schiefer/Erasmy, DB 1992, 1482, 1483 f.; Sowka, DB 1992, 2030, 2032. 143 Das BAG (NZA 1994, 278) bezweifelte, dass es sich um Arbeit im Sinne von Art. 141 EG (damals noch Art. 119 EGV a.F.) handelt (unter III.3. der Gründe), bestritt eine Ungleichbehandlung (III.4.) und das Fehlen einer objektiven Rechtfertigung (III.5.). 144 EuGH, Rs. 457/93 (Lewark), NZA 1996, 319, Rn. 25 f.
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung?
237
Gleichbehandlungen geht.145 Es ist in der Tat richtig, dass der EuGH den Fall über eine verbotene Ungleichbehandlung löst. Das BAG formuliert sogar noch deutlicher: „Art. 119 EWGV [entspricht Art. 141 EG] setzt voraus, daß verschiedene Arbeitnehmergruppen beim Arbeitsentgelt unterschiedlich behandelt werden.“ 146
Der Fall betrifft allerdings nicht das allgemeine Diskriminierungsverbot wegen des Geschlechts nach Art. 141 Abs. 3 und 4 EG, sondern einen Sonderfall: den Grundsatz des gleichen Entgeltes für gleiche oder gleichwertige Arbeit nach den Absätzen 1 und 2 des Art. 141 EG.147 Hier schränkt bereits der Wortlaut der Norm ihren Anwendungsbereich auf Fälle ein, in denen die Bezahlung unterschiedlich ist; gegen Art. 141 Abs. 1 EG kann nur eine Regelung verstoßen, die gerade Frauen und Männern ein anderes Entgelt zubilligt, sie also unterschiedlich behandelt. Aussagen über das allgemeine Diskriminierungsverbot lassen sich diesem Spezialfall deshalb nicht entnehmen.
(2) Urteil des EuGH in der Sache Thibault – Art. 5 Abs. 1 RL 76/207/EWG als spezielle Norm Überhaupt liegt die Krux des Vergleichs zum Diskriminierungsverbot wegen des Geschlechts in den zahlreichen speziellen Ausformungen, die sich so in Art. 13 EG, den Richtlinien und dem AGG nicht finden.148 Dies zeigt auch das Urteil des EuGH in Sachen Thibault.149 Die Klägerin, Frau Thibault, hatte 1983 Mutterschaftsurlaub genommen und war daraufhin gemäß der Musterbetriebsordnung ihrer Arbeitgeberin wegen zu geringer tatsächlicher Jahresarbeitszeit für das Jahr 1983 nicht beurteilt worden. Ohne Beurteilung erhielt sie den vom Arbeitgeber freiwillig gezahlten Zuschuss von 2% zum Arbeitsentgelt nicht und hatte keine Möglichkeit zum beruflichen Aufstieg. Der EuGH sah hierin eine unmittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts. Die Fehlzeit aufgrund Mutterschaftsurlaubs hätte in diesem Fall als Arbeitszeit behandelt werden müssen. ______________ 145
Plötscher, Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 224 f. BAG, NZA 1994, 278, 281. 147 Gleiches gilt auch für den von Plötscher (Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 225) erwähnten Fall Birka (EuGH, Rs. 170/84, Slg. 1986, 1607); s. auch EuGH, Rs. C-191/03 (North Western Health Board), EuZW 2005, 627, Rn. 40 ff. 148 Dies spielt auch für das Fragerecht des Arbeitgebers im Vorstellungsgespräch eine Rolle. Hier trifft Art. 10 RL 92/85/EWG eine besondere Regelung, die die Entlassung von schwangeren Arbeitnehmerinnen per se verbietet und deshalb (so jedenfalls der EuGH) auch eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung durch Verschweigen der Schwangerschaft im Vorstellungsgespräch generell ausschließt. Eine vergleichbare Regelung existiert für andere verpönte Merkmale nicht; hierzu Kap. 7 I.1. 149 EuGH, Rs. C-136/95, Slg. 1998 I-2011. 146
238
Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
Im zugrundeliegenden Fall wurden zunächst einmal Männer und Frauen gleich behandelt: Fehlzeiten wurden für die Beurteilung generell nicht mitgerechnet. Lediglich die Wirkungen dieser Regelung betrafen Frauen härter, denn sie haben neben krankheitsbedingten Fehlzeiten – die auch Männer erleiden – zusätzliche Fehlzeiten aufgrund Mutterschaftsurlaubs. Dies stellte auch Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer in seinen Schlussanträgen fest: „Unter diesen Umständen halte ich es für offensichtlich, daß die Gleichsetzung der Zeit des Mutterschaftsurlaubs mit einer Fehlzeit wegen Krankheit zu einer unmittelbaren Benachteiligung der Mutter gewordenen Frau führt, da aus diesem Grund die Gefahr, daß ihre jährliche Beurteilung unterbleibt, viel größer ist als bei einem Mann, bei dem im gleichen Zeitraum nur die Fehlzeiten wegen Krankheit in die Beurteilung einfließen können.“150
Besonders deutlich heißt es in Rn. 32 der Schlussanträge: „Ich stelle fest, daß die untersuchte tarifvertragliche Vorschrift diskriminierende Wirkungen hat, da sie auf unterschiedliche Sachverhalte in gleicher Weise angewandt wird. Folglich ist zur Herbeiführung der gebotenen Gleichbehandlung das tatsächlich Verschiedene ungleich zu behandeln.“
Der EuGH selbst stellt ohne weitere Analyse, ob er sich auf eine Gleichbehandlung bezieht oder inwiefern doch eine Ungleichbehandlung vorliegen soll, fest, dass Art. 2 Abs. 3 RL 76/207/EWG Vorschriften zum Schutz der Frau insbesondere bei Schwangerschaft und Mutterschaft zuließe. Im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz folge daraus, dass die Ausübung dieser gewährten Rechte „nicht zu Nachteilen beim Zugang zur Beschäftigung und bei den Arbeitsbedingungen“ führen dürfe. Recht deutlich formuliert er: „Die Richtlinie zielt insofern auf eine inhaltliche, nicht auf eine formelle Gleichheit ab“.151
Auch in der Sache Thibault deuten die Schlussanträge des Generalanwaltes und die Urteilsgründe des EuGH auf eine Anerkennung der Gleichbehandlung als Form der Diskriminierung hin. Bei näherer Betrachtung ist diese Schlussfolgerung allerdings nicht zwingend. Der EuGH stützte sich auf Art. 2 Abs. 3 der RL, der Vorschriften zum Mutterschutz zulässt. Jene dürften nicht zu Nachteilen für Frauen führen. Dass letztlich materielle und nicht formelle Gleichheit erreicht werden muss, scheint der EuGH also Art. 2 Abs. 3 der Geschlechtergleichbehandlungsrichtlinie entnehmen zu wollen, obwohl jene Norm den Mitgliedstaaten allein die Möglichkeit eröffnet, derartige Vorschriften zu erlassen, sie hierzu aber nicht verpflichtet. Es lässt sich auch nicht ableiten, wie weit ein solcher Schutz gehen muss, wenn ein Mitgliedstaat davon Gebrauch macht. Unklar ist also, ob der EuGH dem Art. 2 Abs. 3 RL – entgegen seinem ______________ 150 151
Rn. 31 der Schlussanträge. Rn. 26 der Urteilsgründe.
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung?
239
Wortlaut – doch eine Verpflichtung zum Erlass von Schutzvorschriften entnimmt; das würde dann wohl auch für die Antidiskriminierungsrichtlinien gelten, die in Art. 5 RL 2000/43/EG und Art. 7 Abs. 1 RL 2000/78/EG ähnliche Optionen enthalten. Wie so häufig in der europäischen Rechtsprechung bleiben dogmatische Ansätze unklar. Die RL 1976/207/EWG unterscheidet sich von den Antidiskriminierungsrichtlinien aber in einem anderen wichtigen Punkt. Art. 5 Abs. 1 RL 76/207/EWG lautet: „Die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen einschließlich der Entlassungsbedingungen beinhaltet, daß Männern und Frauen dieselben Bedingungen ohne Diskriminierung auf Grund des Geschlechts gewährt werden.“
Über den in Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 RL 76/207/EWG enthaltenen Grundsatz der Gleichbehandlung hinaus werden in Art. 5 Abs. 1 der RL Männern und Frauen dieselben Bedingungen hinsichtlich ihrer Arbeitsbedingungen gewährt. Hierauf stützen sich sowohl der Generalanwalt als auch der EuGH maßgeblich.152 Die Gewährleistung gleicher Bedingungen könnte über ein reines Verbot der Ungleichbehandlung hinausgehen und damit auch materielle Gleichheit fordern. Eine vergleichbare Vorschrift fehlt in den Diskriminierungsrichtlinien. Selbst wenn das Urteil des EuGH in Sachen Thibault also dahingehend verstanden wird, dass der Gerichtshof auch Fälle der Gleichbehandlung generell unter das Diskriminierungsverbot wegen des Geschlechts subsumiert, kann daraus nicht gefolgert werden, dass dies auch für die übrigen verpönten Merkmale gilt.
(3) Zwischenergebnis zum Vergleich mit dem Verbot der Diskriminierung wegen des Geschlechts Es zeigt sich also, dass auch das Verbot der Geschlechterdiskriminierung kaum Rückschlüsse zulässt. Selbst dort fehlen bislang dogmatische Ansätze des EuGH, die übertragen werden könnten. Einzelne Urteile, die scheinbar auch Gleichbehandlung in den Diskriminierungsbegriff einbeziehen, lassen viele Fragen offen, so dass Prognosen, wie der Gerichtshof in Bezug auf die anderen verpönten Merkmale entscheiden wird, Spekulationen sind. Selbst wenn das ______________ 152
In Rn. 23 der Schlussanträge heißt es: „Im vorliegenden Fall geht es jedoch nicht um nationale Bestimmungen zum Schutz der Frau, die auf der Grundlage von Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 76/207 erlassen wurden, sondern um die Anwendung des in ihrem Art. 5 Abs. 1 aufgestellten Grundsatzes der Gleichbehandlung beim Zugang zur Beschäftigung und bei den Arbeitsbedingungen.“ Der EuGH prüft den Sachverhalt „im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie“ (Rn. 28 der Urteilsgründe).
240
Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
Verbot der Geschlechterdiskriminierung auch materielle Gleichheit fordert, bedeutet dies für die Antidiskriminierungsrichtlinien nicht, dass sie ebenso zu interpretieren sind; denn in Art. 141 Abs. 1 und 2 EG (Entgeltgleichheit) und Art. 5 Abs. 1 RL 76/207/EWG existieren Sondervorschriften, die Gleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts unter Umständen verbieten. Da die Antidiskriminierungsrichtlinien keine vergleichbaren Vorschriften enthalten, lassen sich für sie keine Schlussfolgerungen aus dem Vergleich zum Verbot der Geschlechterdiskriminierung ziehen.
ee) Zwischenergebnis Aus dem systematischen Zusammenhang mit anderen Diskriminierungsverboten lassen sich ebenso viele Argumente gegen die Anerkennung der Gleichbehandlung als Form der Diskriminierung ziehen wie dafür sprechen. Eindeutige Aussagen scheitern an der mangelnden Auseinandersetzung des EuGH mit der Dogmatik von Diskriminierungsverboten. Die allgemeinen Gleichheitssätze geben keinen Aufschluss, weil sie ihrer Natur nach allgemein gehalten sind und daher im Sinne aristotelischer Gerechtigkeit sowohl nicht zu rechtfertigende Ungleich- als auch Gleichbehandlungen verbieten. Die europarechtlich garantierten Grundfreiheiten sind mittlerweile vom EuGH zu Freiheitsrechten weiterentwickelt worden („allgemeine Beschränkungsverbote“), so dass sie zwar auch Fälle der Gleichbehandlung erfassen, aber kaum noch ein Diskriminierungsverbot darstellen oder jedenfalls weit darüber hinaus reichen. Auch das Verbot der Diskriminierung wegen des Geschlechts bietet letztlich keine überzeugende Antwort. Zwar spricht der EuGH in seinem Urteil zur Rechtssache Thibault recht deutlich davon, dass ungleiche Sachverhalte unterschiedlich hätten behandelt werden müssen; dies wird jedoch auf die spezielle Vorschrift des Art. 5 Art. 1 RL 1976/207/EWG zurückzuführen sein, auf die sich der EuGH maßgeblich stützt und die sich dahingehend interpretieren lässt, dass Frauen und Männer im Ergebnis gleiche Bedingungen erhalten sollen. Da die Antidiskriminierungsrichtlinien keine vergleichbaren Normen beinhalten, lässt sich der Gedanke jedenfalls nicht verallgemeinern. Dem EuGH liegt es daran – welche Norm auch immer er letztlich für maßgebend hält –, Nachteile auszugleichen, die durch biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau bedingt sind. Insoweit sieht er die Mitgliedstaaten verpflichtet, Männern und Frauen im Ergebnis gleiche Bedingungen zu teil werden zu lassen und sie, sofern notwendig, deshalb unterschiedlich zu behandeln. Dies ließe sich auf das Merkmal der Behinderung übertragen und gilt möglicherweise auch in Bezug auf die Altersdiskriminierung. Bei diesen Merkmalen ist aufgrund tatsächlicher Lebensverhältnisse von vorne herein klar, welche Gruppe faktisch benachteiligt ist und geschützt werden soll: Behinderte dürfen
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung?
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nicht gegenüber Nicht-Behinderten diskriminiert werden, während die Gruppe der Nicht-Behinderten nicht des Schutzes vor Diskriminierungen gegenüber Behinderten bedarf. Für die anderen, insofern neutralen Merkmale wie das der Religion gilt dies nicht, so dass die Rechtsprechung zur Geschlechtergleichbehandlung nicht ohne Weiteres übertragbar ist. Zum Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit lässt sich vielleicht noch am ehesten eine Parallele ziehen, da es insoweit auch um ein neutrales Merkmal geht, das nicht in erster Linie auf den Schutz einer bestimmten Personengruppe zielt. Zwar geben die meisten Urteile des EuGH deshalb keinen Aufschluss, weil sie Art. 12 EG in Verbindung mit anderen Normen zitieren, z.B. den Grundfreiheiten oder Art. 17 EG. Die Entscheidung in Sachen Garcia Avello ließe sich zwar dahingehend verstehen, dass Menschen unterschiedlicher Staatsangehörigkeit unter Umständen anders zu behandeln sind. Allerdings dürfte hierfür Art. 17 EG und nicht Art. 12 EG der maßgebende Anknüpfungspunkt sein. Statt einer Gleich- ließe sich in der betreffenden Maßnahme zudem eine Ungleichbehandlung sehen, an die es anzuknüpfen gilt (s. cc)).
c) Umkehrschluss zu Art. 5 RL 2000/78/EG Die RL 2000/78/EG beinhaltet mit Art. 5 nur eine Vorschrift über positive Maßnahmen zugunsten von behinderten Menschen, nicht jedoch in Bezug auf die übrigen Merkmale. Sie fordert damit eine Gleichstellung153 von Behinderten gegenüber Nicht-Behinderten.154 Hieraus schließt Thüsing zu Recht, für die übrigen Merkmale gebiete das europäische Recht keine positiven, finanziell aufwendigen Maßnahmen des Arbeitgebers zur Förderung benachteiligter Gruppen.155 Tatsächlich ist insoweit (noch) ein argumentum e contrario überzeugend: Wenn explizit nur positive Maßnahmen geregelt wurden, um Menschen mit Behinderung Nicht-Behinderten gleich zu stellen, liegt es nahe, dass für alle anderen Merkmale eine derartige Ergebnisgleichheit nicht gefordert wird.156 Der Arbeitgeber ist also bspw. nicht gezwungen, unter finanziellem ______________ 153
Zum Begriff s. Abschnitt IV.2.b). Dies wird zudem in Erwägungsgrund 18 der RL 2000/78/EG betont. 155 Thüsing, ZfA 2001, 397, 399, 403 ff. und 406; ders., NZA-Sonderbeilage zu Heft 22/2004, 3, 6 f. 156 Wiedemann (Gleichbehandlungsgebote, 2001, S. 41) stellt die Begriffspaare Gleichbehandlung/Gleichstellung und Analogie/Fiktion einander gegenüber. Wie über die Analogie entscheide der Rechtsanwender über die Gleichbehandlung, über eine Fiktion und über Gleichstellung könne allein der Normsetzer befinden. Das bedeutet für den vorliegenden Fall, dass über die in Art. 5 RL 2000/78/EG geregelte Pflicht zur Gleichstellung hinaus keine wietere Gleichstellungspflicht in Bezug auf die anderen Merkmale angenommen werden kann, 154
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
Mehraufwand dafür zu sorgen, dass in der Betriebskantine zusätzlich koschere Speisen angeboten werden, um auch jüdischen Arbeitnehmern ein warmes Mittagessen anzubieten. Derartige Ergebnisgleichheit wird nur für Menschen mit Behinderung verlangt. Der darüber hinausreichende Schluss, dass die RL 2000/43/EG und 2000/78/EG deshalb auch nur Ungleich- und nicht Gleichbehandlungen erfassen, ginge jedoch zu weit.157 Art. 5 RL 2000/78/EG fordert positive Maßnahmen für Menschen mit Behinderung. Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, diese seien nicht notwendig, wenn sie den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten. Die Richtlinie legt damit den Finger in die Wunde: Menschen mit Behinderung einen angemessenen Arbeitsplatz zu offerieren, kostet Geld. Ob Rampen für Rollstuhlfahrer angeschafft oder Toiletten umgebaut werden, ob Schreibtische abgesenkt oder besondere Schreibgeräte gekauft werden – all diese Maßnahmen sind mit zusätzlichen finanziellen Aufwendungen für den Arbeitgeber verbunden. Hierzu wird er bis zur Grenze der Unverhältnismäßigkeit verpflichtet. Art. 5 RL 2000/78/EG regelt damit die Gleichstellung Behinderter, weil sie regelmäßig zu wirtschaftlichen Einbußen des Arbeitgebers führt. Der Richtliniengeber hielt es insofern für wichtig klarzustellen, dass er diese zunächst einmal hinnehmen muss. Damit ist allerdings nur ein recht spezieller Fall der Benachteiligung normiert worden, in dem Ungleichbehandlungen unter Umständen geboten sind. Aus dieser Spezialvorschrift schließen zu wollen, dass in allen übrigen Fällen nur Gleichbehandlungen gefordert werden, ginge zu weit. Ein solcher Umkehrschluss würde voraussetzen, dass Art. 5 RL 2000/78/EG nicht nur abschließend die Pflicht zu Fördermaßnahmen normiert – das ist sicherlich richtig – sondern auch erschöpfend Gleichbehandlung verbietet; denn ein argumentum e contrario ist nur möglich, wenn die in Augenschein genommene Norm eine abschließende Regelung trifft.158 Art. 5 RL 2000/78/EG mag abschließend regeln, wann der Arbeitgeber Geld ausgeben muss, um Menschen eines verpönten Merkmals dieselben Bedingungen zu gewähren wie anderen. Da dies aber nur ein spezieller Fall von verbotener Gleichbehandlung ist, ist nicht davon auszugehen, dass damit die Grundsatzfrage entschieden wurde, ob Diskriminierung im Allgemeinen auch durch Gleichbehandlung geschehen kann. Ein solcher Schluss würde den Zweck des Art. 5 RL 2000/78/EG überinterpretieren. M.a.W.: Aus dieser Norm lässt sich der (Umkehr-)Schluss ziehen, dass Gleichstellung nur für Be______________
denn darüber hätte allein der Richtliniengeber (bzw. der Gesetzgeber) zu entscheiden und nicht der Rechtsanwender. 157 So aber Thüsing, NZA-Sonderbeilage zu Heft 22/2004, 3, 6 f. 158 Dies ist eine Konsequenz formaler Logik (Larenz, Methodenlehre, S. 390) und gilt daher auch für die Auslegung europäischen Rechts, s. Anweiler, Auslegungsmethoden des EuGH, 1997, S. 310 f.
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung?
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hinderte verlangt wird; ob die Richtlinien und das AGG materielle Diskriminierung verbieten, lässt sich ihr nicht entnehmen.159
d) Gleichbehandlung im US-amerikanischen Diskriminierungsrecht Es lohnt sich, einen Blick über den großen Teich zu werfen. Zwar ist das amerikanische Recht selbstverständlich kein Maßstab für das europäische und erst recht nicht für das deutsche Recht. Das Antidiskriminierungsrecht hat allerdings seine Wurzeln nun einmal in den USA160 und es gibt einige Anhaltspunkte – wie bspw. die Integration des Belästigungsschutzes ins Diskriminierungsrecht161 –, die dafür sprechen, dass auch der europäische Gesetzgeber nicht ganz unvoreingenommen an die Entwicklung des Diskriminierungsrechts herangegangen ist. Grundlegend äußerte sich der US-Supreme Court zum Diskriminierungsverbot wegen der Religion in der Entscheidung Trans World Airlines v. Hardison im Jahre 1977.162 Mr. Hardison war in einem Büro der Trans World Airlines (TWA) angestellt, das 24 Stunden am Tag geöffnet war. Die Verteilung der Arbeitszeiten wurde durch ein System geregelt, das sich nach dem Alter der Arbeitnehmer richtete (seniority system) und das die TWA mit der zuständigen Gewerkschaft International Association of Machinists and Aerospace Workers (IAM) vereinbart hatte. Danach durften die Ältesten ihre Arbeitszeiten vor den jeweils jüngeren wählen, die ihrerseits einzuspringen hatten, wenn Not am Mann war. Mr. Hardison war Mitglied der Worldwide Church of God. Gestützt auf das Buch Mose, in dem es heißt: „Am siebten Tage ist der Sabbat des Herrn“,163 lehnen die Anhänger dieser christlichen Glaubensgemeinschaft Arbeit von Sonnenuntergang am Freitag bis Sonnenuntergang am Samstag ab. Der Supreme Court hielt den Arbeitgeber für verpflichtet, Maßnahmen (reasonable accommodations) zu ergreifen, um diesem Interesse des Arbeitnehmers gerecht zu werden, sofern sie nicht eine unverhältnismäßige Belastung (undue hardship) darstellten. Im konkreten Fall stellte das Gericht fest, dass Mr. Hardison eine entscheidende Rolle im Büro zukäme. Hätte die TWA seinem Wunsch entsprochen, hätte immer ein anderer Angestellter aus anderen Büros abgezogen werden müssen, so dass dann dort die Arbeit nicht hätte erledigt werden können.164 Im Gegensatz zum Court of Appeals sah der Supreme Court die Anstrengungen der TWA deshalb als ausreichend an. Sie sei nicht verpflichtet, kostenintensive Maßnahmen ______________ 159
Zum Unterschied sei nochmals auf die Abschnitte IV.2.a) und IV.2.b) verwiesen. Hierzu Abschnitt II.3 sowie Abschnitt IV.3.d). 161 Hierzu Wiedemann/Thüsing, DB 2002, 463, 466. 162 432 U.S. 63; 97 S.Ct. 2264 (1977). 163 2. Mose 20, 10; 5. Mose 5, 14. 164 97 S.Ct. 2264, 2268 (1977). 160
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
zu ergreifen, allenfalls Maßnahmen, die eine de minimis-Grenze nicht überschritten, seien erforderlich.165 Das von den Betriebsparteien aufgestellte seniority system sei insoweit vorrangig.
Die Rechtsprechung setzte sich fort,166 jüngst hatte bspw. der District Court des Staates New York über einen ähnlichen Fall zu befinden und lehnte ebenfalls eine Verletzung von sec. 703 (a) (1) Title VII Civil Rights Act mit der Begründung ab, der Arbeitgeber habe ausreichende reasonable accommodations angeboten.167 Auch das US-amerikanische Recht kennt also Rücksichtnahmepflichten des Arbeitgebers, die sich auch auf die Religion seiner Arbeitnehmer beziehen. Geschlussfolgert werden sie allerdings aus dem Diskriminierungsrecht und darin unterscheidet es sich grundlegend vom europäischen und vom deutschen Recht. Die Entscheidung Trans World Airlines v. Hardison verdeutlicht, dass Title VII des Civil Rights Act deshalb nicht nur Gleichbehandlungen verbietet, sondern dem Arbeitgeber dann ein besonderes Entgegenkommen abverlangt, wenn der einzelne Arbeitnehmer speziellen religiösen Geboten unterworfen ist. Sämtliche Arbeitnehmer waren dem seniority system verpflichtet und der Supreme Court und mit ihm die unterinstanzlichen Gerichte verlangten vom Arbeitgeber Ausnahmen bis zur Grenze einer unverhältnismäßigen Belastung. Das US-amerikanische Recht verpflichtet den Arbeitgeber also nicht nur zur Gleichbehandlung von Ungleichem, sondern auch zur Ungleichbehandlung von Gleichem dort, wo es geboten ist.168 Im Unterschied zu den europäischen Richtlinien ist diese Verpflichtung allerdings bereits im Normtext selbst enthalten. Title VII des Civil Rights Act 1964, sec. 701(j) verpflichtet den Arbeitgeber ausdrücklich zu reasonable accommodations bis zur Grenze von undue hardship on the conduct of the employer's business.
e) Schlussfolgerungen Der Wortlaut der Richtlinien und des AGG, die von Ungleichbehandlungen bzw. unterschiedlichen Behandlungen sprechen, ist ein schwaches Indiz dafür, dass womöglich nur (formelle) Ungleichbehandlungen vom Diskriminierungs______________ 165
97 S.Ct. 2264, 2277 (1977). s. z.B. Creusere v. Board, 88 Fe.Appx. 813 (6th Cir. 2003); Alderman v. The Great Atlantik & Pacific Tea Company, 332 F.Supp. 3d 932 (2004). 167 v. 26.01.2005 in der Sache Baker v. The Home Depot, 2005 WL 189720 (W.D.N.Y.), pa. 4. 168 Zu substantive equality im US-amerikanischen Recht und ihren Grenzen s. Rutherglen, Employment Discrimination Law, 2001, S. 141 ff.; Fredman, Discrimination Law, 2002, S. 145 ff. 166
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung?
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recht verboten werden. Da sich aber weder Richtlinien- noch Gesetzgeber mit dieser Problematik auseinander gesetzt haben, ist diese Schlussfolgerung keineswegs zwingend. Ebenso wenig eindeutig ist die Systematik. Finanziell aufwendige Fördermaßnahmen in Bezug auf bspw. religiös Benachteiligte sind zwar im Umkehrschluss zu Art. 5 RL 2000/78/EG nicht notwendig. Über den generellen Ausschluss oder die generelle Einbeziehung von Gleichbehandlung als Form der Diskriminierung sagt dies freilich nichts. Einige Formulierungen in Urteilen des EuGH zu anderen Diskriminierungsverboten wie dem wegen der Staatsangehörigkeit (Art. 12 EG) und wegen des Geschlechts deuten zwar in Richtung eines materiellen Verständnisses von Diskriminierung. Sie ließen sich allerdings ebenfalls auf eine Ungleichbehandlung stützen. Vor allem aber existierten hier besondere Vorschriften (z.B. Art. 5 Abs. 1 RL 76/207/EWG), die wohl ausschlaggebend dafür waren, dass der EuGH einen Verstoß gegen europäisches Recht bejahte.
4. Diskussion Letztlich wird die Frage der Reichweite des Diskriminierungsverbots entscheidend sein. Im Kern geht es um die Verhinderung von Benachteiligungen von Personen(gruppen) gegenüber anderen. Ursprünglich lag das Augenmerk dabei allein auf unmittelbaren, formellen Diskriminierungen. Titel VII des Civil Rights Act 1964 sollte zunächst nur unmittelbare Diskriminierungen verbieten, denn ihr Verbot hätte ausgereicht, um die damals entstandene seperate but equal-Doktrin zu verhindern. Nach dem Sieg der Nord- über die Südstaaten und der Ergänzung der US-Verfassung um den Equal Protection Clause169 zeichnete sich in den Südstaaten eine neue Form der Diskriminierung ab, gegen die die Verfassung machtlos war: Schwarze wurden zwar nicht unbedingt schlechter behandelt als Weiße, aber von ihnen getrennt und mussten bspw. in Bussen und Eisenbahnen in separaten Abteilen Platz nehmen170 oder getrennte Schulen besuchen.171 Der Supreme Court hielt dies jedenfalls dann für verfassungsrechtlich zulässig, wenn die Gegebenheiten sich tatsächlich entsprachen.172 Dieser seperate but equal-Doktrin sollte durch Erlass des Titel VII des ______________ 169
Im vierzehnten Zusatzartikel zur amerikanischen Bundesverfassung heißt es: „No State shall deny to any person within its jurisdiction the equal protection of the laws.“ Vgl. hierzu Tribe, American Constitutional Law, pa. 1297 ff. 170 Vgl. Plessy v. Ferguson, 163 US. 537 (1896). 171 Vgl. Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483 (1954). 172 Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 537, 548 ff. (1896); Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483, 492 f. (1954); s. hierzu Brody, 29 Akron L.Rev. 291, 300 ff. (1996).
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
Civil Rights Act begegnet werden.173 Die Gerichte erkannten allerdings schnell, dass ein Verbot unmittelbarer Diskriminierungen nicht ausreicht, um effektiv gegen Benachteiligungen und Rassentrennungen vorzugehen, und so fügte der US-Supreme Court der sog. Disparate Treatment Theory die Disparate Impact Theory hinzu und erkannte damit 1971 erstmals an, dass auch formal unterschiedslose Maßnahmen diskriminierenden Charakter haben können.174 Um also Diskriminierungen effektiv zu verhindern, wurde die mittelbare Diskriminierung entwickelt und ist mittlerweile auch im europäischen Recht feste dogmatische Figur.175 Darüber hinaus verbieten die RL 2000/43/EG und 2000/78/EG auch die Anweisung zur Diskriminierung, womit ebenfalls das Ziel verfolgt wird, Benachteiligungen effektiver zu erfassen.176 Bildlich ließe sich das Diskriminierungsrecht als eine Fülle von konzentrischen Kreisen darstellen: In der Mitte steht die unmittelbare Diskriminierung. Um sie effektiv zu verhindern, folgt ein größerer Kreis in Form der mittelbaren Diskriminierung, dann einer, der die Anweisung zur Diskriminierung symbolisiert. Es stellt sich die Frage, ob dem Diskriminierungsrecht ein weiterer konzentrischer Kreis hinzuzufügen ist, den der verbotenen Gleichbehandlung, die sich unterschiedlich auswirkt.
a) Abgrenzungsschwierigkeiten bei einer Beschränkung auf Ungleichbehandlungen Weder ein Ja noch ein Nein auf diese Frage bleiben ohne Abgrenzungsschwierigkeiten. Wird Gleichbehandlung außen vor gelassen, muss zwischen Gleich- und Ungleichbehandlung unterschieden werden. Wann behandelt der Arbeitgeber eigentlich seine Arbeitnehmer verschieden? Verbietet er bspw. sämtliche Kopftücher, ließe sich hierin eine Gleichbehandlung sehen, schließlich richtet sich die Maßnahme ausnahmslos an alle Mitarbeiter. Dann liefe das Diskriminierungsverbot allerdings weitgehend leer, denn es könnte bereits ______________ 173 Rutherglen, 73 Va. L. Rev. 1297, 1302 (1987); Brody, 29 Akron L.Rev. 291, 300 ff. (1996); aus dem deutschsprachigen Schrifttum s. Stampe, Verbot der indirekten Diskriminierung, 2001, S. 45 f. 174 Grdl. Griggs v. Duke Power, 401 U.S. 424, 431 (1971); s. auch die Entscheidung International Broterhood of Teamsters v. U.S., 431 U.S. 324, 335 (1977) und Rutherglen, Employment Discrimination Law, 2001, S. 70 ff.; s. aus dem deutschen Schrifttum Wisskirchen, Mittelbare Diskriminierung, 1994, S. 30. 175 Ob sie allerdings allein dazu dient, unmittelbare Diskriminierungen zu verhindern oder eine darüber hinausgehende eigenständige Bedeutung hat, ist umstritten; hierzu Rutherglen, Employment Discrimination Law, 2001, S. 72 ff. 176 Zur Anweisung s. Hoppe/Wege, Anm. zu ArbG Wuppertal, LAGE Nr. 2a zu § 626 BGB 2002, S. 5, 29 ff.
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung?
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dadurch umgangen werden, dass der Arbeitgeber eine Anweisung formal allen Arbeitnehmern erteilt, obwohl sie eigentlich nur wenige betrifft. Man kommt deshalb nicht umhin, entweder den Zweck der jeweiligen Maßnahme oder deren Wirkungen in die Betrachtung einzubeziehen. Letzteres läuft auf materielle Kriterien hinaus,177 ohne dass es dabei um eine materielle Diskriminierung geht. Die Abgrenzung fällt nicht leicht, ist aber – wie noch zu zeigen sein wird – möglich (s. hierzu Abschnitt 5).
b) Umfassender Schutz vor Diskriminierungen Die Materialien der Richtlinien betonen, wie wichtig ein umfassender Schutz vor Diskriminierungen ist.178 Auch das deutsche Schrifttum legt die Diskriminierungsverbote wegen des Geschlechts (§ 611a BGB a.F.) und einer Behinderung (§ 81 Abs. 2 SGB IX a.F.) anhand dieses umfassenden Regelungszwecks aus.179 Angesichts dessen überraschen die Ergebnisse, die sich ergäben, wenn Gleichbehandlungen außen vor gelassen werden. Bleibt man bei dem Beispiel der Muslima mit Kopftuch, hinge hier eine Diskriminierung letztlich vom Formulierungsgeschick des Arbeitgebers ab.180 Verbietet er muslimische Kopftücher in seinem Betrieb, benachteiligt er die Muslima wegen ihrer Religion, und zwar unmittelbar. Nur in wenigen Fällen wird es ihm möglich sein nachzuweisen, dass der Verzicht auf ein Kopftuch eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung für die Tätigkeit darstellt, die eine solche Ungleichbehandlung rechtfertigt (vgl. § 8 Abs. 1 AGG und Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG). Verbietet der Arbeitgeber aber glaubhaft jegliche Art der Kopfbedeckung, obwohl es ihm eigentlich nur darauf ankommt den Hijab zu verhindern, würde eine Benachteiligung mangels Ungleichbehandlung ausscheiden. Der Grat zwischen zulässiger Gleichbehandlung und unzulässiger – sogar unmittelbarer – Diskriminierung ist denkbar schmal und so hinge es maßgeblich von der Überzeugungskraft des Arbeitgebers ab, ob das AGG eingreift oder nicht. Selbstverständlich wäre ein solcher Fall dennoch mit den Mitteln des deutschen Rechts angemessen zu lösen, wie das BAG im Fall der kopftuchtragenden Verkäuferin anschaulich dargelegt hat. Es ist nur schwer vorstellbar, dass das doch so umfassend gedachte europäische Diskriminierungsverbot ______________ 177
Darauf weist auch Plötscher, Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 284 f., hin; freilich zieht er hieraus andere Schlüsse, s. Abschnitt IV.5. 178 s. den Vorschlag der Kommission zur RL 2000/78/EG (KOM (1999), 565 endg., S. 11), die Stellungnahme des Ausschusses für Regionen (Abl. EG 2000/C 226/1 f.) sowie die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses (Abl. EG 2000/C 204/82 ff.). 179 So etwa im Hinblick auf § 81 SGB IX a.F. ErfK-Rolfs, § 81 SGB IX Rn. 7. 180 Hierauf weist auch Wernsmann, JZ 2004, 224, 228, in anderem Zusammenhang hin.
