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German Pages 249 Year 2014
Hansjörg Schmid · Andreas Renz · Jutta Sperber (Hg.)
Theologisches Forum Christentum — Islam
„Im Namen Gottes …“ Theologie und Praxis des Gebets in Christentum und Islam
Verlag Friedrich Pustet
Theologisches Forum Christentum – Islam herausgegeben von Hansjörg Schmid, Andreas Renz, Jutta Sperber
Hansjörg Schmid ● Andreas Renz ● Jutta Sperber (Hg.)
„Im Namen Gottes ...“ Theologie und Praxis des Gebets in Christentum und Islam
Verlag Friedrich Pustet ● Regensburg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
eISBN 978-3-7917-7047-5 © 2006 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg Satz und Layout: Corinna Schneider, Heidelberg eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg 2014 Weitere Publikationen aus unserem Verlag finden Sie auf www.verlag-pustet.de
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ...............................................................................................
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Hansjörg Schmid/Andreas Renz/Jutta Sperber Gebet als Thema christlich-islamischer Reflexionen Zur Einführung .................................................................................... 11
I.
Grundfragen christlichen und muslimischen Betens
Kenneth Cragg Mit Muslimen über das Gebet nachdenken Theologie als Vorhof der Anbetung .................................................... 21
Michael Bongardt »Unser Lobpreis kann deine Größe nicht mehren« Christliches Beten zwischen Abgrenzung und Offenheit .................... 36
Hamideh Mohagheghi Theologie des Herzens. Im Gebet Liebe und Nähe Gottes erfahren.... 54
II. Ist Gott beeinflussbar? Sinn und Zweck des Bittgebets Andreas Obermann Wird nicht Gott »denen Gutes geben, die ihn bitten?« (Mt 7,11) Überlegungen zur (Für-)Bitte als Inanspruchnahme Gottes aus biblischer Sicht .................................................................................... 73
Elhadi Essabah »Ruft zu Mir, so erhöre Ich euch!« (Sure 40,60) Bedeutung und Sinn des Bittgebets im Islam ...................................... 91
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Reinhold Bernhardt »Nackt vor Gott« Systematisch-theologische Überlegungen zum Sinn des Bittgebets.... 103 Beobachterbericht (Christian W. Troll) ............................................... 119
III. Mehr als Worte ... Gebet und Leiblichkeit Abdullah Takım »Wirf dich nieder und nähere dich Gott!« (Sure 96,19) Das Gebet im Islam als Ausdruck der Gottesnähe............................... 127
Ansgar Franz Leiblichkeit als Ausdrucksform des Gebetes Liturgiewissenschaftliche Überlegungen im Angesicht des Islam ...... 143
Assaad E. Kattan Dialektik von Nähe und Distanz zwischen nahöstlichen Christen und Muslimen am Beispiel einiger liturgischer Elemente ................... 154 Beobachterbericht (Catherina Wenzel) ................................................ 160
IV. Gebet und religiöse Identität in der säkularen Gesellschaft Klaus Hock »Wenn das Beten was nützen würde …« Gott-Mensch-Beziehung im Spiegel des Gebets: Christliche und muslimische Perspektiven zwischen Intimität und Öffentlichkeit....... 167
Mohammed Heidari Das Gebet als Ausdruck der Hoffnung – (k)eine verlernte Fähigkeit in säkularen Gesellschaften ................................................................. 181
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Martin Jäggle Wege zum Beten in christlicher Tradition Religionspädagogische Reflexionen im Angesicht des Islam ............. 188 Beobachterbericht (Stephan Leimgruber) ............................................ 197
V. Gemeinsam beten? Martin Bauschke Gemeinsam vor Gott Beobachtungen und Überlegungen zum gemeinsamen Beten von Juden, Christen und Muslimen ..................................................... 203
Friedmann Eißler Gemeinsam beten? Eine Anfrage an das interreligiöse Gebet unter dem Vorzeichen abrahamischer Ökumene ..................................................................... 216
Heikki Räisänen Das lukanische Jesusbild und der Dialog mit dem Islam Eine christologische Skizze zur Theozentrik des Gebets .................... 227
Andreas Renz/Hansjörg Schmid/Jutta Sperber Menschliche Hinwendung zu Gott – göttliche Nähe zum Menschen Zusammenfassende Reflexionen und Thesen...................................... 238
Autorinnen und Autoren...................................................................... 245
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Vorwort Mit diesem Band und der ihm zugrunde liegenden Tagung im März 2005 haben wir im Rahmen der Arbeit des Theologischen Forums Christentum – Islam einen entscheidenden Schritt getan: Nach zwei Jahren innerchristlicher Reflexion auf der einen Seite und Sondierungsgesprächen mit Muslimen auf der anderen Seite haben wir eine erste gemeinsame christlich-muslimische Tagung gewagt.1 Dies bildet sich auch im vorliegenden Tagungsband ab, der vier Beiträge muslimischer Autoren mit unterschiedlichem Hintergrund enthält. Die Verfasser der anderen Beiträge sind Christen aus verschiedenen Konfessionen, was ebenfalls eine erfreulich große Bandbreite widerspiegelt. In inhaltlicher Hinsicht werden die Beiträge von ihrem jeweiligen Autor verantwortet und geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber wieder. Wir danken allen, die zum Gelingen der Tagung beigetragen haben, insbesondere den ReferentInnen und AutorInnen des vorliegenden Bandes, darüber hinaus aber auch allen TeilnehmerInnen der Tagung, auf der fundierte und offene Diskussionen über die einzelnen Beiträge geführt wurden. Höhepunkt der Tagung war der eindrucksvolle Eröffnungsvortrag von Bischof Kenneth Cragg, der christlichen wie muslimischen TeilnehmerInnen wichtige Impulse zum Thema gegeben hat. Wie kaum ein anderer christlicher Theologe hat Kenneth Cragg im letzten halben Jahrhundert Christen und selbst Muslimen einen Zugang zum Islam eröffnet und ihn zugleich im Licht des christlichen Glaubens gedeutet. Obwohl Kenneth Craggs eigentümliche Formulierungskunst bisweilen nahezu »unnachahmlich« ist, haben wir es dennoch gewagt, eine Übersetzung anfertigen zu lassen. Damit liegt nun einer der wenigen Beiträge Kenneth Craggs in deutscher Sprache vor. Erfreulicherweise hat der Verlag Pustet großes Interesse am Theologischen Forum gezeigt, so dass wir mit diesem Band zugleich die Buchreihe »Theologisches Forum Christentum – Islam« eröffnen, in der in Zukunft alle Publikationen des Forums erscheinen werden. Dafür danken 1
Vgl. als Zusammenfassung über die bisherige Entwicklung des Forums Hansjörg Schmid, Das Theologische Forum Christentum – Islam. Eine Initiative für Christlich-Islamische Studien, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 89 (2005), 147–149. Berichte über die bisherige Tagungen des Forums und weitere Informationen finden sich unter www.akademie-rs.de/theologischesforum/.
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wir in besonderer Weise dem Lektor des Verlags Pustet, Dr. Rudolf Zwank. Dem Bundesministerium des Inneren ist dafür zu danken, dass es das Theologische Forum Christentum – Islam nun schon im dritten Jahr mit einem namhaften Zuschuss gefördert hat – und das trotz zunehmender Mittelknappheit. Dr. Thomas Lemmen hat die Antragstellung und Abwicklung wie gewohnt mit großem persönlichem Interesse begleitet. Wir danken außerdem all denen, die bei der Tagung, den Korrekturen und der Erstellung der Druckvorlage mit viel Engagement und gewohnter Präzision mitgewirkt haben: Anna Fröhlich-Hof M.A., Nicole Garos, R. Johanna Regnath, Katrin Visse und Christa Wassermann. Stuttgart/Hildesheim/Bayreuth, im August 2005 Hansjörg Schmid Andreas Renz Jutta Sperber
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Gebet als Thema christlich-islamischer Reflexionen Zur Einführung Hansjörg Schmid/Andreas Renz/Jutta Sperber
Geht man davon aus, dass Religionen nicht gewissermaßen abstrakt und wesenhaft vorliegen, sondern in Interpretationen, die immer durch konkrete Kontexte und Personen geprägt sind, so liegt es nahe, ein Thema wie dieses gemeinsam mit Muslimen und Christen anzugehen. Die Notwendigkeit dieses Schritts brachte Assaad Kattan bei der Tagung des Theologischen Forums im März 2003 klar zum Ausdruck: »Denn im Unterschied zur Rede über die Muslime scheint das Gespräch mit Muslimen insofern wissenschaftlich notwendig zu sein, als es uns ermöglicht, unsere konzeptuelle Welt im Blick auf den Islam immer wieder zu verifizieren.«1 Ziel des gemeinsamen christlich-muslimischen Forums ist es nicht, ein neues Dialogforum wie viele andere zu schaffen. Spezifikum des Theologischen Forums Christentum – Islam ist die theologisch-wissenschaftliche Ausrichtung. Auch wenn die Tagung dialogische Elemente aufwies, wäre es verengt und missverständlich, das allein in den Mittelpunkt zu stellen, zumal Dialog entgegen seinen eigentlichen Intentionen inzwischen fast zu einem Unwort geworden ist. Leitbild für den Ansatz des Theologischen Forums sind vielmehr »Christlich-Islamische Studien«2, denen folgende Prinzipien zu Grunde liegen sollen: 1
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Assaad E. Kattan, Dynamisch – pluralistisch – gemeinsam. Thesen zu den hermeneutischen Bedingungen des christlich-islamischen Dialogs, in: Hansjörg Schmid/Andreas Renz/Jutta Sperber (Hg.), Heil in Christentum und
Islam. Erlösung oder Rechtleitung? (Hohenheimer Protokoll 61), Stuttgart 2004, 233–236, 233. Der Begriff »Christlich-Islamische Studien« wird bislang noch wenig verwendet. So gibt es zum Beispiel in Balamand/Libanon seit 1995 ein
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Selbstkritik: Kritik auch an der eigenen Position ist konstitutiv für moderne Wissenschaft. Oft ist es in Gesprächen zwischen Muslimen und Christen so, dass Muslime zur Verteidigung und positiven Darstellung ihrer Religion neigen, Christen zur Selbstkritik und Selbstrelativierung. Auch wenn es schwierig ist, die übliche Rollenkonstellation zu überwinden, ist es ein Ziel, in einem geschützten Raum möglichst beiderseitig selbstkritische Debatten zu führen. Multiperspektivität: Es kann nicht nur die Selbstdeutung geben, wichtig ist immer auch die Deutung aus anderen Perspektiven. Das umfasst auch, dass Nichtmuslime über Islam und Nichtchristen über Christentum sprechen und nachdenken. Die religions- und islamwissenschaftliche Perspektive spielt daher eine wichtige Rolle für das Forum. Kenntnis des Anderen: Die am Forum beteiligten Christen müssen nicht Islamwissenschaftler sein, die beteiligten Muslime nicht auch christliche Theologie studiert haben. Solide Kenntnisse der anderen Religion sind jedoch erforderlich, um deren Selbstverständnis gerecht zu werden. Interdisziplinäre, hermeneutisch-kritische Wissenschaft: Ein positivistischer Zugriff auf Fakten ist nicht möglich, sondern ein solcher Zugriff kann immer nur im Rahmen heutiger und historischer Verstehenskontexte erfolgen.3 Gerade in christlich-islamischen Fragen müssen Untersuchungen notwendigerweise interdisziplinär angelegt sein und auch sozialwissenschaftliche, geschichtswissenschaftliche sowie sprach- und literaturwissenschaftliche Forschungen aufgreifen. Interreligiöses Lernen als Grundparadigma: Die Begegnung mit anderen Religionen stellt eine Lernmöglichkeit dar und hat Konsequenzen für das eigene Selbstverständnis. Der Blick auf die jeweils andere Religion soll daher nicht einer eigenen Disziplin überlassen werden, sondern Teil des Selbstverständnisses einer jeden Theologie werden.4
»Center for Christian-Muslim Studies«. Vgl. dazu www.balamand.edu.lb/ CCMS/Goals.html. Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, München 1999, 42: »Sie [die Vergangenheit] wird fortwährend von den sich wandelnden Bezugsrahmen der fortschreitenden Gegenwart her organisiert.« Zum unterschiedlichen Zugang von Christen und Muslimen zum interreligiösen Lernen vgl. Hans Zirker, Vom Islam lernen? Zur Herausforderung des
Diese Prinzipien sind Grundlage dafür, dass das Forum sinnvoll in einer Konstellation arbeiten kann, die durch zahlenmäßige und andere Asymmetrien im Miteinander von Muslimen und Christen geprägt ist. Die Beiträge dieses Bandes bewegen sich auf dieser Grundlage, sind jedoch unterschiedlich angelegt. Manche Beiträge widmen sich im Gesamten der christlich-islamischen Reflexion (so Cragg, Kattan, Hock, Bauschke, Eißler und Räisänen) oder tun dies im Anschluss an eine Vorstellung der Position der eigenen Religion in Teilen (so Obermann, Bernhardt und Takım), andere sind eine Selbstreflexion unter der Aufnahme von Anfragen aus der anderen Religion (so Franz, Jäggle, Essabah und Heidari), wieder andere stellen Eigenes vor und formulieren damit Anfragen an die andere Religion (so Bongardt und Mohagheghi). Alle Beiträge stehen im Kontext muslimisch-christlicher Reflexionen, auch dort, wo dies im Titel nicht explizit zum Ausdruck kommt. Das Gebet ist der zentrale Ausdruck religiösen Glaubens in Christentum und Islam. Gebetstexte sind wichtige Quellen für Gottesverständnis, Menschenbild und Gott-Mensch-Beziehung in beiden Religionen. Daher bietet sich das Thema Gebet als Zugang zum Verhältnis beider Religionen zueinander und als Einstieg in eine gemeinsame christlichmuslimische Tagungsreihe geradezu an.5 Außerdem handelt es sich um ein Thema, das weniger als andere durch Polemik verstellt ist.6 Da es sich um ein Kernthema der Religionen handelt, würde man erwarten, dass es in christlich-islamischen Kontexten schon breit behandelt wurde. Im Blick auf fernöstliche Religionen ist das Thema Gebet be-
christlichen Selbstverständnisses, in: Hansjörg Schmid/Andreas Renz/Jutta Sperber (Hg.), Herausforderung Islam. Anfragen an das christliche Selbst-
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verständnis (Hohenheimer Protokoll 60), Stuttgart 22005, 27–50, 29. Vgl. dazu auch eine Äußerung von Annemarie Schimmel (in: Andreas Bsteh [Hg.], Der Islam als Anfrage an christliche Theologie und Philosophie [Studien zur Religionstheologie Bd. 1], Mödling 1994, 503): »Das Gebet und die Gebetstheologie stellen ohne Zweifel Schlüsselmomente dar in der christlich-islamischen Verständigung.« Allerdings wird das Thema Gebet in diesem wichtigen Band nur sehr beiläufig behandelt. Vgl. Adel Theodor Khoury/Ludwig Hagemann, Christentum und Christen im Denken zeitgenössischer Muslime, Altenberge 1986, 144: »Mit Befriedigung darf festgestellt werden, dass die muslimischen Autoren, sofern sie das christliche Gebet mit in ihre Untersuchung einbeziehen, überwiegend sachlich bleiben, nicht mehr in ständiger Opposition stehen, sondern eine ruhige Darstellung bieten mit der Bemühung um sachgerechte Information.«
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reits seit längerer Zeit Gegenstand von Forschung und Dialog.7 Auch im Blick auf das christlich-jüdische Verhältnis wurden Fragen des Gebets gerade in den letzten Jahren verstärkt diskutiert.8 Allerdings finden sich nur ganz wenige wissenschaftliche Reflexionen zum Gebet in christlichislamischer Perspektive. So fand 1978 ein theologisch-religionswissenschaftlicher Kongress zu Fragen des Gebets in Löwen statt, bei dem der Fokus jedoch nicht allein auf Christentum und Islam, sondern auf alle großen Religionen gerichtet war.9 Bereits dort wurden Defizite bei der bisherigen Behandlung des Themas festgestellt.10 Die breite Herangehensweise dieser Tagung hatte allerdings zur Folge, dass auch die Ergebnisse sehr allgemein blieben.11 Weitere Publikationen stellen in erster Linie die Gebetstheologie und Gebetspraxis der einzelnen Religionen vor, was sicherlich eine wichtige Grundlage für weitergehende Reflexionen darstellt.12 Außerdem ist 7
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Die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in diesem Bereich werden sehr deutlich in Tosh Arai/S. Wesley Ariarajah (Hg.), Spirituality in Interfaith Dialogue, Genf 1989, wo eine Tagung des Ökumenischen Rates der Kirchen zum Thema Spiritualität dokumentiert ist. Was die katholische Kirche angeht, so denke man nur an Inhalt und Bedeutung des innermonastischen Dialogs gerade mit dem Buddhismus, wozu es im christlich-muslimischen Bereich kein Pendant gibt. Vgl. dazu Linus S. Lee, Forty Years of Dialogue with Buddhism: Realities, Difficulties, and Prospects, in: Pro Dialogo 116/117 (2004), 231–239, im Gegensatz zu Khaled Akasheh, Considerations on Forty Years of Religious Dialogue with Muslims (A Report), in: Pro Dialogo 116/117 (2004), 195–204. Vgl. außerdem Kenneth Fleming, Asian Christian theologians in dialogue with Buddhism, Oxford/New York 2002, sowie Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste, Wien (Hg.), Interreligiöse Dialoge. Christen und Buddhisten, Hildesheim u.a. 2000. Vgl. z.B. Albert Gerhards (Hg.), Identität durch Gebet. Zur gemeinschaftsbildenden Funktion institutionalisierten Betens in Judentum und Christentum, Paderborn u.a. 2003; ders. (Hg.), Dialog oder Monolog? Zur liturgischen Beziehung zwischen Judentum und Christentum (Quaestiones disputatae 208), Freiburg 2004; ders. (Hg.), Kontinuität und Unterbrechung. Gottesdienst und Gebet in Judentum und Christentum, Paderborn u.a. 2005. Vgl. Henri Limet/Julien Ries (Hg.), L’expérience de la prière dans les grandes religions. Actes du Colloque de Louvain-la-Neuve et Liège, Löwen 1980. Vgl. Henri Limet, Introduction aux Travaux, in: ebd., 13–16, 14. Vgl. Julien Ries, Au terme du colloque. Conclusions et perspectives, in: ebd., 455–461, 456: »Cette recherche contribue à mieux dégager les structures du comportement de l’homo religiosus.« Vgl. Adel Theodor Khoury/Peter Hünermann (Hg.), Wozu und wie beten? Die Antwort der Weltreligionen, Freiburg 1989. Als Einführungen zum
die zentrale Frage gemeinsamen Betens im Fokus des Interesses,13 auch wenn damit nur ein Teilaspekt von Gebet im christlich-islamischen Kontext abgedeckt ist. Selten kommt es darüber hinaus zu Reflexionen, was die Gebetspraxis der anderen Religion für die der eigenen bedeuten könne.14 Bietet die Ebene der religiösen Praxis ein besonderes Potential für das christlich-islamische Verhältnis? Christian Troll hat im Rahmen des Theologischen Forums bereits das Gott-Mensch-Verhältnis der HadschGebete herausgearbeitet. Sein Ergebnis, dass das Gottesbild dort von Güte und Barmherzigkeit Gottes geprägt ist, die der Beter schon in der Gegenwart erfährt, widerlegt so manches Vorurteil vom fernen Gott der Muslime.15 Kenneth Cragg spricht vom »spiritual crossing of credal frontiers«16. Und auch Ludger Kaulig stellt fest, dass der theologischen
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christlichen Gebet seien beispielhaft genannt: Reinhard Messner, Einführung in die Liturgiewissenschaft, Paderborn u.a. 2001; Harald Schützeichel, Die Feier des Gottesdienstes. Eine Einführung, Düsseldorf 1996. Zum muslimischen Gebet vgl. Muhammad Rassoul (Hg.), As-Salah. Das Gebet im Islam, Köln 1983; Ayatullah Ali Ghafoori, The Ritual Prayer of Islam, Houston 1982; Amir M.A. Zaidan, Fiqh-ul-Ýibadat. Einführung in die islamischen gottesdienstlichen Handlungen, Frankfurt o.J. Vgl. auch die Gebetssammlungen von Adel Theodor Khoury, Gebete des Islam, Gütersloh 1995; Annemarie Schimmel, Dein Wille geschehe. Die schönsten islamischen Gebete, Kandern 31995; M. Abdul Hamid Siddiqi, Prayers of the Prophet, Lahore 71976, und Abdul Hamid Farid, Prayers of Muhammad, Lahore 41974. Wegweisend bis heute ist die Studie von Constance W. Padwick, Muslim Devotions. A Study of Prayer-Manuals in Common Use, London 1961. Vgl. Gerda Riedl, Modell Assisi. Christliches Gebet und interreligiöser Dialog in heilsgeschichtlichen Kontext, Berlin 1998. Vgl. Kenneth Cragg, »In the Name of God …«, in: Stanley J. Samartha/John B. Taylor (Hg.), Christian-Muslim Dialogue. Papers presented at the Broumana Consultation 1972, Geneva 1973, 137–144; Jane I. Smith, Christians and the Islamic Experience of Prayer, in: Francis Eigo (Hg.), Prayer. The Global Experience, Villanova 1997, 145–181, besonders 170– 177; Raphaël Cohen/Renée de Tryon-Montalembert/Philippe Amanoullah de Voz, Prier, Paris 1992; Daniel Madigan, Liturgy in a Religiously Plural World. Muslim and Christian Worship in Dialogue, in: Keith Patrick (Hg.), Liturgy in a Postmodern World, London/New York 2003, 169–176. Vgl. Christian W. Troll, Zum Verhältnis von Gott und Mensch im Spiegel der Hadsch-Gebete, in: Hansjörg Schmid/Andreas Renz/Jutta Sperber (Hg.), Heil in Christentum und Islam (s. Anm. 1), 121–136. Kenneth Cragg, Alive to God. Christian and Muslim Prayer, London 1970, 15. Mehrfach kommt die besondere Bedeutung des Gebets bei Cragg zum Ausdruck: »It is more urgent to be alive to God than orthodox about him
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Ebene nicht mehr die Führungsrolle im Dialog zukommt, sondern ein verheißungsvolleres Potential in der spirituellen Ebene zu sehen ist.17 Ob es wirklich gelingen kann, mit Hilfe von Gebet eine weitergehende Verständigung zu erreichen, muss sich zeigen. Eine Gefahr könnte darin bestehen, dass Unterschiede aus einer Begeisterung heraus vorschnell verwischt werden. Aber neben vielem Gemeinsamen kommt im Gebet gerade auch das Spezifische der jeweiligen Religion zum Vorschein: So drückt die nicht mehr nach Jerusalem, sondern nach Mekka orientierte qibla im Islam die Ausrichtung auf die spezifisch islamischen Heilsereignisse aus. Das spezifisch christliche Gottesverständnis wird im Kreuzzeichen und in Gebeten zu Jesus Christus erkennbar. Der Titel dieses Bandes »Im Namen Gottes ...« bringt die Spannung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden prägnant zum Ausdruck: So beginnen sowohl die Basmalah »Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Allerbarmers« (bismillÁh ar-raÌmÁn ar-raÌÐm), die jede Koranrezitation sowie jede Handlung eines gläubigen Muslim eröffnet, als auch eine Variante der christlichen Tauf- und Bekreuzigungsformel »Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes«. Ziel der folgenden Beiträge und Diskussionen ist es auszuloten, welches Potenzial der Themenkreis Gebet für die Verhältnisbestimmung von Christentum und Islam hat. Dabei wird Gebet bewusst weit gefasst und nicht etwa auf die islamische ÒalÁt (Ritualgebet) oder die christliche Eucharistie beschränkt, zumal Typisierungen wie freies Gebet – Gebetsformular nur wenig aussagekräftig sind.18 Immer wieder stellt sich dabei die Frage nach adäquaten Vergleichsebenen.19 Angesichts der Unsicherheit in diesen Fragen legen die Beiträge den Fokus entweder auf theologische Grundfragen des Gebets oder auf phänomenologische Einzelfragen.
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[…].« (8) – »So, at least, it is that praise may still unite where dogma requires to scrutinize.« (39) Vgl. Ludger Kaulig, Ebenen des christlich-islamischen Dialogs. Beobachtungen und Analysen zu den Wegen einer Begegnung (Christentum und Islam im Dialog 3), Münster 2004, 184, 251. Vgl. Carl Heinz Ratschow, Art. Gebet I. Religionsgeschichtlich, in: Theologische Realenzyklopädie Bd. 12, 31–34, 33: »Solche Unterscheidungen bieten sich als Ordnungsprinzipien an. Doch sie besagen sehr wenig. Sie überschneiden sich und erweisen sich als sehr äußerlich.« Eine erste Untersuchung in diesem Feld ist Alfred C. Anazodo, Liturgy of the Hours and Islamic Salat. A Comparative Study of Public-Liturgical Worship of Christians and Muslims, Diss. theol. Bamberg 2001.
Im ersten Teil geht es um theologische Grundlegungen des Gebets. Im zweiten Teil steht das Bittgebet im Mittelpunkt, das als Testfall für das Gottesbild gelten kann.20 Im dritten Teil geht es um Gebet und Leiblichkeit, eine Frage, die gerade Christen in der Wahrnehmung des islamischen Pflichtgebets immer wieder bewegt.21 Dass das Thema Gebet nicht in eine weltferne Theologie führt, kommt besonders im vierten Teil zum Ausdruck, der sich dem Gebet und der Gebetserziehung in der säkularen Gesellschaft widmet. Schließlich geht es im fünften Teil um die Frage des gemeinsamen Betens, die schon im Hintergrund verschiedener anderer Beiträge steht. Die Beiträge von Martin Bauschke und Friedmann Eißler gehen auf ein kontroverses Podiumsgespräch im Rahmen der Tagung zurück. Die Diskussionen in den oben genannten thematischen Foren der Tagung sind in drei Beobachterberichten dokumentiert. Da die Beobachter eingeladen waren, die Diskussionen kritisch zu begleiten und eigenständig weiterzudenken, stellen ihre Beiträge keine von den einzelnen thematischen Foren verabschiedete Konsensdokumente dar, sondern geben die eigenen Positionen der Beobachter wieder. Die Reflexionen und Thesen, die den Band abschließen, sind aus der rückblickenden Perspektive der Herausgeber auf die Tagung und die verschiedenen Beiträge formuliert.
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Vgl. Gisbert Greshake/Gerhard Lohfink (Hg.), Bittgebet – Testfall des Glaubens, Mainz 1978. Vgl. Daniel Madigan, Liturgy in a Religiously Plural World (s. Anm. 14), 173 f.; Jane I. Smith, Christians and the Islamic Experience of Prayer (s. Anm. 14), 172; Karl-Fritz Daiber, Der Körper als Sprache des Rituals. Beobachtungen und Anmerkungen, in: Michael Klessmann/Irmhild Libau (Hg.), »Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes«. Körper – Leib – Praktische Theologie, Göttingen 1997, 231–243, 231f.
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I. Grundfragen christlichen und muslimischen Betens
Mit Muslimen über das Gebet nachdenken Theologie als Vorhof der Anbetung∗ Kenneth Cragg
I. »Wenn dich meine Diener nach mir fragen – ich bin nahe. Ich antworte dem Ruf des Rufenden, wenn er zu mir ruft. Sie sollen auf mich hören und an mich glauben. Vielleicht gehen sie den rechten Weg!«1 (Sure 2,186). In jeder Tradition muss das Gebet mit einer Art von Leittheologie beginnen und dieser verbunden bleiben, einer Theologie, von der es angefacht oder angezogen wird wie Eisen von einem Magneten. Oft fallen in den Sprachen folgende beide Worte zusammen: Namen geben, call, name und anrufen, call upon oder pray to. So ist es gewiss auch im Arabischen mit dem Verb daÝÁ wie in diesem Abschnitt aus Sure 2,186. Muhammads Zuhörer »fragen« ihn nach diesem AllÁh, von dem er erzählt. Er wird angewiesen, ihnen zu antworten, dass dieser AllÁh »nahe ist, um ihre Gebete zu hören, wenn sie Ihn anrufen«. Auf die dogmatische Frage wird nicht eingegangen, vielleicht, weil es dem Islam instinktiv widerstrebt, nach Beschreibungen Gottes zu fragen oder welche zu geben. Vielmehr wird den Menschen, die zu Ihm beten, versichert, dass »Er nahe ist«, »nahe« nicht, um auf ihre Gedanken über Seine »Natur« zu antworten, sondern um ihre Gebete für ihre Nöte zu hören. Bei unseren Überlegungen hier müssen wir diese Ordnung umkehren und uns von dem Impuls, zu Gott zu beten, zunächst zum angemessenen Fragen nach Gott führen lassen. Denn nur so befinden wir uns ganz und gar im »Vorhof der Anbetung«, d.h. auf dem Boden, wo Gott ∗ 1
Übersetzung von Helga Voigt. Koranübersetzung hier und im Folgenden (falls nicht anders vermerkt) nach: Der Koran. Übersetzt und eingeleitet von Hans Zirker, Darmstadt 2004.
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zu finden ist, sowohl in der Wahrheit als Begriff als auch in der Wahrheit als Erfahrung. Wir müssen zuerst glaubend fragen, wer Gott ist, um dann fragen zu können, wo wir Zugang zu Ihm haben. Der Christ kniet nicht an einem namenlosen Ort nieder. Hiobs große Frage war: »Wenn ich nur wüsste, wo sich Gott befindet« (Hiob 23,3 – Die Gute Nachricht). In diesem Sinne wird das »Wo« über das »Ob« entscheiden; und wie Augustin gesagt hat: »Die Christen knien dort, wo Christi Füße gegangen sind«, nicht zuletzt, weil sie nach Gethsemane gegangen sind und auf einer Via Dolorosa. Wir »platzieren« Gebet, Lobpreis, Fürbitte, Litanei an den Ort, den wir für den Ort des »Rendezvous« Gottes mit uns, den Grund unserer Begegnung, halten. Es gibt einen englischen Dichter, George Herbert, der den Begriff »something understood« als Definition des Gebets geprägt hat. Doch wenn das Gebet »etwas ist, was verstanden wird«, dann muss es zweifellos auch »jemanden geben, der verstanden wird« (Gott als Herr) und »jemanden, der versteht« (wir selbst, die wir beten). »Wer zu Gott kommen will, der muss glauben, dass er ist und dass ...« (Hebr 11,6).2 Wir wollen das Zitat offen lassen. Es ist klar, was »Existenz« hier heißt. Doch wie steht es mit dem »Existierenden«, was Offenheit für das Gebet betrifft, oder das Wissen um uns, die wir beten? Wir können nicht verständig oder richtig zu einem Geheimnis oder zu einem Rätsel beten. Selbst wenn, wie in Sure 2,186, der Zugang zu AllÁh nicht in Frage gestellt wird, so bedarf doch der »Nähe«, die uns zugesichert wird, eines richtigen Verständnisses dessen, was »erhören« bedeuten und gewähren kann. Es trifft zu, dass für das muslimische Gebet lange galt, dass das Pflichtgebet (ÒalÁt) kurz sein kann. Man muss nicht viele Worte machen. Darum kann sich die rituelle Form teilweise mit einem Minimum an »Theologie« begnügen. Selbst das Sufi-Gebet beschränkt sich oft auf die Wiederholung einer einzigen Formel; und einige Sufis haben sich damit begnügt, einfach YÁ! YÁ! zu rufen, also ein »O! O!«, das sich an AllÁh wendet in dem, was nicht mehr als »ein Anruf« ist, in dem alles liegt, weil »der Erhörende« keiner ausdrücklicheren Anrede bedarf, gehört dies doch zum Wesen Seiner überwältigenden »Nähe«. Das ist etwas, woraus die Christen zum Beispiel lernen können, die Klarheit zu schätzen, die von der Kürze einiger unserer eigenen Liturgien kommt, wo die schlichte Beilegung eines »Attributs« als Lobpreis die
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Bibelübersetzung hier und im Folgenden (falls nicht anders vermerkt): Einheitsübersetzung.
Basis für eine damit verbundene Bitte und eine Zusammenfassung beider ist: »Allmächtiger Gott, vor dem alle Herzen offen und dem alle Wünsche bekannt sind und vor dem kein Geheimnis verborgen bleibt (Beilegung eines Attributs): Läutere die Gedanken unserer Herzen durch die Erleuchtung Deines Heiligen Geistes [...] (Bitte), auf dass wir Dich vollkommen lieben und würdig Deinen Heiligen Namen preisen (Verbindung von Attribut und Bitte).« Das Gebet des Sufi ist in der Regel noch karger: Die Gebetsabsicht verschmilzt mit der Anbetung. Zu rufen »O Du, der Du allumfassend bist!« – so würde aus dieser Sufi-Empfindung heraus argumentiert werden – heißt, dass es nicht nötig ist zu erklären, worauf eine Antwort erwartet wird. Sie muss schon da sein in der Weisheit dessen, der alles weiß. Dies und jenes »auszuführen« durch eine Antwort, könnte fast anmaßend sein in Gegenwart des »Höchsten über alle Dinge«. Der Allweise bedarf keines Anstoßes, um darüber zu entscheiden, was das Gebet erbittet, selbst wenn der Beter glaubt, er wisse es. Hierin liegt viel vom Instinkt des Geistes des Islam.3 Doch es bedarf einiger weiterer Überlegungen, um die Theologie noch ausdrücklicher in die Bedeutung und die Praxis des Gebets einzubringen, wenn diese zur »Gemeinschaft« mit Gott in »Erkenntnis und Liebe« führen und so von der »Kommunikation« in die »Communio« übergehen soll. Man kann in der Tat diese beiden Begriffe (beide lateinischen Ursprungs) nicht völlig voneinander trennen. Außerdem kommen diese Überlegungen dem sehr nahe, was dem christlichen Glauben über alles hinaus, was die »Vorhöfe der Anbetung« betrifft, anvertraut ist, um es dem Islam als einer Struktur und den Muslimen als Personen und Gottgläubigen nahe zu bringen.
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Nämlich, dass alles getrost dem Willen und der Entscheidung AllÁhs überlassen werden kann und dass die gebührende menschliche Rolle in der »Unterordnung« liegt, in völliger »Bereitschaft« für alles, was dieser Wille bereithalten mag. Doch wenn wir das Wort »Bereitschaft« benutzen, könnte das nicht ein gewisses Maß an »abweichender Meinung« beinhalten, wenn auch nur im Sinne von irgend etwas, auf das man verzichtet? Siehe unten Anm. 4.
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II. Zu diesen Überlegungen gehört zunächst, so scheint es, die Tatsache, dass wir kaum beten können, ohne eine gewisse Vorstellung davon zu haben, »an wen« oder »in wem« wir das tun. Was bedeutet diese »Nähe«, von der in Sure 2,186 die Rede ist? »Nahe« in welcher Eigenschaft? Ist es die Nähe eines »Beobachters«, eines »Zuschauers«, eines »Wächters«, eines »Friedensrichters«? Zu einem solchen könnte man um »Erbarmen« als »Nachsicht« beten; doch um eine andere Art von »Mitleiden« würde man zu dem Einen beten, in dem der »Schöpfer« gesehen wird, dessen Wille es ist, dass wir existieren, der also ein gewisses Maß an Verantwortung für uns hat, die mehr ist als distanziert und entfernt. Denn der Koran möchte, dass wir Gott, den Herrn, als einen Herrn verstehen, der »gewollt« hat, dass wir sind und als Geschöpfe in einem verstehbaren Kosmos ausgestattet sind mit den Kräften der Hände und des Geistes, durch welche die Menschen diese gute Erde auf den Stand der Technologie gebracht haben, die wir als die unsere betrachten und derer wir uns bedienen, selbst zu unserem Schaden. Nimmt diese unsere Verantwortlichkeit – die wir innerhalb der Verantwortlichkeit Gottes haben, weil Er sie gestaltet und verordnet hat – einen notwendigen Platz in unserem Gebet ein? Die Bibel nennt es »Herrschaft«, der Koran kennt es als ÌilÁfa. 4 Es ist sozusagen das Rohmaterial, ja die musikalische Partitur unserer Beziehung zu Gott. 4
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Es scheint, als sei dieses für den Koran so zentrale Thema seltsamerweise im traditionellen Islam vernachlässigt worden, wenn es auch Anzeichen dafür gibt, dass es wiederentdeckt wird. Das verdient es jedenfalls. Denn es stützt sich genau auf Sure 2,30 und verwandte Abschnitte, in denen AllÁh die Ernennung des Menschen zum ÌalÐfa, zum »Stellvertreter auf der Erde« ankündigt und die Furcht der Engel zerstreut, dass eine so wankelmütige und verderbte, »blutvergießende« Kreatur die Erde verderben und das Vertrauen verraten würde. Dieses »Risiko« auf Seiten Gottes wird hier ganz deutlich. Das Prophetentum – so wesentlich für den Islam – ist Teil dieser Anvertrauung der Stellvertreterschaft (ÌilÁfa). Da es sich um ein so erhabenes und risikoreiches Unterfangen handelt, werden »Boten« gebraucht – und gesandt – zur Wegweisung, Erinnerung und Ausrichtung. Einen Versuch, diesem zentralen Thema gerecht zu werden, habe ich unternommen in meinem Buch: Am I Not Your Lord? Human Meaning in Divine Question, London 2003. – Wir Menschen sind die einzigen »Kalifen«, die es im Koran gibt. Die bekannte politische Ausformung durch die Jahrhunderte hindurch bei den Umayyaden, Abbasiden, Osmanen usw. steht auf koranischer Ebene nicht im Blick.
Diese Gott-gegebene, aber sehr menschliche Fähigkeit muss der Wille zum Gebet unter Gott stellen. Es ist das, was der Erleuchtung und der Weisheit bedarf, die das Gebet sucht. Es verlangt nach der Hingabe, die das Gebet mit sich bringen sollte. Auch die Reue – immer ein Grundton echten Gebets – gehört dazu, Reue über die Fehlleitung unserer Wissenschaften unter unseren Händen, über die Ungerechtigkeiten, die in ihrem Namen begangen wurden. So brauchen wir eine lebensnahe und verständliche Schöpfungslehre, wenn das Gebet relevant sein soll für das tägliche Leben und die Kultur und nicht nur eine Angelegenheit der persönlichen Frömmigkeit. Im gleichen Zusammenhang ist die »Danksagung« zu sehen – immer im Vordergrund im Koran als Gegensatz nicht nur zur »Undankbarkeit«, sondern zum Atheismus! Denn in der Heiligen Schrift der Muslime trifft man oft auf eine Antithese zwischen šukr und kufr, zwischen Dankbarkeit und Unglauben, zwischen – so könnte man sagen – »dem Gott, den wir anbeten« und »dem Gott, den wir links liegen lassen«, so dass »links liegen lassen« verabscheuungswürdiger ist als verleugnen. So lässt der Koran Salomo sagen: »Das ist von der Gabenfülle meines Herrn, damit er mich prüfe, ob ich danke (aškuru) oder undankbar bin (akfiru).« (27,40) »[...] die meisten von ihnen danken nicht« (2,243; 10,60; 12,38; 27,73; 40,61) – diese Aussage gehört zu den vernichtendsten Kommentaren des Koran über die Menschen im Allgemeinen. Daraus ergibt sich, dass das Thema »Gelobt sei AllÁh« so wesentlich zum alltäglichen muslimischen Gruß und Gespräch gehört.5 Es ist zweifellos Teil unserer ÌilÁfa, dass es so sein sollte. Denn alles, womit wir Menschen umgehen – einschließlich unserer Sexualität als entscheidend für alles andere –, ist eine Treuhänderschaft, eine Beauftragung von Gott, damit wir sie in Seinem Namen ausüben. »Partner« Gottes – das ginge dem muslimischen Gefühl nach zu weit. Dennoch: Dieses Gefühl, nur in und für uns selbst zu sein als auch »in Gottes Namen« »Mitwirkende« oder »Sub-Manager« Seiner Welt zu sein, macht die »Unterordnung« im Koran zu einer aktiven Qualität. Das bedeutet, dass es beim Gebet nicht darum geht, Gunstbeweise zu erlangen oder Antworten zu erbitten, sondern darum, uns selbst in allen Dingen als Gott untertan zu erkennen. 5
Es ist vorgeschlagen worden, dass dieses Thema der »Dankbarkeit« eine »Vermittlerrolle« im Dialog spielen könnte. Denn es kann auf beiden Seiten sehr gut geteilt werden und wirft umfassende Fragen im Blick auf die Gründe – und den Impuls – für die »Danksagung« auf.
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Der Islam versucht, dies sicherzustellen durch die Überlegung, die der Ritus des Pflichtgebets verlangt: die Konzentration auf die Intention (nÐya), die Waschungen davor, die Abfolge der Körperhaltungen und die Disziplin von Zeiten und Wiederholungen. Jeder Mensch ist sein eigener »Sakraments-Zelebrant«, der für den Ritus notwendig ist, doch unter dem Ansporn der gemeinschaftlichen Bewegung und im Gefühl des historischen Einklangs mit Mekka auf der qibla durch die Nische oder den miÎrÁb in der Moschee.6 Doch es ist klar, dass der physische Leib jedes Einzelnen die erste »Moschee« unter allen ist, dort, wo die Niederwerfung geschieht. Die Bewegungen – vom Stehen zurück zum Stehen über die Verbeugung und Niederwerfung und deren Wiederholung – vermitteln die Bedeutungsinhalte. Die Stirn, die den Geist beherbergt – das wesentliche Organ der »Herrschaft« und kraft des Verstandes auf die »Gegebenheiten« der Erde bezogen –, berührt den Boden oder eine Lehmplatte und macht aus ihrer Rolle eine Art von »Sakrament«. Wenn die Sandalen wieder angezogen werden, muss jeder in die Welt hinausgehen im Sinne dieses Symbols dargebrachter Ehrerbietung. Da das Pflichtgebet durch dieses ganze physische Ritual »vollzogen wird«7, ist klar, wie relevant aÒ-ÒalÁt für die aktuellen ökologischen Ängste ist, für die Sorge um die Natur und das Bewusstsein dessen, womit Gott uns ausgestattet hat im »Reichtum der Nationen«. Gewiss, wie bei allen Religionen kann die Gewohnheit die Oberhand über den Sinn gewinnen und das Ritual nur Ritual bleiben. Doch im Lichte der Lehre von der »Intention« ist es geboten, andere – realistisch – nach dem Maximum ihrer Sinnhaftigkeit zu interpretieren, umso mehr, wenn wir ernsthafte Dinge über sie aus einer anderen Sichtweise zu sagen haben. Wenn auch nicht alle gewohnheitsmäßigen Muslime sich immer der Bedeutung dessen bewusst sind, was sie im Pflichtgebet tun, so verdient doch die kostbare Wahrheit, die in der Niederwerfung des Leibes und der Demut der Stirn ist, unser aller Wertschätzung. Sie erzählt auf dramatische Weise, dass die Menschen auf Erden Menschen sind, in deren Ob6
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Immer sehr sorgfältig bemessen, so dass die Muslime, die überall in der Welt beten, ein »Netzwerk« haben, so wie die Speichen eines Fahrrades sich um die »Nabe« – das ist Mekka – drehen. Die gleichen »Speichen« werden zu den Straßen der HaÊÊ, so dass ein sichtbarer Kreisumfang den Islam umfasst. »Vollzieht« ist der arabische Imperativ aqÐmÙ aÒ-ÒalÁt – etwas, was nicht nur »gesagt«, sondern ausgeführt wird.
hut diese Erde gegeben ist – eine Obhut, die noch nie so entscheidend war wie heute, wo wir die Fähigkeit besitzen, uns selbst zu vernichten, sei es durch nuklearen Wahnsinn oder durch die schleichende Zerstörung des lebensnotwendigen Klimas. Was ist dann zum Inhalt des islamischen Gebets und – wie oft bemerkt worden ist – zur fehlenden Fürbitte zu sagen? Es ist nicht nur die Kürze (von der schon die Rede war), die das Fehlen detaillierter Bitten erklärt.8 Die Worte im Pflichtgebet bitten nur in den ganz allgemeinen Begriffen der FÁtiÎa: »Weise uns den rechten Weg.« Der Rest ist Bekenntnis: »Du bist es, den wir anbeten. Du bist es, zu dem wir um Hilfe kommen.« Diese Worte münden in den Gebetsruf AllÁhu akbar. Der ganze »Aufruf zum Gebet«, aÆÁn, ist ein Aufruf an die Muslime zum »Wohlergehen« (falÁÎ) als Zwilling zum Pflichtgebet; die Liturgie zählt nicht die Nöte auf, für die »wir Hilfe suchen«, führt auch nicht aus, was »auf dem rechten Wege sein« für Regierungen, Wirtschaftsunternehmen, Hochschulen oder Privatpersonen bedeutet. Es wird nur gesagt, was es nicht ist: »nicht der Weg derer, die Zorn verdient haben, oder derer, die vom rechten Wege abgekommen sind«. Wie verstehen Muslime dieses große Unterscheidungsmerkmal zwischen den Menschen gerade im Herzen »des Vorhofes der Anbetung«? Am wichtigsten von allem im rituellen Gebet und seiner Sprache ist vielleicht die Formel ar-raÎmÁn ar-raÎÐm, die am besten mit »der barmherzige Gott der Barmherzigkeit« zu übersetzen ist. Denn das führt uns zu unserer nächsten Aufgabe, nämlich der, die muslimische und die christliche Theologie in Beziehung zueinander zu bringen. Es gibt eindeutig zwei Wörter, die aus der einen Wurzel RÍM abgeleitet sind, die so viel wie »Barmherzigkeit« bedeutet. Ihre arabische Form ist beachtenswert. »Barmherzigkeit« ist eine »Eigenart« AllÁhs, eine Eigenschaft, die Er besitzt, die Ihn beschreibt. Die Form raÎmÁn bezeichnet dieses Attribut als ein dauerhaftes, zu seiner Natur gehöriges, und das unabhängig von seiner aktuellen Ausübung. RaÎÐm hingegen bezeichnet diese Barmherzigkeit in ihrem aktuellen Vollzug. Beide beschreibenden Begriffe können im Koran eigenständige Substantive sein 8
Man scheut davor zurück, im Gebet zu suggerieren, welche Kompetenz AllÁh haben oder was sein Wille vorenthalten mag. In extremer Form könnte das eine gewisse Lethargie des menschlichen Willens oder einen gewissen »Fatalismus« beinhalten. Die gegebene »Verantwortlichkeit« Gottes als Schöpfer uns gegenüber und die Tatsache, dass er uns zu seinen »Haushaltern« in der Schöpfung gemacht hat, könnte auf eine größere »Intimität« schließen lassen, auf eine »nähere« Theologie. Siehe dazu unten.
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(d.h. Synonyme für AllÁh), wobei ar-raÎÐm seltener vorkommt als arraÎmÁn. So handelt der »Herr der Barmherzigkeit« »barmherzig«. ArraÎmÁn erweist sich als ar-raÎÐm, und Sein »barmherziges« Handeln ist der Erweis für Seine Barmherzigkeit. Diese Übersetzung scheint mir besser zu sein als das vertraute »der Barmherzige, Mitleidvolle«, was eine Sinnsteigerung darstellt, aber die Frage nach der Bedeutung von »mitleidvoll« aufwirft.9 Doch wie ist »Barmherzigkeit« selbst zu verstehen, so wie wir sie als Eigenschaft und Verhalten AllÁhs kennen, als das, was Er hat und was Er tut, als Sein Attribut und Seine Handlungsweise? Diese Frage führt uns unmittelbar ins Herz der Theologie; und wir sollten lieber dazu kommen, indem wir uns dorthin bewegen: Für den Augenblick sei gesagt, dass es eine »Barmherzigkeit« innerhalb des Willens Gottes ist.
III. Führt uns nicht der entscheidende islamische Begriff širk zur zentralen Frage, die sich stellt, wenn wir Theologien in Beziehung zueinander setzen wollen? Hier geht es darum, AllÁh von jedem menschlichen Vergleich »loszulösen«10. Die dringende Notwendigkeit, die dahinter stand, zeigte sich während Muhammads Mission; sie bestand darin, alle heidnischen Vorstellungen abzuwehren, zu besiegen und zu zerstreuen, die die Einheit und Einzigkeit AllÁhs kompromittierten, indem sie Seiner Souveränität geringere, unwirkliche Pseudogottheiten beigesellten, die nicht existieren und nicht existieren dürfen.11 »Er ist erhaben über das, was ihr ihm beigesellt!« (vgl. Sure 9,31; 10,18; 16,1; 28,68; 30,40 u.ö. – Über9
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Genau genommen bedeutet das englische Wort compassion (aus dem lateinischen compassio) »leiden mit«. Das würde uns weiter führen, als der normale muslimische Glaube je zulassen würde. Dieser Satz erkennt die Sinnsteigerung an, verankert sie aber nicht in derselben Wurzel RÍM. Von daher die unterschiedliche Wiedergabe hier. Anm. zur Übersetzung: Cragg verwendet hier das Wort »to dissociate« als Gegenstück zu »to associate« (= beigesellen, vgl. arab. širk). In Mekka war der Begriff »AllÁh« geläufig. Muhammads eigener Vater wurde »ÝAbd AllÁh« genannt. AllÁh war jedoch nur das Haupt eines Pantheons von geringeren Gottheiten. Širk kann viele Formen annehmen – irregeleiteter Gottesdienst, falsch gesetztes Vertrauen, Schwüre auf falsche Götter. In allen diesen Fällen wurde AllÁh das verweigert, was Ihm gebührte, sei es an Glauben oder an Dienst.
setzung nach Cragg) Gott muss als der erkannt werden, der jenseits ist von jeder menschlichen Ähnlichkeit, jedem menschlichen Vergleich oder jedem menschlichen Bild. Wir müssen uns fragen, ob die Notwendigkeit damals und dort, ein absolutes Veto gegen jede »Beigesellung« (um den Götzendienst einzudämmen) zu erheben, nicht die von Natur aus gegebene »Verbindung« Gottes mit den Menschen verdunkelte, Seine unlösbare Verbindung mit allem, was ist, in dem »wir leben, weben und sind«. Gott ist ganz sicher kein »Abwesender«. Und alles im Islam – die Schöpfung, die Sendung von Propheten, die Menschen als Beauftragte – erzählt von Seiner Nähe (2,186), Seinem Pfahl in uns, Seinem Auftrag an uns. So stellt sich die Frage: Kann das muslimische Denken širk noch einmal überdenken, nicht um den Götzendienst zurückzubringen, sondern um die unverkennbare Rolle Gottes unter uns zu würdigen? Denn AllÁh tritt im Koran in einer Art und Weise in Beziehung zu uns, die wesentlich ist für jeden Lobpreis und jedes Gebet, ja für die Existenz selbst, die sich weder aus sich selbst heraus erklärt noch aus sich selbst heraus erfüllt. Wenn dem so ist, dann lautet die nächste Frage: Wie weit wird die göttliche Zuwendung zu uns gehen? Wie weit wird sie reichen? Wie viel an Barmherzigkeit wird sie erfordern, wenn Barmherzigkeit ihr Kennzeichen ist? Diese Frage führt uns ganz von selbst zu einem anderen Aspekt von širk, nämlich das Zögern des Islam hinsichtlich der Sprache und der Bedeutung der »Namen Gottes«, dieser al-asmÁÞ al-ÎusnÁ, der »neunundneunzig schönsten Namen«. AllÁh, weil Er »unvergleichlich« ist und nie eine menschliche »Ähnlichkeit« haben kann, könnte nie eindeutig durch Wörter oder Begriffe benannt werden, mit denen auch die Menschen beschrieben werden; und da wir keine anderen haben, müssen wir sie immer mit Vorbehalt im Blick auf ihre Bedeutung gebrauchen.12 Doch gebraucht werden müssen sie, wenn es einen Lobpreis Gottes geben soll. AllÁh sagte, Er »habe« diese Namen und befahl ihren Gebrauch (17,110; 59,24). 12
Die klassische Formel war bilÁ kaif, »ohne zu fragen wie«, und bilÁ tašbih, »ohne Ähnlichkeit«, nach dem Prinzip von al-muÌÁlafah, »der Unterschied«. Der Bereich des Menschen ist die einzige Quelle des Vokabulars über Gott, sei es adjektivisch oder substantivisch – »all-sehend«, »Bildner« usw. Ohne theologische Sprache kann es keinen Gottesdienst geben. Wir können nicht Gott »anrufen« (»call upon«), wenn wir Ihn nicht beschreibend nennen (»call«) können.
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Eine christliche Theologie, die aus dem Zentrum des Evangeliums, aus dem Glauben an die Inkarnation und Auferstehung heraus spricht, möchte wohl fragen: Warum diese Abneigung, sich vorzustellen, dass Gott voll und ganz mit uns verbunden ist und auf dieses nastaÝÐn (wir bitten um Hilfe) der FÁtiÎa selbst antwortet? Müssen wir von einer göttlichen Scheu im Blick auf unsere Situation ausgehen, wenn sie die Folge Seiner eigenen Schöpfung ist, das Anliegen Seiner Sendung von Boten zum »Weinberg«, der Sein Eigentum ist?13 Ist die Eigenschaft Seiner Majestät so gehütet oder Seine Souveränität so ungetrübt? Der AllÁh des Koran ist kein Beobachter-Gott; doch was nehmen Seine Augen – und damit Sein Wille – von uns auf? Sind diese Fragen fair? Oder sollten wir lieber nicht versuchen, unterschiedliche Theologien auf diese Weise auf eine Linie zu bringen? Warum sollten wir sie nicht einfach koexistieren lassen? Doch wenn wir es emotional tun müssen, sollten wir es dann auch intellektuell tun, um einen wohlbedachten Frieden aufrechtzuerhalten, aber ein lebhaftes Interesse füreinander zu bewahren?14 Angesichts der Militanz einiger Formen des Islam können wir vielleicht nicht eines der beiden haben, ohne auch das andere zu haben.
IV. Diese Fragen nach der Sprache, in der wir von Gott reden, und nach dem Ausmaß der »Barmherzigkeit« Gottes führen uns mitten hinein in die Begriffe menschlichen Unrechts und menschlicher Sünde. Uns darin zu vertiefen, würde uns weit wegführen von unserem unmittelbaren Anliegen, dem Gebet, es sei denn vielleicht im Zusammenhang mit Buß- und Fürbittgebeten. Doch da die Welt nicht »aus Spaß«, sondern mit göttlichem Ernst geschaffen wurde, muss das Nachdenken über das Gebet das Verständnis des Bösen im Koran berücksichtigen. Dabei geht man am besten vom häufigen Gebrauch des Begriffes Ûulm aus. Er kommt überall vor als Verb, Substantiv, Adjektiv und Partizip und hat drei Bedeutun13
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In Sure 2,87 findet sich ein Anklang an das Weinberggleichnis: »Wart ihr denn nicht, immer wenn ein Gesandter euch brachte, was ihr nicht mochtet, hochmütig, bezichtigtet einen Teil der Lüge und tötetet einen Teil?« »Koexistenz« selbst lässt viele Fragen offen und »existiert« kaum, wenn sie ignoriert werden. Doch alles hängt davon ab, wie wir mit ihnen umgehen, ob freundlich oder aggressiv, ob mit Geduld oder mit Vorurteil.
gen, wobei stets der Mensch Subjekt ist: Da ist zunächst das »Unrecht gegenüber Gott« (širk, Gotteslästerung usw.), dann das »Unrecht einem anderen gegenüber« (Diebstahl, Verleumdung, Hass, Neid usw.) und schließlich das »Unrecht gegen sich selbst«. Dieses Ûulm an-nafs ist das bedenklichste von allen, weil es die anderen mit einbezieht. Wenn wir uns selbst verderben, berauben wir Gott Seines Ihm gebührenden Gottesdienstes und schaden der Gesellschaft durch unsere persönliche Schuld. Dieser Begriff des »Sich-selbst-Unrecht-Tuns« deckt sich – wie wir oben gesehen haben – mit der Überzeugung einer ÌilÁfa-Bindung unserer Existenz als empfindende Wesen. »Ihr, die ihr glaubt, sorgt euch um euch selbst!« – heißt es in Sure 5,105. Das ist weitgehend der Grund für die Selbsterforschung und Zerknirschung, die wir in der Sufi-Frömmigkeit finden, und für die Seelen-Vorwürfe, ebenso wie für die asketische Selbstprüfung, die – wie z.B. bei Íasan al-BaÒÒrÐ und al-MuÎÁsibÐ – dem Sufitum selbst zugrunde liegen. Wichtiger noch ist, dass Ûulm al-nafs auf ein Sündenverständnis hindeutet, demnach Sünde letztlich mehr in dem begründet ist, was ich bin und werde, als in dem, was ich tue. Taten werden dann zu einem Hinweis auf den Charakter, und das Unrecht, wenn seine Auswirkungen auch äußerlich sind, ist seinem Wesen nach ganz innerlich. Das wirkt sich auf das Gebet aus, und zwar nicht nur in dem Impuls, seine Sünden zu bekennen, sondern auch in der Erkenntnis, was unser Verhalten, sowohl als Einzelne als auch als Gemeinschaft, an Leid und Ungerechtigkeit über andere bringt. »Das Böse, das die Menschen tun, lebt nach ihnen weiter« (William Shakespeare), doch mehr noch lebt es in ihrer Umgebung und durch sie in der Gesellschaft. Es ist gelegentlich bemerkt worden, dass das Wort ÃamÐr (»Gewissen«) im Koran nicht vorkommt. Eine theistische Ethik neigt dazu, das Gewissen durch das göttliche Gesetz zu ersetzen, durch eine rigorose Scharia, die die Notwendigkeit persönlicher Urteile überflüssig macht, wobei sie sich zugleich dem entzieht, was solche Urteile gegen sie verlangen könnten. Je mehr es uns also gelingt, das Gewissen in allen Beziehungen wieder einzusetzen, desto kompetenter können wir die verwandten Themen des öffentlichen Gebets und der Gnade der Buße behandeln. Das kann darüber hinaus in den Religionen auch ein gewisses Maß an echten Selbstvorwürfen auslösen, und zwar durch die Erkenntnis, dass sie sich selbst oft als ihre schlimmsten Feinde erweisen in Gestalt des Rufes, den sie sich durch ihre Geschichte erwerben. Freundlichkeit und Selbstkritik sind Eigenschaften, deren die Religionen allerseits dringend bedürfen.
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Diese Überlegungen führen uns weiter zu der zugrunde liegenden Frage der göttlichen »Größe«, der »göttlichen Großmut«, des Ausmaßes und der Aufgabe der göttlichen Barmherzigkeit unter uns. Die Hoffnung – und die Schlussfolgerung hier – ist die, dass die christliche Theologie zum islamischen Glauben in Beziehung treten möge, indem sie dessen Vorstellung von der göttlich-menschlichen Wechselbeziehung nachdrücklicher vertritt, als es dem muslimischen Denken je lieb war, doch nicht in einer gönnerhaften oder »überlegenen« Art und Weise, sondern ausgehend von Aspekten, die schon tief im islamischen System der Dinge vorhanden sind. Denn im Glauben haben wir das Göttliche umso wahrer, je größer unser Interesse am Menschlichen ist. Die beiden definieren sich sozusagen gegenseitig. Wir müssen begreifen, dass das Wort »God« oder »Gott« oder Deus oder AllÁh ein relationaler Begriff ist. Es ist wie bei dem »Freund«, wo »ein Freund sein« bedeutet, »einen Freund haben«. Dieser Begriff drückt eine Gegenseitigkeit aus wie »Briefpartner« oder – um ein gröberes Beispiel zu nehmen – »Boxer«. Diese Begriffe gibt es nicht allein für sich. Sicher ist, dass von unserer menschlichen Seite her »Gott« für uns nur erkennbar ist in Beziehung zu uns. Gott außerhalb solcher Beziehung ist nicht erkennbar. Doch wir müssen in jeder Beziehung Raum lassen für solches Unbekannt-Sein. Denn wir sagen nicht, dass Gott sich in der menschlichen Beziehung erschöpft. Wir sagen nur, dass Er außerhalb dieser Beziehung unbekannt bleibt, während die Erkenntnis innerhalb dieser Beziehung authentisch ist. Wir brauchen uns selbst als Seine Geschöpfe, um Ihn als unseren Schöpfer zu haben. Alles ist Beziehung, das gilt für die Lehre von Gott ebenso wie für den Gottesdienst. Unser Menschsein ist »gottwärts«, Seine Gottheit ist »menschwärts«. Durch das »Gott in Christus« hat der christliche Glaube hier keine Vorbehalte. Der Islam hat viele gezeigt. Dabei ist alles vorhanden in Dingen, die dem Koran wesentlich sind, trotz der Furcht vor širk oder der Pflicht, gegen den Götzendienst zu kämpfen. Wird nicht Abraham als »der Freund Gottes« (al-ÌalÐl) beschrieben und nicht nur Abraham allein? Ein Schöpfer, der die Menschen zu Seinen »Haushaltern« machte, ist nicht ohne Interesse an Seiner Schöpfung. Ein Gesetzgeber, der Gesetze für sie schafft, ist natürlich interessiert an ihrem Umgang mit Seinen Gesetzen. Hier hat die Eschatologie ihren Platz. Wenn, wie gesagt, die menschliche ÌilÁfa ein Risiko war, das Er auf sich nahm, dann wird Er gewiss auf ihre Durchführung Acht haben. Unsere gebotene Wachsamkeit gegenüber širk lässt uns die wahre Anerkennung der Einheit AllÁhs (tauÎÐd) nicht als eine Angelegenheit betrachten, die Gott gleichgültig ist: Dass Er die 32
Anerkennung Seiner Einheit von uns und nur von uns fordert, bringt Ihn schon in eine tiefere Beziehung zu uns. So ist AllÁh, nach muslimischem ebenso wie nach christlichem Verständnis, »eng verbunden mit der Menschheit«. Doch wie weit reicht dabei Sein »Mitleiden«? – nicht »ob Barmherzigkeit«, sondern wie und wo und warum? Was könnte diese unbestrittene Tatsache des »Menschwärts-gerichtet-Seins« für unser Verständnis des Einen bedeuteten, der »allmächtig« ist? Wird es Vorbehalte geben, die wesentlich mit seiner Ausdrucksform zusammenhängen? Mit welchem Vertrauen oder welcher Scheu werden wir zum Gebet kommen? Mit welchem Thema der Anbetung werden wir bewogen werden zu kommen? Das wird von der Theologie abhängen, die wir haben. Da AllÁh eng mit uns verbunden ist – indem Er Gott ist –, können wir wissen, dass wir nicht an Seiner »Größe« zweifeln, wenn wir das betonen. Im Gegenteil, umso mehr erforschen wir diese »Größe«. Man könnte sagen, dass wir von muslimischen Grundsätzen aus auf christliche Schlussfolgerungen zugehen und das in keiner Weise idealisierend. Vielleicht fragen wir wirklich nach Gottes »Rechten« und nach unserem »Unrecht« – Gott und »die Sünde der Welt«. Kann man in irgendeinem Sinne sagen, dass Gott »stellvertretend« ist – der »Leidende« in Zusammenhang mit unserer Schuld, sowohl unserem Ûulm an-nafs als auch Ûulm gegen Ihn? Alles wird davon abhängen, wie ernst wir unser »Unrecht« nehmen. Wenn Jesaja in Kapitel 43,24 seinen Zuhörern sagt, wie Jahwe zu ihnen gesprochen hat: »[...] du hast mir eine Last aufgeladen mit deinen Sünden« (Die Gute Nachricht), dann stellt er dies den Götzen-schaffenden Götzendienern gegenüber, die ihre Götter »tragen« mussten, während Jahwe Sein Volk »trug«. Diese Wahrheit wird ausgeweitet: »Der gute Hirte sucht, bis Er findet [...], geht dem nach, was verloren ist, und bringt es nach Hause.« Diese Stellvertretung erleben wir im täglichen Leben unter uns, da wo einige um anderer willen leiden. Ganz deutlich wird es, wenn sie für die anderen leiden, im Sinne von Vergebung, die Last auf sich nehmen, keine Vergeltung üben – sich nicht rächen. Solche Bereitschaft zur Stellvertretung, ohne das Unrecht zu entschuldigen, aber auch ohne es zu erwidern oder zu vergelten – das ist die Seele des Heils. Ist es denkbar, dass etwas Entsprechendes auf Gott in Seinem »Menschwärts-gerichtetSein«, so wie wir es untersucht haben – in der Schöpfung, im Gesetz und in der Barmherzigkeit –, zutreffen kann oder zutrifft? Geht Seine Zuwendung zu uns so weit, und könnte das die Wahrheit unserer Theologie 33
sein und damit auch das Vertrauen in unserem Gebet und unserem Lobpreis? Die Kirche kniet nieder, wo Christi Füße gegangen sind. Ich glaube, dass die Muslime fürchten, so zu denken, und das aus einem löblichen Instinkt heraus: Es war und ist ihre Sorge um Gottes Macht und Souveränität. Doch was, wenn diese am meisten zu finden sind in dem, was undenkbar scheint? Tief im Koran gibt es das Bewusstsein vom »Angesicht Gottes«. »Das Verlangen nach Gottes Angesicht« (ibtiÈaÞ waÊh-AllÁh) muss gegenwärtig sein, wenn wir etwas so Weltliches wie zakÁt, unsere Almosensteuer, darbringen. Das Thema kommt verschiedentlich vor. »Das Angesicht Gottes« gehört zutiefst zum biblischen Wortschatz, von Mose und Aaron (Num 6,22–24) bis hin zu Paulus in 2Kor 4,6, wo es zu einer Metapher für Jesus als »Licht von Gottes Angesicht« wird. Da war großes Interesse an AllÁh unter Muhammads Mekkanern: »Diener fragen ihn« nach diesem Herrn. Sie wussten von »Göttern« in der Mehrzahl. Warum musste AllÁh »einzig« sein und nicht einfach der »Höchste« unter vielen? Hinter dieser Frage verbargen sich viele andere, insbesondere die nach Seiner Beziehung zu ar-raÎmÁn, als einem anderen oder dem gleichen Gott. Die Gelehrtesten in der islamischen Philosophie wollten das Höchste und das Wahrste lernen und verstehen. So tun sie es auch heute noch. Die menschlichen Fragen können nicht zum Schweigen gebracht werden. »Sage: Er ist nahe ... lasst sie Ihn anrufen ...« So tritt das Gebet für die Theologie als die bessere Weise zu beten ein. Lassen Sie uns das Bild vom »Angesicht« noch weiter vertiefen und dabei nicht zuletzt seine Auswirkungen auf die »menschwärts-gerichtete« Dimension Gottes, von der wir gesprochen haben, im Auge behalten. Denn das Gesicht ist das menschliche Merkmal, das am besten zu identifizieren ist und am meisten preisgibt. Wir brauchen es immer im Bild. Das Sufitum hat natürlich viel gemacht aus »dem Angesicht Gottes«; und obgleich es töricht ist, das Sufitum mit dem Islam gleichzusetzen, so wäre es doch falsch, es außer Acht zu lassen. DuÝÁÞ – wie es heißt – kann sehr viel freier sein als das formelhaftere Pflichtgebet, einfallsreicher, gewagter, anspruchsvoller in seinem Ausmaß und seinen Bitten. Es schafft eine größere Intimität, indem es den Formalismus der Scholastiker und den Rigorismus der Aufseher hinter sich lässt. Doch es hat diese verletzt dadurch, dass es weniger an die Formalitäten des Rituals und die Skrupel von Dogma und Gesetz gebunden ist. Es ist schwer einzuschätzen, wie einflussreich das Sufitum heute ist, wenn viel von dem Bild und der Wirkungskraft des Islam sich in einem gefährlichen Aktivismus und in der Gewalt der Entfremdung äußert. Doch es weist auf etwas hin, was 34
wir am meisten brauchen in der Religion, nämlich »einen Glauben, in dem instinktiv geliebt wird«, wobei der Glaube die beste Schule dafür ist. Gestalten wie Šams ad-DÐn und der unstete SaÎlÁwÐ, von dem der Nobelpreisträger NaÊÐb MaÎfÙÛ schreibt, sind für das durchschnittliche muslimische Denken zu außergewöhnlich, obwohl die Standpunkte des Sufitums aus dem Koran gerechtfertigt werden können.15 Man kann nur hoffen, dass die besten Merkmale des Sufitums sich auf die weltweite Sicht des Islam heute auswirken. Wenn das geschehen soll, muss sicherlich der religiöse Glaube »freundlich gemacht« werden, was wiederum davon abhängt, wie wir »das Mitleiden Gottes« bemessen – für das ein christliches Maß der »Christus Gottes« ist, der unter uns bleibt als »das fleischgewordene Wort« im »Wort des Kreuzes«. Unter den Sufi-Handbüchern ist mir das von ÝAbd al-Ý-AzÐz adDÐrÐnÐ am vertrautesten, das immer wieder neu herausgegeben wird und sehr beliebt ist: ÓahÁrat al-QulÙb wa-l-ÌuÃÙÝ li-ÝÁlam al-Çaib (Reinheit der Herzen und Demut vor dem Bewusstsein des Höchsten als Mysterium)16: »Der einzige Grund meiner Bitte ist meine Not, die keiner Erläuterung bedarf« (ÎuººatÐ ÎÁºatÐ wasÐlatÐ faqaÔ). Gewiss, eine Bitte an einen Herrn, der »mit den Menschen Geduld hat«, ja dessen Souveränität stellvertretend ist im Sinne Seiner Barmherzigkeit, wahrhaft ar-raÎmÁn. In Kairo hatten wir viele Verhandlungen mit dem Stadtbauingenieur über den Abriss des Domes, um Platz zu schaffen für eine Brücke über den Nil, und den Bau eines neuen Domes auf der Insel Zamalik. Ich sah diesen eingerahmten Sufi-Text über seinem Schreibtisch:
YakfinÐ šarafan an akÙna laka Ýabdan YakfinÐ niÝmatan an takÙna lÐ Rabban »Es genügt mir an Ehre, dass ich Dein Diener sein sollte. Es genügt mir an Gnade, dass Du mein Herr sein solltest.« Ein solcher Mann wandelte in den Vorhöfen der Anbetung. Wir sehen, dass die beiden Satzteile austauschbar sind. 15
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Verse, die man auch mystisch deuten kann wie den Lichtvers in Sure 24,35, die herausragende Bedeutung des Wortes qalb (das »Herz« als Sitz der Gemütsbewegungen), der anfängliche »Rückzug« Muhammads zum Berg Hira und schließlich die Andeutungen, dass er selbst vielleicht ein »Mystiker« gewesen ist, ebenso die esoterischen Auslegungen des Koran. Eine klassische Untersuchung dieser AurÁd oder »Gebetbücher« auf Englisch ist die von Constance E. Padwick, Muslim Devotions. A Study of Prayer-Manuals in Common Use, London 1961.
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»Unser Lobpreis kann deine Größe nicht mehren«1 Christliches Beten zwischen Abgrenzung und Offenheit Michael Bongardt
»Qui non orat, mit der zeit wird er fidem verlieren.«2 Seine Sprache verrät ihn: Dieser Satz, in einer lateinisch-deutschen Versatzsprache formuliert, stammt von Martin Luther. »Wer nicht betet, wird mit der Zeit den Glauben verlieren.« Sehr viel später prognostiziert ein Religionswissenschaftler, C. P. Tiele, erstaunlich ähnlich: »Wo das Gebet gänzlich verstummt ist, da ist es um die Religion selbst geschehen.«3 Religion und Gebet gehören zusammen. Da sind sich Theologie und Religionswissenschaft einig. Dieser Befund macht im Blick auf das Verhältnis der Religionen zwei gegensätzliche Schlussfolgerungen möglich. Entweder: Das Gebet ist das Gemeinsame in und zwischen den Religionen. Demnach wäre das Gebet ein empfehlenswerter Ausgangspunkt für die gesuchte Verständigung zwischen den Religionen, für das auf unserer Tagung gesuchte Gespräch zwischen Islam und Christentum. Vor allem, aber nicht nur so genannte mystische Gruppen innerhalb der einzelnen Religionen vertre-
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Präfation für Wochentage 4, in: Messbuch für die Bistümer des deutschen Sprachgebiets, hg. von den Bischofskonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz u.a., Einsiedeln u.a. 1984, 447. Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883 ff., Bd. 34/1, 395,13 f., zit. nach Gotthold Müller, Art. Gebet VIII. Dogmatische Probleme gegenwärtiger Gebetstheologie, in: Theologische Realenzyklopädie Bd. 12, 84–94, 89. Der Religionswissenschaftler Cornelis Pieter Tiele (1830–1902) wird mit diesem Satz zitiert von Carl Heinz Ratschow, Art. Gebet I. Religionsgeschichtlich, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 12, 31.
ten diese Auffassung.4 Die Gebetstreffen, zu denen Papst Johannes Paul II. 1986 und 2002 Vertreterinnen und Vertreter verschiedenster Religionen nach Assisi einlud, waren von der Hoffnung auf die verbindende Kraft des Gebetes getragen. Doch auch die Gegenthese wird vertreten: Gerade weil Gebet und Religion so eng verbunden sind, zeigen sich die Unterschiede zwischen Religionen gerade im Beten ihrer Mitglieder. Ein gemeinsames Beten ist deshalb nicht möglich. Vielmehr stärkt das je eigene Gebet die Identität und damit die Kraft zum Dialog. So etwa die zahlreichen Kritiker der genannten Weltgebetstreffen.5 Im Spannungsfeld zwischen diesen gegenteiligen Thesen will unsere Tagung der Bedeutung des Gebets im und für das Gespräch zwischen Christentum und Islam auf die Spur kommen. Dazu möchte ich meinen Beitrag leisten – auch wenn ich dazu weit weniger geeignet bin als Bischof Kenneth Cragg, der uns als intimer Kenner nicht nur der christlichen, sondern auch der muslimischen Theologie in die Tagung einführte. Dagegen gehen meine Kenntnisse über das Gebet der Muslime nur wenig über das allgemein Bekannte hinaus. Und auch innerhalb der christlichen Theologie habe ich mich nie als »Gebetstheologe« hervorgetan.6 Damit allerdings bin ich in bester Gesellschaft: Denn es gibt nur wenige systematische Theologen, die sich das Gebet eigens zum Thema gewählt haben, so sehr auch alle dessen Bedeutsamkeit betonen. Zieht man noch die verschiedenen Untersuchungen über die Problematik des Bittgebets ab, wird die ohnehin geringe Zahl dogmatischer und fundamentaltheolo4
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Raimondo Panikkar, Das Göttliche in Allem. Der Kern spiritueller Erfahrung, Freiburg u.a. 2000; John Hick, Religion. Die menschlichen Antworten auf die Frage nach Leben und Tod, München 1996, 183–189, 317–320; oder auch, unter Bezug auf Kenneth Cragg, Annemarie Schimmel, Dein Wille geschehe. Die schönsten islamischen Gebete, Kandern 52004, 84: »Wir werden sicherlich Kenneth Craggs Folgerungen zustimmen, dass für das Verständnis zwischen den Religionen die lex orandi wichtiger ist als die lex credendi und dass es weiter und tiefer führt, ›Gottes bewusst zu sein‹, als orthodox über Ihn zu diskutieren, denn ›Wir sind unter Ihm und in Ihm, selbst wenn wir verschiedene Ansichten über Ihn haben.‹« Vgl. als seinerseits kritischen Überblick über die Kritik an den Gebetstreffen Andreas Feldtkeller, Assisi, auf die Melodie von »Dominus Jesus« zu singen, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 1 (2002), 1 f. Meine bisher einzigen Äußerungen zum Thema (Michael Bongardt, »Ich denk an dich«. Theologie als Gebet, in: Andreas Hölscher/Anja Middelbeck-Varwick [Hg.], Frömmigkeit. Eine verlorene Kunst, Münster 2005, 157–169) sind weniger eine Gebetstheologie denn Vorüberlegungen zu einer solchen.
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gischer Abhandlungen über das Gebet noch einmal deutlich kleiner.7 Von dieser Not getrieben, suche ich im Folgenden eher tastend nach einem Weg, auf dem der unbestritten hohe, ja einzigartige Wert des Gebets für das Gespräch zwischen den Religionen zu erhellen ist. Er wird der Weg eines christlichen Theologen sein. Inwieweit Muslime ihn mitgehen können, ob und wie deren eigene Wege einer Gebetstheologie dem christlichen vergleichbar sind und sie diesen anerkennen können – dieses Urteil kommt allein ihnen zu. In vier Schritten möchte ich meine Gedanken entfalten. Zunächst wird es um einen philosophischen »Außenblick« auf das Gebet als Geschehen zwischen Gott und Mensch gehen. Im zweiten Schritt nähere ich mich der für Christen so bedeutsamen Verbindung zwischen dem Gebet und dem Bekenntnis zur Menschwerdung wie zur Dreieinigkeit Gottes. Im dritten Schritt nehme ich Bezug auf den Titel meines Vortrags und frage nach der möglichen Bedeutung des Gebets für Gott. Und nach diesen drei Gedankengängen wird es hoffentlich möglich sein, etwas zur Eigenart und Offenheit christlichen Betens im Kontext der so vielfältigen Formen menschlichen Betens insgesamt zu sagen.
1. Gebet und Wirklichkeit Gottes Begonnen sei mit dem Versuch, möglichst allgemein zu bestimmen, was »Gebet« eigentlich ist. In einer ersten Annäherung, die das Selbstverständnis der Betenden weniger berücksichtigt als das »von außen« sichtbare Geschehen – und hier wiederum vor allem beim christlichen Gebet lässt sich sagen: »Im Gebet bringen Menschen vor Gott ihr Leben zur Sprache.« Dabei ist es wichtig, den Begriff »Sprache« weit genug zu fassen. Mit ihm ist mehr gemeint als der verbale Ausdruck oder der mit Worten erfasste Gedanke. Unser Körper spricht, wenn wir beten – egal, ob der Mund sich bewegt. In der katholischen und orthodoxen Liturgie ist die leibliche Gebetssprache ähnlich ausgeprägt wie im Islam – in den Kirchen der Reformation herrscht diesbezüglich bekanntlich eher Zurückhaltung. Selbstverständlich ist auch das vollkommene Schweigen in
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Hingewiesen sei deshalb umso nachdrücklicher auf: Karl Rahner, Von der Not und dem Segen des Gebetes, Innsbruck 31949; Hans Urs von Balthasar, Das betrachtende Gebet, Einsiedeln 1955; Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 1, Tübingen 31987, 192–244 (§9 Reden zu Gott).
absoluter körperlicher Ruhe ein »zur Sprache bringen«. Denn auch hier wird etwas offenbar von dem Menschen, der betet. Immer geht es im Gebet um Wichtiges, um das, was die Betenden im Augenblick des Betens bewegt. Selbst das Alltägliche wird im Gebet wichtig, weil wichtig genommen. Deshalb sind Gebete so vielfältig wie das Leben selbst mit seinen Nöten und Begeisterungen, mit seinen Dramen und mit seinen Banalitäten. Dass all das im Gebet zur Sprache kommt, dass es entsprechend viele Formen und Inhalte des Gebets gibt, kann nicht verwundern. Die verschiedenen Gehalte aufzuzählen, aufzureihen und aufzuteilen, wie dies immer wieder geschieht, mag für alle von Interesse sein, die an möglichen Formen und Inhalten des Gebets interessiert sind.8 Zum Verständnis dessen, was im Gebet geschieht, trägt eine solche Selbst-Verständlichkeit wenig bei. Viel wichtiger ist ein anderer, noch nicht ausreichend herausgestellter Aspekt: Jedes Gebet ist mehr als die reine Selbstdarstellung, mehr als Ausdruck der eigenen Befindlichkeit. Schon im ersten Definitionsversuch war davon die Rede. Das Gebet ist ein Zur-Sprache-Bringen vor Gott. Dies gilt es in einer zweiten Annäherung noch genauer zu fassen: »Im Gebet bringen Menschen ihre Gottesbeziehung zur Sprache.« In der Art und Weise, wie sie beten, machen Menschen deutlich, wie es um ihr Verhältnis zu Gott steht. Es ist vielsagend, mit welchem Namen sie Gott anrufen, in welcher Form sie zu ihm sprechen. Und wiederum endet die Sprache nicht mit den Worten: Die Körperhaltung bringt zum Ausdruck, in welcher inneren Haltung die Betenden Gott zu begegnen suchen. Das selbstbewusst-aufrechte Stehen und das ehrerbietig-flehende Knien oder gar Liegen;9 die demütige Bitte, die zornige Klage, die freudige Dankbarkeit – sie alle sind Ausdruck davon, wie Menschen sich im Gegenüber zu ihrem Gott fühlen, verstehen, »positionieren«. Bei aller Unterschiedlichkeit der Situationen und Gebete – stets ist solches Beten von einer unaufhebbaren Spannung geprägt. Auf der einen Seite ist immer das Bewusstsein von dem unendlichen qualitativen Unterschied präsent, der Gott und Menschen trennt. Die Menschen verdanken sich Gott, nicht Gott den Menschen. Menschen sind die Grenzen 8 9
Vgl. z.B. Hans Schaller, Art. Gebet. IV. Systematisch-theologisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 4, 313 f. Besonders prägnant kommt die Bedeutung der Körperhaltungen für die Haltung eines Menschen vor Gott in den neun Gebetshaltungen zum Ausdruck, die Dominikus (ca. 1170–1221, Gründer des Dominikanerordens) seinen Ordensbrüdern vorgegeben hat. Vgl. Peter Dyckhoff, Mit Leib und Seele beten. Die neun Gebetsweisen des Dominikus, Freiburg u.a. 2003.
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ihrer Macht, ihres Wissens, ihrer Liebe schmerzlich bewusst – und sie bekennen Gott als den, dem all diese Grenzen nicht nur selbst nicht gesetzt sind, sondern der sogar die Grenzen der Menschen noch überwinden kann.10 Diesem unendlichen Unterschied aber steht bei den Betenden die Überzeugung gegenüber, dass sie zu dem Gott, der in »unzugänglichem Licht« (1Tim 6,16) wohnt, beten dürfen, dass sie ihn ansprechen können. Glaubende Menschen wissen sich berechtigt, sich dem Unnahbaren zu nähern. Diese beiden Pole werden in der Regel durch die Überzeugung verbunden, dass Gott selbst den Menschen nicht nur Fähigkeiten und Wege, sondern auch den Auftrag zum Gebet gegeben hat (Mt 7,7 f.: »Bittet, dann wird euch gegeben; sucht, dann werdet ihr finden; klopft an, dann wird euch geöffnet. Denn wer bittet, der empfängt; wer sucht, der findet; und wer anklopft, dem wird aufgetan.«). Diese Spannung wird aktuell, wo immer Menschen beten. Doch damit ist das Geschehen des Gebets keineswegs ausgeschöpft. Ein dritter, noch weiter reichender Satz ist hinzuzufügen: »Im Gebet bringen Menschen Gott zur Sprache.« Der Gestus, mit dem sie sich an ihn wenden, die Namen, mit denen sie ihn benennen, die Worte, die sie an ihn richten, lassen Gott gegenwärtig werden. Als Angesprochener – und nur als Angesprochener – ist Gott für die Betenden Wirklichkeit. Diese These bedarf der Erläuterung. Denn selbstverständlich darf sie nicht als ontologische Aussage gelesen werden: Gott ist oder Gott ist nicht. Wenn er ist, hängt sein Sein nicht davon ab, ob es Menschen gibt, die zu ihm beten, oder nicht. Und wenn er nicht ist, kann auch das Gebet von Menschen ihm kein Sein verleihen. Ganz anderes aber gilt im Blick auf die Frage, ob Gott für die Menschen eine Wirklichkeit ist, ob ihm in der von ihnen erfassten und geformten Welt Bedeutung und Sein zukommt. Dies ist nur der Fall, wenn Menschen Gott Bedeutung und Sein zumessen – erkennend, betend, ihn zur Sprache bringend.11 In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Beziehung zwischen Gott und Menschen nicht von jeder innerweltlichen und zwischenmenschlichen Beziehung: Sie ist nur wirklich, wenn und indem sie eine Gestalt findet, in der sie sich realisiert. Ohne solche Verwirklichung hat das Verhältnis der Men10
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Die Bedeutung dieser Spannung für das Gebet und dessen Zukunftsorientierung arbeitet M. Theunissen im Anschluss an S. Kierkegaard eindrucksvoll heraus: Michael Theunissen, ~O aivtw/n lamba,nei. Der Gebetsglaube Jesu und die Zeitlichkeit des Christseins, in: Bernhard Casper u.a., Jesus. Ort der Erfahrung Gottes, Freiburg u.a. 1976, 13–67. Vgl. Hans Urs von Balthasar, Gott redet als Mensch, in: ders., Verbum Caro. Skizzen zur Theologie, Einsiedeln 21960, 73–99, hier bes. 90–98.
schen zu Gott, hat das Verhältnis Gottes zu den Menschen keine Realität für die Menschen.12 »Qui non orat, mit der zeit wird er fidem verlieren.« Das Gebet ist eine notwendige Bedingung für den Glauben als Verhältnis des lebendigen Menschen zu Gott. Will man dem Selbstverständnis der Glaubenden und Betenden gerecht werden, sind die drei genannten Definitionsversuche auf ihre Voraussetzungen und Konsequenzen zu befragen. Zunächst gilt es zu berücksichtigen, dass Betende mit ihrem Gebet immer in einer bestimmten Tradition stehen. Diese gibt ihnen nicht nur Formen des Gebets vor, sie steht auch ein für die Namen, unter denen Gott ansprechbar ist. Juden, Christen und Muslime eint dabei die Überzeugung, sich der Offenbarung Gottes zu verdanken: Menschen können Gott nur als Gott benennen und anbeten, weil er sich ihnen offenbart, weil er ihnen seinen Namen kundgetan hat.13 Jedoch steht diese Überzeugung unter den gleichen Bedingungen wie das Gebet: Nicht nur der angesprochene und zur Sprache gebrachte Gott, auch der sich offenbarende Gott ist für die Menschen nur in dem Maße wirklich, in dem sie diese Wirklichkeit anerkennen: Das Wort Gottes ist allein hörbar in der Antwort, die Menschen ihm geben; das offenbarende Handeln Gottes ist nur den Glaubenden erkennbar, die es als solches erkennen und bekennen.14 Der Rückbezug des Gebets auf die geglaubte Offenbarung hat zur Folge, dass in Judentum, Christentum und Islam Bekenntnis und Gebet in enger Verbindung, ja wechselseitiger Abhängigkeit stehen. An den Gott, dessen Wirklichkeit und Zuwendung zu den Menschen die Glaubenden bekennen, wenden sie sich im Gebet. Den Gott, den sie betend als ihr lebendiges Gegenüber erfahren, bekennen sie als den einen Gott, der sich ihnen gezeigt und zu ihnen gesprochen hat. Im privaten wie im gemeinsamen Beten ist dieser Zusammenhang in allen drei Religionen präsent: Der Aufruf des Muezzin zum Gebet ist das Bekenntnis zu Gott, 12
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Zur notwendig symbolischen Realisierung von Freiheit vgl. Thomas Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München 31991, 188–190. So schon Thomas von Aquin, Summa theologica I,1.1; vgl. dazu auch die verschiedenen Beiträge in: Jakob J. Petuchowski/Walter Strolz (Hg.), Offenbarung im jüdischen und christlichen Gottesverständnis, Freiburg 1981, sowie Andreas Renz, Der Mensch unter dem An-Spruch Gottes. Offenbarungsverständnis und Menschenbild des Islam im Urteil gegenwärtiger christlicher Theologie, Würzburg 2002, bes. 444–478. Vgl. dazu ausführlich Michael Bongardt, Die Fraglichkeit der Offenbarung. Ernst Cassirers Philosophie als Orientierung im Dialog der Religionen, Regensburg 2000, 159–164.
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dem einzigen und barmherzigen Gott.15 Das in der Tradition gewachsene Glaubensbekenntnis hat nicht nur in den Sonntagsgottesdiensten der Christen seinen festen Platz, in seiner denkbar kürzesten Form, der Anrufung des dreieinen Gottes, steht es am Anfang auch vieler privater Gebete; jüdisches Beten schließlich, das gemeinsame wie das private, hat seinen festen Anhaltspunkt im ShmaÝ Yisrael, das Bekenntnis und Aufforderung zur Verehrung Gottes miteinander verbindet. Doch nicht nur mit dem Bekenntnis ist das Gebet verbunden. Es fordert vielmehr seine Aufnahme in die Lebensgestalt der Betenden. In keiner der genannten Traditionen können Worte allein als rechtes Gebet anerkannt werden. Nur wenn das ganze Leben als Antwort auf das Wort Gottes verstanden und gestaltet wird, nur wenn das Leben zum Gebet wird, findet das Gebet zu Gott und der Mensch im Gebet Gott. Nur dann ist Gott die das Leben der Glaubenden bestimmende Wirklichkeit, nur dann ist er für sie im umfassenden Sinne des Wortes »wirklich«. Erinnert sei an die Kultkritik der Propheten (z.B. Jes 1,10–17), an die Warnung Jesu vor dem leeren Lippenbekenntnis (Mt 7,21–27), an die Weisungen des Koran, entsprechend der Rechtleitung zu leben (in Verbindung mit dem Gebet vgl. Sure 107). Gebet und Leben, die »vita contemplativa« und die »vita activa«, stehen in einem wesentlichen Zusammenhang: In der Lebenspraxis hat konkret zu werden, was im Gebet ausgesprochen wird; im Gebet findet seine Ausdrücklichkeit, was in der »vita activa« vielleicht unausgesprochen und verborgen bleibt.16 Kurz: Im Leben der Glaubenden findet Gott seine Wirklichkeit in der Welt der Menschen – im Gebet ist er gegenwärtig als der Angesprochene und Hörende. Der Widerspruch zu dieser Aussage ist in ihr selbst schon angelegt: Kann man dem Projektionsverdacht, der die Religion seit langem begleitet, bessere Nahrung geben als mit diesem Satz? Wird hier nicht ausgerechnet von einem Theologen behauptet, Gott sei ein Produkt des Menschen? Die Betenden wissen es anders, auch wenn sie weder Kant noch Feuerbach etwas beweisen können. Denn »für den, der an 15
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Der Ruf, dessen erste Zeile viermal, dessen weitere Zeilen je zweimal rezitiert werden, lautet: AllÁhu akbar (Gott ist der Allergrößte) / Ašhadu an lÁ ilaha ilÁ-llÁh (Ich bezeuge, dass es keinen Gott außer Gott gibt) / Ašhadu anna MuÎammadan rasÙlu-llÁh (Ich bezeuge, dass Muhammad der Gesandte Gottes ist) / Hayi Ýala aÒ-ÒalÁt (Kommt zum Gebet) / Hayi Ýala al-falÁÎ (Kommt zum Heil) / AllÁhu akbar (Gott ist der Allergrößte) / LÁ ilaha ilÁllÁh (Es gibt keinen Gott außer Gott). Vgl. Matthias Blum, Die Vita activa als Kontemplation, in: ders./Rainer Kampling (Hg.), Grenzen und Wege, Berlin 2000, 31–40.
Gott glaubt, wird aus der wahrscheinlichen Hypothese unvermeidlich Gewißheit, weil er betet«17. Die Glaubenden sind sich, betend, Gottes gewiss; dies selbst dann noch, wenn sie in bis zum Zerreißen gespannter Paradoxie zu dem Gott schreien, der für sie nicht mehr hörbar, nicht mehr sichtbar, nicht mehr glaubbar ist. Jesus war nur einer von vielen, die von Gott zeugten, indem sie mit Psalm 22 beteten: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«
2. Gebet und Menschwerdung Gottes Da er das Selbstverständnis von Betenden allenfalls am Rande zu berücksichtigen suchte, war der bisher dargestellte Blick auf das Gebet ein »Blick von außen«. Er suchte zu ergründen, welche Bedeutung das Gebet für die Wirklichkeit Gottes hat, derer die Betenden sich gewiss sind. Die Perspektive der folgenden Überlegungen ist eine grundlegend andere: Sie setzt bei der Gottesgewissheit der Betenden ein. Die Frage, ob ein Gott sei, stellt sich deshalb nicht oder allenfalls am Rande. Viel wichtiger ist die Frage, wer der Gott ist, an den sich das Gebet richtet, was von ihm zu sagen, zu glauben, zu erhoffen ist. Dieser theologische »Blick von innen« kann noch viel weniger als der religionsphilosophische Außenblick auf mehrere Religionen gleichzeitig schauen. Er ist notwendig einer bestimmten Tradition verbunden. Die nun zu entfaltende christliche Gebetstheologie, die die christologischen und trinitätstheologischen Implikationen des Betens zu bedenken sucht, kann deshalb nicht auf fraglose Zustimmung von jüdischer oder muslimischer Seite hoffen. Gilt doch der christliche Glaube an die Dreieinigkeit Gottes und die Menschwerdung seines Sohnes als eines der Haupthindernisse für die Anerkennung des Christentums durch Islam und Judentum. Im besten Fall mag es auf der Linie der hier entfalteten Gebetstheologie Muslimen und Juden möglich werden, das christliche Bekenntnis zwar nicht zu teilen, aber doch in einer seiner Intentionen zu verstehen. Durch das Gebet der Glaubenden, so die oben entfaltete Grundthese, gewinnt Gott in der Welt der Menschen Wirklichkeit. Sie ist eine menschliche Wirklichkeit, denn es sind Menschen, die ihn in ihrer Sprache zur Sprache bringen. Nach Überzeugung von Christinnen und Christen 17
Robert Spaemann, Das unsterbliche Gerücht, in: Karl Heinz Bohrer/Kurt Scheel (Hg.), Nach Gott fragen. Über das Religiöse (Sonderheft Merkur Nr.
605/606, 53 [1999], 772–783), 781 (Hervorhebung M. B.).
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gilt dieser Satz in einer qualitativ einzigartigen Weise für Jesus von Nazareth. Die Bibel schildert ihn als einen Menschen des Gebets, der regelmäßig in der Einsamkeit betete (Mk 1,35; Lk 11,1–4; Joh 6,15 u.ö.). Sein Gebet vor seiner Passion und Ermordung, der innere Kampf in Gethsemane um die Zustimmung zum Willen Gottes (Mk 14,32–42 par), ist in der christlichen Tradition das herausragende Beispiel eines betenden Ringens, vergleichbar allenfalls mit den großen Gebetserzählungen des Alten Testaments (z.B. Gen 18,17–33; 32,23–33).18 Jesu Gebet ist die Quelle seiner Vertrautheit mit Gott, mit dem Vater. In jüdischer Tradition sieht er sich als Sohn des göttlichen Vaters. Die Verbundenheit zwischen Jesus von Nazareth und dem Gott Israels ist so eng, dass schon die biblischen Schriften von der Einheit des Sohnes mit dem Vater sprechen (Joh 17,20–26). Diese Einheit wird hier als vollkommene Übereinstimmung des Willens Jesu mit dem Willen des Vaters verstanden.19 Diese besondere – nach christlicher Überzeugung gar einzigartige – Verbundenheit Jesu mit dem Vater ist es, die für die christliche Theologie in das Bekenntnis zu Jesus als dem mit Gott wesensgleichen Sohn führt:20 18
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Da das muslimische Gebetsverständnis weit stärker von der Überzeugung geprägt ist, dass Gott selbst sich im Gebet zur Sprache bringt, treten der Aspekt des menschlichen Beitrags zum Gebet und das Verständnis des Gebetes als eines Ringens oder Dialogs mit Gott dahinter zurück. Vgl. Hans Zirker, Der Koran. Zugänge und Lesarten, Darmstadt 1999, 52 f. Dazu ausführlich Klaus Scholtissek, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften (Herders biblische Studien 21), Freiburg u.a. 2000, vor allem 171. Zur christologischen Lehrentwicklung bis zum Konzil von Chalcedon vgl. Wolf-Dieter Hauschild, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 1, Gütersloh 22000, 161–194; Hans Kessler, Christologie, in: Theodor Schneider (Hg.), Handbuch der Dogmatik, Düsseldorf 21995, Bd. 1, 241– 442, hier 292–353. Zweifellos erwächst die Aussage des Konzils von Chalcedon, Jesus Christus sei »wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch« (Heinrich Denzinger/Peter Hünermann [Hg.], Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Freiburg 402005 [im Folgenden zit. als DH], Nr. 301), vor allem aus der theologischen Reflexion des Glaubens an die Heilsbedeutung Jesu: Nur wenn er Gott ist, kann er erlösen; nur wenn er die menschliche Natur angenommen hat, ist diese erlöst. Doch gilt es ein Doppeltes zu bedenken: Zum einen findet der Glaube an Jesus Christus, den Erlöser, seinen Grund und seinen Ausdruck gerade darin, dass Menschen sich in der Hoffnung auf Erlösung betend an ihn wenden. Zum anderen ist das Gottesverhältnis Jesu, der betend mit dem Vater verbunden ist, möglicher Ausgangspunkt für die Verhältnisbestimmung der Gottheit und Menschheit Jesu. Vgl. zum zweitgenannten Aspekt z.B. Karl Rahner, Probleme der Christologie von heute, in: ders., Schriften zur Theologie I, Einsiedeln u.a.
Jesu Beten und Handeln vollzieht sich in solch umfassender Übereinstimmung mit Gott, dass Gott nicht nur für Jesus von Nazareth, sondern für andere in Leben und Geschick Jesu Wirklichkeit wird. Jesus von Nazareth ist in solch ausgezeichneter Weise der Gott entsprechende Mensch, dass die, die ihm glaubend begegnen, in ihm die Wirklichkeit Gottes selbst erkennen. Bald bildet sich aus dieser Erfahrung das Bekenntnis, dass in Jesus von Nazareth Gott den Menschen in einem Menschen nahe gekommen ist, dass er in diesem Menschen als Gott ansprechbar wird. Betend erfahren die Christen zudem, dass Gott in der Gestalt Jesu Christi nicht nur in vergangener Zeit ansprechbar war, sondern ansprechbar bleibt, denn dieser menschgewordene Sohn ist nach christlicher Überzeugung der zum Vater Erhöhte. Das Bekenntnis zu Jesus als wesensgleichem Sohn Gottes ist für Juden und Muslime bis heute mit dem Verdacht belegt, zum monotheistischen Bekenntnis, dass Gott einer und einzig ist, in einer schwer erträglichen Spannung, wenn nicht gar im Widerspruch zu stehen. Diese problematische Konsequenz des Christusglaubens war schon der frühen Kirche bewusst und wurde zum Anlass vertiefter theologischer Reflexionen, die schließlich zur Herausbildung der Trinitätstheologie führten.21 Im Bekenntnis zur Dreieinigkeit Gottes suchen christlicher Glaube und christliche Theologie an der Einheit und Einzigkeit des Gottes festzuhalten, den sie als Vater, Sohn und Geist glauben und ehren.22 Die Trinitätstheologie ist allerdings keineswegs theologisch-abstrakter Spekulationslust geschuldet. Sie steht vielmehr – wie schon das christologische Bekenntnis – wiederum in einem engen und bis in seine Einzelheiten interessanten Zusammenhang mit dem Gebet. Lange bevor es ab dem dritten Jahrhundert zur spekulativen Entfaltung der Trinitäts8
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1967, 169–223, vor allem 174–194; Wolfhart Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh 71990, 335–345; Thomas Pröpper, Erlösungsglaube (s. Anm. 12), 194–198; Georg Essen, Die Freiheit Jesu. Der neuchalkedonische Enhypostasiebegriff im Horizont neuzeitlicher Subjekt- und Personphilosophie, Regensburg 2001, 270–295. »Trinitätstheologie als transzendentale Möglichkeitsbedingung des Christusbekenntnisses und Christologie als gnoseologische Eröffnung des Trinitätsglaubens sind wechselseitig (konstitutiv!) aufeinander bezogen.« Bernd Jochen Hilberath/Theodor Schneider, Art. Jesus Christus/Christologie. Systematisch, in: Peter Eicher (Hg.), Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, München 1991 (erweiterte Neuausgabe), Bd. 3, 20–37, 27. Zur frühkirchlichen Entwicklung der Trinitätslehre vgl. Wolf-Dieter Hauschild, Lehrbuch (s. Anm. 20), 1–54; Gisbert Greshake, Der dreieine Gott. Eine trinitarische Theologie, Freiburg u.a. 1997, 47–100.
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lehre gekommen ist, war es in der christlichen Liturgie selbstverständlich, Gott als Vater, Sohn und Geist anzusprechen und anzubeten.23 In diesen Gebetsformeln, die sich bereits in den jüngsten Schichten des Neuen Testaments finden (Mt 28,19), drückt die frühe Kirche ihren Glauben an die vielgestaltige Gegenwart Gottes aus: Gott ist Vater, Sohn und Geist. Der Vater hat die Welt erschaffen und erhält sie in ihrem Sein; er hat seinen Sohn in die Welt gesandt, er hat den am Kreuz Hingerichteten von den Toten erweckt und in seine Herrlichkeit erhöht. Der Sohn ist in Jesus von Nazareth Mensch geworden; er hat als dieser Mensch Gott in der Welt gegenwärtig werden lassen; sein Leben, sein Tod und seine Auferweckung eröffnen allen Menschen das Heil. Der Geist ist nicht nur die Kraft, in der Vater und Sohn miteinander verbunden sind, er vermittelt vor allem die bleibende Präsenz Gottes in der Welt; die Gemeinde der Glaubenden erkennt die durch den Geist geschenkte Gegenwart des Sohnes und weiß sich durch den Geist befähigt, in dieser Gegenwart zu leben; sie verdankt es dem Geist, dass sie – nicht zuletzt betend – auf diese Gegenwart antworten kann. Diese Überzeugungen waren in der Kirche lebendig, lange bevor von den drei Personen der einen göttlichen Natur die Rede war, lange bevor man von dem Ineinander der göttlichen Hypostasen und ihren Hervorgängen auseinander sprach. Weil die trinitarischen Formeln bei der Taufe wie in den Doxologien der offiziellen Liturgie schon früh recht fest geprägt waren, forderten sie das Nachdenken heraus. Sie stellten die theologische Reflexion vor die Aufgabe, das den Christen selbstverständliche Bekenntnis zu Vater, Sohn und Geist einerseits als monotheistisch zu erweisen, andererseits die Bezüge zwischen Vater, Sohn und Geist genauer zu bedenken. Eine erste Verhältnisbestimmung versuchte man in der verbreiteten Doxologie: »Ehre sei dem Vater durch den Sohn im Heiligen Geist.« Sie fasste gut den Glauben zusammen, dass dem Vater als der Quelle und dem Ursprung der Gottheit die Ehre gebührt, dass ihm diese Ehre vor allem durch den Sohn zuteil wird, dass der Sohn wie die zu ihm sich zählende Gemeinde »im Geist« betet und Gott verherrlicht. Doch diese Formel erwies sich als missverständlich. In den trinitätstheologischen Klärungsversuchen des späten dritten und des vierten Jahrhunderts beriefen sich die so genannten »Arianer« gerade auf sie. Denn in der Aussage, dass dem Vater durch den Sohn die Ehre zuteil wird, sahen sie ihre Auffassung bekräftigt, dass der Sohn eine Mittlerfunktion habe. Diese aber 23
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Vgl. Jürgen Werbick, Art. Trinitätslehre, in: Theodor Schneider (Hg.), Handbuch der Dogmatik, Düsseldorf 21995, Bd. 2, 481–576, 491 f.
könne er nur erfüllen und zugleich die Gottheit des einen Gottes unangetastet lassen, wenn er selbst nicht eines Wesens mit dem Vater sei, sondern eben eine zwischen Gott und Welt stehende Mittlergestalt. Die Konzilien des 4. Jahrhunderts haben dieses Verständnis bekanntlich zurückgewiesen. Und sie haben auf die wesentlich blassere, aber der nun gefundenen Trinitätstheologie angemessenere doxologische Formel zurückgegriffen: »Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist.«24 Gleichwohl hat sich in der römisch-katholischen Liturgie der Versuch erhalten, hier genauer zu sprechen. Für das so genannte eucharistische Hochgebet, in dessen Zentrum die Erinnerung an das Abschiedsmahl Jesu mit seinen Jüngern steht, gibt es verschiedene Textvorlagen. Sie alle enden mit dem gleichen Lobpreis: »Durch Christus und mit ihm und in ihm ist dir, Gott, allmächtiger Vater, in der Einheit des Heiligen Geistes alle Herrlichkeit und Ehre jetzt und in Ewigkeit.«25 Hier findet die Bedeutung der Menschwerdung Gottes in dem Beter Jesus von Nazareth einen prägnanten Ausdruck: Durch den Sohn, der Mensch wurde und als Mensch ganz dem Willen des Vaters lebte, wird Gott die Ehre gegeben; doch nicht allein dem Vater gebührt diese Ehre: Sie gilt auch dem Heiligen Geist – und dem Sohn. Denn wenn der Vater mit dem Sohn verherrlicht wird, dann auch der Sohn mit dem Vater. Und schließlich wird dem Vater die Ehre in Christus gegeben: Die in Christus verbundene, in seinem Geist betende Gemeinde zollt dem Vater Lob. Muslimen und Juden, erst recht Angehörigen weiterer Religionen werden diese diffizilen Sprachregelungen nicht nur fremd, sondern auch verwirrend vorkommen. Sie mögen sich trösten – den meisten Glaubenden im Christentum geht es nicht anders. Gleichwohl ringen diese scheinbaren theologischen Spitzfindigkeiten um das Wesentliche des Glaubens: um die bleibende Unterschiedenheit von Gott und Mensch, die aber zugleich so verbunden sind, dass Gott in der Sprache der Menschen, gar in der Gestalt eines Menschen erscheinen kann. Es geht um genau den Zusammenhang, der auch die Mitte jedes wahren Gebets bildet. 24
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Ebd.; ausführlicher bei Reinhart Staats, Das Glaubensbekenntnis von NizäaKonstantinopel. Historische und theologische Grundlagen, Darmstadt 21999, 104–114. Messbuch (s. Anm. 1), 489 u.ö.
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3. Gebet und Herrlichkeit Gottes Ich möchte noch einen weiteren, diesmal kritischeren Blick auf die liturgische Gebetstradition der römisch-katholischen Kirche werfen. Der Text, dem der Titel meines Vortrags entnommen ist, stammt ebenfalls aus dem offiziellen Messbuch der Kirche. Er ist einer Präfation entnommen. Präfationen leiten das bereits genannte Hochgebet ein und münden in das »Sanctus«, den großen Lobgesang, der aus biblischen Texten geformt ist. In der hier ausgewählten Präfation wird gebetet: »Unser Lobpreis kann deine Größe nicht mehren, aber uns bringt er Segen und Heil durch unseren Herrn Jesus Christus.«26 Vor dem Hintergrund eines Gottesbildes, das Gott Unendlichkeit, Allmacht und Allwissenheit als Eigenschaften zuweist, ist die einleitende Aussage eine Selbstverständlichkeit. Was soll das Lob von Menschen einem solchen Gott noch geben können, das er nicht längst schon besitzt? Wenn zudem, wie vor allem von der antiken Philosophie immer wieder betont wird, Gott Leidensunfähigkeit, das heißt Unberührbarkeit zugesprochen wird27 – welche Bedeutung soll das gezollte oder auch verweigerte Lob von Menschen für ihn haben? Was kümmern ihn die Menschen? Da ist es nur nahe liegend, wenn die Präfation mehr auf die Wirkung des Gotteslobes für die Menschen als auf dessen Bedeutung für den Gelobten schaut. Doch wer so von Gott spricht, spricht nicht die Sprache der Bibel. Und, wie in den muslimischen Beiträgen unserer Tagung zu hören war, auch nicht die Sprache des Koran. Denn beide bezeugen, dass Gott den Menschen nahe, dass er ihrem Schicksal eng verbunden ist (so herausragend Ex 3,7: »Der Herr sprach: Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich ge26 27
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S. Anm. 1. In der antiken Philosophie begegnet der Apathie-Begriff innerhalb ethischer Reflexionen und bezeichnet dort die Freiheit von Gemütsbewegungen, die die nüchterne Haltung ethischen Entscheidens gefährden. In diesen Überlegungen gründen dann auch metaphysische Überlegungen zur »Apathie«, zur »Unberührbarkeit« Gottes (vgl. Hans Reiner, Art. Apathie I., in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, 429–433). Zur christlich-theologischen Kritik eines solchen Gottesverständnisses vgl. Jürgen Moltmann, Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, Gütersloh 31976, 199–204.
hört. Ich kenne ihr Leid.« Der Koran betont: Gott ist dem Menschen »... näher als seine Halsschlagader« [Sure 50,16] oder »Wohin ihr euch (beim Gebet?) wenden möget, da habt ihr Gottes Antlitz vor euch.« [Sure 2,115]). Wenn zudem stimmt, was oben als Selbstverständnis der Betenden benannt wurde, wird die Aussage der Präfation noch problematischer: Beter können sich nur an Gott wenden, wenn und weil sie glauben, dass Gott ihnen die Fähigkeit und das Recht dazu geschenkt hat. Das heißt: Gott stellt es in die Freiheit der Menschen, ihm die Ehre zu geben. Die Konsequenzen dieser geschenkten Freiheit reichen, wie sich zeigte, sogar noch weiter: Indem Gott in der Sprache der Menschen zu den Menschen spricht und auf diese Weise in ihrer Welt wirklich sein will, macht er seine Gegenwart in ihrer Welt von ihnen abhängig. Gott schafft sich den Menschen als freies Gegenüber. Darin besteht seine wahre Größe. Aus Liebe zu den Menschen will er ihre Freiheit.28 Und in seiner Liebe zu den Menschen hofft er, dass sie seine Liebe erwidern. Denn erst in dieser Erwiderung, um die er wirbt und zu der er die Menschen in die Lage versetzt, finden die Menschen ihr Heil und kommt Gottes Liebe zum Ziel.29 Unvorstellbar ist es für Menschen, die sich von Gott geliebt wissen, dass ihr Lob für Gott unbedeutend wäre. Wird doch, wo es zu diesem Lob, wo es überhaupt zu aufrichtigem Gebet kommt, die Liebe Gottes verherrlicht und emporgehoben. Ein liebender Gott ist größer als ein unberührbarer Gott; ein geliebter Gott größer als ein Gott, dem nur Gleichgültigkeit oder gar Ablehnung begegnen. Deshalb wird eine biblische Gebetstheologie es eher mit dem heiligen Ignatius, dem Gründer des Jesuitenordens, als mit jener Präfation halten. Sein Wahlspruch lautete: »Alles zur größeren Ehre Gottes.« Die Ehre Gottes und mit ihr Gott können wachsen.30
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Vgl. Sören Kierkegaard, Reflexionen über Christentum und Naturwissenschaft, in: ders., Gesammelte Werke, hg. von Emanuel Hirsch/Hayo Gerdes, Bd. 17, Gütersloh 1983, 123–140, 124 f. Vgl. Thomas Pröpper, Er hat auf uns gehofft … Theologische Folgen des Freiheitsparadigmas, in: ders., Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg u.a. 2001, 300–321. Vgl. Karl Rahner, Thesen über das Gebet »im Namen der Kirche«, in: ders., Schriften zur Theologie, Bd. 5, Einsiedeln 1962, 471–493. Rahner setzt sich hier (472–474) mit den Aussagen der theologischen Tradition über die »Mehrung der (äußeren) Ehre Gottes« auseinander.
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4. Viele Gebete und ein Gott? Gott die Ehre zu geben – in diesem Ziel des Lebens und des Gebets können sich Menschen verschiedener Religionen, können sich auch Muslime und Christen vermutlich leicht treffen. Doch ist deshalb das Gebet gleich eine Quelle der Verständigung, gar Einheit? Erhebliches spricht nach den bisherigen Überlegungen dagegen. Mit einer – für den christlichen Glauben – inneren Notwendigkeit führte das Nachdenken über das Gebet zu Christologie und Trinitätstheologie. Und dies nicht nur, nicht einmal vor allem, weil Jesus von Nazareth denen, die an ihn glauben, ein vorbildhafter Beter ist. Der eigentliche Grund für die christologische Prägung der Gebetstheologie liegt darin, dass das Gottesverhältnis, das sich im Gebet ausdrückt und realisiert, für den christlichen Glauben in Christus gründet, von ihm vermittelt wird. Damit ist einem gemeinsamen Gebetsverständnis über die Grenzen der Religionen hinweg eine klare Grenze gezogen: Ein solches christologisches und pneumatologisches Verständnis des Gebets können Menschen, die sich nicht zum Christentum zählen, nicht teilen. Es ist für muslimische Theologie und für jüdisches Denken vielleicht achtenswert, aber sicher nicht rezipierbar. Diese Grenze wird bleiben, solange diese Religionen von ihrer Identität nicht lassen wollen – und solches Lassen kann kein Ziel sein. Angesichts dieser Grenze, angesichts des allzu häufigen Scheiterns selbst ernsthaftester Bemühungen um Verstehen und Anerkennung liegt es nahe zu resignieren. Doch wiederum ist es gerade das Gebet, das dieser Gefahr wehren kann und wehren wird. Die prophetische Tradition des Judentums hat ein ganz eigenes Verständnis der Erwählung Israels entwickelt: Israel ist erwählt von Gott, der der Gott aller Menschen ist. Es hat seine besondere Aufgabe darin, in einer Weise, die nur für Israel bindend ist, Zeuge dieses Gottes und damit »Licht für die Völker« (Jes 60,3) zu sein, die »am Ende der Tage« hinzukommen werden, um von Gott ihrerseits die ihnen geltende Weisung zu empfangen (Jes 2,1–5). Die Weise, in der Israel seiner Aufgabe gerecht werden soll, ist die Treue zur Thora, die zur Heiligung des Namens Gottes in Leben und Gebet auffordert.31 Die christliche Kirche bekennt, dass Gott den Menschen zugewandt ist, dass er ihnen, unabhängig von jeder 31
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Emmanuel Lévinas, Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt 1992, 34, spricht deshalb von einer »Auserwählung, die nicht in Privilegien, sondern in Verantwortlichkeiten besteht«.
eigenen Leistung, das Heil schenken will und schenken wird (Röm 3,21). Endgültig, unwiderruflich sichtbar geworden ist nach christlichem Glauben diese unbedingte Liebe Gottes in Leben und Geschick Jesu von Nazareth. Im Vertrauen auf diese allen Menschen geltende Liebe wenden sich Christinnen und Christen betend an den dreieinen Gott, verbinden den Dank für das geschenkte mit der Bitte um das noch ausstehende Heil für alle Menschen.32 Im Islam steht die Barmherzigkeit Gottes im Zentrum von Glauben und Bekenntnis. Im Vertrauen auf diese Barmherzigkeit bitten Muslime um die Rechtleitung nicht nur ihrer selbst, sondern aller Menschen.33 Wer ernsthaft in einer dieser Traditionen betet, kann die Grenzen des eigenen Verstehens und Glaubens nicht für die Grenze der göttlichen Barmherzigkeit halten. Solches Beten wird vielmehr zu der Hoffnung führen, dass es der eine Gott ist, der auch von den anderen im Gebet angesprochen wird. Das Gebet führt in die »Pflicht, für alle zu hoffen«34. Die dem Gebet eigene Hoffnung kann sich verbinden mit der philosophischen These, dass Gott in der Sprache des Gebets für die Menschen wirklich wird. Die Sprache der Menschen aber gibt es nur im Plural. Die Sprachen des Gebets sind so zahlreich wie die Menschen. Allerdings herrscht hier kein unbegrenzter Individualismus. Die religiösen Traditionen haben den Sprachen Formen gegeben, in denen Menschen beten lernen und beten können – ihnen eine Gestalt geben, in denen Gott den Betenden wirklich wird. Diese Hoffnung darf keinesfalls verwechselt werden mit dem heute immer wieder geforderten Verzicht auf die inhaltlich bestimmte, von der je eigenen Tradition geprägten Rede von und zu Gott. Denn die im Gebet lebendige Hoffnung, dass die Barmherzigkeit Gottes die Menschen auf vielfältigen Wegen erreichen kann, gründet gerade in der Überzeugung 32
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So spricht das Zweite Vatikanische Konzil davon, dass Gott »jeden Menschen erleuchtet, damit er schließlich das Leben habe« (DH 4140). Selbst Karl Barth, dem oft ein Verständnis göttlicher Vorherbestimmung vorgeworfen wird, das die Menschen in Erwählte und Verdammte teile, betont: »Gerade die Erwählten jedenfalls haben im Blick auf ihre eigene Erwählung und also im Blick auf den einen Verworfenen, der alle ihre Sünde auf sich genommen hat, keine andere Möglichkeit als die, auch von den Anderen, mögen sie sein, wer und was sie wollen, zu erwarten, daß ihre eigene Auszeichnung auch die ihrige sein möchte« (Karl Barth, Kirchliche Dogmatik II/2, Zürich 31948, 385). Vgl. etwa Sure 3,64, in der es um die Rechtleitung der »Schriftbesitzer« geht. Hans Urs von Balthasar, Kleiner Diskurs über die Hölle, Ostfildern o.J., 42.