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
einen solchen Fall nicht erfassen soll. Noch deutlicher mag es der umgekehrte Fall illustrieren: Ein Arbeitgeber verlangt von sämtlichen Arbeitnehmern das Tragen einer bestimmten Arbeitskleidung. Die kopftuchtragende muslimische Arbeitnehmerin und der Baghwan-Anhänger lehnen dies ab. Auch in diesem Fall bestünde kein diskriminierungsrechtlicher Schutz vor Benachteiligungen. Allerdings stellt sich die Frage, ob in diesen Fällen ein Diskriminierungsverbot überhaupt überzeugende Lösungen liefern kann. Es erfordert stets einen Vergleich zwischen Arbeitnehmern. Will der Einzelne hingegen religiöse Bedürfnisse für sich reklamieren, nützt ein Blick auf seine Kollegen wenig. Es hängt nicht von ihnen ab, ob dem Arbeitnehmer gestattet werden kann, seinen religiösen Geboten zu folgen oder nicht, sondern vom Arbeitgeber. M.a.W.: Maßstab für die Zulässigkeit bzw. die Begrenzung der Bedürfnisse des Arbeitnehmers sind nicht die Bedürfnisse der anderen, sondern die des Arbeitgebers. Es hängt von seinen betrieblichen Interessen ab, ob dem Arbeitnehmer gestattet werden kann, einen Turban zu tragen, zwischendurch zu beten oder für seine Religionsgemeinschaft zu werben. Selbst wenn Kollegen betroffen sein sollten, z.B. durch besonders provokante oder aufdringliche Werbemaßnahmen, dann ist die Unterbindung dieser Praxis auch ein betriebliches Interesse und damit eines des Arbeitgebers, denn ihm ist daran gelegen, dass der Umgang der Mitarbeiter reibungslos abläuft und es nicht zu schwerwiegenden, die Arbeit belastenden Konflikten kommt. Die Blickrichtung des Antidiskriminierungsrechts ist in Fällen der Gleichbehandlung deshalb wenig aufschlussreich. Sie ist vielmehr sinnvoll, wenn der Arbeitgeber gerade ungleich behandelt, weil dann – aber auch nur dann – ein horizontaler Vergleich Auskunft darüber geben kann, ob die Handlungen des Arbeitgebers angemessen sind oder nicht.
c) Schwierigkeiten bei einer reinen Wirkungsbetrachtung Bezieht man andererseits Gleichbehandlung ein und sieht man deshalb auch in einer unterschiedslosen Behandlung sämtlicher Arbeitnehmer eine Diskriminierung, wenn sich die Maßnahme nur im Ergebnis verschieden auswirkt, steht man vor einem anderen, nicht minder schwierigen Problem, auf das auch im deutschen Schrifttum schon hingewiesen wurde:181 die Verbindung zwischen den sich ergebenden Nachteilen und dem verpönten Merkmal. Fordert man, dass die Maßnahme selbst eine – wie auch immer geartete – Unterscheidung trifft, z.B. zwischen Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten, ist es verhältnismäßig einfach, diese Unterscheidung auf ein verpöntes Merkmal zurückzuführen. Hier können einerseits Statistiken helfen, wie sie auch der EuGH im Fall der Dis______________ 181
Plötscher, Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 284 f. und S. 290.
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung?
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kriminierung von Teilzeitbeschäftigten herangezogen hat, oder wertende Kriterien wie er sie etwa im Fall der Wanderarbeiter verwendete.182 Ergibt sich aber erst auf Ergebnisebene eine Unterscheidung, ist bislang nicht geklärt, wie sie auf ein verbotenes Merkmal zurückzuführen ist. Ursache für den entstandenen Nachteil muss dann nämlich nicht zwangsläufig allein die Maßnahme des Arbeitgebers sein. Der Nachteil kann vielmehr auch dadurch bedingt sein, dass die Maßnahme des Arbeitgebers unglücklich mit der eines Dritten zusammentrifft oder sogar dadurch, dass sie tatsächliche Vorbedingungen nicht berücksichtigt.183 Verlangt der Arbeitnehmer bspw. von der Arbeit am Donnerstag Nachmittag frei gestellt zu werden, weil er an einer religiösen Meditationsübung teilnehmen möchte, ist die Regelung „Alle müssen von Montag bis Freiheit jeweils in der Zeit von 9.00 bis 18.00 Uhr arbeiten“ für ihn nachteilig. Der Nachteil beruht aber nicht allein auf seinen religiösen Vorstellungen, sondern auf der Terminplanung der Religionsgemeinschaft, der er angehört. Ist es eine Diskriminierung wegen der Religion, wenn der Arbeitgeber ihm den Wunsch verwehrt? Muss der Arbeitgeber hier Anstrengungen unternehmen, um ihm den Wunsch zu erfüllen, obwohl andere in der gleichen Zeit auch gerne an Sportveranstaltungen o.ä. teilnehmen möchten? Das Antidiskriminierungsrecht mit seiner horizontalen Blickrichtung und dem Vergleich zu den übrigen Arbeitnehmern hält keine Kriterien bereit, um jene Fragen zu beantworten. Dies gelingt eher, wenn man eine vertikale Blickrichtung einnimmt und Interessen des Arbeitgebers denen des Arbeitnehmers gegenüber stellt, wie es etwa die deutsche Rechtsprechung bereits bislang im Rahmen der Fürsorgepflichten unternahm. Sollte prinzipiell Gleichbehandlung als Diskriminierungsform anerkannt werden, wäre jedenfalls ein Korrektiv notwendig, denn der Arbeitgeber kann nicht für sämtliche Handlungen Dritter haftbar gemacht werden oder für Vorbedingungen, die womöglich sogar der Gesetzgeber selbst schafft. Dann bliebe nur eine Einschränkung auf adäquate bzw. zurechenbare Kausalverläufe.184 Eine Wirkungsbetrachtung alleine genügt jedenfalls auch dann nicht. Stattdessen wäre das Diskriminierungsverbot weitgehend wertungsoffen. Der Rechtssicherheit diente das nicht.
______________ 182
Hierzu bereits Abschnitt IV.3.a)cc) sowie Abschnitt VI.3.b)dd). Plötscher, Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 284. 184 So auch Plötscher, Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 285; s. auch Abschnitt VI.3.d). 183
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
d) Gleichheits- und Freiheitsrechte Hieraus ergibt sich bereits der wichtigste Einwand gegen eine Einbeziehung einer reinen Wirkungsbetrachtung. Fälle der Gleichbehandlung sind eher durch die Anwendung von Freiheits- als durch Gleichheitsrechte angemessen zu lösen. Behandelt der Arbeitgeber alle Arbeitnehmer gleich, mag sich der Einzelne dagegen wehren, weil er aus religiösen Gründen samstags nicht arbeiten kann oder es ablehnt an einem blasphemischen Konzert mitzuwirken.185 Ob er diese Rechte für sich reklamieren darf, ob er also verlangen kann, anders behandelt zu werden als seine Kollegen, ist aber keine diskriminierungsrechtliche Frage. Hier müssen die Interessen des Arbeitgebers an der Vertragsdurchführung den religiösen Bedürfnissen des Arbeitnehmers gegenüber gestellt werden, denn es geht um die Frage, ob der einzelne Arbeitnehmer seine speziellen Bedürfnisse im Arbeitsalltag auch wahrnehmen kann, wenn sie betrieblichen Interessen entgegen stehen. Es ist also ein vertikaler und kein horizontaler Vergleich angebracht. Letzterer kann nur überzeugen, wenn der eine anders behandelt wird als der andere. Dann – und nur dann – ist es sinnvoll, die Arbeitnehmer einander gegenüberzustellen, um festzustellen, ob diese Unterscheidung des Arbeitgebers gerade auf der Religion beruht. Werden demgegenüber sämtliche Arbeitnehmer einheitlichen Regelungen unterworfen, nutzt ein horizontaler Vergleich nichts, das zeigt sich insbesondere am Merkmal der Religion. Wozu soll ein Vergleich mit den Kollegen führen, wie ihn das Diskriminierungsrecht stets fordert, wenn niemand da ist, der die religiösen Ansichten des Betreffenden teilt? Zwar genügt eine hypothetische Vergleichsperson,186 aber das Konstrukt einer hypothetischen Vergleichsperson misslingt gerade im Fall der Gleichbehandlung. Hier werden ja sämtliche Arbeitnehmer – auch die hypothetische Vergleichsperson – identisch behandelt. Wem soll die einzige kopftuchtragende Muslima gegenüber gestellt werden? Einer anderen Frau islamischen Glaubens, die ebenfalls den Hijab trägt? Sie würde im Zweifel genauso behandelt werden, dies sagt aber noch nichts über die Rechtmäßigkeit des Verbots aus. Stellt man sie aber einer Christin gegenüber, wird man ihr nicht gerecht. Die beiden Frauen wären nicht vergleichbar. Die hier auftretende Problematik ist in anderem Gewande seit langem bekannt. Ein Gleichheitssatz ist für sich genommen zunächst semantisch leer: Er verbietet Ungleichbehandlungen (und Gleichbehandlungen), ohne selbst Maßstäbe dafür bereit zu stellen, wann eine Ungleichbehandlung oder eine Gleich-
______________ 185 186
Vgl. hierzu die in Kap. 3 II.3.a) und II.3.e) dargestellten Urteile. Hierzu Abschnitte VI.3.a)bb) und VI.3.c).
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung?
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behandlung gerecht ist.187 Dies erkannte bereits Aristoteles, als er mit Blick auf die Vergabe öffentlicher Ämter feststellte: „Denn das Gerechte bei den Verteilungen muß nach einer bestimmten Angemessenheit in Erscheinung treten; darin stimmen alle überein. Aber gerade unter dieser Angemessenheit verstehen nicht alle dasselbe: die Vertreter des demokratischen Prinzips meinen die Freiheit, die des oligarchischen den Reichtum, oder den Geburtsadel, und die Aristokraten den hohen Manneswert.“188
Angemessenheit kann also nur mit Hilfe von Wertungen außerhalb des Gleichheitssatzes festgestellt werden. Steht er im Kontext eines größeren Normgefüges, lässt sich hieraus folgern, wann eine ungleiche Behandlung gerecht ist und wann Gleichheit gefordert wird. Eine solche Verknüpfung zwischen Gleichheits- und Freiheitsrechten stellte das BVerfG für Art. 3 Abs. 1 GG insbesondere mit seiner sog. Neuen Formel her, indem es als Maßstab der Gerechtigkeit die verfassungsrechtlichen Freiheitsrechte heranzog und das Gebot der Verhältnismäßigkeit auf den Schutz des Gleichheitsgrundrechts übertrug.189 Eine vergleichbare Lösung eröffnet die RL 2000/78/EG nicht. Sie stellt klar, dass niemand wegen seiner Religion oder einer anderen Eigenschaft zurückgesetzt werden darf, ohne jedoch Maßstäbe dafür bereit zu stellen, wann auf besondere Bedürfnisse des Einzelnen zu Lasten der Gemeinschaft Rücksicht zu nehmen ist. Es fehlt an einer Bestimmung, wann Gleichheit und Ungleichheit gerecht sind. Sie lässt sich auch keinem größeren Normgefüge entnehmen, in das die Richtlinie eingebettet wäre. Anders könnte dies zu beurteilen sein, wenn die Europäische Verfassung190 tatsächlich wie ursprünglich geplant in Kraft treten sollte. Sie verbietet in Art. II-21 Abs. 1 Diskriminierungen und enthält in den Art. II-1 ff. grundlegende Freiheitsrechte. Hier ließe sich eine unmittelbare Verbindungslinie zwischen freiheits- und gleichheitsrechtlichem Schutz ziehen und so könnten die Art. II-1 ff. Maßstäbe auch für gerechte Gleich- und Ungleichheit aufstellen. In diese Richtung weist auch der EuGH mit seiner Entscheidung Mangold/Helm. Sollte er die dort begründete Rechtsprechung fortsetzen, könnte eine solche Verbindung ______________ 187 Ellscheid in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, C. 4.2.4.3, S. 214, 238 f.; A. Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 156; Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, S. 366 f.; in Bezug auf Art. 3 Abs. 1 GG Podlech, Gleichheitssatz, 1971, S. 77 ff.; Sachs-Osterloh, GG, Art. 3 Rn. 5; zur klassichen Diskussion über „Leere“ oder eigenständigen materiellen Gehalt des Gleichheitssatzes s. Henkel, Rechtsphilosophie, 1977, S. 395 ff. 188 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, Kap. 6, 1131a. 189 Grdl. BVerfG, NJW 1981, 271 f.; seitdem st. Rtspr., vgl. nur BVerfG, NJW 1990, 2246 f.; zu den Auswirkungen auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz s. Wiedemann, Gleichbehandlungsgebote, 2001, S. 54 ff. 190 Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa, ausgearbeitet vom Europäischen Konvent (Abl. EG 2003/C 169, 1).
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
zwischen dem allgemeinen europäischen Gleichheitssatz und den europäischen Grundrechten entstehen, ohne dass eine europäische Verfassung kodifiziert ist. Dazu wäre allerdings ein deutlich höherer Begründungaufwand notwendig als ihn der EuGH bislang geleistet hat191.
Bis dahin bieten die RL 2000/43/EG und 2000/78/EG allein Schutz vor Ungleichbehandlungen, ohne selbst Maßstäbe für die Vereinbarkeit von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen bereit zu stellen. Dies kann deshalb nur in Anwendung von außerhalb der europäischen Vorgaben stehenden Wertungen geschehen und hierfür haben das deutsche Recht und die anderen europäischen Rechtsordnungen bereits bislang überzeugende Regelungen gefunden. Damit eröffnet sich zudem eine relativ trennscharfe Abgrenzung zwischen dem neuen Antidiskriminierungsrecht und den bisherigen, überwiegend auf Freiheitsrechten basierenden Lösungen. In Bezug auf das Merkmal der Behinderung ist es hingegen folgerichtig, auch die Gleichbehandlung von Ungleichem zu verbieten, denn hier ist von vorne herein klar, wer des Schutzes bedarf: Nicht-Behinderte müssen vor Diskriminierungen gegenüber Behinderten geschützt werden und nicht umgekehrt. Hier lassen sich positive Fördermaßnahmen statuieren (vgl. Art. 5 RL 2000/78/EG) und diese setzen selbstverständlich an einer Gleichbehandlung von Behinderten und Nicht-Behinderten an. Bei Merkmalen, die vielschichtig sind und bei denen sich nicht zwei relativ klar abgrenzbare Gruppen gegenüberstehen, muss dies allerdings vertraglichen Nebenpflichten und Freiheitsrechten vorbehalten bleiben.
e) Stellungnahme und Zwischenergebnis: Diskriminierung setzt Ungleichbehandlung voraus Die besseren Argumente sprechen dafür, Gleichbehandlung auszuklammern. Eine reine Wirkungsbetrachtung nähme dem Diskriminierungsrecht seinen spezifischen Charakter. Es lebt von einem Vergleich des (potentiell) Diskriminierten mit Seinesgleichen, der misslingt (oder zumindest wenig aussagekräftig ist), wenn alle gleich behandelt werden. Hier geht es um eine andere Form der Gerechtigkeit,192 die hergestellt werden kann durch Abwägung der Interessen des Arbeitgebers mit denen des (einzelnen) Arbeitnehmers, nicht aber durch Vergleich mit dessen Kollegen.
______________ 191 192
Siehe hierzu Abschnitt II.5. Thüsing, ZfA 2001, 397, 399.
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung?
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Entsprechend hat das BAG im sog. Nato-Pillen-Fall193 entschieden, dass zwar bei einer Arbeitsverweigerung aus Gewissensgründen auch die Wiederholungswahrscheinlichkeit eines solchen Konflikts gewürdigt werden müsse; es korrigierte die Vorinstanz aber ausdrücklich dahingehend, dass hierfür nur auf den einzelnen betroffenen Arbeitnehmer und nicht auf die übrige Belegschaft abzustellen sei.194 Das Gericht hat einem horizontalen Vergleich der Mitarbeiter damit eine deutliche Absage erteilt. Die Rechtsprechung des BAG ist zwar nicht maßgebend für die Auslegung von Europarecht, sie zeigt aber, dass erhebliche Vorbehalte gegen eine Horizontalbetrachtung zwischen Arbeitnehmern in derartigen Fällen bestehen. Die Rechtsprechung hat ohnehin bereits bislang jedenfalls im Ergebnis überzeugende Lösungen gefunden, sei es aufgrund arbeitsvertraglicher Nebenpflichten, einer Begrenzung des Weisungsrechts oder eines Leistungsverweigerungsrechts.195 Dabei sollte es bleiben. Dass es das US-amerikanische Recht anders handhabt, muss nicht Vorbild für die europäische Rechtsordnung sein. Diskriminierungsrecht nimmt dort viel weiter gehende Funktionen wahr, die hierzulande mittels anderer Instrumentarien in den Griff zu bekommen sind.196 Darüber hinaus geht der Wortlaut der einschlägigen Regelung bereits weiter als das europäische Recht und fordert ausdrücklich reasonable accomodations, also Maßnahmen des Arbeitgebers, um den religiösen Bedürfnissen des Arbeitnehmers nachzukommen. In sec. 701(j) Title VII des Civil Rights Act, heißt es: “The term ‚religion‘ includes all aspects of religious observance and practice, as well as belief, unless an employer demonstrates that he is unable to reasonably accommodate to an employee's or prospective employee's religious observance or practice without undue hardship on the conduct of the employer's business.”
Vergleichbares findet sich in den europäischen Richtlinien und im deutschen Recht nur für das Merkmal der Behinderung. Nach Art. 5 RL 2000/78/EG ist der Arbeitgeber verpflichtet, positive Maßnahmen für Behinderte zu ergreifen. Zwar lässt sich hieraus noch nicht der Umkehrschluss ziehen, dass ansonsten nur Ungleichbehandlungen erfasst wären (s. 3.c)); aber Art. 5 RL 2000/78/EG eröffnet den Blick dafür, dass die Richtlinien im Übrigen keine Regelung bereitstellen, die – ähnlich dem US-amerikanischen Recht – positive Maßnahmen des Arbeitgebers fordert. Weder die RL 2000/78/EG noch das AGG beantworten die Frage, wie weit der Arbeitgeber verpflichtet ist, dem einzelnen Arbeitnehmer und seinen (religiösen) Bedürfnissen entgegen zu kommen. ______________ 193
Hierzu Kap. 3 II.3.c). BAG, NZA 1990, 144, 147. 195 s. Kap. 5 II und IV. 196 s. Thüsing, ZfA 2001, 397, 398. 194
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Der hier vorgestellten Konzeption mag man vorwerfen, sie führe im Einzelfall zu Schutzlücken, da Fälle der Gleichbehandlung nicht erfasst sind. Schutzlücken dürften indes selten sein. Rücksichtnahmepflichten des Arbeitgebers kannten die europäischen Rechtsordnungen bereits vor Erlass der Antidiskriminierungsrichtlinien. Auch danach haben sie ihre Wirkungen nicht verloren.
5. Ein eigenes Konzept zur Unterscheidung zwischen Gleich- und Ungleichbehandlungen Die Schwierigkeit, die sich ergibt, wenn man Diskriminierung durch Gleichbehandlung ablehnt, wurde bereits angesprochen: Sie liegt in der Abgrenzung von Gleich- und Ungleichbehandlungen.197 Dieser Problematik soll im Folgenden nachgegangen werden. Ziel ist es, einen Vorschlag zu unterbreiten, um die Reichweite des neuen Diskriminierungsrechts abzustecken. Dabei wird es – das sei vorweggenommen – auf ein materielles Verständnis von Ungleichbehandlung hinauslaufen, ohne jedoch sämtliche Fälle materieller Diskriminierung198 zu erfassen. Die Analyse hat gezeigt, dass weder die Einbeziehung reiner Gleichbehandlungen in den Anwendungsbereich des Diskriminierungsrechts überzeugt, noch deren gänzliche Ausklammerung. Die vorgestellte Konzeption soll zum einen dazu dienen, Gleich- und Ungleichbehandlungen voneinander unterschieden zu können; zum anderen wird gerade dadurch ein Kompromiss gesucht zwischen den beiden für sich alleine nicht überzeugenden Alternativen.
a) Problematik Das bereits erwähnte Beispiel zeigt, wie schwierig die Abgrenzung zwischen Gleich- und Ungleichbehandlungen ist. Der Arbeitgeber, der sämtliche Kopfbedeckungen verbietet, dem es aber eigentlich allein um den Imageschaden durch Kopftücher tragende Muslima geht, unterscheidet letztlich doch nach der Religion, obwohl er formell alle Arbeitnehmer gleich behandelt. Auch dann, wenn letztlich nur Muslima betroffen sind, weil nur sie während der Arbeit auf eine Kopfbedeckung bestehen, ließe sich einerseits von einer Gleichbehandlung aller sprechen, da das Verbot einer Kopfbedeckung ausnahmslos für sämtliche Arbeitnehmer gilt, andererseits aber auch von einer Ungleichbehandlung, weil nur Arbeitnehmerinnen islamischen Glaubens betroffen sind. Das zeigt, wie unbefriedigend es wäre, allein auf die formelle Ausgestaltung einer Maßnahme abzustellen; dann hinge es allein vom Formulierungsgeschick des Arbeitgebers ______________ 197 198
s. Abschnitt IV.4.a). Zu den Begriffen s. Abschnitt IV.2.a).
IV. Diskriminierung durch Gleichbehandlung?
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ab, ob das Diskriminierungsverbot greift oder nicht. Um dies zu verhindern, müssen handhabbare Kriterien zur Unterscheidung zwischen Gleich- und Ungleichbehandlung herausgearbeitet werden.
b) Auslegung der Maßnahmen des Arbeitgebers im Lichte ihrer Umstände Es versteht sich von selbst, dass Anordnungen des Arbeitgebers (das gilt im Übrigen für das zivilrechtliche Diskriminierungsverbot der §§ 19 ff. AGG genauso) zunächst einmal auszulegen sind. Auch äußere Umstände sind dabei heranzuziehen wie bei jeder anderen Auslegung aus Sicht eines objektiven Dritten nach den §§ 133, 157 BGB.199 Sagt der Arbeitgeber „Keine Türken!“, meint er unter Umständen „Keine Muslime!“ oder „Keine Arbeitnehmer türkischer Herkunft!“. Insoweit ist die Anordnung im Lichte ihrer Umstände zu interpretieren, wie es bereits anhand des Urteils des ArbG Wuppertal deutlich wurde (s. V.1). Man wird noch einen Schritt weitergehen müssen, denn auch die Auslegung alleine genügt nicht zur Differenzierung zwischen Gleich- und Ungleichbehandlung. Der Arbeitgeber, der generell Kopfbedeckungen verbietet, obwohl es in seinem Betrieb ausschließlich muslimische Arbeitnehmerinnen gibt, die eine solche tragen, und obwohl es ihm nur darauf ankommt, jene zu erfassen, wäre nicht vom Diskriminierungsverbot tangiert. Die Auslegung der Maßnahme ändert daran nichts, erfasst sind gerade sämtliche Kopfbedeckungen. Hier hilft auch § 7 Abs. 1 S. 2 AGG nicht weiter. Subjektive Motive des Arbeitgebers können danach zwar objektive Merkmale unter Umständen ersetzen. Allerdings greift § 7 Abs. 1 S. 2 AGG nur, wenn der Arbeitgeber irrig das Vorliegen eines verpönten Merkmals annimmt. Wenn er hingegen weiß, welcher Religion seine Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen angehören, führt auch § 7 Abs. 1 S. 2 AGG nicht zu einer Diskriminierung. Dieses Ergebnis wäre höchst unbefriedigend und von der Willkür des Arbeitgebers abhängig. Mit geschickter Formulierung („Keine Kopfbedeckungen!“ statt „Keine islamischen Kopftücher!“) könnte er sich dem Verbot von Diskriminierungen entziehen. Zur Abgrenzung von Gleich- und Ungleichbehandlungen müssen deshalb zusätzliche Kriterien entwickelt werden, die ihrerseits die Auswirkungen der Maßnahme in den Blick nehmen und damit materiell zu verstehen sind – ohne freilich sämtliche Fälle materieller Diskriminierungen zu erfassen. Das klingt auf den ersten Blick widersprüchlich, ist es aber nicht. Es muss nur näher erläutert werden. ______________ 199
St. Rtspr., s. nur BGH, NJW 1961, 2251, 2253; BGH, NJW 1992, 1446 f.
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c) Ein Vorschlag zur Abgrenzung von Gleich- und Ungleichbehandlungen Um festzustellen, ob eine Ungleich- oder eine Gleichbehandlung vorliegt, von der nur die erstgenannte vom Diskriminierungsrecht erfasst ist, muss ein Blick auf die Wirkungen der in Rede stehenden Maßnahme geworfen werden. Betrifft sie erst einmal sämtliche Arbeitnehmer und wirkt sich nur unterschiedlich aus, liegt eine Gleichbehandlung vor; betrifft sie hingegen überhaupt nicht alle, sondern knüpft nur an einige eine bestimmte Folge, handelt es sich um einen Fall erfasster Ungleichbehandlung. Auseinander zu halten sind also drei Fragen: 1. Wen betrifft die Regelung, d.h. wen tangiert sie zunächst von ihrem Regelungsgehalt her? (Formelle Betrachtung) 2. Bei wem entfaltet sie Wirkung, d.h. wer ist von ihren Folgen tatsächlich betroffen? (Materielle Betrachtung) 3. Wie intensiv sind diese Folgen bei den einzelnen, zu vergleichenden Personen(gruppen)? Differenziert die Maßnahme eines Arbeitgebers bereits formell zwischen verschiedenen Personen(gruppen), liegt unzweifelhaft eine Diskriminierung vor: Knüpft diese Unterscheidung bereits (ausdrücklich oder konkludent) an die Religion an, handelt es sich um eine unmittelbare Benachteiligung wegen der Religion (sofern alle weiteren Voraussetzungen vorliegen). Knüpft sie nicht direkt an die Religion an, lässt sich die Unterscheidung aber auf dieses Merkmal zurückführen, liegt hierin eine mittelbare religiöse Diskriminierung. Das hier zu erörternde Problem entsteht, wenn die Maßnahme sich formell an sämtliche Arbeitnehmer richtet, dabei aber einige härter trifft als andere. Der Vorschlag lautet nun: Eine Diskriminierung liegt hierin nur, sofern die Maßnahme zumindest in ihren Wirkungen nur einige und nicht alle Arbeitnehmer trifft und damit zumindest auf Erfolgsebene eine Unterscheidung herbeiführt. Nicht um eine Diskriminierung, sondern um eine bloße Gleichbehandlung handelt es sich stattdessen, wenn die Maßnahme auch in ihren Wirkungen alle Arbeitnehmer trifft, die einen aber intensiver als andere. Wirkungsunterschiede werden also erfasst, eine bloße unterschiedliche Intensität genügt nicht.
d) Ein Beispiel Ein Beispiel vermag diese Differenzierung womöglich am ehesten zu verdeutlichen. Wenn der Arbeitgeber generell Kopfbedeckungen verbietet, behandelt er augenscheinlich alle gleich. Von dieser Regelung tangiert sind aber nur muslimische Frauen, die sich an ein religiöses Gebot des Kopftuchtragens hal-
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ten. Während in den Regelungsbereich dieser Maßnahme (s. oben Frage 1) also sämtliche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fallen, beschränkt sich ihr Wirkungsbereich (s. oben Frage 2) auf Mitarbeiterinnen, die den Hijab tragen. Für alle Übrigen hat die Anordnung keine Auswirkungen. Die Maßnahme behandelt also ungleich und unterscheidet zwischen kopftuchtragenden Muslima und den übrigen Arbeitnehmern und dies könnte eine Diskriminierung im Sinne der Richtlinien und des AGG darstellen. Verlangt der Arbeitgeber hingegen von sämtlichen Arbeitnehmern samstags zu arbeiten, behandelt er nicht nur augenscheinlich, sondern auch tatsächlich alle gleich. Sowohl in den Regelungsbereich als auch in den Wirkungsbereich fallen nämlich alle Arbeitnehmer: Jeder muss am Samstag im Betrieb arbeiten. Die Regelung hat für alle Arbeitnehmer Folgen und nicht nur für einige, wie es bei dem Verbot einer Kopfbedeckung der Fall ist. Allein die Auswirkungen der Maßnahme (s. oben Frage 3) mögen die einen härter treffen als andere, denn Juden und Siebenten-Tags-Adventisten, die den Sabbat beherzigen, können samstags nicht arbeiten. Dies ist, der hier vorgeschlagenen Differenzierung folgend, ein Fall der Gleichbehandlung, der vom Diskriminierungsverbot (wegen der Religion) nicht erfasst ist. Das Ergebnis ist einsichtig: Eine Maßnahme, die sämtliche Arbeitnehmer erfasst und ihnen eine Pflicht auferlegt, einen Vorteil nimmt oder zuteil werden lässt, mag zwar ungerecht sein, ist aber eben keine Diskriminierung, die nun einmal voraussetzt, das eine Gruppe anders behandelt wird als eine andere. Um aus Gleichbehandlung resultierenden Ungerechtigkeiten zu begegnen, ist nicht das Diskriminierungsrecht zuständig, sondern das übrige Arbeitsrecht. Die vorgeschlagene Differenzierung lehnt sich in gewisser Weise an die Unterscheidung zwischen Normanwendungs- und Ergebnisgleichheit bzw. Handlungs- und Erfolgsunrecht an.200 Die Regelung des Arbeitgebers muss im Hinblick auf beide Aspekte untersucht werden. Berührt sie alle Arbeitnehmer, können nur die einen ihre Wirkungen besser ertragen als andere, so liegt hierin eine Gleichbehandlung, also eine nicht vom AGG verbotene materielle Diskriminierung; berührt sie hingegen nur einige überhaupt, kann eine mittelbare Diskriminierung vorliegen, weil dann unterschiedlich behandelt wird.201 ______________ 200 Allerdings anders als Fastrich dies versteht (RdA 2000, 65, 67 ff.). Ihm zufolge sind sämtliche speziellen Diskriminierungsverbote Gleichstellungsgebote (zu diesem Begriff s. Abschnitt IV.2.b), die Ergebnisgleichheit verlangten. Mit Ergebnisgleichheit in diesem Sinne ist Statusgleichheit gemeint: Ein bestimmtes Differenzierungskriterium darf nicht Anknüpfungspunkt für eine Ungleichbehandlung sein. Eine Abgrenzung zwischen Ungleichund Gleichbehandlung nimmt Fastrich damit nicht vor. 201 Vgl. Plötscher, Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 285 ff., der von einem sog. „finalen“ Diskriminierungsbegriff ausgeht.
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Ob eine Regelung ungleich oder gleich behandelt, muss also anhand materieller Kriterien festgestellt werden, d.h. anhand der Auswirkungen einer Maßnahme. Hierin liegt jedoch kein Zirkelschluss. Dieses materielle Verständnis von Ungleichbehandlung deckt sich nicht bzw. nicht vollständig mit dem der materiellen Diskriminierung. Nur wenn die Regelung in ihrem Wirkungsbereich einige tangiert, andere aber nicht und damit dort eine Unterscheidung trifft, kann eine Diskriminierung vorliegen. Es werden also nur die Fälle materieller Diskriminierung erfasst, in denen einige betroffen sind, andere aber überhaupt nicht; nicht hingegen diejenigen Fälle, in denen alle betroffen sind, einige nur stärker als andere.
6. Ausblick Die ersten Stellungnahmen im Schrifttum zur Frage der Gleichbehandlung zeigen, dass ein gewisses Unbehagen besteht, Gleichbehandlung als eine Art der Diskriminierung anzuerkennen. 202 Zu Recht. Die besseren Argumente sprechen dagegen und so sollten auch weiterhin in Fällen der Gleichbehandlung durch den Arbeitgeber die bewährten zivilrechtlichen Instrumentarien greifen. Die dann auftretende Problematik der Abgrenzung zwischen Gleich- und Ungleichbehandlung ist wie beschrieben lösbar. Der soeben unterbreitete Vorschlag stellt den Versuch einer relativ klaren Eingrenzung des Diskriminierungsrechts dar, der auch in seinen Folgen (s. auch Kap. 7) zu angemessenen Ergebnissen führt. Insbesondere die Frage der Zurechnung einer Benachteiligung zum Arbeitgeber lässt sich dadurch überzeugend beantworten (s. Abschnitt VI.3.d)). Nicht gesagt ist damit freilich, dass sich das europäische Diskriminierungsrecht nicht fortentwickeln wird. Mit Inkrafttreten einer europäischen Verfassung wird sich auch das Diskriminierungsrecht verändern. Aber selbst ohne kodifizierte Verfassung könnte in Fortentwicklung der Rechtsprechung des EuGH ein umfassenderes Diskriminierungsrecht entstehen, das womöglich auch Pflichten zur Ungleichbehandlung enthält (s. Abschnitt 4.d)). Hierzu sind allerdings einige Rechtsfortbildungen erforderlich. Es bedarf dazu nicht bloß der Begründung eines europäischen Grundrechts auf freie Religionsausübung; hierzu hat der EuGH möglicherweise in der Entscheidung Prais bereits den Grundstein gelegt.203 Vielmehr wäre eine umfassende Schutzpflichtdogmatik notwendig, um Rechtswirkungen auch im Horizontalverhältnis zu begründen. Zudem müssten die Grenzen des Art. 13 EG sorgfältig ausgelotet werden. Er ______________ 202 203
s. die Nachweise in Fn. 61. So zumindest etwa Borowski, Glaubens- und Gewissensfreiheit, 2006, S. 159.
V. Religion im Verhältnis zu anderen Diskriminierungsmerkmalen
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hebt den Schutz vor Diskriminierungen auf primärrechtliche Ebene; ob damit auch die Kompetenz zur Ausgestaltung eines umfassenden Nebenpflichtenprogramms im Arbeitsrecht der Europäischen Gemeinschaft überantwortet wurde, ist zweifelhaft. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Einstweilen sollte das Diskriminierungsrecht deshalb auf seinen ureigensten Anwendungsbereich beschränkt werden: den Schutz vor Diskriminierungen, d.h. vor nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlungen. Alles andere ist (noch?) Sache der Mitgliedstaaten. Sollten sich dabei im Einzelfall Schutzlücken ergeben, sei an Johann Wolfgang von Goethe erinnert: „Lieber ein bisschen Ungerechtigkeit als Unordnung“.
V. Religion im Verhältnis zu anderen Diskriminierungsmerkmalen Der Blick soll nun vom Allgemeinen zum Besonderen gewendet werden. In einem ersten Schritt wird das Merkmal der Religion zu weiteren verpönten Merkmalen in Beziehung gesetzt, um religiöse Diskriminierungen von anderen Formen der Benachteiligung abzugrenzen (hierzu sogleich). Im Anschluss daran werden in Abschnitt VI die Voraussetzungen und Rechtsfolgen religiöser Diskriminierungen dargestellt.
1. Abgrenzungsschwierigkeiten Mit dem Merkmal der Religion eng zusammen hängen einerseits die Merkmale der Rasse und ethnischen Herkunft und andererseits das der Staatsangehörigkeit. Wer sagt „Keine Türken!“, unterscheidet augenscheinlich nach der Staatsangehörigkeit, meint aber häufig „Keine Muslime!“ und unterscheidet damit nach der Religion. Sind aber stattdessen nicht türkische Staatsangehörige oder Mitglieder des Islam, sondern Menschen osmanischer Herkunft gemeint, wird nach der Ethnie unterschieden. Wie schmal die Grenze zwischen diesen Merkmalen ist, zeigt das Urteil des ArbG Wuppertal204 vom Dezember 2003. Ein Arbeitgeber hatte seinem für Einstellungen zuständigen Personalchef erklärt, er solle in Zukunft „keine Türken“ mehr einstellen, da es bei Konflikten in der Vergangenheit häufig zu handgreiflichen Auseinandersetzungen mit Verwandten seiner türkischen Arbeitnehmerinnen gekommen sei. Der Arbeitgeber unterschied hier nicht nach der Staatsangehörigkeit, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte, son______________ 204
LAGE Nr. 2a zu § 626 BGB 2002 mit Anm. Hoppe/Wege.
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dern nach der ethnischen Herkunft, denn es kam ihm nicht darauf an, dass seine zukünftigen Arbeitnehmer keinen türkischen Pass besitzen, sondern darauf, dass sie keine türkischen Verwandten haben. Ob jemand – aus der Sicht des Arbeitgebers eher zu Gewalt bereite – aus der Türkei stammende Verwandte hat, richtet sich nicht nach der Staatsangehörigkeit, sondern nach seiner Herkunft. Die Feststellung, ob eine Benachteiligung nun an die Staatsangehörigkeit, die Rasse oder ethnische Herkunft oder die Religion anknüpft, kann also im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten. Sie ist allerdings wichtig, weil eine Diskriminierung jeweils unterschiedliche Voraussetzungen hat.