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von dieser Barmherzigkeit und macht sie zum Maßstab, an dem sich Form und Gehalt der eigenen wie der fremden Religionen zu messen lassen haben. Nur wenn und weil sie an der Gestalt festhält, die diese Liebe Gottes in der eigenen Tradition gefunden hat, kann die Hoffnung selbst die Traditionen, die ihr fremd bleiben, als angemessene Gestalt dieser Liebe erhoffen und anerkennen.35 Naivität allerdings wäre hier unangemessen. In wohl jeder Religion gibt es ein Beten, das von einem angemessenen Sprechen zu Gott, das von den Traditionen, die das Beten formen wollen, Welten entfernt ist. Ich unterstelle ohne Bedenken, dass es nicht nur im christlichen Beten viele Versuche gibt, Gott nicht zu ehren, sondern zu belehren; die sich nicht vor ihm zur Sprache bringen, sondern ihm die Worte im Mund umdrehen; die sich nicht auf ihn und seinen Willen einstimmen, sondern ihm den eigenen Willen aufzuzwingen suchen. Viele Weisen, in denen Menschen meinen, zu Gott zu sprechen, haben mehr mit Magie und Aberglaube als mit Gebet zu tun. Und allzu oft dürften die Gebete geprägt sein von einer Furcht, die der Ehrfurcht fremd ist. Wo gebetet wird, ist deshalb immer auch die Theologie gefragt, damit das Beten nicht gedankenlos wird.36 Um zur notwendigen Klarheit der Betenden wie des Betens zu finden, kann nicht zuletzt der ernsthafte Blick auf das Beten und die Gebetstheologie der anderen eine Hilfe sein.37 In Achtung und Kritik der jeweils anderen kann deutlich werden, was es für einen selbst heißt, »auf rechte Weise« zu beten. Hier können nicht nur die Mystiker, sondern alle Glaubenden der verschiedenen Traditionen voneinander lernen. Gemeinsames Ziel bleibt die Ehre Gottes. Doch wo es um sie geht, werden immer auch die Menschen in all ihrer Verschiedenheit geachtet werden. Prägnant kommt eine solche Gemeinschaft in der Suche um das Gebet in einem jüdischen Gebet zum Ausdruck – und damit in einer Tradition, der Islam wie Christentum viel zu verdanken haben. Ein Ausschnitt 35
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Vgl. Michael Bongardt, Aufs Ganze sehen. Der Inklusivismus eines glaubenden Blicks auf die Welt, in: Salzburger Theologische Zeitschrift 4 (2000), 142–154, 153 f. Vgl. Richard Schaeffler, Das Gebet und das Argument. Zwei Weisen des Sprechens von Gott. Eine Einführung in die Theorie der religiösen Sprache, Düsseldorf 1989, 301–307. Vgl. Bernhard-Maria Janzen, Spiritualität als Brücke – Das interreligiöse Gespräch. Christliche Spiritualität im Dialog der Religionen unter besonderer Berücksichtigung des Buddhismus, in: Matthias Blum/Rainer Kampling, Grenzen (s. Anm. 16), 145–158.
aus diesem Gebet soll am Ende dieses Nachdenkens über das Beten stehen: »Lass uns das, was wir teilen, als gemeinsames Gebet der Menschheit vor dich bringen; und lass uns das, was uns trennt, als Zeichen der wunderbaren Freiheit der Menschen ansehen«.38
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Jonathan Magonet/Walter Homolka (Hg.), Seder hat-tefillot. Das jüdische Gebetbuch, Gütersloh 1977, Bd. 1, 573.
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Theologie des Herzens Im Gebet Liebe und Nähe Gottes erfahren Hamideh Mohagheghi
»O mein Gott, die beste Deiner Gaben in meinem Herzen ist die Hoffnung auf Dich; und das süßeste Wort auf meiner Zunge ist Deine Lobpreisung; und die Stunden, die ich am meisten liebe, sind die, in denen ich Dir begegne. O mein Gott, ohne das Deiner-Gedenken kann ich diese Welt nicht ertragen; und wie soll ich ohne die Vision von Dir die nächste Welt ertragen? O mein Herr, die Klage, die ich Dir vorbringe, ist die, dass ich ein Fremder bin in Deinem Lande und einsam unter Deinen Anbetern.«1 Dieses Gebet von RabiÞa von Basra, der bedeutenden muslimischen Mystikerin des 8. Jahrhunderts, bringt das Verständnis von Gebet in der islamischen Sufitradition zum Ausdruck. Gebet wird in diesem Zitat als eine Begegnung mit Gott dargestellt, in der der Mensch die Freude und die Zufriedenheit empfindet, die wiederum durch die Begegnung mit Gott entsteht. Die diesseitige und jenseitige Welt wird erträglich, weil man im Gebet Gott anschauen kann. Diese Auffassung entstammt zwar einer Tradition im Islam, der nicht die Mehrheit der Muslime angehören; dennoch entsprechen einige Aspekte in dieser Tradition dem Gebetsverständnis des Koran und der klassischen islamischen Traditionen. Das Gebet hat im Islam verschiedene Bedeutungen und Formen und wird im Koran mit unterschiedlichen Begriffen erwähnt. Sie alle haben eine gemeinsame Bedeutung: Gebet wird als Gespräch zwischen Geschöpf und Schöpfer verstanden. Der Mensch sucht im Gebet die Nähe zu Gott, trägt Ihm darin seine Wünsche vor und hält dadurch die Verbindung zu Ihm aufrecht. Gebet ist Anbetung, direkte Anrufung, Lobpreisung des einen einzigen Gottes und klagende Bitte. Es baut eine Brücke
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Margaret Smith, RabiÞa von Basra. Oh, mein Herr, Du genügst mir!, Bonn 1997, 51.
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zwischen Mensch und Gott und ermöglicht eine Begegnung in den höheren und unbekannten Welten sowie in der inneren Welt der Menschen.
1. Das Gebet als Ausdruck des Gott-Mensch-Verhältnisses Gott ist nach islamischem Verständnis Schöpfer und Erhalter der Schöpfung; durch Seinen Willen wurden das Universum und alle Geschöpfe ins Dasein gerufen. Er ist der barmherzige, vergebende, sich zuwendende, liebende Gott, der als Richter am jüngsten Tag über die Handlungsweise der Menschen richten wird. Er steht den Menschen sehr nah, gleichzeitig ist Er eine transzendente und übergreifende Kraft, von der alles abhängig ist, was existiert. Durch das Einhauchen Seines Geistes als lebensschenkende Kraft bei der Erschaffung des Menschen ist er in jedem Menschen gegenwärtig. »Er tritt ein zwischen dem Menschen und seinem Herz«, wie es in Sure 8,24 beschrieben ist.2 Das Herz ist der Ort der Zuneigungen, Wünsche und inneren Wahrnehmungen. Gott betont in dem erwähnten Vers Seine Anwesenheit im Herzen der Menschen; Seine Existenz in diesem Ort gibt dem Herzen Kraft, sich von falschen Neigungen und Wünschen zu distanzieren und frei für das Wirken Gottes zu werden. Der Prophet Muhammad pflegte in seinem Gebet zu sprechen: »Gott, Wender der Herzen, festige mein Herz in Deiner Religion.«3 Die Anwesenheit Gottes befähigt den Menschen, sich seiner inneren Stimme zuzuwenden, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und entsprechend zu handeln. Der Mensch gilt im Islam als »Statthalter«4 auf dieser Welt, der in seinem irdischen Leben die Aufgabe hat, verantwortungsbewusst zu 2
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Als Basis verwende ich die Übersetzung: Der Heilige QurÞÁn. Arabisch und deutsch, dritte, neu bearbeitete Auflage; hrsg. unter der Leitung von Hazrat Hafiz Mirza Nasir Ahmad, im Vergleich mit anderen Übersetzungen und nehme notwendige Änderungen vor, um den Feinheiten der arabischen Sprache möglichst gerecht zu werden. Zit. nach: Die Bedeutung des Korans, Teil 9 und10, München 1988, 23. Vgl. Charles Le Gai Eaton, Der Islam und die Bestimmung des Menschen, München 1994, 338: »Als Geschöpf ist der Mensch alles und nichts; in der Praxis muss er sich jedoch entscheiden, alles oder nichts zu sein. Gemäß einem Ausspruch des Propheten nach dem Bilde Gottes erschaffen – ein theomorphisches Wesen, dessen Natur wie in einem Spiegel die ›Namen‹ oder Eigenschaften seines Herrn widerspiegelt –, ist er trotzdem ein Geschöpf von Fleisch und Blut, geformt aus der Erde, auf der er eine kleine Weile wandert, und dazu verurteilt, wieder in sie zurückzufallen; ein widerspensti-
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leben. Er ist Diener Gottes und dafür geschaffen, Gott zu dienen (Sure 51,56). Was bedeutet es, »Gott zu dienen«? Da die gesamte Aufgabe des Menschen in dieser Handlung beschrieben wird, können damit nicht nur das rituelle Gebet und gottesdienstliche Handlungen gemeint sein. Die gesamten Taten der Menschen werden im Islam als Gottesdienst verstanden, wenn diese im Sinne der Bewahrung der Schöpfung und basierend auf einem respektvollen und bewussten Umgang mit Ressourcen und Mitgeschöpfen durchgeführt werden. Der Mensch soll stets daran erinnert werden, dass er nicht der Eigentümer, sondern nur der vorübergehende Besitzer dessen ist, was Gott ihm für eine kurze Zeit zur Verfügung gestellt hat. Der Mensch ist nicht ein willenloser und unfreier Knecht, der der Willkür und Tyrannei seines Schöpfers ausgesetzt ist. Er wurde mit Vernunft, Entscheidungs- und Denkvermögen ausgestattet und hat die Möglichkeit, gegen den Willen des Schöpfers zu handeln. Mit seiner freien Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeit ist er auch der Gefahr ausgesetzt, seinen niederen Trieben und Wünschen nachzugehen und sich von Gott zu entfernen. Er ist stets auf Zuwendung, Barmherzigkeit und Beistand Gottes angewiesen, um seine Möglichkeiten und Fähigkeiten nutzen zu können. Die Beziehung zwischen Mensch und Gott spiegelt sich in der schönen Beschreibung im folgenden Satz aus der Sufitradition wider: »Ich war ein verborgener Schatz und wollte entdeckt werden, darum schuf Ich.« Gott schuf mit Liebe und wendete sich der Schöpfung zu und stellte sich als »verborgener Schatz« zur Verfügung. Er machte sich die Barmherzigkeit als Pflicht, wie es in Sure 6,12 heißt, und somit versicherte Er auch den Menschen Seiner umfassenden und übergreifenden Gnade und Barmherzigkeit. Es liegt an den Menschen, diese in Anspruch zu nehmen und durch ihr Handeln die Liebe und Nähe Gottes zu erfahren. Das Wort, das in der deutschen Übersetzung des Koran als »Glaube« übersetzt wird, heißt ÐmÁn, »sich Gott anvertrauen«5. Es beschreibt eine
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ges Geschöpf, erfüllt von nicht zu stillenden Begierden und ständig versucht, sie auf niedrigster Ebene zu befriedigen, unterhalb seines eigenen Niveaus zu leben. Dies ist das Paradoxon, das den menschlichen Gegebenheiten zugrunde liegt.« Vgl. Richard Gramlich, Islamische Mystik. Sufische Texte aus zehn Jahrhunderten, Stuttgart 1992, 56: »Gott vertrauen bedeutet, dass man den Leib in die Knechtschaftlichkeit wirft und das Herz sich an der Herrschaftlichkeit Gottes festhält und man mit ruhiger Zuversicht auf die genügende Versorgung baut. Wenn einem gegeben wird, dankt man, wenn einem verweigert wird, übt man Geduld in Zufriedenheit und in sein Schicksal ergeben.«
Gewissheit, den Garant für ein Leben in Vertrauen und Zuversicht sowie das Ertragen dessen, was dem Menschen widerfährt. In Sure 2,216 heißt es, dass der Mensch sich darin täuschen kann, was gut oder schlecht für ihn ist: »Es ist möglich, dass euch etwas missfällt, was gut für euch ist, und es ist auch möglich, dass euch etwas gefällt, was für euch übel ist.« Aus diesem Vers wird gefolgert, dass der Mensch nicht klagen darf; er sollte mit allem zufrieden sein, was ihm widerfährt. Die Überzeugung, dass das Gute von Gott stammt und der Mensch selbst das Schlechte verursacht (Sure 4,79), prägt die muslimischen Klagegebete. Darin beklagt der Mensch die eigenen Unzulänglichkeiten und die Umstände, die das Leid verursachen, lobt die Güte und Macht Gottes und bittet Ihn um Hilfe und Beistand. Die Emotionen und Gefühle der Menschen sind in ihrer Natur angelegt; sie schenken ihm Liebe und Freundschaft sowie Schutz vor Gefahren. Sie angemessen zu zeigen und besonders in den Notsituationen sich klagend an Gott zu wenden, gehört zum natürlichen menschlichen Empfinden: »Wer ist es, Der die in Not geratene Seele erhört, wenn sie Ihn anruft, und das Übel abwendet und Der euch zu Statthaltern auf Erden macht? Gibt es eine Gottheit neben Gott?« (Sure 27,63) Es gibt zahlreiche Bittgebete für Not- und Leidsituationen; sie sind Ausdruck des Aufschreis der »schmerzenden Seele« wie Trost und Hoffnung; mit ihnen wendet man sich einer Kraft zu, von der man unbegrenzte Unterstützung und Hilfe erwarten kann, was folgendes Gebet beispielhaft illustriert: »O Gott, Du bist mein Vertrauen in jedem Kummer, meine Hoffnung in jeder Not und meine Stütze in allen Dingen. Was immer mir geschieht, ich vertraue auf Dich und nehme Dich als Schutz. Wieviel Kummer, da die Kräfte schwach wurden und keine List etwas nutzte, da die Geschehnisse mich lähmten, da die Nahestehenden mich enttäuschten und der Feind sich freute, habe ich Dir vorgelegt und Dir geklagt, weil ich auf Dich allein hoffe und auf niemand anderen! Und Du hast mich gehört und den Kummer von mir genommen, denn Du bist der Verwalter aller Gnade und das Ziel aller Wünsche, und Dir gebührt reiches Lob und großer Dank.«6
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Zit. nach Annemarie Schimmel, Dein Wille geschehe. Die schönsten islamischen Gebete, Bonndorf 1995, 11.
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2. Verschiedene Formen des Gebets Für das Gebet gibt es im Koran vier verschiedene Begriffe, die im Folgenden etwas näher zu erläutern sind: ÒalÁt, duÝÁÞ, Æikr und tasbiÎa. Den Begriffen korrespondieren vier Formen des Gebets.
2.1.
Gebet als ÒalÁt 7 »Verrichtet das Gebet und habt Ehrfurcht vor Ihm. Er ist es, vor Dem ihr versammelt werdet.« (Sure 6,72)
Das Wort ÒalÁt wird für die obligatorischen Gebete verwendet, die im Koran in einigen Aspekten beschrieben und begründet werden. Das fünfmalige tägliche Gebet wird im Volksglauben als Leistung des Menschen verstanden, die im Jenseits belohnt wird. Das Pflichtgebet ist jedoch nicht nur ein Befehl Gottes, den man ausführen muss, um belohnt bzw. nicht bestraft zu werden, vielmehr hat es eine positive Wirkung auf die Einstellung und die Handlungsweise des Menschen: Das Gebet, das mit Ehrfurcht vor Gott verrichtet wird, erzieht den Menschen vorrangig dazu, demütig und bescheiden zu leben – Eigenschaften, die vor Überheblichkeit und Vermessenheit schützen. Die Wurzel des Wortes ÒalÁt ist Òalla und bedeutet: das Gebet verrichten und segnen. Die obligatorischen Gebete sind Zwiegespräche zwischen Mensch und Gott, die täglich zu bestimmten Zeiten verrichtet werden, damit im alltäglichen Leben die ständige Verbindung zu Gott aufrechterhalten wird und der Mensch in den entscheidenden Tagesabschnitten Raum dafür findet, sich zurückzuziehen, und nicht Gott und sich selbst vergisst. Die genaue Zeit und die Form des Gebetes werden im Koran nicht ausführlich dargestellt, sie wurden durch die Tradition des Propheten Muhammad an die Muslime weitergegeben. 7
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Annemarie Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus, München 1995, 215: »›Ritualgebet ist der Schlüssel zum Paradies‹, sagt eine Tradition; aber für den Mystiker war es noch mehr. Einige verbanden das Wort ÒalÁt mit der Wurzel waÒala – ankommen, verbunden sein –; so wurde das Gebet für sie zur Zeit der Verbindung, zum Augenblick der Nähe zu Gott. Stellte nicht der Koran oftmals fest, dass alle Geschöpfe ins Dasein gebracht worden waren, um Gott anzubeten? Deshalb waren diejenigen, die besondere Nähe zum Herrn zu erlangen und ihren Gehorsam, ihre Liebe zu beweisen suchten, auch diejenigen, die dem Ritualgebet die größte Wichtigkeit zuschrieben. Ja, sie mochten sogar imstande sein, den Todesengel warten zu lassen, bis ihr Gebet beendet war.«
Die obligatorischen Gebete stehen in allen Stellen im Koran in Verbindung mit zakÁt, die Abgabe an bedürftige Menschen: »›Und als Wir einen Bund mit den Kindern Israels schlossen, in dem sie verpflichtet wurden: Betet nichts außer Gott an und seid gütig zu den Eltern, den Nahestehenden, den Waisen und den Bedürftigen und sprecht zu den Menschen in schöner Art und verrichtet das Gebet und zahlt die Bedürftigensteuer (zakÁt).‹ Danach habt ihr euch davon abgewandt außer einigen wenigen von euch und ihr seid die abkehrenden.« (Sure 2,83) Der Koran erinnert an einigen Stellen an den Bund mit den Kindern Israels und die Verpflichtungen, die durch diesen Bund ihnen zugeteilt wurden, um in Erinnerung zu rufen, dass diese die verbindlichen Verpflichtungen für alle Menschen sind. In Sure 2,83 wird das Verhalten gegenüber Mitmenschen besonders hervorgehoben, und dem Gebet wird ein Platz zwischen den Verantwortungen zugewiesen, die man gegenüber anderen Menschen hat. Das Gebet ist die Pflicht gegenüber Gott und die zakÁt ist die Pflicht gegenüber Not leidenden Menschen. Diese beiden Pflichten sind eng miteinander verbunden: »Und gewähre uns in dieser Welt das Gute wie im Jenseits! Gewiss wir wenden uns Dir zu. Er sagte: Mit Meiner Strafe treffe Ich denjenigen, den Ich will, und Meine Barmherzigkeit umfasst alle. Dann werde Ich diese für diejenigen bestimmen, die Ehrfurcht vor Gott haben, die Bedürftigensteuer zahlen und auf Unsere Zeichen vertrauen.« (Sure 7,156) Der Glaube und das Gebet sind nicht losgelöst von der Verantwortung, die der Mensch gegenüber seinen Mitmenschen hat, und in bestimmten Situationen sind beide ihr sogar untergeordnet: »Frömmigkeit ist nicht, dass ihr eure Gesichter beim Gebet dem Osten oder dem Westen zuwendet; Frömmigkeit ist vielmehr, an Gott zu glauben, den jüngsten Tag, die Engel, das Buch und die Propheten, von dem Besitz – obwohl man ihn liebt – zu geben den Verwandten, den Bettlern und für das Freikaufen von Sklaven, das Gebet zu verrichten und zakÁt zu geben. Fromm sind diejenigen, die ihr Versprechen halten, wenn sie es gegeben haben, und diejenigen, die in Elend, Not und zu Zeiten von Unheil geduldig sind. Sie sind es, die wahrhaft und gottesfürchtig sind.« (Sure 2,177) Obwohl das Gebet als wichtigste Pflicht im Islam verstanden wird, zeigt dieser Vers, dass es dann eine Bedeutung hat, wenn es nicht auf äußerli59
che Formen reduziert wird; der Inhalt, die Botschaft, die erzieherischen Aspekte und die Wirkung des Gebetes sind von Bedeutung. Im oben erwähnten Vers sind die sozialen Beziehungen der Menschen höher gestellt als das Gebet. Die Bereitschaft zum Teilen und Abgeben von dem, was man selbst als Geschenk von Gott erhält, ist eine Handlung, die einerseits die Abhängigkeit des Menschen von den materiellen Gütern relativiert und andererseits ermöglicht, dass mehr Menschen an der Gnade und den Gaben Gottes teilhaben. Dieses Verhalten könnte ein Beitrag dazu sein, dass die Ressourcen auf der Welt gerecht verteilt werden. Das Gebet soll daran erinnern, dass unser Besitz nicht nur durch unsere Leistung erworben ist, sondern ein Geschenk Gottes ist, das wir dankbar annehmen und andere daran teilhaben lassen sollten. Weiter ist im erwähnten Vers das Einhalten von Versprechen genannt. Sie dürfen nicht gebrochen werden, da sonst das Vertrauen und die Zuversicht in die Gesellschaft schwinden. Dies kann die Gemeinschaft destabilisieren und den Beziehungen zwischen den Menschen erheblich schaden. »Und sucht Hilfe in Geduld und Gebet!« (Sure 2,45) Gebet und Geduld als Hilfe in den schwierigen Situationen schenken den Menschen Halt und Vertrauen darauf, dass alles auf dieser Welt einen Sinn hat. Das Wort Òabr, das hier mit »Geduld« übersetzt wird, bedeutet in der arabischen Sprache Ausdauer, Standhaftigkeit und Entschlossenheit in den Absichten sowie gefasste und einsichtige Hinnahme von Leiden, Misserfolg oder Kummer. Das Gebet beruhigt in solchen Situationen und ermöglicht, mit Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit und Weisheit eine Lösung zu finden. Interessant ist, dass das Wort beten (Òalla, yuÒalla) auch für Gott und die Engel verwendet wird. In Sure 33,43 heißt es, dass Gott und die Engel für die Menschen beten, damit sie aus der Finsternis zum Licht geführt werden. Gott nimmt von Seiner Seite eine Verbindung auf und sendet Seine Namen als »Segensimpulse zu Menschen, so dass sie in der raumzeitlich begrenzten Form, in der sie in Menschen angelegt werden, sich entfalten«.8 Somit werden diese Eigenschaften zu Kräften, die dem Menschen ermöglichen, positiv zu handeln und zu wirken, und damit verwirklicht Gott sein Gebet für die Menschen.
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ŠahÐd MoÔaharÐ, MaºmÙÝe-ye Á³Ár (= Gesammelte Werke), Teheran 1996, Bd. 3, 520.
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Die Körperhaltung in den obligatorischen Gebeten ist ein Ausdruck der Hingabe an Gott: Das aufrechte Stehen in allen Gebetseinheiten drückt die Bereitschaft zum Hören und Handeln aus, die Verbeugung zeigt Demut und Unterwürfigkeit vor Gott. Mit der Niederwerfung, in der die Stirn die Erde berührt, wird dem Menschen bewusst, dass er ein kleiner Teil der Schöpfung ist und dass er selbst aus der niederen Materie Erde geschaffen ist. In demütiger Hingabe zu Gott durch Niederwerfung wird der Mensch wieder lebendig und bedeutend und kann aufrecht stehen. Die wechselnde Körperhaltung macht das Gebet zu einem Mittel der Selbsterkenntnis und zu einer erfahrbaren Kraft für das Leben in Vertrauen und Annäherung zu Gott. Die Waschung vor dem Gebet ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil des Gebetes. Im Gebet steht der Mensch vor Gott, und dementsprechend muss er auch vorbereitet sein, die Waschung ermöglicht ihm sowohl eine physische als auch eine innerliche und gedankliche »Reinigung«, um die Anwesenheit und die Worte Gottes wahrnehmen zu können.
2.2.
Gebet als duÝÁÞ »Wer ist es, Der die in Not geratene Seele erhört, wenn sie Ihn anruft, und das Übel abwendet und Der euch zu Statthaltern auf Erden macht?« (Sure 27,62)
Der zweite Begriff für das Gebet im Koran ist duÝÁÞ aus der Wurzel dÝa (rufen, anrufen, auffordern). Gott spricht in Sure 2,186 zum Propheten Muhammad, dass er, wenn Seine Diener nach Ihm fragen, antworten soll: »Ruft mich, Ich bin nah.« Gott offenbart sich an dieser Stelle den Menschen durch Seine Liebe. Er wendet sich an die Menschen, ermutigt sie, Ihn anzurufen, und baut eine Beziehung auf, die auf Nähe und Kommunikation beruht.9 DuÝÁÞ ist nicht nur eine Lobpreisung, sondern eine Aufforderung, etwas zu erreichen. Die rhetorische Frage in Sure 27,62 beschreibt ausdrücklich, dass Gott derjenige ist, der die Anrufungen hört und darauf antwortet. In einigen Versen wird erwähnt, dass der Mensch mit Konsequenzen zu rechnen hat, wenn er für seine Angelegenheiten andere außer Gott um Hilfe bittet. In den Interpretationen und Überlieferungen wird die Meinung vertreten, dass Gott die Anrufung der Gläubigen liebt, wenn sie vom Herzen kommt. Daher kann auch die Antwort verzögert kommen, weil Gott diese Stimmen liebt und sie öfter hören 9
Vgl. Annemarie Schimmel, Muhammad Iqbal. Prophetischer Poet und Philosoph, München 1989, 157 ff.
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möchte. Mit einem ehrlichen und vom Herzen kommenden Ruf ist die Antwort und Erhörung verbunden, es sei denn, dass der Mensch etwas fordert, was nicht gut für ihn ist. In der Anrufung stärken die Komponenten Ehrfurcht und Hoffnung das Vertrauen darauf, dass Gott die vorgetragenen Bitten erfüllen wird. »Der Hörende« ist einer der Namen Gottes; ein Attribut von Ihm, der Garant für das Hören und Reagieren ist. Er antwortet, indem Er Trost schenkt, Erleichterung und Heilung veranlasst oder den Menschen befähigt, selbst eine Lösung zu finden. Unter den Eigenschaften, die dem Menschen im Koran zugeschrieben werden, ist die Voreiligkeit und Undankbarkeit: »Und wenn den Menschen ein Unglück trifft, so fleht er zu seinem Schöpfer und Erhalter, und wendet sich zu Ihm. Dann aber, wenn Er ihm eine Gnade gewährt hat, vergisst er, um was er Ihn zuvor zu bitten pflegte, und setzt Gott Rivalen zur Seite [...].« (Sure 39,8) Der Mensch verfällt immer wieder in Undankbarkeit und vergisst Gott, obwohl er Ihn in seiner Not gerufen und auch eine Antwort bekommen hat. Die Barmherzigkeit Gottes aber lässt alle Türen offen, so dass der Mensch Ihn immer wieder anrufen und auffordern kann. Es gibt zahlreiche duÝÁÞ für alle Lebenssituationen und Notlagen und auch Bittgebete von namhaften Persönlichkeiten und Gelehrten, die gerne von Muslimen herangezogen werden. Ein Beispiel dafür ist folgendes Gebet: »O Gott, ich nehme Zuflucht zu Dir von einer unersättlichen Triebseele, vor einem Herzen, das nicht demütig ist, vor Anbetung, die Du nicht annimmst, und vor Gebeten, die nicht erhört werden, und ich nehme Zuflucht bei Dir vor dem Übel des Kummers und dem Aufruhr des Herzens.«10 Dieses Bittgebet ist vom Propheten Muhammad überliefert. Darin wird die Demut und Ruhe im Herzen erbeten, damit die niederen materiellen Wünsche der Triebseele nicht Oberhand gewinnen und den Menschen von Gott entfernen. In der schiitischen Tradition ist die Bittgebetssammlung ÒaÎÐfa saÊÊÁdÐya – eine Überlieferung von Imam Zain ul Abedin, dem nach der schiitischen Überzeugung viertem Imam –, eine bedeutende Sammlung, die Bittgebete für bestimmte Anlässe, bedeutende religiöse Festtage und Trauertage beinhaltet. Das folgende Gebet ist ein Teil des Bittgebets zur Begrüßung des Fastenmonats Ramadan: »O Schöpfer und Versorger, segne Muhammad und seine Nachkommenschaft und inspiriere unsere Herzen, auf dass wir die her10
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Dies., Dein Wille geschehe (s. Anm. 6), 65.
ausragende Bedeutung dieses Monats erkennen, damit wir ihn entsprechend würdigen. Lass uns alle der Dinge enthalten, die Du in diesem Monat verboten hast, und hilf uns, das Fasten durchzustehen, indem wir unsere Glieder davor bewahren, Dir ungehorsam zu sein, und sie für das einsetzen, was Dir wohlgefällig ist. Steh uns bei, damit wir unsere Ohren nicht eitlem Geschwätz leihen und unsere Augen nicht auf Schändlichkeiten richten, damit wir unsere Hände nicht nach Unerlaubtem ausstrecken und mit unseren Füßen nicht Verbotenes betreten, damit wir unsere Leiber nicht füllen, außer mit dem, was Du erlaubt hast, und unsere Zungen nichts sprechen außer Dir Wohlgefälliges, und dass wir uns nicht selbst erhöhen, es sei denn in unserem Streben zu Dir, und dass wir nichts tun außer das, was uns vor Deiner Strafe bewahrt [...]. O Schöpfer und Versorger! Wenn wir in diesem Monat vom Wege abweichen, dann führe uns auf den richtigen Weg zurück; und wenn wir zögern, dann gib uns Entschlossenheit, und wenn der Widersacher, Dein Feind, uns überwältigt, dann befreie uns von ihm! O Schöpfer und Versorger! Erfülle diesen Monat allein mit unserer Anbetung von Dir und schmücke seine Augenblicke mit unserem Dienst für Dich. Hilf uns am Tage, das Fasten zu beachten und in der Nacht in unseren Gebeten wachsam zu sein und Dich anzuflehen, damit wir uns demütig vor Dir erweisen und uns in Deiner Gegenwart relativieren, so dass weder seine Tage unsere Nachlässigkeit noch seine Nächte unser Versäumnis belegen. O Schöpfer und Versorger! Wie Du uns in diesem Monat zu Guten verholfen hast, so lass uns in den übrigen Monaten und Tagen sein, solange Du uns am Leben erhältst und lass uns zu Deinen rechtschaffenen Dienern gehören, denjenigen, die das Paradies erben und ewig darin weilen werden, jenen, die das, was sie spenden mit ehrfürchtigen Herzen geben, denn wahrlich, sie sollen zu ihrem Schöpfer und Versorger zurückkehren. Geselle uns zu jenen, die bereitwillig von sich geben und darin keine Zurückhaltung zeigen. O Schöpfer und Versorger! Segne Muhammad und seine Nachkommenschaft, zu jeder Zeit und in jedem Monat, und in jeder Situation, gleich der Anzahl Deiner Segnungen, die Du all denjenigen erwiesen hast, die Deiner würdig sind.
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Und sende noch viel mehr Segnungen herab, die niemand außer Dir Selbst berechnen kann, denn gewiss, Du bist der beste Vollzieher dessen, was Du beschlossen hast.«11 Der Inhalt der Bittgebete der ÒaÎÐfa saÊÊÁdÐya spiegelt überwiegend auch die gesellschaftlichen und politischen Ungerechtigkeiten zu Lebzeit des vierten Imam zwischen 651 bis 708 n. Chr. wider, in der Zeit der massiven Unterdrückung der Schiiten unter der Umayyadendynastie. Sie dienen als spiritueller Widerstand gegen die herrschenden Diffamierungen des Glaubens durch die Machthaber, die sich als religiös legitime Führer der Muslime bezeichneten.12 Es ist verbreitet, dass die Bittgebete gemeinsam vorgetragen werden, um deren Kraft zu vervielfachen. In der Gemeinschaft verliert die persönliche Not ihre Stärke und beruhigt die Menschen, wenn sie an den Leiden und Nöten der anderen teilnehmen.
2.3.
Gebet als tasbiÎa »Was in den Himmeln und auf Erden ist, preist Gott, und Er ist der Mächtige, der Weise. Sein ist das Königreich der Himmel und der Erde. Er gibt Leben und lässt sterben und hat Macht über alle Dinge. Er ist der Erste und der Letzte, der Sichtbare und der Verborgene und Er weiß alle Dinge wohl.« (Sure 57,1–3)
SabbaÎa bedeutet preisen, verherrlichen und rühmen. Der Koran erwähnt an einigen Stellen, dass alle Geschöpfe auf ihre Art Gott preisen und loben. Einige Stellen in den Psalmen können als Analogie zu den Lobpreisungsversen im Koran gesehen werden und als Grundlage für gemeinsame Gebete dienen – so z.B. Ps 66,1–8. Der Hinweis auf die Schöpfung als Werk Gottes, das Seine Liebe und Fürsorge für Menschen ausdrückt, ist signifikant in den beiden Schriften. Der Mensch ist aufgefordert, die Schöpfung Gottes sowie die in ihr vorhandene Schönheit und Ordnung wahrzunehmen, um darin die Macht und Liebe Gottes zu entdecken. Er ist der Einzige, der kraft Seiner Macht und Weisheit diese Schöpfung hervorbringen konnte. Er ist sichtbar in Seinen Werken und ist die transzendente Ursache all dessen, was existiert. Dem Menschen ist geboten, durch eine Entdeckungsreise in sich 11 12
64
Zit. nach Islamisches Zentrum Hamburg (Hg.), Islamisches Echo in Europa, 9. Folge, Hamburg 1992, 61. Vgl. ÝAlÐ ŠarÐatÐÝ, MaÝna va falsafe-ye nÐyÁyeš (= Die Bedeutung und Philosophie der Gottesanrufung), Teheran 1958.
und in die Schöpfung Gott zu finden und Ihn zu lobpreisen. Die Lobpreisung ist eine Art Gebet, in dem die persönlichen Wünsche und Vorteile keine Rolle spielen; sie ist die Anerkennung und Bejahung der Herrlichkeit Gottes: »Wir wissen, dass deine Brust betrübt ist über das, was sie sagen. So lobpreise deinen Schöpfer und Versorger und sei mit denen, die sich niederwerfen. Und diene deinem Schöpfer und Versorger, bis die Gewissheit zu dir kommt.« (Sure 15,97–99) Lobpreisung wird hier als ständige Überzeugung dargestellt, die die Betrübtheit des Herzens aufhebt und zur Gewissheit führt. Lobpreisung ist eine kontinuierliche und beständige Handlung, die erfahrbare und nachhaltige Wirkung hat. In der Literatur13 ist auch die Rede davon, dass das Leben an sich eine Lobpreisung (tasbiÎa) Gottes ist, ob der Mensch sie wahrnimmt oder nicht. Das Wesen und die Natur des Menschen haben die Veranlagung, Gott zu preisen, und dies geschieht in dem natürlichen Ablauf des Lebens wie das Ein- und Ausatmen. Wie andere Gebetsarten bewirkt die Lobpreisung auch, dass der Mensch seine Beziehung zu Gott verfestigt, in Notsituationen Geduld ausübt und seine Angelegenheiten Gott anvertraut. Der Ruf subÎÁna llÁh (»Preis sei Gott!«) ist in Situationen der Verwunderung und Verwirrung daher oft von Muslimen zu hören.
2.4.
Gebet als Æikr »Gedenket Meiner, damit Ich euer gedenke; und seid Mir dankbar und verleugnet Mich nicht.« (Sure 2,152)
Das Wort Æikr bedeutet gedenken, sich erinnern, in Erinnerung behalten. Der oben zitierte Vers verbirgt in sich eine Fülle von Gnade und Zuwendung Gottes. Er als einziger Schöpfer und Erhalter, dessen Macht und Größe keine Grenzen hat, bietet den Menschen Sein Gedenken an. Das gegenseitige Aufeinanderzugehen zwischen Gott und Mensch ist in diesem Vers auf schönste Weise dargestellt. TasbiÎa ist eine innere Verherrlichung des Schöpfers in Folge der Bejahung der Schöpfung und ist in der Natur der Schöpfung angelegt, während Æikr eine weitere Form des Gebets ist, die durch eine aktive und bewusste Wiederholung der
13
Vgl. Seyyed MoÎammad Íossayn ÓabÁÔabÁÞÐ, TafsÐr almÐzÁn, Bd. 14, Teheran 1988, 390 ff.
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Lobpreisung und Danksagung die göttliche Gabe und Gnade stets vergegenwärtigt.14 Der Mensch neigt dazu, zu vergessen und die Erfüllung seiner Aufgaben zu vernachlässigen; Æikr erinnert an die Anwesenheit Gottes und an die Verantwortung, die der Mensch trägt. Im Æikr finden die Herzen Ruhe und Zuversicht (Sure 13,28); er ist Dankbarkeit für die Gaben Gottes (Sure 22,35) und verhindert, dass die weltlichen Beschäftigungen das Gedenken an Gott vergessen lassen (Sure 63,9). Åikr hat neben den obligatorischen Gebeten eine besondere Stellung in der islamischen Sufitradition. Er ist das Gegenteil von Nachlässigkeit; durch ihn wird der Geist in einer beständigen und unvergesslichen Weise geprägt. Die täglichen Übungen, die sowohl mündlich geäußert als auch schweigend im Herzen durchgeführt werden, festigen den Weg zu Gott. Die Sufis sind der Meinung, dass Æikr die Erkenntnis über die innere Bedeutung des Koran und der Tradition des Propheten Muhammad verstärkt. Er sensibilisiert den Menschen, die Wünsche Gottes zu erkennen und befähigt ihn, darauf zu antworten. In der Sufitradition bittet der Mensch im Gebet nicht um die Erfüllung der eigenen Wünsche und der weltlichen Bedürfnisse, in ihm erfährt er die Wünsche Gottes und Seine Liebe und Nähe. Er bewegt sich durch das Gebet auf dem Wege der Vervollkommnung und die Einswerdung mit Gott – ein hohes Ziel, das alle weltlichen Neigungen und Bedürfnisse vergessen lässt: »Viel Kummer und Sorgen wird jener unglückliche Mensch erleiden, der seine Wünsche, sein Herz und seine Hoffnung auf irdische Dinge richtet, um deretwillen er die Dinge des Himmels verlässt und verliert und am Ende auch die Dinge der Erde verliert. Der Adler fliegt hoch, aber wenn er ein Gewicht an seine Flügel binden würde, könnte er nicht mehr hochfliegen; so kann der Mensch durch das Gewicht der irdischen Dinge nicht hochfliegen, d.h. er kann die Vollkommenheit nicht erreichen.«15 Das Ziel für die Gebete und gottesdienstlichen Handlungen ist nicht die Belohnung, sondern die Begegnung mit Gott und die Zufriedenheit des Herzens.
14 15
66
Daher werden sabbaÎa und Æikr hier als zwar verwandte, aber doch unterschiedene Formen des Gebets dargestellt. Margaret Smith, RabiÞa von Basra (s. Anm. 1), 108.
3. Die Kraft und Wirkung des Gebetes Das Gebet ruft ins Bewusstsein, dass Gott der Mittelpunkt des Daseins ist. Das Gebet der Muslime auf der Pilgerfahrt und an der KaÝaba veranschaulicht diese Bedeutung. Die Betenden stehen an der KaÝaba und beten zu ihrer Mitte hin gerichtet. Dort verlieren die Himmelsrichtungen ihre Bedeutung; die Menschen stehen im Kreis und beten gemeinsam in eine Richtung und auf ein gemeinsames Zentrum hin. Das Gebet an diesem Ort vermittelt ausdrücklich das Gefühl, dass das Universum ohne einen Schöpfer und Erhalter nicht denkbar ist. In der Umschreitung der KaÝaba, die ein wichtiger Bestandteil der Rituale der Pilgerfahrt ist, erfährt der Mensch, dass er ein kleiner und unbedeutender Teil im Kreislauf der Schöpfung ist, der sich kontinuierlich um denselben Mittelpunkt dreht. Darin liegt die erzieherische Kraft des Gebetes und der Rituale: Überheblichkeit und Selbstherrlichkeit sind Eigenschaften, die Anlass für grausame Machenschaften, Unterdrückung anderer Menschen und Ausbeutung der Natur sein können. Das Gebet, in dem die Unterwürfigkeit des Menschen vor Gott erfahren wird, lehrt Ehrfurcht, Bescheidenheit und Respekt vor Mitmenschen und Schöpfung. Es befreit von egozentrischen Neigungen und ermöglicht eine bewusste Handlungsweise, die das Wohl der Gemeinschaft und die Bewahrung der Schöpfung als Ziel hat. Die im Gebet zum Ausdruck kommende Dankbarkeit ruft ins Bewusstsein, dass alles, was der Mensch besitzt, seine Möglichkeiten und Fähigkeiten nicht aus eigener Kraft entstanden sind. Sie sind Geschenke Gottes, ohne dessen Gaben und Zuwendung der Mensch nichts hat und ohne dessen Willen er nicht existent ist. Das Gebet führt zu tauÎÐd, dem festen und tiefen Glauben an einen einzigen Gott; der absolute Monotheismus, der der Mittelpunkt der islamischen Lehre ist. Der Ausgangspunkt und das Ziel aller Rituale und Werte im Islam ist tauÎÐd. TauÎÐd im weitesten Sinne ist nicht nur die Hingabe und Unterwerfung unter den Willen Gottes, sondern soll eine Kraft für ein bewusstes Leben sein, das nicht nutzlos ist, sondern einen tiefen Sinn hat: »In der Schöpfung der Himmel und der Erde und in dem Wechsel der Nacht und des Tages liegen wahre Zeichen für die Einsichtigen, die Gottes gedenken im Stehen und im Sitzen und auf ihren Seiten liegend und über die Schöpfung der Himmel und der Erden nachdenken und sprechen: ›Unser Schöpfer und Erhalter, Du hast dieses 67
nicht sinnlos erschaffen. Gepriesen seiest Du, hüte uns vor der Strafe des Feuers.‹« (Sure 2,191) Gebet ist verbunden mit Nachdenken und Einsicht und der Erkenntnis, welchen Sinn diese Schöpfung hat. Das Leben ist ein Gebet und der Dienst an Gott, wenn der Mensch die Auswirkungen der Eigenschaften Gottes in sich und um sich wahrnimmt und sich entsprechend verhält. So werden die Gebote wie das Gebet zur essentiellen Dynamik, die der Mensch zum Leben und Handeln benötigt. Aus diesem Grund besteht in der islamischen Lehre eine Verbindung zwischen Gebet und Handeln, zwischen Diesseits und Jenseits:16 »Wenn das Gebet beendet ist, dann zerstreut euch im Lande und arbeitet. Nützt die Wohltaten Gottes und gedenkt Gottes viel [...].« (Sure 62,20) Im Koran wird auf drei menschliche Organe hingewiesen, die der Mensch besonders einsetzen sollte: das Auge, das Ohr und das Herz. Er soll damit beobachten, hören und tief in sich aufnehmen. Um Gott zu erkennen, müssen wir die Schöpfung als Zeichen Gottes wahrnehmen und beobachten, die Worte Gottes in ihr hören und im Herzen eine Verbindung zu Schöpfung und Schöpfer erzeugen. Das Gebet als Ausdruck dieser Verbindung ist aufrichtig, wenn damit die Liebe zu und das Vertrauen auf Gott verbunden ist. Die Nähe zu Gott ist nur durch Liebe und innere Vereinigung möglich. Sie ermöglicht eine Hingabe in Ehrfurcht und Demut, die den Menschen von allen weltlichen Bindungen und Mächten befreit und ihn befähigt, seiner menschlichen Verantwortung gerecht zu werden.17 Wenn das Gebet diese Wirkung nicht hat, wird es zur inhaltlosen und trivialen Wiederholung, das seine Bedeutung in der islamischen Lehre verfehlt hat. Das Gebet ist das Bindeglied zwischen dem Herzen, der Vernunft und dem Handeln, und in diesem Sinne ist es ein wichtiger Bestandteil im islamischen Glauben: »O mein Herr, wenn ich Dich anbete aus Furcht vor der Hölle, verbrenne mich in der Hölle, und wenn ich Dich anbete aus Hoffnung auf das Paradies, schließe mich davon aus, aber wenn ich dich an-
16 17
68
Vgl. dazu auch Elisabeth Rosegger, Lebensweisheiten aus dem Islam, Köln 2002. Vgl. Mehdi Razvi, Entdeckungsreise im Koran, Hamburg 2001, 19–30.
bete um Deiner Selbst willen, dann versage mir nicht Deine ewige Schönheit.«18
4. Das Gebet als verbindende Kraft zwischen Christen und Muslimen? »Verlies, was dir von dem Buch offenbart wurde, und verrichte das Gebet! Gewiss, das Gebet hält von Schändlichkeiten und Ungerechtigkeiten ab und die Erinnerung an Gott ist das Höchste, und Gott weiß, was ihr tut. Und streitet nicht mit dem Volk der Schrift außer in vortrefflicher Art, und streite nicht mit denjenigen von ihnen, die unrecht tun und sage: ›Wir vertrauen auf das, was zu uns und zu euch offenbart wurde, und unser Gott und euer Gott ist der Eine und wir sind ihm ergeben.‹« (Sure 29,46–48) Die Hingabe an einen und denselben Gott und der Hinweis auf das Gebet als eine Kraft, die vor Ungerechtigkeiten und Schändlichkeiten schützt, ist – aus koranischer Sicht – eine solide Grundlage für das Zusammenleben der Muslime und Andersgläubigen. Die Diskussion über die theologischen Begriffe, deren Verständnis und Umsetzung zwischen verschiedenen Religionen kann Bereicherung und Vertiefung des eigenen Glaubens bewirken. Der Streit um die Anbetung des einen und desselben Gottes, der immer wieder im interreligiösen Dialog vorkommt, kann vielmehr ein trennender Aspekt und eine schwer überwindbare Hürde für die Verständigung und Akzeptanz und den gegenseitigen Respekt sein. Wenn alle monotheistischen Religionen den einen und einzigen Gott als Schöpfer und Versorger anerkennen, dann kann es sich nur um denselben Gott handeln. Die Vorstellungen und Wahrnehmungen Gottes können unterschiedlich sein, es kann aber keine unterschiedlichen »Götter« geben. Auf dieser gemeinsamen Basis stellen sich aus muslimischer Sicht folgende Anfragen an das christliche Gebetsverständnis: –
Die obligatorischen Gebete wie die Bittgebete prägen das tägliche Leben der Muslime. Inwieweit kann man im Christentum von verbindlichen Gebeten sprechen, die auch eine bedeutende Rolle im Alltagsleben haben?
18
Margaret Smith, RabiÞa von Basra (s. Anm. 1), 51.
69
–
–
70
Für den interreligiösen Dialog und die Gotteserfahrung im gemeinsamen Gebet ist die Überzeugung unentbehrlich, dass die Menschen auf den unterschiedlichen Wegen das Heil finden und Zugang zu Gott haben. Im Christentum heißt es: »Niemand kommt zum Vater außer durch mich.« (Joh 14,6) Wie ist durch diese Grundlage des Glauben eine Öffnung zu Menschen möglich, die Jesus als herausragenden Prophet ehren, aber nicht als Sohn Gottes anerkennen? Lässt dieser grundlegende Unterschied dennoch die Möglichkeit zu, gemeinsame Gebetsformen zu finden, die den Christen und Muslimen ermöglichen, gemeinsam spirituelle Erfahrung im Gebet zu erleben – oder bedeutet ein gemeinsames Gebet mit Muslimen für Christen eine Schwächung des Glaubens? Gibt es im Christentum einen direkten Weg zu Gott, der für jeden Menschen offen ist, einen Weg, der mit Gebeten bestreitbar ist, die keinen Bezug auf Jesus als Sohn Gottes haben?
II. Ist Gott beeinflussbar? Sinn und Zweck des Bittgebets
Wird nicht Gott »denen Gutes geben, die ihn bitten?« (Mt 7,11) Überlegungen zur (Für-)Bitte als Inanspruchnahme Gottes aus biblischer Sicht1 Andreas Obermann
»Beten – das bringt’s doch nicht!« »Beten? Was kann denn der liebe Gott schon tun?« So reagieren Schüler/innen eines Wuppertaler Berufskollegs auf die Frage, ob sie persönlich Erfahrung mit Bittgebeten haben. Philosophisch durchdrungen formuliert Immanuel Kant, dass es ein »ungereimter und zugleich vermessener Wahn [sei], durch die pochende Zudringlichkeit des Bittens zu versuchen, ob Gott nicht von dem Plane seiner Weisheit (zum gegenwärtigen Vorteil für uns) abgebracht werden könne«2. Daneben steht die biblische Verheißung wie ein Fels in der Brandung, scheinbar unberührt von jeglichem kritischen Zweifel über die Wirkung des Gebets: »Bittet, so wird euch gegeben werden. [...]. Denn wer da bittet, der empfängt ...« (Mt 7,7 f.). Die Inanspruchnahme Gottes in der Bitte3 ist umstritten und in heutiger Zeit und Gesellschaft weder 1
2
3
Vgl. hierzu grundlegend Eberhard Jüngel, Was heißt beten?, in: ders., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen, Bd. 3 (Evangelische Theologie 107), München 1990, 397–405. So Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 372. Gerd Otto urteilt vor über dreißig Jahren, dass es heute nicht möglich sei, das neutestamentliche Gebetsverständnis in seiner Verwurzelung in antiken Vorstellungswelten in die Gegenwart zu übertragen (Gerd Otto, Über das Gebet, in: Friedrich W. Bargheer/Ingeborg Röbbelen [Hg.], Gebet und Gebetserziehung [Pädagogische Forschungen 47], Heidelberg 1971, 33 ff.). In der vorliegenden Analyse wird an den Stellen zwischen Bitte und Fürbitte unterschieden, an denen sich die Aussagen auf die Fürbitte beziehen, sofern diese einen Sonderfall der Bitte darstellt: In der Fürbitte betet der Beter/die Beterin (stellvertretend) für einen anderen Menschen, wobei Fürbitte hier
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selbstevident plausibel noch Bestandteil alltäglichen Handelns. Als Kommunikation auf anthropologischer Ebene mag das Gebet noch den Sinn haben, »das sittlich Gute zu befördern« – als ein »Ort der Sammlung«, an dem »die Gestalt und Weise gewissenhaften Lebens bedacht wird«.4 Welche Perspektive ergibt sich hieraus für das Verständnis der Bitte und Fürbitte aus biblischer Sicht? Für ein Nachdenken über das Gebet bilden heutige Fragen den Horizont, vor dem sich die Rede vom Gebet zu bewähren hat! Ich versuche eine exemplarische Charakterisierung und beginne – für das christlich-islamische Gespräch naheliegend – bei Abraham.
1. Das Bitt- und Fürbittengebet in der biblischen Tradition – eine exegetische Skizze 1.1.
Die Bitte und Fürbitte in der Hebräischen Bibel
1.1.1. Abrahams Ringen um Gottes Gerechtigkeit (Gen 18,16–33) Auf den ersten Blick erscheint das Gespräch zwischen Gott und Abraham als altorientalischer Markthandel. Ausleger meinten hier eine besondere »›Händlermentalität‹ des Alten Testaments« entdecken zu können.5 Ungeachtet der Frage, ob es sich bei diesem Gespräch um ein Ge-
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5
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nicht verstanden ist als Anrede an Heilige, die dann als Gott besonders nahestehende Wesen für den Beter vor Gott eintreten sollen (beispielsweise Maria im Katholizismus – siehe z.B. die 6. Strophe des Marienliedes »Ave Maria, klare, du ...« aus dem Jahr 1500 – oder Mohammed in mancher Tradition im Islam). Das Gebet wäre dann eine »[k]onkrete Besinnung auf die Situation, der man jeweils verhaftet ist« – so Gerd Otto, Über das Gebet (s. Anm. 2), 40. Otto leitet dieses Gebetsverständnis aus der neutestamentlichen Weisung ab, ohne Unterlass zu beten (bezugnehmend auf Lk 18,1; 24,53 und vor allem 1Thess 5,17), womit kein Gebet im herkömmlichen Sinn zu verstehen sei. Damit meint Otto ein neutestamentliches Gebetsverständnis analysiert zu haben, das in die heutige Zeit übertragbar sei, da es nicht Gott als personales Gegenüber in der Gewissheit göttlichen Eingreifens anruft. Vgl. dagegen überzeugend Peter C. Bloth, Gebetstheologische Aspekte der Liturgie und des Neuen Testaments, in: Friedrich W. Bargheer/Ingeborg Röbbelen, Gebet und Gebetserziehung (s. Anm. 2), 48–52. Vgl. hierzu Walther Zimmerli, 1. Mose 12–25. Abraham (Züricher Bibelkommentare Altes Testament 1/2), Zürich 1976, 83.
bet im strengen Sinn handelt,6 werden in Gen 18,23–33 wesentliche Aspekte des Gebetsverständnisses der Hebräischen Bibel angesprochen:7 Die Erzählung8 schildert zunächst (V. 17–18[19])9 die Gedanken Gottes über den Plan der Zerstörung von Sodom und sein Verhältnis zu Abraham. In dem Gespräch zwischen Gott und Abraham (V. 23–33) stehen das gottlose Sodom und »die Frage der Gerechtigkeit [Gottes] in seinem Gericht über eine gottlose Stadt«10 im Mittelpunkt. Dieses Gespräch zwischen Gott und Abraham ist m.E. eine Inszenierung eines Dialogs, der Elemente aufweist, die eine Fürbitte (Bitte) ausmachen: Zum ersten sind aus dem Dialog selbst die geschilderte Offenheit und Transparenz als die Voraussetzung für ein Gebet als offenem Kommunikationsakt festzuhalten. Seinen Anfang nimmt die vertraute Offenheit bei Gott: »Wie könnte ich Abraham verbergen, was ich tun will« (V. 17b). Abrahams Rede ist eine unmittelbare Reaktion auf diese Offenheit Gottes, und es beginnt die partnerschaftliche Kommunikation zwischen Abraham und Gott. Bevor Abraham auf Gottes Anrede reagiert, hat er seinerseits schon eine Vorarbeit geleistet: Der Sorge Abrahams um die Gerechten in Sodom und Gomorra geht eine Analyse der Situation und Zeit voraus: Die Kommunikation mit Gott führt zu der analytischen Denkarbeit, in welcher Situation und Zeit sich der Beter befindet. Abraham sieht seine Mitwelt und »verdrängt nicht [seine] Zeit«11. Aus der Analyse erschließt sich Abrahams Einschätzung der Lage: Der durch die Verdorbenheit der Stadt provozierte Beschluss Gottes zur Vernichtung steht im Widerspruch zu Gottes Gerechtigkeit wegen der Gerechten der Stadt. Daraus ergibt sich das Ziel des Gesprächs: Es geht Abraham nicht um einen Handel, sondern um den benachteiligten anderen Menschen.
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So Claus Westermann, Genesis. 2. Teilband. Genesis 12–36 (Biblischer Kommentar zum Alten Testament I/2), Neukirchen-Vluyn 1981, 354. In Gen 20,7.17 wird Abraham als großer Beter dargestellt. Die Bezüge der Erzählung in vorliegender Form sind nicht zu 18,1–15, sondern vielmehr zu 19,11 f. zu suchen. Ursprünglich handelt es sich um eine selbstständige Erzählung. Eine Analyse der Quellen und der Traditionsgeschichte kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Die Analyse setzt beim Endtext an. V. 16 ist als Exposition zu verstehen. So Walther Zimmerli, 1. Mose (s. Anm. 5), 82. So treffend Karl-Friedrich Wiggermann, Fürbitte. Ein Aspekt liturgischer Euchologie, in: Kerygma und Dogma 50 (2004), 75–88, 75.
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Die »Sache des aufs höchste gefährdeten Menschen«12 eröffnet zum zweiten das theologische Thema – die Frage nach Gottes Gerechtigkeit: Wie viele Gerechte können Gott bewegen, »dass er an sich hält und sein gerechtes Gericht über einem Pfuhl von Ungerechtigkeit nicht vollstreckt«13? Die Gerechtigkeit Gottes voraussetzend, protestiert Abraham – als Ausdruck innigsten Vertrauens – gegen Gott, der nach Abrahams Meinung nicht das Recht hält (so Gen 18,25). Das auffällig stufenweise Argumentieren Abrahams parallel zur absteigenden Dezimalreihe ist eine »für die priesterliche Rechtsbelehrung [...] charakteristische Form der Veranschaulichung einer allgemeinen Aussage: auch um einer verhältnismäßig geringen Zahl von Gerechten willen wird Gott eine Stadt vor der Vernichtung bewahren.«14 Abraham begegnet uns als Beter, der, getragen vom Vertrauen in Gottes Gerechtigkeit, bei Gott Gerechtigkeit in einer gottlosen Umgebung einfordert.15
1.1.2. Moses Inanspruchnahme von Gottes Barmherzigkeit (Num 14,10b–19[20])16 Nachdem das Murren des Volkes in der Wüste eskaliert und Gott wegen aufkommender Gewalttätigkeiten (Botschafter sollen ermordet werden) zornig wird, appelliert Mose an Gottes Barmherzigkeit und bittet um Vergebung (Num 14,19). Mose konfrontiert Gott mit seinem vergangenen Wirken und fragt, ob gegenwärtig nicht allein ein barmherziges Wirken Gottes Wesen entsprechen würde. In einer mitunter kühn wirkenden Anfrage malt Mose dies Gott vor Augen (V. 15.16). Auf diese rhetorisch klingende Frage, ob denn Gott wirklich die Wirkung seines bisherigen Handelns aufs Spiel setzen wolle, gibt es eigentlich nur eine Antwort: Natürlich nein! Die Argumentation des Mose vermag Gottes 12 13
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Walther Zimmerli, 1. Mose (s. Anm. 5), 83.
Ebd. – Es gehe um die Frage »nach dem Maß des bei Gott möglichen Ansichhaltens im Zorne angesichts weniger Gerechter«. Nach Graf Reventlow geht es darum, »ob die ein sündiges Gemeinwesen [...] treffende Kollektivstrafe eventuell dort anzutreffende Gerechte mit vernichten kann« (so Henning Graf Reventlow, Gebet im Alten Testament, Stuttgart u.a. 1986, 262). Ebd. 263. Abrahams Bitten ist ein Ruf »zum Wagnis der Gerechtigkeit auch in gottloser Umgebung« (Walther Zimmerli, 1. Mose [s. Anm. 5], 84). Vgl. ebenso Moses Gebet um Heilung von Mirjam in Num 12,13. Weitere Fürbitten siehe u.a.: Ex 34,5–10; 32,30–34; 33,12–17; Num 14,11–24; der Selbstbericht des Mose in Dtn 9,25–10,2 oder der Dialog Jeremias mit Gott Jer 14,1–15,4.
Gnade in Anspruch zu nehmen, indem er Gott selbst in seine Rede einbezieht und mit einer Einsicht Gottes rechnet. Die Rede des Mose ruft in Erinnerung, dass mit der Erhörung der Bitte (und Fürbitte) letztlich die Gottheit Gottes auf dem Spiel steht: Das Gebet – und insbesondere die Fürbitte – steht in unmittelbarem Zusammenhang zur Frage nach Gott selbst und nach seinem Wesen! Indem Mose Gottes Barmherzigkeit in Anspruch nimmt und diese als Selbstverpflichtung Gottes begreift und thematisiert, erfährt er Gottes souveräne Reaktion (V. 20): »Und der Herr sprach: Ich habe vergeben, wie du es erbeten hast.« Damit ist die für die Hebräische Bibel wesentliche Erfahrung der Gebetserhörung angesprochen: Gott erweist sich als souverän Handelnder. Weil diese Souveränität Gottes die Voraussetzung des Bittgebets ist, soll dieses nicht allein als anthropologische Hilfe zur Förderung einer besseren Gesinnung verstanden werden. Allerdings finden wir noch nicht die Gewissheit der Erhörung ausgedrückt, wie sie uns im Neuen Testament begegnen wird.
1.2.
Die Bitte und Fürbitte in den Evangelien17
1.2.1. Das Vaterunser (Mt 6,9–13) Ich beginne mit dem zentralen Text für die Gebetspraxis des Urchristentums, dem Vaterunser:18 Hier weist schon die Anrede mit »Unser Vater« auf eine für die Urgemeinde spezifische – nicht exklusive (!) – Gottesanrede hin: Die Gemeinde darf auf Geheiß des erhöhten Herrn Gott mit »Vater« anreden. Das auch in unserem Zusammenhang von der Anrede »Vater unser« konnotierte »Abba«, »lieber Vater«, aus Mk 14,3619 ist keine verniedlichende, exklusiv auf den historischen Jesus zurückgehende Anrede Gottes und auch nicht gegen die jüdische Gebetstradition gerichtet, sondern stellt Jesus und die christliche Gemeinde in eine Reihe 17
18
19
Umfassend zum Gebet im Neuen Testament vgl. Oscar Cullmann, Das Gebet im Neuen Testament. Zugleich Versuch einer vom Neuen Testament aus zu erteilenden Antwort auf heutige Fragen, Tübingen 21997 (11994) sowie Gerhard Friedrich, Die Fürbitte im Neuen Testament, in: Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern 23 (1968), 441–445, 462– 466. Jesus knüpft als Rabbi (so nach Joh 3) an die Hebräische Bibel an. Jesus betete der Tradition nach oft (vgl. z.B. Lk 5,16 oder das ›hohepriesterliche Gebet‹ in Joh 17) und lehrte seine Jünger beten (vgl. Mt 6 und 7). Theologisch ist in Christus ein neuer Zugang zu Gott eröffnet (Hebr 4,16), so dass Bitten eine neue Dimension erhalten. Der gr. Terminus abba findet sich in Mk 14,36; Röm 8,15 und Gal 4,6.
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mit dieser!20 In Aufnahme der Tradition der Hebräischen Bibel21 wird durch diese Anrede die vertraute Offenheit und Transparenz des Gebets betont. Angeklungen war dies schon in der Bestimmung, dass das Gebet der Christen im stillen Kämmerlein erfolgen soll (Mt 6,6)22, was sich nicht gegen das öffentliche Gebet im Gottesdienst und in anderer Gemeinschaft richtet. Das Gebet soll vielmehr Gott als den ernst nehmen, der im Verborgenen die Anliegen jedes Menschen kennt: seien es Nöte oder Sorgen, Wünsche oder auch Dankbarkeit. Entscheidend ist das Vertrauen zu Gott, das zwar mit anderen geteilt werden kann, aber keine nach außen getragene Demonstration um des Beters willen verträgt (so nach Lk 18,9 ff.). Ausgehend von dieser vertrauensvollen Anrede Gottes setzt das Gebet zunächst bei Gott ein, führt dann jedoch mitten hinein in die Welt des Beters und sein Leben und eröffnet eine Perspektive in die Zukunft: »Dein Reich komme!« Die anfänglichen Bitten um die Realisierung des Willens Gottes und die abschließende Doxologie weisen den Beter weg von sich und seinen Fragen und hin auf Gottes uranfänglichen Willen und seine Zukunft: Die eschatologische Perspektive eröffnet einen Hoffnungshorizont und leitet an zu einer offenen Wahrnehmung der Gegen20
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Vgl. dazu eindrucksvoll Rupert Feneberg, Abba – Vater. Eine notwendige Besinnung, in: Kirche und Israel 1 (1988), 41–52: Feneberg belegt eindrucksvoll, dass die auf Joachim Jeremias zurückgehende These, die Anrede »Abba« durch Jesus sei als ›ipsissima vox Jesu‹ einzigartig und qualifiziere die besondere Gottesbeziehung Jesu, nicht stichhaltig ist. Feneberg belegt, dass (1.) Jeremias in seiner zweiten Auflage des Werkes Abba 1966 die These seiner sehr viel kürzeren Erstauflage (11954) in entscheidenden Punkten selbst revidiert – so sei z.B. das Abba zur Zeit Jesu nicht mehr als Lallwort zu verstehen – und dass (2.) die Argumentation nicht überzeugen kann, dass nämlich die allgemeine Verwendung von Abba deutlich unterschieden sei vom Gebrauch Jesu von Abba. Was im Blick auf das christlichjüdische Gespräch von immenser Bedeutung ist, hat auch Implikationen für den christlich-muslimischen Dialog: Die Gottesbeziehung Jesu ist von besonderer Innerlichkeit geprägt, ohne allerdings exklusiv für Jesus zu sein, was ihn damit aus anderer Gemeinschaft heraustrennen würde (zur Diskussion vgl. auch Oscar Cullmann, Das Gebet im Neuen Testament [s. Anm. 17], 55–58). Zur Anrufung Gottes als Vater in inniger Beziehung vgl. Jes 63,16 (in Verbindung mit Dtn 4,7.8). Den Bezug der Gebetsvorstellung wie der Gebetspraxis Jesu zum Judentum – Jesus betete als Jude unter Juden (vgl. Lk 4,16; Joh 2,13; 5,1; 7,2 ff.; 10,22 ff.; siehe auch Lk 18,9–14) – betont ausdrücklich Otto Knoch, Jesus – Beter und Lehrer des Gebets, in: Das Gebet bei Juden und Christen, Regensburg 1982, 27–51.
wart angesichts der Erwartung von Gottes Zukunft gerade für das, was der Beter von Gott erbeten will.23 Das Vaterunser leitet die Gemeinde zu einer eschatologischen Intensität und vermittelt im Bitten globale und kosmische Weiten. Zugleich ruft dieses Bittverständnis in die Verantwortung, die eigene Mitwelt zu analysieren. Die Fürbitte eröffnet Horizonte und setzt ein Meditieren über »Gott und die Welt« voraus.24 Wiederum wird damit – neben dem Aspekt des Vertrauens, der Offenheit und der souveränen Freiheit des Wirkens Gottes – ein wesentlicher Zug neutestamentlichen Gebetsverständnisses offenbar: Die Fürbitte im Sinne des Vaterunsers eröffnet die Bezogenheit des Christentums auf andere: Das Christentum ist »ex-zentrisch«25 angelegt. Diese für das Christentum konstitutive Perspektive für den anderen findet einen wesentlichen Ausdruck in der Fürbitte.26 Diese wie das Gebet allgemein bedarf nicht vieler Worte: Die Intensität und Aufrichtigkeit des Gebets lässt sich nicht an der Quantität der Worte messen (so nach Mt 6,7 f.). Das Vaterunser weist hin auf eine Möglichkeit, indem es lehrt, mit wenigen Worten Gott als Gott ernst zu nehmen und dabei die Welt nicht zu vergessen.
1.2.2. Das Bittgebet als Inanspruchnahme Gottes (Mt 7,7–11) Im Blick auf die Gebetserhörung entdecken wir bei der frühen Gemeinde, dass die Plausibilität des Bittgebets auf menschliche Einsicht zielt. Wie selbstverständlich erscheint das Bittgebet und die Erhörung bei Gott: »Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; [...] Wer ist unter euch Menschen, der seinem Sohn, wenn er ihn bittet um Brot, einen Stein biete? Oder, wenn er ihn bittet um einen Fisch, eine
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Die Doxologie des Vaterunsers »weist in die Ewigkeit, lässt das ewige Licht leuchten, führt mitten durch das Gewebe apokalyptischer Bedrängnis hindurch. Das Vaterunser leitet nicht in Gedankenarmut oder gar Gedankenlosigkeit, sondern in den geistlichen Reichtum Gottes, der uns zuteil werden soll, in dem wir alles Gute erwarten dürfen« (so Karl-Friedrich Wiggermann, Fürbitte [s. Anm. 11], 79). In der Fürbitte zeigt sich »denkendes Beten und betendes Denken« (so ebd. 77) – sie nimmt »Menschen ins Gebet« (ebd. 79). So Berthold Klappert mündlich am 20. Januar 2005 auf einer Tagung in Wuppertal-Barmen. An dieser Stelle ist auch an das Gebet für die Stadt – besonders eindrücklich in Jer 29,7 – zu erinnern. Für das Neue Testament vgl. vor allem das Gebet für die Obrigkeit in 1Tim 2,1–4.
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Schlange biete?« (Mt 7,7.9 f.)27 Nicht wahr, so verhält es sich doch? Wer würde seinem Sohn oder seiner Tochter – oder jedem anderen ihm nahe stehenden Menschen – nicht das Beste geben? Und – hätte nicht euer Kind das Vertrauen in euch, dass ihr ihm das Beste gebt? Natürlich würde jeder der Rede Jesu spontan zustimmen: Jeder wollte seinem Kind erfüllen, worum es ihn bittet. Und selbst wenn auf den zweiten Blick Zweifel an der Richtigkeit der spontanen Zustimmung aufkommen könnten – schließlich könnten erzieherische oder pädagogische Argumente oder gar finanzielle Möglichkeiten dagegen stimmen – selbst dann würde die grundsätzliche Zustimmung doch bleiben: Wir wollen das Beste für unsere Kinder. Das ist doch normal. Wenn schon ihr – und darauf will Jesus hinaus – so handelt, dann Gott erst recht (so nach V. 11)! Das Bemühen um Zustimmung zeigt nicht nur die Gewissheit der Gebetserhörung28, sondern auch das frühchristliche Vertrauen, mit dieser Fürsorge Gottes zu rechnen!29 Das Verstehen des Gebets vor dem Hintergrund menschlicher Verhaltensweisen weist hin auf die von daher ableitbare Beharrlichkeit im Gebet und Unnachgiebigkeit des Bittens (Fürbittens)30: Im Vertrauen auf Gott und seine Barmherzigkeit beharrt der Beter auf seiner (Für-)Bitte. Umso überzeugter er von seinem Anliegen ist, umso dringlicher wendet er sich an Gott. Beharrlichkeit gehört im Neuen Testament konstitutiv zur (Für-)Bitte hinzu (vgl. Lk 18,1–8 und 11,5–9) – wobei die Beharrlichkeit nicht als Leistung missverstanden werden kann: Beharrliches Beten ist ein Ausdruck des tiefen Vertrauens in Gott, der Ernsthaftigkeit des eigenen Anliegens (so je nach Lk 11,5 ff.) sowie der Gewissheit, dass menschliches Bitten Gott zum Handeln zu bewegen vermag. Dabei bleibt die Erfüllung einer (Für-)Bitte unverfügbar trotz aller menschlichen Rhetorik und Inanspruchnahme Gottes. Dies betont die Schilderung des Wunders der Auferstehung des Lazarus31 im Johannesevangelium (Joh 11,1–44). Bevor Jesus den Verstor27
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Der Aspekt einer unbedingten Gewissheit einer Gebetserhörung kommt auch in Mt 19,18 ff. zum Ausdruck (vgl. dazu u.a. auch Mk 11,24 oder Joh 14,13 f.). In bedingter Form begegnet die Erhörung des Gebets z.B. in 1Joh 3,22 und 5,14 f. Vgl. auch Jak 1,5.17. Deutlich wird dies in dem Gleichnis von der langatmigen Witwe, die mit ihrem aufmüpfigen Drängen zum Erfolg kommt und insofern als Vorbild für die Bitte zu Gott dienen soll: Ihr Bitten soll motivieren, die Bitte zu Gott langatmig ernst zu nehmen (Lk 18,1–8). Die eigentliche Wundererzählung auf theologischer Ebene ist johanneisch in der doppelten geistlichen Auferstehung der beiden Schwestern Maria und
benen ins Leben ruft (11,43b), dankt er Gott für die Erhörung des Gebetes (11,41b) und konstatiert zugleich, dass er um die Erhörung schon weiß (11,42a). Dieser scheinbare Widerspruch soll ein doppeltes Missverständnis ausschließen: Der Dank an Gott (11,41b) soll dem hellenistischen Missverständnis entgegenwirken, dass Jesus ein Beter mit einer ihm innewohnenden Wundermacht sei. Jede Gebetserhörung ist nicht Folge besonderer Kräfte des Menschen, sondern verdankt sich allein Gott. Die in der Fortführung ausgedrückte Gewissheit der Erhörung um des Volkes willen (Joh 11,42) will das jüdische Missverständnis abwehren, dass Jesus nur ein vollmächtiger Beter sei: Jesus ist mehr, nämlich der von Gott Gesandte.
1.3.
Die (Für-)Bitte bei Paulus
Paulus ist als Beter ohne die Gebetstraditionen der Hebräischen Bibel und ohne seine Christuserfahrung nicht zu verstehen:32 Als jüdischer Beter in frühchristlicher Zeit33 ist es für Paulus selbstverständlich, dass der Adressat des Gebetes Gott ist, da er den Menschen ausschließlich coram deo sieht (vgl. Röm 1,18–32) – allerdings christologisch zugespitzt. Von daher erklärt sich die alleinige Anrede Gottes als Vater Jesu Christi (Röm 15,6; 2Kor 1,3; Kol 1,3) oder als Vater aller Gläubigen (Phil 4,20; 1Thess 1,3; 3,11; Kol 1,12).34 Das Gebet mit dem Adressaten Jesus Christus kommt bei Paulus eindeutig allein vor im Kontext seiner Bitte um Heilung von seiner Krankheit (2Kor 12,1–10): Nach seiner Entrückung ruft Paulus dreimal den Herrn an (so 2Kor 12,8): Mit kyrios ist an unserer Stelle mit hoher Wahrscheinlichkeit Christus gemeint,35
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Martha zu sehen, als diese durch das Gespräch mit Jesus zur Erkenntnis seiner Sendung kommen und durch ihr Bekenntnis zeigen, dass ihnen diese neue Erkenntnis geschenkt ist und sie im Modus des Glaubens an Gottes Rettung Anteil bekommen haben: Martha in 11,27 und Maria im Gesprächsgang ab 11,32, der parallel zu dem mit ihrer Schwester zu lesen ist! Vgl. Roland Gebauer, Das Gebet bei Paulus. Forschungsgeschichtliche und exegetische Studien, Gießen/Mainz 1989. So berichtet die Apg, dass Paulus in die Synagoge und in den Tempel zum Gebet ging (z.B. Lk, 24,53; Apg 22,26 f.). Weiterhin ist die betonte Herkunft aus der pharisäischen Tradition (Gal 1,10–24 mit Apg 22,3) ein Indiz, dass sich Paulus selbstverständlich als Jude ansah (vgl. auch seine Äußerungen in Röm 9–11). Die vorliegende Skizze berücksichtigt auch die »unechten« Paulusbriefe zum Gebet. So Rudolf Bultmann, Der zweite Brief an die Korinther (KEK Sonderband), Göttingen 1987, 227, und Friedrich Lang, Die Briefe an die Korinther (NTD
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wobei eine eindeutige Bezugnahme exegetisch nicht zu erweisen, das Beten zu Christus jedoch wahrscheinlich ist.36 In der synoptischen Tradition ist es die Huldigung der drei Weisen nach der Geburt Jesu, die als Anbetung verstanden werden könnte (Mt 2,11): Der terminus technicus der Proskynese (gr. proskyneo) weist darauf hin und lässt zumindest offen, ob es sich hier um eine Anbetung oder eine Huldigung handelt. Der Kontext lässt allerdings darauf schließen, dass es sich um eine Huldigung handelt, suchten die Weisen doch einen irdischen König nach der Schrift (Mt 2,6) und keinen Gott.37 Die (Für-)Bitte bei Paulus – er kennt neben dem Bittgebet vor allem das Dankgebet und das Lobgebet38 – ist bestimmt von seiner Sorge um die christlichen Gemeinden. Wesentliche (Für-)Bitten finden sich bei Paulus in: 2Kor 12,8; 6,2; Röm 7,24 f.; Röm 8,15 f.; 26 f.; 15,30–33; Phil 1,3–11. Paulus bittet um das Wachstum der Gemeinden (Röm 15,5 f.13; 2Kor 13,7.9; Phil 1,9–11; 1Thess 1,3; 3,12 ff.; 5,23; Phlm 6; Kol 1,9–11). Weiterhin fällt auf, dass Paulus eine enge Beziehung sieht vom Fürbit-
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7), Göttingen 161986, 349 (nicht überzeugen kann an dieser Stelle Roland Gebauer, Das Gebet [s. Anm. 33], 120–123, der darzulegen versucht, dass Paulus auf Grund seiner Entrückung ein so inniges Verhältnis zum Herrn hatte, dass er ihn im Gebet folgerichtig unter diesem Eindruck anrief). Daneben gibt es nur noch wenige Stellen, an denen Paulus eventuell den Herrn Jesus Christus im Gebet anruft: in Röm 10,12 ist die Rede vom Anrufen Christi; in Phil 2,9 ff. wird Jesus als Kyrios bekannt, so dass Jesus von diesem Titel her neben Gott angerufen werden kann; schließlich ist der Ruf »Maranatha!« (1Kor 16,22) als Gebetsruf zu verstehen (vgl. zum Ganzen bei Oscar Cullmann, Das Gebet im Neuen Testament [s. Anm. 17], 116 f.). Als Hinweis auf das Gebet zu Christus könnte auch die Rede von Christus als dem Mittler (1Kor 8,6) dienen, sofern Christus zwar im Gebet als Redeakt angesprochen würde, um jedoch letztlich Gott anzubeten bzw. ihn zu bitten (vgl. auch Kol 3,17 und ebd. 116 f.; die Mittlerschaft Christi in Bezug auf die Schöpfung z.B. in Kol 1,15–20). Im Blick auf das christlich-islamische Gebet wird dieser Sachverhalt zunächst als wesentlich festzuhalten sein: Adressat im christlichen Gebet ist allein Gott. Allerdings ist im Blick auf die Christologie – und die weitere theologische Erörterung im interreligiösen Kontext – festzuhalten, dass Jesus von Nazareth nach den neutestamentlichen Schriften mehr ist als Lehrer oder Prophet: Jesus von Nazareth, der Christus des Glaubens, wird als Gott bekannt (so z.B. nach Joh 1,1–18; Phil 2,5–11; Kol 1,15–20; vgl. bes. Joh 20,28, wo Thomas im Blick auf den Auferstandenen bekennt: »Mein Herr und mein Gott«). Bei Paulus überwiegen die Dankgebete, während es bei den Synoptikern die Bittgebete sind (vgl. hierzu Oscar Cullmann, Das Gebet im Neuen Testament [s. Anm. 17], 94 f.).
tengebet zur Ethik, sofern das Gebet die Grundlage (Phil 1,11), der Anlass (Röm 15,6; Kol 1,10) und das Ziel der Ethik (Phil 1,10; 1Thess 3,12 ff.; 5,23) ist. Allerdings kann das Gebet keine Leistung sein und ist nicht von menschlichen Redeweisen und -fähigkeiten abhängig: Gebet ist bei Paulus immer durch den Heiligen Geist gewirkt und bestimmt (vgl. dazu Röm 8,15.26; Gal 14,6).39 Die Gewissheit der Erhörung des Gebetes thematisiert Paulus nicht eigens – sie dürfte eine nicht näher zu nennende Selbstverständlichkeit sein: einerseits aufgehoben im Wirken des Geistes (2Kor 6,1–4), andererseits verortet in der menschlichen Beharrlichkeit im Gebet (z.B. 1Thess 3,10; 5,18; Röm 12,2 oder Kol 1,9).40 Dabei kennt auch Paulus die wiederholte Bitte angesichts eines bleibenden Schweigens Gottes: Auch das geistgewirkte Gebet hat keine Erfolgsgarantie und muss mit der Nicht-Erfüllung fertig werden. Biographisch ist das Ausbleiben der Erfüllung bei Paulus allerdings – bei der schon erwähnten Bitte um Heilung – nicht mit dem Schweigen Gottes gleichzusetzen. Paulus erfährt eine Antwort, die ihn in seiner Krankheit belässt mit der Aufgabe, sie in sein Leben zu integrieren: »Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig« (2Kor 12,9).41 Im Blick auf die gesamte biblische Tradition und die in ihr überlieferten unzähligen Gebete in ihren unterschiedlichen Formen und Weisen – wie z.B. der Dank, das Lob oder die Klage42 – gilt festzuhalten: Das hier exemplarisch dargelegte Verständnis vom Bittgebet und Fürbitten39
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In Intensivierung dieser Linie findet sich bei Paulus auch das als menschliche Kommunikationsform nicht in Betracht kommende Gebet in Zungen, da hier eine eindeutige Verständigung ohne Hilfe nicht möglich ist (zum Gebet und Heiligen Geist vgl. ausführlich ebd. 97–108 mit der Exegese von Röm 8,12–27). In diesem Zusammenhang ist an die johanneische Rede von der Anbetung in Geist und Wahrheit (Joh 4,20–24) zu erinnern, ohne hier näher darauf eingehen zu können (vgl. hierzu ebd. 121–130; vgl. zum Ganzen auch Roland Gebauer, Das Gebet [s. Anm. 33], 200–229). Vgl. Oscar Cullmann, Das Gebet im Neuen Testament (s. Anm. 17), zur Erhörung 115 f. (vgl. Roland Gebauer, Das Gebet [s. Anm. 33], 218 f.) und zur Beharrlichkeit 109 f. Diesen Gedanken drückt Paulus auch in 2Kor 4,7 aus. Schon in der Hebräischen Bibel umfasst das Gebet alle Lebensbereiche: z.B. die Bitte (auch um Materielles, vgl. Ps 128), das Flehen (Ex 32,11–14), das Bußgebet (Esra 9,6–15), den Dank und das Lob (Ps 7,18; 136), wobei Bittund Bußgebete lobende Hinweise auf Gottes Taten enthalten. Gebetet wird im Kult (Psalmen; Kritik durch Propheten: Jes 1,15) und an beliebigen anderen Stellen (vgl. 2Kön 20,2 f.; vgl. hierzu auch Karl-Friedrich Wiggermann, Fürbitte [s. Anm. 11], 83 f.).
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gebet mit dem darin vorausgesetzten Gottesverständnis und der Möglichkeit der Inanspruchnahme Gottes in menschlich auch geschickter Rede fließt ein in alle jene Gebete, bei denen weder Wortlaut noch Motivation der Beter überliefert sind.43 Die gesamtbiblische Tradition berücksichtigend, ergibt sich folgende Perspektive, in der das Gebet als Kommunikationsgeschehen und Interaktionsakt in den Blick zu nehmen ist.
2. Das Bittgebet als Kommunikationsgeschehen 2.1. 1.
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Die Inanspruchnahme Gottes als Wesenszug der Fürbitte – eine biblische Perspektive Die Offenheit und das Vertrauen Gottes zum Menschen (Gen 18,17 ff.) sowie des Beters zu Gott (Mt 6,9) bilden die Basis der Bitte und Fürbitte. Beide sind dabei Ausdruck der innigen und intensiven Beziehung von Gott und Mensch. Fürbitte und Bitte haben Auswirkungen auf das Selbstverständnis und das Weltverständnis des Beters bzw. der Beterin: In der Fürbitte treten besonders die Sorgen und Nöte anderer in den Mittelpunkt – in der Bitte wird die Welt zur Mitwelt und rückt in eine eschatologische Perspektive (Mt 6,9–13).44 Der Beter/die Beterin sieht ihre Mitwelt von der Gerechtigkeit (Gen 18,16–33) und Barmherzigkeit Gottes (Num 14,10–20) her und nimmt diese für die Gestaltung einer gerechten und barmherzigen Mitwelt – beharrlich im Gebet (Lk 18,1–8; 1Thess 5,17) – in Anspruch. Die christliche Fürbitte erweist den christlichen Glauben konstitutiv als eine ex-zentrische Lebenseinstellung: Der Christ findet das Zentrum seiner Existenz außerhalb seiner Selbst bei Gott. Wie ein Kind lässt der Beter Gott seinen Vater sein und sucht sein Zentrum außer sich: Kindisch wäre eine Regression in eine frühkindliche Egozentrik. Kindlich im positiven Sinn – »[...] wenn ihr nicht werdet wie die Kinder [...]« (Mt 18,3 par.) – ist diese Sichtweise, wenn ein Mensch sein Zentrum außer sich findet und sich im Vgl. insgesamt hierzu Reventlow, Gebet (s. Anm. 13), für die Hebräische Bibel. Nach Karl-Friedrich Wiggermann, Fürbitte (s. Anm. 11), 76, wird in »der Fürbitte [...] die Welt zur Um-Welt«.
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Gebet aussprechen kann. Er findet ein Zentrum seiner selbst bei Gott, der um alles weiß, wessen wir bedürfen (Mt 6,6). Dieser Mensch »spricht sich in einem unvergleichlichen Sinne aus – nämlich so, dass er sich dabei vor Gott bringt«45. In dieser Weise ist das Gebet ein Ausdruck jener Lebenseinstellung und -bewältigung, die im Gebet ihren stärksten Niederschlag findet. Das Fürbittengebet ruft in die Verantwortung und ist selber Ausdruck von Verantwortung (z.B. 1Tim 2,1–4): Der Beter verdrängt nicht die Zeit und die Umstände, sondern fordert Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit ein. Der Fürbitte kommt so ein »seismographische[r] Charakter«46 für die Gesellschaft und die Schöpfung zu. Vor allem im Neuen Testament erfolgt die Bitte und Fürbitte an Gott in der Zuversicht, dass Gott die Bitten der Menschen erhört (Mk 11,24). Biblisch-theologisch ist unstrittig, dass die Beter – angefangen von Abraham und Mose über Jesus bis zu Paulus – durch die Bitte oder Fürbitte Gott beeinflussen können (Mt 7,7). Dabei ist Gottes Einlenken nicht als Automatismus oder Zwang zu verstehen, sondern allein als Wirken in seiner Freiheit (vgl. Röm 11,33–36).47 Dies führt zum kritischen Einwand, dass es kindisch sei zu meinen, dass der Mensch durch das Bittgebet Gott bewegen könne.48 Die biblische Tradition weist einen Weg, der den Einwand wahrnimmt als Infragestellung Gottes: Das (Für-)Bittgebet gewinnt angesichts der Erfahrung des Schweigens Gottes eine unmittelbare Affinität zur Frage nach Gott und zum Zweifel des Atheismus: »Gottvertrauen macht ›theodizee-empfindlich‹ (J. B. Metz)«49. Die ausbleibende Antwort auf das Gebet lehrt eine wichtige Frage nach Gott selbst und seiner Wirklichkeit in der Welt. Diese Frage zeigt die Ambivalenz menschlicher Gebetserfahrungen zwischen einer Erhörungsgewissheit und einem Schweigen Gottes. Das Hiobbuch ist hier beredtes Beispiel für das Ringen um Gottes Antwort und Gerechtigkeit. Gleichfalls sind das Ringen Jesu in Gethsemane (Mk 14,32– 42 par.) und der Ruf Jesu am Kreuz (Mk 15,34) hier zu hören, offen-
Eberhard Jüngel, Was heißt beten? (s. Anm. 1), 401. So treffend Karl-Friedrich Wiggermann, Fürbitte (s. Anm. 11), 75–88. Vgl. hierzu Eberhard Jüngel, Was heißt beten? (s. Anm. 1), 401.
Zudem stehe damit auch Gottes Gottsein zur Disposition, lautet der zuweilen theologische Einwand. So Fulbert Steffensky, Der alltägliche Charme des Glaubens, Regensburg 2002, 24.
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baren sie doch deutlich die ambivalente Erfahrung des (Für-)-Bittgebets von seinem Wesen her. Im Licht der biblischen Tradition stellt sich eine Gegenfrage: Was wäre das für ein Gott, »dessen Göttlichkeit dadurch in Frage gestellt wird, dass er Gebete erhört«50? Ein absolut unwandelbarer Wille Gottes stellte uns einen absolut erhabenen Gott vor Augen: Dieser wäre vor »lauter Erhabenheit und Unveränderlichkeit zur Unbeweglichkeit und Untätigkeit verurteilt«51. Der in der Bibel bezeugte Gott lässt sich von menschlichem Elend und Fragen bewegen – nach dem Neuen Testament bis hin zum Tod für andere in Jesus von Nazareth (z.B. Phil 2,5–11 mit Röm 5,8 ff.). Gott hat in der »Person Jesu Christi unsere menschliche Not bis zum Tod eines am Kreuz hingerichteten Verbrechers erlitten«52. Biblisch-theologisch bildet diese Empathie Gottes die Basis, dass Gott den Menschen versteht (z.B. Hebr 4,14 ff.). Sie ist die Voraussetzung, dass sich der Mensch bittend an Gott wendet in Klagen oder Bitten: Als der, der sich schon bewegt hat, lässt sich Gott in Anspruch nehmen und reagiert auf die Gebete der Menschen. Der bewegende Gott wird so zu dem Du, dem keine Bitte unverständig erscheint!53
2.2.
Das biblisch inspirierte Bittgebet und der christlichislamische Dialog – ein Ausblick
Von der biblischen Tradition her erweist sich das Gebet als Kommunikationssituation von je spezifischer Art.54 Durch die in den biblischen Texten ausgedrückte Art und Weise, wie das Gebet verstanden und unter welchen Rahmenbedingungen es praktiziert wird, werden die »Regeln
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Eberhard Jüngel, Was heißt beten? (s. Anm. 1), 402.
Ebd. Ebd. Siehe an dieser Stelle auch die Nähe zu Martin Bubers dialogischem Prinzip (Das dialogische Prinzip, 5., durchgesehene Auflage, 1984 [11949]). Ein sich so bewegender Gott ermutigt den Menschen dazu, »sich betend auszusprechen und aus sich herauszugehen« (so treffend Eberhard Jüngel, Was heißt beten? [s. Anm. 1], 402). Zu den folgenden Überlegungen vgl. auch die Antrittsvorlesung des Verfassers: Gemeinsam das Leben vor Gott zur Sprache bringen? Überlegungen zum Gebet und seiner Bedeutung für den christlich-islamischen Dialog, gehalten am 1. Juni 2005 an der Universität zu Bonn (noch unveröffentlicht).
definier[t]«55, nach denen sich die am Gebet Beteiligten in dieser Situation zueinander verhalten. Das Gebet als Kommunikationsakt56 gelingt, wenn die aus der Schrift abgeleiteten Vorgaben des Gebets theologisch reflektiert und transparent dargelegt werden und so die Situation des Gebetes stimmig und authentisch ist.57 1.
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Die innere Voraussetzung zum Gebet in Gemeinschaft ist die aus dem Neuen Testament vorgegebene Konvention, dass es sinnvoll ist, Gott anzureden. Sofern diese Konvention in der Neuzeit nicht mehr selbstverständlich ist, gilt es einen Bedingungsrahmen für die Plausibilität der Fürbitte über den christlichen Kontext hinaus im interreligiösen Dialog zu erörtern.58 Die Praxis gemeinsam verantworteten Betens bedarf eines an-nähernd gemeinsamen Vorverständnisses des Gebetes (z.B. bzgl. der Inhalte und der Funktion) und einer genauen Rollenverteilung im Vollzug:59 Christlicherseits ist dies vor allem durch das Vaterunser gegeben. Im christlich-islamischen Gebet wird bezüglich eines gemeinsam vertretbaren Gebetsverständnisses mit Priorität das freie islamische Gebet (duÝÁÞ) in die Erörterung einzubeziehen sein.60 So Richard Schaeffler, Das Gebet und das Argument. Zwei Weisen des Sprechens von Gott. Eine Einführung in die Theorie der religiösen Sprache, Düsseldorf 1989, 119. Vgl. hierzu Albrecht Grözinger, Die Sprache des Menschen. Ein Handbuch. Grundwissen für Theologinnen und Theologen, München 1991, 205 ff. Die folgenden Aspekte sind m.E. besonders relevant für ein gemeinsames – multireligiöses – Gebet im interreligiösen Kontext (zur Unterscheidung von einem gemeinsam verantworteten und gesprochenen interreligiösen Gebet zu einem je in Eigenverantwortung formulierten Gebet bei gleichzeitigem Mithören von Gläubigen anderer Religionen vgl. z.B.: Multireligiöses Beten, erarbeitet von der Islam-Kommission der Evangelischen-Lutherischen Kirche in Bayern, hg. vom Landeskirchenamt der Evang.-Luth. Kirche in Bayern, München 1992). Vgl. hierzu Fulbert Steffensky, Charme des Glaubens (s. Anm. 50), 12 f. (vgl. hier auch den immer noch aktuell erhellenden Beitrag aus dem Jahr 1971 von Peter Cornehl, »Vorspiegelnd altgewesene Vertrautheit«. Gebet und Gebetserfahrung heute, in: Friedrich W. Bargheer/Ingeborg Röbbelen [Hg.], Gebet und Gebetserziehung [s. Anm. 2], 86–110). Wenn ein Mensch für andere und mit anderen betet, muss der Raum des Gebets – in seiner Atmosphäre und in seiner rituellen (liturgischen) Gestaltung – theologisch so gestaltet sein, dass er für alle stimmig ist. Im christlich-jüdischen Gespräch ist der Psalter als ›Gebetbuch‹ eine gemeinsame Basis von Juden und Christen: Als Teil der gemeinsam verwandten Heiligen Schrift führt der Psalter als Sammlung von Gebeten unter-
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Jede Anrede eines ›Ich‹ in einem als Sprechakt verstandenen Gebet charakterisiert das angesprochene ›Du‹ (Gott) näher: Bei der gemeinsamen Anrede sind sich die Betenden einig, dass sie mit dem Benannten und keinem anderen rechnen möchten. Daraus folgt z.B.: Die das christliche Gebet meist bestimmende Anrede Gottes mit »Vater«61 ist auf Grund ihrer im Islam wurzelnden Strittigkeit systematisch wie auch praktisch-theologisch (kommunikationstheoretisch) zu erörtern. Für ein gemeinsames Gebet ist eine innere Basis der Gemeinschaft anzustreben: Der – aus der Vaterunser-Anrede (Mt 6,9) und der Bergpredigt ableitbare – möglichst herrschaftsfreie Umgang der beteiligten Beter untereinander ist die Basis und Voraussetzung für die »Aufmerksamkeit für das Leben [und] eine gewisse Leidenschaftlichkeit«62, aus der heraus gemeinsame Inhalte des Betens erwachsen. An dieser Stelle wäre die allen Muslimen gemeinsame Gebetsrichtung oder die bei der Wallfahrt nach Mekka offenbar werdende Gleichrangigkeit aller Wallfahrer daraufhin zu erörtern, ob eine gegenseitige Akzeptanz als Basis einer interreligiösen Gemeinschaft besteht. Die Benennung Gottes im Gebet hat seine Wurzel in einer erinnerten Geschichte, die die Vorstellung Gottes konkretisiert und inhaltlich füllt: Die biblisch gebotene Vergegenwärtigung der Gottesgeschichte in ihren existentiellen Bezügen (so nach Dtn 26,5–9 und Dtn 6,20 f.) – welche Gemeinschaft konstituiert, gemeinsame Identität der Betenden schafft und so das Gebet konkretisiert63 – ist auf eine mögliche islamische Parallele zu befragen. Im Blick auf die Frage der Körperhaltung beim Beten im christlichislamischen Kontext ergibt sich christlicherseits eine große Offenheit im Blick auf das freie islamische Gebet, sofern in der Gebetsschiedlicher Form in die Sprache und das Denken, in die Emotion und die Haltung des Gebetes ein und eröffnet konkrete Möglichkeiten gemeinsamen (interreligiösen) Gebets (vgl. hierzu Kol 3,16 oder Eph 5,19). Die Bestimmung des Adressaten im Gebet bestimmt zugleich den »theologischen« Standpunkt des Beters (so Peter C. Bloth, Gebetstheologische Aspekte [s. Anm. 4], 72). Vgl. hierzu Fulbert Steffensky, Charme des Glaubens (s. Anm. 50), 28 (vgl. insgesamt 26 ff.). Auch Peter C. Bloth, Gebetstheologische Aspekte (s. Anm. 4), 58–65, betont die seiner Meinung nach hohe Bedeutung der Anamnese als Vergewisserung Gottes als Grund des Gebets zu Gott und bestimmt die theologische Stärkung der Anamnese als einen Weg aus der Krise des Gebetes.
praxis – zumindest in Deutschland – die Körperhaltung je individueller Ausdruck des Einzelnen ist. Daraus ergibt sich eine größtmögliche Akzeptanz je individueller Körperhaltungen als je individueller Ausdruck des Betens. Der neutestamentliche terminus technicus für die Anrufung einer Gottheit, die Proskynese (gr. proskyneo), ist hierfür ein gutes Beispiel: Der religionsgeschichtliche Ursprung der Proskynese dürfte in dem Niederwerfen und Küssen der Erde liegen und generell für die Gottesverehrung mit einer konstitutiven Geste stehen.64 Untrennbar sind hier nicht nur innere Haltung und äußerer Gestus miteinander verbunden, sondern sie entsprechen inhaltlich einander: Die Anbetung der Gottheit als Anerkenntnis eines Höheren zeichnet sich äußerlich ab durch das Niederwerfen des Menschen vor der Gottheit! Auch andere Gesten sind biblisch verwurzelt: Mose drückt während seines Gebets für Israel beim Kampf gegen Amalek mit seinen erhobenen Armen Israels Weg zum Sieg aus – senken sich seine Arme, verliert Israel seine Vormachtstellung (vgl. Ex 17,11 f.). Erhobene Arme, geschlossene Augen, gen Himmel gerichtete Augen (Jesus z.B. in Mk 7,34; Mt 14,19; Joh 17,11) 65, verschränkte Arme, gefaltete Hände mit verschränkten Fingern66 – das Gebet im Stehen (so Abraham in Gen 18,22), sitzend (so David in 2Sam 7,18) oder zu Boden geworfen (so Jesus in Gethsemane Mk 14,35 par.): Alle Gesten und Körperhaltungen wollen eine innere Haltung ausdrücken, die Beziehung zu Gott darstellen und die Innigkeit des Gebetes fördern und stärken.67 Für das Gebet der Christen und Christinnen sind biblisch-theologisch auch richtige innere Haltungen aus dem Neuen Testament vorgegeben: Redlichkeit (Mt 6,5 f.), Vertrauen (Mk 11,24), Beharrlichkeit (Lk 11,5–13), Demut (Lk 18,9–14), Aussöhnung mit anderen (Mt 6,14 f.), Gerechtigkeit (1Petr 3,12).
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Vgl. hierzu Heinrich Greeven, Art. proskune,w ktl., in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 6, 759–767, 760. In der Erzählung Jesu in Lk 18,9–14 wagt es der Zöllner nicht, seine Augen im Gebet zu erheben wegen seiner Sündhaftigkeit. Diese bei uns häufig anzutreffende Haltung ist weltweit wenig verbreitet (so Manfred Josuttis, Religion als Handwerk. Zur Handlungslogik spiritueller Methoden, Gütersloh 2002, 110). Entsprechend ist die Handauflegung beim Segnen (so Mk 10,16; Lk 24,50) ein begleitender Gestus, der als Interpretation des Wortgeschehens Segnen zu verstehen ist.
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Von der biblischen Tradition aus ergeben sich theologische Leitlinien, die das Bittgebet – und das Gebet allgemein – in christlicher Tradition biblisch-theologisch, kommunikations-theoretisch sowie als Interaktion charakterisieren und bestimmen. Im Blick auf den christlich-islamischen Dialog gilt es vor diesem Hintergrund die Situation gemeinsamen Betens zu erörtern und zu bewerten, um zu einer reflektierten und theologisch fundierten Einschätzung zu kommen, wie eine Praxis gemeinschaftlichen Betens aussehen kann.
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»Ruft zu Mir, so erhöre Ich euch!« (Sure 40,60) Bedeutung und Sinn des Bittgebets im Islam Elhadi Essabah
1. Das »Bittgebet« als das Wesentliche des Gottesdienstes Die traditionelle und durchaus sinnvolle und richtige Unterscheidung1 der Begriffe ÒalÁt für das rituelle Pflichtgebet und duÝÁÞ für das freie, persönliche Bittgebet führt nicht selten bei Muslimen wie Nichtmuslimen zu der falschen Annahme, das Element der Bitte sei nicht auch Teil des Ritualgebets. Weil aber nur das Ritualgebet als »zweite Säule« verpflichtenden Charakter habe, sei das freie Bittgebet von nachrangiger Bedeutung. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass diese Sicht nicht richtig ist. Ad-duÝÁÞ huwa al-ÝIbÁda – »Das Bittgebet ist das Wesentliche des Gottesdienstes.« So lautet eine Überlieferung des Propheten Muhammad.2 Ein Pflichtgebet ohne Bittgebet ist praktisch nicht vorstellbar im Islam. Stets geht es im Gebet nämlich um dieselbe Sache, dasselbe Ziel: demütig und fromm vor Gott, den Schöpfer, zu treten. Natürlich ist im Ritualgebet der Lobpreis und die Anbetung Gottes von zentraler Bedeutung, doch die Bitte gehört unbedingt mit dazu, wie schon im Gebet der FÁtiÎa (Sure 1) deutlich wird, die mehrere Bitten enthält: An den Lobpreis Gottes (V. 1–4) und das Bekenntnis, Gott zu dienen (V. 5a), schließt unmittelbar die Bitte um Hilfe, Rechtleitung und Bewahrung vor dem falschen Weg und dem Zorn Gottes (V. 5b–7) an. Ein Überlieferung 1 2
Vgl. Louis Gardet, Art. DuÝÁÞ, in: The Encyclopaedia of Islam, 2. Aufl., 617–618, 617. Überliefert von ImÁm AbÙ DawÙd und ImÁm at-TirmiÆÐ, zit. nach: ImÁm an-NawÁwÐ, RiyÁà aÒ-ÑÁliÎÐn (= Gärten der Tugendhaften), Bd. 2, München 1996, 502 (ÍadÐ× Nr. 1465). Vgl. auch aÔ-ÓabarÐ, ¹ÁmiÝ al-bayÁn, Bd. 7, Beirut 1992, 467.
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legt dieses wichtigste islamische Gebet im Hinblick auf die Beziehung zwischen Gott und dem Betenden aus und macht deutlich, dass Gott den Bittenden erhören wird: »AbÙ Huraira berichtete: Ich hörte den Propheten sagen: Gott der Mächtige und Erhabene sprach: ›Ich habe das Gebet zwischen Mir und Meinem Knecht in zwei Hälften geteilt, und Meinem Knecht wird zuteil, was er erbittet‹. Wenn der Knecht sagt: ›Alle Lobpreisung gebührt Gott, dem Herrn der Welten‹, sagt Gott der Mächtige und Erhabene: ›Mein Knecht hat mich gepriesen.‹ Und wenn er sagt: ›Dem Allerbarmer, dem Barmherzigen‹, sagt Gott, der Mächtige und Erhabene: ›Mein Knecht hat mich hoch gelobt.‹ Und wenn er sagt: ›Herrscher am Tage des Gerichts‹, sagt Gott: ›Mein Knecht hat mich hoch gerühmt‹, und manchmal sagt Er: ›Mein Knecht hat sich Mir ergeben.‹ Und wenn er sagt: ›Dir allein dienen wir, und Dich allein flehen wir um Hilfe an, sagt Er: ›Dies ist zwischen Mir und Meinem Knecht, und Meinem Knecht wird zuteil, was er erbittet.‹ Und wenn er sagt: ›Leite uns auf den rechten Pfad, den Pfad derer, denen Du gnädig bist, nicht derer, denen Du zürnst und nicht derer, die in die Irre gehen‹, sagt Er: ›Dies ist für Meinen Knecht, und Meinem Knecht wird zuteil, was er erbittet.‹«3 Vom koranischen Sprachgebrauch her lässt sich deutlich machen, dass das rituelle Gebet (as- ÒalÁt) manchmal sogar im Sinne von Bittgebet (adduÝÁÞ ) verstanden wird, indem dasselbe Wort verwendet wird, und zwar im Zusammenhang mit der Bitte um Segen:4 »Wahrlich, Gott und Seine Engel segnen den Propheten [ yuÒallÙna ]. O die ihr glaubt, bittet um Segen für ihn [ÒallÙ Ýalayhi ] und wünscht ihm Frieden in völliger Ergebenheit.« (33,56) Der innere theologische Zusammenhang wird erst durch die sprachliche Analyse des Arabischen deutlich: Das arabische Wort für »segnen« (Òalla) stammt von derselben Wurzel wie das Wort für das Ritualgebet (as-ÒalÁt). Die Gläubigen werden hier aufgefordert, wie die Engel um den Segen für den Propheten zu bitten. Segen Gottes für Seinen Propheten
3 4
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Muslim, Malik, at-TirmiÆÐ, AbÙ DawÙd u.a., in: Ahmad von Denffer (Hg.), Vierzig Heilige ÍadÐ×e, München 1986, 42–44 (ÍadÐ× Nr. 8). Vgl. al-QurtubÐ, Al-¹ÁmiÝ li-AÎkÁm al-QurÝÁn, Bd. 1/Teil 1, Beirut 51996, 118 f.
bedeutet, dass Gott seiner gedenkt, und der Segen Seiner Engel besteht in ihrem Bittgebet für ihn bei Gott.5 In Sure 9,103 wird der Prophet aufgefordert, für die Gläubigen zu beten, und auch hier wird wieder das Wort ÒalÁt für die Bitte um den Segen verwendet: »[...] und bitte um Segen für sie [Òalli Ýalayhim ]. Dein Gebet [ÒalÁtaka ] ist für sie eine Beruhigung.« Entscheidend ist hier, dass von Gott allein der Segen für die Gläubigen ausgeht und deshalb Gott den Propheten und Gesandten auffordert, für seine Gemeinde um den Segen zu bitten.
2. Die theologisch-anthropologische Grundlegung des Bittgebetes im Islam In zahlreichen Versen des Korans wird der Betende explizit von Gott selbst zum Bittgebet aufgefordert mit der Zusage, dass Gott sich dem Betenden zuwenden und ihn (er-)hören wird. In Sure 40,60 appelliert Gott an all Seine Diener: »Euer Herr spricht: ›Ruft zu Mir, so erhöre Ich euch!‹« as-SamÐÝ, »der (Er-)Hörende«, ist einer der schönsten Namen und Eigenschaften Gottes. In Sure 2,186 proklamiert Gott: »Und wenn dich Meine Diener über Mich befragen, so bin Ich nahe; Ich höre den Ruf des Rufenden, wenn er Mich ruft. Deshalb sollen (auch) sie auf Mich hören und an Mich glauben. Auf dass sie auf dem richtigen Weg wandeln mögen.« In dieser Zusage der Erhörung des Rufenden und Bittenden erweist sich die Einzigkeit, Allmacht und Güte Gottes: »Wer ist es, Der die in Not geratene Seele erhört, wenn sie Ihn anruft, und das Übel abwendet und Der euch zu Statthaltern auf Erden macht? Kann es also eine Gottheit geben neben Gott? Wie wenig ist es, dessen ihr gedenkt.« (27,62) Das Bittgebet ist somit Ausdruck des Vertrauens des gläubigen Menschen in den allmächtigen, weisen und barmherzigen Gott. Das Gebet allgemein und das Bittgebet im Besonderen betrifft die grundsätzliche Beziehung, das grundlegende Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen und hat wiederum Auswirkungen auf das Verhältnis des Menschen zum Mitmenschen und zur geschöpflichen Um- und Mitwelt. Das Thema 5
Vgl. aÔ-ÓabarÐ, ¹ÁmiÝ al-BayÁn, Bd. 10, 329 f.
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Gebet und Bittgebet steht einerseits in engstem Zusammenhang mit der Theologie im engerem Sinn: Gott, der allmächtige und gütige Schöpfer, ist alleiniger Adressat des (Bitt-)Gebets. Andererseits wird etwas über das Wesen des Menschen deutlich: Der Mensch als das Geschöpf Gottes ist nicht einfach nur Materie, sondern er trägt den Geistes Gottes in sich (vgl. Sure 15,28–30). Dies bedeutet, dass der Mensch seiner tieferen und innersten Natur (fiÔra) 6 nach in einem sehr engen, spirituellen Verhältnis zu seinem Schöpfer lebt. Dieses spirituelle Verhältnis verwirklicht sich im menschlichen Akt des Glaubens an Gott und dieser wiederum drückt sich im Akt des Betens aus. Der Gebetsakt wiederum ist ein ganzheitlicher Akt, er betrifft den ganzen Menschen in seiner Einheit und Spannung von Materie und Geist, Leib und Seele. Nur im Glauben an und im Gebet zu Gott findet der Mensch das natürliche Gleichgewicht seiner selbst, den inneren Frieden, die Ruhe: »Der Glaube ist also in der Tat eine grundlegende Dimension des Menschen, der seiner fiÔra eingeprägt ist [...]. Nur der Mensch befragt sich über sein eigenes Dasein, seinen Sinn, seine Zweckbestimmung und jene des Universums, das ihn einhüllt und umgibt. Hier liegt das Wesen des Glaubens. Dieses Fragen ist sein Kern. In diesem Sinne können wir sagen, daß der Glaube im Herzen eines jeden Menschen verwurzelt ist. Er kann sich von ihm nicht lösen, weil er sich von dieser Frage nicht lösen kann [...]. Diese Frage ist in ihm als inhärenter Bestandteil seiner Natur. Er kann sie ausweichend oder negativ beantworten, aber er kann sich ihr nicht entziehen. Warum? Weil der Mensch nicht auf sein körperliches Sein zu reduzieren ist, ein Stück Materie wie jedes andere, [...] er ist ein Stück Materie, dem der Geist innewohnt.«7 Auf dem Hintergrund dieser Voraussetzungen wird auch verständlich, dass Lobpreis und Bittgebet zuinnerst zusammengehören, insofern sie jeweils das spirituelle Bedürfnis des Menschen, immer und ständig in Kontakt mit dem Schöpfer zu bleiben, befriedigen. Im Bittgebet wird schließlich auch die richtige Haltung des Menschen vor und zu Gott deutlich: »in Demut und Ehrfurcht« (7,205; vgl. 7,55) soll der Mensch vor Gott hintreten und Ihn anrufen und keine lauten Worte machen. 6
7
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Zur theologischen Bedeutung des arabischen Begriffes al-fiÔra (die Naturanlage) vgl. meine Dissertation: Die metaphysische Basis der Religionsfreiheit und die Grundprinzipien des freien menschlichen Willens im Koran, Aachen 2002, bes. 33–44. Mohamed Talbi, Dialog mit Afrika und dem Islam, Tübingen 1987, 54, 58– 60.
3. Inhalte und Anlässe des Bittgebets Aus der Sunna erfahren wir, dass der Prophet selbst das Bittgebet praktiziert hat und worum er Gott gebeten hat. So berichtete Anas, dass das häufigste Bittgebet des Propheten folgender Satz war: »O Gott, gib uns im Diesseits Gutes und im Jenseits Gutes und bewahre uns vor der Strafe des Höllenfeuers.« (al-BuÌÁrÐ und Muslim) 8 Daraus wird deutlich, dass es im Bittgebet stets um das Wohl und das Gute für einen selbst oder für andere geht, und zwar sowohl bezogen auf das irdische Leben als auch bezogen auf die jenseitige Existenz. Auch folgende Überlieferung zeigt, wie sehr das gesamte Leben Gegenstand des Bittgebets sein kann und soll: »AbÙ Huraira berichtete: Der Gesandte Gottes pflegte zu erbitten: O Gott! Verbessere mir meinen Glauben recht, denn er ist die Bewahrung meiner Sache, verbessere mir mein Diesseits recht, denn in ihm ist mein Lebensunterhalt, und verbessere mir mein Jenseits recht, denn zu ihm kehre ich zurück. Mache das Leben zur Steigerung an Gutem für mich, und mache den Tod zu einer Erlösung für mich vor dem Unheil.« (Muslim) 9 Zentraler Inhalt des Bittgebets ist also das ganzheitliche Heil des Menschen. Folglich ist das islamische Bittgebet im Kern die Bitte um Vergebung der Sünden, um Rechtleitung und Wohlergehen: »ÓÁriq b. AšyÁm berichtete: Wenn ein Mensch den Islam annahm, lehrte der Prophet ihn das Pflichtgebet, dann wies er ihn an, mit folgenden Worten zu erbitten: O Gott, vergib mir, erbarme Dich meiner, leite mich recht, schütze mich und schenke mir Heil und Versorgung.« (Muslim)10 Im Bittgebet wie dem folgenden vom Propheten überlieferten wird deutlich, wie sehr sich der gläubige Mensch vor Gott seiner Schwäche und Sünde und seiner Angewiesenheit auf Gottes barmherzige Vergebung bewusst werden soll: 8 9 10
ImÁm an-NawÁwÐ, RiyÁà aÒ-ÑÁliÎÐn (s. Anm. 2), Bd. 2, 502 (ÍadÐ× Nr.
1467). Ebd. 504 (ÍadÐ× Nr. 1472). Ebd. 503 (ÍadÐ× Nr. 1469).
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»AbÙ MÙsÁ berichtete: Der Prophet pflegte folgendes Bittgebet zu sprechen: O Gott, vergib mir meine Fehltritte und meine Unwissenheit, meine Überschreitungen in meiner Sache, und vergib mir, was Du besser weißt als ich. O Gott, vergib mir meine ernsthaft und scherzhaft begangenen Verfehlungen, unabsichtliche und vorsätzliche, denn ich gestehe all diese Missetaten. O Gott, vergib mir, was ich einst beging und was ich künftig begehen werde, heimlich oder offenkundig, und auch das von mir, was Du besser weißt als ich, denn Du allein bist Derjenige, Der voraussendet und Der zurücksendet, und Du bist über alle Dinge mächtig.« (al-BuÌÁrÐ und Muslim)11 Das Bittgebet dient also der Gewissenserforschung vor Gott, wie auch diese Überlieferung zeigt: »Zaid b. ArqÁm berichtete: Der Gesandte Gottes pflegte zu erbitten: O Gott, ich suche Zuflucht bei Dir vor der Unfähigkeit, der Faulheit, dem Geiz, der (unerträglichen) Altersschwäche und der qualvollen Bestrafung im Grab. O Gott, gewähre meiner Seele Redlichkeit und läutere sie, denn nur Du allein bist der Beste, der sie läutert, und Du bist allein ihr Herr und Beschützer. O Gott, ich suche Zuflucht bei Dir vor nutzlosem Wissen und einem Herzen ohne Demut und vor einer (gierigen) Seele, die mit nichts zufrieden ist, und vor einem Bittgebet, das abgelehnt wird.« (Muslim)12 Aber nicht nur um Vergebung, Schutz usw. wird gebeten, sondern letztlich um Gottes Gemeinschaft, Seine Liebe sowie um die Liebe der Mitmenschen: »AbÙ al-DardÁÞ berichtete: Der Gesandte Gottes sagte: DawÙd hat u.a. gebetet: O Gott, ich trachte nach Deiner Liebe sowie nach der Liebe jedes (Dieners), der Dich liebt, und nach jeder Tat, die mich zu Deiner Liebe führt. O Gott, mache die Liebe zu Dir mir lieber als meine Liebe zu mir selbst, zu meinen Angehörigen und zum (lebensspendenden) kühlen Wasser.« (TirmiÆÐ)13
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Ebd. 505 (ÍadÐ× Nr. 1476). Ebd. (ÍadÐ× Nr. 1479). Ebd. 508 (ÍadÐ× Nr. 1490).