2. Verhältnis zum Diskriminierungsverbot wegen der Staatsangehörigkeit a) Schutzbereich Art. 12 EG gilt zwar unmittelbar auch im Privatrechtsverkehr, schützt aber nur Staatsangehörige der Mitgliedstaaten. Der EG-Vertrag konstituiert eine Gemeinschaft der Unionsbürger, an der Drittstaatsangehörige nur teilnehmen, soweit ihnen dies kraft besonderer Bestimmungen zugestanden wird.205 Fehlt eine ausdrückliche Bestimmung, bleibt es bei der Geltung einer Norm für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten. In diesem Sinn hat auch der EuGH entschieden, „dass es im Vertrag keinen allgemeinen Grundsatz gibt, der die Gemeinschaft verpflichtet, in ihren Außenbeziehungen die verschiedenen Drittländer in jeder Hinsicht gleich zu behandeln“. 206 Wenn es aber keine Gleichbehandlung zwischen den Drittstaatlern gibt, gibt es auch keine zwischen Drittstaatsangehörigen und Unionsbürgern.207 Insofern steht Art. 12 EG dem durch die Richtlinien ausgestalteten Art. 13 EG in seiner Schutzintensität nach; ein Schutz von Nicht-Unionsbürgern ist nicht gesichert. Diese werden sich daher im Ernstfall eher auf eine Diskriminierung wegen der ethnischen Herkunft oder der Religion berufen als auf eine Benachteiligung wegen ihrer Staatsangehörigkeit.208 ______________ 205
Schwarze-Holoubek, Art. 12 EGV Rn. 20 mwN. EuGH, Rs. 52/81 (Faust), Slg. 1982, 3745, Rn. 25; ebenso EuGH, Rs. C-122/95 („Bananen“), Slg. 1998, I-973, Rn. 56. 207 Schwarze-Holoubek, Art. 12 EGV Rn. 19 f.; ausführlich Schönberger, Unionsbürger, 2005, S. 390 ff.; 208 In bestimmten Fällen greifen spezielle Assoziierungsabkommen zwischen Drittstaaten und EG. Auch sie können nach der Rechtsprechung des EuGH unmittelbar dem Einzelnen Rechte verleihen, sofern ihre Normen klare und eindeutige Verpflichtungen der Mitgliedstaaten enthalten, deren Wirkungen nicht vom Erlass weiterer Akte abhängen. Auch eine Hori206
V. Religion im Verhältnis zu anderen Diskriminierungsmerkmalen
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In anderer Hinsicht reicht Art. 12 EG weiter als das Diskriminierungsverbot wegen der Religion, denn er findet – wie auch die RL 2000/43/EG – Anwendung auf den gesamten zivilrechtlichen Bereich. Für das Merkmal der Religion ist dies europarechtlich nicht geboten, das AGG weitet das Diskriminierungsverbot insofern jedoch aus und schützt in den §§ 19 ff. auch im allgemeinen Privatrechtsverkehr vor Benachteiligungen aus religiösen und weltanschaulichen Gründen.
b) Rechtfertigung einer Benachteiligung Ob und inwieweit Benachteiligungen wegen der Staatsangehörigkeit gerechtfertigt werden können, ist noch nicht abschließend geklärt. Die Rechtsprechung des EuGH ist wechselhaft,209 im Schrifttum wird z.T. jede Rechtfertigung abgelehnt. Begründet wird dies vor allem mit dem Wortlaut, der „jede“ Diskriminierung verbietet,210 und einem argumentum e contrario zu anderen Diskriminierungsverboten, die ausdrücklich Rechtfertigungsvorschriften enthalten (vgl. Art. 30 S. 2 EG, Art. 39 Abs. 3 und 4 EG, Art. 46 Abs. 2 EG, Art. 86 Abs. 2 EG).211 Häufig orientieren sich Autoren aber auch an der Dogmatik anderer Diskriminierungsverbote und lehnen eine Rechtfertigung unmittelbarer Diskriminierungen ab, während mittelbare Benachteiligungen bei einem legitimen Ziel und verhältnismäßigen Mitteln zulässig sein sollen.212 Dies entspräche eher den Vorschriften der RL 2000/43/EG und 2000/78/EG und läge angesichts der weitreichenden Überschneidungen zwischen den Merkmalen nahe. Aber selbst wenn man der letztgenannten Ansicht folgt – und einige Urteile des EuGH weisen in diese Richtung213 – sind Benachteiligungen wegen Rasse, ethnischer Herkunft oder Religion immer noch in weiterem Umfang rechtfertigungsfähig als solche wegen der Staatsangehörigkeit. Selbst unmittelbare Benachteiligungen von Beschäftigten sind zulässig, wenn die jeweilige Ethnie ______________
zontalwirkung hält der Gerichtshof für möglich; näher hierzu Hoppe/Wege, Anm. zu ArbG Wuppertal, LAGE Nr. 2a zu § 626 BGB 2002, S. 5, 15 ff. 209 Eine übersichtliche Analyse der Rechtsprechung des EuGH bietet Plötscher, Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 114 ff. und 131 ff. 210 Feige, Gleichheitssatz, 1973, S. 44; Reitmaier, Inländerdiskriminierungen, 1984, S. 35. 211 Reitmaier, Inländerdiskriminierungen, 1984, S. 39 f. 212 Von Borries, EuZW 1994, 474, 475; krit. Grabitz/Hilf-von Bogdandy, 1999, Art. 6 EGV Rn. 25. Andere halten hingegen auch unmittelbare Diskriminierungen für rechtfertigungsfähig, so etwa Calliess/Ruffert-Epiney, Art. 12 EGV Rn. 42 mwN in Fn. 72. Kischel (EuGRZ 1997, 1, 5 f.) zieht eine Parallele zur Rechtsprechung des BVerfG und differenziert zwischen verhaltens- und personenbezogenen Merkmalen. 213 s. nur EuGH, Rs. C-122/96 (Saldanha und MTS), Slg. 1997, I-5325, Rn. 27 ff.; EuGH, verb. Rs. C-92 und C-326/96 (Phil Collins u.a.), Slg. 1993, I-5145, Rn. 29 ff.
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
oder Religion eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt (§ 8 Abs. 1 AGG; Art. 4 RL 2000/43/EG und Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG). Diese unterschiedliche Schutzintensität mag zunächst angesichts der Tatsache verwirren, dass sich die einzelnen Merkmale häufig gar nicht genau voneinander trennen lassen. Sie ist jedoch überzeugend. Anerkennenswerte Gründe, nach der Staatsangehörigkeit von Unionsbürgern zu unterscheiden, gibt es kaum. Die EU ist mehr als nur ein einheitlicher, liberaler Wirtschaftsmarkt, sie strebt danach, ein Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts zu sein (Art. 29 EU), in dem vor allem die Grundrechte und das demokratische Prinzip geachtet werden (Art. 6 Abs. 1 und 2 EU). Deshalb wurde in Art. 17 EG eine Unionsbürgerschaft eingeführt, die Freiheitsgarantien und politische Teilhaberechte beinhaltet und eine europäische Verfassung auf den Weg gebracht. In einem derart ausgestalteten Raum ist eine Unterscheidung unmittelbar nach der Staatsangehörigkeit konsequenterweise nicht hinzunehmen. Demgegenüber gibt es gute Gründe, im Einzelfall nach der ethnischen Herkunft zu differenzieren; hier sei nur an das Paradebeispiel des Schauspielers erinnert, der Otello darstellen soll.
c) Kein Ausschluss von Diskriminierungen wegen der Staatsangehörigkeit durch Art. 3 Abs. 2 der RL 2000/43/EG und 2000/78/EG Die jeweiligen Art. 3 Abs. 2 der RL 2000/43/EG und 2000/78/EG stellen fest, dass die Richtlinien „nicht unterschiedliche Behandlungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit“ betreffen.214 Das schließt indes nicht aus, dass eine Benachteiligung wegen der Staatsangehörigkeit gleichzeitig an die ethnische Herkunft oder die Religion anknüpft. Die Art. 3 Abs. 2 der Richtlinien wenden sich an die Mitgliedstaaten, nicht jedoch an Private. Die Normen wollen ausschließen, dass durch europäische Vorgaben in den ausländerrechtlichen Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten eingegriffen wird,215 denn soweit reicht die Befugnis der Gemeinschaft nach Art. 13 EG nicht. In die gleiche Richtung zielt auch die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung, die für Art. 3 Abs. 3 GG entschieden hat, dieses Diskriminierungs______________ 214
Dies wird in Erwägungsgrund Nr. 12 der RL 2000/78/EG nochmals ausdrücklich be-
tont. 215 Nickel, NJW 2001, 2668, 2670; das wird deutlich, wenn man die jeweiligen Art. 3 Abs. 2 der Richtlinien insgesamt betrachtet. Sie thematisieren insbesondere „die Einreise von Staatsangehörigen dritter Staaten oder staatenlosen Personen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten“ sowie „deren Aufenthalt in diesem Hoheitsgebiet“.
V. Religion im Verhältnis zu anderen Diskriminierungsmerkmalen
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verbot erfasse nicht die Unterscheidung nach der Staatsangehörigkeit.216 Abstammung bedeutet eben nicht zwangsläufig Nationalität. Art. 3 Abs. 3 GG wendet sich an den Staat. Dieser darf und muss aber nach der Staatsangehörigkeit unterscheiden, denn er hat seinen Bürgern einen anderen, weitgehenderen Schutz zu Teil werden zu lassen als ausländischen Mitmenschen. Die Art. 3 Abs. 2 der RL 2000/43/EG und 2000/78/EG hindern deshalb nicht daran, Ungleichbehandlungen, die in erster Linie auf der Nationalität beruhen, auch als Benachteiligungen wegen Rasse oder ethnischer Herkunft oder wegen der Religion anzusehen.217 Insofern bestimmt § 4 AGG konsequenterweise, dass eine Diskriminierung aus mehreren der in § 1 AGG genannten Gründe nur gerechtfertigt ist, wenn sich die Rechtfertigung auf jeden dieser Gründe bezieht und impliziert damit zunächst, dass es Benachteiligungen geben kann, die nicht nur an eines, sondern an mehrere der genannten Merkmale anknüpfen.
3. Verhältnis zum Diskriminierungsverbot wegen Rasse und ethnischer Herkunft Auch die Trennung zwischen Rasse und ethnischer Herkunft einerseits und Religion andererseits fällt im Einzelfall schwer, ist doch eine Rasse oder Ethnie nur aufgrund zahlreicher Charakteristika zu bestimmten, zu denen nicht zuletzt auch die Religion gehört. Im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch umfasst der Begriff race als Oberbegriff mehrere Merkmale wie die Hautfarbe, die nationale Herkunft und die Religion. The New Encyclopædia Britannica erläutert: „Introduced into the English language long before its current meaning was commonly agreed upon, the word race initially connoted simply a group of people with something in common. This shared identity could be species-wide (‚the human race‘) or could be based on any of a number of characteristics, such as national interest (‚the French race‘), way of life (‚a race of women warriors‘), or religion (‚the Jewish race‘).”218
Der Begriff der Ethnie ist ähnlich vielschichtig. Der Brockhaus versteht Ethnie als „Begriff für Menschengruppen (Volksgruppen), die kulturell, sozial,
______________ 216
BVerfG, NJW 1979, 2295, 2298. Nickel, NJW 2001, 2668, 2670; a.A. offenbar Lenz/Borchardt-Lenz, Art. 13 EGV Rn. 8. 218 The New Encyclopædia Britannica, Vol. 9 pa. 876. Wie unsicher der Begriff der Rasse im Antidiskriminierungsrecht ist, zeigt Erwägungsgrund Nr. 6 zur RL 2000/43/EG. Darin weist die EU „Theorien, mit denen versucht wird, die Existenz verschiedener menschlicher Rassen zu belegen, zurück. Die Verwendung des Begriffs ‚Rasse‘ in dieser Richtlinie impliziert nicht die Akzeptanz solcher Theorien“. 217
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
historisch und genetisch eine Einheit bilden“.219 Zu würdigen sind in diesem Rahmen sowohl kulturelle als auch herkunftsbezogene Kriterien.220 Wie fließend auch die Übergänge zwischen den Merkmalen Rasse und ethnischer Herkunft auf der einen Seite und Religion auf der anderen Seite sind, zeigt sich insbesondere in der englischen Rechtsprechungsgeschichte zur Diskriminierung der Sikhs. Bereits 1983 wurden die Sikhs als racial group anerkannt,221 obwohl sie als Religionsgemeinschaft gegründet wurden und sich auch heute noch in erster Linie als solche verstehen. Mittlerweile weise die Gruppe der Sikhs jedoch Merkmale auf, die es zulassen, sie als racial group zu begreifen, wie z.B. eine gemeinsame Historie und Sprache.222 Eine Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit wird sich daher in aller Regel auch als Unterscheidung nach der Rasse oder der ethnischen Herkunft ansehen lassen und so jedenfalls als mittelbare Diskriminierung ebenfalls unter das Verbot der §§ 7, 19 und 3 AGG fallen. Im Arbeitsrecht ist eine Differenzierung zwischen Benachteiligungen aufgrund der Rasse oder ethnischen Herkunft und wegen der Religion nicht so entscheidend wie im allgemeinen Zivilrecht, da die Antidiskriminierungsrichtlinien und das AGG für den Bereich von Beschäftigung und Beruf für sämtliche Merkmale identische Rechtfertigungsgründe aufstellen: Für mittelbare Diskriminierungen genügt ein rechtmäßiges Ziel, das mit verhältnismäßigen Mitteln erreicht wird (§ 3 Abs. 2 AGG; Art. 2 Abs. 2 lit. b der RL 2000/43/EG und 2000/78/EG), unmittelbare Benachteiligungen sind zulässig, wenn ein Merkmal (oder sein Nicht-Vorliegen) eine wesentliche und entscheidende Anforderung für die berufliche Tätigkeit darstellt (§ 8 Abs. 1 AGG; Art. 4 RL 2000/43/EG, Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG). Da die Religion ein wesentliches, die ethnische Herkunft prägendes Merkmal ist, wird eine Benachteiligung häufig sowohl das eine als auch das andere Merkmal erfüllen. Da das AGG in § 4 auch die unterschiedliche Behandlung wegen mehrer verpönter Merkmale maßregelt, entsteht insoweit keine Schutzlücke.
______________ 219 Brockhaus, Band 8, Stichwort „Ethnie“, S. 448 und 453 in Anlehnung an Mühlmann, Rassen, Ethnien, Kulturen, 1964. 220 s. Schiek, AuR 2003, 44, 45 f., die zur Interpretation auch auf völkerrechtliche Normen zurückgreift. 221 Mandla v. Lee [1983] 2 A.C. 548; hierzu ausführlich Bradney, Religions, Rights and Laws, 1993, S. 109 ff. 222 Mandla v. Lee [1983] 2 A.C. 548, 565.
VI. Voraussetzungen und Rechtsfolgen (religiöser) Diskriminierungen
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VI. Voraussetzungen und Rechtsfolgen (religiöser) Diskriminierungen Die einzelnen Schritte, die bei der Prüfung einer Diskriminierung nach dem AGG vorgenommen werden müssen, sind Gegenstand des folgenden Abschnitts. Zunächst wird ein Vorschlag für eine Prüfungsreihenfolge vorgestellt (sogleich unter 1), sodann ist auf den Anwendungsbereich (2), den Tatbestand (3), die Rechtfertigung (4) sowie die Rechtsfolgen einer Diskriminierung (5) einzugehen.
1. Überblick über die Voraussetzungen einer Benachteiligung Das AGG sieht in den §§ 11 ff. verschiedene Rechtsfolgen vor, die an eine Benachteiligung geknüpft werden. Hierzu gehören zuvorderst Pflichten des Arbeitgebers, vor Benachteiligungen zu schützen (§ 12), sowie Ansprüche auf Schadensersatz und Entschädigung nach § 15 (hierzu unter 5). Sämtliche Ansprüche setzen eine Benachteiligung iSd § 7 Abs. 1 und § 3 AGG voraus. Zunächst sollen deren Voraussetzungen in eine übersichtliche Prüfungsreihenfolge gebracht werden: I. Anwendbarkeit 1. Sachlicher Anwendungsbereich (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 AGG) 2. Berechtigter (§ 6 Abs. 1 AGG) 3. Verpflichteter (§ 6 Abs. 2 AGG) II. Tatbestand 1. Ungleichbehandlung a. Tatsächliche (keine hypothetische) Maßnahme b. Ungleichbehandlung c. Kausalität zwischen Maßnahme und Ungleichbehandlung 2. Verknüpfung zwischen Ungleichbehandlung und verpöntem Merkmal 3. Nachteil 4. Kausalität zwischen Ungleichbehandlung und Nachteil III. Rechtfertigung religiöser und weltanschaulicher Diskriminierungen 1. Wesentliche und entscheidende berufliche Anforderungen (§ 8 Abs. 1 AGG) 2. Tendenzschutz (§ 9 AGG) 3. Positive Maßnahmen (§ 5 AGG)
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
2. Anwendungsbereich des arbeitsrechtlichen Benachteiligungsverbots Recht unübersichtlich wurde der Anwendungsbereich des AGG ausgestaltet. Im allgemeinen Teil finden sich in § 2 Regelungen in sachlicher Hinsicht, § 6 AGG enthält den persönlichen Anwendungsbereich für die beschäftigungsrechtlichen Normen und § 19 AGG soll Gleiches für das allgemeinzivilrechtliche Diskriminierungsverbot vorsehen. Der Grund für diese weite Streuung des Anwendungsbereichs liegt darin, dass zunächst an zwei unterschiedlichen Stellen Diskriminierungsverbote geplant waren. Der Gesetzentwurf vom Mai 2004 sah einerseits ein (sog.) Arbeitsrechtliches Antidiskriminierungsgesetz (AADG) und andererseits Vorschriften in den §§ 319a ff. BGB vor. Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen drängte jedoch darauf, ein einheitliches Regelwerk zu schaffen und so wurden beide Werke zu einem neuen Gesetz vereint. Dabei blieb es. Zu Schwierigkeiten führt dies insbesondere im Bereich des allgemein-zivilrechtlichen Benachteiligungsverbots, denn hier fehlt ein Anwendungsbereich in persönlicher Hinsicht gänzlich. § 19 AGG enthält allein eine Beschreibung der Schuldverhältnisse, für die das AGG gelten soll, ohne aber die Verpflichteten des Diskriminierungsverbots zu nennen. Dies führt zu zahlreichen Problemen, die z.B. durch eine Begrenzung des Verbots im Rechtsverkehr zwischen Unternehmern (§ 14 BGB) und Verbrauchern (§ 13 BGB) hätten umgangen werden können.223 Auch der Anwendungsbereich des zweiten, arbeitsrechtlichen Teils des Gesetzes ist nicht frei von Ungereimtheiten. Sucht man nach einem persönlichen Anwendungsbereich, wird man in § 6 AGG augenscheinlich rasch fündig. Die amtliche Überschrift („Persönlicher Anwendungsbereich“) hält jedoch nicht, was sie verspricht, denn in § 6 AGG wird nicht etwa abschließend geregelt, wer sich auf die §§ 7 ff. AGG berufen kann und wer an sie gebunden ist, § 6 AGG enthält seinem Wortlaut nach einzig eine Definition der Begriffe Beschäftigter und Arbeitgeber. Wer vermutet, hiermit habe der Gesetzgeber zumindest inzident den persönlichen Anwendungsbereich regeln wollen, wird enttäuscht, sobald er einen Blick auf § 12 Abs. 3 AGG wirft. Dort heißt es: „Verstoßen Beschäftigte gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1, so hat der Arbeitgeber die im Einzelfall geeigneten, erforderlichen und angemessenen Maßnahmen (...) zu ergreifen“.
Wenn Arbeitskollegen gegen „das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1“ AGG verstoßen können, müssen sie offensichtlich – neben dem Arbeitgeber – auch daran gebunden sein. Dies kommt in § 6 Abs. 1 und 2 AGG, der doch laut Überschrift den persönlichen Anwendungsbereich enthalten soll, in keiner ______________ 223
s. Wiedemann/Thüsing, DB 2002, 463, 465.
VI. Voraussetzungen und Rechtsfolgen (religiöser) Diskriminierungen
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Weise zum Ausdruck. Er spricht im Gegenteil eher dagegen, da Beschäftigte in Abs. 1 doch eigentlich berechtigt und eben nicht verpflichtet werden. Der Grund für diese unpräzise Regelung liegt in den EG-Richtlinien selbst, die sich ebenfalls einer genauen Darstellung ihres jeweiligen persönlichen Anwendungsbereichs enthalten.
3. Tatbestand einer Diskriminierung224 Tatbestandlich setzt eine Diskriminierung zunächst eine Maßnahme (des Arbeitgebers) voraus, die zu einer Ungleichbehandlung zwischen zwei oder mehreren Vergleichsgruppen führt (s. Abschnitt a)). Die Ungleichbehandlung muss wegen eines in § 1 AGG genannten Merkmals geschehen sein, d.h. es bedarf einer Verknüpfung zwischen verpöntem Merkmal und der Ungleichbehandlung der Vergleichsgruppen (b)). Diese muss kausal für einen erlittenen Nachteil sein, wobei für die Bestimmung des Nachteils zwischen unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung zu unterscheiden ist (c)). Schließlich könnte ein einschränkendes Kriterium notwendig sein (d)).
a) Ungleichbehandlung aa) Aktives Tun oder Unterlassen Die Ungleichbehandlung zwischen den Vergleichsgruppen muss kausal auf einer Maßnahme des Arbeitgebers beruhen. Zunächst gilt es also möglichst präzise die in Rede stehende Maßnahme des Arbeitgebers zu bestimmen.225 Sie kann sowohl in einem aktiven Tun als auch in einem Unterlassen bestehen.226 Das folgt schon daraus, dass sich praktisch jedes Unterlassen auch als aktives Tun darstellen lässt. In den vom LAG Hamm entschiedenen Fällen muslimischer Arbeiter, die kurze Pausen für ihre täglichen Gebete verlangten,227 könnte ______________ 224 Einige schließen bereits eine Diskriminierung aus, wenn sie gerechtfertigt ist (z.B. Wernsmann, JZ 2004, 224, 228). Die Systematik der Richtlinien sowie des AGG sprechen jedoch eher dagegen und auch die Gesetzesbegründung spricht in den §§ 8 bis 10 von Rechtfertigungen (s. BT-Drucks. 16/1780, S. 35 f.). Letztlich handelt es sich aber ohnehin um eine rein akademische Frage. Vgl. hierzu Kummer, Umsetzungsanforderungen, 2003, S. 42 ff. 225 Grdl. hierzu für das US-amerikanische Recht Wards Cove Packing Co. v. Antonio, 109 S. Ct. 2115, 2125 (1989). Danach muss der Benachteiligte die diskriminierende Maßnahme des Arbeitgebers genau identifizieren. Dies ist auch Voraussetzung für die Feststellung, ob in der Maßnahme eine Gleich- oder Ungleichbehandlung liegt. 226 BT-Drucks. 16/1780, S. 32. 227 LAG Hamm, NZA 2002, 675; NZA 2002, 1090; hierzu Kap. 3 II.2.b) und Kap. 5 IV.
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
eine derartige Diskriminierung durch Unterlassen vorliegen, wenn der Arbeitgeber sich nicht anschickt, den Arbeitsablauf so umzustrukturieren, dass sie die Gebete verrichten können. Gleichzeitig ließe sich aber in der Weisung, ohne Gebetspausen weiterzuarbeiten, ein aktives Tun erblicken. Ohnehin wird es häufig um Weisungen eines Arbeitgebers gehen. Sind sie diskriminierend, sind sie gem. § 106 S. 1 GewO unwirksam. Dies zeigt bereits § 7 Abs. 3 AGG: Wenn eine Benachteiligung iSv § 7 Abs. 1 AGG eine Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten darstellt, entspricht sie auch nicht billigem Ermessen.
bb) Hypothetische Vergleichspersonen (bzw. -gruppen) Diskriminierung setzt stets eine Relation voraus, so dass zu ihrer Feststellung Vergleichsgruppen gebildet werden müssen.228 Diskriminiert werden kann man nur gegenüber anderen. Die herangezogene Vergleichsgruppe kann tatsächlich existieren, muss es aber nicht. Die Definitionen der unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierung lassen jeweils auch die Heranziehung hypothetischer Vergleichspersonen zu. § 3 Abs. 1 AGG spricht davon, dass eine Person eine andere Behandlung erfährt als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Die letztgenannte Variante lässt es zu, auch Personen zum Vergleich heranzuziehen, die nicht im Betrieb existieren. Ähnlich ist es bei der mittelbaren Diskriminierung, die voraussetzt, dass scheinbar neutrale Maßnahmen Personen benachteiligen können (§ 3 Abs. 2 AGG). Hypothetische Vergleichspersonen ermöglichen es, Diskriminierungen wegen der ethnischen Herkunft auch in Migrantenbetrieben festzustellen, religiöse Benachteiligungen auch in Betrieben zu konstatieren, die ausschließlich muslimische Reinigungskräfte beschäftigen oder Altersdiskriminierungen in Unternehmen der New-Economy, in denen überwiegend oder ausschließlich Berufseinsteiger angestellt sind.229
______________ 228 Dies hat nichts mit dem Topos eines relativen Diskriminierungsverbots zu tun. Im Gegensatz zu einem absoluten spricht man von einem relativen Verbot, wenn die Ungleichbehandlung gerechtfertigt werden kann. Insbesondere für Art. 12 EG war und ist dies immer noch umstritten. Der Streit entzündet sich am Wortlaut der Norm, die „jede Diskriminierung“ aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet. Herrschend wird deshalb davon ausgegangen, dass eine unmittelbare Diskriminierung nicht gerechtfertigt werden kann, eine mittelbare Diskriminierung hingegen überhaupt nur dann vorliegt, wenn die Ungleichbehandlung nicht durch ein legitimes Ziel, das mit verhältnismäßigen Mittel erreicht wird, erklärt werden kann. Diese Dogmatik stand dann wohl auch für die weiteren Diskriminierungsverbote des europäischen Rechts Pate, vgl. nunmehr die Definition in § 3 Abs. 2 AGG. 229 s. hierzu Schiek, NZA 2004, 873, 874.
VI. Voraussetzungen und Rechtsfolgen (religiöser) Diskriminierungen
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cc) Bestimmung der Ungleichbehandlung Die Maßnahme muss kausal zu einer Ungleichbehandlung von Vergleichspersonen bzw. -gruppen führen. Wie eine solche Ungleichbehandlung festzustellen ist, wurde bereits ausführlich erörtert (s. IV.5): Sie liegt nur vor, wenn die in Rede stehende Maßnahme eine Vergleichsgruppe tangiert, eine andere aber nicht. Reine Intensitätsunterschiede, also eine qualitativ unterschiedliche Betroffenheit von Personen(gruppen) genügt nicht. Weigert sich der Arbeitgeber bspw. im eben genannten Fall muslimischer Arbeiter, den Arbeitsablauf umzustrukturieren und erteilt er ihnen die Weisung ohne Pause weiterzuarbeiten, so betrifft diese Maßnahme alle Arbeitnehmer gleich: Auch christliche Arbeiter dürfen keine Pause einlegen. Sie werden dies zwar seltener verlangen, vom Regelungs- und Wirkungsbereich der Maßnahme sind sie aber erfasst. Hier handelt es sich um eine bloße materielle Diskriminierung. Der Arbeitgeber kann aus arbeitsvertraglichen Nebenpflichten verpflichtet sein, auf die speziellen Bedürfnisse seiner muslimischen Arbeiter einzugehen (vgl. § 5 AGG), das Diskriminierungsrecht zwingt ihn aber nicht zu solchen positiven Maßnahmen. Sie sind nur für Behinderte geboten gem. Art. 5 RL 2000/78/EG. 230 Zu Recht wird zumindest in Bezug auf mittelbare Diskriminierungen allgemein ein subjektives Tatbestandsmerkmal abgelehnt. Solche hängen nicht davon ab, ob der Arbeitgeber (bzw. allgemein: der Verpflichtete) vorsätzlich oder fahrlässig benachteiligt. Dies gilt für Art. 12 EG231 ebenso wie für die Diskriminierung wegen des Geschlechts232 und wurde als allgemeiner Auslegungsgrundsatz im Gemeinschaftsrecht bereits in der Rechtsprechung zum freien Waren- und Personenverkehr, zum Wettbewerb und auch zum Steuerrecht entwickelt.233 Gleiches gilt auch für das neue Antidiskriminierungsrecht.234 Umfassenden und effektiven Schutz vor Benachteiligungen kann es nur geben, wenn allein auf die tatsächliche Wirkung einer Maßnahme abgestellt wird und nicht als zusätzliches Korrektiv eine feindliche Gesinnung erforderlich ist. Ein derartiges zusätzliches subjektives Tatbestandsmerkmal würde die Effektivität des Diskriminierungsschutzes erheblich mindern und seinem Zweck nicht entsprechen; denn benachteiligte Gruppen bedürfen nicht erst dann des Schutzes, wenn der Diskriminierende diskriminieren will, sondern bereits, wenn er dis______________ 230
Zu weiteren Fällen unten in Kap. 7. EuGH, Rs. 152/73 (Sotgiu), Slg. 1974, 153, 164, Rn. 11; EuGH, Rs. 61/77, NJW 1978, 1737, 1738, Rn. 78 f.; EuGH, Rs. 237/78, Slg. 1979, 2645, 2653, Rn. 13 f. 232 EuGH, Rs. 96/80 (Jenkins), Slg. 1981, 911, Rn. 10 ff.; Schwarze-Rebhahn, Art. 141 EGV Rn. 22; Schlachter, NZA 1995, 393, 395; Wiedemann in: FS Friauf, 1996, S. 135, 138. 233 Schlachter, NZA 1995, 393, 395. 234 Kummer, Umsetzungsanforderungen, 2003, S. 6; Mohr, Schutz vor Diskriminierungen, 2004, S. 298; Schlachter, NZA 1995, 393, 395; Wank, NZA-Sonderbeilage zu Heft 22/2004, S. 16, 21; Wiedemann, Gleichbehandlungsgebote, 2001, S. 32. 231
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kriminiert, unabhängig davon, ob er weiß oder will, dass er ungerechtfertigt benachteiligt. Dies hat der US-Supreme Court bereits 1977 zur Disparate Impact Theory entschieden.235 Ob dies auch für die unmittelbare Diskriminierung gilt, ist bislang nicht geklärt.236 Für das Erfordernis eines subjektiven Tatbestandes ließe sich nun auch § 7 Abs. 1 2. Hs. AGG ins Feld führen. Wenn eine Benachteiligung danach auch vorliegt, wenn der Benachteiligte das Vorliegen eines verpönten Merkmals nur annimmt, könnte dies bedeuten, dass er grundsätzlich eben die Benachteiligung zumindest bewusst in Kauf nehmen muss. Andererseits gelten die gerade geschilderten Einwände auch für die unmittelbare Diskriminierung. Die Problematik entschärft sich allerdings, wenn einerseits konsequent nur Ungleichbehandlungen in den Anwendungsbereich des Diskriminierungsrechts einbezogen werden und zum anderen die Maßnahme hinreichend präzise bestimmt wird (s. Abschnitt IV.5.b)).
b) Konnexität zwischen Ungleichbehandlung und Merkmal Die wohl schwierigste Problematik im neuen Recht ist die der Verbindung zwischen einer Ungleichbehandlung und einem nach § 1 AGG verpönten Merkmal. Der betreffende Arbeitnehmer muss gerade wegen seiner Religion, seiner Weltanschauung, ethnischen Herkunft, sexuellen Orientierung usw. anders behandelt werden als andere. Die Reichweite des Diskriminierungsrechts hängt entscheidend von der Interpretation dieses Zusammenhangs ab, der häufig auch als Kausalität zwischen Ungleichbehandlung und verbotenem Merkmal bezeichnet wird. Der Begriff der Kausalität ist an dieser Stelle zumindest verwirrend. Es geht nicht darum, einen Ursache-Wirkungszusammenhang festzustellen, sondern darum, Vergleichsgruppen, die unterschiedlich behandelt werden, nach einem verpönten Merkmal zu unterscheiden, also in einer vom Arbeitgeber getroffenen Unterscheidung eine Differenzierung nach einem verpönten Merkmal wiederzufinden. Die Diskriminierung geschieht nur wegen eines in § 1 AGG genannten Merkmals, wenn sich die unterschiedlich behandelten Gruppen in einem solchen Merkmal unterscheiden. Nicht ein Merkmal ist ______________ 235
International Brotherhood of Teamsters v. U.S., 431 U.S. 324, 335 (1977). s. einerseits Küttner-Kania, Personalbuch 2006, Diskriminierung Rn. 39, mwN und Wank, NZA-Sonderbeilage zu Heft 22/2004, S. 16, 21, andererseits. Einen Überblick über den Stand der Diskussion gibt Dammann, Diskriminierung im allgemeinen Zivilrecht, 2005, S. 208 ff. Die Begründung des Gesetzentwurfs ist nicht eindeutig. Danach muss die Maßnahme „durch eines (oder mehrere) dieser Merkmale motiviert sein bzw. der Benachteiligende muss bei seiner Handlung hieran anknüpfen“ (BT-Drucks. 16/1780, S. 32; ebenso bereits die Begründung des Entwurfs vom November 2004, BT-Drucks. 15/4538, S. 29 f.). Die Frage, ob und inwieweit für eine unmittelbare Diskriminierung subjektive Merkmale notwendig sind, soll hier ausdrücklich unbeantwortet bleiben. 236
VI. Voraussetzungen und Rechtsfolgen (religiöser) Diskriminierungen
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kausal für die Unterscheidung, sondern die vom Arbeitgeber getroffene Ungleichbehandlung muss kausal sein für eine Ungleichbehandlung nach einem verpönten Merkmal. Der Begriff der Verknüpfung oder des Zusammenhangs eignet sich hier eher als der der Kausalität.
aa) Das Merkmal der Religion Was Religion ist und was in den Schutzbereich der Religionsfreiheit fällt, war bereits bisher Gegenstand der Diskussion und auch ohne griffige Definition haben die Gerichte hier überzeugende Lösungen gefunden.237 Für das Antidiskriminierungsrecht stellt sich in diesem Zusammenhang eine ganz neue Problematik der Abgrenzung der einzelnen Religionen untereinander.238 Diskriminierung setzt stets einen Vergleich voraus, eine Gruppe muss anders behandelt werden als eine andere behandelt wird, wurde oder würde. Für die bisher geregelten Merkmale des Geschlechts und der Behinderung war dies nicht mit besonderen Schwierigkeiten verbunden. Beim Geschlecht gibt es nur zwei in Frage kommende Varianten, Männlein und Weiblein, die klar voneinander getrennt werden können und Behinderte werden Nicht-Behinderten gegenübergestellt. Die neuen Merkmale sind hingegen schwieriger zu fassen. Bilden kopftuchtragende Muslima eine eigene Religion oder sind sie ganz allgemein den Muslimen zuzuordnen? Die Problematik liegt hier darin, dass Religion einerseits eine sehr persönliche und individuelle Sache ist, anderseits das Diskriminierungsrecht aber einen Vergleich zwischen Religionen fordert. Einiges spricht dafür, die Merkmale der Richtlinien weit zu fassen und auf die Religion des Einzelnen abzustellen. Die Beantwortung von Existenz- und Sinnfragen ist letztlich immer Sache des Individuums, mag auch der Glaube in Gemeinschaft mit anderen gelebt werden.239 Religion ist deshalb notwendigerweise individuell, nicht umsonst schützt Art. 4 Abs. 1 und 2 GG auch religiöse Überzeugungen, die von anderen nicht geteilt werden.240 Abgrenzungskriterien zwischen einzelnen Religionen wären kaum zu rechtfertigen, denn dies liefe darauf hinaus, Glaubensgemeinschaften erst ab einer bestimmten Größe als eigene Religion im diskriminierungsrechtlichen Sinne anzuerkennen. 241 Dies ______________ 237
Hierzu Kap. 2 I und II; zum Verhältnis zu anderen Diskriminierungsverboten Kap. 6 V. s. bereits Kap. 2 I. 239 s. Kap. 2 II.1. 240 BVerfG, NJW 1972, 1183 f. 241 Auch für die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Religionsfreiheit kommt es nicht auf die zahlenmäßige Stärke einer Religionsgemeinschaft an, s. BVerfG, NJW 1972, 327, 329. 238
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
dürfte nicht Intention des europäischen Gesetzgebers gewesen sein, soll doch das Benachteiligungsverbot gerade auch (wenn auch nicht nur242) Minderheiten Schutz gewähren. Ob eine Glaubensgemeinschaft eine eigene Religion ist, bestimmt sich daher nach deren Glaubensinhalten. Muslima, die sich verpflichtet fühlen, den Hijab zu tragen, können also eine eigene Religion darstellen, auch wenn sie dem Islam als Weltreligion angehören. Dies mag auf den ersten Blick verwundern, würde man doch im allgemeinen Sprachgebrauch stets den Islam in seiner Gesamtheit als Religion bezeichnen. Zu Tage getreten ist die Problematik bereits im US-amerikanischen Recht. Der Court of Appeals wertete die Entscheidung eines Jesuiten-Colleges, nur Jesuiten in bestimmte Positionen zu berufen, nicht als Diskriminierung wegen der Religion. Title VII des Civil Rights Act “seems to use the term in its ordinary sense, see 42 U.S.C. § 2000e (j) (‚The term ‚religion‘ includes all aspects of religious observance and practice, as well as belief‘), and in ordinary language Jesuits are a Catholic order, not a separate religion”, führte das Gericht aus.243 Dem ist zuzustimmen, denn Jesuiten glauben nicht an etwas anderes als Katholiken im Allgemeinen, es handelt sich allein um eine eigene Ordensgemeinschaft von Katholiken, nicht aber um eine eigene Religion. Muslima, die ein Kopftuch tragen, hegen im Gegensatz dazu eigene religiöse Überzeugungen, die von anderen Muslimen nicht geteilt werden, sie vertreten eine eigene, vom Rest des Islam nicht geteilte Auslegung der entsprechenden Koranstelle Sure 24, 31.244 Bei der Frage, ob es sich bei einer Gemeinschaft um eine eigene Religion handelt, kommt es also nicht auf die organisatorische Festigung, sondern den Inhalt ihrer Glaubenslehre an.
bb) Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung Die Grundsätze der Konnexität zwischen Ungleichbehandlung und Merkmal liefern die Definitionen von unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung in § 3 Abs. 1 und 2 AGG. Bei einer unmittelbaren Diskriminierung ist die Verbindung von Ungleichbehandlung und verpöntem Merkmal bereits in der Maßnahme angelegt. Die Anordnung „Stell’ keine Muslime ein!“ impliziert die Unterscheidung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, denn von ihr sind nur diejenigen betroffen, die islamischen Glaubens sind. Hingegen lässt die Aufforderung, während der Arbeitszeit jegliche Kopfbedeckung abzulegen, zunächst keinen Bezug zum Merkmal der Religion erkennen. Er erschließt sich erst durch eine Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse. Wenn es ausschließ______________ 242
s. Abschnitt IV.2.d). Pime v. Loyola University of Chicago, 803 F.2d 351, 355 (7th Cir. 1986). 244 s. hierzu Kap. 3 II.1.a). 243
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lich (oder überwiegend) muslimische Frauen sind, die eine Kopfbedeckung (ein Kopftuch) während der Arbeitszeit tragen möchten, so betrifft die Direktive des Arbeitgebers allein (oder überwiegend) Muslime; ein scheinbar neutrales Merkmal wirkt sich ungleich aus. Dies kann eine mittelbare Diskriminierung darstellen. Diese Unterschiede zwischen unmittelbarer und mittelbarer Benachteiligung kommen in den Definitionen des § 3 Abs. 1 und 2 AGG (und denen der europäischen Richtlinien245) nur unvollständig zum Ausdruck. Für die mittelbare Benachteiligung heißt es richtig, dass „dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren“ Personen „in besonderer Weise benachteiligen können“. Erst aus einem Rückschluss hierzu lässt sich die Definition der unmittelbaren Diskriminierung verstehen. Danach wird unmittelbar benachteiligt, wer „wegen eines in § 1 genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung“ erfährt (s. bereits IV.2.a)). Der Wortlaut des § 3 Abs. 1 AGG ist derart weit, dass hierunter auch sämtliche Fälle mittelbarer Diskriminierungen subsumierbar wären, denn auch wenn eine scheinbar neutrale Maßnahme sich unterschiedlich auswirkt, werden Personen weniger günstig behandelt als andere. Unmittelbare Diskriminierung liegt aber nur vor, wenn die Maßnahme selbst bereits nach einem verpönten Merkmal unterscheidet.246 Der Unterschied zur mittelbaren Benachteiligung ist gerade der, dass sich bereits aus dem Regelungsbereich der Maßnahme ergibt, dass Frauen anders als Männer, Katholiken anders als Protestanten oder Schwarze anders als Weiße behandelt werden, ohne dass die Folgen der Maßnahme in den Blick genommen werden müssten. Wegen eines in § 1 genannten Grundes iSv § 3 Abs. 1 AGG wird also nur unterschieden, wenn bereits der Regelungsbereich der in Rede stehenden Maßnahme selbst eine Unterscheidung nach einem verpönten Merkmal trifft. Die Definition der unmittelbaren Diskriminierung in den Richtlinien und im AGG ist ein wenig zu weit geraten und muss deshalb in diesem Sinne konkretisiert, d.h. teleologisch reduziert werden. Wann aber differenziert bereits der Regelungsbereich einer Maßnahme nach einem verpönten Merkmal? Die Unterscheidung zwischen Regelungs- und Wirkungsbereich ist bereits angesprochen worden (s. IV.5.c)), hier kommt sie erneut zur Geltung. Um von einer unmittelbaren Diskriminierung sprechen zu können, muss sich bereits der Regelungsbereich einer Maßnahme ausschließlich auf Menschen beziehen, die ein verpöntes Merkmal aufweisen, nicht hingegen auf andere, die diese Eigenschaft nicht haben. Mittelbare Diskriminie______________ 245
Erst durch die RL 2002/73/EG wurden die Definitionen von mittelbarer und unmittelbarer Diskriminierung auch für die Geschlechtergleichbehandlung normiert. Grdl. für die Anerkennung der mittelbaren Diskriminierung sind die Entscheidungen des EuGH in Sachen Jenkins (Rs. 96/80, Slg. 1981, 911) und Bilka (Rs. 170/84, Slg. 1986, 1607). 246 Hierzu Abschnitt IV.2.a).