4. Das Bittgebet für andere Die islamische Tradition kennt auch die Praxis, für andere, vor allem abwesende muslimische Glaubensbrüder und -schwestern zu beten: »AbÙ al-DardÁÞ berichtete: Der Gesandte Gottes pflegte zu betonen: Das Bittgebet eines Muslims für einen muslimischen Bruder in dessen Abwesenheit geht in Erfüllung. Immer wenn er für den Bruder um Gutes betet, erwidert der an seinem Kopf bewachende, für ihn zuständige Engel: Amen, und das Gleiche für dich auch.« (Muslim)14 Weit verbreitet unter Muslimen wie unter Nichtmuslimen ist deshalb die Auffassung, dass sich das islamische Bittgebet in erster Linie oder gar ausschließlich auf die eigene Glaubensgemeinschaft, also die Angehörigen der Umma beziehen sollte oder dürfe. Der Koran jedoch begründet nicht nur eine starke Verbindung zwischen den muslimischen Gläubigen, sondern auch mit den Angehörigen der anderen Offenbarungsreligionen (Juden, Christen u.a.). Folgende Passage im Koran macht deutlich, dass die wahren und guten Gläubigen nicht diejenigen sind, die nur an sich denken und nur für sich selbst beten, sondern diejenigen, die für alle Glaubensgeschwister, auch die vorangegangenen, denken und beten. Vor allem bitten sie darum, dass ihre Herzen von allen Neigungen gereinigt werden, die guten Handlungen anderer Glaubensgeschwister gering zu schätzen oder über deren Erfolg oder Glück Neid zu empfinden: »Und diejenigen, die nach ihnen kamen, sprechen: ›Unser Herr, vergib uns und unseren Brüdern, die uns im Glauben vorangegangen sind, und lasse in unseren Herzen keinen Groll gegen die Gläubigen sein. Unser Herr, Du bist fürwahr gütig und barmherzig.‹« (59,10) Die Gläubigen sind also durch ihren Glauben miteinander verbunden, auch über die Generationen hinweg im Bewusstsein der Barmherzigkeit und Freundlichkeit Gottes.15 Der zitierte Vers wurde nach dem klassischen Kommentator AbÙ ÝAbd AllÁh MuÎammad b. AbÙ Bakr al-AndalusÐ al-QurtubÐ (gest. 671 n.H.) in zweierlei Weise interpretiert: Zum einen werde den muslimischen Gläubigen empfohlen, auch für die Gläubigen der früheren Offenbarungen, nämlich Juden, Christen und andere 14 15
Ebd. 509 (ÍadÐ× Nr. 1495). Vgl. aÔ-ÓabarÐ, ¹ÁmiÝ al-bayÁn (s. Anm. 5), Bd. 12, 42 f.; AÒ-ÑÁbÙnÐ, Ñafwat at-TafÁsÐr, Bd. 3, Stuttgart 61985, 352.
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(ahl al-kitÁb), zu beten und zu bitten. Die zweite Interpretation geht davon aus, dass die Muslime, die später kommen, für ihre früheren Glaubensgeschwister beten und bitten sollten.16 Meines Erachtens sind beide Interpretationen richtig und vom Koran intendiert oder zumindest im Einklang mit ihm. Daher können sie als einander komplementär angesehen werden.
5. Zeiten, Arten und Bedingungen des Bittgebets Aus der Sunna des Propheten können wir einiges über die verschiedenen Arten, Zeiten und Voraussetzungen eines vor Gott wohlgefälligen Bittgebetes erfahren.
5.1.
Zeiten
Was den Zeitpunkt eines Bittgebetes angeht, finden wir folgende Aussagen, die vor allem das Nachtgebet und dabei wiederum das letzte Drittel der Nacht bis zum Morgen bevorzugt, denn zu dieser Zeit ist Gott besonders nahe: »AbÙ Huraira berichtete, der Gesandte Gottes hat gesagt: ›Unser Herr der Segenreiche und Erhabene kommt jede Nacht zum Himmel dieser Erde herab, wenn (nur noch) das letzte Drittel der Nacht verbleibt, und Er spricht: Wer ruft zu Mir, so dass Ich ihm antworte? Wer erbittet von Mir, so dass Ich ihm gewähre? Wer verlangt Vergebung von Mir, so dass Ich ihm vergebe? Und Er hört nicht auf damit, bis der Morgen leuchtet.‹« (BuÌÁrÐ, Muslim, Malik, TirmiÆÐ und AbÙ DawÙd)17 Aus der Überlieferung wird deutlich, dass Gott den Betenden und Bittenden geradezu sucht, nach Ihm verlangt. Eine andere Überlieferung bestätigt das eben Zitierte, verweist aber auch auf die Zeit im Anschluss an das Pflichtgebet, was die tatsächliche Praxis widerspiegelt, am Ende des Ritualgebets das freie Gebet mit persönlichen Bitten anzuschließen: »Abu Umaima berichtete: Jemand fragte: ›Allahs Gesandter, welche Bitte wird eher erhört?‹ Er antwortete: ›Die (Bitte) im späteren Teil 16 17
98
Vgl. al-QurtubÐ, al-¹ÁmiÝ li-AÎkÁm al-QurÝÁn, Bd. 9/Teil 18, 22 f. Ahmad von Denffer, Vierzig Heilige ÍadÐ×e (s. Anm. 3), 120 (ÍadÐ× Nr. 35).
der Nacht und die am Ende der vorgeschriebenen Gebete.‹« (TirmiÆÐ)18
5.2.
Haltung
Andere Überlieferungen beschäftigen sich mit der Frage, wie und in welcher Haltung das Bittgebet vollzogen werden solle. Hierzu nur ein Beispiel: »AbÙ Huraira berichtete: Der Gesandte Gottes hat gesagt: ›Der Diener ist seines Herrn am nächsten in seiner Niederwerfung (im Gebet), so fleht Ihn oft in dieser Niederwerfung an!‹« (Muslim)19 Die äußere Geste der Niederwerfung stimmt also mit der inneren Haltung der Demut vor dem allmächtigen Gott überein. Der Bittende ergibt sich ganz in den Willen Gottes. Natürlich gilt auch für das Bittgebet, dass es im Zustand der rituellen Reinheit und in Richtung der qibla gesprochen werden muss. Grundsätzlich kann das Bittgebet frei formuliert werden, tatsächlich aber nehmen die meisten Gläubigen Vorlagen aus dem Koran und der Sunna oder von großen Theologen, Mystikern und Heiligen.
5.3.
Inhaltliche Bedingungen
Eine wichtige Frage ist, ob es bestimmte inhaltliche Bedingungen für ein echtes, erlaubtes Bittgebet im Islam gibt. Grundsätzlich gilt, was Annemarie Schimmel dazu formuliert hat: »Nichts ist zu unwichtig, als daß es Gott nicht vorgetragen werden könnte: Bitte um rechte Leitung, Hilfe in Krankheit, Fürbitte, Vertrauen, Hoffnung auf Sündenvergebung.«20 Das ganze Leben also kann im Bittgebet vor Gott zur Sprache kommen. Dennoch können auch einige negative Kriterien genannt werden, die die Erhörung und Erfüllung durch Gott von vornherein ausschließen lassen: »Gott erhört (das Bittgebet) des Dieners, solange er nicht um eine Sünde oder um das Zerschneiden der Verwandtschaftsbande bittet, und wenn er nicht voreilig ist. Man fragte ihn: ›O Gesandter Gottes! Was ist die Eile?‹ Er erwiderte, indem er sagt: ›Ich habe gebetet und 18 19 20
Ahmad von Denffer (Hg.), Allahs Gesandter hat gesagt, Lützelbach 1984, 141 (ÍadÐ× Nr. 372). ImÁm an-NawÁwÐ, RiyÁà aÒ-ÑÁliÎÐn (s. Anm. 2), Bd. 2, 510 (ÍadÐ× Nr. 1498). Annemarie Schimmel, Dein Wille geschehe. Die schönsten islamischen Gebete, Bonndorf 1992, 78.
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gebetet, doch merke ich, Er erhört mich nicht. Dabei zweifelt er und dann unterlässt er das Bittgebet.‹« (BuÌÁrÐ, Muslim)21 In diesem Sinne berichtete auch ÝUbÁda b. aÒ-ÑÁmit: »Der Gesandte Gottes hat gesagt: ›Es gibt keinen Muslim auf Erden, der Allah – erhaben ist Er – um etwas bittet, ohne dass Gott sein Bittgebet erhört oder dass Er ein entsprechendes Unheil von ihm abwendet, solange er um keine Sünde oder um das Zerschneiden der Verwandtschaftsbande bittet.‹ Da sagte einer der Anwesenden: ›Dann werden wir oft erbitten!‹ Der Prophet erwiderte: ›Gottes Belohnung ist noch mehr!‹« (at-TirmiÆÐ)22 Inhalt der Bitte darf also nichts sein, was ethisch böse oder schlecht ist, was dem Menschen oder anderen schaden könnte. Auch Ungeduld, Zweifel und Ähnliches führen dazu, dass Gott die Gebete nicht erhören wird. Aber auch in Bezug auf legitime Bitten ist die direkte Erfüllung durch Gott nicht garantiert: nicht jedoch, weil Gott willkürlich handelt, sondern gerade weil Er allein weiß, was gut ist für den Menschen. Dies wird in folgender Überlieferung nach BuÌÁrÐ deutlich: »Allahs Gesandter lehrte uns al-IstiÌÁra (Gebet um Beistand, Erfolg) für alle Dinge, wie eine Sure aus dem QurÞÁn: Wenn einer von euch eine wichtige Sache unternimmt, soll er zwei rakÝÁt beten, nicht von den Pflichtgebeten23, und soll dann sagen: ›O Allah! Ich suche Gutes bei Dir von Deinem Wissen und suche Macht von Deiner Macht, und ich bitte Dich um Deine große Gunst, denn Du bestimmst, nicht ich bestimme, und Du bist wissend, nicht ich bin wissend, und Du kennst die verborgenen Dinge. O Allah! Wenn nach Deinem Wissen diese Sache gut für mich ist, was meinen Glauben, meinen Lebensunterhalt und den Fortgang meiner Sache betrifft (oder er sagte: für mein diesseitiges und späteres Leben), dann bestimme es für mich. Und wenn nach Deinem Wissen diese Sache schlecht für mich ist, was meinen Glauben, meinen Lebensunterhalt und den Fortgang meiner Sache betrifft (oder er sagte: für mein diesseitiges und späteres Leben), dann halte es fern von mir und halte mich fern davon, 21 22 23
100
ImÁm an-NawÁwÐ, RiyÁà aÒ-ÑÁliÎÐn (s. Anm. 2), Bd. 2, 510 (ÍadÐ× Nr. 1499). Ebd. 511 (ÍadÐ× Nr. 1501). Das heißt zusätzlich zu den Pflichtgebeten.
und bestimme für mich das Gute, wo immer es ist, und mache mich zufrieden damit‹, und er soll sein Bedürfnis (dabei) erwähnen.«24
6. Fazit Nach all dem Gesagten kann die Eingangsthese bestätigt und zugleich präzisiert werden: Jedes rituelle »(Pflicht-)Gebet« (aÒ-ÒalÁt) ist eine Art von »Bittgebet«, aber nicht jedes »Bittgebet« ist ein »rituelles Gebet«. Beide Formen aber, das »(Ritual-)Gebet« (ÒalÁt) ebenso wie das »Bittgebet« (duÝÁÞ ), haben das gleiche Ziel, nämlich Gottes zu gedenken und Ihm näher zu sein. Dieses Gedenken an Gott und die Nähe Gottes zum Beter – Er ist ihm »näher als dessen eigene Halsschlagader« (Sure 50,16) – haben wiederum Sicherheit, Ruhe, Gleichgewicht und Frieden als Wirkungen für den Beter zur Folge. Wenn ein Gläubiger seines Herrn und Schöpfers im Gebet gedenkt, dann gedenkt der absolute und barmherzige Gott auch dieses Menschen (vgl. 2,152). Das Verhältnis ist also wechselseitig, aber die Überlieferungen des Propheten zeigen uns, dass die Art und Weise des Gedenkens Gottes an Seine Diener unvergleichbar schöner, intensiver und ehrenvoller ist: AbÙ Huraira berichtete: Der Gesandte Gottes hat gesagt: »Gott der Hocherhabene spricht: ›Ich bin mit dem Gedenken Meines Knechtes an Mich, und Ich bin mit ihm, wenn er Meiner gedenkt, und wenn er Meiner bei sich selbst gedenkt, gedenke Ich seiner bei Mir selbst, und wenn er Meiner in einer versammelten Schar gedenkt, gedenke Ich seiner in einer versammelten Schar, die besser ist als sie, und wenn er sich Mir um eine Handspanne nähert, nähere ich Mich ihm um eine Armlänge, und wenn er sich Mir um eine Armlänge nähert, nähere ich Mich ihm um zwei Armlängen, und wenn er zu Mir gegangen kommt, komme Ich zu ihm gelaufen.‹« (BuÌÁrÐ)25 Als Fazit lässt sich also festhalten: Das Bittgebet ist wesentlicher Bestandteil des islamischen Gottesdienstes und zentraler Ausdruck der Gott-Mensch-Beziehung. Gott selbst fordert im Koran den Menschen auf, Ihn zu bitten, und so wurde es in der Nachfolge des Propheten zum festen Bestandteil des islamischen Gebetslebens, Gott um Vergebung der 24 25
Ahmad von Denffer, Allahs Gesandter hat gesagt (s. Anm. 18), 141 f. (ÍadÐ×
Nr. 374).
Ahmad von Denffer, Vierzig Heilige ÍadÐ×e (s. Anm. 3), 64 (ÍadÐ× Nr. 15).
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Sünden, um das Wohlergehen auf Erden und das jenseitige Heil für sich und andere zu bitten. Einen besonderen Stellenwert hat dabei die Bitte der Gläubigen um den Segen für den Propheten. Grundsätzlich kann der Mensch alles von Gott erbitten, außer Sünde und Böses. Der gläubige Muslim aber ist sich stets dessen bewusst, dass letztlich Gottes Wille geschieht und dieser Wille dem Menschen am meisten zum Heil gereicht. Er allein weiß, was gut für den Menschen ist, weshalb der Gläubige nicht verzweifelt, wenn Gott eine Bitte (scheinbar) nicht erfüllt. So können die Muslime zusammen mit den Christen beten: »Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden!«
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»Nackt vor Gott« Systematisch-theologische Überlegungen zum Sinn des Bittgebets Reinhold Bernhardt
Wenn sich der Betende in existentieller Not bittend, flehend, klagend an Gott wendet, dann denkt er nicht über das Gebet nach, sondern vollzieht einen unmittelbaren Akt von höchster Intimität. Gott ist ihm dann näher als seine Halsschlagader, wie es im Koran heißt, näher als seine nächsten Mitmenschen und vielleicht sogar näher als er sich selbst. Es gibt keine Verordnungen und Regeln für solches Beten in vollkommener Selbstentblößung – alles ist möglich und erlaubt. Nicht jedes Bittgebet ist von solcher existentieller Intensität. Es gibt auch routinisierte, formelhafte Bitten – Gebete aus Gewohnheit oder Pflicht. Das gilt auch für das Fürbittgebet. Als Sonderfall des Bittgebets ist es auf nahe oder ferne Mitmenschen hin orientiert. Je nach der Beziehung zu diesen Menschen kann auch hier mehr oder weniger existentielle Dringlichkeit zum Ausdruck kommen. Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf diese existentielle Ebene des Gebetsvollzugs, bewegen sich aber auf der reflexiven Ebene des (systematisch-theologischen) Gebetsverständnisses. Sie gehen davon aus, dass in jedem Vollzug eines Gebets bestimmte theologische Vorentscheidungen (man kann durchaus sagen: eine bestimmte Theologie des Gebets) aktualisiert wird, in der sich wiederum das gesamte Glaubensverständnis des Betenden verdichtet. In der Auffassung dessen, was das Gebet ist, welchen Sinn es hat und was es bewirkt, spiegelt sich die Gottesbeziehung des betenden Menschen und umgekehrt. Zwei grundlegend verschiedene Verstehensweisen des Gebets, die unterschiedlichen Arten der Gottesbeziehung und des Gottesverständnisses korrelieren, lassen sich unterscheiden: Versteht und praktiziert der Betende das Gebet als Zwiesprache mit Gott, dann geht er von der Voraussetzung aus, dass Gott ein personales Gegenüber ist, zu dem man in eine personale Beziehung, also in ein Ich-Du-Verhältnis treten kann. Das auf diese Weise als Dialog 103
aufgefasste Gebet hat die Struktur von Wort und Antwort: Der Betende antwortet auf das Wort Gottes und erwartet eine Antwort Gottes auf seine Anrede. Geht er demgegenüber davon aus, dass es sich bei Gott um eine transpersonale Geisteskraft handelt, die alle Wirklichkeit durchdringt, wird er sich nicht in ein personales, sondern in ein mystisches Verhältnis zu diesem Seinsgrund setzen und das Gebet eher als kontemplative und meditative Konsonanz zwischen dem eigenen Personzentrum und der allgegenwärtigen göttlichen Seinsmacht verstehen und praktizieren, als Erhebung der Seele zu Gott. In der biblischen Überlieferung dominiert die personale Auffassung Gottes und dementsprechend das Verständnis des Gebets als Rede zu/mit Gott. Besonders im Alten Testament erscheint Gott dabei als hörender und sprechender Dialogpartner des Menschen. Dass er sich von den Gebeten der ihn Anrufenden bewegen lässt, ist durch viele Zeugnisse belegt. Nur zwei Beispiele aus Altem und Neuem Testament seien herausgegriffen: In Gen 18,16 ff. bittet Abraham eindringlich für die Bewohner Sodoms und ›handelt‹ dabei die Zahl der Gerechten als Bedingung für die Verschonung der Stadt herunter. Im Gleichnis vom ungerechten Richter in Lk 18,1 ff. werden die Christen dazu aufgefordert, Gott im Gebet regelrecht zu bedrängen, damit er ihnen Recht schafft. Ist damit nicht die von Kant kritisierte »pochende Zudringlichkeit des Bittens«1 in kaum zu überbietender Form als rechte Gebetshaltung nahe gelegt? Wird hier nicht Gott als ein anthropomorpher himmlischer Gesprächspartner dargestellt, der durch intensive Gebete beeinflusst werden kann? Mit der Rezeption des griechisch-philosophischen Gottesdenkens – in der Alten Kirche etwa bei Klemens von Alexandrien und in der Aristoteles-Rezeption der Scholastik vor allem bei Thomas von Aquin – wurde demgegenüber die Transzendenz, schlechthinnige Vollkommenheit, Unveränderlichkeit, Unbeeinflussbarkeit, Leidenschaftslosigkeit Gottes betont. Je stärker aber der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Vater Jesu Christi mit der arche, dem transpersonalen ontischen Urprinzip, identifiziert wurde, umso weiter musste das Verständnis des Gebets als Rede mit Gott zurücktreten und Auffassungen Platz machen, die es 1
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»Auch ist es ein ungereimter und zugleich vermessener Wahn, durch die pochende Zudringlichkeit des Bittens zu versuchen, ob Gott nicht von dem Plane seiner Weisheit (zum gegenwärtigen Vorteil für uns) abgebracht werden könne.« (Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: ders., Werke, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 4, Darmstadt 1983, 872). Vgl. auch Immanuel Kant, Vom Gebet, in: Kants gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Bd. 19, Berlin/Leipzig 1934.
als verehrende Anrufung des höchsten Vollkommenheitsziels oder als Versenkung in den tiefsten Seinsgrund deuteten. In den folgenden thesenhaften Überlegungen soll eine systematischtheologische Interpretation des Gebets im Allgemeinen und des Bitt- und Fürbittgebets im Besonderen gegeben werden, die versucht, die unverzichtbaren Wahrheitsmomente beider Denkwege – des personalen und des transzendental-ontologischenen (oder mystischen) – aufzunehmen und zusammenzuführen. In ihrer gegenseitigen Korrektur bewahren sie vor den Gefahren einer einseitigen Auslegung: vor personalistisch-verengten Auffassungen der Gottesbeziehung als einer Subjekt-Subjekt-Relation und den mit ihnen zumeist verbundenen anthropomorphen Gottesbildern einerseits, vor mystisch-vergeistigenden Vorstellungen der Einswerdung mit dem Seinsgrund und den ihnen in der Regel korrelierenden metaphysisch-ontologischen Deutungen der göttlichen Wirklichkeit andererseits.
1. Gebet ist nicht Reden, sondern »Hören«, d.h. Innewerden, Besinnung, Vergewisserung »Als mein Gebet immer andächtiger und innerlicher wurde, da hatte ich immer weniger und weniger zu sagen. Zuletzt wurde ich ganz still. Ich wurde, was womöglich ein größerer Gegensatz zum Reden ist, ich wurde ein Hörer. Ich meinte erst, Beten sei Reden. Ich lernte aber, dass Beten nicht nur Schweigen ist, sondern Hören. So ist es: Beten heißt nicht, sich selbst reden hören, beten heißt, still werden und still sein und warten, bis der Betende Gott hört.« (Søren Kierkegaard)2 Gebet ist eine asymmetrische Kommunikation, die sich nicht im Wechselspiel von Reden und Hören, Wort und Antwort vollzieht, sondern als kontemplative Anrede an Gott, als Rede vor Gott, in der (oder nach der) sich beim Betenden eine Gewissheit ausbildet. Darin ist es unterschieden
2
Zit. nach Jörg Zink, Wie wir beten können, Stuttgart 1991, 20.
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von einem Gespräch von Subjekt zu Subjekt. Statt einem Wortwechsel findet eine Wechselwirkung von Wort und Vergewisserung statt.3 Das gilt auch und gerade dann, wenn der Betende klagend und anklagend vor Gott steht, wenn er sich in der Gottesfinsternis glaubt und an der Verschlossenheit Gottes leidet. Auch wo dem Betenden keine erhellende Gewissheitserfahrung zuteil wird, drückt sich im Gebet sein Festhalten an Gott und Gottes Festhalten an ihm – und damit eine implizite Gewissheit – aus, wie im Wort Jesu am Kreuz: »Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?« (Mk 15,34) Im Gebet überschreitet sich der Betende auf Gott hin. Er transzendiert sich und die Situation, in der er lebt, und »legt sie Gott ans Herz«. In diesem Sinne ist das Gebet eine Bewegung der Ek-stase, des Sich-selbst-Übersteigens und Sich-Ausrichtens auf Gott hin. Wo sich im oder nach dem Gebet eine Einsicht einstellt, ist sie mit dem Gefühl verbunden, nicht selbst erzeugt zu sein. Sie leuchtet ein, wird als Illumination wahrgenommen, als subjektive Erschließungserfahrung, als ein Sehen des Vor-Augen-Liegenden mit anderen Augen, als eine Erkenntnis, die sich dem Erkennenden ein-bildet, sich eröffnet und ihn selbst dabei und damit öffnet. Sie schafft die Voraussetzungen ihrer Erkennbarkeit selbst und transzendiert darin die Erkenntnisvoraussetzungen und -routinen des Subjekts, auch seine Glaubensgewissheiten. Darin transformiert sie das Subjekt, stellt es in das Licht des erhellenden Angesichts Gottes. So verstanden ist das Gebet eine Offenbarungserfahrung: Offenbarung als Bildung in der tiefsten Bedeutung des Wortes: als »Einbildung« (im Sinne Meister Eckharts), als Eingebildet-Werden in ein Sinnmuster, als Ausbildung einer imago per inspirierter Imagination.4 In der Wahrnehmung bricht Wahrheit auf – nicht in Form von verifizierbarer Behauptungswahrheit, sondern in Gestalt einer unmittelbar evidenten Klarheit. Ein Horizont öffnet sich, wobei es der aufbrechende Horizont ist, von dem die Erleuchtung ausgeht. Gebet ist demnach keineswegs nur ein meditatives Selbstgespräch.5 Es ist Anrede, aber kein 3
4
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Nach Luther soll man Gott im Gebet das Herz hinhalten, damit er »Gewisses hineingeben kann« (Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883 ff. [im Folgenden zit. als WA], [Bd.] 19, 212,30 ff.; [Bd.] 2, 127,6 ff.). Auch Walter Bernet bezeichnet Beten als einen »Bildungsvorgang«, versteht dies aber als Selbstbildung des Betenden (Walter Bernet, Gebet [Themen der Theologie 6], Stuttgart/Berlin 1970, 139). In seiner scharfen Kritik am (Bitt-)Gebet geht Kant davon aus, dass es sich dabei um ein Selbstgespräch mit einem nicht vorhandenen Gesprächspartner
Dialog; Anrede im Geist, der vom Angeredeten ausgeht und den Betenden einschließt. Nach der alten trinitätstheologischen Gebetsformel richtet sich das Gebet an den Vater, wird durch den Sohn vermittelt und im Geist vollzogen. Der Betende überlässt sich dem Geist Gottes, wird offen und leer für die Erfüllung mit Gottes Geistgegenwart. Daher ist die grundlegende Gebetsbitte nach neutestamentlicher Überlieferung die Bitte um den Heiligen Geist – Epiklese. Nach Lk 11,13 gibt Gott denen, die ihn bitten, den Heiligen Geist. So sehr das Gebet vom Menschen ausgeht und auf ihn bezogen ist – es geschieht im Geist und in der Wahrheit (Joh 4,23 f.; nach Joh 14,17 und 15,26 ist der von Gott gesandte »Tröster« der »Geist der Wahrheit«). Die Geistgegenwart Gottes selbst bringt es hervor. Der Betende und der Adressat des Gebets sind nicht nach dem Schema zweier Subjekte zu unterscheiden. Gott bringt sich im Gebet selbst zur Sprache. »Wir wissen ja nicht, um was wir bitten sollen, wie es sich gehört. Da tritt der Geist selbst für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen« (Röm 8,26). Deshalb ist Beten nicht »sich selbst reden hören« (Kierkegaard), sondern Hören und Sich-Gott-Überlassen. Die Frage, wer im Gebet aktiv ist, Gott oder der Betende, führt also in eine falsche Alternative. Sie kann durch das Verständnis des Gebets als zeitliche Folge von Wort und Antwort genährt werden. Demgegenüber stellt gerade das Gebet das Paradigma für ein Handeln des Menschen im Wirkraum der Gottesgegenwart dar. Nicht nach dem Modell einer Interaktion zweier Handlungssubjekte – etwa als Kooperation oder auch als Konkurrenz – ist es zu deuten, sondern als In-Sein in der Gegenwart Gottes, die sich im Betenden vergegenwärtigt. Das Gebet kann als »Atmen der Seele«6 verstanden werden, als transpersonale Erfahrung, die aber nicht auf ein Verwehen der eigenen Personalität, sondern gerade umgekehrt auf ihre Stärkung zielt. Der Betende löst sich nicht in einem ozeanischen Universum auf, sondern steht mit seinem transzendenzoffenen Personzentrum im Geist Gottes und empfängt sich darin als der, der er von Gott her ist.
6
handelt: »Daß ein Mensch mit sich selbst laut redend betroffen wird, bringt ihn vor der Hand in den Verdacht, daß er eine kleine Anwandlung von Wahnsinn habe« (Immanuel Kant, Religion [s. Anm. 1], 871). Wolfgang Pauly, Vom Atmen der Seele. Prolegomenon zu einer Theologie des Gebets in der Moderne, in: Konrad Hilpert/Karl-Heinz Ohlig (Hg.), Der eine Gott in vielen Kulturen. Inkulturation und christliche Gottesvorstellung, Zürich 1993, 329–339.
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Wo sich im oder nach dem Gebet die Bildung einer Gewissheit als Erfahrung des inneren Überführtwerdens von Gott einstellt, kann sie als Erhörung des Gebets erlebt werden. Doch auch wo diese Erfahrung ausbleibt und das Gebet scheinbar »ungehört« ins Leere geht, wo der Betende nichts »hört« und Gott gegenüber das Ausbleiben einer »Antwort« beklagt, lebt das Gebet aus der Hoffnung auf die kreative und heilshafte Gegenwart Gottes, darauf, dass Gott es »hört«. Die bisher skizzierte Theologie des Gebets geht davon aus, dass Gott kein anthropomorphes personales Subjekt ist. Als die alles bestimmende Wirklichkeit, Grund und Ziel allen Seins, ist »er« eine transpersonale Wesenheit. Doch kann das menschliche Geschöpf auf seine Weise – also personal – mit dieser überpersonalen geistigen Wirklichkeit kommunizieren. Denn wenn sich Gott (nach jüdisch-christlich-islamischer Überlieferung) auch Personen gegenüber in personaler Weise offenbart, so lässt sich aus diesem Modus der Selbstmitteilung noch nicht schließen, dass er an sich Person ist. Das Wesensgeheimnis Gottes liegt allen menschlichpersonalen Schematisierungen der Gottesoffenbarung und sogar den personalen Formen dieser Offenbarung selbst voraus – wie die Offenbarungen als Erschließungen eines unerschöpflichen Geheimnisses selbst zu erkennen geben. Dass Gott als transpersonale Seinsmächtigkeit zu denken ist, bedeutet jedoch nicht, dass es sich dabei um ein starres Prinzip handelt, das dem Konkreten und Spezifischen der jeweiligen Situation gegenüber indifferent wäre. Gerade als allgegenwärtige Geisteskraft »hört« er in schöpferischer Intuition auf die besondere Situation. Die personale Kommunikation mit Gott geschieht in verbaler und nonverbaler, individueller und gemeinschaftlicher, frei formulierter oder traditionell geprägter Form in den vier für die abrahamitischen Religionen charakteristischen Arten: Lob/Dank, Bitte/Klage (wozu auch die Buß- und Beichtgebete zu rechnen sind). Das Gebet stellt aber nicht nur einen je einzelnen Akt, sondern auch eine Existenzausrichtung dar. Es ist eine Handlung, aber mehr noch: eine Haltung. Wenn die Christen nach 1Thess 5,17 und Eph 6,18 zu unaufhörlichem, unablässigem Gebet ermahnt werden, dann lässt sich das im Sinne einer solchen Lebenshaltung verstehen: als »dauernde und alle Einzeltätigkeiten der Glaubenden durchdringende Einstellung, aus der das Leben des Glaubens gelebt werden will«7. Ohne solches Gebet des Herzens ist das Gebet der Lippen
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Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 3, Göttingen 1993, 231.
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nach Luther ein unnützes Gemurmel.8 »Wesen und Natur des Gebets ist nichts anderes als Erhebung des Gemüts oder Herzens zu Gott«.9 So sehr das Gebet unmittelbarer Ausdruck des Glaubens ist – als glaubende Ausrichtung auf die Nähe Gottes –, so wenig kann es doch als dessen Funktion verstanden werden. Denn gerade dort, wo der Glaube in eine Krise gerät, bekommt es seine besondere Dringlichkeit als Gebet um Stärkung des Glaubens. Als unverfügbare Gabe hat der Glaube selbst die Struktur der Bitte. So sehr also der Glaube ins Gebet drängt, so wenig ist ein bestimmtes Maß an Glaubensstärke die notwendige Bedingung des Gebets. So sehr das Gebet selbst zur Glaubenserfahrung werden kann, so wenig ist es doch durch eine bestimmte Erfahrungsqualität bestimmt.
2. Sinn des Bittgebets ist es nicht, Gott zu beeinflussen, sondern den Einfluss Gottes zu erbitten Schon Augustin10 und Luther11 haben darauf hingewiesen, dass im Bittgebet nicht Gott unterrichtet wird, sondern dem Menschen eine Aufrichtung widerfährt. Sinn des Bittgebets ist es demnach nicht, Gott von der eigenen Bedürftigkeit in Kenntnis zu setzen, Einfluss auf seinen »Ratschluss« (d.h. die heilshafte Schöpfungsbestimmung für bestimmte Situationen, Beziehungen und Geschehenszusammenhänge) zu nehmen (vgl. Hebr 6,17 f.) oder ihn zu gezielten Interventionen zu veranlassen, sondern (1) sich vor Gott in seiner Bedürftigkeit und Angewiesenheit anund durchsichtig zu werden, sich (bzw. die Situation des eigenen Lebens) coram Deo zu deuten, Sinnmuster im Gegebenen zu entdecken, der Situation gewissermaßen auf den Grund zu gehen und (2) sich (bzw. die Situation des eigenen Lebens) dabei zu transzendieren, d.h. nach ausstehender Sinnstiftung zu suchen und zu verlangen und auf diese Weise mit der Theodizeefrage umzugehen. Bildhaft gesprochen: Sinn des Bittgebets ist es, die eigene Bedürftigkeit mit den Augen Gottes anzuschauen und Gottes Geisteskraft für ihre Bewältigung zu erbitten. Zentrale Bedeutung 8 9 10
11
WA 5, 584,14. WA 2, 85,9. »Das vernünftige Geschöpf bringt Gott Gebete dar [...], damit es selbst aufgerichtet werde (construatur), nicht, damit Gott unterrichtet werde (instruatur).« (Augustinus, De gratia Novi Testamenti 25, PL 33, 568; vgl. ders., Sermones 58, 3/4, PL 38, 379.) »Also, dass wir durch unser Gebet mehr uns selbst unterrichten denn ihn.« (WA 32, 419,1 ff.)
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kommt dabei der »unaufhörlichen Bitte um den Geist der Bewahrung« (Christoph Blumhardt) zu. Damit ist von vornherein jede magische Auffassung ausgeschlossen, die davon ausgeht, das Bittgebet könne Gott in seiner Willensverfügung und in seinem Handeln ›kausal‹ beeinflussen, so dass er als transzendente Wirkursache die Wünsche des Betenden erfüllt. Nach biblischer Auffassung bleibt Gott der Souverän der Gebetserhörung und -erfüllung, der nicht für die Verwirklichung menschlicher Zielvorstellungen in Anspruch genommen werden kann. Das Bittgebet hat keinen Zweck außerhalb seiner selbst. Es ist ein »selbstzweckliches Vollendungsgeschehen«12, was allerdings nicht bedeutet, dass es keine Wirkung über den eigenen Vollzug hinaus hätte. Die mit dem Gebet verbundene Erwartung kann daher nicht sein, dass Gott spezifische Mängel behebt und Bedürfnisse befriedigt, sondern dass er die Situation auf die von ihm bestimmte Erfüllung ausrichtet – eventuell auch dem Gebetsanliegen genau entgegengesetzt, wie es Jesus in seinem Gebet in Gethsemane (»nicht mein Wille geschehe, sondern dein Wille«, Lk 22,42 parr) einräumt. Bonhoeffer hat diese gebetstheologische Einsicht in die bekannte Formulierung gefasst: »Nicht alle unsere Wünsche, aber alle seine Verheißungen erfüllt Gott.«13 Gott bedarf keiner Unterrichtung über die spezifische Bedürftigkeit des Geschöpfs, denn nach Mt 6,8 (vgl. 6,32) weiß er, was der Betende braucht, bevor dieser ihn bittet. Unter der Voraussetzung, dass das Gebet primär Einstimmung in Gottes Willen ist, können dann allerdings auch sehr konkrete Bitten in der Gegenwart Gottes vorgetragen werden, wie es Jesus im grundlegenden Bittgebet der Christenheit, dem Vaterunser, gelehrt hat. Wenn hier, wie auch in Mt 7,7 f. (vgl. Mt 21,22; Mk 11,24); Joh 15,7.16; 16,24; Jak 5,16 u.ö., zum spezifischen Bitten aufgefordert und solchen Gebeten Erhörung verheißen wird, so lässt sich das im Sinne der o.g. situationssensiblen Gegenwart des Gottgeistes verstehen, der allein schon durch die Rekonstellation der Situationswahrnehmung die Situation verändert, indem er beispielsweise die Sorge um die Existenzerhaltung durch Vertrauen auf Gottes Fürsorge relativiert. 12
13
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Gottfried Bachl, Thesen zum Bittgebet, in: Theodor Schneider/Lothar Ullrich (Hg.), Vorsehung und Handeln Gottes (Quaestiones disputatae 115),
Freiburg/Basel/Wien 1988, 192. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Eberhard Bethge, München 1966, 265 (Brief vom 14.08.05).
Es ist kein ausschließender Gegensatz, um »etwas« oder um Gottes Geist zu bitten, denn Gottes Geist vergegenwärtigt sich im Konkreten und Alltäglichen – auch in den elementaren Lebensgütern wie dem »täglichen Brot«. Die Begrenzung der Gebetsanliegen auf geistliche oder ideelle Inhalte ist demnach nicht sachgemäß.14 Im Bittgebet vollzieht sich zum einen das Innewerden (Vergewisserung) der Sinnrichtung dessen, was Gott »will« oder für eine bestimmte Situation »zugedacht«, »vorgesehen«, »bestimmt« hat. Zum anderen nimmt es den Betenden in diese Sinnrichtung mit hinein und bewirkt in ihm eine existentiell-transformierende Erkenntnis – genauer: eine Verschränkung von Gottes-, Selbst- und Welterkenntnis, die wiederum Folgen für sein Handeln hat. Im Bittgebet sucht der Betende, in Einklang mit Gott zu kommen, d.h. hinsichtlich des aktiv-handelnden Weltbezugs: den »Willen« Gottes zu erkennen, zum Tun dessen befähigt zu werden, was dem »Willen« Gottes gemäß ist. Wo die Handlungsmöglichkeiten des Menschen an Grenzen stoßen und Situationen nicht mehr grundlegend verändert werden können (z.B. angesichts tödlicher Krankheiten), richtet sich der Gebetswunsch darauf, Kraft zu bekommen, um das zu erleidende Widerfahrnis in angemessener Verbindung von Widerstand und Ergebung aushalten zu können. Doch verändert das Bittgebet nicht nur den Betenden selbst und seine Beziehungen zu denen, die er in sein Gebet einschließt, sondern – vermittelt durch sein Handeln – auch die Situation, in der er lebt. Auf diese Weise wird das Bittgebet selbst ein »sehr machtvoller Faktor«15, durch den Gott wirkt. – Die Frage, ob es nicht nur im Betenden und durch ihn hindurch, sondern auch gewissermaßen unabhängig von seinem Wahrnehmen und Handeln die Wirklichkeit verändert, stellt sich besonders hinsichtlich des Fürbittgebets und soll im folgenden Abschnitt behandelt werden.
14
15
Hans-Martin Barth hat vier Begründungs- und Verstehensmodelle des Bittgebets herausgearbeitet: (a) seine Begründung in Gottes Gebot, (b) die Bitte »um etwas«, (c) die Bitte »um Gott«, (d) die Bitte, die sich ausschließlich als Veränderung des Bittenden begreift. Den darin jeweils implizierten Gottesverständnissen stellt er einen trinitätstheologischen Ansatz gegenüber (vgl. Hans-Martin Barth, Wohin – woher mein Ruf? Zur Theologie des Bittgebets, München 1981). Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. 1, Berlin/New York 81987, 307.
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3. Sinn des Fürbittgebets ist es, andere Menschen, Beziehungen und Situationen für die Geistgegenwart Gottes zu öffnen Das Fürbittgebet als spezieller Fall des Bittgebets unterscheidet sich von diesem darin, dass hier in bestimmten Fällen um einen Einfluss Gottes auf Menschen, Beziehungen und Situationen gebeten wird, zu denen der Betende nicht in unmittelbarem Kontakt steht, die ihm aber dennoch »am Herzen liegen«. Die Ausübung dieses Einflusses kann in solchen Fällen weder durch das Medium des Gebets selbst noch durch die im oder nach dem Gebet gebildete Gewissheit noch durch das aus dem Gebet fließende Handeln des Betenden erwartet werden. Um diese Frage zu beantworten, braucht die theologische Deutung des Fürbittgebets über das bisher zum Bittgebet Gesagte jedoch sachlich nicht hinauszugehen, sondern nur daran zu erinnern, dass im Gebet und durch das Gebet nicht der Betende oder der Vollzugs des Gebets selbst, sondern der Geist Gottes wirkt. Die Geistgegenwart Gottes aber ist (nach dem von mir bevorzugten Deutemodell) als Kraftfeld über die gesamte Wirklichkeit ausgespannt und bringt ihre Wirkungen durch ihre operative Präsenz hervor. Gott wirkt in der Wirkung des Gebets selbst, aber auch weit über sie hinaus. Wie in einem Netzwerk von einer Einwirkung auf eine bestimmte Stelle ein Einfluss auf das gesamte Geflecht ausgeht, so ist es durchaus denkbar, von einer (nicht-mechanischen, sondern geistigen) Selbstbewegung des göttlichen Kraftfeldes auszugehen, in die der Betende mit seinem Gebet aktiv hineingenommen ist und die in ihm und in seinem Nahbereich, aber auch fern von ihm zur Wirkung kommt. Es wird diese eine Wirkung sein, die auch andere, sich für den Geist Gottes öffnende Menschen in Anspruch nimmt und auf diese Weise wiederum vermittelt wirkt, etwa durch Akteure, die politische Prozesse gestalten. Über eine psychologisierende Deutung des Fürbittgebets als Solidarisierung mit den Leidenden, für die gebetet wird, hinaus vermag eine solche pneumatologische Interpretation von einer wirklichen Einflussnahme der Geistgegenwart Gottes auf deren Situation auszugehen. Diese kann in einem transformierenden Impuls auf die Wahrnehmung, das Gewissen und die Handlungsmotivation der für die Situation Verantwortlichen bestehen oder in der Stärkung der Leidenden mit Widerstandskraft und/oder in einer darüber hinausgehenden Einwirkung auf den Situationszusammenhang.
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Im Fürbittgebet partizipiert der Betende am Vorsehungswirken Gottes, er nimmt »faktischen realen Anteil« an Gottes Herrschaft16, indem er sich in die Sinnrichtung des Gottgeistes einbeziehen und ihn in sich zur Wirkung kommen lässt und seine Wirksamkeit für Menschen und Situationen außerhalb seiner selbst und seiner Lebenswelt erbittet. Die zentrale Bitte besteht darin, dass diese Geisteskraft in ihrer Ausrichtung wirkmächtig werde und möglichst ungebrochen Mentalitäten, Situationen, Beziehungen formiert. Da es sich dabei immer nur um eine relative – weil gegen die Widerständigkeit anders ausgerichteter Strebekräfte kämpfende – Durchsetzung handelt, kann der status quo nicht ungebrochen als Resultat des Vorsehungswirkens Gottes gedeutet und damit legitimiert werden. Erst aus der schmerzlich empfundenen Differenz der Realität zu ihrer im Glauben erfassten göttlichen Bestimmung gehen Klage und Bitte hervor. Die Bitte richtet sich auf die Verwirklichung dieser Bestimmung. Ein vorsehungstheologischer Determinismus, der von einer fest gefügten Vorausverfügung alles geschöpflichen Geschehens ausgeht, würde demgegenüber das Bitt- und Fürbittgebet sinnlos machen, die Freiheit der Geschöpfe leugnen und Gott zur Ursache des Bösen erklären müssen. Indem das (Für-)Bittgebet den status quo im Lichte einer noch ausstehenden Bestimmung sieht, hält es die Hoffnung auf ein ganzheitlich heiles Leben für den Betenden und die von ihm in seine Fürbitte Eingeschlossenen wach – und klagt sie ein. Es stellt die Gebrochenheit der konkreten Situation unter den eschatologischen Vorbehalt von Verheißung und ausstehender Erfüllung. Das Gebet selbst wird zur Antizipation der Erfüllung in der konkreten Alltäglichkeit gelebten Lebens. In der ersten Bitte des Vaterunser »Dein Reich komme« findet diese präsentisch-eschatologische Ausrichtung ihren Ausdruck. Der Betende gibt sich in seinem Gebet als »ad-ventliches Wesen« zu erkennen, das »auf ihn zukommende Sinnerfahrung angewiesen (ist) wie auf sein tägliches Brot«.17 Die Fürbitte steht in der Tradition der Interzession, des Eintretens eines Mittlers bei Gott, und ist daher mit einer besonderen Würde ver16
17
Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. III/3, Zürich 1961, 323. In anthropomorphisierender Sprachgestalt heißt es wenig später: »Wo der Christ glaubt, gehorcht und betet, […] da bewegt sich […] verborgen in der kreatürlichen Bewegung, aber höchst real, der Finger, die Hand, das Szepter des die Welt beherrschenden Gottes, mehr noch: da bewegt sich Gottes Herz […]« (ebd. 326). Wolfgang Pauly, Vom Atmen der Seele (s. Anm. 6), 329.
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bunden. Von der Fürbitte des Mose für den Pharao zur Abwendung der Plagen (Ex 8,4 f.24 ff.; 9,28; 10,17 ff.; 12,32) über die Fürbitten der Propheten (etwa Am 7,1–6) und der Priester im Alten Testament bis hin zum Abschiedsgebet Jesu mit der Fürbitte für seine Anhänger (Joh 17,9 ff.; vgl. Lk 22,32) und den Bitten des Paulus für seine Gemeinden (Röm 10,1; Phil 1,9; Kol 1,9) erstreckt sich die Reihe der in herausgehobener Weise vor Gott stehenden Beter-für-andere. In der Marien- und Heiligenverehrung zieht sie sich weiter durch die Geschichte vor allem der römisch-katholischen Kirche. In jeder Fürbitte hat der Betende Anteil an dieser Würde der Gottesmittler und steht dabei unmittelbar vor Gott. – Doch nicht als Einzelner, der ein Alleingespräch mit Gott führt, sondern eingebunden in das Geflecht des geschöpflichen Mit-Seins, in dem er coram Deo Verantwortung für andere Geschöpfe übernimmt, aber auch sich seiner eigenen Verantwortung bewusst wird. »Beten heißt dann auch: sich als Mitschuldigen identifizieren.«18 In dieser Unmittelbarkeit zu Gott tritt er aus der Unmittelbarkeit zu seiner eigenen Existenz und zu dem, was ihn »angeht«, heraus. Im Exerzitium des Gebets gewinnt er mediatative Distanz zu dem ihn Bedrängenden. In der Zufluchtnahme bei Gott sucht und findet er Beistand angesichts des Unverfügbaren, dem er sonst schutzlos ausgeliefert wäre und auf das er u.U. mit Resignation oder zermürbender Rebellion reagieren würde. Gegen Schleiermachers und Ritschls Kritik am Bitt- und Fürbittgebet als einer problematischen Bedrängung Gottes mit menschlichen Wünschen19 geht das hier skizzierte pneumatologische Gebetsverständnis davon aus, dass ein Bittgebet im Geist der Wahrheit Gottes ein sinnvoller und not-wendiger Ausdruck der in allen ihren Dimensionen – einschließlich ihrer Bedürftigkeit und ihres Leidens – von Gott umgebenen und durchdrungenen menschlichen Existenz ist. Problematisch ist der Gedanke einer Beeinflussung Gottes, nicht aber die Hoffnung auf eine realitätsverändernde Wirkung, die durch Gottes Geistgegenwart vom Gebet ausgeht:
18 19
Dorothee Sölle, Das Recht, ein anderer zu werden, Stuttgart 1981, 36. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsät-
zen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 21830/31, § 147.2 (im Kontext von 146 f.) (= Kritische Gesamtausgabe, hg. von HansJoachim Birkner u.a., I.13,2, Berlin 2003, 422–425), und Albrecht Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 3, Bonn 2 1883, Hildesheim/New York 1978, § 66 (595–600).
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eine Wirkung auf die Wirklichkeitswahrnehmung des Betenden, auf seine Beziehung zu Gott, zu sich selbst (zu seinem eigenen Existenzvollzug und seiner Lebensdeutung) sowie zu seiner Mitwelt; eine durch seine Handlungsdispositionen und das daraus hervorgehende Handeln vermittelte Wirkung auf die Situation, in der er lebt; eine Wirkung auf Menschen und Situationen, die außerhalb seines Wirkungskreises liegen, aber ebenso wie er selbst im Kraftfeld des Geistes Gottes stehen.
In der Hoffnung auf solche realitätsverändernden Wirkungen des Gebets und durch das Gebet bringt sich das Getragen- und Aufgehobensein des Betenden in der Geistgegenwart Gottes zum Ausdruck. Es hilft zum Leben, denn es schöpft aus der Quelle der Lebenskraft und -freude.20
4. Christliches Gebet in interreligiöser Perspektive Christliches Gebet vollzieht sich im Namen Jesu Christi, der Manifestation der Geistgegenwart Gottes in einem von Gott dafür ausersehenen Menschen. So sehr es an Gott, den Vater, adressiert und im Geist vollzogen wird, so wenig kann es doch von der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus, dem Christus, absehen. Seine unmittelbare Gottesbeziehung, an der die ihm Nachfolgenden partizipieren, findet in der Vertrautheit seiner 20
Weitere Literatur zum (Für-)Bittgebet in systematisch-theologischer Perspektive: Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 1, Tübingen 1979, 192–244; Gisbert Greshake/Gerhard Lohfink (Hg.), Bittgebet – Testfall des Glaubens, Mainz 1978; Lukas Vischer, Fürbitte, Frankfurt 1979; Karl Rahner, Von der Not und dem Segen des Gebets, Freiburg 12 1985; Richard Mössinger, Zur Lehre des christlichen Gebets. Gedanken über ein vernachlässigtes Thema evangelischer Theologie, Göttingen 1986; Eilert Herms, Was geschieht, wenn Christen beten? in: ders., Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen 1992, 517–531. Religionswissenschaftlich ist die Studie von Friederich Heiler, Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung, München 1919, 51969, noch immer ein beachtenswerter Klassiker, wenn auch die Unterscheidung eines prophetischen von einem mystischen Frömmigkeitstypus ein sehr grobes Raster darstellt. Philosophische Perspektiven auf das Gebet bieten: Vincent Brümmer, Was tun wir, wenn wir beten? Eine philosophische Untersuchung (Marburger theologische Studien 19), Marburg 1985; Elmar Salmann/Joachim Hake (Hg.), Die Vernunft ins Gebet nehmen. Philosophisch-theologische Betrachtungen, Stuttgart/Berlin/Köln 2000.
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Abba-Gebete ihren höchsten Ausdruck. Sie zeigen ihn als betenden, in seiner Bedürftigkeit, Versuchung und Anfechtung Gott bittenden Menschen in der Tradition der Psalmenbeter (vgl. Hebr 5,7), nicht als ein Gottwesen, das für sich Anbetung beansprucht oder mit sich »ein gottheitliches Selbstgespräch führte«21. Sie zeigen ihn in der Haltung vollkommener Offenheit für Gott. Davon ist die christliche Gottesbeziehung, das christliche Gottesverständnis und das christliche Gebet zutiefst geprägt. Und darin unterscheidet es sich von der durch den Koran vermittelten Gottesbeziehung, dem islamischen Gottesverständnis und dem muslimischen Gebet. Das Moment des persönlich-intimen steht im Vordergrund, das rituell-pflichtgemäße tritt dahinter ganz zurück. Es ist primär ein individueller und erst sekundär ein gemeinschaftlicher Akt. In der Fürbitte wird – wie Traugott Schächtele treffend formuliert – »die Welt ins Gebet genommen« und Gott anbefohlen.22 Während die islamische Gebetstheologie dazu anleitet, sich dem souveränen Willen und dem herrscherlichen Handeln Gottes zu unterwerfen und ihn um sein Erbarmen zu bitten, kann die christliche Theologie auch an sein Mitleiden appellieren. Er ist der durch die Geschichte mitgehende, in sie eingehende und an ihr teilnehmende Gott. Die Inkarnation Gottes als tiefster Ausdruck seiner Weltzuwendung gibt dem christlichen Fürbittgebet seinen Grund. Es stellt eine »Pro-Vokation« Gottes dar23, die ihn auf diese Zuwendung anspricht und die deshalb immer in den Kontext einer Anamnese eingebettet ist: d.h. in die Besinnung auf – und die Erinnerung an das schöpferische, heilshafte und offenbarende Handeln Gottes in der Geschichte. Die (für einen echten Dialog zwischen Christentum und Islam unumgängliche) Anerkenntnis solcher Unterschiede schließt die Überzeugung jedoch nicht aus, dass Christen und Muslime zum gleichen – und sogar zum selben – Gott beten. Es handelt sich bei dieser Überzeugung allerdings um ein strittiges und begründungsbedürftiges Postulat, das nicht durch unmittelbare Berufung auf das Zeugnis der Bibel gestützt werden kann, für das es aber theologische Gründe gibt. Wenn die Frage letztlich auch offen gehalten werden muss, weil es keinen Erkenntnisstandpunkt gibt, von dem aus sie zu beantworten wäre, so besteht doch – wie bei vielen theologischen Fragen – die Verpflichtung, nach der plausibelsten Antwort zu suchen. 21 22
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Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik, Bd. 2, 1962 (71987), 65. Traugott Schächtele, Die Welt ins Gebet nehmen. Zur »Pro-Vokation« Gottes im gottesdienstlichen Fürbittengebet der Gemeinde. Informationen, Reflexionen, Anregungen (Wechsel-Wirkungen 7), Waltrop 2000, 1. Ebd.
Beten Christen und Juden zum gleichen Gott? Betet ein Christ, der Gott als martialischen Richter oder als »Stammesgott« einer bestimmten Nation oder Rasse ansieht, zum gleichen Gott wie ein Christ, der ihn als sich selbst hingebende universale Liebe versteht? Für die Beantwortung dieser Fragen ist es offensichtlich unumgänglich, zwischen Gott-in-seinem-Selbstsein, Gott-in-seiner-Offenbarung und den religiösen Gottesbildern zu unterscheiden. Auf der Ebene der Unterscheidung zwischen menschlichen Gottesvorstellungen und Gott-in-seinem-Selbstsein gilt: Gebete, die unterschiedliche Gottesverständnisse (und -missverständnisse) voraussetzen, können dennoch an den gleichen Gott adressiert sein. Gott in seinem Selbstsein wird nicht durch bestimmte Gotteskonzepte konstituiert, so dass davon abweichende Gottesvorstellungen diesen Gott notwendigerweise verfehlen würden. Ohne Zweifel gibt es in allen theistischen Religionen höchst problematische Gottesbilder und davon formierte Gebete, die dennoch an den einen und einzigen Gott gerichtet sind – ob sie ihn erreichen, liegt nicht in der Macht des Betenden. Ihnen gegenüber ist eine religiöse Religionskritik vonnöten. Keinesfalls kann das Gottesbild des Koran in dieser Pauschalität einer solchen Kritik unterworfen werden. Die Frage, ob Christen (Juden) und Muslime den gleichen Gott anbeten, betrifft im Kern die Unterscheidung zwischen Gott-in-seinemSelbstsein und Gott-in-seiner-Offenbarung. Die abrahamitischen Offenbarungsreligionen gehen davon aus, dass Gott sich in seiner Selbstbestimmtheit authentisch geoffenbart hat, so dass nur ein von dieser Offenbarung – also im Falle des Christentums von Christus, im Falle des Islam vom Koran – geprägtes Gottesverständnis das Selbstsein Gottes wahrhaft bezeugt. Für die Bearbeitung dieses Konflikts zwischen verschiedenen Offenbarungen bieten sich die beiden folgende Strategien an: (1.) Der Verweis auf die bleibende Differenz zwischen Gott-in-seinem-Selbstsein und Gott-in-seiner-Offenbarung: Das Wesen Gottes ist von der Gestaltwerdung des Wesens (d.h. seiner Offenbarung) in Christus unterschieden – nicht in dem Sinn, dass das Wesen in seiner Gestaltwerdung ein anderes würde, aber doch so, dass ein Äußerungsakt und damit eine Selbstunterscheidung stattgefunden hat. Die Trinitätslehre hat den Sinn, diese Einheit-in-Differenz zum Ausdruck zu bringen. In seiner Äußerung in Jesus Christus zeigt sich Gott ganz als der, der er ist. Und doch geht der in Christus menschgewordene Logos – das Wesenswort Gottes – über seine Manifestationsgestalt in Christus hinaus und wohnt in seiner Geheimnishaftigkeit in unzugänglichem Lichte (1Tim 6,16). 117
Die Gegenüberstellung zweier quasi monolithischer Gesamtoffenbarungen – in Christus und im Koran – stellt eine dogmatische Abstraktion dar. Offenbarung ist ein vielstelliges Wahrnehmungsgeschehen, das sich immer dort ereignet, wo sich die Geistgegenwart Gottes erschließt. In Hebr 1,1 ist von einer (in Christus kulminierenden) Mehrzahl von Offenbarungen Gottes die Rede, wobei offensichtlich davon ausgegangen wird, dass sie den einen und selben Gott vergegenwärtigen. Es ist also anzunehmen, dass auch Offenbarungen Gottes, die nicht auf Christus zentriert sind, von Gott in seinem Selbstsein ausgehen und dieses authentisch bezeugen. Doch ist die Frage, ob Christen und Muslime denselben Gott anbeten, mit dem Postulat, dass Gott allen seinen Selbstmitteilungen gegenüber transzendent bleibt, nicht zufriedenstellend zu beantworten.24 Denn wenn er an sich unerkennbar ist, lässt sich seine Selbigkeit in unterschiedlichen Offenbarungen (und auch die Authentizität der Offenbarungen selbst) nicht feststellen. Wenn aber alle Gotteserkenntnis nur durch Offenbarungen vermittelt ist, diese aber Gott unterschiedlich bestimmen, dann ist die Behauptung der Selbigkeit auf diesem Wege nicht begründbar. Weiter führt (2.) die Reflexion auf den Inhalt der Offenbarung: Nach neutestamentlicher Überlieferung – vor allem der synoptischen Evangelien, aber auch des Paulus und Johannes – hat Jesus in eine erneuerte, nicht durch Observanz, sondern durch vertrauende Hingabe getragene Beziehung zu Gott geführt, aber keinen anderen Gott als den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs gelehrt. Dieser Gott ist in seinem Wesen nicht durch den Namen und die Person Jesu Christi qualifiziert, sondern durch den Geist der unbedingten Liebe und Vergebungsbereitschaft, wie er in Jesus Gestalt angenommen hat. Dieser »Christusinhalt« aber lässt sich auch jenseits der Christusoffenbarung – auch im Koran – identifizieren. Wenn ein Gebet in diesem Geist vollzogen wird, richtet es sich an den Gott, von dem dieser Geist ausgeht. Die Frage, ob Christen und Muslime den gleichen Gott anbeten, ist in dieser Pauschalität also nicht sinnvoll gestellt. Es bedarf der Wahrnehmung des Geistes, der aus dem jeweiligen Gebet spricht, um sie immer wieder neu und ganz spezifisch zu beantworten. Es wird dies immer eine bloß vorläufige Antwort sein können, die letztgültige liegt bei Gott. 24
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Gegen John Hick, Juden, Christen, Muslime. Verehren wir alle denselben Gott?, in: Reinhard Kirste/Paul Schwarzenau/Udo Tworuschka (Hg.), Wertewandel und religiöse Umbrüche (Religionen im Gespräch 4), Balve 1996, 189–207.
Beobachterbericht zum Forum: Ist Gott beeinflussbar? Sinn und Zweck des Bittgebets Christian W. Troll
Der Titel des Forums benennt eigentlich zwei recht verschiedene Fragen oder Problembereiche. Der eine betrifft Sinn und Zweck des Bittgebets, der andere fragt, welches Gottesbild das Bittgebet voraussetzt, bzw. von welchem Gottesbild her Bittgebet sinnlos oder problematisch erscheint, bzw. ob im Hinblick auf ein bestimmtes Gottesbild Bittgebet wirklich mehr bezwecken oder bewirken kann als die Berührung oder Veränderung von Konstellationen im Bereich des Menschen und seiner Welt, durch den Menschen. Bevor die Diskussion im Forum dargestellt und weiterreflektiert werden soll, erscheint es sinnvoll, die Grundgedanken der Referate noch einmal kurz zusammenzufassen: Dem Beobachter ist die Folgerung Andreas Obermanns aus Mt 6,6 (Gebet zum Vater hinter verschlossenen Türen) besonders erwähnenswert: Das christliche Gebet erweist den christlichen Glauben konstitutiv als ex-zentrische Lebenseinstellung: Der Christ findet das Zentrum seiner Existenz außerhalb seiner selbst bei Gott, der um alles weiß, wessen er bedarf. Ferner die Aussage, es folge aus Mt 7,7 (»Bittet, dann wird euch gegeben, klopft, dann wird euch aufgetan …«) unstrittig, dass die Beter – angefangen von Abraham und Mose über Jesus bis Paulus – Gott beeinflussen können. Dabei sei Gottes Einlenken nicht als Automatismus und Zwang zu verstehen, sondern allein als Wirken seiner Freiheit. Obermanns Kernaussage ist die von der Empathie Gottes nach dem biblischen Zeugnis: Gott lässt sich vom menschlichen Elend und Fragen bewegen, lässt sich in Anspruch nehmen, und dies ist Basis dafür, dass der Mensch sich bittend an Gott wendet. Elhadi Essabahs Klarstellung dahingehend, dass das Bittgebet u.a. auch wesentlicher Bestandteil des (Pflicht-) Gebets (aÒ-ÒalÁt) sei, so wie
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es ja auch Teil der oft zitierten Eröffnungssure des Koran, der al-FÁtiÎa, sei, verdient festgehalten zu werden. Er nennt das Pflichtgebet gar »eine Art von ›Bittgebet‹« und betrachtet das Gebet des »Gottgedenkens« (alÆikr) als eine Art umfassende Klammer für alle Formen des Gebets. Fazit aus seiner Analyse zahlreicher relevanter Koranverse und Hadithe lautet, dass das Bittgebet »wesentlicher Bestandteil des islamischen Gottesdienstes und zentraler Ausdruck der Gott-Mensch-Beziehung« ist. »Der gläubige Muslim aber ist sich stets dessen bewusst, dass letztlich Gottes Wille geschieht und dieser Wille dem Menschen am meisten zum Heil gereicht.« So könnten die »Muslime zusammen mit den Christen beten: ›Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auch auf Erden.‹« In seinen systematisch-theologischen Überlegungen geht Reinhold Bernhardt in drei Schritten auf die von ihm klar unterschiedenen Themen ein: das Bittgebet, das Fürbittgebet und »die Überzeugung […], dass Christen und Muslime zum gleichen – und sogar zum selben – Gott beten«. Den Unterschied zwischen dem Bitt- und dem Fürbittgebet sieht er darin, »dass hier in bestimmten Fällen um einen Einfluss Gottes auf Menschen, Beziehungen und Situationen gebeten wird, zu denen der Betende nicht in unmittelbarem Kontakt steht, die ihm aber dennoch ›am Herzen liegen‹«. Bei der Beantwortung der Frage, ob Christen und Muslime den gleichen Gott anbeten, kommt Bernhardt zu dem Ergebnis, dass sie nur »immer wieder neu und ganz spezifisch beantwortet werden kann«, mit Blick auf die »Wahrnehmung des Geistes, die aus dem jeweiligen Gebet spricht«. Bei der Beantwortung der zentralen Frage nach dem Sinn und den theologischen Voraussetzungen des Bittgebets betont Bernhardt durchweg, dass einerseits Gott kein anthropomorphes personales Subjekt ist, andererseits aber »das menschliche Geschöpf auf seine Weise – also personal – mit dieser überpersonalen geistigen Wirklichkeit kommunizieren« kann. »Dass Gott als transpersonale Seinsmächtigkeit zu denken ist«, bedeutet für Bernhardt nicht, »dass es sich dabei um ein starres Prinzip handelt, das dem Konkreten und Spezifischen der jeweiligen Situation gegenüber indifferent wäre. Gerade als allgegenwärtige Geisteskraft ›hört‹ er in schöpferischer Intuition auf die besondere Situation.« Die Diskussion der Beiträge machte das Fehlen eines den Ausführungen des evangelischen Theologen Bernhardt vergleichbaren muslimischen systematischen Beitrags spürbar. Die muslimischerseits gemachten Aussagen zur koranischen Anthropologie in ihrer Bedeutung für ein rechtes Verstehen der Erhabenheit und Unberührbarkeit Gottes im Verhältnis zum bittenden Gläubigen ließen bedeutende Fragen offen: etwa 120
die Frage, wie weit die geschaffene Natur des Menschen in koranischer/islamischer Sicht auch theomorph angelegt ist bzw. gar theomorphe Züge trägt. Dem Beobachter stellte sich auch die Frage, ob es im Koran/Islam so etwas wie ein Gebet der Fürbitte für die Irrenden und gar für die Ungläubigen (kuffÁr) im Hinblick auf ihre Bekehrung und somit ihre Rettung vor ewiger Strafe gebe, mit anderen Worten, ob es in der islamischen Frömmigkeit Solidarität mit allen Menschen gebe, zunächst mit denen in dieser Welt der Prüfung, dann vielleicht aber auch mit denen, die schon gestorben sind. Ferner ist zu fragen, ob und wie eine solche Solidarität islamisch-theologisch zu begründen sei.1 Vor dem Hintergrund der bibel- und korantheologischen Ausführungen zum Bittgebet stellten die systematischen Ausführungen von Bernhardt eine äußerst anregende kritische Hinterfragung dar. Mir stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie es im Licht der Kernaussagen seines Vortrags mit der Überzeugung des biblischen Glaubens steht, Beten sei ein wirkliches Gespräch des Betenden mit Gott sowie Gottes mit dem Betenden? Wie steht es mit den unzähligen Berichten in der Bibel von schlichtem Bitten und von Antworten Gottes auf diese Bitten, wie steht es mit der Aufforderung, mit Gott wie mit einem Vater, einer Mutter zu sprechen und auf Gottes Wort zu hören? Entsprechen diese Redeweisen und die entsprechenden Beispiele dafür in der Hl. Schrift gewissermaßen Placebo-artig nur einem projizierten menschlichen (vielleicht gar: allzu menschlichen) Bedürfnis, oder verbirgt sich dahinter eine Sicht Gottes und der Gott-Mensch-Beziehungen, die Wesensbestandteil der offenbarten Wahrheit ist, die sich erschöpfender rationaler Aufklärung wesentlich entzieht? Bernhardt sagt kategorisch: »Die mit dem Gebet verbundene Erwartung kann daher nicht sein, dass Gott spezifische Mängel behebt und Bedürfnisse befriedigt, sondern dass er die Situation auf die von ihm bestimmte Erfüllung ausrichtet – eventuell auch dem Gebetsanliegen genau entgegengesetzt ….« Jedoch: Traut nicht der Betende in der Bibel (und doch wohl auch der vom Koran geformte muslimische Betende) Gott alles zu, während er/sie gleichzeitig weiß, dass Gott besser weiß, was uns wirklich vonnöten ist? Wenn »Schauen mit den Augen Gottes« oder »Aus-sicht halten nach Gott« der Sinn des Bittgebets sind, muss 1
Vgl. zur Frage der Fürbitte im Koran in religionsvergleichender Perspektive
Johann Bouman, Das Wort vom Kreuz und das Bekenntnis zu Allah. Die
Grundlehren des Korans als nachbiblische Religion, Frankfurt 1980, 248– 250.
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dann nicht dazu gesagt werden, dass dieser biblisch und mutatis mutandis auch koranisch geglaubte Gott nun aber gerade der Gott ist, der sich, verkürzt gesagt, eingelassen hat mit der ganz konkreten, geschaffenen Welt des bittenden Beters, dass er, eben nicht bloß »der erste und unbewegte Beweger« der griechischen Metaphysik, sondern der Gott Abrahams und Isaaks ist? Kann der Gott des koranischen Glaubens, der in Sure 40,60 an all seine Diener appelliert: »Ruft zu Mir, so erhöre ich euch!«, und kann der biblische Gott des »Ich bin der für und mit euch da ist«, der Gott der Erwählung seines Volkes, der Emmanuel, der nach christlichem Glauben in Jesus Mensch gewordene Gott, anders konzipiert werden denn als frei in seiner Schöpfung, mit seinen Geschöpfen agierend, Person und natürlich auch wieder mehr und etwas anderes als Person? Oder bedeutet der Glaube an einen Gott, der persönlich in der Geschichte interveniert, der beruft und antwortet, letztlich eine Projektion und damit eine »Vergötzung« Gottes? Stellt nicht gerade der Glaube an einen persönlichen Gott ein Bekenntnis zu einer ganz radikal verstandenen göttlichen Transzendenz dar, der Transzendenz des Schöpfergottes, der auch noch einmal unsere rationalen Einsprüche übersteigt sozusagen in die Lächerlichkeit seines sich in unsere konkrete menschliche Geschichte Hineinbegebenhabens, das zumindest der christliche Glaube bekennt?2 So versteht sich, dass die Rückkehr zu Texten der Bibel und des Korans während der Diskussion besonders lebendig ausfiel: z.B. die ausgedehnte Diskussion über Mt 6,6: das »Vergelten« durch den Vater des Gebetes, das im Verborgenen geschieht. Oder Abdelmalik Hibaouis Ausführungen über die Frage, ob Gott durch das Gebet beeinflussbar sei und was in diesem Zusammenhang die islamische Rede von den »Pflichten Gottes« bedeute. Jedenfalls ergab sich eine Diskussion, die erneut klar machte, wie vital aktuell die Fragen für die Muslime und Christen bis heute bleiben, die seit Jahrhunderten zwischen MuÝtaziliten, AšÝariten bzw. Hanbaliten unter den muslimischen Theologen verhandelt werden. Im Zusammenhang des Themas wären informierte Antworten etwa auf folgende zwei Fragenkomplexe von großem Wert: Wie sind die großen Beter und Denker in den beiden Traditionen auf die in den Vorträgen und Diskussionen des Forums genannten Fragen zum Bittgebet und Gottesbild bzw. zum Verständnis des Gott-Menschund Mensch-Gott-Verhältnisses eingegangen? Was haben etwa Augusti2
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Anregend sind in diesem Zusammenhang die Bemerkungen von Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum, München 1968, 261–264.
nus (gest. 430), Abu Hamid M. al-ÇazzlÐ (gest. 1111), Ibn ÝArabÐ (gest. 1240), Meister Eckhardt (gest. 1327), Ignatius von Loyola (gest. 1556), Theresa von Avila (gest. 1582) und AÎmad SirhindÐ (gest. 1624) zu diesen Fragen gesagt? Gibt es relevante theologische Überlegungen muslimischer Denker der Moderne zur Frage des Bittgebets? Wie steht es mit dem klagenden Gebet und der Anklage, dem Fragen und Zweifeln im Gebet und als Gebet? Gibt es hier wesentlich verschiedene Akzentsetzungen in Bibel und Koran, im gelebten christlichen und muslimischen Glauben? Falls ja, sind sie von weiter gehender Bedeutung für das Verständnis der beiden Glaubens- und Gebetstraditionen?
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III. Mehr als Worte ... Gebet und Leiblichkeit
»Wirf dich nieder und nähere dich Gott!« (Sure 96,19) Das Gebet im Islam als Ausdruck der Gottesnähe Abdullah Takım
1. Niederwerfung und Gottesnähe Gott ist nach islamischer Lehre der Schöpfer und der Mensch das Geschöpf. Aus diesem Grunde existiert zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf eine sehr enge Beziehung. Der Koran drückt diese Nähe Gottes sehr präzise aus. Denn es heißt dort: »Wir haben doch den Menschen erschaffen und wissen, was ihm seine Seele einflüstert. Und Wir sind ihm näher (aqrab) als die Halsschlagader.« (Sure 50,16) Die Nähe Gottes wird hier und in anderen Versen des Korans durch den Begriff qurb, also Nähe ausgedrückt. Wiederholt heißt es im Koran, dass der Mensch Gottes Nähe erfahren kann, wenn er das Universum und sich selbst als Geschöpfe Gottes wahrnimmt. Denn dies führt dazu, dass der Mensch die Allmacht Gottes gegenüber seiner eigenen Ohnmacht erkennt und sich deswegen dem Willen Gottes beugt und sich niederwirft, um Gottes Größe zu preisen1, sein Wohlgefallen zu erlangen und sich so Gott zu nähern (vgl. auch Sure 48,29). Aus diesem Grunde heißt es im Koran: »Wirf dich nieder und nähere dich (Gott)!« (Sure 96,19)2
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In dieser Position, wo der höchste Punkt des menschlichen Körpers, nämlich sein Kopf (Stirn), den Boden berührt, sagt der gläubige Muslim: Gepriesen
seiest du, mein höchster Herr! Vgl. Annemarie Schimmel, Die Zeichen Gottes: die religiöse Welt des Is-
lam, München 1995, 185. Die Koranzitate in diesem Artikel folgen generell der Übersetzung von Adel Theodor Khoury, wobei diese Übersetzungen manchmal leicht überarbeitet und stilistisch geglättet wurden, vgl. Der Koran. Übersetzt von Adel Theodor Khoury unter Mitwirkung von Muhammad Salim Abdullah, Gütersloh 1992. Es sind in dieser Arbeit aber auch Koranverse enthalten, die ich selbst übersetzt habe.
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Es sei hier darauf hingewiesen, dass im Koran nicht nur die Muslime dadurch gekennzeichnet werden, dass sie sich niederwerfen, sondern auch die Schriftbesitzer, d.h. hauptsächlich die Christen und Juden. Dazu heißt es im Koran, wobei die Polytheisten angeredet werden: »Sprich: Glaubt daran (Koran) oder glaubt eben nicht. Diejenigen, denen vor ihm (dem Koran) das Wissen zugekommen ist (also die Schriftbesitzer), wenn er (der Koran) ihnen verlesen wird, fallen in Anbetung auf ihr Kinn nieder und sagen: ›Preis sei unserem Herrn! Das Versprechen unseres Herrn ist ausgeführt.‹ Und sie werfen sich auf ihr Kinn weinend nieder, und der Koran mehrt in ihnen die Demut.« (Sure 17,107–9) Der bekannte Orientalist Wensinck sagt auch, dass die Niederwerfung (saÊda oder suÊÙd) »zu den Riten des jüdischen […] sowie des christlichen Gottesdienstes […] gehörte«3. Roberto Tottoli vertritt sogar den Standpunkt, dass neben der Niederwerfung (saÊda) auch die Verbeugung (rukÙÝ ) von Christen und Juden im Nahen Osten praktiziert wurde und weit verbreitet war.4 Die Niederwerfung (saÊda) 5 wird von den islamischen Gelehrten als der Höhepunkt des Gottesdienstes angesehen, weil der Mensch in völliger Demut und Gehorsamkeit sich dem Herrn der Welten ergibt.6 Diese Ansicht wird durch den folgenden Ausspruch unseres Propheten Muhammad untermauert: »Der Diener befindet sich seinem Herrn am nähesten, wenn er sich niederwirft. Aus diesem Grunde verstärkt dort das Bittgebet.«7 Das heißt, Gott ist dem Menschen sehr nahe, aber der Mensch kann manchmal diese Nähe Gottes nicht erfahren, weil er Gott vergisst und sich mit weltlichen Sachen abgibt, die ihn von Gott ablenken. Doch wenn der Mensch sich auf Gott konzentriert und sich allmählich Gott nähert, wird er in seinem Innern erfahren, dass Gott schon immer sehr nahe war. Dies erfährt er auch in den Bittgebeten (duÝÁÞ). Aus diesem Grunde heißt es im Koran: 3 4 5
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Arent Jan Wensinck, Art. ÑalÁt, in: ders./J. H. Kramers (Hg.), Handwörter-
buch des Islam, Leiden 1941, 636–645, 639a. Vgl. Roberto Tottoli, Art. Bowing and Prostration, in: Encyclopaedia of the QurÞÁn, Bd. 1, 254–255, hier 255. Weil die Niederwerfung (saÊda) ein Ausdruck der Diener Gottes ist, werden im Koran die Gebetshäuser auch masÊid genannt, was wörtlich: der Ort, wo man sich niederwirft, bedeutet. Vgl. Süleyman Ate¢, KurÞân Ansiklopedisi, Istanbul 1997–2003, Bd. 18, 484–485; vgl. dazu auch Toshihiko Izutsu, God and Man in the Koran. Semantics of the Koranic Weltanschauung, Tokyo 1964, 148–150. Muslim, KitÁb aÒ-ÑalÁt, BÁb (Kapitel) 42,1.
»Wenn dich meine Diener nach Mir fragen, so bin Ich nahe (qarÐb), und Ich erhöre das Gebet des Betenden, wenn er Mich anruft. Sie sollen nun auf Mich hören, und sie sollen an Mich glauben, auf dass sie einen rechten Wandel zeigen.« (Sure 2,186) Und in einem anderen Vers heißt es: »Ruft mich, und Ich will euch antworten.« (Sure 40,60) Unser Prophet Muhammad, Friede sei mit ihm, bringt die Wichtigkeit des Bittgebets kurz und bündig so zum Ausdruck: »Das Bittgebet stellt die Essenz (das Gehirn) des Gottesdienstes dar.«8 Der zeitgenössische türkische Koranexeget Süleyman Ate¢ sagt zum Bittgebet Folgendes: »Der Diener Gottes, der ein Bittgebet ausspricht, nähert sich Gott. Seine Seele stellt eine sehr enge Beziehung mit Gott her. Schließlich besteht das Ziel des Gottesdienstes ja auch darin, sich Gott zu nähern, mit ihm eine Kommunikation herzustellen. Aus diesem Grunde wird das Bittgebet (duÝÁÞ) auch Zwiegespräch (munÁÊÁt: insgeheimes, seelisches Gespräch mit Gott) genannt.«9 Gott erhört also die Worte der Menschen. Deswegen wird im Koran Gott auch als derjenige beschrieben, der die Gebete erhört: samÐÝ ad-duÝÁÞ (vgl. Sure 14,39). Der bekannte islamische Mystiker ÍÁri× al-MuÎÁsibÐ trifft eine wichtige Feststellung hinsichtlich des Zwiegesprächs, wenn er sagt: »Jeder, der einen Koranabschnitt liest, ein Gebet spricht oder Gottes mit seiner Zunge gedenkt in Lob und Preis, der spricht dabei vertraut mit Gott; er strebt ja zu Gott hin, und Gott ist ihm nahe. Gott ist seiner Rede näher als deine Rede deiner Zunge.«10 Der Muslim, der aus erster Quelle des Islam, nämlich aus dem Koran erfährt, dass Gott sehr nahe ist und den Menschen liebt, versucht natürlich, sich Gott durch verschiedene Gottesdienste zu nähern.11 Diese existentielle Nähe wird in einem außerkoranischen Gotteswort (ÎadÐ× qudsÐ) so dargestellt: »Himmel und Erde umfassen Mich nicht, aber das 8 9 10
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At-TirmiÆÐ, KitÁb ad-DaÝawÁt, BÁb 1,3. Süleyman Ate¢, KurÞân Ansiklopedisi (s. Anm. 6), Bd. 5, 303. Zitiert nach Josef van Ess, Die Gedankenwelt des ÍÁri× al-MuÎÁsibÐ. An-
hand von Übersetzungen aus seinen Schriften dargestellt und erläutert von Josef van Ess, Bonn 1961, 199. In einem außerkoranischen Gotteswort wird die Annäherung des Menschen an Gott wie folgt beschrieben: »Mein Diener sucht so lange Meine Nähe durch freiwillige Werke, bis Ich ihn liebe; und wenn Ich ihn liebe, dann bin Ich das Gehör, mit dem er hört, das Gesicht, mit dem er sieht, die Hand, mit der er greift, und der Fuss, mit dem er geht. Wenn er Mich um etwas bittet, so gebe Ich es ihm usw.« (zit. nach Hellmut Ritter, Das Meer der Seele, Leiden 1978, 559).
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Herz Meines Dieners umfasst mich.«12 Die Persönlichkeit des Menschen wird durch diese Erfahrung der Gottesnähe gestärkt. Denn das Bewusstsein, die Nähe zu dem Schöpfer des Universums zu erfühlen und mit ihm verbunden zu sein, verleiht dem Menschen Kraft und Ehre. Laut dem bekannten islamischen Denker Muhammad IqbÁl besteht »die tiefste Erfahrung des Ich als Ich« darin, »Gott im Gebet zu erfahren«.13 Das heißt, man kann das Gebet als eine existentielle Erfahrung deuten, wo der Mensch die Nähe Gottes erfährt und merkt, dass die »Quelle seiner Existenz« sich in seiner Nähe befindet.14 Aus diesem Grunde muss man nach islamischem Verständnis auch so beten, als ob der Gläubige Gott sähe und seine Nähe spürte.15 Im Koran wird für diejenigen Gläubigen, die Gott nahe stehen, der Begriff al-muqarrabÙn benutzt (Sure 56,10–11). So wird für die Engel, die Gott nahe stehen, auch dieser Begriff verwendet (Sure 4,172). Gläubige, die durch ihre Werke die Nähe Gottes erlangt haben und im Paradies sich aufhalten, werden auch als al-muqarrabÙn bezeichnet (Sure 83,28; 56,88–89).16 Schließlich gehört Jesus Christus im Koran auch zu denjenigen, die sich in der Nähe Gottes befinden. Im Koran heißt es dazu: »Als die Engel sagten: O Maria, Gott verkündet dir ein Wort von Ihm, dessen Name Christus Jesus, der Sohn Marias, ist; er wird angesehen sein im Diesseits und Jenseits und einer von denen, die in die Nähe (Gottes) zugelassen werden (mina l-muqarrabÐn). Er wird zu den Menschen sprechen in der Wiege und als Erwachsener und einer der Rechtschaffenen sein.« (Sure 3,45–46)
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Vgl. Annemarie Schimmel, Dein Wille geschehe. Die schönsten Islamischen Gebete, Kandern 42000, 82–83; dies., The idea of prayer in the thought of IqbÁl, in: The Muslim World 48,3 (1958), 205–222, 208f. Vgl. ebd. 208 f.; vgl. auch Annemarie Schimmel, Some aspects of mystical prayer in Islam, in: Die Welt des Islam N.S. 2,2 (1952), 112–125, 114. Vgl. Roger Arnaldez, Le Moi divin et le Moi humain d’après le commentaire coranique de FaÌr al-DÐn al-RÁzÐ, in: ders. (Hg.), Aspects de la pensée musulmane, Paris 1987, 183–209, 200. Dies kann man aus der bekannten Prophetenüberlieferung (IÎsÁn-ÍadÐ×) ableiten, wo der Prophet Muhammad gefragt wird, was iÎsÁn sei. Er antwortet darauf mit den Worten: »IÎsÁn bedeutet, dass du Gott dienst, als würdest du ihn sehen. Denn auch wenn du ihn nicht sehen kannst, so sieht Er doch dich.« Vgl. al-BuÌÁrÐ, Auszüge aus ÑaÎÐÎ al-BuÌÁryy. Aus dem Arabischen übertragen und kommentiert von Abu-r-RiÃÁÞ MuÎammad Ibn AÎmad Ibn Rassoul, Köln 1989, 41–42. Vgl. Süleyman Ate¢, KurÞân Ansiklopedisi (s. Anm. 6), Bd. 26, 217 ff.
2. Die kommunikative Dimension des Gebets Der Muslim führt also ein gottzentriertes Leben, insoweit er versucht, die koranischen Vorschriften zu verinnerlichen, um sich Gott zu nähern. Aus diesem Grunde kann man bei vielen Muslimen »von einer ›Koranisierung des Gedächtnisses‹ sprechen«17. Da der Koran, das Wort Gottes in arabischer Sprache, für den gläubigen Muslim »der Weg, die Wahrheit und das Leben« ist, spricht der Mensch mit den Worten Gottes direkt zu Gott selbst und erlebt Seine Nähe, wenn er den Koran liest. Dadurch wird natürlich eine »persönliche Beziehung«18 zwischen dem Geschöpf und dem Schöpfer hergestellt. Diese Beziehung oder Kommunikation mit Gott wird durch das rituelle Gebet, das fünfmal am Tag vollzogen wird, gefestigt und aufrechterhalten. Zudem sorgt das Gottesgedenken (Æikr) dafür, dass der Mensch die Nähe Gottes nicht verliert und so die Gegenwart Gottes noch intensiver spürt. Denn es heißt in einem außerkoranischen Gotteswort: »Gott sagt: Ich entspreche der guten Meinung, die mein Diener von mir hat. Ich bin mit ihm, wenn er meiner gedenkt. Wenn er meiner in seinem Herzen bei sich allein gedenkt, gedenke ich seiner bei mir allein. Wenn er meiner in einer Gruppe gedenkt, gedenke ich seiner in einer Gruppe, die noch besser ist als jene.«19 Das Ziel des rituellen Gebets (ÒalÁt) besteht ja auch darin, sich mindestens fünfmal am Tag an Gott zu erinnern. Im Koran heißt es dazu, wo Gott mit Moses (Friede sei mit ihm) spricht und ihm offenbart: »Wahrlich, Ich, Ich bin Gott. Es gibt keinen Gott außer Mir. So diene Mir und verrichte das rituelle Gebet zu meinem Gedächtnis.« (Sure 20,14) Sowohl das rituelle Gebet (ÒalÁt) als auch das Bittgebet (duÝÁÞ) kann man also als eine Kommunikation des Menschen mit Gott und umgekehrt deuten, in der es jedoch keine Vermittler gibt. Hier kommuniziert der Mensch mit Gott und erfährt die Nähe Gottes. Dieses Verständnis des Gebets als eine Kommunikation des Menschen mit Gott und umgekehrt 17
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Annemarie Schimmel, Der Sufismus, in: Christoph Burgmer (Hg.), Der
Islam: Eine Einführung durch Experten, Mainz 1998, 68–81, 69. Der Begriff »Koranisierung des Gedächtnisses« stammt von Paul Nwyia, der durch diese Begriffsbildung die Einstellung der ersten islamischen Mystiker zum Koran beschreibt, die von den Worten Gottes, also dem Koran, so durchdrungen waren, dass sie »alles im Lichte des Korans« wahrnahmen und deuteten. Vgl. dazu Annemarie Schimmel, Die Zeichen Gottes (s. Anm. 2), 213. Ebd. 189. Zitiert nach: Der Koran, übersetzt von Adel Theodor Khoury unter Mitwirkung von Muhammad Salim Abdullah, Gütersloh 1992, 521.
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hat der bekannte japanische Koranwissenschaftler Toshihiko Izutsu so dargestellt: Gott und Mensch kommunizieren miteinander, indem Gott verbale oder nonverbale Zeichen herabsendet und der Mensch darauf antwortet. Die verbalen Zeichen stellen für ihn die Verse der Heiligen Schriften (Bibel und Koran), die im Koran als ÁyÁt bezeichnet werden, dar. Das heißt mit anderen Worten, dass die Offenbarung zu den Zeichen Gottes gehört. Die nonverbalen Zeichen sind die Phänomene in der Natur, wie z.B. die Sonne, der Mond, die Bäume, die Verschiedenheit der Sprachen usw. All diese Zeichen weisen auf Gott hin. Wenn der Mensch will, kann er auf diese verbalen oder nonverbalen Zeichen antworten. Die verbale Antwort des Menschen besteht im Bittgebet (duÝÁÞ), das von Izutsu als »das Gespräch des menschlichen Herzens mit Gott« bezeichnet wird und in dem der Mensch ganz frei seine Wünsche äußern kann. Die nonverbale Antwort wird durch das fünfmalige rituelle Gebet (ÒalÁt) vollzogen. Auch wenn bei diesem rituellen Gebet »einige verbale Elemente enthalten sind«, so sind diese Elemente, laut Izutsu, nicht Ausdruck des freien inneren Seelenlebens des Menschen wie beim Bittgebet (duÝÁÞ), sondern haben eher einen rituellen formalisierten Charakter. Aus diesem Grunde besitzt das rituelle Gebet eine Sonderstellung, was den sprachlichen Ausdruck betrifft. Kurzum: Der Gottesdienst insgesamt, also das Bittgebet und rituelle Gebet eingeschlossen, stellt für Izutsu eine Kommunikation mit Gott dar, in der Mensch und Gott gegenseitig kommunizieren. Ein wirkliches Bittgebet kann der Mensch, laut Izutsu, nur dann aussprechen, wenn er sich in einer Grenzsituation befindet, das heißt praktisch eine existentielle Transformation durchmacht, und so, von den weltlichen Dingen befreit und mit einer hohen spirituellen Sprache, im Bittgebet sich direkt Gott zuwenden kann. Diese Grenzsituation kann z.B. die Todesangst, ein geistiges Erlebnis oder tiefe Frömmigkeit sein. Schließlich definiert Izutsu das Bittgebet wie folgt: »Das Bittgebet (duÝÁÞ) ist das innigste persönliche Gespräch des Herzens mit Gott [...].«20
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Vgl. Toshihiko Izutsu, God and Man in the Koran (s. Anm. 6), 133–139, 147–150, 193–197.
3. Exemplarische Deutungen der Gebetshaltungen in der islamischen Tradition In der islamischen Literatur gibt es viele Deutungen des rituellen Gebets.21 Davon will ich an dieser Stelle exemplarisch einige Deutungen anführen, um verständlich zu machen, was der Muslim fühlt, wenn er mindestens fünfmal am Tag sich vor seinen Schöpfer begibt, um zu beten und Seiner zu gedenken. Die erste Deutung stammt von dem islamischen Mystiker ÍÁtim al-AÒamm (gest. 851/2 n. Chr.), der seine Gefühle und Gedanken zum rituellen Gebet so zum Ausdruck bringt: »Wenn die Zeit für die ÒalÁt (rituelles Gebet) gekommen ist, verrichte ich einen wuÃÙÞ (rituelle Waschung) und begebe mich zu der Stelle, wo ich die ÒalÁt verrichten will. Dort setze ich mich hin, bis meine Glieder sich gesammelt haben, dann erhebe ich mich, die KaÝba 22 gerade vor mir, den ÒirÁÔ 23 unter meinen Füssen, das Paradies zu meiner Rechten, die Hölle zu meiner Linken, den Engel des Todes hinter mir. Und ich denke, dass diese ÒalÁt meine letzte ist. Dann stehe ich schwankend zwischen Hoffnung und Furcht, stimme den takbÐr an mit taÎqÐq 24, rezitiere (den Koran) mit tartÐl 25, 21 22 23
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Vgl. dazu Arent Jan Wensinck, Art. ÑalÁt (s. Anm. 3), 643–645; Annemarie Schimmel, Die Zeichen Gottes (s. Anm. 2), 184–185. Die KaÝba befindet sich in Mekka und ist der Ort, dem sich die Muslime
beim rituellen Gebet zuwenden. Die ÒirÁÔ ist eine Brücke, die über der Hölle aufgebaut ist und zum Paradies führt. Das heißt, alle Menschen müssen diese Brücke überqueren. Diejenigen, die die Hölle verdient haben, fallen von der Brücke in die Feuerschluchten der Hölle, während diejenigen, die das Paradies verdient haben, blitzschnell die Brücke überqueren können und so zum Paradies gelangen. Es wird auch berichtet, dass diese Brücke »dünner als ein Haar und schärfer als ein Schwert ist«. Da diese Details im Koran nicht vorkommen, gibt es auch Gelehrte, die die Existenz dieser Brücke ablehnen und sie metaphorisch deuten. TakbÐr bedeutet Gottes Größe zu verherrlichen. Das rituelle Gebet wird im Islam mit der Formel AllÁhu akbar (Gott ist groß) eingeleitet, indem man beide Hände bis zum Kopf hochhebt, die Hände dabei spreizt, mit den Daumen die Ohrläppchen berührt und dabei AllÁhu akbar (Gott ist groß) sagt. Wenn man dies ordnungsgemäß und mit Aufrichtigkeit praktiziert, dann spricht man von taÎqÐq. Durch diesen Akt lässt der Betende die Welt hinter sich und er kann ab diesem Zeitpunkt mit keinem Menschen sprechen, nicht essen und trinken und auch keine anderen Handlungen durchführen, außer die zum Gebet gehörigen. Er muss sich also beim Gebet ganz auf Gott konzentrieren.
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verrichte den rukÙÝ (Beugung) in Unterwürfigkeit und den suÊÙd (Niederwerfung) in Demut, setze mich auf den linken Schenkel, breite die Oberseite des einen Fusses aus und stütze den rechten Fuss auf die grosse Zehe und begleite das mit iÌlÁÒ (Aufrichtigkeit). Dann weiss ich nicht, ob meine ÒalÁt von ›Allah gnädig angenommen worden ist oder nicht‹.«26 Die zweite Deutung stammt vom bekannten indischen Gelehrten ŠÁh WalÐy-ullÁh ad-DahlawÐ, der 1762 gestorben ist. Er gehört zu den islamischen Reformern, die sehr bekannt und anerkannt sind. Viele islamische Modernisten beziehen sich auf diesen Gelehrten. Er vertritt, was die Gebetshaltungen betrifft, eigentlich eine typische Position, die von vielen anderen islamischen Gelehrten auch vertreten wird. Er sagt zum Gebet: »Das Gebet setzt sich wesentlich aus drei Bestandteilen zusammen: zunächst dem Gefühl der Demut vor der majestätischen Gegenwart Gottes, dann der Anerkennung der göttlichen Überlegenheit und der menschlichen Niedrigkeit, die mit entsprechenden Worten ausgedrückt wird, und schliesslich die Annahme einer gebührend ehrfürchtigen Haltung durch den Leib und alle seine Glieder … Zur Erweisung der Ehrfurcht erhebt man sich und wendet sich hin zu dem Gegenstand seiner Verehrung und seiner Anrufung. Noch ehrerbietiger ist es, wenn der Mensch sich selbst und sein Haupt zur Verehrung neigt … Der Gipfel und Höhepunkt der Demut ist das Senken des Hauptes – das in höchstem Grade das ›Ich‹ und das Selbstbewusstsein reflektiert – so tief, dass dabei der Boden vor dem Gegenstand der Verehrung berührt wird … Da der Mensch den Höhepunkt seiner geistigen Entwicklung nur stufenweise erreicht, ist es offensichtlich, dass ein solcher Aufstieg durch alle drei Stufen führen muss, und das vollkommene Gebet bringt diese drei Stufen mit 25
26
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Dieser Stil den Koran vorzutragen, wird von Beate Wiesmüller wie folgt dargestellt: »Der tartÐl-Stil, worunter man einen bedächtigen, deutlich artikulierten, kantileneartigen Vortrag zu verstehen hat, [ermöglicht und erhöht] das Überdenken und Nachsinnen über die vorgetragenen Koranverse, denn ohne das Verstehen der Textinhalte ist die Koranrezitation wirkungslos.« (AÎmad b. MuÎammad a×-ÕaÝlabÐ, Die vom Koran Getöteten: a×-ÕaÝlabÐs QatlÁ l-QurÞÁn nach der Istanbuler und den Leidener Handschriften. Edition und Kommentar von Beate Wiesmüller [Arbeitsmaterialien zum Orient 12], Würzburg 2002, 65.) Zitiert mit leichten Hinzufügungen und Erklärungen nach Arent Jan Wensinck, Art. ÑalÁt (s. Anm. 3), 644–645.
sich, d.h. aufrecht stehen, sich verneigen und den Boden in der Gegenwart Gottes mit der Stirn berühren. All das muss geschehen, um die nötige Erhebung der Seele zu erreichen, damit die göttliche Erhabenheit und die menschliche Niedrigkeit vor Gott erfühlt werden kann.«27 Diese Deutungen zeigen, dass der Muslim im rituellen Gebet für eine kurze Zeit in einer anderen Erlebniswelt lebt und so der Welt, auch wenn es für eine kurze Zeit ist, den Rücken kehrt, um alleine oder mit seinen Mitgeschöpfen zusammen Gott zu verehren und dabei Seine Nähe zu spüren.
4. Die ästhetische Dimension des Gebets und der Gebetsformen Im Koran besteht zwischen dem Bittgebet, dem rituellen Gebet und dem Gottesgedenken eine sehr enge Beziehung. Diese dienen alle dazu, sich Gott zu nähern. Außerdem trägt diese Annäherung an Gott auch ästhetische Züge. Diese ästhetische Dimension der Gebetsformen spielt im Koran und den prophetischen Aussprüchen eine wichtige Rolle. Ich will dazu ein Beispiel geben. Im Koran wird folgendes Gebet erwähnt: »Sprich: Mein Gebet, mein Gottesdienst, mein Leben und mein Sterben gehören Gott, dem Herrn der Welten. Er hat keinen Teilhaber. Dies ist mir befohlen worden, und ich bin der erste der Gottergebenen.« (Sure 6,162–163) Wenn ein gläubiger Muslim auf Arabisch dies im rituellen Gebet (ÒalÁt ) rezitiert, dann verbinden sich hier Leiblichkeit, Ästhetik und Kommunikation mit Gott. Hier ist es hilfreich sich vorzustellen, dass für einen Muslim im Allgemeinen der Koran und speziell diese und andere Gebete einen hohen ästhetischen Wert besitzen und zudem ästhetisch vorgetragen werden. Wenn man also das oben genannte Bittgebet aus dem Koran im rituellen Gebet (ÒalÁt ) vorliest, dann verbinden sich im rituellen Gebet das Bittgebet (duÝÁÞ ), der Gottesdienst (ÝibÁda), das Gottesgedenken (Æikr ) und die Kommunikation mit Gott, die mit seinen eigenen Worten aus dem Koran durchgeführt wird. Dazu tritt noch die ästhetische Dimension des Gebets, und so entsteht eine schöne Harmonie. Diese Harmonie stellt für den Muslim ein ästhetisches Erlebnis dar, 27
Zitiert nach Muhammad Hamidullah, Der Islam. Geschichte, Religion, Kultur, Istanbul 1991, 109–110.
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durch das wiederum eine ästhetische Annäherung an Gott stattfindet, denn wie unser Prophet Muhammad, Friede sei mit ihm, gesagt hat: »Gott ist schön und er liebt die Schönheit.«28 Worin besteht aber die Ästhetik des Korans und was fühlen die Muslime, wenn sie einem Koranvortrag zuhören? Die Muslime glauben, dass der Koran durch Menschen nicht nachgeahmt werden kann, weil er göttlichen Ursprungs ist und eine göttliche Komposition darstellt. Diese göttliche Komposition ist so aufgebaut, dass beim Vortrag des Korans nicht nur das Gehör der Menschen angesprochen wird, sondern alle äußeren und inneren Sinne des Menschen. Um dies zu veranschaulichen, will ich ein Beispiel aus dem Koran anführen. In der Sure 114 heißt es: 1 qul aÝÙÆu bi-rabbi n-nÁs / 2 maliki n-nÁs / 3 ilÁhi n-nÁs / 4 min šarri l-waswÁsi l-ÌannÁs / 5 allaÆÐ yuwaswisu fÐ ÒudÙri n-nÁs / 6 mina lÊinnati wa-n-nÁs. Übersetzung: 1 Sprich: Ich suche Zuflucht beim Herrn der Menschen / 2 dem König der Menschen / 3 dem Gott der Menschen / 4 vor dem Unheil des Einflüsterers, des Heimtückischen / 5 der da in die Brüste der Menschen (böse Gedanken) einflüstert / 6 sei es einer von den Êinn (geistigen Lebewesen) oder von den Menschen. Diese Sure stellt anschaulich dar, wie die Menschen durch böse Geister oder andere schlechte Menschen negativ beeinflusst werden. Die Beeinflussung geschieht durch Einflüstern eines schädlichen Gedankens in die Denkzentrale (Vernunft, Verstand, Herz) des Menschen, das im Arabischen mit dem Wort Brust (Sg. Òadr, Pl. ÒudÙr ) wiedergegeben wird. Der Gläubige soll nun mit dieser Sure Zuflucht bei Gott suchen, um sich vor schlechten Menschen und bösen Geistern zu schützen, die insgeheim den Menschen teuflische Gedanken einflüstern. Thema dieser Sure ist also die Einflüsterung, die im Arabischen mit dem Wort waswasa wiedergegeben wird, in dem S-Laute enthalten sind.29 Die Orientalen stellen sich das Flüstern oder Einflüstern so vor, dass ein Mensch insgeheim einem anderen Menschen etwas mitteilt, wo ständig ein S-Laut entsteht. Der Flüstervorgang wird so mit dem Wort waswasa lautmalerisch nachge28 29
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Muslim, KitÁb al-ÏmÁn, BÁb 41,1.
Dies verhält sich in der deutschen Sprache auch so, denn im Wort flüstern ist auch ein S-Laut enthalten.
ahmt. So auch in dieser Sure, wo ein Gleichklang der S-Laute herrscht, der lautmalerisch den Prozess der Einflüsterung nachahmt und mit dem Inhalt der Sure zusammen im Vorstellungsvermögen des Menschen ein Bild von bösen Geistern und Menschen entstehen lässt, die den Menschen teuflische Gedanken einflüstern. In dieser Sure herrscht also eine Übereinstimmung zwischen Inhalt und Worte, dessen Aussprache lautmalerisch ebenfalls den Inhalt akustisch wiedergibt. Das heißt, wenn ein Mensch nicht Arabisch versteht und diese Sure ihm vorgelesen wird oder er selbst sie laut in Form einer Transkription liest, müsste er heraushören, dass ein S-Laut diese Sure regiert; und wenn er dann die Übersetzung dieser Sure in einer beliebigen Sprache liest, wird er feststellen, dass eine Übereinstimmung zwischen dem Inhalt und der Struktur der Sure herrscht, d.h. dass das Einflüstern auch mit akustischen Mitteln nachgeahmt und produziert wird, also hier mit dem S-Laut wiedergegeben wird. Der Leitgedanke einer Sure oder Versgruppe wird im Koran folglich nicht nur allein durch den Inhalt und die Bedeutung der Wörter wiedergegeben, sondern auch mit der ganzen Struktur der Sure oder einer Versgruppe. Dazu sagt Süleyman Ate¢, der seine Leser einlädt, diese Sure 114 laut vorzulesen: »Nicht wahr, ihr Gehör nimmt ein Flüstergeräusch wahr? So ist der Koran. Nicht nur durch die Bedeutung der Wörter, sondern die Wörter selbst durch ihre Melodie bringen das Thema, das sie darstellen wollen, zur Sprache.«30 Navid Kermani hat auch gezeigt, dass der Koran »Bedeutungen und Emotionen durch akustische Mittel produziert«. Dabei spielt die Struktur des Korans eine sehr wichtige Rolle, denn durch diese eigenartige Struktur des Korans werden Sinne vermittelt, die nur durch die Sinne erfasst werden können. Das Zusammenspiel und die »Verschmelzung des semantischen Inhalts mit dem Lautmaterial, dem Rhythmus und der Sprachmelodie des Satzes« verleiht dem Koran eine ästhetische Dimension. Wenn der gläubige Muslim oder anders ausgedrückt der Hörer dem Koranvortrag gänzlich hingegeben ist, nimmt er diese göttliche Harmonie, die ästhetische Züge trägt, sinnlich und emotional wahr.31 Diese göttliche Harmonie durchflutet förmlich den gläubigen Menschen, der durch die Schönheit des Koranvortrags in andere Welten versetzt wird, 30 31
Süleyman Ate¢, KurÞân-ı Kerim ve Yüce Meâli, Istanbul 1998, 604. Vgl. Navid Kermani, Der Sinn, den nur die Sinne erfassen: Zur Übersetz-
barkeit des Korans, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 183, 10.08.2002, 64. Siehe auch die folgende Arbeit, wo Kermani ausführlich diese ästhetische Dimension des Korans darstellt: Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 2000.
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wo er die göttlichen Wahrheiten noch intensiver und ästhetischer erlebt. Der zeitgenössische und weltweit bekannte islamische Gelehrte Nasr Hamid Abu Zaid bringt diesen Sachverhalt auf den Begriff, indem er sagt: »Die Bedeutung des Korans geht also erst in der Rezitation wirklich auf. Beschränkt man sich auf das Schriftstück, missachtet man den rituellen Aspekt des Korans, dann verliert man, was man die ästhetische oder sinnliche Erkenntnis der Offenbarung nennen kann. […] Jede Religion bedarf sinnlicher oder ästhetischer Erfahrungen. Im Islam ist es vor allem die Koranrezitation, die diese Funktion erfüllt. Sie ist ein spiritueller Vorgang und ritueller Akt: Indem der Gläubige die Rede Gottes hört, hört er den Sprecher selbst – er hört Gott. Gott wird ihm gegenwärtig, und gleichzeitig vergegenwärtigt er sich selbst im Angesicht dieses göttlichen Sprechers.«32 Wie man sieht, besitzt der Koranvortrag eine zentrale Rolle im Leben der Muslime. Man muss auch erwähnen, dass die Muslime beim Koranvortrag, je nach dem Inhalt der Koranverse, Freude oder Furcht empfinden. In der islamischen Geschichte gibt es viele Erfahrungsberichte, die darstellen, wie Menschen, die durch einen schönen Koranvortrag entzückt, sterben oder ohnmächtig werden, weil ihre Freude oder Furcht einen Höhepunkt erreicht und sie diese Schönheit oder Furcht nicht mehr ertragen können.33
5. Das Gebet der ganzen Schöpfung Wenn der Muslim sich im Gebet niederwirft, erreicht diese ästhetische Harmonie ihren Höhepunkt, weil nach dem Koran die ganze Schöpfung sich vor Gott niederwirft, sich also dem Willen Gottes beugt. Aus dem Koran ist zu entnehmen, dass das Gebet nicht nur vom Menschen durchgeführt wird, sondern von allen Geschöpfen, die Gott erschaffen hat. Der Mensch betet in Übereinstimmung – allerdings aus freier Entscheidung – mit seinen Mitgeschöpfen (Sonne, Mond, Erde, Engel, Tiere) zu dem 32 33
Nasr Hamid Abu Zaid, Ein Leben mit dem Islam. Aus dem Arab. von Chérifa Magdi. Erzählt von Navid Kermani, Freiburg 22001, 19. Vgl. zu den Erfahrungsberichten: AÎmad b. MuÎammad a×-ÕaÝlabÐ, Die vom Koran Getöteten (s. Anm. 25). Siehe außerdem Navid Kermani, Gott ist
schön (s. Anm. 31), 365–425, wo diese und andere Erfahrungsberichte sehr gut analysiert werden.
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gemeinsamen Schöpfer. Der betende Mensch befindet sich also in einer
kosmischen Harmonie mit den Geschöpfen. Diese Einheit mit den Geschöpfen bringt den Menschen dazu, beim Gebet eins mit dem Universum zu sein und sich so – mit dem Gefühl der inneren Verbundenheit mit den Geschöpfen – Gott zu nähern, also zu erkennen und zu erfühlen, »was die Welt im Innersten zusammenhält« (Goethe). Aus dieser göttlichen Quelle schöpft der Mensch immer wieder von neuem und nähert sich ständig Gott, der ihn liebt und für ihn sorgt. Somit vereint »der islamische Gebetsgottesdienst […] die Gebetsformen aller Geschöpfe« in sich.34 Das heißt, das Gebet verhilft dem Menschen, in der Vielfalt der Schöpfung die Einheit Gottes zu erkennen. Dies bringt der islamische Mystiker Yunus Emre (ca. 1241 – ca. 1321) in einem seiner Gedichte sehr gut zum Ausdruck: Mit Bergen und mit Steinen auch Will ich Dich rufen, Herr, o Herr! Mit Vögeln früh im Morgenhauch Will ich Dich rufen, Herr, o Herr! Mit Fischen in des Wassers Grund, Gazellen in der Wüste Rund, Mit »Yahu!«35 aus der Toren Mund Will ich Dich rufen, Herr, o Herr! Mit Jesus hoch im Himmelsland, Mit Moses an des Berges Rand, Mit diesem Stab in meiner Hand Will ich Dich rufen, Herr, o Herr! Mit Hiob, der vor Schmerz versteint, Mit Jakob, dessen Auge weint, Und mit Muhammad, Deinem Freund, Will ich Dich rufen, Herr, o Herr! Mit Dank und Preis und Lobeswort, Mit »Gott ist Einer«, höchstem Hort, 34
35
Vgl. Muhammad Hamidullah, Der Islam (s. Anm. 27), 110–111; vgl. auch Annemarie Schimmel, Die Zeichen Gottes (s. Anm. 2), 187; Süleyman Ate¢, KurÞân Ansiklopedisi (s. Anm. 6), Bd. 18, 483–492. Yahu (eigentlich YáhÙ ) bedeutet wörtlich »O Er«. Damit wird Gott angerufen. Außerdem gehört dieser Ausdruck zu den Gedenkformeln, mit denen die islamischen Mystiker Gott anrufen.
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Barhäuptig, barfuß, immerfort Will ich Dich rufen, Herr, o Herr! Mit lesend frommer Zungen Hallen, Mit Turteltauben, Nachtigallen, Mit denen, die Gott lieben, allen Will ich Dich rufen, Herr, o Herr!36 Unter den Gelehrten wird auch die Ansicht vertreten, dass das Stehen (qiyÁm), das Beugen (rukÙÝ ) und die Niederwerfung (saÊda) im rituellen Gebet die Solidarität mit anderen Geschöpfen (Tieren) darstellt, die stehend, beugend und sich niederwerfend Gottesdienst leisten. Es gibt Engel, die nur stehend beten, und Engel, die nur sich beugend beten, und schließlich Engel, die nur in der Niederwerfung ewig verweilen. Da der Mensch im rituellen Gebet alle diese drei Bewegungen freiwillig vollzieht, stellt diese Gebetsform den Höhepunkt des Gebets dar. Das heißt, das, was der Mensch im Gebet macht, ist die Zusammenfassung des Gebetes des ganzen Universums. Daher kann man berechtigterweise von einer kosmischen Harmonie sprechen, auch weil dies im Koran so deutlich hervortritt. Das Gebet darf im Islam also nicht auf den Menschen beschränkt werden. Dies bedeutet, dass man das Gebet im Islam nur dann richtig verstehen kann, wenn man die Mitgeschöpfe auch einbezieht. Hierzu einige Beispiele aus dem Koran: »Hast du nicht gesehen, dass sich vor Gott niederwirft (yasÊudu), wer in den Himmeln und wer auf der Erde ist, und (auch) die Sonne, der Mond und die Sterne, die Berge, die Bäume und die Tiere und viele von den Menschen?« (Sure 22,18) Aus diesem Vers könnte man ableiten, dass die ganze Schöpfung ein nahes Verhältnis zu Gott hat, weil sie sich im Zustand der Niederwerfung vor Gott befindet. Alle Geschöpfe Gottes leisten also Gottesdienst. Dies wird auch aus dem folgenden Vers ersichtlich: »Hast du nicht gesehen, dass (alle) Gott preisen, die in den Himmeln und auf der Erde sind, und die Vögel mit ausgebreiteten Flügeln? Jeder kennt sein Gebet (ÒalÁt) und seinen Lobpreis. Und Gott weiß, was sie tun.« (Sure 24,41) In diesem letzten Vers wird für das Gebet der gleiche Begriff benutzt wie für das rituelle Gebet, nämlich ÒalÁt. Das heißt, die Geschöpfe loben Gott durch ihr Sosein, das im Arabischen lisÁn al-ÎÁl (Zunge/Sprache des Zustandes) genannt wird. Aber nicht jeder kann laut dem Koran diesen Lobgesang verstehen: »Ihn 36
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Die Übersetzung ist entnommen aus Annemarie Schimmel, Aus dem goldenen Becher. Türkische Gedichte aus sieben Jahrhunderten, Köln 1993, 30.
(Gott) preisen die sieben Himmel und die Erde und wer in ihnen ist. Es gibt nichts, was nicht sein Lob singen würde. Aber ihr begreift ihren Preisgesang nicht. Er ist langmütig und voller Vergebung.« (Sure 17,44) 37
6. Gebet und Gottesliebe Das Gebet führt also dazu, sich Gott zu nähern. Diese Nähe bedeutet auch, dass man Gott liebt. Denn wie unser Prophet Muhammad gesagt hat: »Der Mensch ist mit dem zusammen, den er liebt.«38 In der islamischen Geschichte gibt es viele Repräsentanten der Gottesliebe. Die islamische Mystikerin RÁbiÝa al-ÝAdawÐya (gest. 801) gehört auch zu diesen Repräsentanten, die Gott lieben und sich die Gottesliebe zum Prinzip für das Leben gemacht haben. Deswegen gilt sie für viele als das Symbol der reinen Gottesliebe. Dies wird auch aus den folgenden Aussprüchen deutlich, mit denen RÁbiÝa ihre innige Liebe zu Gott bekennt: »Die Gottesliebe hat meinen Geist so erfüllt, dass darin weder für die Freundschaft noch für die Feindschaft eines anderen als Gott ein Platz vorhanden ist.«39 Wie sie diesen Zustand der Gottesliebe erreicht hat, zeigt folgende kurze Geschichte: »Einmal zur Frühlingszeit ging RÁbiÝa in ihr Haus und senkte den Kopf. Ihre Dienerin sprach: ›O Herrin, komm heraus und betrachte die Schöpfung!‹ RÁbiÝa sagte: ›Komm du lieber herein, damit du den Schöpfer siehst – die Betrachtung des Schöpfers hat mich von der Anschauung des Geschaffenen abgelenkt.‹«40
37
38 39 40
Vgl. Annemarie Schimmel, Die Zeichen Gottes (s. Anm. 2), 185–187; Muhammad Hamidullah, Der Islam (s. Anm. 27), 110 f. Süleyman Ate¢,
KurÞân Ansiklopedisi (s. Anm. 6), Bd. 18, 483–492; Bd. 20, 292–299. Muslim, KitÁb al-Birr wa-Ò-Ñilah, BÁb 50. Zitiert und übersetzt nach Süleyman Ate¢, KurÞân Ansiklopedisi (s. Anm. 6), Bd. 2, 235. Zitiert nach Annemarie Schimmel, Gärten der Erkenntnis: Das Buch der vierzig Sufi-Meister (Diederichs Gelbe Reihe 37), München 31991, 20.