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
rung zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, dass ein Merkmal in einer Gruppe häufiger auftaucht als in einer anderen, es aber in beiden vorkommen kann (und vorkommt).247 Unmittelbare Diskriminierung setzt im Gegensatz dazu voraus, dass das Merkmal allein in einer der Vergleichsgruppen vorkommt, in der anderen hingegen nicht. Dabei muss es nicht bei jedem Menschen der Gruppe vorliegen, darf aber eben nur in einer der Vergleichsgruppen auftauchen.
cc) Drei Fallgruppen unmittelbarer Diskriminierungen Es lassen sich drei Fallgruppen unmittelbarer Diskriminierung bilden: 1.) Formal diskriminierende Maßnahmen: Die einfachsten Fälle sind diejenigen, in denen sich bereits aus dem Wortlaut der Maßnahme (formell) ergibt, dass sie nach einem verpönten Merkmal unterscheidet. Die Anordnung „Stell’ keine Muslime ein!“ behandelt bereits formell Muslime anders als andere und unterscheidet so nach der Religion. Sie wirkt deshalb unmittelbar diskriminierend. 2.) Verdeckte Diskriminierung:248 Häufig wird der Arbeitgeber versuchen, seine wahren Absichten zu verschleiern und wählt als Unterscheidungskriterium ein scheinbar neutrales, das sich in Wirklichkeit aber mit einem in § 1 AGG genannten deckt. Werden von einer Maßnahme alle Arbeitnehmer erfasst, die Kirchensteuern zahlen, ist dies eine unmittelbare Religionsdiskriminierung. Es wird zwar nicht an die Religion selbst angeknüpft, sondern an die Steuerpflicht; diese besteht aber genau für diejenigen, die Mitglieder einer Religionsgemeinschaft mit Steuerprivileg sind, so dass all jene von der Regelung erfasst sind. Das Differenzierungskriterium deckt sich hier vollständig mit einem verpönten Kriterium. Die sog. verdeckte Diskriminierung ist als Fallgruppe der unmittelbaren Diskriminierung allgemein anerkannt.249
______________ 247
Zur historischen Entwicklung Hanau/Preis, ZfA 1988, 177, 181 f. Mitunter bezeichnete auch der EuGH die mittelbare Diskriminierung als versteckte Diskriminierung, so z.B. in den Rs. 62 und 63/81 (Seco), Slg. 1982, 223, Rn. 8. Sie ist hier gerade nicht gemeint. Es ist vorzugswürdig den Begriff der verdeckten bzw. versteckten Diskriminierung und den der mittelbaren Diskriminierung streng voneinander zu unterscheiden, um die unter 2.) dargelegte Konstellation erfassen und benennen zu können. 249 Hanau/Preis, ZfA 1988, 177, 181; Hanau/Steinmeyer/Wank-Wank, Hb europ. Arbeitsund Sozialrecht, 2002, § 16 Rn. 24; Wiedemann, Gleichbehandlungsgebote, 2001, S. 29; ders. in: FS Friauf, 1996, S. 135, 138; Schlachter, NZA 1995, 393, 395 insbes. Fn. 21. 248
VI. Voraussetzungen und Rechtsfolgen (religiöser) Diskriminierungen
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3.) Benachteiligung einer Teilgruppe:250 Eine dritte Fallgruppe lässt sich in der Benachteiligung von Teilgruppen sehen: Nicht alle Frauen werden zurückgewiesen, sondern nur die, die schwanger sind, Muslima werden nicht generell entlassen, sondern nur, wenn sie ein Kopftuch tragen und Homosexuelle werden nur benachteiligt, wenn sie einen „gay pride“-Sticker tragen. 251 Dabei handelt es sich jeweils um eine Form der Diskriminierung, die sich nicht eindeutig in die Kategorien von unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung einordnen lässt. Würden sämtliche Frauen zurückgewiesen, sämtliche Muslima entlassen und alle Homosexuellen benachteiligt, wären dies unmittelbare Diskriminierungen; wäre jeweils nur ein besonders großer Anteil Frauen, Muslima und Homosexueller betroffen, würde es sich unstreitig um mittelbare Diskriminierungen handeln. Die Krux dieser Konstellationen liegt darin, dass nicht alle Mitglieder einer bestimmten Gruppe benachteiligt werden, aber alle, die benachteiligt werden, einer bestimmten Gruppe angehören. Sie stehen deshalb zunächst scheinbar zwischen den dogmatischen Stühlen.252 Die Problematik ist indes aus der Geschlechterdiskriminierung bekannt. Die Benachteiligung wegen der Schwangerschaft ist auch eine Benachteiligung einer Teilgruppe, weil nicht alle Frauen schwanger sind, aber alle Schwangeren weiblich sind. Das US-amerikanische Recht bezeichnet eine Diskriminierung wegen der Schwangerschaft anschaulich als sex plus-Diskriminierung und ordnet sie als unmittelbare Benachteiligung ein.253 Für das Merkmal der Schwangerschaft war im europäischen Rechtsraum lange Zeit umstritten, ob es sich bei einer Benachteiligung, die hieran anknüpft, um eine mittelbare oder unmittelbare Diskriminierung handelt,254 bis sich der EuGH ebenfalls für letztere entschied.255 ______________ 250
Der Begriff stammt von Thüsing, NZA-Sonderbeilage zu Heft 22/2004, S. 3, 5. Er ist recht anschaulich. 251 Die Beispiele stammen ebenfalls von Thüsing (Fn. 250). 252 So bereits Thüsing/Wege, ZEuP 2004, 404, 418 f.; Wank (NZA-Sonderbeilage zu Heft 22/2004, S. 16, 21) sieht hierin einen Fall mittelbarer Diskriminierung, der nur der unmittelbaren im Wege der Fiktion gleich gestellt werde. 253 Phillips v. Martin Marietta Corp. 400 US 542, 544 (1971); aus dem deutschen Schrifttum Schlachter, Wege zur Gleichberechtigung, 1993, S. 149. 254 Weil nicht Frauen an sich, sondern nur schwangere Frauen benachteiligt werden, gingen einige Stimmen des Schrifttums davon aus, die Unterscheidung nach der Schwangerschaft sei eine mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts (Hanau/Preis, ZfA 1988, 177, 200) oder aber sie könne überhaupt nicht unter das Verbot der Geschlechtsdiskriminierung subsumiert werden (Staudinger-Richardi/Annuß, 13. Bearb. 1999, § 611a BGB Rn. 42; vgl. allerdings nunmehr Staudinger-Annuß, § 611a BGB Rn. 47; Soergel-Raab, § 611a BGB Rn. 27); eingehend Wiedemann, Gleichbehandlungsgebote, 2001, S. 42 f. 255 EuGH, Rs. C-177/88 (Dekker), Slg. 1990, I-3941, Rn. 12; EuGH, Rs. C-394/96 (Mary Brown), Slg. 1998, 4187, Rn. 16; EuGH, Rs. C-109/00 (Tele Danmark), NZA 2001, 1241, Rn. 25.
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
In Erwägungsgrund 10 der RL 2002/73/EG sowie in Art. 2 Abs. 7 RL 76/207/EWG heißt es deshalb nun: „Die ungünstigere Behandlung einer Frau im Zusammenhang mit Schwangerschaft oder Mutterschaftsurlaub im Sinne der Richtlinie 92/85/EWG gilt als Diskriminierung im Sinne dieser Richtlinie“. Auch § 3 Abs. 1 S. 2 AGG stellt dies ausdrücklich klar.
Der Unterschied zur verdeckten Diskriminierung ist der, dass hier nicht sämtliche Mitglieder einer Vergleichsgruppe das betreffende Merkmal aufweisen, dieses aber nur in einer Gruppe vorkommen kann. Das Differenzierungskriterium deckt sich also nicht vollständig mit einem verpönten Kriterium wie in Fallgruppe 2. Hieran entzündete sich die Streitfrage um die dogmatische Einordnung dieser Fälle. Leider haben weder der Richtliniengeber noch die Verfasser des AGG über die Diskriminierung wegen der Schwangerschaft und Mutterschaft hinaus klargestellt, wie eine Diskriminierung einer Teilgruppe zu behandeln ist. Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens wurde § 3 Abs. 1 AGG geändert und eine allgemeine, klarstellende Vorschrift wieder herausgenommen. Es sollte danach in Satz 2 heißen: „Eine unmittelbare Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes liegt in Bezug auf § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 auch dann vor, wenn die unterschiedliche Behandlung wegen eines Merkmals erfolgt, das mit einem in § 1 genannten Grund in Zusammenhang steht, insbesondere im Fall einer ungünstigeren Behandlung einer Frau wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft.“256
Diese Regelung hätte sich auf sämtliche Teilgruppen bezogen und nicht nur – wie nun § 3 Abs. 1 S. 2 AGG – die Merkmale Schwangerschaft und Mutterschaft beinhaltet. Indes überzeugt hier eher ein Parallel- als ein Umkehrschluss.257 Die Norm wurde geändert, weil ihr Wortlaut unpräzise war und weiter gereicht hätte als zur Erfassung der Diskriminierung von Teilgruppen notwendig. Wann ein Grund mit einem in § 1 AGG genannten Merkmal „in Zusammenhang steht“, sagte der Gesetzentwurf nicht und so wäre die Reichweite der unmittelbaren Diskriminierung weit über die hier genannten drei Fallgruppen hinaus ausgedehnt worden.258 Stattdessen sollte durch § 3 Abs. 1 S. 2 ADG-E nicht die Behandlung einer Diskriminierung von Teilgruppen erschöpfend geregelt werde. Es ging einzig darum, die Rechtsprechung des EuGH hinsichtlich Schwangerschaft und Mutterschaft ausdrücklich auch im deutschen Recht für verbindlich zu erklären. Ein Umkehrschluss zu § 3 Abs. 1 S. 2 AGG würde aber gerade voraussetzen, dass hierin eine abschließende ______________ 256
So der Entwurf vom November 2004, BT-Drucks. 15/4538, S. 5. Vgl. bereits Thüsing/Wege, ZEuP 2004, 404, 419 f.; a.A. offenbar Wank, NZASonderbeilage zu Heft 22/2004, S. 16, 21. 258 Thüsing, Ausschuss-Drucks. 15(12)440-C, S. 1, 4. 257
VI. Voraussetzungen und Rechtsfolgen (religiöser) Diskriminierungen
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Regelung steckt.259 Unmittelbar diskriminiert der Arbeitgeber deshalb auch, wenn er den Hijab verbietet.260 Zwar tragen nur Muslima (aus Glaubensgründen) Kopftuch, längst aber nicht alle. Das Merkmal der islamischen Religion kann also nur in der Gruppe vorliegen, die von der Regelung betroffen ist, nicht aber in der anderen.261 Die Integration dieser dritten Fallgruppe in den Tatbestand der unmittelbaren Diskriminierung entschärft im Übrigen auch die eben aufgezeigte Problematik der Bestimmung einer Religion im diskriminierungsrechtlichen Sinne.262 Selbst wenn man nur den Islam insgesamt als Religion ansieht und nicht diejenigen Muslima als einzelne Religionsgemeinschaft anerkennt, die den Hijab tragen, gelangt man zu einer unmittelbaren Diskriminierung, wenn der Arbeitgeber in seinem Betrieb „islamische Kopftücher“ verbietet. Hier werden zwar nicht sämtliche Muslime benachteiligt, aber alle, die benachteiligt werden, sind Muslime. Es handelt es sich also um eine Diskriminierung von Teilgruppen, die von § 3 Abs. 1 AGG als unmittelbare Diskriminierung erfasst wird.
dd) Nachweis ungleicher Auswirkungen im Rahmen mittelbarer Diskriminierungen Eine mittelbare Diskriminierung knüpft hingegen an die Auswirkungen einer Maßnahme an.263 Hieraus resultierte bereits die Problematik der Abgrenzung zur sog. materiellen Diskriminierung. Für eine mittelbare Diskriminierung muss dargelegt werden, dass die diskriminierte Person in besonderer Weise gegenüber einer anderen Person benachteiligt ist bzw. benachteiligt sein könnte, wenn diese andere (hypothetische) Vergleichsperson existierte. Auf welche Weise eine solche Benachteiligung nachzuweisen ist, lässt sich dem Normtext nicht unmittelbar entnehmen. Die Beweislastrichtlinie 97/80/EG zur Geschlechtergleichbehandlung ist hier detaillierter. In Art. 2 Abs. 2 heißt es, es sei notwendig, dass „dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren einen wesentlich höheren Anteil der Angehörigen eines Geschlechts benachteiligen“. Es ist also festzustellen, wieviel Prozent der Frauen von der Regelung betroffen sind und wie viel Prozent der Männer. Anschließend müs______________ 259 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 390; Anweiler, Auslegungsmethoden des EuGH, 1997, S. 310 f. 260 Thüsing/Wege, ZEuP 2004, 404, 419 f. 261 Anders ist es, wenn der Arbeitgeber Kopftücher im Allgemeinen verbietet; s. hierzu Kap. 7 II.1. 262 Hierzu Abschnitt VI.3.b)aa). 263 Zur Entwicklung ausführlich Wisskirchen, Mittelbare Diskriminierung, 1994, S. 29 ff.
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sen diese Anteile verglichen werden; wenn sie sich „erheblich“ unterscheiden264, kann es sich um eine mittelbare Diskriminierung handeln. 265 Notwendig sind also statistische Nachweise. Ein solch expliziter Hinweis fehlt sowohl in § 3 AGG als auch in den jeweiligen Art. 2 Abs. 2 lit. b der RL 2000/43/EG und 2000/78/EG. Vorausgesetzt wird nur, dass scheinbar neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die eines der jeweiligen Merkmale aufweisen, in besonderer Weise benachteiligen können. Von statistischen Nachweisen wie bei der Beweislastrichtlinie zur Geschlechtergleichbehandlung wird für die übrigen Diskriminierungsmerkmale nur noch in den Erwägungsgründen der betreffenden Richtlinien gesprochen. Danach kann in den nationalen Rechtsvorschriften „vorgesehen sein, dass mittelbare Diskriminierung mit allen Mitteln, einschließlich statistischer Beweise, festzustellen ist“ (jeweils Erwägungsgrund Nr. 15). Gerade dieser Hinweis des Richtliniengebers zeigt, dass mittelbare Benachteiligungen nicht nur durch statistische Daten zu belegen sind, sondern auch auf andere Weise, nämlich durch normative Kriterien.266 Statistiken haben ihre Grenzen. Häufig liegen keine vor oder sind aufgrund geringer Datenmengen wenig aussagekräftig. Wenn Zusammenhänge eindeutig sind, mögen sie überdies überflüssig erscheinen und bei dem Merkmal der Rasse stoßen sie sogar auf ethische Bedenken. 267 Deshalb hat der Richtliniengeber eine Formulierung gewählt – und der deutsche Gesetzgeber hat sie übernommen –, die die Methode des Nachweises einer besonderen Betroffenheit offen lässt, ohne sich auf statistische Daten festzulegen. 268 Die Rechsprechung verwendete bereits bislang beide Arten des Nachweises nebeneinander. Im Fall ausländischer Wanderarbeitnehmer hat der EuGH Statistiken etwa ausdrücklich für überflüssig erklärt.269 Die in Rede stehende Regelung gestand nur dann Arbeitnehmern einen Zuschuss zu den Kosten von Bestattungen für Angehörige zu, wenn diese im Vereinigten Königreich stattfand. Der EuGH sah hierin eine mittelbare Diskriminierung von Wanderarbeitern und führte aus: ______________ 264 So die Formulierung des EuGH, Rs. 96/80 (Jenkins), Slg. 1981, 911, Rn. 13; EuGH, Rs. 170/84 (Bilka), Slg. 1986, 1607, Rn. 29; s. hierzu auch Wißmann in: FS Wlotzke, 1996, S. 807, 824 ff. 265 Wichtig ist, die prozentualen Anteile zu vergleichen. Es genügt nicht festzustellen, dass die eine Gruppe (absolut) erheblich mehr Frauen als Männer enthält. Dies hat der EuGH aber entgegen seiner sonstigen Rechtsprechung bspw. in der Sache Kowalska (Rs. C-33/89, Slg. 1990, I-2591, Rn. 13) getan; hierzu ausführlich Wiedemann in: FS Friauf, 1996, S. 135, 142. 266 Zum grundsätzlichen Unterschied Plötscher, Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 56 ff., der zwischen „faktischer“ und „normativer Äquivalenz“ unterscheidet. 267 Schiek, AuR 2003, 44, 47. 268 Anders Wank in: FS Wißmann, 2005, S. 599, 609. 269 EuGH, Rs. C-237/94 (O’Flynn), Slg. 1996, I-2617, Rn. 20 ff.
VI. Voraussetzungen und Rechtsfolgen (religiöser) Diskriminierungen
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„In diesem Zusammenhang braucht nicht festgestellt zu werden, dass die in Rede stehende Vorschrift in der Praxis einen wesentlich größeren Anteil der Wanderarbeitnehmer betrifft. Es genügt die Feststellung, dass die betreffende Vorschrift geeignet ist, eine solche Wirkung hervorzurufen.“ Stattdessen fügte der Gerichtshof wertend hinzu, es „werden vor allem Wanderarbeitnehmer beim Tod eines Familienangehörigen angesichts der Bindungen, die die Angehörigen einer solchen Familie im allgemeinen mit ihrem Herkunftsstaat aufrechterhalten, eine Bestattung in einem anderen Mitgliedstaat vornehmen lassen.“270
Auch das BAG bedient sich normativer Kriterien. In seinem Urteil zur Diskriminierung weiblicher Arbeitnehmer durch unterschiedliche Versorgungsleistungen im Alter für Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigte271 hat es ausgeführt, „im April 1980“ seien „90,5% Frauen und nur 9,5% Männer“ in Teilzeitarbeit beschäftigt gewesen. Dies hänge – und das ist ein wertendes Kriterium – mit der „sozialtypischen Rollenverteilung der Aufgaben in der Familie“ zusammen. Die Beziehung zwischen der unterschiedlichen Behandlung von Teil- und Vollzeitbeschäftigten und dem Geschlecht wird also einmal über statistische Nachweise und zum anderen durch wertende Überlegungen herbeigeführt. Während Statistiken bei dem Merkmal des Geschlechts ein probates Mittel darstellen – weil jeder Mensch genau ein Geschlecht (nicht mehr und nicht weniger) besitzt, weil jeder Mensch zweifelsfrei einem Geschlecht zugeordnet werden kann und weil es nicht mehr als zwei Geschlechter gibt – stoßen statistische Nachweise bei anderen Merkmalen an ihre Grenzen. So gibt es unzählige Religionen, die kaum voneinander zu trennen sind. Ist der Protestantismus eine eigene Religion oder ist das Christentum in seiner Gesamtheit eine Religion? Bilden alle Muslima, die ein Kopftuch tragen, eine eigene Religion oder ist nur der Islam insgesamt eine Religion?272 Statistiken nützen hier wenig. Die Ergebnisse hängen überdies viel stärker von zufälligen Gegebenheiten ab.273 Arbeiten bspw. in einem Betrieb 200 Frauen, 100 Christen und 100 Muslima, von denen eine einzige Frau es als für sich verbindlich empfindet, in der Öffentlichkeit ein Kopftuch zu tragen, würden statistische Argumente allein nicht zu einer mittelbaren Diskriminierung führen, sofern man den Islam als einheitliche Religion begreift. Der Anteil der Muslima, die durch die arbeitgeberseitige Regelung, bei der Arbeit auf eine Kopfbedeckung zu verzichten, betroffen sind, beträgt 1%, der Anteil der übrigen Belegschaft 0%. Eine erhebliche Abweichung ist bei einer Differenz von einem Prozentpunkt wahrlich nicht festzustellen. Es hängt vom Zufall ab, wie viele Muslima in einem Unter______________ 270
EuGH, Rs. C-237/94 (O’Flynn), Slg. 1996, I-2617, Rn. 21 f. BAG, NJW 1982, 2013, 2015. 272 Hierzu bereits Kap. 2 I sowie Kap. 6 VI.3.b)aa) und VI.3.b)cc), Fallgruppe 3. 273 So auch Schiek, AuR 2003, 44, 47; dies., NZA 2004, 873, 875. 271
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
nehmen das Gebot des Kopftuchtragens für sich annehmen und wie viele nicht. Die Richtlinien wollen aber bereits die Fälle erfassen, in denen mittelbare Diskriminierungen auch nur vorliegen können (vgl. jeweils Art. 2 Abs. 2 lit. b). Im – zugegebenermaßen recht simplen, aber gerade dadurch eindrucksvollen – Beispielsfall kann eine Benachteiligung von Muslima aber durchaus auftreten, wenn nur mehr muslimische Arbeitnehmerinnen ein Kopftuch tragen wollen. Der statistische Nachweis für eine Benachteiligung ist in einem solchen Fall nicht sinnvoll. Wertende Kriterien werden deshalb zukünftig wohl von größerer Bedeutung sein als bei der Geschlechterdiskriminierung. 274 Sie sind letztlich schon deshalb notwendig, weil der europäische Gesetzgeber ausdrücklich auch hypothetische Vergleichspersonen zulässt (s. hierzu a)).
c) Nachteil Eine unmittelbare Diskriminierung setzt voraus, dass der Diskriminierte weniger günstig behandelt wird als eine andere (hypothetische) Vergleichsperson nach § 3 Abs. 1 AGG. Die Prüfung eines Nachteils im Rahmen mittelbarer Diskriminierungen erfolgt hingegen zweistufig: Es bedarf einer Benachteiligung in besonderer Weise, die nicht durch ein legitimes Ziel und verhältnismäßige Mittel gerechtfertigt werden kann (§ 3 Abs. 2 AGG).
aa) Bekannte Probleme in neuem Gewande Die Definitionen geben wenig Aufschluss darüber, wie nun ein Nachteil beschaffen sein muss. Die der mittelbaren Diskriminierung mündet gar in einen Zirkelschluss: Eine mittelbare Benachteiligung setzt voraus, dass Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen benachteiligen können. Bereits aus anderem Kontext bekannte Fragen werden sich auch hier stellen. Inwiefern können Nachteile durch Vorteile ausgeglichen werden? Ist ein Sachgruppenvergleich möglich, wie ihn die Gerichte vornehmen, um zu überprüfen, ob von Tarifverträgen abweichende Betriebsvereinbarungen vom Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG gedeckt sind? Dann wäre die Reichweite eines solchen Vergleichs festzulegen, mit den Worten des BAG müsste überlegt werden, wann „Äpfel mit Birnen“ verglichen werden. Man wird wohl davon ausgehen müssen, dass jede Maßnahme einzeln zu würdigen und eine Saldierung von ungünstigen und günstigeren Regelungen grds. ausgeschlossen ist. Hierfür streiten nicht nur ______________ 274 Ähnlich Schmidt/Senne, RdA 2002, 80, 83; Schiek, NZA 2004, 873, 875; krit. Thüsing, NZA-Sonderbeilage zu Heft 22/2004, S. 3, 6.; a.A. Kummer, Umsetzungsanforderungen, 2003, S. 10 ff.; offen gelassen von Plötscher, Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 264.
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Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, sondern auch die dem Arbeitgeber belassene Möglichkeit mittels positiver Maßnahmen Diskriminierungen auszugleichen (vgl. § 5 AGG). Sie rechtfertigen gerade Besserstellungen einzelner Gruppen, die ein verpöntes Merkmal aufweisen.
bb) Benachteiligung „in besonderer Weise“ – geringfügige Nachteile ausgeschlossen? Überdies stellt sich die Frage, ob jeder auch noch so geringfügige Nachteil ausreicht, um eine Diskriminierung zu begründen oder ob die Beeinträchtigung ein gewisses Gewicht haben muss. Gerade im Bereich mittelbarer Diskriminierungen könnte das Tatbestandsmerkmal der Benachteiligung in besonderer Weise als Erheblichkeitsschwelle ausgelegt werden. Auch dieses Merkmal beruht auf europarechtlichen Vorgaben.275 Fest steht, dass es den Tatbestand der mittelbaren Diskriminierung einschränkt, indem es eben nicht jeden Nachteil sondern nur besondere ausreichen lässt. In den Fassungen der entsprechenden Richtlinien anderer Mitgliedsländer wird nicht von einer Benachteiligung in besonderer Weise, sondern von einem besonderen Nachteil gesprochen. So heißt es in der englischen Fassung: „indirect discrimination shall be taken to occur where an apparently neutral provision, criterion or practice would put persons (…) at a particular disadvantage”. Die französischen Fassung lautet: „une discrimination indirecte se produit lorsqu'une disposition, un critère ou une pratique apparemment neutre est susceptible d'entraîner un désavantage particulier“ (Hervorhebungen durch den Verfasser).
Dem Charakter eines Diskriminierungsverbots entspräche eine generelle Erheblichkeitsschwelle allerdings kaum.276 Auch ein marginal erscheinender Nachteil kann von demjenigen, der ihn erleidet, als erhebliche Einschränkung und Entwürdigung empfunden werden. Als Grenze der Diskriminierung hat der Richtliniengeber Rechtfertigungsgründe normiert; für die Absicht, weitere Einschränkungen aufzustellen, gibt es keine Hinweise. Wie so häufig streiten hier letztlich Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit miteinander. Letztere könnte es zwar theoretisch erfordern, bei Bagatellnachteilen eine Diskriminierung auch abzulehnen, wenn sie nicht zu rechtfertigen ist. Dann wird aber der Aufwand für den Arbeitgeber, die Diskriminierung zu beseitigen, regelmäßig ebenso gering sein wie der Nachteil selbst, so dass ______________ 275
Vgl. die jeweiligen Art. 2 Abs. 2 lit. b der RL 2000/43/EG und 2000/78/EG sowie Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 76/207/EWG nach Änderung durch Art. 1 Abs. 2 RL 2002/73/EG. 276 Plötscher, Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 273; a.A. Högenauer, Richtlinien gegen Diskriminierung, 2002, S. 99.
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
ihm dies zuzumuten ist. Verbleibende Fälle, in denen die Beseitigung eines marginalen Nachteils einen unverhältnismäßig hohen Aufwand erfordert, sind selten und lassen sich auf Rechtfertigungsebene lösen, denn auch der Aufwand, den Nachteil zu beseitigen, kann ein rechtfertigender Umstand sein. Im Interesse der Rechtssicherheit sollte von einer allgemeinen Erheblichkeitsschwelle abgesehen werden, um den Tatbestand mittelbarer (und unmittelbarer) Diskriminierung nicht zu verwässern. Das einschränkende Tatbestandsmerkmal der Benachteiligung in besonderer Weise ist deshalb wohl auf den Nachweis durch statistische Größen zu beschränken, wo dies richtig und sinnvoll ist (s. bereits Abschnitt IV.3.a)cc)). Die erwähnten 1%-Unterschiede genügen nämlich nicht, um von einer Benachteiligung in besonderer Weise277 zu sprechen.278 Legt man statistische Größen zugrunde, müssen diese wesentlich voneinander abweichen, wie es die Gerichte bereits bislang im Rahmen der Geschlechtergleichbehandlung annahmen.279 Zwischen einer erheblichen Abweichung280 und einer Abweichung in besonderer Weise dürfte lediglich ein Unterschied in der Formulierung liegen.
cc) Keine hypothetische Benachteiligung Das Gesetz lässt die Heranziehung hypothetischer Vergleichspersonen zu,281 ein hypothetischer Nachteil reicht indes nicht. Während der Wortlaut des Gesetzentwurfs vom November 2004 diesen Fall noch erfasst hätte, stellten bereits die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen durch die Änderung des ______________ 277
Konzeptionell anders Wank in: FS Wißmann, 2005, S. 599, 609, s. Fn. 268; vgl. aber Plötscher, Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 273 und 264; Schiek, AuR 2003, 44, 47 und NZA 2004, 873, 875. 278 Im eben erwähnten Fall der kopftuchtragenden Arbeitnehmerin sind freilich weitere Muslima vorstellbar, die sich ebenfalls verpflichtet fühlen, ein Kopftuch zu tragen, so dass durch eine hypothetische Vergleichsgruppe von einem größeren Unterschied als den festgestellten 1% ausgegangen werden kann. 279 Ein sicheres Kriterium zur Konkretisierung der Erheblichkeitsschwelle hat sich allerdings noch nicht herauskristallisiert. Im Schrifttum findet sich die Grenze von 75% (ErfKSchlachter, § 611a BGB Rn. 16), sofern die absolute Abweichung so aussagekräftig ist, dass Zufälligkeiten ausgeschlossen sind (Wißmann in: FS Wlotzke, 1996, S. 807, 809 ff.). Leitlinie ist, dass der statistische Vergleich sicher belegen soll, dass die ungleiche Betroffenheit tatsächlich auf einem verpönten Merkmal beruht. Ausführlich zum Nachweis mittelbarer Diskriminierungen im US-amerikanischen Recht Baldus/Cole, Statistical Proof of Discrimination, 1980, pa. 101 ff.; aus dem deutschen Schrifttum Schlachter, Wege zur Gleichberechtigung, 1993, S. 325 f. 280 So die Formulierung des EuGH, s. die Nachweise in Fn. 264. 281 s. Abschnitt VI.3.a)bb).
VI. Voraussetzungen und Rechtsfolgen (religiöser) Diskriminierungen
283
Normtextes im März 2005 auf Anregung von Thüsing282 hin klar, dass hypothetische Nachteile nicht genügen, um von einer Diskriminierung zu sprechen. In der Fassung des Entwurfs vom November 2004 hieß es zur unmittelbaren Diskriminierung ursprünglich: „Eine unmittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.“283
Hingegen lautet § 3 Abs. 1 S. 1 AGG nun: „Eine unmittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.“ (Hervorhebungen durch den Verfasser)
Hierin liegt ein kleiner, aber feiner Unterschied. Die zuletzt genannte Formulierung verlangt, dass die betreffende Person eine andere Behandlung tatsächlich erfährt, wohingegen der ursprüngliche Entwurf es seinem Wortlaut zufolge genügen ließ, dass sie eine andere Behandlung (unter welchen Umständen auch immer) erfahren würde. Danach hätte auch eine hypothetische Benachteiligungshandlung zu einer (unmittelbaren) Diskriminierung führen können, d.h. es hätte auch eine Diskriminierung vorgelegen, wenn zwar gar nicht benachteiligt wurde, aber unter Umständen irgendwann benachteiligt wird oder benachteiligt würde. Danach wäre es denkbar gewesen, dass ein muslimischer Arbeitnehmer wegen Diskriminierung seiner Person gegen den Arbeitgeber vor Gericht zieht, weil sein muslimischer Kollege seiner Religion wegen diskriminiert wurde und er in gleicher Situation auch diskriminiert worden wäre. Dies hatten die Richtlinien nicht im Sinn, der Fehler beruhte auf der deutschen Übersetzung der RL 2000/43/EG. Dort fehlte – im Gegensatz zu der Formulierung in Art. 3 Abs. 2 lit. a RL 2000/78/EG und der Fassungen anderer Länder284 – das Wort „erfährt“. Die Entwurfsverfasser hatten sich gerade diese Übersetzung zum Vorbild genommen, ohne die Konsequenzen beabsichtigt zu haben, wie sich aus der Begründung ergab.285 Die Klarstellung im Normtext ist deshalb richtig und notwendig gewesen. ______________ 282
Stellungnahme in der Expertenanhörung des Bundestagsausschusses vom 07.03.2005, Ausschuss-Drucks. 15(12)440-C, S. 1, 2 f. 283 BT-Drucks. 15/4538, S. 5. 284 Vgl. nur die Formulierungen der englischen und französischen Fassungen der Richtlinie. 285 Dort heißt es: „Absatz 1 S. 1 definiert die unmittelbare Benachteiligung. Sie liegt vor, wenn eine Person eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.“ (BT-Drucks. 15/4538, S. 29; Hervorhebung durch den Verfasser).
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
Auch § 7 Abs. 1 2. Hs. AGG erfasst keine hypothetischen Benachteiligungen. Hierdurch wird darauf verzichtet, dass der Arbeitgeber um das verpönte Merkmal wissen muss, es genügt, dass er annimmt, der Diskriminierte erfülle eine bestimmte Eigenschaft. Dies bringt in erster Linie eine Beweiserleichterung (oder besser: Beweisalternative) für diskriminierte Arbeitnehmer mit sich. Es genügt darzulegen und ggf. zu beweisen, dass der Benachteiligende meint, ein verpöntes Merkmal liege vor; dass es tatsächlich vorliegt, muss nicht dargelegt werden.286 Dies ist vor allem in Bezug auf das Merkmal der sexuellen Identität relevant. Der wegen seiner (angeblichen) Homosexualität entlassene Arbeitnehmer kann also darauf verzichten darzulegen, dass er homosexuell ist, wenn er nachweisen kann, dass zumindest der Arbeitgeber davon ausging, er sei homosexuell.287 Gleichwohl kann auch der wegen seiner Religion Diskriminierte diese Beweisalternative in Anspruch nehmen, wenn er seine religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen nicht offen legen möchte. § 7 Abs. 1 2. Hs. AGG ersetzt aber nicht den Nachweis eines Nachteils, sondern nur den Nachweis, dass der Diskriminierte Merkmalsträger ist. Der Verzicht auf die Einbeziehung von hypothetischen Nachteilen führt allerdings zu einer weiteren, bislang unberücksichtigt gebliebenen Schwierigkeit. Voraussetzung einer unmittelbaren Diskriminierung ist, dass jemand tatsächlich eine weniger günstige Behandlung erfährt. Für die mittelbare Diskriminierung gilt das Gleiche, hierfür muss jemand gegenüber (einem) anderen benachteiligt werden. Es stellt sich die Frage, ob reine Separierungen wirklich keine Diskriminierungen darstellen sollen. Man wird kaum behaupten können, dass ein Arbeitgeber, der Weiße und Schwarze zu identischen Bedingungen beschäftigt, ihnen aber unterschiedliche Pausenräume zuweist, nicht diskriminiert.288 Ein Nachteil im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs muss für die Betroffenen indes hierin nicht liegen, wenn die Räumlichkeiten sich bis aufs Haar gleichen; dann stehen sich Weiße nicht schlechter als Schwarze und umgekehrt. Gerade zur Verhinderung solcher separate but equal-Fälle wurde der Race Relations Act 1964 erlassen (s. IV.4) und es wäre zynisch, hierin eine moralisch vertretbare Unterscheidung zu erblicken mit der Begründung, allen Mitarbeitern würden schließlich gleiche Bedingungen gewährt. Vielleicht lassen sich diese Schwierigkeiten jedoch eher dadurch bewältigen, dass diese separate but equal-Fälle unter den Tatbestand der Belästigung (§ 3 Abs. 3 AGG) als unter den der weniger günstigen Behandlung (§ 3 Abs. 1 AGG) bzw. der Benachteiligung (§ 3 Abs. 2 AGG) subsumiert werden. Die ______________ 286
Wank, NZA-Sonderbeilage zu Heft 22/2004, S. 16, 21. Vgl. Oliver, 33 Indus. L. J. 1, 4 (2004), die auf die insofern bestehende Gemeinsamkeit zwischen den Merkmalen der sexuellen Orientierung und der Religion und Weltanschauung hinweist. 288 So allerdings Lingscheid, Antidiskriminierung, 2004, S. 48. 287
VI. Voraussetzungen und Rechtsfolgen (religiöser) Diskriminierungen
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weitere Entwicklung wird zeigen, inwieweit überhaupt immaterielle Nachteile als Nachteile iSd AGG Berücksichtigung finden können und ob sie nicht vielleicht generell als Belästigung anstatt als Benachteiligung anzusehen sind. Dann hätte die Einbeziehung des Belästigungsschutzes in den Diskriminierungsschutz womöglich doch einen triftigen Grund.289 Ob allerdings allein in einer Separierung eine Einschüchterung, Anfeindung, Erniedrigung, Entwürdigung oder Beleidigung gesehen werden kann, ist zweifelhaft.290 In Art. 2 lit. c RL 2004/113/EG findet sich die gleiche Formulierung und so ist (nach Ablauf der Umsetzungsfrist der RL) auch eine Belästigung wegen des Geschlechts im allgemeinen Zivilrecht verboten.291 Sähe man in der bloßen Separierung von Gruppen nach einem verpönten Merkmal eine Belästigung, müsste dies entsprechend auch im Bereich der RL 2004/113/EG gelten. Das allerdings war sicherlich nicht Ziel der europäischen Regelung: Hat sich jemals eine Frau beschwert, weil sie andere Örtlichkeiten aufzusuchen hat als Männer? Auch hier wird getrennt, ohne dass einem Geschlecht Nachteile aufgebürdet werden (vgl. § 6 Abs. 2 S. 4 ArbStättV). Diese gängige Praxis steht jedoch nicht zur Diskussion und hierin dürfte auch keine Belästigung liegen. Einige Separierungen sind also gesellschaftlich erwünscht und zulässig, andere diskriminierend. Die Richtlinien lassen nicht erkennen, wo die Grenzen liegen; ihnen werden sich Rechtsprechung und Schrifttum in Zukunft zu widmen haben.
dd) Kausalität zwischen Ungleichbehandlung und Nachteil Der entstandene Nachteil muss schließlich kausal auf der Ungleichbehandlung durch den Arbeitgeber beruhen.292 In diesem Zusammenhang stellen sich ebenfalls bekannte Fragen wie die der Durchbrechung der Kausalität durch weitere Ursachen. Das BVerfG hat zu § 611a BGB a.F. entschieden, dass es genügt, wenn der Nachteil zumindest auch auf der Maßnahme des Arbeitgebers beruht. Weitere Ursachen sollen eine Benachteiligung nicht ausschließen, so dass auch von einer Diskriminierung ausgegangen wird, wenn der Arbeitgeber bspw. eine Fülle von Gründen für die Ablehnung einer Stellenbewerberin an______________ 289 Kritik an der Einbeziehung des Belästigungsschutzes üben Wiedemann/Thüsing, DB 2002, 463, 466. 290 Entscheidend wird die zukünftige Interpretation der Gerichte sein, für die die Richtlinie einen weiten Spielraum eröffnet, indem sie klarstellt, dass der Begriff der Belästigung im Einklang mit den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten definiert werden kann (Art. 2 Abs. 3 S. 2 RL 2000/78/EG). 291 Hierzu Riesenhuber/Franck, EWS 2005, 245. 292 Dies ist tatsächlich ein Fall der Kausalität (vgl. Abschnitt VI.3.b)!
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gibt und u.a. erklärt, die Arbeit sei ohnehin für eine Frau zu schwer.293 Eine Unterbrechung der Kausalität durch weitere Ursachen oder Verursacher dürfte nach gleichem Muster grundsätzlich auch für die anderen Merkmale ausscheiden.
d) Zurechenbarkeit oder Finalität als weiteres Tatbestandsmerkmal? Die Diskussion um eine Einschränkung des Tatbestands der mittelbaren Diskriminierung ist insbesondere aus dem Bereich der Geschlechtergleichbehandlung bekannt. Der Arbeitgeber soll nicht für jede Benachteiligung einstehen müssen, sondern nur für die, die er in irgendeiner Weise vorwerfbar herbeigeführt hat. Ob es hierfür eines weiteren Tatbestandsmerkmals der Zurechenbarkeit bedarf oder die Lösung auf Rechtfertigungsebene zu suchen ist, 294 ist bislang ebenso unklar wie die nähere Konkretisierung des Zurechnungskriteriums.295 In Bezug auf die RL 2000/78/EG (und 2000/43/EG) entschärft sich diese Diskussion, wenn einerseits die Maßnahme des Arbeitgebers präzise herausgearbeitet wird (s. Abschnitt IV.5.b) und andererseits reine Intensitätsunterschiede ausgeschlossen werden. Betrifft eine Maßnahme sämtliche Arbeitnehmer, die einen intensiver als andere, und subsumiert man dies unter den Begriff der Diskriminierung, so bedarf es in der Tat einer Einschränkung. Der Arbeitgeber soll schließlich nicht dafür haften, dass seine Maßnahme unglücklich mit der eines anderen oder mit nicht von ihm geschaffenen Vorbedingungen zusammenfällt und erst dadurch Nachteile entstehen. Es müsse geprüft werden, „ob die nachteilige Auswirkung auch anders als mit dem Geschlecht oder den Geschlechtsrollen erklärt werden kann“, hat deshalb auch das BAG angemahnt.296 ______________ 293
BVerfG, NZA 1994, 745 f.; s. hierzu auch Schlachter, Anm. zu BVerfG, AP Nr. 9 zu § 611a BGB. 294 Hierzu Mohr, Schutz vor Diskriminierungen, 2004, S. 299 f.; s. auch die Nachweise in Fn. 295. 295 Hanau/Preis, ZfA 1988, 177, 189 f.: Der Vereinbarung oder Maßnahme muss eine „objektiv geschlechtsdiskriminierende Tendenz“ anhaften; zust. Hanau/Steinmeyer/Wank-Wank, Hb europ. Arbeits- und Sozialrecht, 2002, § 16 Rn. 163; ders., NZA-Sonderbeilage zu Heft 22/2004, S. 16, 21. Wisskirchen (Mittelbare Diskriminierung, 1994, S. 105 f.) formuliert negativ und lässt die Zurechenbarkeit entfallen, wenn Nachteile nicht adäquat auf einer Maßnahme des Arbeitgebers beruhen sowie bei „nichtarbeitsrechtsspezifischen“ Nachteilen. Plötscher (Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 285 ff. und passim) vertritt einen finalen Diskriminierungsbegriff, der auf den „verobjektivierten Zweck“ einer Maßnahme abstellt. Zum Ganzen Wank in: FS Wißmann, 2005, S. 599, 606 f. 296 BAG, NZA 1987, 445, 446; s. hierzu Pfarr/Bertelsmann, Diskriminierung im Erwerbsleben, 1989, S. 123 f.; Hanau/Preis, ZfA 1988, 177, 188 f.
VI. Voraussetzungen und Rechtsfolgen (religiöser) Diskriminierungen
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Schließt man Diskriminierung durch Gleichbehandlung hingegen aus, ist die Gefahr einer Haftung des Arbeitgebers für Nachteile, die außerhalb seines Verantwortungsbereichs liegen, deutlich geringer. 297 Ihm wird ohnehin nur eine Diskriminierung vorgehalten, wenn er selbst eine Unterscheidung trifft, wenn also seine Maßnahme zumindest im Ergebnis einige Arbeitnehmer betrifft, andere hingegen nicht. Nur für diese Ungleichbehandlung muss er sich rechtfertigen und nicht etwa dafür, dass er Siebenten-Tags-Adventisten auch samstags zur Arbeit auffordert wie alle anderen auch. Wirken sich aber Ungleichbehandlungen wegen der Religion oder eines anderen Merkmals nachteilig aus und sind sie nicht zu rechtfertigen, werden sie dem Arbeitgeber auch stets zurechenbar sein, denn er ist es ja gerade, der unterscheidet.298
4. Rechtfertigungsgründe299 Rechtfertigungsgründe enthält das AGG in seinem arbeitsrechtlichen Teil vornehmlich in den §§ 8 bis 10. § 5 AGG eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit zu Fördermaßnahmen. Dabei muss sich die Rechtfertigung nach § 4 AGG auf jedes einschlägige Merkmal beziehen. Wichtig ist dies bei Mehrfachdiskriminierungen (auch intersektionelle Diskriminierungen genannt). Hiervon spricht man, wenn eine Diskriminierung eine Gruppe von Personen trifft, die mehrere verpönte Merkmale aufweist, ohne dass die einzelnen Diskriminierungsgründe voneinander getrennt werden können. 300 Als Beispiel führt Schiek die Stigmatisierung aufgrund des Hijab an, der Anknüpfungspunkt für religiöse, ethnische und Geschlechtsdiskriminierungen zugleich sei.301 Eine Rechtfertigung ist dann nach § 4 AGG in Bezug auf jedes Merkmal einzeln zu prüfen. Eine nach den §§ 8 bis 10 AGG zulässige unterschiedliche Behandlung wegen eines verpönten Merkmals rechtfertigt für sich genommen noch keine unterschiedliche Behandlung aus einem anderen in § 1 AGG genannten Grunde.
______________ 297
s. bereits Abschnitt IV.4.c). Das hier vorgeschlagene Konzept unterscheidet sich von dem finalen Diskriminierungsbegriff Plötschers (Begriff der Diskriminierung, 2003, S. 285 ff. und passim) darin, dass dieser auf die formelle Ausgestaltung einer Maßnahme abstellt und Einschränkungen durch das Kriterium der Finalität vornimmt. Hier werden dagegen auch Wirkungsunterschiede erfasst, aber eben keine Intensitätsunterschiede. 299 Der besondere Rechtfertigungsgrund des § 9 AGG beruht auf Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG und dient der Gewährleistung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts. Die Begrenzung der Untersuchung auf das säkulare Arbeitsverhältnis gebietet es, ihn an dieser Stelle auszublenden (s. Kap. 1 III und dort die weiterführenden Hinweise in Fn. 17). 300 Schiek, NZA 2004, 873, 876. 301 s. Fn. 300. 298
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
a) Wesentliche und entscheidende berufliche Anforderungen (§ 8 Abs. 1 AGG) Gerechtfertigt werden kann nach § 8 Abs. 1 AGG eine Benachteiligung wegen der Religion (sowie allen weiteren in § 1 AGG genannten Merkmalen) durch wesentliche und entscheidende berufliche Anforderungen. Der Entwurf übernimmt damit die Formulierungen der Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG und Art. 4 RL 2000/43/EG. Inwieweit sich diese Anforderungen von „unverzichtbaren“ iSd § 611a Abs. 1 S. 2 BGB a.F. unterscheiden, ist unsicher. Jedenfalls lässt sich das neue Kriterium besser handhaben als das der Unverzichtbarkeit, das bereits zu § 611a BGB a.F. kritisiert wurde.302 Eine Anforderung ist entscheidend für eine bestimmte berufliche Tätigkeit iSd Richtlinien bzw. des § 8 Abs. 1 AGG, wenn die Tätigkeit ohne sie nicht ordnungsgemäß durchgeführt werden kann. Die zusätzliche Einschränkung auf wesentliche Anforderungen stellt eine gewisse Erheblichkeitsschwelle dar.303 Hierbei ist ein Vergleich notwendig zwischen dem gesamten Aufgabenbereich, der dem Beschäftigten zugewiesen werden soll, und dem Teilbereich, den er aufgrund seiner Religion (oder eines anderen Merkmals) nicht ordnungsgemäß ausüben kann. Dabei muss sich ergeben, dass der Aufgabenbereich, der aufgrund der religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen nicht ausgeübt werden kann, einen erheblichen Teil des gesamten, dem Arbeitnehmer übertragenen Aufgabenfeldes ausmacht. Das Wesentlichkeitskriterium ist angesichts des Ziels der Richtlinie, einen umfassenden Benachteiligungsschutz zu gewährleisten, tendenziell eng auszulegen. Die deutsche und europäische Rechtsprechung zur gerechtfertigten Unterscheidung nach dem Geschlecht mag hier als Orientierung dienen.304 Bei Einstellungen ist dabei stets die Kontrollfrage zu stellen, ob der Arbeitgeber den Arbeitsplatz notfalls unbesetzt lassen würde, wenn er keinen geeigneten Bewerber und keine geeignete Bewerberin findet. Es ist recht glaubwürdig, wenn der Inhaber eines vietnamesischen Restaurants vorträgt, notfalls würde er die Stelle des Kochs nicht neu besetzen, bevor er sich durch die Besetzung mit einem Nicht-Vietnamesen unglaubwürdig macht. Zu begründen, dass die Stelle einer Verkäuferin in der Parfumabteilung eines Kaufhauses unbesetzt bliebe, wenn sich nur Muslima mit Kopftuch bewerben, dürfte indes schwieriger sein. Allein die Tatsache, dass jene ihre eigenen Reize bedecken, heißt noch nicht, dass sie nicht in der Lage sind, anderen Frauen Parfums zu verkaufen. ______________ 302
ErfK-Schlachter, § 611a BGB Rn. 22. Thüsing/Wege, FA 2003, 296, 298. 304 Hierzu ausführlich Thüsing, RdA 2001, 319. 303
VI. Voraussetzungen und Rechtsfolgen (religiöser) Diskriminierungen
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Eine Rechtfertigung ist allein durch berufliche Anforderungen möglich, d.h. durch die Tätigkeit selbst. Außerhalb der Arbeitsleistung liegende Gründe vermögen Diskriminierungen dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift und den ihr zugrundeliegenden Richtlinienbestimmungen zufolge nicht auszuschließen.305 Virulent wurde dies im bereits erwähnten Fall des ArbG Wuppertal.306 Der Arbeitgeber hatte versucht sich damit zu verteidigen, dass es in früherer Zeit immer wieder zu Auseinandersetzungen mit den Angehörigen türkischer Arbeitnehmerinnen gekommen sei und er deshalb solche nicht mehr einstellen wolle. Bei Konflikten kam es regelmäßig zu Handgreiflichkeiten mit türkischen Verwandten. Ob dem so war oder nicht, spielt keine Rolle, denn selbst wenn es so war, kann dies den Ausschluss türkischer oder türkisch-stämmiger Bewerber aus dem Bewerbungsverfahren nicht rechtfertigen. Notwendig sind in der Tätigkeit selbst begründete Kriterien, die eine Einstellung türkischer Arbeitnehmer verhindern. Konflikte mit türkischen Verwandten wurzeln aber nicht in den den Arbeitnehmern zugewiesenen Aufgaben, sondern in der Gewaltbereitschaft eben jener Angehörigen. Das AGG lässt eine Pauschalbetrachtung sämtlicher türkisch-stämmiger Bewerber nicht zu. Zwischenfälle mit Einzelnen türkischer Herkunft rechtfertigen nicht den generellen Ausschluss dieser Volksgruppe von Beschäftigung – auch nicht unter dem Deckmantel der „Gerichtsbekanntheit“, dass Verwandte türkischer Abstammung besonders gewaltbereit seien, wie das ArbG Wuppertal zur Begründung anführte.307 In Bezug auf die Religion ist in ähnlicher Weise denkbar, dass ein Arbeitgeber schlechte Erfahrungen mit den Verwandten von kopftuchtragenden Arbeitnehmerinnen macht. Auch insoweit wäre ein genereller Ausschluss von Muslimen aus dem Bewerberkreis um einen Arbeitsplatz mit den §§ 7 und 8 AGG nicht zu vereinbaren.
b) Zulässige positive Maßnahmen (§ 5 AGG) Nach § 5 AGG ist eine unterschiedliche Behandlung auch zulässig, wenn durch geeignete und angemessene Maßnahmen bestehende Nachteile wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes verhindert oder ausgeglichen werden sollen. Danach kann die bisherige Rechtsprechung zu Förderpflichten des Arbeitgebers in Bezug auf die Religion des Einzelnen aufrecht erhalten bleiben. Anders als bei Behinderten verpflichtet das Diskriminierungsrecht den Arbeitgeber nicht zu solchen positiven Maßnahmen, sondern überlässt es dem bisherigen, nationalen Recht hierfür angemessene Lösungen zu finden.308 Ohnehin ______________ 305
Hierzu Wiedemann in: 50 Jahre BAG, 2004, S. 265, 279 f. LAGE Nr. 2a zu § 626 BGB 2002, s. bereits Abschnitt V. 307 ArbG Wuppertal, LAGE Nr. 2a zu § 626 BGB 2002, S. 4. 308 s. Abschnitt IV.3.c). 306
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
bestimmt Art. 8 Abs. 2 RL 2000/78/EG, dass der zum Zeitpunkt der Umsetzung der Richtlinie geltende Schutzstandard nicht mit Blick auf das europäische Diskriminierungsrecht abgesenkt werden darf (ebenso auch Art. 6 Abs. 2 RL 2000/43/EG).
5. Rechtsfolgen a) Schadensersatz und Entschädigung § 15 AGG gewährt diskriminierten Arbeitnehmern Ersatz für materiellen und immateriellen Schaden. Ersterer ist in Abs. 1 geregelt, wobei eine dem § 280 Abs. 1 S. 2 BGB entsprechende Beweislastumkehr gilt (§ 15 Abs. 1 S. 2 AGG): Ein Vertretenmüssen des Arbeitgebebers wird vermutet, dieser hat sich zu entlasten.309 Da § 7 Abs. 3 AGG klarstellt, dass eine Benachteiligung auch eine Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten darstellt, ergeben sich Ansprüche überdies aus den allgemeinen Vorschriften der §§ 280 ff. BGB. Diese Brücke lässt § 15 Abs. 5 AGG ausdrücklich zu, der darauf hinweist, dass Ansprüche aus anderen Rechtsvorschriften unberührt bleiben. Hieraus können sich auch Ansprüche auf Schadensersatz ergeben, weil der Arbeitgeber seinen Pflichten nach § 12 AGG nicht nachgekommen ist. Sie stellen arbeitsvertragliche Nebenpflichten dar (vgl. § 241 Abs. 2 BGB). Für diskriminierende Arbeitnehmer, insbesondere für Vorgesetzte, hat der Arbeitgeber u.U. nach § 278 BGB einzustehen. Ersatz immaterieller Schäden gewährt § 15 Abs. 2 AGG und nennt dies Entschädigung. Der Gesetzesbegründung zufolge haftet der Arbeitgeber hierfür verschuldensunabhängig.310 Im Normtext kommt das zwar nicht besonders deutlich zum Ausdruck, ist aber auch europarechtlich geboten.311 Der ADG-E vom November 2004 sah keine Begrenzung des Anspruchs auf Entschädigung seiner Höhe nach vor, was auf deutliche Kritik stieß,312 so dass man sich dazu entschloss, die aus § 611a BGB a.F. bekannte Begrenzung auf drei Monatsgehälter für den Fall zu normieren, dass der oder die Beschäftigte
______________ 309 Anders als bei § 280 Abs. 1 BGB ist auch die Beweislast für die Benachteiligung selbst ausdrücklich in § 22 AGG modifiziert. Dies entspricht europarechtlichen Vorgaben (vgl. Art. 8 Abs. 1 RL 2000/43/EG und Art. 10 Abs. 1 RL 2000/78/EG). 310 BT-Drucks. 16/1780, S. 38. 311 Vgl. EuGH, Rs. C-180/95 (Draehmpaehl), NZA 1997, 645. 312 s. die Stellungnahmen in der Ausschussanhörung am 07.03.2004, Ausschuss-Drucks. 15(12)440-C.
VI. Voraussetzungen und Rechtsfolgen (religiöser) Diskriminierungen
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auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre (§ 15 Abs. 2 S. 2 AGG).313 Sowohl Ansprüche auf Schadensersatz als auch Ansprüche auf Entschädigung müssen nun innerhalb einer Zweimonatsfrist geltend gemacht werden. Der Gesetzentwurf vom November 2004 sah eine Ausschlussfrist allein für Ansprüche auf Entschädigung vor,314 was vermutlich auch sinnvoller gewesen wäre. Die nun in § 15 Abs. 4 AGG normierte Ausschlussfrist wird dazu führen, dass über die Ansprüche des § 15 AGG hinaus die aus § 280 Abs. 1 BGB weiterhin erhebliche Bedeutung haben. Unweigerlich wird man an die Konkurrenzprobleme erinnert, die sich vor der Reform des Schuldrechts aufgrund der uneinheitlichen Verjährungsvorschriften ergaben. Sinnvoll ist der Ausschluss eines Schadensersatzanspruchs aus § 15 Abs. 1 AGG nach zwei Monaten, wie ihn Abs. 4 vorsieht, allein für Diskriminierungen bei der Einstellung von Bewerbern.315 Hier soll der Arbeitgeber nicht gehalten sein, Unterlagen bis zum Ablauf der dreijährigen Verjährungsfrist aufzubewahren.316 Es ließe sich deshalb darüber nachdenken § 15 Abs. 4 AGG im Wege einer teleologischen Reduktion auf die Fälle der Diskriminierungen im Rahmen von Einstellungsverfahren zu reduzieren. Im Falle einer solchen Diskriminierung kann der Benachteiligte nach Ablauf der zwei Monate nach § 823 Abs. 1 BGB iVm Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG dann nur noch unter strengeren Voraussetzungen Schadensersatz verlangen.317 Andererseits ließen sich für Benachteiligungen während des Arbeitsverhältnisses damit zwei Probleme lösen. Zum einen ergäben sich keine Konkurrenzprobleme zu den allgemeinen Vorschriften. Dies wäre hingegen der Fall, wenn die Ausschlussfrist allein für Ansprüche aus dem AGG Anwendung fände. Zum anderen liefe man nicht Gefahr, europarechtswidrig318 § 15 Abs. 4 AGG analog auch auf andere Ansprüche anzuwenden. § 15 Abs. 4 S. 2 Hs. 2 AGG wird dadurch auch nicht überflüssig. Zwar spricht die Norm außer von Fällen der Bewerbung und des beruflichen Aufstiegs auch noch von sonstigen Fällen; hiermit können aber gleichwohl solche gemeint sein, die sich im Verlauf des Bewerbungsverfahrens ereignen. Der Arbeitgeber kann nicht nur durch die ______________ 313
Zu den Schadensersatzregelungen von Deutschland und anderen europäischen Ländern im Rahmen der Geschlechterdiskriminierung s. Hoppe, ZEuP 2002, 78, 85 ff. 314 BT-Drucks. 15/4538, S. 7. 315 Hierzu bereits Kap. 5 I.3. 316 BT-Drucks. 16/1780, S. 38. 317 Die Darlegungs- und Beweislast des Benachteiligten ist bei diesen Ansprüchen höher. Weder gilt die Beweislastumkehr des § 15 Abs. 1 S. 2 AGG, noch die des § 22 AGG. Zudem reicht eine bloße Benachteiligung nicht aus, sie muss vielmehr derart gravierend sein, dass der Benachteiligte in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht betroffen ist. Hieran wird man nun nach Inkrafttreten des AGG (wieder) hohe Anforderungen stellen müssen. 318 Hierin läge ein nach den Art. 8 Abs. 2 RL 2000/78/EG und Art. 6 Abs. 2 RL 2000/43/EG verbotenes Absenken des Schutzniveaus.
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Kapitel 6: Eine diskriminierungsrechtliche Betrachtung
Ablehnung eines Stellenbewerbers diskriminieren, sondern bspw. auch dadurch, dass er nur einigen die Bewerbungskosten erstattet oder nur einige während des Vorstellungsgesprächs zum Essen einlädt. Mit Hilfe der teleologischen Reduktion des § 15 Abs. 4 AGG werden zumindest diejenigen Konkurrenzprobleme vermieden, die sich zwischen der Ausschlussfrist diskriminierungsrechtlicher und der Verjährungsfrist allgemeinzivilrechtlicher Ansprüche ergeben.
b) Leistungsverweigerungsrecht und Maßregelungsverbot Bezog sich das in § 14 AGG319 enthaltene Leistungsverweigerungsrecht im Entwurf vom November 2004 noch auf sämtliche Fälle von Benachteiligungen, in denen der Arbeitgeber keine oder offensichtlich ungeeignete Maßnahmen zu ihrer Unterbindung ergreift, beschränkt es sich nun auf die Fälle von Belästigungen und sexuellen Belästigungen. Für die Annahme von Leistungsverweigerungsrechten muss im Übrigen deshalb weiterhin auf § 275 Abs. 3 BGB zurückgegriffen werden. Hier zeigt sich, dass die bisherige in Kapitel 5 dargestellte Judikatur in weiten Bereichen auch nach Erlass des AGG weiterhin Geltung beanspruchen wird. Demgegenüber bezieht sich das Maßregelungsverbot des § 16 AGG auf sämtliche Diskriminierungsmerkmale. Es geht als lex specialis § 612a BGB vor.
______________ 319 Die Norm ist § 4 Abs. 2 BeschSchG nachgebildet, regelt sowohl Leistungs- als auch Preisgefahr und ist deshalb lex specialis sowohl zu § 275 Abs. 3 BGB als auch zu § 326 Abs. 1 S. 1 BGB (zu § 4 BeschSchG vgl. HWK-Thüsing, § 4 BeschSchG Rn. 6). Im Gegensatz zu § 275 Abs. 3 BGB greift § 14 AGG erst, nachdem der Arbeitgeber die Möglichkeit hatte, Maßnahmen zur Unterbindung einer Benachteiligung zu ergreifen und sie nicht oder nicht vollständig genutzt hat.
Kapitel 7
Religiöse Konflikte im Blickwinkel des AGG Die anfangs geschilderten, typischen Konfliktherde zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gilt es nun in den Blickwinkel des AGG zu stellen.
I. Konflikte bei Einstellung Eine der wichtigsten und weitreichendsten Änderungen bewirkt das Verbot der Diskriminierung wegen der Religion in der Phase der Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses. War der Arbeitgeber bisher in seiner Entscheidung, wen er einstellt, insbesondere deshalb frei, weil der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz insofern keine Wirkung entfaltet und durfte er nur nicht nach dem Geschlecht unterscheiden,1 so ist die Liste der verpönten Merkmale durch die RL 2000/43/EG und 2000/78/EG erheblich erweitert worden.
1. Fragerecht des Arbeitgebers Die verfassungsrechtliche Betrachtung hat gezeigt, dass grundrechtliche Schutzpflichten nur sehr begrenzte Wirkungen im Privatrechtsverkehr entfalten. Grundsätzlich sind die Beteiligten in der Entscheidung frei, mit wem sie einen Vertrag eingehen und was sie vor Vertragsschluss vom anderen wissen wollen. Rechtfertigungsbedürftig sind allerdings solche Fragen, die die Bekenntnisfreiheit2 des Arbeitnehmers tangieren, wobei ein ausreichender Grund auch darin bestehen kann, dass ein Arbeitgeber Seinesgleichen fördern möchte und deshalb bspw. nur Katholiken einstellt. Ein Einschreiten gebieten die Schutzpflichten insoweit weder dem Gesetzgeber noch den Gerichten (s. Kap. 4 VI.2.b)). ______________ 1 2
s. Kap. 6 III.2, aber auch Kap. 3 I.2, Kap. 4 VI.2.b) und Kap. 5 I.3. Zum Begriff s. Fn. 55 in Kap. 2.
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Auch zivilrechtlich ändert sich hieran – sieht man zunächst vom AGG ab – nichts. Eine Anfechtung des Arbeitsvertrags wegen arglistiger Täuschung nach den §§ 142 Abs. 1, 123 Abs. 1 BGB scheidet aus, wenn der Bewerber eine entsprechende Frage wahrheitswidrig beantwortet. Das Zivilrecht ist geprägt von Privatautonomie, eine Einschränkung ist nur notwendig, wenn entweder die Verfassung dies gebietet – was wie gesehen nicht der Fall ist – oder wenn sich eine Wertung des (einfachen) Gesetzgebers findet, aus der sich Rückschlüsse darauf ziehen lassen, dass die Vertragsfreiheit hinter anderen, sozialpolitisch motivierten Interessen zurückstehen soll. Eine solche Wertung ließ sich vor Inkrafttreten der RL 2000/78/EG weder in Bezug auf die Religion noch in Bezug auf die Begründung eines Arbeitsverhältnisses im deutschen Recht ausmachen (s. Kap. 5 I.3). Nach dem Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie ist dies freilich anders.3
a) Grundsätzliche Unzulässigkeit der Frage nach der Religion aa) Keine Benachteiligung durch die Frage selbst Weder die Richtlinie noch das AGG legen ausdrücklich fest, dass eine wahrheitswidrig beantwortete Frage des Arbeitnehmers sanktionslos zu sein hat. Vielmehr verbieten die Regelungen Benachteiligungen. Die Frage nach der Religionszugehörigkeit oder religiösen Betätigungen stellt für sich genommen noch keinen Nachteil dar. Auch die Gefahr einer Anfechtung, also eines Nachteils, genügt nicht für eine Diskriminierung. Zwar lässt es § 3 Abs. 2 AGG ausreichen, dass eine Benachteiligung gegenüber anderen vorliegen kann; das bedeutet aber, dass geeignete Vergleichspersonen nicht vorhanden, sondern nur vorstellbar sein müssen, nicht jedoch, dass bereits ein nur vermuteter Nachteil genügt. Hypothetische Vergleichspersonen können eine Diskriminierung begründen, ein hypothetischer Nachteil genügt nicht.4 Die Frage nach der Religion mag sich nur dann nachteilig auswirken, wenn der Arbeitgeber aus ihrer Beantwortung später Nachteile ableitet und Menschen mit einer bestimmten Religion von vorne herein nicht einstellt. Ob er das tut oder ob er im Gegensatz dazu sie womöglich sogar bevorzugt, ist in der Phase der Einstellung nicht vorhersehbar. Besonders deutlich macht dies ein Blick auf die Frage nach der Schwerbehinderung. Mag man zunächst denken, der Arbeitgeber frage deshalb nach einer Behinderung, weil er die mit einer Einstellung von Behinderten verbundenen Kosten scheut, so lassen die Regelungen über die ______________ 3 4
Zur richtlinienkonformen Auslegung s. die weiterführenden Hinweise in Kap. 6, Fn. 5. s. Kap. 6 VI.3.c)cc).
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Schwerbehindertenabgabe nach den §§ 71 ff. SGB IX gerade Umgekehrtes vermuten. Arbeitgeber können hierdurch dazu motiviert sein, Schwerbehinderte bevorzugt einzustellen, wenn sie dadurch der Abgabe nach dem SGB IX entgehen.
bb) Benachteiligung durch die Anfechtung des Arbeitsvertrags? Dennoch ist aus Diskriminierungsverboten zu schlussfolgern, dass die Frage nach einem verpönten Merkmal grundsätzlich unzulässig ist.5 Abzustellen ist nämlich nicht auf die Frage selbst, sondern auf die darauf folgende Anfechtung. Die Frage nach der Religion (bspw.) ist regelmäßig nicht einmal eine Ungleichbehandlung, wenn der Arbeitgeber sämtliche Bewerber nach ihren Religionszugehörigkeiten fragt, die sich u.U. daran anschließende Anfechtung aber doch: Einigen, die die Frage falsch beantwortet haben, droht der Verlust des Arbeitsplatzes, anderen, die ebenfalls gelogen haben, nicht. Die Maßnahme „Anfechtung wegen arglistiger Täuschung“ stellt für den betroffenen Arbeitnehmer – im Gegensatz zur bloßen Frage – auch einen Nachteil dar: die Nichtigkeit des Arbeitsvertrags und damit den Verlust des Arbeitsplatzes. Und dieser Nachteil beruht kausal auf der Maßnahme des Arbeitgebers, der Anfechtung. Der Arbeitgeber wird allerdings versuchen sich zu verteidigen, indem er argumentiert, die Anfechtung beruhe nicht auf der Religion, sondern auf der Falschbeantwortung der betreffenden Frage. Es handele sich also nicht um eine Benachteiligung wegen der Religion. Dass die Maßnahme nicht in der Frage selbst, sondern in der darauf folgenden Anfechtung liegt, wurde bereits herausgearbeitet und dass die Anfechtung deshalb nicht formell auf der Religion beruht, sondern auf der Falschbeantwortung der Frage, ist sicherlich richtig. Allerdings stellt auch die Diskriminierung einer Teilgruppe eine unmittelbare Diskriminierung dar.6 Und genau darum geht es hier. Der Arbeitgeber beendet (durch Anfechtung) nicht jeden Arbeitsvertrag mit Mitarbeitern, die eine Frage im Bewerbungsgespräch falsch beantwortet haben, aber sämtliche Mitarbeiter, deren Vertrag er anficht, gehören einer bestimmten Religionsgemeinschaft an. Will der Arbeitgeber bspw. verhindern, dass er seinen Arbeitsablauf auf Gebetspausen einzustellen hat und fragt er deshalb seine Bewerber nach ihrer Religion, um Muslime aussondern zu können, so ist die Frage für sich genommen noch keine Benachteiligung. Ficht er allerdings anschließend die Verträge mit drei muslimischen Mitarbeitern an, die die Frage falsch beantwortet haben, ______________ 5
Für die Frage nach der Schwerbehinderung bereits Thüsing/Wege, FA 2003, 296, 298 ff.; so auch Joussen, NJW 2003, 2857 jeweils mwN. 6 s. Kap. 6 VI.3.b)cc), 3. Fallgruppe.