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7. Schlussbetrachtung Zuletzt will ich kurz auf die Frage eingehen, ob Christen und Muslime gemeinsam beten können, also gemeinsam sich Gott nähern und ihre Bitten und Wünsche äußern können. Dies ist meiner Meinung nach möglich, wenn die Grenzen des Monotheismus – wie der Islam ihn versteht – nicht überschritten werden, denn im Koran wird berichtet, dass Juden, Christen und Muslime gemeinsam die Einheit und Schriften Gottes bezeugen (vgl. Sure 3,199; 22,40; 29,46).41 Außerdem werden im Koran viele Gebete von anderen Propheten erwähnt, wie z.B. von Jesus (Sure 5,114), Abraham (Sure 2,126–129) und Moses (Sure 20,25–37). Die Praxis des Propheten zeigt weiterhin die Möglichkeit des gemeinsamen Gebets, denn er hat gemeinsam mit seinen Anhängern das Totengebet für den damaligen Negus (König) von Äthiopien verrichtet. Dieser Negus war Christ und hat den Koran als Wort Gottes akzeptiert, ist aber dennoch nicht zum Islam konvertiert.42 Dies bedeutet, dass Muslime heute auch für Menschen, die sie als Monotheisten betrachten, das Totengebet verrichten können. Außerdem hat unser Prophet Muhammad, Friede sei auf ihm, den Christen von NaÊrÁn (befindet sich auf der Arabischen Halbinsel) erlaubt, in seiner Moschee in Medina nach ihren eigenen christlichen Ritualen das Gebet zu verrichten.43 Diese Belege, die ich hier angeführt habe, zeigen, dass Christen und Muslime innerhalb der Grenzen des Monotheismus gemeinsam beten können.44
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42 43
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Das Monotheismusverständnis des Korans ist nicht exklusiv, sondern inklusiv. Das heißt, ein Muslim kann auch im Christentum den Kern dessen wieder finden, was der Islam unter Monotheismus versteht. Deswegen werden ja auch die Schriftbesitzer mit dem folgenden Vers aufgefordert sich um Gott zu vereinen: »Sprich: O ihr Schriftbesitzer, kommt her zu einem Wort, das gleichermaßen zwischen uns und euch gilt: dass wir Gott allein dienen und ihm nichts beigesellen und dass wir nicht einander zu Herren nehmen neben Gott [...].« (Sure 3,64) Al-BuÌÁrÐ, KitÁb al-ÉanÁÞiz, BÁb 4, 53, 54, 60, 64. Siehe auch Süleyman Ate¢, Yüce KurÞânÞın †aºda¢ Tefsîri, Istanbul 1988–1992, Bd. 4, 528. Vgl. Ibn HišÁm, Das Leben Mohammed’s nach Mohammed Ibn Ishaq. Bearb. von Abd el-Malik Ibn Hischam. Aus dem Arab. übers. von Gustav Weil, Stuttgart 1864, 298. Ob Rituale oder Gebete in einem interreligiösen oder einem multireligiösen Gebet verrichtet werden, spielt keine Rolle. Wichtig dabei ist immer das Kriterium des Monotheismus.
Leiblichkeit als Ausdrucksform des Gebetes Liturgiewissenschaftliche Überlegungen im Angesicht des Islam Ansgar Franz
Das Thema soll in zwei Etappen entfaltet werden: Zuerst wird unter dem Stichwort »Ästhetik« der Frage nach der Blickrichtung beim Gebet nachgegangen, dann unter dem Stichwort »Körperlichkeit« der Frage nach dem Sinn verschiedener Körperhaltungen. Selbstverständlich lassen sich beide Aspekte, »Ästhetik« und »Körperlichkeit«, nur formal voneinander trennen.
1. Die Blickrichtung beim Gebet1 »Im Koran (Sure 2,149) heißt es: ›Und von wo immer du herkommst, da wende dich beim Gebet in Richtung der heiligen Kultstätte in Mekka! Es ist wirklich die Wahrheit, die von deinem Herrn kommt. Allah achtet sehr wohl auf das, was ihr tut.‹ Allah achtet auf die Gebetsrichtung. Der Allmächtige und Allerhabene ist sich nicht zu erhaben, um auf die Blickrichtung der Augen beim Gebet zu achten. Jede Moschee hat darum eine Konche oder Nische, den MiÎrÁb. Wenn in der Moschee gebetet wird, richten sich alle Augen auf 1
Ich beginne mit einem längeren Zitat meines Mainzer Kollegen an der evangelischen Fakultät Stefan Weyer-Menkhoff, das die hier zu behandelnde Problematik anschaulich auf den Punkt bringt. Es ist der Beginn eines Vortrags über »Die Ästhetik der Liturgie«, den Weyer-Menkhoff während einer von Benedikt Kranemann (Erfurt) und mir durchgeführten Studientagung »Liturgie an der Zeitenwende« (Juni 2000 in Nothgottes/Rüdesheim) gehalten hat. Der Vortrag liegt gedruckt vor in: Liturgisches Jahrbuch 52 (2002), 254–261.
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diesen MiÎrÁb. Weil der MiÎrÁb in der Richtung auf Mekka gebaut ist, erfüllen die Gläubigen in der Moschee auf diese Weise das Gebot des Koran. Überall soll nur nach Mekka gebetet werden. Durch das Gebot des Koran entsteht eine Figur, die sich über die ganze Erde legt. Es ist ein Stern. Alle Moscheen auf der ganzen Erde weisen mit ihrem MiÎrÁb nach Mekka als dem Zentrum. Mit der Zentrierung aber sind alle Moscheen untereinander verbunden. Sie liegen auf Kreislinien um Mekka herum. Sternförmig verbinden sich somit fünfmal am Tag die Moslems auf der ganzen Erde. Auch der einsamste Gläubige in der entferntesten Diaspora ist zum Gebet regelmäßig zeitlich und räumlich angeschlossen an die große, weltumspannende Umma, die Gemeinde der Gläubigen. Im Gebet, in der Gemeinschaft mit Gott, vollendet sich alle menschliche Gemeinschaft. ›Allah achtet sehr wohl auf das, was ihr tut.‹ Allah, der Allerhabene und Allerbarmer, schafft die Gemeinschaft, die alle Entzweiung überbrückt. Er selbst achtet darauf, dass auch der Kleinste und Verlassenste nicht aus dieser Gemeinschaft herausfällt.« »Leiblichkeit als Ausdrucksform des Gebetes. Liturgiewissenschaftliche Überlegungen im Angesicht des Islam« – konfrontiert man, wie es der Titel meines Beitrags will, die Erfahrungen aus der Moschee mit den Erfahrungen, die man in einem christlichen Gottesdienst macht, so sind die Differenzen in diesem Punkt augenfällig. Stefan Weyer-Menkhoff, Praktischer Theologe am Evangelischen Fachbereich der Universität Mainz, hat diese Erfahrungen wie folgt beschrieben: »Gehe ich sonntags in die Kirche, so sehe ich, wie die Gläubigen sich beim Gebet selber ansehen. Das sei gemeinschaftsfördernd, habe ich mir sagen lassen. Dann hätte man die Gemeinde vor Augen. Und so steht der Priester der Gemeinde gegenüber und schaut sie an. Entweder steht er ihr schräg gegenüber, an seiner Sedes stehend, oder er steht ihr frontal gegenüber, hinter dem Altar stehend. Evangelisch gibt es dazu die Variante, vor dem Altar der Gemeinde frontal gegenüber stehend zu beten. Es ist wie in der Schule. Der Lehrer hat die Schüler fest in Blick. So sieht die christliche Gemeinde der Gläubigen dem ersten Anschein nach aus: Schule und Kontrolle. Der Dreieine achtet eben nicht auf die Blickrichtung beim Gebet, und schon droht die Gabe der communio sanctorum zum Erziehungsinstitut zu verkommen. – Sie werden jetzt sagen, dass ich boshaft sei. Ich entgegne Ihnen dann: Ich schaue nur genau hin. Dies ist ja meine Aufgabe, von der ästhetischen Dimension des Gottesdienstes zu handeln. Allsonntäglich sehe ich nicht die weltumspannende communio sanctorum Gottes des Heiligen Geistes, sondern lediglich gut gemeinte 144
Versuche, das Häuflein der wenigen Gottesdienstteilnehmer als Gemeinschaft auszugeben. – Da hätten Sie einen weiteren Einwand gut. Sie könnten mir vorwerfen, dass ich nicht genau genug hinsehe. Der Priester schaut nämlich gar nicht zur Gemeinde. Recht würde ich Ihnen geben müssen. Der Priester schaut nicht zur Gemeinde […], vielmehr schaut der Priester in irgendein Schriftstück. Bei den Römisch-Katholischen ist es das Missale Romanum, und bei den Evangelischen ist es ein Ringbuch. Manchmal schaut auch die Gemeinde in das vorab verteilte Handout, um den Ablauf der Veranstaltung zu kontrollieren. Recht haben Sie, keiner schaut richtig hin. Die Gebetsrichtung ist im christlichen Gottesdienst nicht Mekka, sondern ein gedruckter Text.«2 Was im zwischenmenschlichen Bereich als eine Ungezogenheit oder als psychischer Defekt angesehen würde – mit jemandem zu reden und ihn dabei nicht anzusehen, ihm vielleicht sogar den Rücken zuzuwenden –, scheint in der christlichen Liturgie unserer Zeit die Regel. Gottesdienst als kollektive Verhaltensanomalie. Man kann die von Weyer-Menkhoff geschilderte Erfahrung noch weiter zuspitzen. Einer weltweiten Öffentlichkeit wurde das Phänomen vorgeführt anlässlich der medial um den ganzen Erdkreis übertragenen Trauerfeier im New Yorker »Yankee-Stadion« nach den terroristischen Gewalttaten des 11. September 2001. Die Stadtverwaltung hatte nur wenige Tage nach den Anschlägen die Angehörigen der Opfer zu einer Gedenkstunde versammelt, in der neben weltlichen Funktionsträgern auch Repräsentanten verschiedener Religionsgemeinschaften zu Wort kamen: ein katholischer Kardinal, ein anglikanischer Erzbischof, ein Baptistenprediger sowie Vertreter islamischer und östlicher Religionsgemeinschaften. Den Auftakt der Reden markierte der damalige Bürgermeister Rudolph Giuliani: Er trat zum Rednerpult, postierte sein Manuskript, nahm ersten Blickkontakt mit der Versammlung auf und sprach dann, sich routiniert immer wieder vom Manuskript lösend, zu den Angehörigen der Opfer und zu der vor den Fernsehern versammelten Weltgemeinschaft. Danach kam der Kardinal zu Wort. Er trat zum Rednerpult, postierte sein Manuskript, nahm Blickkontakt zu den Anwesenden und den Fernsehkameras auf und begann dann zu reden, wobei er sich routiniert immer wieder vom Manuskript löste und in die Versammlung schaute – zwar begann er seine Ansprache mit »Almighty God« und wies sie zumindest auf diese Weise als Gebet aus, rein phänotypisch unter2
Stefan Weyer-Menkhoff, Die Ästhetik der Liturgie, in: Liturgisches Jahrbuch 52 (2002), 254–261, 254 f.
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schied sich seine Rede in nichts von der des Bürgermeisters. Dass hier ein anderer als die real im Stadion und die virtuell vor den Fernsehern Versammelten angesprochen wurde, war für einen etwa des Englischen nicht mächtigen Zuschauer kaum zu erkennen. Danach sprachen noch ein Vertreter der Feuerwehr und der Bush-Administration im Wechsel mit dem anglikanischen Erzbischof und dem Baptistenprediger, und alle hielten augenscheinlich Reden an die Versammelten. Bis der Vertreter einer östlichen Religion ein Gebet sprechen sollte. Er drehte sich seitlich von der Rednertribüne weg, senkte den Blick, faltete die Hände – und sang. Von den Anwesenden haben wohl nur wenige seine Worte verstanden – aber für alle war deutlich: Dieser Mann hielt keine Rede, er betete. Und ebenso deutlich war: Die Vertreter der christlichen Kirchen haben es offenbar verlernt, sich öffentlich im Gebet in einer diesem Vollzug angemessenen Weise an Gott zu wenden. Das war nicht immer so. Die Christen der Alten Kirche wandten sich beim Gebet nach Osten. Der Bezugspunkt war nicht eine bestimmte Stadt wie Jerusalem oder Mekka, sondern die Himmelsrichtung des Sonnenaufgangs, von woher man den auferstandenen, erhöhten und wiederkommenden Herrn erwartete. Die Gebetsrichtung drückte eine eschatologische Sehnsucht aus. Der Orient war das Symbol des »Oriens ex alto«, wie es im Benedictus heißt, des »aufstrahlenden Lichts aus der Höhe«, das alle erleuchtet, »die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes« (Lk 1,78 f.). Wie selbstverständlich diese Orientierung war, zeigt die kurze Bemerkung des Origenes in seiner Schrift Über das Gebet: »Nun ist auch noch über die Himmelsrichtung, nach der man beim Beten hinsehen soll, einiges wenige zu sagen. Da es aber vier Himmelsrichtungen gibt, […] wer möchte da nicht sogleich zugestehen, die Richtung nach Sonnenaufgang zeige deutlich an, dass man dorthin sich neigend beten müsse als Symbol dafür, dass die Seele zum Aufgang des wahren Lichtes hinsehe?«3 Natürlich soll der allgegenwärtige Gott damit nicht auf eine bestimmte Himmelsrichtung hin festgelegt werden; vielmehr geschieht die Ostung des Gebetes mit Rücksicht auf den Menschen, der in seiner Leiblichkeit einer Orientierung bedarf. So heißt es bei Augustinus in der Auslegung der Bergpredigt: »Wenn wir zum Gebet aufstehen, kehren wir uns nach Osten, von wo der Himmel sich erhebt: nicht als ob Gott dort wäre und als ob er die anderen Weltgegenden verlassen hätte, der ja
3
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Origenes, Über das Gebet 32 (Adalbert G. Hamman [Hg.], Das Gebet in der Alten Kirche [Traditio Christiana 79], Bern u.a. 1989, Nr. 23, S. 61).
überall gegenwärtig ist, […] sondern dass der Geist gemahnt werde, zu einer höheren Natur sich zu bekehren, das heißt zu Gott.«4 Für den liturgischen Vollzug bedeutet die Gebetsostung, dass zwischen den verschiedenen Sprachhandlungen des Gottesdienstes auch leibhaftig deutlich unterschieden wird: Es macht einen Unterschied, ob Lektor oder Diakon eine Perikope der Heiligen Schrift verkünden, ob der Vorsteher die Gemeinde begrüßt und mit »dominus vobiscum« die Anwesenheit des Herrn proklamiert, oder ob derselbe Vorsteher als beauftragter Sprecher der Gemeinde ein Gebet an Gott richtet. Unterschiedliche Vollzüge verlangen unterschiedliche Weisen der Realisierung. Der Ordo Romanus I aus dem 7./8. Jahrhundert zeigt eindrucksvoll, wie groß die Sensibilität in diesem Bereich gewesen ist. Hier ein Stück aus dem Eröffnungsteil der Messe:5 »Wenn sie (die Litanei, d.i. das kyrie eleison) beendet haben, wendet sich der Papst zum Volk und beginnt das Gloria in excelsis Deo (Herrlichkeit ist Gott in der Höhe). Sogleich darauf wendet er sich bis zum Ende (des Hymnus) nach Osten. Danach wendet er sich wieder zum Volk und sagt: Pax vobis (Der Friede mit euch), und während er sich nach Osten richtet, sagt er: Oremus (Lasset uns beten). Es folgt das Gebet. Danach setzt er sich. Gleichzeitig setzen sich die Bischöfe und Presbyter.« Was uns heute als ein merkwürdiges Hin- und Hergedrehe erscheint, das dogmatisch überflüssig ist und pastoral gesehen störend wirkt, ist tatsächlich nichts anderes als das Ernstnehmen der unterschiedlichen Sprachhandlungen:
4 5
Augustinus, De Sermone Domini in monte 2,5,18 (CChr.SL 35, 108). Michel Andrieu (Hg.), Les Ordines Romani du haut moyen âge, Bd. 2,
Löwen 1948, 84 f.
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Stellung des Vorstehers Stellung der Gemeinde
»Kyrie eleison«
Herr erbarme dich (urspr. ein Fürbittgebet) »Gloria in excelsis Deo«
Herrlichkeit (ist) Gott in der Höhe (Proklamation und Invitatorium zum Gotteslob) »Laudamus te …«
wir loben dich … »Quoniam tu solus sanctus …«
Denn du allein bis der Heilige … (Lob- und Bitt-Litanei sowie Bekenntnis in ›Du‹-Anrede) »Pax vobiscum«
Der Friede mit euch (Friedensgruß an die Gemeinde) »Oremus« und Oration
Lasset und beten – Gebet
Die Frage, in welche Himmelsrichtung gewendet das Gebet gesprochen wird, ist heute angesichts vieler Kirchbauten, die keine Orientierung kennen, vielleicht weniger entscheidend als die Frage nach einer gemeinsamen Gebetsrichtung dessen, der im Namen der Gemeinde Gott die Oration vorträgt, und derer, die sich durch das »Amen« diese Oration zu eigen machen.
Exkurs: Zur Sprechrichtung beim Eucharistiegebet Neben den beiden Grundvollzügen ›Verkündigung‹ und ›Gebet‹, in denen sich die katabatische und anabatische Dimension des Gottesdienstes konkretisiert und deren Komplementarität (Anruf Gottes – Antwort der Gläubigen) auf der Ebene der Ästhetik angemessen Ausdruck finden 148
muss, kann als ein weiterer Grundvollzug die eucharistische actio der Messe betrachtet werden, deren Struktur einer ritualisierten Mahlhandlung folgt: Der Tisch wird gedeckt (Gabenbereitung), über den Gaben wird der danksagende Lobpreis der Heilstaten Gottes gesprochen (Anamnese) verbunden mit der Bitte um sein aktuelles Handeln (Epiklese), die ›eucharistisierten‹ Gaben werden ausgeteilt (Kommunionempfang). Idealtypisch sind Vorsteher und Gemeinde um den Altar versammelt, wie es etwa im Canon Romanus heißt: »Memento, Domine, famulorum famularumque N. et N. et omnium circumstantium.«6 Verkündigung
Gebet
Eucharistiegebet
Ohne Probleme ist diese Sichtweise allerdings nicht. Denn die bei der Gattung ›Gebet‹ hervorgehobene Sinnhaftigkeit der Ostung als Zeichen der eschatologischen Ausrichtung der Betenden sowie speziell die ›Adressatenfrage‹ und die damit verbundene Forderung nach einer gemeinsamen Gebetsrichtung aller stellt sich natürlich auch beim Eucharistiegebet. In welche Richtung (zum ›wem‹) blickt der Vorsteher, wenn er sagt: »In Wahrheit ist es würdig und recht, dir, Gott, allmächtiger Vater, immer und überall zu danken«? Ändert sich die Redesituation im Vergleich zur Gattung ›Gebet‹ grundlegend dadurch, dass es sich um ein Mahlgebet handelt? Zu bedenken wäre auch, dass anthropologisch gesehen die kreisförmig ausgerichtete Anordnung der Betenden nicht die einzige Möglichkeit für den Vollzug von Mahlgebeten ist. In christlichen Familien volkskirchlichen Milieus gab und gibt es den Brauch, das Tischgebet stehend in gemeinsamer Orientierung zu einer im Raum befindlichen Ikone (etwa dem Kreuz) zu sprechen.
6
Siehe unten Anm. 15.
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2. Die Gebetshaltungen Adel Theodor Khoury schreibt in seinem Bändchen »Der Islam. Sein Glaube, seine Lebensordnung, sein Anspruch« zu den Körperhaltungen beim Pflichtgebet: »Die Körperhaltungen, die das Rezitieren von Versen und Gebeten begleiten, sollen beim Beter eine innere Einstellung zum Ausdruck bringen, die als ›Anwesenheit des Herzens‹ bezeichnet wird.«7 Das Analoge gilt für das Christentum. Im Folgenden soll in gebotener Kürze der Sinn der drei Grundhaltungen, nämlich dem Sitzen, Stehen und Liegen bzw. Knien, illustriert werden. Johannes Cassian, ein Klostergründer und Schriftsteller des 5. Jahrhunderts, überliefert einen anschaulichen Bericht über eine wundersame Begebenheit aus den Anfängen des könobitischen Mönchtums in Ägypten: Vertreter verschiedener Klostergemeinschaften treffen sich, um eine allen gemeinsame Lebens- und Gebetsregel aufzustellen, also die bis dahin unterschiedliche Praxis zu vereinheitlichen. Man ist in Sorge darüber, dass verschiedene Regeln bei Menschen gleicher Lebensweise in den nachfolgenden Generationen zu Streitigkeiten und Eifersüchteleien führen könnten. Unter anderem stößt man dabei auf das Problem, wie viele Psalmen man denn beim Abendgebet singen müsse. Sehr schnell kommt es unter den frommen Männern zu einem lebhaften Durcheinander, das fast an eine Börsenauktion unserer Tage erinnert:8 »Während nun ein jeder nach Maßgabe seines Eifers und fremder Schwäche uneingedenk Vorschläge machte, welche er in Anbetracht seines Glaubens und seiner Stärke für sehr leicht ausführbar hielt, erwog man nicht hinlänglich, was für die große Masse der Brüder, in der sich notwenig immer auch eine große Anzahl von Schwachen befindet, möglich ist. So überboten sie sich denn gegenseitig im Gefühl ihrer Seelenstärke, eine sehr große Anzahl an Psalmen aufzustellen: Die einen stimmten für fünfzig, die anderen für sechzig, wieder andere, mit dieser Zahl nicht einmal zufrieden, glaubten noch weiter gehen zu müssen, und es entstand bei der Aufstellung der Ordensregel gewissermaßen ein heiliger Wettstreit, welcher sich bis zur Zeit der gemeinschaftlichen Abendandacht hinzog. Sie schickten sich nun an, die gewöhnlichen Gebete zu verrichten. Einer von ihnen 7
Adel Th. Khoury, Der Islam. Sein Glaube – seine Lebensordnung – sein
8
Johannes Kassian, Institutiones coenobiorum 2,7 (CSEL 17, 20 f./BKV 18,
Anspruch, Freiburg u.a. 1988, 135.
30 f.).
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erhob sich und trat in die Mitte, um dem Herrn Psalmen zu singen; alle übrigen saßen (wie es jetzt noch in Ägypten Sitte ist) und hielten ihre Herzen mit der größten Andacht auf die Worte des Vorsängers gerichtet. Als dieser nun elf durch eingeschobene Gebete voneinander getrennte Psalmen, und zwar einen Vers nach dem anderen in gleichmäßigem Vortrage, abgesungen und den zwölften durch Hinzufügung von ›Alleluja‹ beendet hatte, da wurde er plötzlich vor aller Augen entrückt, und damit war sowohl der Gottesdienst beendet als auch die streitige Frage erledigt.« Der Himmel selbst schreitet also gegen die Überlänge liturgischer Vollzüge ein. Mancher Prediger unserer Tage, der ebenfalls nur schwer zu einem Ende findet, kann sich freuen, dass sich der Himmel dieses probaten Mittels nicht mehr bedient. – Was uns aber an dieser Stelle interessiert, ist die Art und Weise, wie diese Abendandacht vollzogen wird: Ein Vorsänger steht und trägt Psalmen vor, alle Übrigen sitzen – ein deutliches Zeichen, dass Psalmen hier nicht als Gebet (zu dem man niemals sitzt!) verstanden werden, sondern als ein Stück Heilige Schrift, das vorgetragen wird. Auf jeden Psalm (außer auf den letzten) folgt ein Gebet. An anderer Stelle beschreibt Cassian, wie dieses Gebet aussieht: Zunächst werfen sich alle Brüder zu Boden und verharren eine Zeit lang im persönlichen, stillen Gebet. Dann erheben sie sich und der Vorsänger beschließt das persönliche Beten mit einem öffentlichen Kollektengebet. Diese Struktur »Schriftlesung – persönliches Gebet – öffentliches Gebet« oder fachsprachlich »lectio – meditatio – oratio« scheint ein Grundmuster zu sein, denn es bestimmte bis 1975 die Vigillesungen der Osternacht. Jede der 12 (!) alttestamentlichen Lesungen – bei den Mönchen, von denen Cassian berichtet, waren es 12 Psalmen – war wie folgt strukturiert: Lesung »Lasset uns beten. Beugen wir die Knie« (persönliches Gebet) »Erhebet euch.« Öffentliches Gebet
sitzend kniend stehend
Nach jeder Lesung erklang die Aufforderung »Beuget die Knie«, worauf sich eine Zeit der Stille anschließen sollte, in der jede und jeder Gläubige Gelegenheit finden sollte, die gehörte Lesung sozusagen ›ins Gebet zu nehmen‹, sie ›durchzukauen‹ – was ja die ursprüngliche Bedeutung des Wortes meditari ist. Nach der Aufforderung »Erhebet euch« folgte ein das persönliche Beten der Einzelnen zusammenfassendes, öffentliches Kollektengebet des Vorstehers. 151
Unsere älteste Tradition, die sich in »liturgisch hochwertiger Zeit«9 noch bis ins letzte Jahrhundert erhalten hat, weist den fundamentalen Körperhaltungen im Gottesdienst also ganz spezielle Funktionen zu: Das gelöste, entspannte Sitzen ist die Haltung rezeptiven Zuhörens, das dem Vortrag von Schriftlesungen (und deren Auslegung) angemessen ist.10 Das Knien oder (auf dem Angesicht) Liegen ist die Haltung des persönlichen Gebetes. Im europäischen Kommunikationsgefüge bildet Knien oder Liegen eine »›einschneidende‹ Haltung«11, die als Zeichen »persönlicher Ergriffenheit, sei es als Dankesbezeugung, (…) als Bitte oder auch als Flehen«12 gedeutet werden kann. Daneben ist Knien oder Liegen auch ein Ausdruck betonter Buße, der Bitte um Erbarmen oder der Ergebenheit und Selbstaufgabe. Das aufrechte Stehen ist Haltung des öffentlichen Gebetes. Sie entspricht dem Menschen als Ebenbild Gottes und als durch die Auferstehung Christi Befreitem: nicht mehr Sklave, sondern Freigelassener. Das Konzil von Nizäa geht sogar so weit, an den Sonntagen (der Sonntag ist der Auferstehungstag) und den 50 Tagen der österlichen Freudenzeit das Knien grundsätzlich zu verbieten, wohl, weil es in der knienden Haltung ein Zeichen für die Verleugnung der Auferstehung sieht: »Da es gewisse Leute gibt, die am Sonntag das Knie beugen und an den Tagen der Pentekoste: Damit das Ganze an allen Orten übereinstimmend beachtet werde, beschließt das heilige Konzil, dass Gott die Gebete stehend dargebracht werden.«13 Abschließend seien einige Beispiele genannt, mit denen die Liturgie an prominenten Stellen den Sinn der Körperhaltungen zum Ausdruck bringt: Das Knien bzw. Liegen als angemessene Haltung des persönlichen, stillen Gebetes ist zu Beginn des Karfreitagsgottesdienstes vorge9
10
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12 13
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An den zentralen, ›hochwertigen‹ Festen (etwa Ostervigil und Karfreitag) haben sich älteste liturgische Traditionen erhalten, vgl. Anton Baumstark, Das Gesetz der Erhaltung des Alten in liturgisch hochwertiger Zeit, in: Jahrbuch für Liturgiewissenschaft 7 (1927), 1–23. Der Brauch, bei der Verkündigung des Evangeliums zu stehen, ist eine bewusste Ausnahme dieser Regel und markiert die besondere Wertschätzung, die den Evangelien zuteil wird, da in ihnen ›Christus selbst spricht‹ (vgl. Augustinus, In Johannis Evangelium tractatus 30, 1 [PL 35, 1632]). Hermann Reifenberg, Fundamentalliturgie. Grundelemente des christlichen Gottesdienstes. Wesen – Gestalt – Vollzug (Schriften des Pius-Parsch-Instituts Klosterneuburg 3), Bd. 2, Klosterneuburg 1978, 124. Ebd. Conciliorum Oecumenicorum Decreta, hg. von Giuseppe Alberigo u.a., Bologna 1972, 17.
sehen. Die einschlägige Rubrik lautet: »Der Priester und seine Assistenz legen rote Gewänder an, wie sie für die Messfeier gebraucht werden. Sie ziehen zum Altar, verneigen sich vor ihm und werfen sich nieder oder knien. Alle verharren eine Weile im stillen Gebet.«14 Dagegen sprechen die Hochgebete davon, dass die zum öffentlichen, gemeinschaftlichen Gebet (um den Altar) Versammelten eine aufrechte, stehende Haltung innehaben: »Gedenke, Herr, Deiner Diener und Dienerinnen N. und N. und aller Umstehenden (et omnium circumstantium) …« heißt es im Canon Romanus.15 Die Prex Eucharistica II, die auf eine Vorlage aus der Traditio Apostolica (um 215) zurückgeht, formuliert: »Wir danken Dir, dass Du uns berufen hast, vor Dir zu stehen (astare coram te) und Dir zu dienen«16 – womit nicht allgemein der Dienst des Amtspriesters, sondern der priesterliche Dienst aller Getauften gemeint ist, die konkret im Vollzug des Hochgebetes Gott das Lobopfer darbringen. Unsere gegenwärtige im deutschen Sprachraum übliche Praxis, beim Gabengebet zu sitzen und beim Hochgebet zu knien, sind (historisch erklärbare) Deformationen dieser Grundhaltungen. »Liturgiewissenschaftliche Überlegungen im Angesicht des Islam« lautet der Untertitel dieses Beitrags. Hier sollte noch nicht von ›Dialog‹ die Rede sein, von einem freundlichen und fragenden Aufeinanderzugehen, das eine Verständigung hinsichtlich erkennbarer Gemeinsamkeiten und Unterschiede bringen könnte. Hier wäre etwa zu fragen, ob die im Islam neben dem Stehen akzentuierte hohe Wertschätzung des Sich-Niederwerfens beim Gebet als Ausdruck der totalen Hingabe an Gott einerseits und die in der christlichen Tradition bevorzugte stehende Gebetshaltung andererseits auch Spiegelungen eines unterschiedlich akzentuierten Gottesbildes sind. Um hier nicht zu vorschnellen Antworten zu kommen, sind große Kenntnis und gegenseitiges Vertrauen nötig. Doch schon allein das Wahrnehmen des Islam und seiner mit großer Ernsthaftigkeit geübten Gebetsformen kann christliche Theologie und besonders christliche Praxis anstoßen, über den anthropologischen und theologischen Sinn ritueller Ausdrucksformen nachzudenken und so gegebenenfalls die eigene Tradition wieder zu entdecken – und zu üben. 14 15
16
Messbuch. Für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Authentische Ausgabe für den liturgischen Gebrauch, Einsiedeln u.a. 1975, 40. So die ältere Übersetzung des lateinischen Textes (vgl. etwa Schott-Meßbuch 1934, 471); das Messbuch von 1975 übersetzt den Passus mit »[…] und aller, die hier versammelt sind« (463). Messbuch 1975, 486.
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Dialektik von Nähe und Distanz zwischen nahöstlichen Christen und Muslimen am Beispiel einiger liturgischer Elemente Assaad E. Kattan
I. In diesem Kurzreferat möchte ich auf zwei Beispiele eingehen, die sich der Dialektik von Nähe und Distanz zwischen nahöstlichen Christen und Muslimen im liturgisch-ästhetischen Bereich zuordnen lassen. Während mein erstes Beispiel der Geschichte der Ikonenmalerei im 17. und 18. Jahrhundert entnommen ist, bezieht sich das zweite Beispiel unmittelbar auf die gegenwärtige Praxis der Kirchenmusik. Der Charakter eines Kurzreferats ist hierbei zu berücksichtigen. Die folgenden Bemerkungen sind demzufolge als Stoff zum weiteren Nachdenken intendiert und erheben nicht den Anspruch, das Thema erschöpfend zu behandeln. Vorausgeschickt sei eine allgemeine Beobachtung zur Bedeutung der Ästhetik im Islam und im orthodoxen Christentum.
II. Das ästhetische Moment spielt bekanntermaßen in jeder Religion eine wichtige Rolle. Innerhalb dieses Gesamtrahmens der Bedeutung der Ästhetik für jede Religion scheinen Islam und orthodoxes Christentum, jedes auf seine Art, einen Diskurs aufzuweisen, in dem Ästhetik sozusagen zum allergrößten »Beweis« Gottes wird.1 Im Islam wird nämlich die 1
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Mir geht es hier nicht darum, die Unterschiede zwischen dem Islam und dem orthodoxen Christentum im Blick auf den Ästhetikbegriff herauszuarbeiten. Es sei nur darauf aufmerksam gemacht, dass die orthodoxen Ikonen stark symbolisch strukturiert sind, und zwar mit dem Ziel, auf eine Schönheit hinzuweisen, die sich in dieser Welt nur andeutungsweise artikuliert, während der Islam, gerade im Blick auf den koranischen Text, von einer
göttliche Herkunft des Koran unter anderem durch seine ästhetische Unüberbietbarkeit bezeugt. Dieser Gedanke hat in der orthodoxen Kirche eine kuriose Parallele. Denn in der russisch-orthodoxen Kirche wurde die Legende tradiert, dass gerade die ästhetisch-liturgische Atmosphäre in der byzantinischen Hagia Sophia die Legaten des Prinzen Vladimir von der Richtigkeit des orthodoxen Glaubens überzeugen konnte. Gesang und liturgische Bewegungen sollen den Abgesandten das Gefühl vermittelt haben, in den Himmel erhoben worden zu sein. Es lässt sich zwar nicht bestreiten, dass beide Traditionen in dem jeweiligen religiösen System anders operieren und gewichtet werden. Denn während es sich beim Islam um ein dogmatisches Konzept handelt, das weit reichende Konsequenzen für das Selbstverständnis des Islam und dessen Inspirationstheologie besitzt, geht es im Falle der russischen Orthodoxie um ein Konstrukt legendärer Art, das zwar viel über die Art und Weise verrät, wie das orthodoxe Christentum die eigene Liturgie wahrnimmt, aber wenig systematisch-theologische Implikationen in sich enthält. Trotzdem ist es phänomenologisch von Belang, diesen Berührungspunkt zu signalisieren. Die religiöse Affinität zur Ästhetik darf natürlich nicht über den Versuch jeder Religion hinwegtäuschen, die Kunst sozusagen zu »normieren«. Denn das Risiko, Gott mit der Art und Weise zu identifizieren, wie er künstlerisch zum Ausdruck gebracht wird, ist sehr groß. Im Grunde kann das alttestamentliche Bilderverbot auf die Intention zurückgeführt werden, dieses Risiko zu minimieren. Damit sind wir aber mit einem weiteren Problemfeld konfrontiert, das zwar zu denken gibt, den Rahmen dieses Referats aber sprengen würde.
III. Die erste Erscheinung, die hier thematisiert werden soll, ist die so genannte Alepposchule der Ikonenmalerei. Dabei handelt es sich vor allem um die orthodoxe Malerfamilie »Al-Mussauer«, die im 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts in Aleppo gewirkt hat.2 Mit Ikonen, die heutzutage in vielen Kirchen Syriens und Libanons verbreitet sind, gehört die Alep-
2
Konkretisierung und Maximierung des Schönheitsideals auszugehen scheint; zum islamischen Schönheitsbegriff vgl. Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 2000. Vgl. dazu Virgil Cândea, Messages de l’icône, in: ders. (Hg.), Icônes melkites, Beirut 1969, 27–45; André Grabar, Les icônes melkites, in: ebd. 19–26.
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poschule zweifelsohne zu den wichtigsten Kapiteln der so genannten »post-byzantinischen« Ikonenmalerei. Die Blüte der Ikonenmalerei in Aleppo in der Neuzeit hängt sehr stark damit zusammen, dass sich die Stadt durch den Aufschwung des Handels und die rege Tätigkeit europäischer Missionare schnell zu einem wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum entwickeln konnte. Das steigende Interesse des Okzidents an den osmanischen Märkten in Aleppo, Damaskus, Tripoli und Jerusalem führte zur Entstehung einer Generation von kunstinteressierten lokalen Händlern. Zudem löste die Tätigkeit westlicher Missionare die Gründung einer mit Rom unierten Kirche innerhalb des Patriarchats von Antiochia aus. Seitens der Mutterkirche folgten Maßnahmen zum Schutz der Gläubigen wie die Stärkung des Arabischen als Kultsprache anstelle des Syrischen, die Erneuerung der Kunst und die Betonung der lokalen Identität. Kunsthistorisch ist die aleppinische Ikone unter anderem deshalb interessant, weil sie sich von den überlieferten byzantinischen Prototypen entfernt und sehr stark an der lokalen Kultur orientiert. Sowohl die aus Arabien und Kleinasien stammenden Heiligen als auch die himmlischen Geschöpfe haben häufig eine sonnengebräunte Haut. Bei manchen Ikonen trägt der Heilige Georgios einen arabischen Säbel. Die zahllosen Dekorationen im Hintergrund und in den Gewändern spiegeln den damaligen Geschmack arabischer Prägung wider. Während inhaltlich Themen wie der Heilige Georgios oder Isaaks Opfer, die mit der Volksfrömmigkeit aufs Engste verbunden sind, überwiegen, erinnert die erhebliche Anzahl an arabischen Inschriften und Erläuterungen an den narrativen Charakter der arabischen Volksliteratur. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass die Ikonen der Alepposchule nicht nur der privaten Sphäre angehörten, sondern vor allem dem liturgischen Gebrauch dienen sollten. Mit Recht entzündet sich die Frage, ob es sich hierbei etwa um einen direkten Einfluss des Islam als religiöser Größe auf die Christen handelt oder eher um den Rückgriff auf eine Kultur, die Christen und Muslime miteinander schon längst gemeinsam hatten. Hinzu kommt nicht nur die Einsicht in die öfters begegnende, starke Verflochtenheit von Religiösem und Kulturellem, sondern auch die Beobachtung, dass Elemente, die ursprünglich als religiös zu bezeichnen sind, im Laufe der Zeit ihren religiösen Wert einbüßen und als rein kulturell empfunden werden können. Doch sosehr die obige Frage berechtigt ist und meines Erachtens nur im Einzelnen beantwortet werden kann, so scheint mir das Entscheidende darin zu bestehen, das Phänomen der Alepposchule vor dem Hintergrund des in höchstem Maße festgelegten Kanon der byzantinischen Ikonenmalerei verstehen zu müssen. Denn ausschlaggebend ist nicht der Ver156
such, eine klare Grenze zwischen dem Religiösen und dem Kulturellen zu ziehen, sondern vielmehr die Tatsache, dass sich die aleppinische Ikone deutlich von diesem Kanon distanziert und einer Reihe von lokalen Elementen anpasst. Daraus folgt, dass etwas, was Christen und Muslime im Alltagsleben teilten, etwas also, was sich nicht als genuin christlich ausweisen kann, nun in einen rein christlichen Bereich, jenen der Liturgie, aufgenommen und sozusagen für die Kommunikation mit dem »christlichen« Gott produktiv gemacht wird.
IV. Die zweite Erscheinung, der hier Aufmerksamkeit gewidmet werden soll, ist die byzantinische Musik, wie sie von den arabischsprachigen orthodoxen Christen im Vorderen Orient praktiziert wird. Es ist offenkundig, dass die orthodoxen Christen im Nahen Osten der griechischen Kirche sehr nahe stehen, und zwar nicht nur im Blick auf Glaubensfragen und liturgische Texte, sondern auch was die kirchenmusikalische Tradition angeht. Das System der byzantinischen Kirchenmusik gilt nicht nur in Griechenland und Zypern als maßgebend, sondern auch unter den orthodoxen Christen in Libanon, Syrien, Jordanien und Palästina. Umso relevanter wird es, wie diese byzantinische Kirchenmusik von den arabischsprachigen Orthodoxen interpretiert wird. Denn einige musikalische Phänomene zeigen, dass sich die orthodoxen Kirchensänger nicht ausschließlich am griechischen Modell orientieren, sondern auch an der arabischen Musik mit ihrer hochkomplizierten Maqamtheorie3, die auch für das koranische Rezitieren von entscheidender Bedeutung ist. Grund dafür ist an erster Stelle der musikalische Geschmack. Die arabische Musik ist in einigen ihrer Facetten mit der byzantinischen Musik griechischer Tradition nicht deckungsgleich. Diese Beobachtung gilt nicht nur der Rhythmiklehre, sondern vor allem der Art und Weise, wie im Gesang einige subtile Abstände zwischen den Noten interpretiert werden. Man vergegenwärtige sich, dass hier die Rede von einer weitgehend mündlich tradierten kirchlichen Vokalmusik ist, die sich keinerlei Musikinstrumente bedient, durch die die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis verhindert werden könnte. 3
In der arabischen Musik steht maqÁm für Tonart. Viele der arabischen Tonarten charakterisieren sich durch ihre auf Vierteltönen basierenden Abstände zwischen den Noten.
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Dass arabischsprachige orthodoxe Kirchensänger gelegentlich von der byzantinischen Musiktheorie zugunsten ihres arabischen Musikgefühls abweichen, führt dazu, dass die byzantinische Musik eine arabischsprachige Version aufweist, die zwar der Theorie nach dem griechischen Modell folgt, sich in der Praxis aber an vielerlei Punkten mit der arabisch-islamischen Musik überschneidet. Viele Kirchenmusiklehrer scheuen sich selbst nicht davor, ihre Schüler und Schülerinnen in einige Grundsätze der arabischen Musik einzuführen, um ihnen dadurch zusätzliche musikalische Orientierungsmaßstäbe zu liefern, die der traditionellen byzantinischen Kirchenmusiktheorie nicht ohne weiteres zu entnehmen sind. Außerdem ist seit kurzem die herkömmliche Sprechweise der koranischen Verse beim Rezitieren zum Maßstab geworden, wie arabische liturgische Texte im Blick auf die Aussprache von Einzelbuchstaben gesungen werden sollen. So orientieren sich viele arabischsprachige Kirchenchöre an der islamischen Rezitation. Mit der Tatsache, dass die arabischsprachigen Christen in der Art und Weise, wie sie heute ihre Kirchengesänge interpretieren, weitgehend von der arabisch-islamischen Tradition geprägt sind, sind einige Christen im Orient selbstverständlich unzufrieden. Hier wird meist die apologetische Aussage ins Spiel gebracht, der Islam selbst sei von den musikalischen Traditionen des nahöstlichen Christentums beeinflusst worden. Es ist zwar historisch belegbar, dass die arabische Musik der oströmischen und persischen Musik verpflichtet war. Dass der erste Muezzin, der von einem Minarett aus den Ruf zum Gebet sang, ein zum Islam übergetretener Christ war, wie einige orientalische Christen unterstellen, kann aber als eine schöne Legende mit apologetischer Pointe erachtet werden.
V. Solche Beispiele lassen sich leicht vermehren. Christen im Vorderen Orient tendieren dazu, in der Osterfastenzeit auf islamische Art und Weise niederzufallen. Viele von ihnen besitzen Kassetten und CDs mit Höhepunkten koranischen Rezitierens oder essen gerne in der Ramadanzeit typisch islamische Süßigkeiten. Es ist umgekehrt keine Seltenheit, dass Muslime in Ägypten und im libanesischen Gebirge an christlichen Heiligenfesten teilnehmen. Zudem nimmt das islamische Interesse an den Ikonen deutlich zu. Einer der prominentesten Ikonenspezialisten weltweit
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ist Mahmoud Zibawi, ein Muslim aus Beirut.4 Gerade aber infolge des libanesischen Bürgerkriegs und des Scheiterns des nationalistischen panarabischen Modells lassen sich unter den nahöstlichen Christen heutzutage Versuche erkennen, sich von ihrer islamischen Umgebung abzugrenzen.5 Meistens nehmen diese Versuche den Charakter der Glorifizierung einer der alten Hochkulturen (alt-ägyptisch, phönizisch) an, der Rückkehr zum blinden Konfessionalismus (Libanon, Syrien) oder der Wiederentdeckung des Religiösen, vor allem in der Form einer übertriebenen bis zur krankhaften Religiosität. Töne, welche radikale Differenzen zwischen Christen und Muslimen sowohl im Blick auf Glaubensinhalte als auch bezüglich der ethischen Lebenssphäre akzentuieren, sind keine Seltenheit – auch in den Medien. Im Libanon gibt es junge Christen und Muslime, die nie einem andersgläubigen Menschen begegnet sind. Umso lebenswichtiger wird es, die Bedeutung solcher Überschneidungspunkte zwischen Islam und Christentum gerade auch im liturgischästhetischen Bereich wieder zu entdecken und sie als eine Begegnungsplattform fruchtbar zu machen in einer Zeit, wo viele die Neigung aufweisen, Islam und Christentum als zwei sich ausschließende, einander fremde Größen zu erachten.
4
5
Vgl. z.B. Mahmoud Zibawi, Die Ikone. Bedeutung und Geschichte, Solothurn 1994; ders., Orients chrétiens. Entre Byzance et l’Islam, Paris 1995 (Théophanie); ders., Koptische Kunst. Das christliche Ägypten von der Spätantike bis zur Gegenwart, Regensburg 2004; Maria Antonietta Crippa, L’arte paleocristiana. Visione e spazio dalle origini a Bisanzio, Milano 1998. Vgl. dazu Assaad E. Kattan, Die heutige Situation der Christen im Vorderen Orient. Versuch einer kritischen Analyse, in: Jens Haupt (Hg.), Ex Oriente Lux. Theologische Wissenschaft und ökumenische Freundschaft (Hofgeismarer Protokolle 328), Hofgeismar 2003, 51–58.
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Beobachterbericht zum Forum: Mehr als Worte ... Gebet und Leiblichkeit Catherina Wenzel
Im Koran werden Juden und Christen als ahl al-kitÁb bezeichnet: die Leute der Schrift. Die neuen Muslime nennen sie so, weil sie sich selbst als solche zu verstehen suchen. Heute wird vielfach konstatiert, dass eine solche starke Betonung des Buches oder der Schrift auf Kosten anderer Merkmale ging, die dadurch aus dem Blick gerieten. Die Frage nach dem Körper und der Leiblichkeit – angeregt auch durch viele Untersuchungen in der Philosophie und den Kulturwissenschaften – ist in den letzten Jahren auch in der Theologie immer wichtiger geworden. Der damit verbundene Blickwechsel scheint allerdings ein typisch christliches Phänomen zu sein. So betonte auch Abdullah Takım, dass es im Islam nie eine solche Dichotomie zwischen Leib und Geist gegeben habe, wie sie für das Christentum geschichtsmächtig wurde. Wenn man sich dennoch zunächst um eine vergleichende Perspektive bemüht und den Begriff des Körpers weiter fasst, könnte man die beiden Religionen – Christentum und Islam – so gegenüberstellen, dass wir uns jeweils im Zentrum einen Korpus vorstellen. Der eine ist der Leib Christi, an den die Riten der Kirche regelmäßig erinnern, ihn austeilen und so die Christen an der Gegenwart ihres Herrn teilhaben lassen, in dessen Nachfolge sie schließlich zu leben suchen. Der andere Korpus ist der Koran, der durch die Rufe vom Minarett, die Rezitationen und Gebete täglich den Raum mit Klang füllt, von den Muslimen vernommen, die einzelne Worte betend wiederholen und verinnerlichen. Die Feststellung, dass das Gebet im Islam sehr bedeutend und Ausdruck großer Gottesnähe sei, zog sich wie ein roter Faden durch die ganze Tagung. Besonders wichtig für diese Überlegungen waren dabei Worte aus dem 19. Vers der Sure 96: »Wirf dich nieder und nähere dich Gott.« Interessant scheint mir, dass gerade dieser Abschnitt zu den ganz
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frühen mekkanischen Offenbarungen gehört. Während die Verse 1 bis 5 möglicherweise sogar Zeugnis der ersten an Muhammad ergangenen Offenbarung sind, spiegeln die darauf folgenden Verse eine kritische Situation in Mekka wider. Der Anlass für ihre Offenbarung lag offensichtlich darin, dass der Prophet mit seinen Anhängern einen oder mehrere Gottesdienste abgehalten hat und deswegen angefeindet wurde. Sure 96,19 gehört also historisch in einen Zusammenhang, in dem der Islam noch ganz in seinen Anfängen steckte und noch sehr an christlichen und jüdischen Vorbildern orientiert war. Christoph Luxenberg meinte sogar, dass dem Abschnitt ein Proömium einer christlich-syrischen Liturgie zu Grunde liegt. Der Vers würde, wenn man seiner Rekonstruktion folgt, einst sogar zum Abendmahl eingeladen haben.1 Auch nach heutigem muslimische Verständnis wird der Terminus saÊada (Niederwerfung) als Höhepunkt des Gottesdienstes angesehen. Abdullah Takım deutete das allgemeine Gebet (ÒalÁt) so, dass es die Demut, die jeder fühlt, wenn er/sie vor der Majestät Gottes steht, in entsprechende Haltungen des Körpers übersetzt und zum Ausdruck gebracht wird.2 Für einen gläubigen Muslim gehören Leiblichkeit, Ästhetik und Kommunikation mit Gott sehr eng zusammen.3 Takıms Darlegungen zufolge kommt dem islamischen Gebet und den mit ihm verbundenen Koranrezitationen ein beinah »sakramentaler« Charakter zu. Das lenkt die Aufmerksamkeit weiter auf liturgiewissenschaftliche Überlegungen, wobei es hier zunächst einmal reizvoll ist, sich der mit dem Gebet verbundenen Raumordnung in den beiden Religionen zuzuwenden: Würde man aus der Vogelperspektive auf die Erde blicken, so könnte man sehen, dass die Muslime sich zu den festgelegten Gebetszeiten sternenförmig in Richtung Mekka verneigen – jede Moschee hat ihre Qibla, jedes Haus, jeder Gebetsraum. Und natürlich blickt jeder Vorbeter, gemeinsam mit den Gläubigen, nach Mekka, wenn sie das Gebet verrichten. Kirchen wurden noch bis vor 300 Jahren entweder geostet oder gewestet. Mekka ist keine Himmelsrichtung, sondern ein konkreter 1 2
3
Vgl. Christoph Luxenberg, Die syro-aramäische Lesart des Koran. Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache, Berlin 2000, 292–297. Sich erheben und hinwenden, das Haupt senken, sich verneigen, dann wieder aufrecht stehen, sich hinknien, auf den Boden werfen, mit der Stirn den Boden berühren, kniend sitzen, wieder aufrecht stehen usw. Takım spricht sogar von einer kosmischen Dimension: Der Mensch betet mit allen Mitgeschöpfen (Sonne, Mond, Erde) zu seinem Schöpfer. Diese Einheit des Schöpfers mit seinen Kreatur(en) gibt dem Vers Sure 50,16b seinen vollen Sinn: »Und wir sind ihm näher als die Halsschlagader.«
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irdischer Ort, auf den hin der islamische Raum sich ordnet. Die christliche Welt hat natürlich auch eine Ordnung mit heiligen irdischen Orten, aber ihr Bezugspunkt hinsichtlich des Gebetes ist ein transzendenter. Er liegt im Himmel, im Osten, dort, wo die Sonne aufgeht und von wo die Wiederkunft des Auferstandenen erwartet wird. Allein solche Beobachtungen helfen m.E,. Methoden des Religionsvergleiches immer wieder zu prüfen, da solche verschiedenen Raumordnungen jeweils auch andere Ordnungen im jeweiligen religiösen System bedingen und man deshalb eigentlich nicht Gebet und Gebet völlig gleichsetzen kann. Aber auch andere Beobachtungen lassen Differenzen erkennen und bestimmte Eigenarten deutlich werden. Im Ordo Romanus I aus dem 7./8. Jh. richteten sich z.B. die Gebetshaltungen und Blickrichtungen der Gläubigen nach dem, der jeweils angesprochen wird. Es gibt zudem eine Kongruenz zwischen dem Inhalt des Gesprochenen und der entsprechenden Körperhaltung, die wiederum eine bestimmte Funktion im Vollzug des Gottesdienstes erfüllt.4 Bei der ÒalÁt muss das gesprochene Wort nicht unbedingt in einem direkten Verhältnis zur jeweiligen Gebärde stehen. Man kann AllÁhu akbar in verschiedenen Haltungen sagen. Wenn man dagegen christliche liturgische Ordnungen zur Hand nimmt, die noch sehr sensibel auf bestimmte Körperhaltungen in den jeweiligen Abschnitten geachtet haben, wird das persönliche Gebet durch die kniende Haltung angezeigt, während das allgemeine Gebet im Stehen gesprochen wird.5 Ansgar Franz konnte zeigen, dass die Auseinandersetzung mit dem Islam den Blick auf solche christlichen Traditionen schärft, die viele Beispiele 4
5
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Ein sehr beredtes Beispiel dafür sind auch die neun Haltungen des Dominikus, mit denen er betend und mit seinem ganzen Körper mimetisch das Leben und Leiden Christi nachgestaltet. »Dominikus liegt ausgestreckt auf der Erde (prostratio), weil er aus Erde geformt ist und zur Erde gehört. Er weiß, er ist Staub, aber von Gott vorbehaltlos geliebt, damit der Staub Gott loben kann. Er gibt sich Gott preis, ohne einen Zweck zu suchen. Das macht ihn gelehrig und fügsam für den Hl. Geist.« (www.arenberger-dominikanerinnen.de/gebetshaltungen.htm, 2. Gebetsgebärde: Ausgestreckt auf der Erde liegend). Die Deutung der Niederwerfung des Dominikus deckt sich mit dem Verständnis der entsprechenden muslimischen Geste. Hamideh Mohagheghi sagte: »Der Mensch wird, wenn er mit der Stirn den Boden berührt, gewahr, nur ein kleiner Teil der Schöpfung zu sein. Er wird also dessen gewahr, dass er selbst nur aus Materie geschaffen wurde und sich in einem unendlichen Abstand zu Gott befindet.« Franz bezieht sich hier auf älteste liturgische Traditionen, die sich bis in die Ordnung zentraler ›hochwertiger‹ Feste erhalten haben (z.B. in den Vigillesungen zur Osternacht).
bieten, in denen die Sprachhandlungen des Gottesdienstes auf die Sprache des Körpers und die Gestik aller Beteiligten wohl abgestimmt waren. Wenn man außerdem bedenkt, dass Glauben auch von außen nach innen wächst, d.h. dass es in der Religion auf solche mit dem Körper eingeübte wiederholende Gesten und Gebärden wie das fünfmalige Beten ankommt, dann wird deutlich, wie wichtig und ernst man die Liturgie und ihre Elemente nehmen muss. Außerdem wäre es sinnvoll, an der von Franz aufgeworfenen Frage weiterzuarbeiten, »ob die im Islam neben dem Stehen akzentuierte hohe Wertschätzung des Sich-Niederwerfens beim Gebet als Ausdruck der totalen Hingabe an Gott einerseits und die in der christlichen Tradition bevorzugte stehende Gebetshaltung andererseits auch Spiegelungen eines unterschiedlich akzentuierten Gottesbildes sind.« Während es beim Vortrag von Franz zuweilen um den Vergleich liturgischer Vollzüge ging, die relativ unabhängig voneinander entstanden waren, sprach Assaad Kattan über wechselseitige Beeinflussungen zwischen nahöstlichen Christen und Muslimen am Beispiel einiger liturgischer Elemente. An seinem Referat wurde m.E. deutlich, wie schwer es ist, das spezifisch Religiöse von dem allgemeinen kulturellen Kontext zu unterscheiden, besonders wenn es um ästhetische Dimensionen geht. Kattan zeigt, dass die Alepposchule der Ikonenmalerei al-MuÒawwir, die im 17. Jahrhundert entstand, sich u.a. auch deswegen von dem Kanon byzantinischer Malerei distanziert hat, weil sie Elemente aus der arabisch-muslimischen Umwelt aufnahm. Ich denke, dass man diesbezüglich außerdem berücksichtigen muss, dass jene Elemente, die YÙsuf alMuÒawwir und seine Nachfolger in den neuen Stil haben einfließen lassen, ebenso griechische und italienische Einflüsse aufweisen und damit Spuren der Renaissance Europas bezeugen.6 Vielleicht ist dies ein gutes Beispiel für uns, Methoden und Betrachtungsweisen zu verfeinern, wenn es um die Frage geht, was und ab wann etwas die Nähe zwischen Christen und Muslimen zum Ausdruck bringt.7 Man könnte nämlich für das Aleppo des 17. Jahrhunderts ebenfalls mit guten Argumenten nachweisen, dass sich das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen erheblich 6
7
Diese Angaben beziehen sich auf: Bernard Heyberger, Inschriften und Malereien des Aleppo-Zimmers: Zeugnisse von Kulturangehörigkeit und konfessioneller Abgrenzung in Aleppo. Der Autor hat mir dankenswerter weise sein Manuskript zur Verfügung gestellt (Veröffentlichung geplant). Vgl. Andreas Feldkeller, Die ›Mutter der Kirchen‹ im ›Haus des Islam‹. Gegenseitige Wahrnehmung von arabischen Christen und Muslimen im West- und Ostjordanland, Erlangen 1998, besonders 14–27.
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abgekühlt hatte. 1603 war es z.B. noch möglich, dass ein Christ wie ÝÏsÁ b. BuÔrus sein Empfangszimmer (qÁÝa) im Stil islamischer Buchmalerei gestalten ließ.8 Insgesamt wird mir eine doppelte Bewegung deutlich. Zum einen kann man feststellen, dass die aleppinische Ikone etwas – so Kattan –, »was Christen und Muslime im Alltagsleben teilten, etwas also, was sich nicht als genuin christlich ausweisen kann, nun in einen rein christlichen Bereich, jenen der Liturgie, aufgenommen« hat. Andererseits ist die Ikonenschule von YÙsuf al-MuÒawwir auch Ausdruck eines gestärkten Differenz- und Distanzbewusstseins zwischen den religiösen Gruppen, aus dem sich bis heute Konflikte speisen. In Bezug darauf ist es wünschenswert, Überschneidungspunkte zwischen Islam und Christentum gerade auch im liturgisch-ästhetischen Bereich wieder zu entdecken, wie es Kattan auch hinsichtlich der Kirchenmusik getan hat. Ob und wie aus den verschiedenen Überlegungen eventuell eine Praxis gemeinsamen Betens und Feierns erwachsen kann, wurde von denen, die sich mit konkreten Vergleichen zwischen christlicher und muslimischer Auffassung und Praxis beschäftigt haben, eher vorsichtig formuliert, vielmehr stand der Wunsch nach weiterer Beschäftigung und tieferem Verständnis im Vordergrund. André Ritter, der sich nicht mit Einzelfragen beschäftigte, suchte jenseits der Unterschiede nach einem gemeinsamen Horizont und meinte, dass die verschiedenen religiösen Traditionen letztendlich auf die uns allen begegnende Kraft des lebendigen Geistes Gottes hinweisen und man sich von daher auf einen Weg zu einer »interkulturellen Theologie der Leibhaftigkeit« machen könne.9 Angesichts der vielen offenen Fragen und des Diskussionsbedarfs scheint es mir für die weiteren Gespräche noch nicht geboten, die bisher herausgearbeiteten Differenzen in einer solchen Perspektive aufzuheben.