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hält er hingegen an zwei christlichen Arbeitnehmern fest, die die Frage ebenfalls falsch beantwortet haben, ist dies eine Diskriminierung einer Teilgruppe: Es werden zwar nicht sämtliche Arbeitnehmer entlassen, die die Frage falsch beantwortet haben, aber alle, die entlassen werden, sind islamischen Glaubens. Zu einer – deshalb sogar unmittelbaren – Diskriminierung gelangt man also, wenn man konsequent auf die entscheidende Maßnahme, die Anfechtung des Arbeitsvertrags nach den §§ 142 Abs. 1, 123 Abs. 1 BGB, abstellt. Der Terminus Recht zur Lüge versperrt so manches mal den Blick dafür.
cc) Wertungsgesichtspunkte Sieht man einmal von dieser doch recht komplizierten Subsumtion ab, wird man auch aus Wertungsgesichtspunkten die Frage nach der Religion oder eines anderen verpönten Merkmals für unzulässig halten müssen. Nur so kann jeder Benachteiligung von vorne herein vorgebeugt und die Effektivität des gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbots erreicht werden (sog. effet utile). Soll das Benachteiligungsverbot effektiv sein, so muss der Arbeitnehmer das Recht haben, die Frage nicht zu beantworten, mehr noch: Er muss sie falsch beantworten dürfen, und zwar sanktionslos.7 Die Täuschung ist demzufolge nicht rechtswidrig, was für § 123 Abs. 1 BGB – in Ergänzung seines Wortlauts – der Fall sein muss.8 Es ist nicht zu erwarten, dass sich die Gerichte anders entscheiden werden, dies zeigt insbesondere ein Vergleich zur Frage nach der Schwerbehinderung.9 Vor Einführung des § 81 Abs. 2 SGB IX a.F. hielt sie das BAG uneingeschränkt für zulässig mit der Begründung, der Gesetzgeber habe mit der Quotenregelung in §§ 71 ff. SGB IX ein System zur Integration von Behinderten ins Arbeitsleben geschaffen; ein zusätzlicher „zweiter Weg“ durch Aberkennung des Fragerechts nach der Schwerbehinderteneigenschaft durch die Rechtsprechung sei kontraproduktiv. Es existiere gerade kein dem § 611a BGB a.F. vergleichbares Diskriminierungsverbot.10 Genau das hat sich nun geändert.
______________ 7 In Bezug auf das Alter schlussfolgert dies auch C. Weber, AuR 2002, 401, 404. Er stützt sich dabei allerdings auf einen Vergleich zur Frage nach der Schwangerschaft. Dies überzeugt angesichts der hierfür geltenden Sonderregel in Art. 10 Nr. 1 RL 1992/85/EWG nicht, s. hierzu sogleich unter I.1.c).; s. auch Leuchten, NZA 2002, 1254, 1276 f. 8 Hierzu bereits Kap. 3 I.1, insbes. Fn. 5. 9 Nach einer unterhalb dieser Grenze bestehenden körperlichen Einschränkung durfte der Arbeitgeber der bisherigen Rechtsprechung zufolge nur fragen, wenn dies für die Tätigkeit relevant war (BAG, NZA 1985, 57 f.). Zum Ganzen Thüsing/Wege, FA 2003, 296. 10 BAG, NJW 1996, 2323, 2325.
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b) Ausnahmen Die Frage des Arbeitgebers nach einem verpönten Merkmal ist im Bewerbungsgespräch also grundsätzlich unzulässig. Die Ausnahmen hierzu gibt das Diskriminierungsrecht selbst vor. Eine Frage ist zulässig, wenn die Religion bzw. ihr Nicht-Vorhandensein eine wesentliche und entscheidende berufliche Voraussetzung für die Ausübung der Tätigkeit darstellt (§ 8 Abs. 1 AGG). Religionsgemeinschaften können nach § 9 Abs. 1 AGG selbst bestimmen, was für sie in diesem Sinne wesentlich ist. Entscheidend ist das Kriterium, wenn der Bewerber seine Arbeit sonst nicht vollumfänglich ausüben können wird, wesentlich wenn diese Einschränkung von Gewicht ist.11 Erfordert ein Arbeitsprozess bspw. in einer Fabrik die ständige Anwesenheit der Arbeitnehmer, ist die Frage nach der Religion gerechtfertigt, denn sollte der Bewerber als Muslim Gebete zu bestimmten Zeiten verrichten wollen, wäre dies nicht zu gewährleisten.12 Lässt sich der Arbeitsprozess nicht umstrukturieren, ist er praktisch nicht einsetzbar.13 Die Religion bzw. das Nicht-Beten-Wollen ist wesentliche und entscheidende Voraussetzung für die Tätigkeit. Anders ist es, wenn der Arbeitsablauf eine Umorganisation verträgt; dann mag zwar das Merkmal entscheidend sein, weil der Arbeitnehmer kurzzeitig während der Gebete nicht einsetzbar ist, es ist aber nicht wesentlich, da diese Zeit nicht länger ist als die für Zigarettenpausen. Ebenso ist die Frage nach der Religion erlaubt, wenn ein Opernhaus einen Musiker einstellen möchte und gedenkt, demnächst eine blasphemische Operninszenierung zu präsentieren.14 Hier darf der Arbeitgeber zwar nicht nach der Religion fragen, aber er darf fragen, ob der Bewerber mit einer solchen Inszenierung zu Recht kommt. Bereits nach bisheriger Rechtslage war die Frage nach der Religion zulässig oder ihre Offenbarung gar notwendig, wenn dies für das Arbeitsverhältnis „von erheblicher Bedeutung“ ist.15 Im Vergleich zu den nunmehr erforderlichen wesentlichen und entscheidenden Anforderungen dürfte der Unterschied nur Nuancen betragen. Bedeutung gewinnt allerdings ein weiteres Tatbestandsmerkmal von § 8 Abs. 1 AGG: Die Religion muss wesentlich und entscheidend für die Tätigkeit selbst sein. Außerhalb der Arbeit liegende Gründe können die Frage nach der Religionszugehörigkeit nicht rechtfertigen.16 Der Arbeitgeber darf deshalb nicht allein deshalb nach der Religion fragen, um Anhänger seiner ______________ 11
s. hierzu und zu entsprechenden Nachweisen Kap. 6 VI.4.a). s. die Urteile des LAG Düsseldorf und des LAG Hamm in Kap. 3 II.2. 13 s. hierzu Kap. 5 II.3. 14 s. den Fall des LAG Düsseldorf in Kap. 3 II.3.e). 15 BAG, NZA 1986, 635; weitere Nachweise in Kap. 3 I.1. 16 s. hierzu Hoppe/Wege, LAGE Nr. 2a zu § 626 BGB 2002, S. 5 ff. sowie Kap. 6 VI.4.a). 12
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Religion zu bevorzugen oder umgekehrt, um gerade Andersgläubige, Atheisten oder Agnostiker einzustellen, um sie zu bekehren. Hierin liegt kein in der Tätigkeit wurzelnder Grund. War eine solche Frage bislang zulässig, 17 verbietet sie nunmehr das AGG.
c) Anfechtung auch bei langfristiger Arbeitsunfähigkeit ausgeschlossen? – Ein Vergleich zur Frage nach der Schwangerschaft Wirft man neben der Frage nach der Schwerbehinderung einen Blick auf die Rechtsprechung und Literatur zur Frage nach der Schwangerschaft, so stellt man fest, dass dort auch dann die Zulässigkeit der entsprechenden Frage vom EuGH verneint wird, wenn sicher ist, dass die Arbeitnehmerin aufgrund ihrer Schwangerschaft die Tätigkeit während eines wesentlichen Teils der Vertragslaufzeit nicht ausüben können wird. Dies gilt dem Gerichtshof zufolge sogar, wenn die Arbeitsleistung „für das ordnungsgemäße Funktionieren des Unternehmens (...) unerlässlich ist“.18 Mit dieser weitreichenden Formulierung verdeutlicht der EuGH, dass er keine Ausnahmen vom Schutz schwangerer Arbeitnehmerinnen bzw. Bewerberinnen duldet. 19 Die Befürchtung ist berechtigt, dass Vergleichbares nun auch für die übrigen Merkmale droht. Das würde bedeuten, dass eine Aushilfskraft für die Wochentage Freitag und Samstag, die jüdischen Glaubens ist, eingestellt werden müsste, obwohl sie samstags überhaupt nicht arbeiten kann.20 Jedenfalls dürfte sie die Frage nach Arbeit am Samstag wahrheitswidrig beantworten, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Oder ein Musiker müsste eingestellt werden, obwohl er aufgrund seiner Religion an einer geplanten blasphemischen Operninszenierung nicht mitwirken kann, die die nächsten elf Monate dauern soll und damit seine Anstellung eine erhebliche Zeit lang für den Arbeitgeber nutzlos wäre.21 Die Angst ist allerdings unbegründet, denn das Diskriminierungsverbot wegen der Schwangerschaft und Mutterschaft unterscheidet sich in einem ent______________ 17
s. Kap. 4 VI.2.b). EuGH, Rs. 207/98 (Mahlburg), NZA 2000, 255, 256, Rn. 24; s. hierzu auch Schlachter, EWiR 2000, 249 f.; EuGH, Rs. C-109/00 (Brandt-Nielsen), NZA 2001, 1241, 1243, Rn. 29; EuGH, Rs. C-320/01 (Busch), NZA 2003, 373. 19 Hiergegen erhob sich im deutschen Schrifttum deutliche Kritik: Stürmer, NZA 2001, 526, 529 f.; Schulte Westenberg, NJW 2003, 490, 492; zum Ganzen Thüsing/Lambrich, BB 2002, 1146, 1147 ff. Das BAG hat die europäische Rechtsprechung (noch?) nicht übernommen. 20 s. die Gerichtsurteile in Kap. 3 II.3.a). 21 s. das Urteil des LAG Düsseldorf in Kap. 3 II.3.e). 18
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scheidenden Punkt von den RL 2000/43/EG und 2000/78/EG. Für die Gleichbehandlung der Geschlechter gilt eine Sonderregelung in Art. 10 Nr. 1 RL 1992/85/EWG, in der es heißt: „Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um die Kündigung der Arbeitnehmerinnen (...) während der Zeit vom Beginn der Schwangerschaft bis zum Ende des Mutterschaftsurlaubs (...) zu verbieten“.
Der EuGH sieht hiervon jede Beendigung des Arbeitsverhältnisses erfasst, so dass auch die Anfechtung nach deutschem Recht unzulässig ist, wenn sich herausstellt, dass die Arbeitnehmerin schwanger ist.22 „Für diesen Zeitraum sieht Art. 10 Richtlinie 92/85/EWG keine Ausnahme oder Abweichung vom Verbot der Kündigung schwangerer Arbeitnehmerinnen vor, außer in nicht mit ihrem Zustand in Zusammenhang stehenden Ausnahmefällen und unter der Voraussetzung, dass der Arbeitgeber die Gründe für die Kündigung schriftlich angibt“, führt der EuGH aus.23
Der Gerichtshof lässt also keine Ausnahme vom Schutz Schwangerer zu, auch nicht durch betriebliche Interessen.24 Dies mag man kritisieren, 25 für die übrigen verpönten Merkmale fehlt jedenfalls zu Recht eine vergleichbare Regelung. Für sie gilt einzig Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG bzw. § 8 Abs. 1 AGG, so dass insofern die Anfechtung zulässig ist, wenn sich herausstellt, dass der Arbeitnehmer zu wesentlichen Teilen oder langfristig seine Tätigkeit nicht wird ausüben können. Die Frage danach ist und bleibt deshalb zulässig, trotz dass der EuGH in Bezug auf die Schwangerschaft anders urteilt.
2. Angabe der Religionszugehörigkeit zwecks Einbehaltung der Kirchensteuer Die Pflicht zur Angabe der Religionszugehörigkeit gegenüber dem Arbeitgeber zwecks Einbehaltung der Kirchensteuer26 ist nicht nur verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt,27 sondern auch diskriminierungsrechtlichen, die aber im Ergebnis nicht durchgreifen. Auch die Landesgesetzgeber, die diese ______________ 22
EuGH, Rs. C-109/00 (Brandt-Nielsen), NZA 2001, 1241, 1242 f. EuGH, Rs. C-109/00 (Brandt-Nielsen), NZA 2001, 1241, 1242 f., Rn. 27. 24 Rolfs (in: APS, § 9 MuSchG Rn. 48) hält die Frage nach der Schwangerschaft allerdings immer noch für zulässig, wenn die Arbeitnehmerin befristet eingestellt werden soll und ihre Beschäftigung für die gesamte vorgesehene Vertragsdauer mutterschutzrechtlich verboten ist. 25 Stahlhacke, EAS RL 76/207/EWG Art. 5 Nr. 16, S. 23 ff.; E. Herrmann, SAE 2003, 125 ff.; Thüsing/Lambrich, BB 2002, 1146, 1147 f., wollen den Einwand des Rechtsmissbrauchs zulassen. 26 Hierzu bereits Kap. 1 III. 27 s. Kap. 4 VI.2.c). 23
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Pflicht in ihren Kirchensteuergesetzen normiert haben,28 sind zwar an die RL 2000/78/EG und damit an das Diskriminierungsverbot wegen der Religion gebunden. Es ist aber bereits zweifelhaft, ob in der Angabe der Religionszugehörigkeit eine Ungleichbehandlung liegt, schließlich muss jeder Arbeitnehmer hierzu eine Erklärung abgeben: Entweder muss er eine steuererhebungsberechtigte Religionsgemeinschaft (vgl. Art. 140 GG iVm Art. 137 Abs. 6 WRV) angeben oder er muss mitteilen, dass er einer solchen nicht angehört. Jedenfalls fehlt es an einem Nachteil, denn allein das Wissen des Arbeitgebers hierüber hat für Arbeitnehmer noch keine nachteiligen Folgen. Erst wenn der Arbeitgeber solche dennoch daran knüpft, greift das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG. Auch eine Übertragung der Argumentation um die Begrenzung des Fragerechts des Arbeitgebers überzeugt nicht (vgl. zuvor Abschnitt 1.a)cc)). Die Pflicht zur Angabe der Religionszugehörigkeit besteht nicht bei Einstellung, also vor Abschluss des Arbeitsvertrags, sondern erst danach. Folglich besteht keine Gefahr, dass der Arbeitgeber aufgrund seines Wissens eine Person allein wegen ihrer Religion nicht einstellt. Verfassungsrechtliche Bedenken bleiben aber auch trotz der Vereinbarkeit mit Europarecht, denn die von Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Religionsfreiheit schützt bereits das Bekenntnis und eben auch das Sich-nicht-Bekennen zu einer Religion, ohne dass es eines Nachteils bedürfte.29
3. Gleichbehandlung bei Einstellung Mangels gleichheitsrechtlichem Schutzminimum gebietet Art. 3 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber nicht, sicherzustellen, dass der Arbeitgeber nicht nach einem der dort genannten Kriterien unterscheidet (s. Kap. 4 IV.2.b)). Das Grundgesetz lässt es vielmehr zu, dass der Arbeitgeber bei der Einstellung auch nach der Herkunft, der Sprache oder der Religion auswählt. Auch mit Art. 4 GG ist es zu vereinbaren, dass der Gesetzgeber es dem Arbeitgeber freistellt, auch oder gerade nach der Religion oder der Weltanschauung zu entscheiden (s. Kap. 4 VI.2.b)). Eine Einschränkung seiner Freiheit konnte vor Ablauf der Umsetzungsfrist der RL 2000/78/EG im deutschen Recht nicht ausgemacht werden.
______________ 28 29
Zu den Rechtsgrundlagen dieser Pflicht i. E. Wasmuth/Schiller, NVwZ 2001, 852. s. hierzu Kap. 2 II.
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a) Gleichbehandlungsanspruch nach dem AGG Seit Dezember 2003 ist dies anders und mit Inkrafttreten des AGG auch für jedermann transparent. Gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG gilt das Benachteiligungsverbot für die Bedingungen für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit und verhindert damit eine freie, ungebundene Auswahlentscheidung des Arbeitgebers. Ihm ist es grundsätzlich nicht nur verwehrt, im Vorstellungsgespräch nach einem der verpönten Merkmale zu fragen, sondern auch dann danach zu unterscheiden, wenn sich eine bestimmte Eigenschaft eines Bewerbers unmittelbar aufdrängt oder wenn er von ihr auf andere Weise erfährt. Hierin liegt für die Praxis die vermutlich bedeutendste Neuerung.30 Wie bisher in Bezug auf das Geschlecht sind nun Klagen von abgelehnten Bewerbern möglich, die materiellen und/oder immateriellen Schaden wegen einer Diskriminierung geltend machen (vgl. § 15 Abs. 1 und 2 AGG). Wie bei § 611a BGB a.F. ist dies nach § 15 Abs. 2 AGG bereits möglich, wenn der Bewerber auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre. Dieser Anspruch ist nach Satz 2 auf drei Monatsgehälter begrenzt, wie es bereits bislang für die Diskriminierung wegen des Geschlechts der Fall war, damit – wie es Nickel ausdrückte – „die Bäume nicht in den Himmel wachsen“.31 Zwar hatte die ursprüngliche Fassung des Entwurfs vom November 2004 zunächst keine Begrenzung vorgesehen, nach deutlicher Kritik wurde dann jedoch die des § 611a BGB a.F. übernommen, obwohl in der Begründung festgestellt worden war, dass das Monatsgehalt nicht die richtige Bemessungsgrundlage sei.32 Thüsing hat in der Expertenanhörung des Deutschen Bundestags deshalb vorgeschlagen, sich am österreichischen Recht zu orientieren, das eine Begrenzung auf 500,- € (s. §§ 12 Abs. 1, 26 Abs. 1 GlBG) vornimmt.33 Der Gesetzgeber hat sich dagegen entschieden.
b) Schadenshöhe Darüber hinaus kann ein wegen seiner Religion (oder eines anderen Merkmals) abgelehnter Bewerber nach § 15 Abs. 1 AGG den materiellen Schaden ersetzt verlangen, sofern sich der Arbeitgeber nicht nach S. 2 exkulpiert. Für
______________ 30
Zur Entwicklung vgl. Wiedemann, Gleichbehandlungsgebote, 2001, S. 23 ff. Stellungnahme im Rahmen der 51. Sitzung des Bundestagsausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am 07.03.2005, Wortprotokoll S. 22. 32 BT-Drucks. 15/4538, S. 35. 33 Thüsing, Ausschuss-Drucks. 15(12)440-C, S. 1, 8. 31
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die Höhe des Schadensersatzanspruchs sind die §§ 249 ff. BGB maßgeblich.34 Wäre der Bewerber ohne Benachteiligung eingestellt worden – was freilich nicht einfach zu beweisen sein wird35 –, hat er Anspruch auf das Arbeitsentgelt bis zum ersten hypothetischen Kündigungstermin.36 Es ließe sich erwägen, dem abgelehnten Bewerber einen darüber hinausgehenden Anspruch auf Abfindung in Anlehnung an die §§ 9, 10 KSchG zuzugestehen. Das BAG hat dies für § 628 Abs. 2 BGB anerkannt und es ist zu überlegen, ob diese Rechtsprechung nicht auf den Fall eines Arbeitnehmers zu übertragen ist, der zwar nicht sein Arbeitsverhältnis nach einem vertragswidrigen Verhalten des Arbeitgebers kündigt wie es bei § 628 Abs. 2 BGB der Fall ist, der aber aufgrund eines diskriminierenden Verhaltens des Arbeitgebers gar nicht erst eingestellt wird. Gerade die Klarstellung in § 7 Abs. 3 AGG, der bestimmt, dass eine Diskriminierung die Verletzung einer arbeitsvertraglichen (Neben-)Pflicht darstellt, könnte Ansatzpunkt sein für die Gleichstellung eines diskriminierenden mit einem vertragswidrigen Verhalten iSv § 628 Abs. 2 BGB. Am 26.07.2001 entschied das BAG37, dass dem Arbeitnehmer, der durch ein vertragswidriges Verhalten des Arbeitgebers zu einer außerordentlichen Kündigung veranlasst wurde, außer dem Anspruch auf Ersatz des Arbeitsentgelts bis zum nächsten Kündigungstermin auch ein Abfindungsanspruch nach den Regeln der §§ 9, 10 KSchG zusteht. Die Lage des wegen schuldhafter Vertragspflichtverletzung des Arbeitgebers selbst kündigenden Arbeitnehmers sei vergleichbar derjenigen des Arbeitnehmers, dem gegenüber der Arbeitgeber eine unberechtigte Kündigung ausgesprochen hat und der nun seinerseits einen Auflösungsantrag stellt.38 Es ließe sich erwägen, diese Rechtsprechung für die diskriminierende Ablehnung von Stellenbewerbern zu übernehmen und insofern dem Arbeitnehmer, der aufgrund eines bestimmten Merkmals nicht eingestellt wird, demjenigen gleichzustellen, dem sofort nach Aufnahme seiner Arbeit aus dem gleichen Grunde unberechtigter Weise gekündigt wird. Ein Blick ins Schrifttum zeigt, dass dies nicht fern liegt. So führt etwa Fuchs39 zur Höhe des Entschädigungsanspruchs eines wegen seines Geschlechts abgelehnten Stellenbewerbers aus: ______________ 34
Vgl. zum Ersatz des Schadens bei Geschlechterdiskriminierungen EuGH, Rs. C-180/95 (Draempaehl), NZA 1997, 645 und hierzu Wendeling-Schröder, DB 1999, 1012. 35 s. Wisskirchen, Mittelbare Diskriminierung, 1994, S. 157. 36 Oetker, ZIP 1997, 802, 803; Soergel-Raab, § 611a BGB Rn. 54; Staudinger-Annuß, § 611a BGB Rn. 99; Wisskirchen, Mittelbare Diskriminierung, 1994, S. 157. 37 NZA 2002, 325, 330. 38 BAG, NZA 2002, 325, 330. 39 In: Bamberger/Roth, § 611a BGB Rn. 41.
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„Es darf der Zeitraum bis zum nächstmöglichen Kündigungstermin für den Arbeitgeber zugrundegelegt werden. Denn es ist nicht ersichtlich, daß ein nach [§ 611a] Abs. 1 [BGB a.F.] diskriminierter Bewerber entschädigungsrechtlich anders gestellt werden soll als er stünde, wenn ihm vom Arbeitgeber gleich nach Aufnahme der Arbeit rechtswidrigerweise gekündigt worden wäre.“
Wenn dem so wäre, läge es nahe, auch dem abgelehnten Stellenbewerber einen zusätzlichen Abfindungsanspruch nach den §§ 9, 10 KSchG an die Hand zu geben. Indes lässt sich die Situation eines Bewerbers, der wegen eines verpönten Merkmales nicht eingestellt wird, nicht mit der eines Arbeitnehmers vergleichen, dem gekündigt wird. Denn letzterer genießt bereits den Bestandsschutz des Arbeitsverhältnisses, sofern er dem KSchG unterfällt. Die §§ 9, 10 KSchG rechtfertigen sich daraus, dass der Arbeitnehmer auf diesen Bestandsschutz verzichtet und dieser Verzicht letztlich auf einem unrechtmäßigen Verhalten des Arbeitgebers beruht. Dann trifft den Arbeitnehmer neben der Vergütung ein weiterer wirtschaftlicher Verlust, für den er einen angemessenen Ausgleich verlangen kann.40 Ein Bewerber um einen Arbeitplatz erhält zwar im Falle einer verbotenen Diskriminierung auch einen Schadensersatzanspruch aufgrund eines unrechtmäßigen Verhaltens des Arbeitnehmers, er genießt jedoch noch gar keinen Bestandsschutz, zu dessen Ausgleich die §§ 9, 10 KSchG herangezogen werden könnten. Und es ist auch noch nicht sicher, ob er jemals überhaupt in diesen Genuss kommen wird, setzt doch § 1 Abs. 1 KSchG eine sechsmonatige Beschäftigung voraus. Die Situation eines Bewerbers, der wegen eines verpönten Merkmals nicht eingestellt wird, ist deshalb nicht mit derjenigen vergleichbar, in der ein Arbeitnehmer wegen eines vertragswidrigen Verhaltens des Arbeitgebers kündigt. Dies gilt vor allem auch deshalb, weil § 15 Abs. 6 AGG einen Einstellungsanspruch (wie bereits § 611a Abs. 2 2. Hs. BGB a.F.) ausdrücklich verneint. Ein über die Vergütung bis zum nächstmöglichen Kündigungstermin hinausgehender Schadensersatzanspruch, angelehnt an die §§ 9, 10 KSchG, steht dem abgelehnten Bewerber daher nicht zu.
c) Insbesondere: Einstellungsgespräche am Samstag Folgt man der hier vorgeschlagenen Konzeption und fordert man für eine Diskriminierung stets eine Ungleichbehandlung durch die Maßnahme selbst, so gewährt das Antidiskriminierungsrecht Bewerbern um einen Arbeitsplatz in Fällen der Gleichbehandlung keinen Schutz (s. Kap. 6 IV). Virulent wird dies bspw., wenn der Arbeitgeber Einstellungsgespräche generell – aus welchen ______________ 40
BAG, NZA 2002, 325, 330; ErfK-Ascheid, § 9 KSchG Rn. 1 mwN.
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Gründen auch immer – ausschließlich samstags führt.41 Dass ein solcher Fall realistisch ist, zeigt der einem Urteil des EuGH zugrundeliegende Sachverhalt aus dem Jahre 1975.42 Eine Britin hatte sich bei dem Rat der Europäischen Gemeinschaften um eine Stelle als Übersetzerin beworben und war zu einem Einstellungstest eingeladen worden. Daraufhin teilte sie dem Rat mit, sie sei jüdischen Glaubens und nicht imstande, am vorgesehenen Tag zu den Prüfungen zu erscheinen, da dies der erste Tag des jüdischen Festes Schawuot (Pfingsten) sei, an dem Reisen und Schreiben untersagt seien. Ausgerechnet der Rat der EG teilte ihr mit, ihren religiösen Bedürfnissen könne nicht Rechnung getragen werden, da die Prüfungen gleichzeitig in London und Brüssel stattfinden müssten und zahlreiche Bewerber bereits geladen seien. Auf die Klage der Bewerberin hin entschied der EuGH, der Gleichheitsgrundsatz gebiete, dass Prüfungen für alle Bewerber unter den gleichen Bedingungen stattfinden. Allerdings müsse die Behörde dem Interesse der Bewerberin grundsätzlich Rechnung tragen und die Prüfungen auf einen anderen Termin verlegen. Eine dogmatische Anknüpfung dieser Einschränkung fehlt, so dass unklar bleibt, ob sich dies noch aus dem Gleichheitssatz ergeben oder aus der auch von Art. 9 EMRK geschützten Religionsfreiheit, auf die sich die Klägerin maßgeblich stützte.43 Im konkreten Fall sei die Behörde jedenfalls nicht verpflichtet gewesen, die Prüfungen zu verschieben, weil die Bewerberin ihren Wunsch zu spät mitgeteilt habe, da andere Bewerber bereits geladen worden waren.
Die ohnehin recht knappe Urteilsbegründung vermag keine Anhaltspunkte zur Auslegung der Richtlinien und des AGG beizusteuern, denn der EuGH stützt sich auf den allgemeinen, richterrechtlich entwickelten Gleichheitssatz des europäischen Gemeinschaftsrechts, der auch Gleichbehandlung von Ungleichem verbietet.44 Darüber hinaus bleibt offen, ob die grundsätzliche Pflicht der Behörde, religiösen Interessen von Bewerbern entgegen zu kommen, nicht doch aus einem Freiheitsrecht, der Religionsfreiheit, resultiert, die im Wege eines wertenden Verfassungsvergleichs unter Einbeziehung von Art. 9 EMRK auch europarechtlich verankert sein dürfte. 45 Der Sachverhalt zeigt aber, dass der hier erörterte Fall von praktischer Relevanz ist. Führt der Arbeitgeber Vorstellungsgespräche oder Einstellungstests nur an einem bestimmten Tag, behandelt er sämtliche Bewerber nach gleichem Muster und dies ist eine Gleich- und keine Ungleichbehandlung, vor der das AGG schützen könnte. Da auch die deutschen, zivilrechtlichen Instrumentarien dem Arbeitgeber insoweit keine weitreichendere Pflicht auferlegen, ist er an seiner Praxis auch dann nicht gehindert, wenn sich Siebenten-Tags-Adventisten, Ju______________ 41
s. bereits Kap. 6 IV.4.e). EuGH, Rs. 130/75 (Prais), Slg. 1976, 1589; s. hierzu Pernice, JZ 1977, 777. 43 Vgl. Pernice, JZ 1977, 777, 778 ff. 44 s. Abschnitt IV.3.b)aa). 45 Pernice, JZ 1977, 777, 778 ff. 42
I. Konflikte bei Einstellung
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den oder Mitglieder der Worldwide Church of God46 bewerben. Besondere Fürsorgepflichten für den Arbeitgeber entstehen erst, wenn ein Arbeitsverhältnis begründet wurde. Zuvor ist er allein verpflichtet, allen Bewerbern unabhängig von ihrer Religion (und weiterer Merkmale nach § 1 AGG) die gleiche Behandlung zu Teil werden zu lassen, nicht aber auf Vorstellungen, Überzeugungen und Wünsche des Einzelnen Rücksicht zu nehmen. Vorstellungsgespräche nur samstags zu führen, ist deshalb nicht rechtfertigungsbedürftig. Eine hiergegen gerichtete Klage auf Schadensersatz könnte allenfalls dann Erfolg haben, wenn er die Bewerber gerade deshalb samstags einlädt, um Mitglieder bestimmter Religionsgemeinschaften von vorne herein auszusondern und ihnen keine Chance auf Einstellung zu gewähren. Hierin könnte eine Nebenpflichtverletzung des vorvertraglichen Schuldverhältnisses liegen, die einen Anspruch aus culpa in contrahendo, §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 Nr. 1 und 2, 241 Abs. 2 BGB, begründet sowie – in besonders schweren Fällen – unter Umständen auch eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, das einen Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB nach sich zieht. Vorvertraglich bestehen aber allenfalls nur sehr begrenzt Rücksichtnahmepflichten; eine schwerwiegende Persönlichkeitsrechtsverletzung des Bewerbers wird in den wenigsten Fällen anzunehmen sein.
4. Arbeitsvertragliche Gestaltung Anders als das Diskriminierungsverbot des § 612a BGB47 gilt das des § 7 Abs. 1 AGG auch bei der Ausgestaltung von Arbeitsverträgen, denn zum einen findet es nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG auf die Einstellungsbedingungen Anwendung und zum anderen kann der Arbeitnehmer gemäß § 31 AGG nicht auf den Schutz des AGG verzichten. Er kann deshalb auch im Arbeitsvertrag selbst nicht einer Benachteiligung (wegen der Religion) zustimmen, die nicht zu rechtfertigen ist. Bislang waren Vorgaben für Verträge, die die Religionsfreiheit beeinträchtigten, eher dünn gesät. Die Verfassung verlangt zwar vom Staat, dass er sicher stellt, dass für die Einschränkung der Wahl- und Bekenntnisfreiheit (und für die Gewissensfreiheit gilt nichts anderes) ein sachlicher Grund des Arbeitgebers besteht; die Beschränkung der Ausübung religiöser Handlungen aber ist von Verfassungswegen privatautonom möglich (s. Kap. 4 VI.2.d)). Hier griffen bislang nur die recht stumpfen Waffen der zivilrechtlichen Generalklauseln. Nur für Formulararbeitsverträge stellt § 307 BGB höhere Anforderungen (s. Kap. 5 III). ______________ 46 47
s. Kap. 6 IV.3.d). Hierzu Kap. 5 III.4 und Kap. 5 IV.2.
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Kapitel 7: Religiöse Konflike im Blickwinkel des AGG
a) Pauschale Formulierungen Das Antidiskriminierungsrecht reicht nunmehr weiter, indem es auch bei der Arbeitsvertragsgestaltung jede religiöse Benachteiligung verbietet, die nicht gerechtfertigt werden kann (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG). Soll bspw. vertraglich festgehalten werden, dass der Arbeitnehmer „jegliche religiöse Betätigung wie etwa das Tragen von Symbolen oder die Verrichtung von Gebeten während der Arbeitszeit“ zu unterlassen habe und dass er Tätigkeiten „nicht aus religiösen Gründen“ ablehnen dürfe, so ist dies mit § 7 Abs. 1 AGG nicht vereinbar. Die Ungleichbehandlung liegt hier nicht darin, dass die Anhänger einer Religion anders behandelt werden als die einer anderen; insofern werden sie alle gleich behandelt. Religiöse Arbeitnehmer werden aber anders behandelt als Atheisten und Agnostiker und auch dies ist eine Ungleichbehandlung wegen der Religion, und zwar eine unmittelbare iSv § 3 Abs. 1 AGG, da bereits der Wortlaut der Maßnahme an das Merkmal der Religion anknüpft. Anders ist es hingegen, wenn der Arbeitsvertrag neben religiösen auch antireligiöse und agnostizistische Handlungen und Symbole untersagt. Hier fehlt es an einer Ungleichbehandlung der Mitarbeiter, da sämtliche Arbeitnehmer von der Regelung betroffen sind, sogar die, denen Religion völlig egal ist. Diese Differenzierung zwischen Gleich- und Ungleichbehandlung wird insbesondere in Bezug auf das Tragen religiöser Symbole nochmals virulent (s. Abschnitt II.1.a)). Eine arbeitsvertragliche Klausel, die allein religiöse Handlungen und Symbole verbietet, wird indes regelmäßig dahingehend auszulegen sein, dass von ihr auch anti-religiöse und agnostizistische Betätigungen erfasst sind. Wenn im Betrieb keine Marienbilder akzeptiert werden, werden in aller Regel auch keine Plaketten mit der Aufschrift „Gott ist tot – Gut so!“ geduldet.48 Antidiskriminierungsrechtliche Bedenken bestehen dann zwar nicht; die allgemein-zivilrechtlichen Anforderungen werden davon jedoch nicht berührt. Insoweit bleibt es bei der bisherigen, in Kapitel 5 III skizzierten Rechtslage.
b) Differenzierte Klauseln An Arbeitsvertragsklauseln, die sich pauschal auf jede religiöse Betätigung beziehen, wird das Antidiskriminierungsrecht also (zumindest zunächst) keine zusätzlichen Anforderungen stellen. Differenziertere Klauseln können hingegen Ungleichbehandlungen darstellen, die vor dem AGG zu rechtfertigen sind. Verbietet der Arbeitsvertrag bspw. „muslimische Kopftücher“, sind hiervon nur (kopftuchtragende) Muslima betroffen. Kann die Klausel nicht gerechtfertigt ______________ 48
Hierzu nochmals sogleich in Abschnitt II.1.a).
II. Konflikte bei der Arbeitsleistung
307
werden, ist sie gem. § 7 Abs. 2 AGG nichtig.49 Neben Religionsgemeinschaften, die nach § 9 Abs. 1 AGG bspw. regeln dürfen, dass Arbeitnehmer entlassen werden, die aus der jeweiligen Gemeinschaft austreten, bleibt dem säkularen Arbeitgeber der Rückgriff auf § 8 Abs. 1 AGG und § 5 AGG. Ist es also wesentliche und entscheidende berufliche Voraussetzung, dass der Arbeitnehmer während der Arbeitszeiten die Maschinen nicht verlässt, kann dies auch dann im Arbeitsvertrag festgehalten werden, wenn dadurch Bewerber nicht eingestellt werden können, die als Muslime zu bestimmten Zeiten Gebete zu verrichten haben. Wann in diesen Fällen Ungleichbehandlungen vorliegen und was für die jeweilige Tätigkeit wesentlich und entscheidend ist, wurde bereits erläutert50 und wird im Folgenden für die verschiedenen, von der Rechtsprechung entschiedenen Konfliktfälle konkretisiert.
II. Konflikte bei der Arbeitsleistung Auslöser für religionsbedingte Konflikte während des Arbeitsverhältnisses können verschiedene sein. Häufig verlangt der Arbeitnehmer etwas, das der Arbeitgeber per Einzelweisung verbietet, so war es jedenfalls in den von der Rechtsprechung bislang entschiedenen Fällen (s. Kap. 3 II.3). In Extremfällen erfolgt eine Kündigung. Gleichwohl ist es denkbar, dass der Arbeitgeber einseitig von vorne herein z.B. eine bestimmte Kleiderordnung aufstellt oder mit dem Betriebsrat eine entsprechende Vereinbarung trifft. Sogar Regelungen in Tarifverträgen sind denkbar, aber eher unwahrscheinlich. Vorausschauende Arbeitgeber werden womöglich auch die einzelvertragliche Regelung jener Fragen im Arbeitsvertrag in Erwägung ziehen. Wie immer die Maßnahme oder Vereinbarung im Einzelfall ausgestaltet ist, das Antidiskriminierungsrecht findet jedenfalls auf sämtliche Regelungen Anwendung. Erfasst sind nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG sowohl individual- als auch kollektivrechtliche Vereinbarungen sowie Maßnahmen bei der Durchführung und Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses. Deshalb sollen die einzelnen Beschränkungen – unabhängig von ihrem Regelungscharakter – inhaltlich am AGG gemessen werden.
______________ 49
Zur richtlinienkonformen Auslegung deutschen Rechts vor Erlass des AGG s. die Nachweise in Kap. 6 Fn. 5. 50 s. Kap. 6 IV.5, Kap. 6 VI.3.a) und Kap. 6 VI.4.a).
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Kapitel 7: Religiöse Konflike im Blickwinkel des AGG
1. Tragen religiöser Symbole In den von der Rechtsprechung bislang entschiedenen Fällen war es stets so, dass der Arbeitnehmer darauf bestand, auch während der Arbeitszeit ein bestimmtes religiöses Symbol zu tragen, ein (islamisches) Kopftuch, rote Baghwan-Gewänder oder einen Turban. Der Arbeitgeber verbat dies mit Hinweis auf zu befürchtende Umsatzeinbußen, weil Kunden in Zukunft fernblieben, dem Image des Hauses oder hygienischen Bedenken. In einem ersten Schritt soll geklärt werden, wann in den Fällen, in denen es um das Tragen religiöser Symbole am Arbeitsplatz geht, eine – erfasste – Ungleichbehandlung und wann eine – nicht von den §§ 7 Abs. 1, 3 Abs. 1 und 2 AGG erfasste – Gleichbehandlung vorliegt (sogleich unter a)), bevor über die Rechtfertigung von unmittelbaren (b)) und mittelbaren Diskriminierungen (c)) nachgedacht wird. Als Spezialfall wird in Abschnitt c) eine Rechtfertigung durch spezielle Wünsche von Kunden (sog. customer preferences) erwogen, wie sie in den Urteilen zum Kopftuch einer Verkäuferin diskutiert worden sind.
a) Ungleich- oder Gleichbehandlungen? Wird das Verbot des Arbeitgebers am AGG gemessen, eröffnet sich ein Grundproblem, das bereits zuvor ausführlich erörtert wurde: Diskriminierung setzt Ungleichbehandlung voraus.
aa) Fälle nicht vom AGG erfasster Gleichbehandlungen Wenn der Arbeitgeber sämtlichen Arbeitnehmerinnen verbietet, ein Kopftuch zu tragen bzw. jeder Arbeitnehmerin, die ein Kopftuch trägt, dies verbietet, so behandelt er augenscheinlich alle gleich. Wie beschrieben muss differenziert werden. Eine Benachteiligung iSv § 3 Abs. 1 und 2 AGG setzt zwar eine Ungleichbehandlung voraus, ob ungleich oder gleich behandelt wird, ist aber anhand von materiellen Kriterien zu bestimmen, d.h. die Auswirkungen der Maßnahme dürfen – im Gegensatz zu einer rein formellen Betrachtung – nicht unberücksichtigt bleiben. Berührt eine Regelung sämtliche Arbeitnehmer und wirkt sie sich nur unterschiedlich intensiv aus, liegt allenfalls eine sog. materielle Diskriminierung vor. Sie ist von den §§ 7 Abs. 1, 3 Abs. 1 und 2 AGG nicht erfasst. Eine (zumeist mittelbare) Benachteiligung ist nur gegeben, wenn die Wirkungen der Regelung überhaupt nur einen Teil der Arbeitnehmerschaft betreffen und sich die betroffene Gruppe gerade in einem verpönten Merkmal von der nicht-betroffenen Gruppe unterscheidet. Wirkungsunterschiede werden erfasst, Intensitätsunterschiede nicht.
II. Konflikte bei der Arbeitsleistung
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Anhand des Verbots, ein Kopftuch zu tragen, ist diese Differenzierung anschaulich darzustellen. Verbietet der Arbeitgeber „jedes religiöse oder ausdrücklich anti-religiöse oder agnostizistische Symbol“ in seinem Unternehmen, fallen in den Anwendungs- und Wirkungsbereich dieser Maßnahme sämtliche Arbeitnehmer, unabhängig davon, ob die Regelung einzelvertraglich, per Betriebsvereinbarung oder durch einseitige Anordnung des Arbeitgebers zustande kam. Prinzipiell könnte jeder der im Unternehmen angestellten Arbeitnehmer eines Morgens mit einem Kruzifix oder einer Halbmondsichel am Revers erscheinen. Auch diejenigen, die keiner Religion angehören, sind von der Maßnahme erfasst, so kann etwa auch ein Atheist betroffen sein, der mit einer Plakette der Aufschrift „Gott ist tot – gut so!“ in Anlehnung an Nietzsche51 zur Arbeit kommt. Die Regelung behandelt deshalb sämtliche Arbeitnehmer in gleicher Weise, so dass weder eine unmittelbare (§ 3 Abs. 1 AGG) noch eine mittelbare Benachteiligung (§ 3 Abs. 2 AGG) vorliegt. Das AGG verbietet eben nur Diskriminierungen, also Benachteiligungen einer Gruppe gegenüber einer anderen, eröffnet aber keinen Freiheitsbereich, um seine Religion oder Weltanschauung oder seine sexuelle Identität während der Arbeitszeit auszuleben. Insoweit ändert sich deshalb an der bisherigen Rechtslage nichts, weiterhin muss das allgemeine Zivil- und Arbeitsrecht einen interessengerechten Ausgleich schaffen und darf dabei die grundrechtlichen Wertungen nicht außer acht lassen. Ebenso ist es bei Bestehen einer Kleiderordnung, die für sämtliche Arbeitnehmer gilt, von denen einige aber verlangen, von ihr ausgenommen zu werden. Adam52 nennt die Beispiele eines Sikh, der statt des obligatorischen Arbeitshelms seinen Turban zu tragen gedenkt, und das eines Anhängers der Osho-Rajneesh-Bewegung, der seine Arbeit als Verkäufer in einem Supermarkt statt in der weißen Einheitskleidung in den Farben der Morgenröte auszuüben verlangt. Hier mangelt es aufgrund der allgemeinen Verbindlichkeit der Kleiderordnungen an einer Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer: Auch der Christ, der Muslim und der jüdische Arbeitnehmer haben zu Beginn der Arbeit die Arbeitshelme bzw. die weißen Kittel anzulegen.
bb) Stattdessen: Lösung weiterhin über arbeitsvertragliche Nebenpflichten Die arbeitsvertraglichen Nebenpflichten vermögen solche Fälle angemessen zu lösen, denn sie erfordern eine Gegenüberstellung der Interessen des Arbeitnehmers, seine Religion oder seine Abneigung gegenüber (einer) Religion ______________ 51
„Gott ist todt!“ heißt es bei Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, 1882, Drittes Buch Aph. 125. 52 NZA 2003, 1375, 1379.
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Kapitel 7: Religiöse Konflike im Blickwinkel des AGG
öffentlich zu äußern, und denen des Arbeitgebers an einem möglichst konfliktfreien Betriebsklima. Sind – wie im genannten Beispiel – prinzipiell alle Arbeitnehmer von einer Regelung betroffen, so ist dies die richtige Blickrichtung. Hingegen würde eine Gegenüberstellung der Betroffenheit des christlichen Arbeitnehmers mit der des muslimischen und jüdischen Arbeitnehmers, wie sie das AGG fordert, zu keinen stichhaltigen Ergebnissen führen. Sind durch das Verbot religiöser und anti-religiöser Symbole mehr Christen als Juden oder Muslime tangiert? Werden Atheisten eher betroffen sein als Buddhisten? Statistiken wären – wenn es sie überhaupt gäbe – wenig aussagekräftig. Zumeist wird es in einem Betrieb nur einen Atheisten geben, der auf seine Plakette besteht oder nur einen Christen, der auch nach deutlichen Worten des Arbeitgebers auf sein Kruzifix an der Halskette nicht verzichten will. Und hypothetische Vergleichspersonen heranzuziehen muss gerade dann misslingen, wenn sämtliche Arbeitnehmer gleich behandelt werden. Soll dem Atheisten eine Muslima mit Kopftuch gegenüber gestellt werden? Oder dem Christen ein BhagwanAnhänger in roten Gewändern? Ein Vergleich setzt Vergleichbarkeit voraus, die hier stets fehlt.
cc) Fälle prinzipiell erfasster Ungleichbehandlungen Anders ist es, wenn der Arbeitgeber „religiösbedingte Kopftücher“ verbietet. Hier differenziert er selbst zwischen denjenigen, die ein solches tragen und deshalb von der Maßnahme betroffen sind, und allen anderen, die nicht in ihren Anwendungsbereich fallen. Der Arbeitgeber verwendet zwar als Differenzierungsmerkmal nicht das der Religion, denn seine Maßnahme bezieht sich auf sämtliche Arbeitnehmer, die aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen und nicht auf alle, die eine bestimmte Religion haben; aber auch diese Unterscheidung ist eine solche, die unmittelbar an die Religion anknüpft, da eine bestimmte Religion (in diesem Fall die islamische, sofern es nicht noch andere gibt, die Gleiches verlangen) eine notwendige Bedingung dafür darstellt, dass jemand aus religiösen Gründen ein Kopftuch trägt. Auch dies ist ein Fall der unmittelbaren Diskriminierung, und zwar eine sog. Diskriminierung einer Teilgruppe.53 Gleichsam zwischen diesen Fällen liegt die Anweisung des Arbeitgebers, „keine Kopfbedeckung“ zu tragen sowie das generelle Verbot von Kopftüchern, sei es aus religiösen oder sonstigen Gründen. Betroffen sind davon wiederum nur diejenigen, die überhaupt in Versuchung geraten, während der Arbeitszeit ihren Kopf zu bedecken, der Arbeitgeber behandelt also zunächst ungleich. Zu dieser Gruppe können auch Arbeitnehmer zählen, die zwar nicht ______________ 53
s. Kap. 6 VI.3.b)cc), Fallgruppe 3.
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muslimischen Glaubens sind, aber ein Kopftuch tragen möchten, z.B. – unabhängig von jedem religiösen Hintergrund – Frauen, wenn dies gerade in Mode ist. Aller Voraussicht nach werden es jedoch deutlich mehr Muslime sein als Christen, Juden oder Buddhisten, die von der Anordnung betroffen sind, so dass man von einer mittelbaren Benachteiligung nach § 3 Abs. 2 AGG ausgehen kann.54
dd) Der umgekehrte Fall: Der Arbeitgeber verlangt das Tragen eines religiösen Symbols Verlangt der Arbeitgeber umgekehrt von seinen Arbeitnehmern das Tragen bestimmter religiöser Kleidung, sollen also bspw. sämtliche Mitarbeiter während der Arbeitszeit ein Kruzifix um den Hals tragen, liegt hierin keine Ungleichbehandlung und damit auch keine Diskriminierung. Gleichbehandlungen verbietet der hier vorgeschlagenen Konzeption zufolge das AGG nicht.55 Es bleibt insofern bei der bisherigen Rechtslage. Die grundrechtlichen Schutzpflichten sind es, die es dem Staat gebieten, bei Unternehmen, die nicht Tendenzunternehmen sind, einzuschreiten.56 Wird diese Pflicht im Arbeitsvertrag vereinbart, ist die Klausel nach § 138 bzw. § 307 Abs. 1 S. 1 BGB unwirksam,57 eine entsprechende Weisung entspricht nicht billigem Ermessen (vgl. § 106 S. 1 GewO) und ist deshalb gem. § 315 Abs. 3 BGB unverbindlich.58 Gleiches gilt, wenn der Arbeitgeber seinen Arbeitnehmerinnen etwa gebietet, während der Arbeit den Hijab zu tragen. Unabhängig von einem eventuellen Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG kann hierin keine Diskriminierung wegen der Religion liegen, weil sich die Regelung unterschiedslos an Anhänger sämtlicher Religionen richtet; aber sie diskriminiert unmittelbar wegen des Geschlechts und ist – in säkularen Betrieben – bereits aus diesem Grunde gem. § 7 Abs. 2 AGG unwirksam.
b) Rechtfertigungen unmittelbarer Diskriminierungen Insbesondere für unmittelbare Diskriminierungen hält § 8 Abs. 1 AGG eine Ausnahme bereit: Sie sind nur zulässig bei wesentlichen und entscheidenden ______________ 54
Thüsing/Wege, ZEuP 2004, 404, 418 ff. s. Kap. 5 III. 56 s. Kap. 4 II und VI. 57 s. Kap. 5 III.3 und III.5. 58 s. Kap. 5 IV. 55
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Kapitel 7: Religiöse Konflike im Blickwinkel des AGG
beruflichen Anforderungen.59 Islamische Kopftücher, der Turban des Sikh, die roten Baghwan-Gewänder und andere religiöse Symbole können (für sich genommen) nur verboten werden, wenn die Tätigkeit sonst nicht ordnungsgemäß ausgeübt werden kann und wenn sich dadurch erhebliche Einschränkungen für den Betrieb ergeben. Dies gleicht im Wesentlichen der bisherigen Rechtsprechung, die bereits bislang religiöse Symbole für zulässig hielt, solange der Arbeitnehmer seiner Arbeit nachkommen konnte. Im sog. Kopftuchurteil hatte das BAG maßgeblich darauf abgestellt, dass die Arbeitnehmerin auch mit dem Hijab ihre Tätigkeiten als Verkäuferin verrichten könne und das ArbG Hamburg sah keine hygienischen Bedenken beim Turban des Sikh, die seine Arbeit am Grill verhindert und eine Störung des Betriebsablaufs provoziert hätten. 60 Notfalls muss der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer mittels Direktionsrechts einen anderen Arbeitsplatz zuweisen. Dies entspricht einerseits dem US-amerikanischen Antidiskriminierungsrecht, wonach eine unmittelbare Diskriminierung zulässig ist, wenn das betreffende Merkmal a bona fide occupational qualification reasonably necessary to the normal operation of that particular business or enterprise ist (Title VII Civil Rights Act, sec. 703 (e) (1)), anderseits auch bisherigen Diskriminierungsvorschriften europäischer Länder. So lässt etwa sec. 5 (1) (a) des britischen Race Relations Acts 1976 unmittelbare Benachteiligungen zu, wenn eine bestimmte Eigenschaft a genuine occupational qualification for the job ist.
c) Rechtfertigungen mittelbarer Diskriminierungen, insbesondere durch entgegenstehende Kundenwünsche (customer preferences) Zur Rechtfertigung mittelbarer Diskriminierungen genügt nach § 3 Abs. 2 AGG ein legitimes Ziel, das mit verhältnismäßigen Mitteln erreicht wird. Welche Ziele anerkennenswert sind, sagt das Gesetz nicht, obwohl dies ein beträchtliches Maß an Rechtssicherheit geschaffen hätte und Vorbilder im britischen Recht hat. Der Race Relations Act 1976 bestimmt recht detailliert, in welchen Fällen eine Diskriminierung wegen der Ethnie gerechtfertigt ist (vgl. sec. 5 (2) (a bis d)). Die Reichweite des Diskriminierungsschutzes wird entscheidend davon abhängen, wie die Gerichte diesen Rechtfertigungsgrund interpretieren, Anhaltspunkte kann die Rechtsprechung des EuGH zur Geschlechtergleichbehandlung bieten.61
______________ 59
Hierzu Kap. 6 VI.4.a). s. Kap. 3 II.1. 61 s. hierzu Wiedemann in: FS Friauf, 1996, S. 135, 145. 60
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Eine für die Rechtfertigung mittelbarer Diskriminierungen bedeutsame Frage ist die nach der Relevanz besonderer Kundenwünsche (customer preferences), wie sie im sog. Kopftuchurteil des BAG zu Tage getreten ist. Die Arbeitgeberin rechtfertigte sich damit, es sei ihren Kunden nicht zuzumuten, von einer Verkäuferin mit Kopftuch bedient zu werden. Während das LAG Hessen ihr zustimmte und „eine schädliche Entfremdung des Kundenkreises“ für „nach der Lebenserfahrung nahe liegend und gut nachvollziehbar“ hielt,62 entschied das BAG hingegen, die Arbeitgeberin habe nicht hinreichend Tatsachen vorgetragen, auf Grund derer es zu „konkreten betrieblichen Störungen oder wirtschaftlichen Einbußen“ gekommen sei. Die Auffälligkeit des Kopftuchs und die sich daraus ergebenden Assoziationen rechtfertigten „jedenfalls nicht per se“ die Kündigung der Arbeitnehmerin.63
Inwieweit überhaupt entgegenstehende Kundenwünsche für eine Kündigung beachtlich sind, lässt das Gericht damit offen. Auch die anderen Entscheidungen trauen sich an die Beantwortung dieser Frage nicht heran. Das ArbG Frankfurt stellte fest: „Ob Intoleranz, Angst, Unverständnis bei den Kunden eine Rolle spielen, wenn eine Arbeitnehmerin an dem Arbeitsplatz ein Kopftuch trägt, kann ohne konkreten Tatsachenvortrag nicht geprüft werden, wobei insoweit diesbezügliche Motivationen möglicherweise keine ausreichenden Kündigungsgründe darstellen dürften.“64 Und das LAG Düsseldorf bezeichnete die vom Arbeitgeber behaupteten finanziellen Einbußen durch den Bhagwan-Anhänger, der rote Kleidung und die Mala trägt, als „noch zu wenig konkret, um entscheidend Berücksichtigung zu finden.“65 Es sei ihm „zumutbar, abzuwarten, welche Konsequenzen sich im einzelnen aus der geänderten inneren Einstellung des Arbeitnehmers für das Arbeitsverhältnis ergeben“.66
Einigkeit besteht weitgehend darin, dass derartige, durch Dritte hervorgerufene Gründe für eine Kündigung restriktiv zu handhaben sind.67 Allein die Vorurteile Dritter vermögen eine Kündigung nur in Ausnahmesituationen zu rechtfertigen. Doch wo liegt die Grenze? Das BAG deutet hier an, es müsse zu wirtschaftlichen Einbußen gekommen sei. Dies erinnert an die unglückliche Argumentation des Gerichts zur Mitbestimmung bei Ladenöffnungszeiten, wo Umsatzeinbußen von „schlimmstenfalls 4 bis 6%“ als unwesentlich abgetan und die Mitbestimmung der Unternehmerfreiheit vorgezogen wurde.68 Eine ______________ 62
LAG Hessen, NJW 2001, 3650, 3651; zu den Urteilen s. Kap. 3 II.1.a). BAG, NZA 2003, 483, 486. 64 ArbG Frankfurt a. M. v. 24.06.1992 – 17 Ca 63/92, Seite 7, n.v., deshalb ausführlich hierzu Kap. 3 II.1.a). 65 LAG Düsseldorf, DB 1985, 391, rechte Spalte, zweiter Absatz; hierzu Kap. 3 II.1.c). 66 LAG Düsseldorf, DB 1985, 391, rechte Spalte, letzter Absatz. 67 s. hierzu im Rahmen der Geschlechterdiskriminierung Thüsing, RdA 2001, 319, 323 f. und RdA 2003, 257, 263 mwN; Adam (AP Nr. 44 zu § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung) sieht selbst bei Existenzgefährdung keine Rechtfertigung für eine Kündigung. 68 BAG, NJW 1983, 953. 63
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Kapitel 7: Religiöse Konflike im Blickwinkel des AGG
derartige Orientierung an gegriffenen Größen, wie sie auch nach der Argumentation des BAG im Kopftuchurteil nahe läge, erscheint wenig praktikabel und so wird vertreten, stattdessen diskriminierende Kundenwünsche dort als erheblich anzusehen, wo der Bestand des Unternehmens nachhaltig gefährdet ist. 69 Dies liegt auf der Linie der Rechtsprechung zur sog. Druckkündigung. Eine Kündigung kann danach gerechtfertigt sein, wenn zwar der in der Person oder ihrem Verhalten liegende Grund alleine objektiv keine Kündigung ermöglicht, aber Dritte, zumeist die Belegschaft, unter Androhung von Nachteilen für den Arbeitgeber von diesem die Kündigung verlangen.70 Mittlerweile wird die Druckkündigung häufig als personenbedingte Kündigung eingestuft71 bzw. anerkannt, dass sie eine solche sein kann.72 Dies entspricht der bereits dargelegten Argumentation (s. Kap. 5 V.1). Bei der Druckkündigung hat der Arbeitgeber zunächst die Pflicht, sich schützend vor den Arbeitnehmer zu stellen und alles ihm Zumutbare zu versuchen, um den Druck abzumildern und zu verhindern. Erst wenn schwere wirtschaftliche Schäden drohen, ist eine Kündigung in Erwägung zu ziehen.73 In der Praxis wird aber dieses Kriterium Schwierigkeiten bereiten. So wenig wie bei einer Werbeanzeige gesagt werden kann, wie groß die durch sie erreichten Umsatzsteigerungen sind, so wenig kann bei Umsatzeinbußen ermittelt werden, inwieweit diese auf eine verschleierte Verkäuferin zurück zu führen sind. Unmittelbare Diskriminierungen werden ohnehin durch customer preferences selten zu rechtfertigen sein, denn sie hindern den Arbeitnehmer nicht daran, seiner Tätigkeit nachzukommen. § 8 Abs. 1 AGG verlangt aber gerade, dass sich rechtfertigende Umstände auf berufliche Anforderungen74 beziehen. Verbietet der Arbeitgeber also – wie in dem dem Urteil des BAG zugrundeliegenden Sachverhalt – den Hijab, ist eine Rechtfertigung dieser – unmittelbaren – Diskriminierung durch customer preferences regelmäßig ohnehin ausgeschlossen. Dem entspricht die Rechtsprechung US-amerikanischer Gerichte. Die Richtlinien der Equal Employment Opportunity Commission sind zwar rechtlich nicht bindend, geben aber dennoch mit erheblichem Einfluss vor, dass bloße Kundenvorlieben kein Grund zur Geschlechtsdiskriminierung sein dürfen.75 Der Gedanke, der diesem recht strengen Maßstab zugrunde liegt, ist durchaus ______________ 69
Thüsing, NJW 2003, 405, 406. v. Hoyningen-Huene/Linck, KSchG, § 1 Rn. 201. 71 APS-Kiel, § 1 KSchG Rn. 521. 72 BAG, AP Nr. 13 zu § 626 Druckkündigung. 73 BAG, AP Nr. 10 zu § 626 Druckkündigung. 74 s. hierzu bereits Kap. 6 VI.4.a). 75 29 CFR § 1604.2(a) (1) (iii): ”The refusal to hire an individual because of the preferences of coworkers, the employer, clients or customers” ist nicht erlaubt. 70
II. Konflikte bei der Arbeitsleistung
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stimmig: Diskriminierende Vorurteile werden nicht dadurch akzeptabler, dass sie nicht der Arbeitgeber, sondern seine Kunden hegen. Ob dies auch für die mittelbare Benachteiligung gilt, hängt von der Interpretation ihrer Reichweite ab. Für das deutsche Recht stellen aber bereits die Grundsätze der Druckkündigung erhebliche Hürden auf. Ob ein zusätzlicher Verstoß gegen die §§ 7 Abs. 1, 3 Abs. 2 AGG vorliegt oder nicht, wird letztlich nicht viel daran ändern.
2. Religiöse Betätigungen während der Arbeitszeit a) Zumeist Fälle nicht vom Diskriminierungsrecht erfasster Gleichbehandlungen Folgt man der Prämisse, dass Diskriminierung stets eine (materiell zu bestimmende) Ungleichbehandlung voraussetzt, wird es in den Fällen der religiösen Betätigung am Arbeitsplatz meist gar nicht zu einer Diskriminierung kommen. Die Regel, dass Arbeitnehmer ihre Arbeitsplätze während der Arbeitszeit nicht verlassen dürfen, gilt ausnahmslos für alle Mitarbeiter, so dass diese gleich behandelt werden.76 Auch wenn der Arbeitgeber den Einzelnen abmahnt, weil er seinen Arbeitsplatz verlässt, um zu beten, liegt hierin keine diskriminierende Ungleichbehandlung. Zwar erteilt er dann dem einen eine Abmahnung, während andere, die ihre Arbeitsplätze nicht verlassen, keine Abmahnungen erhalten. Hierin liegt aber keine Unterscheidung nach der Religion, denn alle anderen Arbeitnehmer würden genauso behandelt werden, wenn sie – aus welchen Gründen auch immer – ihren Arbeitsplatz ohne Erlaubnis verließen. In diesen Fällen bleibt es daher bei der bisherigen Rechtsprechung, die davon ausging, dass der Arbeitgeber aufgrund seiner vertraglichen Nebenpflicht grundsätzlich dafür Sorge zu tragen hat, dass der Arbeitnehmer auch während der Arbeitszeit seinen religiösen Bedürfnissen nachgehen kann und bspw. Gebetspausen einlegen darf. Sowohl das LAG Düsseldorf 77 als auch später das LAG Hamm78 sahen allerdings die Grenze dieser Pflicht erreicht, wenn sich betriebliche Störungen nicht vermeiden lassen. Das entspricht auch den Urteilen zum Tragen religiöser Symbole79 sowie dem US-amerikanischen Recht, das diese Fälle im Rahmen des Diskriminierungsrechts löst. Danach hat der Arbeitgeber reasonable accommodations zu ergreifen, um dem Arbeitnehmer entge______________ 76
Högenauer, Richtlinien gegen Diskriminierung, 2002, S. 241. LAG Düsseldorf v. 09.08.1985 – 2 Ca 2253/84, n.v.; s. Kap. 3 II.2.a). 78 LAG Hamm, NZA 2002, 675 und NZA 2002, 1090; s. Kap. 3 II.2.b). 79 s. Kap. 3 II.1. 77
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Kapitel 7: Religiöse Konflike im Blickwinkel des AGG
gen zu kommen.80 Betriebsablaufstörungen muss der Arbeitgeber nicht hinnehmen. Die Reichweite dieser Pflicht ist in der Rechtsprechung deutscher Gerichte bislang noch nicht hinreichend bestimmt worden. Das LAG Hamm hat ausgeführt, der Arbeitgeber müsse „im zumutbaren Umfang durch betriebliche Organisationsmaßnahmen die Religionsausübung“ durch den Arbeitnehmer gewährleisten. Dies gebiete allerdings nicht, Arbeitnehmer aus anderen Bereichen abzuziehen, wenn dann dort die Arbeit ruhen müsse. Der Arbeitgeber habe nicht die Pflicht, zusätzliche Arbeitnehmer einzustellen, um dem Einzelnen die Chance zu geben, seinen religiösen Bedürfnissen nachzukommen.81 US-amerikanische Gerichte wurden hier konkreter. Der Arbeitgeber hat danach all jene Maßnahmen zu ergreifen, die ihn nichts oder nur wenig kosten und die keine oder nur geringe Auswirkungen auf andere Mitarbeiter haben. Weder Nachteile für Kollegen noch die Kosten von Umstrukturierungsmaßnahmen dürfen eine sog. de-minimis-Grenze überschreiten.82 Dies kann auch dann Vorbild für das deutsche Recht sein, wenn eine Lösung außerhalb des Antidiskriminierungsrechts, über vertragliche Nebenpflichten befürwortet wird.83 Umstrukturierungsmaßnahmen können für den Arbeitgeber auch finanzielle Belastungen darstellen, wenn bspw. lediglich Einsatzpläne umgeschrieben werden müssen. Diese hat er hinzunehmen. Entstehen aber darüber hinaus Kosten, weil Produktionsausfälle sich nicht verhindern lassen oder andere Arbeitnehmer für die entsprechende Zeit nicht eingesetzt werden könnten, haben die Interessen des Arbeitnehmers zurückzustehen. Hieran zeigt sich noch einmal, dass Gleichbehandlung nicht unter das europäische Diskriminierungsrecht subsumiert werden kann bzw. sollte. Hätte der Richtliniengeber die Frage regeln wollen, welche Maßnahmen der Arbeitgeber zugunsten Einzelner ergreifen muss, um ihren religiösen Bedürfnissen nachzukommen – und darum geht es bei Gleichbehandlungen –, hätte er wohl eine Regelung gewählt, die der in Art. 5 RL 2000/78/EG vergleichbar ist (s. auch Kap. 6 IV.3.c)).
b) Ungleichbehandlungen durch diskriminierende Ausnahmeregelungen Zu einem anderen Ergebnis gelangt man indes, wenn der Arbeitgeber bspw. Zigarettenpausen zulässt, ebenso lange Gebetspausen aber untersagt. Über ______________ 80
s. Kap. 6 IV.4.d). LAG Hamm, NZA 2002, 675, 677. 82 Trans World Airlines Inc. v. Hardison, 432 U.S. 63, 84; 97 S.Ct. 2264, 2277 (1977); Yott v. North American Rockwell Corp., 602 F.2d 904, 908 (9th Cir. 1979); Bhatia v. Chevron U.S.A. Inc., 734 F.2d 1382, (9th Cir. 1984). 83 Hierzu bereits Kap. 5 II.3. 81
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einen solchen Fall hatte das LAG Düsseldorf 1985 zu entscheiden und mahnte eben dies an.84 Eine derartige Praxis verstößt nicht nur gegen arbeitsvertragliche Nebenpflichten, sie ist auch diskriminierungsrechtlich inakzeptabel, denn hier unterscheidet der Arbeitgeber gerade – anders als in den zuvor genannten Fällen – nach der Religion. Das Verbot von Gebetspausen knüpft bereits formell an die Religion an, es handelt sich mithin um eine unmittelbare religiöse Diskriminierung iSv § 3 Abs. 1 AGG, die nur in engen Grenzen gerechtfertigt ist. Wer Ausnahmen von einer Regel zulässt, darf eben auch jene Ausnahmen nicht diskriminierend ausgestalten. Der EuGH85 hatte im Fall Garcia Avello über eine insoweit parallele Fragestellung zu entscheiden (hierzu bereits Kap. 6 IV.3.b)cc)). Dabei ging es zwar nicht um eine Diskriminierung wegen der Religion, sondern um eine Benachteiligung wegen der Staatsangehörigkeit nach Art. 12 EG, es stellte sich aber die gleiche Problematik diskriminierender Ausnahmeregelungen. Die in Belgien wohnenden Eheleute Herr Garcia Avello und seine Frau beantragten für ihre Kinder, die sowohl die belgische als auch die spanische Staatsangehörigkeit besaßen, einen Nachnamen nach spanischer Tradition, obwohl ein solcher nach belgischem Recht nicht vorgesehen war. Der Justizminister des Königreichs kann in Ausnahmefällen seine Zustimmung zu einer vom belgischen Recht abweichenden Namensführung erteilen,86 dies wurde jedoch abgelehnt.
Der EuGH verurteilte in diesem Fall eine Gleichbehandlung von Ungleichem. Genauso gut hätte er hier aber auch auf die bestehende Ungleichbehandlung abstellen können zwischen denjenigen Belgiern, die eine Ausnahmegenehmigung des Justizministers erhalten und denjenigen, denen dies – wie Herrn Garcia Avello und seinen Kindern – versagt wird.87 Diese Argumentation hätte eine Einbeziehung von Fällen vermieden, in denen es zu keiner Ungleich- sondern nur zu einer Gleichbehandlung kommt. Im Ergebnis kann dem EuGH dann zugestimmt werden. Der Gedanke lässt sich verallgemeinern und auf das durch die RL 2000/43/EG und 2000/78/EG gebotene Diskriminierungsrecht übertragen: Nicht nur eine Regelung selbst muss dem jeweiligen Diskriminierungsverbot genügen und darf nicht in benachteiligender Weise unterscheiden, auch ihre Ausnahmen müssen so ausgestaltet sein, dass sie nicht ungerechtfertigt nach der Religion oder der Weltanschauung, der Rasse oder ethnischen Herkunft, dem Alter, einer Behinderung oder der sexuellen Identität differenzieren. Im ______________ 84
LAG Düsseldorf v. 09.08.1985 – 2 Ca 2253/84, n.v., s. hierzu Kap. 3 II.2.a). EuGH, Rs. C-148/02 (Garcia Avello), Slg. 2003, I-11613, Rn. 31 ff. 86 Nach Art. 3 des Gesetzes über Namen und Vornamen; der Wortlaut dieser Vorschrift findet sich oben in Kap. 6 IV.3.b)cc)(3). 87 s. Kap. 6 IV.3.b)cc)(3). 85
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Kapitel 7: Religiöse Konflike im Blickwinkel des AGG
genannten Fall des Arbeitgebers, der zwar Zigarettenpausen zulässt, Gebetspausen aber untersagt, läge demnach eine vom Diskriminierungsrecht erfasste Ungleichbehandlung vor, die nur zulässig ist, wenn sie gerechtfertigt werden kann.
c) Rechtfertigungen von Ungleichbehandlungen Eine Rechtfertigung scheidet im gebildeten Beispiel allerdings aus. § 8 Abs. 1 AGG setzt voraus, dass die ungleiche Behandlung durch Gründe geboten ist, die in der Tätigkeit selbst liegen.88 Ob der Arbeitnehmer während seiner Pause zur Zigarette oder zum Gebetsteppich greift, spielt für seine Arbeitsleistung aber keine Rolle, denn die ruht in dieser Zeit ja gerade. Auch vor Ablauf der Umsetzungsfrist der europäischen Richtlinien kamen die Gerichte zu ähnlichen Ergebnissen, Beispiele liefern die Urteile des LAG Düsseldorf und des LAG Hamm.89 Ohne spezielle Regelung im Arbeitsvertrag verlangt die vertragliche Nebenpflicht des Arbeitgebers, Gebete etc. in den Pausen grundsätzlich zuzulassen (s. Kap. 5 II). Allerdings konnten die Vertragsparteien das Pflichtenprogramm auch in Bezug auf die Berücksichtigung religiöser Pflichten am Arbeitsplatz in weitem Umfang modifizieren. Sie konnten bspw. verbindlich festlegen, dass auch während der Pausen keine religiösen Handlungen vorgenommen werden dürfen (s. Kap. 5 III). Hier setzt das AGG an und verbietet auch Diskriminierungen, die auf arbeitsvertraglicher Grundlage beruhen (s. die §§ 2 Abs. 1 Nr. 2, 7 Abs. 2 und 31 AGG 90). Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbaren, dass religiöse Handlungen verboten sind, diskriminiert diese Regelung diejenigen, die religiös sind, und zwar unmittelbar.91 Die Klausel wäre also nur zulässig, wenn das Unterlassen von Gebeten für die Ausübung der Tätigkeiten notwendig wäre, was bei Gebeten in Pausenzeiten gerade nicht der Fall ist.
______________ 88
s. Kap. 6 VI.4.a). s. die Nachweise in den Fn. 77 und 78. 90 s. auch Abschnitt I.4. 91 In Abschnitt I.4 ging es demgegenüber um eine Regelung, die jegliche religiöse, antireligiöse und agnostizistische Äußerung verbietet. Im Einzelfall stellt sich die Frage der rechtskonformen Auslegung. 89
II. Konflikte bei der Arbeitsleistung
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3. Ablehnung von Arbeitshandlungen a) Gleich- oder Ungleichbehandlungen? Lehnt der Arbeitnehmer aus religiösen Gründen eine bestimmte Tätigkeit oder die Arbeit an bestimmten Tagen ab, wird es sich auch in diesen Fällen zumeist um Gleichbehandlungen handeln, die nach hier favorisiertem Verständnis nicht dem Diskriminierungsrecht unterfallen. Müssen sämtliche Arbeitnehmer turnusmäßig auch samstags oder sonntags arbeiten, so gilt diese Regelung ausnahmslos für alle Arbeitnehmer eines bestimmten Berufs oder einer bestimmten Abteilung. Hierin liegt keine Ungleichbehandlung. Gleiches gilt, wenn jemand aus religiösen Gründen Tätigkeiten ablehnt, wie es bspw. im Fall des Konzertmusikers der Fall war, der sich weigerte an einer blasphemischen Operninszenierung mitzuwirken (LAG Düsseldorf 92). Der Musiker wurde nicht anders behandelt als alle anderen Künstler. Mangels Ungleichbehandlungen, die sich nachteilig auswirken, wird es daher in weiten Bereichen bei der in Kapitel 5 skizzierten Rechtslage bleiben. Im Falle des LAG Düsseldorf steht dem Konzertmusiker ein Leistungsverweigerungsrecht aus § 275 Abs. 3 BGB zu, wenn ihm sein Gewissen verbietet, an der Operninszenierung mitzuwirken. Seinen Lohnanspruch verliert er gemäß § 326 Abs. 1 S. 1 BGB, sofern er nicht nach § 616 S. 1 BGB aufrecht erhalten wird. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass der Ausfall des Musikers eine nicht erhebliche Zeit in Anspruch nimmt, was bei einer Opernaufführung in der Regel nicht der Fall sein wird. Eine (personenbedingte) Kündigung des Arbeitnehmers ist möglich, wenn er nicht an anderer Stelle eingesetzt werden kann. Hieran scheiterte auch im Fall des LAG Düsseldorf zu Recht die arbeitgeberseitige Kündigung.
b) Die erste zaghafte Stellungnahme des BAG Im Fall des Sinto, der aus „kulturellen und religiösen“ Gründen Bestattungsarbeiten ablehnte, hat das BAG bereits die RL 2000/78/EG herangezogen,93 die Begründung bedarf allerdings der Präzisierung. Das Gericht verneinte zunächst eine unmittelbare Diskriminierung. Der Arbeitgeber habe mit der Kündigung nicht an die Religion angeknüpft, sondern an die Arbeitsverweigerung des Sinto, die aber ihrerseits in der ethnischen
______________ 92 93
NZA 1993, 411; s. Kap. 3 II.3.e). BAG, AP Nr. 18 zu § 1 KSchG Wartezeit, s. Kap. 3 II.3.f).
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Kapitel 7: Religiöse Konflike im Blickwinkel des AGG Herkunft und der Religion begründet sei.94 Ob es sich um eine mittelbare Diskriminierung handelt, ließ das Gericht hingegen offen, da die Kündigung jedenfalls aufgrund wesentlicher und entscheidender beruflicher Anforderungen gerechtfertigt sei, da der Sinto von vorne herein wusste, was auf ihn zukam (vgl. nunmehr § 8 Abs. 1 AGG). Er war u.a. gerade für Bestattungsarbeiten eingestellt worden, auch wenn dies durch ein Versehen im Vertragstext nur unzureichend zum Ausdruck gekommen war.
Ebenso hatte das britische Employment Appeal Tribunal eine mittelbare Diskriminierung in einem Fall dahinstehen lassen, in dem ein Arbeitnehmer entlassen worden war, weil er sich geweigert hatte, samstags zu arbeiten. „The reason he was dismissed was not because he held, or wished to manifest, particular religious beliefs. It was because he declined to work seven-day shifts”, führte das Tribunal aus.95
Richtig ist, dass in beiden Fällen eine unmittelbare Diskriminierung ausscheidet, der Arbeitgeber knüpft nicht an die Religion an, sondern an die Arbeitsverweigerung, so dass allenfalls eine mittelbare Diskriminierung in Frage kommt. Aber auch sie scheidet nach der hier vertretenen Ansicht aus. Die Stadt im Fall des BAG verlangt von allen ihren als Bestattungsgehilfen angestellten Mitarbeitern die Durchführung von Bestattungsarbeiten, sie trifft also gar keine Unterscheidung. Sie hat zwar nur dem klagenden Sinto gekündigt und nicht anderen, worin eine Ungleichbehandlung bestehen könnte; diese beruht aber wie das BAG zurecht ausführt, nicht auf der Religion des Sinto oder seiner Herkunft, sondern auf seiner Arbeitsverweigerung und ist deshalb – so muss hinzugefügt werden – nur Ausfluss der Gleichbehandlung, dass sämtliche Bestattungshelfer ihrer Arbeit nachzugehen haben. Letztlich ist das BAG aber zum gleichen Ergebnis gelangt, da es die Ungleichbehandlung für gerechtfertigt hielt.
c) Kollisionen mehrerer Benachteiligungstatbestände Da sich das deutsche Diskriminierungsrecht nun nicht mehr auf das Merkmal des Geschlechts (und der Behinderung) beschränkt, sondern zahlreiche Merkmale enthält, kann es zu Kollisionen zwischen verschiedenen Diskriminierungstatbeständen kommen und der Arbeitgeber u.U. gezwungen sein, jemanden wegen eines verpönten Merkmals zu benachteiligen, um die Diskriminie______________ 94
s. den genauen Wortlaut des Urteils in Kap. 3 II.3.f)bb). Copsey v. Devon Clays Ltd., 2004 WL 412973, pa. 24. Allerdings konnte das Employment Appeal Tribunal letztlich offen lassen, ob es sich um eine Diskriminierung handelt und ob sie zu rechtfertigen ist, da die Employment Equality (Religion or Belief) Regulations 2003 zum Zeitpunkt der Kündigung noch nicht galten. 95
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rung eines anderen wegen eines anderen Merkmals zu verhindern. Bauer und Krieger liefern hierzu ein interessantes und durchaus realistisches Beispiel:96 Ein Verkaufsmitarbeiter ist Angehöriger einer Religionsgemeinschaft, die Homosexualität als Gotteslästerung ansieht. Er weigert sich trotz der Anweisung des Arbeitgebers beharrlich, Kundenbesuche für einen homosexuellen Außendienstmitarbeiter zu organisieren. Die Provisionseinnahmen des Außendienstmitarbeiters sind daher deutlich geringer als die anderer vergleichbarer Arbeitnehmer. Deshalb fordert der Außendienstmitarbeiter den Arbeitgeber auf, dem Verkaufsmitarbeiter eine andere Tätigkeit im Unternehmen zu übertragen.
Kommt der Arbeitgeber dem Wunsch des Außendienstmitarbeiters nach und versetzt er den Verkaufsmitarbeiter, setzt er sich dem Vorwurf religiöser Diskriminierung aus; widerspricht er, wird der Außendienstmitarbeiter sich auf eine Benachteiligung wegen seiner sexuellen Identität berufen. Der Arbeitgeber steckt in einer Zwickmühle. Orientiert man sich an der hier vorgeschlagenen Konzeption, so ist es allerdings keine, in die ihn das Diskriminierungsrecht bringt. Jenes offenbart vielmehr eine klare Lösung: Versetzt der Arbeitgeber den Verkaufsmitarbeiter, liegt hierin keine Diskriminierung wegen der Religion, weil er bei allen anderen Mitarbeitern, die – aus welchen Gründen auch immer – dazu beitragen, dass die Abteilung weniger Profit erwirtschaftet, genauso handeln würde, unabhängig von der Religion des jeweils Betroffenen. Der Arbeitgeber würde also insofern gleich behandeln. Die notwendige Voraussetzung für eine Diskriminierung – eine Ungleichbehandlung – fehlt. Verzichtet der Arbeitgeber hingegen auf eine Versetzung, kann hierin eine Benachteiligung des Außendienstmitarbeiters wegen dessen sexueller Identität liegen, denn bei anderen Mitarbeitern hätte der Arbeitgeber so gehandelt, wie es der Außendienstmitarbeiter fordert und den Verkaufsmitarbeiter versetzt. Das Diskriminierungsrecht gibt also eine klare Antwort: Der Verkaufsmitarbeiter sollte versetzt werden. Zum gleichen Ergebnis gelangen Bauer und Krieger durch Abwägung der jeweiligen Interessen. „[Der] Eingriff in die Rechte des Verkaufsmitarbeiters durch Versetzung auf einen anderen Arbeitsplatz [erscheint] weniger schwerwiegend als der Einkommensausfall des Außendienstmitarbeiters, so dass eine Versetzung des Verkaufsmitarbeiters gerechtfertigt und erforderlich wäre“.97
Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die vorgestellte Konzeption, die für eine Diskriminierung eine Ungleichbehandlung voraussetzt, offensichtlich zu gerechten Lösungen führt, und zwar teilweise auf verblüffend einfachem Weg.
______________ 96 97
Bauer/Krieger, BB-Special 6/2004, S. 20, 23. Bauer/Krieger, BB-Special 6/2004, S. 20, 23.
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Kapitel 7: Religiöse Konflike im Blickwinkel des AGG
Auch die von den Autoren daraufhin gestellte Frage, wie diese Abwägung ausginge, wenn kein freier Arbeitsplatz zur Verfügung stünde und der Arbeitgeber die fortwährende Benachteiligung nur durch eine Kündigung beenden könnte, lässt sich hieraus beantworten. Auch diese Kündigung wäre nicht dem Vorwurf religiöser Diskriminierung ausgesetzt, denn jedem anderen Mitarbeiter würde ebenfalls gekündigt werden. Kann der Arbeitnehmer seine Arbeit nicht verrichten – und sei es aus religiösen Gründen –, steht dem Arbeitgeber prinzipiell eine personenbedingte Kündigung offen (s. Kap. 5 V). Insofern bieten die bisher im deutschen Recht entwickelten Lösungsansätze in der Tat ein stimmigeres Korrektiv als das neue Diskriminierungsverbot, denn in der Abwägung gegenseitiger arbeitsvertraglicher Nebenpflichten lässt sich die von Bauer und Krieger vorgenommene Abwägung problemlos integrieren.
4. Religiöse Werbung Für eine Religion oder Religionsgemeinschaft werben können sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber (zu Fallbeispielen s. Kap. 3 II.4).
a) Werbung durch Arbeitnehmer Für erstgenannten Fall bietet das Antidiskriminierungsrecht kein Korrektiv, denn verpflichtet sind allein Arbeitgeber (vgl. § 6 Abs. 2 AGG 98). Insoweit bleibt es bei der bisherigen Rechtslage, die auf vertraglichen Nebenpflichten (vgl. § 241 Abs. 2 BGB) und grundgesetzlichen Wertungen basiert und in Kap. 5 II und III dargestellt wurde. Ohne ausdrückliche arbeitsvertragliche Regelung muss der Arbeitgeber Werbung seitens des Arbeitnehmers grundsätzlich hinnehmen, es sei denn, es zeichnet sich eine Störung des Betriebsfriedens ab. Wie in Fällen der durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten freien Meinungsäußerung, stellt sich dann die Frage, wann ein Einschreiten des Arbeitgebers möglich oder – auch im Interesse der Arbeitskollegen – unter Umständen sogar geboten ist.99 Das BAG hat entschieden, es müsse sich um eine ernste und schwere Gefährdung des Betriebsfriedens handeln;100 erforderlich sei „eine konkrete Störung des Arbeitsverhältnisses im Leistungsbereich, im Bereich der betrieblichen Verbundenheit aller Mitarbeiter (Betriebsfrieden), im personalen Vertrauensbereich oder im Unternehmensbereich“.101 Einerseits darf der Arbeitgeber ______________ 98
s. Kap. 6 VI.2. Adam, NZA 2003, 1375, 1378. 100 Grdl. BAG, AP Nr. 2 zu § 13 KSchG. 101 BAG, NJW 1984, 1142. 99
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nicht bereits deshalb Meinungsäußerungen untersagen, weil sie ihm unangenehm sind und er die Gefahr von Konflikten wittert; andererseits muss er nicht abwarten, dass sich Meinungsverschiedenheiten in Gewalt entladen. Gleiches dürfte auch in Bezug auf religiöse Werbung gelten.
b) Missionierung durch den Arbeitgeber Wirbt der Arbeitgeber hingegen bei seinen Angestellten für eine bestimmte Religion oder Weltanschauung, ist dies regelmäßig eine Ungleichbehandlung, die nur unter den Voraussetzungen des AGG zulässig ist. Die Werbemaßnahmen können etwa in Gesprächen mit Mitarbeitern, Plakaten oder Lautsprecherdurchsagen bestehen, sie können sich auch handfest in besonderen Vergünstigungen äußern für diejenigen, die sich z.B. auf ein religiöses Gespräch mit dem Arbeitgeber einlassen. Hier behandelt er regelmäßig ungleich, denn Werbemaßnahmen werden naturgemäß nur denjenigen zuteil, die (noch) nicht der Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft angehören, für die sie der Arbeitgeber gewinnen will. Dies ist auch der Fall, wenn das Unternehmen keinen einzigen Mitarbeiter beschäftigt, der derselben Gemeinschaft angehört wie der Arbeitgeber, die Werbung sich also an sämtliche Arbeitnehmer richtet. Hier ist ohne weiteres ein hypothetischer Vergleichsarbeitnehmer denkbar, der eben jener Gemeinschaft angehört und der deshalb von den Werbemaßnahmen verschont bleibt. § 3 Abs. 1 AGG lässt hypothetische Vergleichspersonen ausdrücklich zu, indem jede Benachteiligung gegenüber Personen erfasst wird, die diese in einer vergleichbaren Situation „erfahren würde[n]“.102 Dabei handelt es sich um eine unmittelbare Diskriminierung, da die Maßnahme selbst bereits die Religion als Anknüpfungspunkt impliziert, so dass eine Rechtfertigung recht hohen Anforderungen unterliegt. § 8 Abs. 1 AGG setzt insofern voraus, dass die Religion (bzw. das Nicht-Haben einer Religion) eine wesentliche und entscheidende berufliche Voraussetzung für die Tätigkeit ist. Dies wird in säkularen Betrieben selten der Fall sein, so dass Werbung für eine Religion oder Religionsgemeinschaft nur in Ausnahmefällen zu rechtfertigen ist. Hielte man nun allerdings jegliche Werbung für verboten nach den §§ 7 Abs. 1, 3 Abs. 1 AGG, stieße man andererseits auf einen Konflikt mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und Art. 5 Abs. 1 GG. Auch die Werbung für die eigene Religion ist Ausdruck der Religionsausübungsfreiheit und überdies als Akt freier Meinungsäußerung geschützt. Ob ein genereller Ausschluss von religiöser ______________ 102
So auch die jeweiligen Art. 2 Abs. 2 lit. a der RL 2000/78/EG und 2000/43/EG; s. hierzu Kap. 6 VI.3.a)bb).
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Werbung seitens des Arbeitgebers verfassungs- und europarechtlich zulässig wäre, mag dahinstehen; Ziel des europäischen Diskriminierungsrechts war dies jedenfalls sicherlich nicht. Es soll Schutz vor Bevormundungen und Willkür, vor Belästigung und Unterdrückung bieten, nicht aber sozialen Kontakt verhindern, der eben auch beinhaltet, dass man sich am Arbeitsplatz über Religion, Politik oder Kirche unterhält. Ein Korrektiv kann und muss deshalb die Benachteiligung bzw. die Belästigung bieten (s. Kap. 6 VI.3.c)cc)). Werbung ist nicht diskriminierend, wenn sie zurückhaltend erfolgt und die Persönlichkeitssphäre des Gegenübers achtet. Diese Grenze ist erst überschritten, wenn der Arbeitgeber – wie etwa im Fall des BVerwG (s. Kap. 3 II.4.a)) – massiv auf die persönlichen Entscheidungsprozesse der Mitarbeiter Einfluss zu nehmen versucht. Eine Diskriminierung ist jedenfalls gegeben, wenn er denjenigen Vorteile in Aussicht stellt, die sich auf religiöse Gespräche einlassen oder sich auf andere Weise für seine Werbemaßnahmen empfänglich zeigen. Dies zeigt abermals,103 dass die Tatbestandsmerkmale der weniger günstigen Behandlung (§ 3 Abs. 1 AGG), der Benachteiligung (§ 3 Abs. 2 AGG) und der Belästigung (§ 3 Abs. 3 AGG) mehr Fragen aufwerfen, als sie beantworten. Die Reichweite des neuen Antidiskriminierungsrechts wird maßgeblich auch von ihrer Interpretation abhängen. Die Einzelheiten bleiben weiteren Untersuchungen vorbehalten, die die spannenden Entwicklungen begleiten.
______________ 103
s. bereits Kap. 6 VI.3.c), Kap. 7 I.1.a) und Kap. 7 I.4.
Resümee Religiöse Konflikte und Gewissenskonflikte folgen unterschiedlichen Lösungswegen. Sie erschließen sich erst, wenn konsequent zwischen Glaube, Bekenntnis und Religionsausübung einerseits und zwischen Religion und Gewissen andererseits getrennt wird. Jene Differenzierungen geben bereits Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und seine historischen Vorläufer sowie Art. 9 Abs. 1 und 2 EMRK und Art. II-10 Abs. 1 des EU-Verfassungsentwurfs vor; sie müssen auch im Arbeitsrecht Beachtung finden. Gewissensentscheidungen und die Freiheit, sich für und gegen einen Glauben zu entscheiden und ihm innerlich zu folgen, verdienen größeren Schutz als die bloße Religionsausübung. Sie gerät naturgemäß häufiger mit Rechten Dritter in Konflikt und bedarf deshalb weitgehenderen Beschränkungen. Die Unterschiede ziehen sich wie ein roter Faden durch sämtliche Konfliktlagen zwischen religiösen und arbeitsvertraglichen Pflichten. Bereits bislang haben Rechtsprechung und Schrifttum bspw. – ohne freilich ausdrücklich eine Differenzierung vorzunehmen – Verträge stets für sittenwidrig (§ 138 BGB) gehalten, wenn sie die Glaubensfreiheit einschränkten oder sich der Schuldner sein Gewissen „abkaufen“ ließ. Beschränkungen der Religionsausübung wurden hingegen für zulässig gehalten. Entsprechend variieren auch die gegenseitigen Rücksichtnahmepflichten der Arbeitsvertragsparteien. Handelt der Arbeitnehmer seinem Gewissen entsprechend, besteht für ihn keine Alternative. Gewissensentscheidungen sind nicht abdingbar und lassen keine Kompromisse zu. Kann ihm keine andere Aufgabe zugewiesen werden oder kann er nicht an anderer Stelle eingesetzt werden, bleibt nur die (personenbedingte) Kündigung. Der vermeintliche Kompromiss, dass die Muslima ohne Kopftuch weiter arbeitet oder dass der Siebenten-TagsAdventist nur jeden zweiten Samstag im Monat zur Arbeit erscheint, existiert nicht. Dementsprechend hat der Arbeitgeber größere Anstrengungen zu unternehmen, um den Bedürfnissen seines Arbeitnehmers Rechnung zu tragen als in den Fällen reiner Religionsausübung. Rein-religiöse Wünsche kann der Arbeitnehmer im Ernstfall den betrieblichen Interessen hintanstellen. Auch für die seit den fünfziger Jahren diskutierte Frage, wie die Fälle der Arbeitsverweigerung bzw. Arbeitsverhinderung aus religiösen Gründen angemessen zu lösen sind, eröffnen sich differenziertere Antworten. Die Rechtspre-
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Resümee
chung nahm bislang eine Begrenzung des Weisungsrechts vor, das nach § 106 S. 1 GewO nur nach billigem Ermessen ausgeübt werden darf (s. auch § 315 Abs. 3 BGB). Das ist dann überzeugend, wenn der Arbeitgeber die Wahl hat zwischen mehreren, für sich genommen jeweils rechtmäßigen Direktiven. Ein solcher Gestaltungsspielraum steht ihm stets bei rein-religiösen Pflichten des Arbeitnehmers zu, denn sie sind gerade abwägungsfähig. Das Gewissen hingegen lässt keine Alternative zu und deshalb ist die Frage, ob der Schuldner aus Gewissensgründen die Leistung verweigern darf, keine Frage des Ermessensspielraums des Gläubigers. Dem Arbeitnehmer steht stattdessen ein Leistungsverweigerungsrecht aus § 275 Abs. 3 BGB unabhängig von eventuell entgegenstehenden betrieblichen Interessen zu. Im Falle rein-religiös bedingter Konflikte bedarf es dagegen einer umfassenden Gegenüberstellung der gegenseitigen Interessen. Dabei werden nicht Grundrechte gegeneinander abgewogen, sondern grundrechtlich geschützte Interessen, da Grundrechte gerade keine normative Wirkungen zwischen Privaten entfalten. Deshalb ist es auch denkbar, dass Interessen einbezogen werden, von denen einige verfassungsrechtlich besonderem Schutz unterliegen und andere nicht. Das Ergebnis des Abwägungsprozesses ist dabei weit seltener verfassungsrechtlich determiniert als häufig angenommen. Das BAG nannte drei Kriterien, die für die Abwägung maßgeblich seien: die Vorhersehbarkeit des Konflikts, betriebliche Interessen sowie die Wahrscheinlichkeit weiterer Fälle. Sie kommen allenfalls dort zum Einsatz, wo es um reinreligiöse Bedürfnisse des Arbeitnehmers geht. Gewissensentscheidungen befreien hingegen von der Primärleistungspflicht auch dann, wenn betriebliche Interessen entgegenstehen oder der Konflikt vorhersehbar war. Der Arbeitgeber ist hinreichend durch Schadensersatzansprüche aus culpa in contrahendo nach den §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB geschützt. Die beschriebene Differenzierung erreicht schließlich auch das Kündigungsschutzrecht. Verhaltensbedingte Gründe kommen in Betracht, wenn der Arbeitnehmer „kann, aber nicht will“, personenbedingte, wenn er „will, aber nicht kann“.1 Hier spiegelt sich die Unterscheidung zwischen Religionsausübung einerseits und Glaube und Gewissen andererseits wider. Auf rein-religiöse Wünsche und Bedürfnisse kann der Arbeitnehmer verzichten, wenn sie sich aufgrund betrieblicher Interessen nicht realisieren lassen. Gewissen zeichnet sich demgegenüber durch ein „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ aus 2 und so ist allenfalls eine Kündigung aus personenbedingten Gründen möglich.
______________ 1 2
V. Hoyningen-Huene/Linck, KSchG, § 1 Rn. 185 b. Bachof, VVDStRL 28 (1970), 89, 104 f.
Resümee
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Die Unterscheidung zwischen religiösen und gewissensbedingten Konflikten ist auch deshalb notwendig, weil das Diskriminierungsverbot der §§ 7 Abs. 1, 1 AGG allein die Benachteiligung wegen der Religion verbietet. Dabei geht es über den bisherigen Schutz vor Diskriminierungen durchaus hinaus. Insbesondere bei der Begründung des Arbeitsverhältnisses und der Ausgestaltung des Vertrags ist der Arbeitgeber in Zukunft gehalten, nicht nach den in § 1 AGG genannten Merkmalen zu unterscheiden. Durfte er bislang auch nach der Religion auswählen, ist ihm dies nunmehr versagt, sofern eine bestimmte Religion (oder ihr Nicht-Vorliegen) nicht eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung für die Tätigkeit selbst darstellt (§ 8 Abs. 1 AGG). Allerdings muss der Arbeitgeber nicht befürchten zur Einstellung von Bewerbern verpflichtet zu sein, die die vorgesehenen Tätigkeiten nicht ausüben können. Anders als nach der Rechtsprechung des EuGH in Bezug auf schwangere Arbeitnehmerinnen liegt hierin ein Ablehnungsgrund. Voraussetzung für eine Diskriminierung ist stets eine Ungleichbehandlung durch den Arbeitgeber. Die Frage, ob neben der Ungleichbehandlung von Gleichem auch die Gleichbehandlung von Ungleichem verboten ist, stellte sich bei den bisherigen europäischen und europarechtlich initiierten Diskriminierungsverboten nicht; sie wird insbesondere für das Merkmal der Religion aber maßgeblich die Reichweite des neuen Rechts bestimmen. Eine Ungleichbehandlung setzt voraus, dass der Arbeitgeber selbst unterscheidet, die ungleiche Behandlung muss also in seiner Maßnahme angelegt sein. Dabei genügt eine rein formelle Betrachtung nicht, sie würde es dem Arbeitgeber allzu leicht ermöglichen, sich dem Benachteiligungsverbot zu entziehen. Stattdessen ist ein Blick auf die Folgen notwendig: Nur wenn die Maßnahme in ihren Wirkungen einige betrifft, andere hingegen nicht, handelt es sich um eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung im Sinne des Diskriminierungsrechts. Eine qualitativ unterschiedliche Betroffenheit genügt also nicht, es bedarf stattdessen einer quantitativen. Zur Beantwortung der Frage, inwieweit der Arbeitgeber auf die religiösen Bedürfnisse des einzelnen Arbeitnehmers einzugehen und ihm besondere Rechte zuzugestehen hat, hält das Diskriminierungsrecht demgegenüber keine Antwort bereit. Stattdessen ist hier eine (vertikale) Gegenüberstellung der Interessen des Arbeitnehmers und denen des Arbeitgebers notwendig und keine horizontale, wie sie das Diskriminierungsrecht einnimmt. Werden Wirkungsunterschiede einbezogen, Intensitätsunterschiede aber nicht, offenbaren sich recht trennscharfe Linien zwischen dem neuen Recht und der bisherigen, vor allem auf Freiheitsrechten und Rücksichtnahmepflichten basierenden Rechtslage. Die während des Arbeitsverhältnisses auftretenden Konflikte zwischen religiösen und arbeitsvertraglichen Pflichten sind größten-
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Resümee
teils Fälle der Gleichbehandlung, an die das Diskriminierungsrecht keine weitgehenderen Anforderungen stellt. Einiges wird sich also ändern, anderes wird bleiben. „Sobald sich die Gesetze eines Landes mit der Zulassung mehrerer Religionen abgefunden haben, müssen sie diese auch untereinander zur Toleranz verpflichten“, mahnte bereits Montesquieu.3 Freiheitsgarantien, wie sie das Grundgesetz und in Zukunft womöglich auch die Europäische Verfassung gewährleisten, und der Schutz vor Diskriminierungen sind – in Kooperation miteinander – ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg dorthin. Der Rest liegt an uns.
______________ 3 Montesquieu, De l’Esprit des Lois, Live 25 Chapitre 9 (1748). Die Übersetzung entstammt der deutschen Reclam-Ausgabe „Vom Geist der Gesetze“ von 1994 (25. Buch Kapitel 9).
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Sachwortverzeichnis Ablaufstörung siehe Betriebsstörung Abmahnung insbes. 48, 183, 185, 189, 315 Abwägung siehe Interessenabwägung und praktische Konkordanz affirmative action 216, 219 f., 241 f., 287, 289 f. AGB-Kontrolle siehe Geschäftsbedingungen, allgemeine und Inhaltskontrolle Agnostizismus 34, 36, 42, 298, 306, 309, 318 Alter insbes. 201, 205, 207, 208 f., 240, 243, 268, 279, 296 Anfechtung siehe Fragerecht und Einstellung von Arbeitnehmern Anpassung des Arbeitsvertrags 147, 150 ff. Arbeitslosengeld 32 Arbeitsrecht, kirchliches 31 f., 131, 202, 287 Arbeitsverhinderung 63 ff., 141 ff., 198, 319 ff., 325 f. Arbeitsverweigerung siehe Arbeitsverhinderung Arglist siehe Fragerecht Augsburger Religionsfriede 27 Auslegung − verfassungsfreundliche siehe Auslegung, verfassungsorientierte − verfassungskonforme 86 f., 105 ff., 116, 129, 200 − verfassungsorientierte 86 ff., 95, 106 f., 115, 121, 123
− von Verträgen 104 ff., 128 ff. Ausstrahlungswirkung siehe Drittwirkung
Behinderung insbes. 53, 119, 200, 201, 203, 207, 214 ff., 240 f., 241 ff., 252, 253, 269, 271, 289, 294 ff. Bekenntnis insbes. 45, 109, 300 Belästigung 79, 92, 204, 207, 243, 284 f., 292, 324 Benachteiligung siehe Diskriminierung Betriebsstörung 57, 61 ff., 79, 80, 125 ff., 174, 193, 312, 313, 315 f., 322 Betriebsvereinbarung 194, 196 f., 280, 309 Bewerbung siehe Einstellung von Arbeitnehmern Bhagwan siehe Osho Rajneesh
customer preferences 58, 60, 308, 312
Dienst, öffentlicher 32, 51, 56, 121, 124, 125, 165, 189 ff., 206, siehe auch Einstellung von Arbeitnehmern Direktionsrecht siehe Weisung Diskriminierung siehe auch affirmative action, customer preferences, Geschlechterdiskriminierung, Gleichbehandlung, Gleichstellung,
Sachwortverzeichnis Intensitätsunterschied, substantive equality und Wirkungsunterschied − Anweisung zur Diskriminierung 204, 246 − direkte siehe Diskriminierung, unmittelbare − einer Teilgruppe 275 ff., 295 f., 310 − hypothetische 216, 265, 282 ff., 294, siehe auch Vergleichsgruppe/person, hypothetische − materielle 214 ff., 269, 277, 308, 315 − mittelbare insbes. 75 f., 208, 216 f., 224 ff., 231, 245 f., 256 f., 261 f., 268 ff., 272 ff., 312 ff., 320 − positive 219 ff., siehe auch affirmative action − sex plus 216, 275, siehe auch Diskriminierung, einer Teilgruppe − umgekehrte 216, 220 f. − unmittelbare insbes. 208, 216 f., 245 f., 256 f., 261 f., 268 ff., 272 ff., 295 f., 311 f., 319 f. − verdeckte 274, 276 Drittwirkung − von Grundrechten 83 ff., 103 ff., 144, 166 − von Richtlinien 202, 209
Einstellung von Arbeitnehmern 48 ff., 89 f., 99 ff., 108 ff., 116, 118 ff., 197, 291 f., 293 ff., siehe auch Fragerecht Ethnie 259 f., 263 f., siehe auch Herkunft, ethnische
Feiertagsgesetz 141, 157 Formulararbeitsvertrag siehe Geschäftsbedingungen, allgemeine Fragerecht 49 f., 51, 53, 109, 119, 197, 237, 293 ff., siehe auch Ein-
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stellung von Arbeitnehmern Fürsorgepflicht 44, 101, 108, 123 ff., 157, 179, 182, 249, 305, siehe auch Treuepflicht
Geschäftsbedingungen, allgemeine 29, 54, 138 ff. Geschäftsgrundlage 29, 142, 147, 150 ff. Geschlecht siehe Geschlechterdiskriminierung Geschlechterdiskriminierung insbes. 53, 55, 114, 136, 204, 208, 220, 225 f., 228, 232, 235 ff., 271, 275 f., 277 ff., 285, 286, 298 f., 301, 302, 314 Gleichbehandlungsgrundsatz, arbeitsrechtlicher 51, 98 f., 101 f., 197, 201, 210 ff., 223, 227 f. Gleichheitssatz 223, 228, 240, 250 f. − europarechtlicher 121, 201, 208 ff., 227, 233, 252, 304 − verfassungsrechtlicher 97 ff., 195, 201, 227 Gleichstellung 216, 218 ff., 241 f., 257 Grundrechtsverzicht 93 ff., 116, 133, 198
Herkunft, ethnische insbes. 75, 260, 261, 262, 263, 264, 268, 287, 312, 320 Hijab siehe Kopftuch
Inhaltskontrolle 128 ff., 141, siehe auch Geschäftsbedingungen, allgemeine Intensitätsunterschied 256 f., 269, 286 f., 308, 327 Interessenabwägung insbes. 43, 47, 49 ff., 82 ff., 91 ff., 115 f., 158 ff., 173 f., 198, 326
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Sachwortverzeichnis
Irrtum 119 ff., siehe auch Fragerecht
Kausalität 265, 267, 269 ff., 285 f., 295 Kirchensteuer 31, 54, 111 f., 143, 274, 299 f. Klausel, überraschende 138 f. Konnexität 75 f., 251, 265, 267, 270 ff. Kontrahierungszwang 51, 89, 206 Kopftuch insbes. 28 f., 31, 34, 36, 44, 55 ff., 80, 113 ff., 134 f., 170 ff., 185, 190 ff., 214 ff., 256 f., 271 f., 275 ff., 279 f., 288, 306, 308 ff., 312 ff., 325 Kundenwünsche siehe customer preferences Kündigung − betriebsbedingte 168, 177 − ordentliche insbes. 168 ff. − personenbedingte insbes. 56 ff., 168 ff., 198 f., 313 f., 325 f. − verhaltensbedingte insbes. 56 ff., 168 ff., 198 f., 313 f., 326 Kunstfreiheit 72, 78, 92 f.
Leistungsverhinderung/-verweigerung siehe Arbeitsverhinderung und Leistungsverweigerungsrecht Leistungsverweigerungsrecht insbes. 68 ff., 142 ff., 175 ff., 179, 181, 182 ff., 198, 292, 319, 326 Lohn 72, 143, 148 f., 161, 164, 167, 175, 182 ff., 198, 237 f., 319 Lohngerechtigkeit 215, 217, 237 f.
Maßregelungsverbot 74, 135 ff., 141, 142, 149 f., 179, 208, 292, 305 Minderheit 221, 272 Missbrauch der Religionsfreiheit 77 f., 132
Mitteilungspflicht rungspflicht
siehe Offenba-
Nebenpflicht siehe Fürsorgepflicht und Treuepflicht Nebentätigkeit 105 f., 129 Neutralitätspflicht 27, 33, 35 f., 165 f., 190 ff.
Offenbarungspflicht insbes. 53 f., 111 f., 119, 124, 173, 185, 188, 189, 198, 297 Osho Rajneesh 60, 171 f., 309 f., 313
Paulskirchenverfassung 28 f. Persönlichkeitsrecht 47, 49, 52, 68, 111, 118, 122, 159, 161, 291, 305 Pressefreiheit 93 Privatautonomie 53, 68, 83, 92, 94, 99 f., 104, 106, 108, 112, 115 f., 140 f., 206, 294, 305 Produktionsausfall siehe Betriebsstörung
Rasse insbes. 263, 278, siehe auch Herkunft, ethnische Recht zur Lüge siehe Fragerecht Reduktion, geltungserhaltende 105 f. reserve discrimination 220 Rücksichtnahmepflicht siehe Fürsorgepflicht und Treuepflicht
Schadensersatz insbes. 51 ff., 67, 122, 160, 184 ff., 198, 203, 290 f., 301 ff., 305, 326 Schuldrechtsmodernisierung 29, 73, 117, 123, 138, 144, 146, 150, 157, 185 ff., 189, 291 Schutzgebot siehe Schutzpflicht
Sachwortverzeichnis Schutzpflicht insbes. 85 ff., 191 f., 258 Scientology 120 f. Siebenten-Tags-Adventist 32, 63 f., 111, 126, 157, 173, 215, 220, 257, 287, 304, 325 Sikh 59, 80, 170, 172, 264, 309, 312 Sinto 73 ff., 80, 164, 180, 319 f. Sittenwidrigkeit 39, 130 ff., 141, 149, 178, 325 Sozialversicherung 32 Staatsangehörigkeit 99, 208, 218, 227, 229, 231 ff., 241, 245, 259 ff., 268, 317 substantive equality 217, 244, siehe auch Diskriminierung, materielle
Tarifvertrag 190 ff., 194 ff., 238, 280, 307 Täuschung, arglistige siehe Fragerecht Tendenzbetrieb/-unternehmen 31 f., 50, 93, 109, 119, 131, 202, 204 f., 265, 311 Transparenzgebot 139 f. Treu und Glauben insbes. 67 ff., 143 ff., 179 f. Treuepflicht 44, 93, 123 ff., siehe auch Fürsorgepflicht
Übermaßverbot 85, 87, 88, 91, 196 siehe auch Interessenabwägung Unionsbürgerschaft 229, 232 ff., 241, 260, 262
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Untermaßverbot 85, 87 siehe auch Interessenabwägung
Verbotsgesetz 60, 105, 128 ff., 141 Vergleichsgruppe/-person insbes. 34, 222, 226, 232, 267, 270, 280 − hypothetische 211, 250, 268, 277, 280, 282, 294, 310, 323 Vertragsanbahnung siehe Einstellung Vertragsfreiheit siehe Privatautonomie Verzicht siehe Grundrechtsverzicht Voraussehbarkeit siehe Vorhersehbarkeit Vorhersehbarkeit 44, 69, 71 ff., 158 ff., 172, 185 ff., 198, 326
Weisung insbes. 67 ff., 142 ff., 147, 198, 326 Weisungsrecht siehe Weisung Weiterbeschäftigungsanspruch 128, 151, 177 Weltanschauung insbes. 31 Wesentlichkeitslehre 190 ff. Wiedereinstellungsanspruch 151, 177 Wiederholungswahrscheinlichkeit 44, 161, 165, 198, 253 Wirkungsunterschied 215, 248 ff., 256 ff., 287, 308, 327
Zeuge Jehovas 77, 95, 113, 132 Zurechnung insbes. 83 f., 249, 258, 286 f.