8 9
164
Vgl. Julia Gonella, Das Aleppozimmer im Museum für Islamische Kunst, Mainz 1996. Vgl. dazu den Beitrag von André Ritter zum Thema »Gemeinsames Beten und Feiern – auf dem Weg zu einer interkulturellen Theologie der Leibhaftigkeit« (vor allem These 5), der an anderer Stelle veröffentlicht wird.
IV. Gebet und religiöse Identität in der säkularen Gesellschaft
»Wenn das Beten was nützen würde …« Gott-Mensch-Beziehung im Spiegel des Gebets: Christliche und muslimische Perspektiven zwischen Intimität und Öffentlichkeit Klaus Hock
1. Vorbemerkung 1.1.
Gebet und Öffentlichkeit: »Von drinnen nach draußen«
Vor nun schon einem Vierteljahrhundert hatte die Kölner Rockgruppe BAP, kurz bevor sie auf dem Zenit ihres Erfolges stand, auf ihrer Langspielplatte »Vun drinne noh drusse« ein Lied eingespielt, in dem es um das Gebet ging. In guter kölscher Mundart heißt es da im Refrain: »Wenn et Bedde sich lohne däät, wat meinste wohl, wat ich dann bedde däät, bedde däät.« Ohne Prioritäten würde dieses Gebet gesprochen, und letztlich käme alles zur Sprache: »Ohne Prioritäte, einfach su wie et köhm, fing ich ahn, nit bei Adam un nit bei Unendlich, trotzdämm: Jeder un jedes köhm draan, für all dat, wo der Wurm drinn, für all dat, wat mich immer schon quält, für all dat, wat sich wohl niemohls ändert, klar – un och für dat, wat mir jefällt.« Dabei werden ebenso ungewohnte wie anrührende Bilder bemüht – »Ich däät bedde für Sand em Jetriebe un jed Klofrau kräät Riesenapplaus, övverhaup jeder Unmengen Liebe un dä Sysiphus nit nur en Paus.«, – bevor der Text seine »theologische« Klimax ansteuert: 167
»Jott, wöhr et Bedde doch bloß nit su sinnlos, denn off denk ich, wir wöhren bahl schon ahn dämm Punkt, wo et ejal weed, wer Rääsch hätt, wo Beziehung un Kohle nit zällt. Mir sinn all zosamme om Kreuzwääsch, etwa do, wo mer et dritte Mohl fällt, et dritte Mohl fällt.« Es mutet seltsam an, dass dieses Lied, das so gebetskritisch daherkommt, trotz (oder wegen?) seines (gebets)kritischen Ansatzes plötzlich eine theologische Wende nimmt und somit beinahe zu so etwas wie einem der schönsten »Gebete« der Rockgeschichte mutiert – selbstverständlich immer umrahmt vom grundsätzlichen Vorbehalt, von einer fundamentalen Skepsis – nein: von der Zurückweisung jeglichen Gedankens einer Wirksamkeit des Gebets: »Wenn et Bedde sich lohne däät, wat meinste wohl, wat ich dann bedde däät, bedde däät.«1 In seiner Grundaussage bildet zumindest der erste Teil des Refrains wohl einen in hochgradig säkularisierten, oder genauer: entkonfessionalisierten Gesellschaften weit verbreiteten Konsens ab: dass das Beten nichts nützt. Es spiegelt damit indirekt jedoch auch etwas anderes wider: dass das Beten etwas ist, was »man« nicht macht. Jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Deshalb bleibt auch dieser Text individualistisch, auf das Ich zurückbezogen: »Ich däät ...«.
1.2.
Muslimische Betende – neidvoll bewundert
Missionare, oder wie sie politisch korrekt heute genannt werden: »fraternal workers«, entwickeln nicht selten eine ausgeprägte Skepsis gegenüber dem Islam und Muslimen, was vielleicht verständlich ist angesichts ihrer Erfahrung erbitterter Konfrontationen zwischen Muslimen und Christen in manchen Regionen der Welt – einer Erfahrung, in der sie ja nicht neutrale Beobachter sind, sondern Partei. Selbst wenn sie konservativ-evangelikal geprägt sind, mischt sich bei manchen doch auch eine gewisse Achtung, fast so etwas wie ein bewundernder Neid, in ihre Äußerungen über die konkurrierende Religion. Nicht selten ist es dabei gerade der bisweilen demonstrative Charakter des islamischen Gebets, der ihnen zu dieser Bewunderung Anlass gibt. Egal wo – und sei es im 1
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Der Text findet sich auf der offiziellen Internetseite der Gruppe unter www.bap.de.
Zug, in einem toten Winkel des Durchgangs zwischen zwei Abteilen: Das Gebet wird öffentlich ausgeführt, ohne jegliche Scheu oder Angst, womöglich das Gespött der Beobachtenden auf sich zu ziehen. Glaube wird so manifest bezeugt, mit Geist und Seele und ganzem Körper. Natürlich muss gerade dem eifrigen Christen, der engagierten Christin diese öffentliche Kundgabe »gefallen«, zumindest unter negativem Vorzeichen; denn genau dieses Zeugnis in seiner Demonstrationsgestalt ist es ja, das sie bei ihren Glaubensbrüdern und -schwestern so schmerzlich vermissen – und vielleicht auch bei sich selbst. Nur eines verwundert: In außereuropäischen Kontexten ist das öffentlich-demonstrativ abgehaltene Gebet kein Exotikum und wird auch von Christinnen und Christen ohne Hemmungen vollzogen. Das eigentliche »Problem« scheint demnach eher bei den hier in den Blick genommenen »fraternal workers« und ihrer Herkunftskultur zu liegen, nicht bei der Religionszugehörigkeit der Betenden.
1.3.
Die Scheu des Individuums vor der Öffentlichkeit
Aus diesen Beobachtungen ergeben sich folgende Überlegungen: Wenngleich sich seit einiger Zeit gewisse Anzeichen für eine Trendwende ausmachen lassen, so ist auf christlicher Seite – zumindest im kontinentaleuropäischen Kontext – eine gewisse Scheu bemerkbar, über das Gebet zu reden oder mit einem Gebet an die Öffentlichkeit zu treten; für stark säkularisierte Christen gehört das Gebet in den intimsten Bereich der Privatsphäre und hat in der Öffentlichkeit nichts zu suchen. Andererseits gibt es von christlicher Seite aus vornehmlich im Blick auf den Islam eine gewisse Bewunderung dafür, dass Menschen ihre Religion auch und gerade mit dem Gebet in die Öffentlichkeit tragen. Damit ist das Thema »Gebet« in einem Spannungsfeld zwischen Intimität und Öffentlichkeit verortet, das den Rahmen vorgibt, innerhalb dessen aus muslimischen und christlichen Perspektiven die Bedeutung des Gebets näher zu bestimmen ist. Diese »Bedeutung« beschränkt sich jedoch nicht auf abstrakte dogmatische oder religiöse Inhalte, sondern verweist auf den Charakter des Gebets als relationale Größe, als Bezugsgröße, oder anders ausgedrückt: Sie findet ihren Brennpunkt im Gebet als Spiegel der Gott-Mensch-Beziehung. Dabei ist allerdings religionsgeschichtlich vorgeformt, was »das Typische« des Gebets in islamischer bzw. christlicher Prägung ausmacht; über »das Gebet« kann eben nicht in phänomenologisierender Abstraktion geredet werden, sondern nur im konkreten Bezug auf seine spezifischen Traditionszusammenhänge
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(2.1.). Zum anderen besteht eine gemeinsame Schnittmenge islamischen und christlichen Gebetsverständnisses darin, dass das Gebet eine zentrale Stellung für die je praktizierenden Individuen und Gemeinschaften einnimmt; es geht nicht nur um die Kommunikation bestimmter Inhalte, sondern um die Konstitution religiöser Identität (2.2.). Darüber hinaus gewinnt, zumal in Zentraleuropa, aber nicht nur dort, die Frage nach der Bedeutung des säkularen Kontextes für das Verständnis des Gebets ihre besondere Relevanz; nicht im Kontext einer Theorie der fortschreitenden Säkularisierung, sondern vor dem Hintergrund der Infragestellung »klassischer« Säkularisierungstheorien ist die Stellung des Gebets zu diskutieren (2.3.). Das Thema der Akzeptanz des Gebets in der Öffentlichkeit führt nochmals zurück zur Frage, wie sich die jeweiligen Religionsgemeinschaften im Spannungsfeld von öffentlichem und privatem Raum positionieren, oder anders ausgedrückt: wie sie öffentliche Religion im Gebet und mit dem Gebet realisieren wollen (3.1.). Dazu gehört nicht nur die Frage der Gemeinschaftsbildung und der daraus resultierenden Gemeinschaftlichkeit, sondern auch die andere Seite der Öffentlichkeit: der private Raum und die ihm korrelierende Dimension der Individualisierung (3.2.). Bei der Beschäftigung mit allen diesen Aspekten sollte jedoch nicht außer Blick geraten, dass der religionswissenschaftliche Zugriff auf das Thema »Gebet« an seine gleichsam »natürlichen« Grenzen stößt. Andererseits liegt – gemäß dem Troeltsch’schen Diktum, dass geistige Kräfte herrschen, auch wenn man sie bestreitet2 – die Frage nach der Wirksamkeit des Gebets durchaus im Horizont religionswissenschaftlicher Betrachtung (4.).
2. Gebet, religiöse Identität, säkulare Gesellschaft 2.1.
Das Gebet: religionsgeschichtliche Konturierung und interreligiöse Differenzierung
2.1.1. Das gemeinschaftliche Gebet als tragender »Pfeiler« Die Besonderheit des islamischen Regelgebets wie auch die Unterscheidung zwischen rituellem Pflichtgebet (ÒalÁt) und »freiwilligem« Gebet 2
Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, München/Berlin 1911, 22.
170
(duÝÁÞ) sind allgemein bekannt und brauchen hier nicht nochmals referiert zu werden.3 Lediglich zwei Aspekte sind im Zusammenhang unserer Diskussion von Bedeutung und sollen an dieser Stelle nochmals hervorgehoben werden. Zum einen: Die Qualifikation der ÒalÁt als einen der fünf »Pfeiler« (arkÁn) des Islams stellt sie in einen exponierten Kontext, der die äußerlich sichtbaren Fundamente der Religion festlegt. Insofern gehört das Gebet zu den konstitutiven Markierungen, mit denen zugleich inhaltliche Bestimmungen (früher war vom »Wesen« der jeweiligen Religion die Rede) als auch deutlich konturierte Signale nach außen festgelegt werden. Darüber hinaus ist die Verantwortung für die Errichtung dieses »Pfeilers« den Einzelnen angewiesen, wodurch das Gebet im unmittelbarsten Sinne des Wortes zur »Individualpflicht« (farà Ýayn) wird. Zum anderen: Trotz der Zuweisung des Pflichtgebets an die Einzelnen wird das gemeinsame Gebet (ÒalÁt al-ÊamÁÝa) hinter einem Vorbeter (imÁm) gegenüber dem Einzelgebet bevorzugt. Damit wird das Gebet zum Scharnier zwischen Individuum und Gemeinschaft, mehr noch: Es integriert Muslim/a und islamische Gemeinschaft (umma), erweist sich als Brennpunkt der Interaktion zwischen betenden Einzelnen, betender Gemeinschaft und Angebetetem und fungiert zugleich als »Leuchtturm«, der diese dichte Beziehung nach außen kommuniziert – wohl deshalb auch die neidvolle Bewunderung seitens der eingangs erwähnten »fraternal workers«, die das exponierte islamische Gebet nicht zu Unrecht als offensive Empfehlung des islamischen Glaubens wahrnehmen.
2.1.2. Personale Gottesbeziehung in Reaktion auf die Zuwendung Gottes Christlicherseits, insbesondere auf protestantischer Seite, deckt das Verständnis von »Gebet« im Vergleich mit dem islamischen ein äußerst breites Spektrum ab, wohl nicht zuletzt aufgrund seiner fehlenden »Verrechtlichung«. Je protestantischer, so ließe sich holzschnittartig postulieren, desto vielfältiger und schwieriger fassbar wird es in seinen Ausdrucksformen – bis hin zu Gestalten der Glossolalie und ähnlichen Äußerungen als möglichen Modi der Kommunikation zwischen Gott und Mensch. Auch im Blick auf das christliche Gebetsverständnis sollen le3
Vgl. die einschlägigen Artikel in den üblichen Enzyklopädien und Lexika; im Blick auf rechtliche Aspekte vgl. insbesondere Encyclopedia of Islamic Law. A Compendium of the Views of the Major Schools, bearb. von Laleh Bakhtiar, Chicago 1996, 63ff.
171
diglich zwei Aspekte hervorgehoben werden, die für unsere Diskussion relevant sind. Zum einen: Das Gebet ist weniger Aktion des Menschen in Richtung Gott als vielmehr seine Re-Aktion auf die Zuwendung Gottes. Dies spiegelt nicht nur eine theologische Ausrichtung, die ihrerseits eine Reaktion auf religiöse Grundorientierungen darstellt, sondern hat Implikationen für die religiöse Identitätsbildung, wie wir sehen werden; dass in diesem Zusammenhang das Juridische in den Hintergrund treten muss, wird verständlich, wenn wir uns den rigoros freiwilligen Charakter dieser menschlichen Reaktion auf die göttliche Initiative vor Augen halten.4 Zum anderen: Nach christlichem Verständnis geht es beim »Gespräch« zwischen Gott und Mensch um eine personale Ich-Du-Beziehung, die im Gebet ihren intimsten und intensivsten Ausdruck findet. Diese Intimität mag erklären, dass sich christlicherseits im Großen und Ganzen keine ausgeprägt demonstrative Gebetskultur in der Öffentlichkeit ausgebildet hat; in christlicher Tradition stehen in der Regel Intimität und Intensität in einer direkt proportionalen Beziehung zueinander, während die Öffentlichkeit nur sekundär als Resonanzraum für das Gebet in den Blick kommt. Schließlich will ja niemand »sein wie die Heuchler, die da gerne stehen und beten [...], auf dass sie von den Leuten gesehen werden«, sondern der Aufforderung Jesu nachkommen: »Wenn du aber betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließe die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist [...].« (Mt 6,5 f.).
2.2.
Religiöse Identität
2.2.1. Vielfalt des Gebets im Islam: Juridifizierung und Veräußerlichung vs. Flexibilisierung und Verinnerlichung Die erwähnte besondere religiös-rechtliche Qualifikation des Gebets im Islam als einem der »Pfeiler« der Religion sowie die Prominenz des Gemeinschaftsaspektes bei seiner Durchführung machen das Gebet zu einem der, wenn nicht gar zu dem zentralen islamischen »Identitätszeichen«. Dabei gibt es allerdings insofern eine gewisse Pluralität, als äu4
172
Ein zentraler Ort in der Dogmatik wird dem Gebet zugewiesen insbesondere von Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 1, Tübingen 3 1987 (1979), und zwar im Zusammenhang der Gotteslehre, und von HansMartin Barth, Wohin, Woher mein Ruf? Zur Theologie des Bittgebets, München 1981.
ßerst unterschiedliche Arten der ÒalÁt festgelegt sind – vom Freitagsgebet in der Moschee über Gebete im Zusammenhang mit den höchsten islamischen Festen bis hin zu Gebeten aus ganz spezifischen Anlässen oder dem Totengebet als kollektiver Pflichthandlung. Doch auch für das fünfmal täglich zu vollziehende individuelle Pflichtgebet sind die rituellen Normierungen nicht absolut starr festgelegt, sondern entsprechend der Flexibilität des islamischen Rechts kontextualisierbar. Dies hat damit zu tun, dass der Koran ja nur die Grundzüge des Gebetsvollzugs regelt und beispielsweise noch nicht einmal die Fünfzahl der salÁt erwähnt, die historisch wohl erst gegen Ende des ersten muslimischen Jahrhunderts festgelegt wurde.5 Gleichermaßen nicht unterschätzt werden sollte zudem die Bedeutung des inneren Aspekts des Gebets: Mögen manche Beobachter die erklärte Absicht (nÐya) zum Gebet als eine – neben der rituellen Reinigung des Gebetsplatzes und anderen Verrichtungen – lediglich »formale« Gebetsvoraussetzung betrachten, so darf nicht übersehen werden, dass mit der nÐya eine lautere, und das heißt auch: auf der inneren Haltung basierende Intention verbunden ist. Somit erweist sich die ÒalÁt nicht nur als »äußerlich« wirkendes »Marken(?)zeichen« kollektiver islamischer Identität, sondern als letztlich individuelle Identität konstituierender Faktor.6
2.2.2. Das Gebet als Antwort auf »geschenkte Freiheit«: Vom Reflex auf Gotteshandeln zur Wahrnehmung von Verantwortungshandeln Wie wir gesehen haben, hebt christliches Gebetsverständnis den reaktiven Charakter des Gebets hervor – es geht primär um die Antwort des Menschen auf die Zuwendung Gottes. Anders ausgedrückt: Im christlichen Kontext wird das Gebet insofern zu einem konstituierenden Faktor religiöser Identität, als es einen Reflex auf die Identität begründende Gott-Mensch-Beziehung darstellt und in seiner Performanz selbst zur Identitätsbildung beiträgt. Diese Struktur spiegelt ein dogmatisches Grundverständnis, dessen kleinster gemeinsamer Nenner in der Aussage zusammengefasst werden kann, dass der Mensch nicht aus sich selbst heraus lebt. Falls wir wollten, könnten wir dieses theologische Grundge5
6
W. Montgomery Watt/Alford T. Welch, Der Islam I: Mohammed und die
Frühzeit – Islamisches Recht – Religiöses Leben (Die Religionen der Menschheit, Bd. 25,1), Stuttgart u.a. 1980, 262 ff., insbes. 271 ff. Vgl. die einschlägigen Artikel zu den Termini in der Encyclopedia of Islam sowie in der Encyclopedia of Islamic Law (s. Anm. 3).
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füge der Gott-Mensch-Beziehung auch durch andere biblische Aussagen illustrieren, die darauf zielen, das »Gefälle« zwischen Gottes Handeln und menschlichem Re-Agieren zum Ausdruck zu bringen – so etwa in dem Diktum, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern auch vom Wort Gottes (Dtn 8,3 zit. bei Mt 4,4/Lk 4,4). Doch es geht bei diesem Verständnis des Gebets als Antwort des Menschen auf die von Gott geschenkte Freiheit, worin sich die quasi »dogmatische« Feststellung dieser Grundstruktur der Gott-Mensch-Beziehung spiegelt, nicht bloß um (theo-logische) Richtigkeiten, sondern um (anthropologische) Konsequenzen, die das Handeln des Menschen betreffen. Im christlichen Kontext wird das Gebet nämlich über das bereits Gesagte hinaus auch insofern zu einem konstituierenden Faktor religiöser Identität, als es in sich das Potential birgt, den Menschen auf der Grundlage dieser Gott-Mensch-Beziehung für eine (im doppelten Sinne) verantwortliche »Wahr-nehmung« seiner Selbsterfahrung zuzurüsten. Anders gesagt: Es geht um die ethischen Konsequenzen dieser »Selbsterfahrung«, die nach christlicher Sicht Ausdruck jenes Strukturgefälles von göttlichem Handeln und menschlichem (re-aktivem) Tun darstellen. Wenn nach christlichem Verständnis die Freiheit nur als geschenkte Freiheit wahr-genommen werden kann, dann eröffnet sich aus der Unverfügbarkeit dieses »Geschenks« die Perspektive auf menschliches Handeln als Verantwortungshandeln, das sich nicht an juridischen Kategorien orientiert, sondern an der Verantwortung gegenüber Gott und den Menschen.7
2.3.
Säkulare Gesellschaft
2.3.1. »Säkularisierung« in der islamischen Welt Es wäre eine übermäßige Vereinfachung, Säkularisierung allein als »westliches« Phänomen zu betrachten. Wenngleich eine unmittelbare Übertragung europäischer Säkularisierungsparadigmen auf außereuropäische Gesellschaften und Kulturen alleine schon erhebliche methodische Probleme mit sich bringt – ganz abgesehen von der Frage der inhaltlichen Kompatibilität –, lassen sich doch auch dort Entwicklungen beobachten, die erlauben, von begrenzten Formen der Säkularisierung bereits vor dem 19. Jahrhundert zu sprechen. Diese sind teilweise durch die Rezeption europäischer Säkularisierungsprozesse in Gang gesetzt wor7
José M. Martínez/Pablo Martinez Vila, »Abba, lieber Vater«. Theologie und Psychologie des Betens, Neukirchen-Vluyn 1995.
174
den. Andererseits sind auch eigenständige Säkularisierungsformen zu beobachten, die es erlauben, beispielsweise auch in der sog. islamischen Welt von graduell unterschiedlich »säkularisierten« Gesellschaften zu sprechen. Ein recht banales Beispiel wäre etwa die Trennung von gottesdienstlichen und politischen Leitungsämtern; doch Ansätze für die Differenzierung von Religion und Staat sind bereits tief in der islamischen Geschichte angelegt, wenngleich sich eine solche Differenzierung nicht als Strukturprinzip islamischer Gemeinschaftsordnung etablieren konnte. Gerade in den letzten Jahrzehnten lassen sich zudem in vielen islamisch geprägten Gesellschaften Tendenzen zu einer zunehmenden Differenzierung zwischen zivil-politischen und religiösen Bereichen feststellen, und in manchen Regionen werden diesbezügliche Debatten durchaus offensiv geführt.8 Vor diesem Hintergrund ist es nicht angemessen, in essentialistischen Kategorien eine Differenz zwischen säkularisiertem »Westen« und säkularisierungsresistentem »Orient« zu postulieren.9 Ein solcher »Orientalismus« leistete nur einer Konstruktion »des Islams« Vorschub, die der tatsächlichen Dynamik islamisch geprägter Gesellschaften nicht gerecht werden könnte und mit ihrer starren Fixierung auf kulturelle Dichotomien solche Wandlungsprozesse aus dem Blick verlieren würde, die zumindest analog zu den im westlichen Abendland verlaufenden Säkularisierungsprozessen angelegt sind.
2.3.2. Zur Revision traditioneller Säkularisierungsparadigmen Nun gehört Säkularisierung nach allgemeiner Meinung zur Signatur der sog. »westlichen Welt«. Allerdings besteht Klärungsbedarf im Blick darauf, was »Säkularisierung« eigentlich bedeutet;10 die »Säkularisierungsthese« als solche jedenfalls ist heute zumindest strittig geworden: Die von dieser These behauptete Korrelation von gesellschaftlicher Modernisierung und der Abnahme religiöser Bindungen wird aus religionswissenschaftlicher Sicht in der Regel mehr und mehr in Frage gestellt.
8 9
10
Vgl. die Zusammenstellung von Omid Safi (Hg.), Progressive Muslims. On Justice, Gender, and Pluralism, Oxford 2003. Vgl. hierzu die Orientalismusdebatte, die ihren Ausgang nahm von Edward Said, Orientalismus, Frankfurt/Berlin/Wien, 1981 und namentlich dann auch in der Religionswissenschaft rezipiert wurde (stellvertretend und für den Schwerpunkt Indien vgl. Richard King, Orientalism and Religion. Post-Colonial Theory, India and the Mystic East, London/New York 1999). Einen Überblick bietet David Martin, A General Theory of Secularisation, New York 1978.
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Nach dem diesbezüglich bekanntesten Entwurf 11 besteht das Manko traditioneller Säkularisierungstheorien darin, dass Aspekte miteinander vermengt werden, die zu unterscheiden sind: (1) Prozesse der Emanzipation nicht-religiöser, »weltlicher« Bereiche von religiösen Institutionen und Normen; (2) Prozesse des Niedergangs religiöser Orientierungen; und (3) Prozesse des Abdrängens von »Religion« in die Privatsphäre. Aber nur der erste Aspekt gehört in den Kontext der Modernisierung, die neben Vorgängen der Rationalisierung und der sozialen Ausdifferenzierung insbesondere auch durch Entwicklungen gekennzeichnet ist, die zu einer Differenzierung funktionaler Teilbereiche führen (Recht, Kultur, Politik, Religion ...). Dies schlägt sich auch in der formalen Organisierung dieser Teilbereiche nieder, so dass beispielsweise Religion und Politik in modernen Rechtsstaaten institutionell und verfassungsmäßig voneinander getrennt, zumindest unterschieden sind. Diese Ausdifferenzierung muss nicht zwingend mit einer Abnahme religiöser Bindungen verknüpft sein, und auch das Abdrängen religiöser Überzeugungen und Verhaltensweisen ins Private ist damit nicht notwendigerweise impliziert, wie etwa das Beispiel der USA zeigt. Der Rückgang von Religion lässt sich vielmehr auf andere Gründe zurückführen – auf spezifische historische Kontexte der Beziehung zwischen Staat und Religion, auf politische Repression religiöser Äußerungsformen, auf die Transformation religiöser Überzeugungen in ideologische Paradigmen (Ethnizität, Nationalismus ...), etc. Das Phänomen der »Wiederkehr« der Religionen ist jedenfalls nicht in Kategorien eines roll back oder als Ausdruck einer Restauration zu beschrieben, sondern als Beleg der Kompatibilität von Modernisierung und Religion, und die Möglichkeit öffentlicher Religion wiederum wird durch Modernisierungsprozesse jedenfalls nicht prinzipiell in Frage gestellt. Offen ist allerdings, welche Formen der öffentlichen Religion möglich sind. Diese werden sicherlich unterschiedliche Gestalt annehmen, wobei die Gründe für diese Unterschiede jedoch weniger im Grade der Modernisierung der jeweiligen Gesellschaften liegen dürften, sondern in den jeweiligen historischen und kulturellen Kontexten. Die Frage nach dem »Verschwinden« des Gebets aus dem öffentli11
José Casanova, Public Relations in the Modern World, Chicago 1994; vgl. auch David Martin, Europa und Amerika. Säkularisierung und Vervielfältigung der Christenheit – zwei Ausnahmen und keine Regel, in: Otto Kallscheuer (Hg.), Das Europa der Religionen. Ein Kontinent zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus, Frankfurt 1966, 161–180; eine Gegenposition vertritt Steve Bruce, Choice and Religion. A Critique of Rational Choice Theory, Oxford 1999.
176
chen Raum – bzw. umgekehrt: nach der Präsenz des Gebets im öffentlichen Raum – hat also eher mit den Möglichkeiten und Formen öffentlicher Religion zu tun als mit der vermeintlichen »Säkularität« der jeweiligen Gesellschaft.
3. Öffentlicher und privater Raum, Individualität und Gemeinschaftlichkeit 3.1.
Öffentlichkeiten: Spurenzeichen des Gebets als Ausdruck der Präsenz des Religiösen
Die elementare Öffentlichkeit der Religionsgemeinschaft schließt für Christen und Muslime aus je innerreligiöser Sicht stets auch die »transzendente« Öffentlichkeit mit ein. Im christlichen Kontext steht hierfür etwa der Hinweis: »wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen« (Mt 18,20) – ein Gedanke, dem diesbezüglich im Islam in etwa die Präferenz für das gemeinschaftliche Gebet korreliert. Doch auch das intimste Gebet ist nie »nur« privat, sondern enthält potentiell einen öffentlichen Charakter, wenngleich die »transzendente Öffentlichkeit« dem analytischen Zugriff verborgen bleiben muss. Aufgrund dieses Bezugs auf die »transzendente Öffentlichkeit« drängen Christentum und Islam aus genuin religiösen Gründen auf eine Präsenz in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, worin zugleich der Anspruch auf Mitgestaltung der Welt symbolisiert ist. Diese Art der Präsenz von Religion in der Öffentlichkeit hat sich im Laufe der islamischen bzw. christlichen Geschichte durchaus unterschiedlich ausgeformt und hat zur unterschiedlichen institutionellen Verfasstheit beider Religionen geführt: die Kirche im Gegenüber zur staatlichen Gewalt, die ÝulamÁÞ im Gegenüber zum Kalifen. Diese institutionellen Bezüge in Christentum und Islam entsprechen sich nicht, wenngleich damit in beiden Religionen die grundsätzliche Differenzierung von religiösen und politischen Bereichen angezeigt ist. Auch innerhalb der jeweiligen Traditionen gibt es nochmals äußerst unterschiedliche Differenzierungen – denken wir nur an die Besonderheit der schiitischen Imamatslehre und der spezifischen Rolle der ÝulamÁÞ, was den Islam anbelangt, oder an die Implikationen der unterschiedlichen Ekklesiologie zwischen Katholizismus (Papsttum) und Protestantismus, was das Christentum betrifft. Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass sowohl Christentum als auch Islam – und dies gilt letztlich 177
für alle Religionen – darauf hinwirken, in der Öffentlichkeit präsent zu sein, wobei diese angestrebte Präsenz nicht in unmittelbarer Weise zu geschehen braucht, sondern durch ein umfangreiches Arsenal von symbolischen Repräsentationen gewährleistet werden kann.12 Der Zusammenhang von gesellschaftlicher und transzendenter Öffentlichkeit hat sich im Kontext neuzeitlichen Christentums oftmals als äußerst gebrochen dargestellt, jedenfalls gebrochener, als es in islamischen Kontexten der Fall ist. Dies mag damit zusammenhängen, dass die Modernisierungsprozesse in christlich geprägten Gesellschaften äußerst dynamisch verlaufen sind und aufgrund der verschärften Ausdifferenzierung von weltlichem und religiösem Bereich die symbolischen Repräsentationen in der weiteren gesellschaftlichen Öffentlichkeit noch vermittelter, noch mittelbarer vorhanden sind als in islamisch geprägten Gesellschaften. Konsequenterweise ist dann auch die Semantik des Gebets im öffentlichen Zeichensystem wenig profiliert und auf den privaten Bereich bzw. auf die elementare Öffentlichkeit, die christliche Gemeinde, beschränkt. Im Gegensatz dazu drängt im Islam die gerade im Gebet sich spiegelnde »Unmittelbarkeit« der elementaren Öffentlichkeit zur transzendentalen auf eine (Re-)Präsentation in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass diese Gegenüberstellung recht holzschnittartig konturiert ist und die tatsächlichen Differenzierungen kaum in Rechnung stellt. Weite Regionen auch des »säkularisierten« Europa sind nach wie vor von symbolischen Repräsentationen christlicher Provenienz durchdrungen. Diese werden umso sichtbarer, je stärker die Prägekraft des Christlichen nachwirkt: In katholischen Gegenden des süddeutschen Raums beispielsweise ist durch Wegkreuze, Kapellen, aber auch durch Fronleichnamsumzüge, Pilgerfahrten etc. eine Kontinuität der symbolischen Repräsentationen des Christlichen in der Öffentlichkeit gewährleistet, die auch als mittelbare Repräsentationen des Gebets in der 12
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Damit ist letztlich das Programm einer religionswissenschaftlichen Semiotik gefordert, die bislang nur in Ansätzen skizziert ist (vgl. etwa Eckhard Tramsen, Semiotische Aspekte der Religionswissenschaft, in: Roland Posner/ Klaus Robering/Thomas A. Seboek (Hg.), Semiotik [Handbücher zur Sprachund Kommunikationswissenschaft 13, Teilband 3], Berlin/New York 2003, 3310–3344). Die theologische Diskussion scheint hier weiter zu sein (vgl. etwa Wilfried Engemann, Personen, Zeichen und das Evangelium. Argumentationsmuster der Praktischen Theologie, Leipzig 2003; Karl-Heinz Bieritz, Grenzgebiet. Praktische Theologie zwischen Kultur und Kirche, Münster 2005).
Öffentlichkeit zu lesen sind. Ähnliches gilt sogar für weithin entchristlichte norddeutsche Regionen: Hier kündet der Raum, so etwa in Gestalt von Dorfkirchen oder tourismusträchtiger Backsteingotik, von der kontinuierlichen Präsenz symbolischer Repräsentationen des Christlichen. Die Semantik des Gebets im öffentlichen Zeichensystem ist dabei vielleicht weniger unmittelbar wahrnehmbar, aber eben doch vorhanden.
3.2.
Die Außenwelt der Innenwelt: die Präsenz des Über-Individuellen in der Öffentlichkeit
Der Prozess der Individualisierung betrifft alle Religionen. Dies führt jedoch nicht dazu, dass alle Formen religiöser Gemeinschaftlichkeit obsolet werden – im Gegenteil: Angesichts globaler Identitätskrisen mag sogar das Bemühen zunehmen, kollektives religiöses Handeln zum Zweck personaler Identitätsbildung zu nutzen, wobei die symbolische Repräsentation der Glaubensgemeinschaft im Gebet einen zentralen Ort finden kann. Was die Medien gerne vermitteln – geschlossene Reihen einer schier unermesslichen Anzahl muslimischer Betender, deren Gebet das öffentliche Leben ein Stück weit lahm legt –, steht ja zunächst einmal für die überindividuelle Stoßkraft des gemeinsamen Gebets; doch auf seiner Rückseite verbirgt sich die Identität stiftende Wirkung für den Einzelnen. Vielleicht mag eine katholische Messfeier anlässlich großer Ereignisse es mit der suggestiven Macht der Bilder aufnehmen, die vom Freitagsgebet einer großen Moschee in einer islamischen Metropole ausgeht. Aber die Vielfalt der über-individuellen Performanz und Semantik des Gebets ist im christlichen Kontext nicht minder mächtig vorhanden, wenngleich sie andere Formen annimmt: Das aus den USA stammende »Prayer Breakfast«, die Gebetstürme der Pentekostalen,13 der Weltgebetstag etc. – der Drang zum Über-Individuellen und der damit verbundenen Repräsentanz im Öffentlichen dürfte im christlichen Kontext kaum geringer sein als im islamischen; vielleicht ist es nur ein Problem einseitiger Sensibilität in der Wahrnehmung: Trotz aller Entchristlichung werden »irgendwie« doch noch vertraute Semantiken des Gebets in der Öffentlichkeit weniger 13
Diese architektonische Manifestation der zentralen Bedeutung des Gebets findet im großen Gebetsturm der pentekostalen Oral Roberts Universität besonderen Ausdruck (vgl. www.oru.edu/university/campus/prayer.html, abgerufen am 12.7.2005), findet sich aber auch schon bei manchen »mainline churches« wie etwa den Methodisten (vgl. www.hpumc.org/pages/ prayer_tower, abgerufen am 12.7.2005).
179
bewusst wahrgenommen als »fremde«; der Streit um den lautsprecherverstärkten Gebetsruf mag ein Indiz hierfür sein.
4. Die Wirklichkeit des Gebets Der tatsächlich »innere« Aspekt des Gebets entzieht sich allerdings letztlich dem religionswissenschaftlichen Zugriff, in der Regel auch der theologischen Reflexion und sogar der verbal-distanzierenden, um Erläuterung bemühten Beschreibung.14 Erst als »öffentlich« vollzogener Akt – als kulturelle Handlung Teil des gesamtgesellschaftlichen Zeichensystems geworden – ist es religionswissenschaftlich greifbar. Und erst als öffentlich vollzogener Akt ist das Gebet – und erzeugt es – Wirklichkeit im Sinne gesellschaftlich vermittelter Wirklichkeit.
14
180
Zu diesem Fragenkomplex s. Laurence B. Brown, The Human Side of Prayer. The Psychology of Praying, Birmingham 1994.
Das Gebet als Ausdruck der Hoffnung – (k)eine verlernte Fähigkeit in säkularen Gesellschaften Mohammed Heidari
1. Glaube ist eine menschliche Grundfähigkeit Glaube ist nach der islamischen Lehre eine der natürlichen Grundfähigkeiten des Menschen (Sure 30,30). Hier ist die Glaubensfähigkeit an sich gemeint. Der beste Ausdruck dieser Fähigkeit ist jedoch, an Gott und an seine Offenbarungen zu glauben und Ihn als unerschöpfliche Quelle von Kraft und Barmherzigkeit zu erkennen und aus dieser Quelle zu schöpfen. Diese Fähigkeit kann entwickelt werden, allerdings nicht von außen nach dem Motto: »Du sollst …«, sondern diese Fähigkeit wird von innen heraus, von den Bedürfnissen der Menschen her entwickelt. Die Menschen begeben sich quasi auf die Suche nach ihrem Weg zu Gott.
2. Glaube an Gott ist ein Angebot, das eine (möglichst bewusste) Entscheidung voraussetzt Es gibt keinen Zwang, an Gott zu glauben. Dies ist ein Angebot. Wir lesen im Koran, dass es keinen Zwang im Glauben gibt (Sure 2,256). Das Erkennen Gottes muss aus freien Stücken kommen. Diese Freiwilligkeit, Gott zu erkennen und anzuerkennen, ist ein Grundprinzip. Der Mensch muss also wollen oder offen sein für göttliche Zeichen (Sure 30,19–26). Wenn man offen ist, dann öffnet sich einem die Tür zu unerschöpflicher Energie der Barmherzigkeit. Jeder geht selber durch diese Tür, ganz bewusst. Wenn man nicht hindurchgehen will, bleibt einem diese Tür verschlossen. Darum fragt auch der große iranische
181
Dichter Hafis: »Warum klagst und jammerst du, wenn du es doch selbst nicht willst.«1
3. Gebete sind Wege, sich im Glauben an Gott zu festigen und mit Gott in Verbindung zu bleiben Um die Gott-Mensch-Beziehung aus der Sicht der Muslime und die Funktion der Gebete in diesem Zusammenhang verstehen zu können, muss man wissen, was Gott von uns Menschen will. Gott möchte nach dem Islam, dass wir ihn erkennen. Erkennen, dass er ein verborgener Schatz ist, eine unerschöpfliche Quelle der Kraft und der Barmherzigkeit; und dass wir aus dieser Quelle auch unbegrenzt schöpfen können. »Kuntu kanzan maÌfiyan […]: Ich war ein verborgener Schatz und wollte erkannt werden; deshalb schuf ich die Welt.«2 Dieser Gedanke ist aus dem Gefühl entstanden, »dass Gott lieben und geliebt werden wolle«.3 Die Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass der Mensch die Bereitschaft zeigt, diese Quelle freiwillig und bewusst in Anspruch zu nehmen (Sure 7,172). Gebete sind Hoffnungstüren, um mit Gott in Verbindung zu bleiben und aus dieser unendlichen Quelle Kraft zu schöpfen, um das eigene Leben zu meistern. Gebete sollen genau diese Hoffnung zum Ausdruck bringen, indem sie eine Verbindung des Individuums mit dieser göttlichen Kraft in uns ständig wach halten.
4. Religiöse Rituale/Regeln sind Mittel und nicht der Zweck Rituale sind festgelegte Regeln und Handlungsweisen, um z. B. – ohne Probleme – zusammen beten zu können. Wir lesen in den islamischen Quellen, dass es nicht in erster Linie um die Form und Regeln des Gebetes geht, sondern um das »in Verbindung bleiben«. In Verbindung kann jeder bleiben, der das möchte, egal, wie der Mensch das zum Aus1
2 3
182
Schamsaddin Muhammad Ibn Bahaaddin Schiraz »Hafiz«, Diwane – Hafez, hg. von Dhabihollah Badaghi, Teheran 1988, 432 f. (Kapitel 502), Übersetzung M.H. Annemarie Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam, Kö1n 1985, 270 f. Ebd. 202.
druck bringt. Ziel ist es, die Hoffnung nicht zu verlieren, dass man aus dieser unerschöpflichen Quelle der Barmherzigkeit Energie und Lebenskraft gewinnen kann. Der islamische Theologe und Mystiker Rumi geht in seiner Geschichte von Moses und dem Schäfer genau darauf ein: Moses, der strenge Prophet, der einen Hirten beschimpft, der Gott mit liebevoll törichten Worten anredet, wird von Gott getadelt. »Auf dem Weg sah Moses einen Hirten, der sprach: ›Du, der wählt, wen Er auch will! Wo bist Du, daß ich Dein Diener werde, Deinen Rock Dir flick, Dein Haar Dir kämme, wasch Dein Kleid und töte Dir die Läuse, Milch Dir bringe, o Du Hocherhabner? Küß Dein Händchen und massier’ Dein Füßchen und zur Schlafenszeit feg ich Dein Plätzlein? O Du, dem ich alle Zicklein opfre!‹ Solchen Unsinn redete der Hirte. Moses fragt’: ›Mit wem sprichst Du denn da?‹ ›Nun, mit dem, der uns erschaffen hat, von dem Himmel ward und Erde sichtbar!‹ Moses rief: ›Du bist auf falschem Wege, noch nicht Muslim, bist ein Heide du! Was für Unsinn, was für Heidenquatsch! Stopf dir besser Watte in den Mund!‹ Sprach der Hirt: ›Hast mir den Mund gestopft und mein Herz mit Reue ganz verbrannt.‹ Und er stöhnte laut, zerriss sein Kleid, floh und wandte sich zu Wüsten weit. Doch zu Moses kam die Offenbarung: ›Meinen Diener trenntest du von Mir. Kamst du, um die Menschen zu verbinden? Oder kamest du, um sie zu trennen? Strebe möglichst nicht zu einer Trennung! 183
Am verhasstesten ist Scheidung Mir. Jedem hab Ich einen Weg gegeben. Lob ist es für ihn, für dich ist’s Tadel! Honig ist’s für ihn – dir gift’ge Nadel! Frei sind Wir von Unrein und von Rein und von Langsamkeit und Schnelligkeit. Nicht befahl Ich, dass Ich Nutzen hätte - Nein, dass Ich den Menschen Gutes täte!‹«4 Moses bereut seine Härte und sucht den Hirten, dieser aber hat inzwischen einen weit höheren geistigen Rang erreicht. Die Aufgabe der Propheten ist also nicht, die Menschen durch starre Regeln von Gott zu trennen, sondern sie in Gottesliebe und Hoffnung auf seine Barmherzigkeit zusammenzubringen. Gott versteht das Stammeln des Menschen. Mit Hoffnung ist hier eindeutig nicht Hoffen auf Lohn oder auf milde Bestrafung gemeint. Gebet als Ausdruck der Hoffnung, mit Gott in Verbindung zu bleiben, soll jenseits des Guten und Bösen sein. Wir lesen bei der Mystikerin RabiÞa, dass sie weder wegen des Höllenfeuers noch wegen des Paradieses mit Gott in Verbindung bleiben möchte, sondern wegen dieser Lebenskraft spendenden Verbindung an sich. »Ich will Feuer ans Paradies legen und Wasser in die Hölle gießen, damit diese beiden Schleier verschwinden und es deutlich wird, wer Gott aus Liebe und nicht aus Höllenfurcht oder Hoffnung aufs Paradies anbetet.«5 Gottes gedenken im Gebet gehört somit auch zu den wichtigsten Aktivitäten jedes Menschen (z.B. Sure 4,103), der im Gedenken an Gott die Herzensruhe sucht (Sure 13,28).
5. Regelorientierte Gläubigkeit verliert und eine sinnorientierte Gläubigkeit gewinnt in der säkularen Welt immer mehr an Bedeutung Nun beobachten wir in den letzten Jahren vor allem im Migrationskontext, dass verstärkt junge Muslime den Glauben als eine Grundfähigkeit zur Persönlichkeitsstärkung nutzen möchten, anders als die mehr traditionsgebundenen Generationen vor ihnen. Die Jugendlichen bewegen sich immer mehr weg von regelorientierter Gläubigkeit hin zu einer sinnori4 5
184
Dschalaluddin Rumi, Das Mathnawi, ausgewählt und übersetzt von Annemarie Schimmel, Basel 1994, 66 ff. Zit. nach Annemarie Schimmel, Mystische Dimensionen (s. Anm. 2), 66.
entierten Gläubigkeit. Der Unterschied zwischen diesen beiden Orientierungen liegt darin, dass regelorientierte Gläubigkeit die Form betont, während es bei der sinnorientierten Gläubigkeit mehr um die Verbindung an sich als Quelle der Kraft geht. Folgende Zitate aus Interviews mit jungen Migrant/innen sollen dies verdeutlichen:6 Die 18-jährige Ayse hat sich entschieden, das Kopftuch abzulegen. In den Mittelpunkt ihrer Religiosität stellt sie die Beziehung des Individuums zu Gott. »Also meinen Glauben habe ich auf keinen Fall verloren, nachdem ich das Kopftuch ausgezogen habe, sondern genau im Gegenteil. Ich meine, Kopftuch ist nicht das Einzige, sondern wie man innen drin denkt, wie man von Herzen denkt, das ist für mich viel wichtiger. Und von Herzen glaube ich sehr stark an Gott … also, Gott ist für mich sehr wichtig, der spielt auch eine sehr große Bedeutung in meinem Leben. Ich meine, ohne den Gott hat vielleicht mein Leben auch keinen Sinn.« Die 21-jährige Studentin Arzu, die bewusst ein Kopftuch trägt, sagt: »[…] ich hatte ziemlich früh schon, also schon fast als Kind, mit 13 oder so … hatte ich mich entschieden, wenn ich Religiosität lebe, dann in keinster Weise aus der Tradition heraus, sondern wirklich, weil es im Islam so ist [...].« Der 20-jährige Hüseyin stellt, wie so viele junge muslimische Migranten, die innere Einstellung zur Religion über das Befolgen formaler Regeln. »[…] mit Zwingen geht gar nichts, wenn das nicht von Herzen kommt.« Die 19-jährige Aynur: »[…] wenn ich Ängste habe, Probleme habe, wenn ich mit keinem darüber reden will […] dann rede ich immer zu Gott […] ich rede ein-
6
Die folgenden Zitate stammen aus: Referat für Multikulturelles der Stadt Bonn, Migrationsarbeit und Islam als Sozialisationsfaktor, Bonn 2000, 120– 126. Vgl. dazu auch Mohammed Heidari, Der Islam und junge muslimische Migrant/innen in Deutschland, in: Bundeszentrale für politische Bildung, Interkulturelles Lernen. Arbeitshilfen für die politische Bildung, Bonn 1998, 341–352.
185
fach mit dem […] und danach denke ich immer, ja, was hat das jetzt gebracht? Aber andererseits fühle ich eine innere Erleichterung.«
6. Fazit Gebete bekommen da, wo säkulare Gesellschaften Freiräume für die Religiosität des Einzelnen bieten, indem sie die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen in Glaubenssachen schützen und fördern, ihren ursprünglichen Sinn als individuelle Wege, mit Gott in Verbindung zu bleiben. Die Gebetserziehung sowie das Erleben der Gläubigkeit in der Gemeinschaft sind als Unterstützung gedacht. Glaubenserziehung und Glaubenspraxis sollen also eine bewusste Entscheidung für Glauben und Gebet fördern, ohne die persönliche Entscheidungsfreiheit des Einzelnen subtil oder offen einzuschränken. Säkular orientierte Gesellschaften bilden die Basis für einen fruchtbaren und respektvollen Austausch und die gegenseitige Anerkennung des jeweils eigenen spirituellen Weges von Angehörigen verschiedener Religionen, wenn sie diese Freiräume schaffen. Es genügt dabei jedoch nicht, dass staatliche Macht die Religionsfreiheit garantiert. Vielmehr sind alle Beteiligten aufgefordert, diese Freiräume aktiv und konstruktiv zu gestalten. Eine der zentralen Aufgaben von Glaubenserziehung und -praxis sollte es deshalb sein, die Fähigkeiten zu respektvollem Umgang mit unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen zu entwickeln. Dazu gehört eine konstruktive Auseinandersetzung mit religiösen und kulturellen Differenzen, um sie zumindest lebbar zu machen. Eine pädagogische, positiv-synergetische Nutzbarmachung kulturell und religiös bedingter Konflikte kann wertvolle Ressourcen für das Zusammenleben in einer freiheitlich-demokratisch orientierten säkularen Gesellschaft bereitstellen.7 7
186
Vgl. dazu Mohammed Heidari, Wege aus der interkulturellen Konfrontation. Konzeptionelle Grundlagen für interkulturelles Kommunikationstraining und Konfliktmanagement, Köln 2005; ders., Lernen durch Konflikte im Kontext des interkulturellen Zusammenlebens, in: Andreas Renz/Stephan Leimgruber (Hg.), Lernprozess Christen Muslime. Gesellschaftliche Kontexte – Theologische Grundlagen – Begegnungsfelder, Münster 2002, 246– 264; ders., Muslimische Erziehungsvorstellungen und Glaubenserziehung im Kontext interreligiösen Lernens, in: Folkert Rickers/Eckart Gottwald (Hg.), Vom religiösen zum interreligiösen Lernen, Neukirchen-Vluyn 1998, 71–103.
Wie wir aus den Äußerungen von muslimischen Jugendlichen entnehmen können, haben Gebete als Ausdruck der Hoffnung und als Zuflucht in schwierigen Situationen auch in unserer von Globalität und Informationsflut gekennzeichneten Welt eine Bedeutung vor allem für junge Menschen. Die Ausdrucksformen ändern sich jedoch, und an die Stelle einer starren Regelgläubigkeit tritt eine befreiende und Sinn spendende Glaubenskraft zur autonomen Lebensgestaltung in tiefer Verbundenheit mit Gott. Dies kann man auch als eine Leistung der säkular humanistisch orientierten Gesellschaften betrachten.
187
Wege zum Beten in christlicher Tradition Religionspädagogische Reflexionen im Angesicht des Islam Martin Jäggle
»Im Gebet öffnen wir unser Herz für Gott.« (Karl Rahner)
1. Zur Ausgangslage Da die religionspädagogischen Reflexionen einen zeitspezifischen Kontext haben, seien hier einige Aspekte skizzenhaft charakterisiert. Denn die Wege zum Beten in christlicher Tradition sind vielfältig, und jede Zeit hat auch bestimmte Formen des Betens entwickelt, wie das Mittelalter das Rosenkranzgebet oder die Neuzeit den Kreuzweg.
1.1.
Missverständnisse
Beten ist in der modernen westlichen Welt mit gesellschaftlichen Vorurteilen konfrontiert, die – auch angesichts dominanter Fehlformen des Betens – geschichtlich verständlich, religiös, aber auch weltanschaulich bedingt sein dürften. An erster Stelle seien hier die Missverständnisse der Aufklärung und der »Aufgeklärten« über die »Nützlichkeit« des Betens genannt.1 Da Nützlichkeit eine weltimmanente Kategorie ist, bleibt nur (inneres) Kräfte-Sammeln als intellektuell gerechtfertigte, gesellschaftliche Legitimation des Gebetes. Eng verbunden mit der kritischen Frage nach der »Nützlichkeit« ist das Missverständnis, das Gebet vorwiegend als Bittgebet versteht. Lob1
188
Vgl. Josef Weißmayer, Art. Gebet III. Historisch-Theologisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 4, 312 f.
preis und Dank werden als Gebet nachrangig, ein schweigendes Gebet kann dann überhaupt schwer als Gebet verstanden werden.2 Zu den christlich-religiösen Missverständnissen kann zählen, das Gebet zuallererst als eine Art Zwiegespräch zweier in gleicher Art und Weise beteiligter Gesprächspartner zu verstehen. Dass dieses Missverständnis das Scheitern von Gebetsversuchen fördern kann (von »Er hört mich doch nicht« bis »Er antwortet nie«), liegt nahe.
1.2.
Die Ambivalenz öffentlichen Betens
Das Phänomen des Betens stellt sich in der mittel- und westeuropäischen Gesellschaft als merkwürdig ambivalent dar:
1.2.1. Die Gleichzeitigkeit von Unzeitgemäßheit und Zeitgemäßheit Die gesellschaftliche Plausibilität des Betens ist eigentümlich gebrochen. So hat öffentliches Beten oder auch nur das Gespräch über Beten den Charakter des Peinlichen, weil Beten als nicht (mehr) zeitgemäß und/oder als zu intim gilt. Gleichzeitig gibt es aber spontane Manifestationen des öffentlichen Betens bei überwältigenden Ereignissen (Katastrophen, monströsen Verbrechen etc.), aber auch gesellschaftlichen Bedarf nach offiziellen ökumenischen und multireligiösen Gebetsveranstaltungen. Der »11.9.2001«, die Seilbahnkatastrophe von Kaprun in Salzburg, die Tsunamikatastrophe vom 26.12.2004 seien nur als Beispiele genannt, ohne hier die damit verbundene Fülle der privaten, zivilgesellschaftlichen oder offiziellen Aktivitäten beschreiben zu können.
1.2.2. Öffentliches, gemeinschaftliches Beten geht zurück –
– – 2
Quantitativ: Dies betrifft die Anzahl der Gelegenheiten und die Zahl derer, die teilnehmen. In die Intimität (»Nachts, wenn ich Bauchschmerzen hab’, ...«): Beten ist für viele so intim (geworden), dass öffentliche und gemeinschaftliche Formen für sie allzu befremdend erscheinen. In eine neue Qualität: Gleichzeitig entstanden neue Formen und Anlässe öffentlichen und gemeinschaftlichen Betens, in denen sich eine Vgl. Günter Stachel, Religionspädagogik des Gebets und der Meditation, in: Erich Feifel u.a. (Hg.), Handbuch der Religionspädagogik, Bd. 3, Zürich u.a. 1975, 179 ff.; Wilhelm Albrecht, Art. Gebetserziehung, in: Gottfried Bitter/Gabriele Miller (Hg.), Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, München 1986, 260 ff.
189
neue Qualität ausdrückt, wie etwa der Weltgebetstag der Frauen oder die internationalen Taizé-Treffen.
1.2.3. Die Traditionen des Alltags gehen zurück, während »Tankstellen der Seele« boomen Festgelegte Gebetszeiten (Morgen-, Tisch-, Abendgebet) und -formen der christlichen Tradition im Alltag3 werden von immer weniger Menschen praktiziert und als Hilfe und Heimat wahrgenommen. Gleichzeitig wächst hingegen die Zahl kontemplativer Orden und ihrer Mitglieder. Orte des Gebetes wie Klöster oder Häuser der Stille werden zunehmend als »Tankstelle der Seele« aufgesucht.
1.2.4. Kinder wollen beten Auch säkularisierte Christen werden von ihren Kindern mit der Frage des Betens konfrontiert. Die Praxis der eigenen Kindheit ist dabei nicht einfach reaktivierbar. So erleben sie sich im zeitgenössischen Kontext angesichts eigener ambivalenter Erfahrungen und des fehlenden Zugangs zu für sie persönlich tragfähigen Formen oft als überfordert. Doch nicht wenige setzen sich mit dieser Frage auseinander, wie allein der blühende Markt für religiöse Kinderbücher und Elternhilfen beweist.
1.3.
Zeitspezifische Schwierigkeiten des Betens
Jede Zeit hat ihre zeitspezifischen Zugänge zum Glauben an Gott und ihre zeitspezifischen Barrieren. Dies hat auch Auswirkungen auf das Gebet. Hier sei nur auf einen Aspekt verwiesen: Eine Gesellschaft, in der die (eigene) Leistung und das, was man sich leisten kann, dermaßen lebensrelevant sind, wie dies in der mittelund westeuropäischen Gesellschaft der Fall ist, erschwert die Erfahrung des Beschenktseins und die Erfahrung der »verdankten Existenz«. Wer sich (von Gott) nicht beschenkt erfahren kann, wer sich von Gott nichts erwartet, wird schwerlich beten – loben, danken, klagen und bitten – können. Zu Recht steht am Beginn jedes kirchlichen Stundengebetes: »O Gott, komm mir zu Hilfe, Herr, eile mir zu helfen.«
3
190
Dass aber die Gebetspraxis der Vergangenheit auch ambivalent war, ist dokumentiert bei Oliva Wiebel-Fanderl, Religion als Heimat? Zur lebensgeschichtlichen Bedeutung katholischer Glaubenstraditionen, Wien/Köln/Weimar 1993, 49–73.
In gewissem Sinn setzt Beten Erfahrung voraus, die zur Mit-Teilung drängt. Dafür ist die Fähigkeit des zur- Sprache-Bringens Voraussetzung. »Das Sprechen-Können auf der Basis von Erleben und dem Bedürfnis, Erlebtes anderen mitzuteilen« ist schwieriger geworden, ja nach Meinung von Günter Stachel überhaupt »erstickt«.4 Auch wer sich dieser Einschätzung nicht anschließt, kann durch diese These von Stachel sensibilisiert werden für die Bedeutung und den Zusammenhang von Erfahrung, Mitteilung und Sprache.
2. Religionspädagogische Perspektiven »Das Wesen des Gebetes besteht in der Aufmerksamkeit.«5 (Simone Weil)
2.1.
Aufmerksamkeit und Meditationsfähigkeit
Die religionspädagogische Praxis ist wesentlich davon bestimmt, wie Gebet grundsätzlich verstanden wird, von dem, was als kindgemäß gilt, und den jeweiligen lebensgeschichtlichen Erfahrungen und der jeweiligen Zeit. Wenn Beten eben nicht primär als Gespräch (Zwiesprache) mit Gott verstanden wird, wenn Schweigen als eine Hochform des Betens gelten kann, dann bekommt alles, was der Übung der Aufmerksamkeit dient, dem Innehalten und Loslassen, vorrangige Bedeutung. Die Stille-Übungen nach Maria Montessori6 konnten sich in der religionspädagogischen Praxis bereits fest etablieren7. Für Günter Stachel ist eine Religionspädagogik der Spiritualität überhaupt eine »Anleitung zur ›Achtsamkeit‹«8.
4
5 6 7 8
Günter Stachel, Religionspädagogik der Spiritualität als Führung zur Achtsamkeit, in: Werner Simon/Hans-Georg Ziebertz (Hg.), Bilanz der Religi-
onspädagogik, Düsseldorf 1996, 328. Das französische Wort »attention« kann auch, vielleicht sogar besser, mit Achtsamkeit übersetzt werden. Die Entstehung wird referiert bei Maria Montessori, Kinder sind anders, Stuttgart 1952, 172 f. Vgl. Hubertus Halbfas, Religionsunterricht in der Grundschule, Bd. 1–4, Düsseldorf 1983–1986. Günter Stachel, Religionspädagogik der Spiritualität als Führung zur Achtsamkeit, in: Werner Simon/Hans-Georg Ziebertz, Bilanz der Religionspädagogik (s. Anm. 4), 324–338.
191
Bernhard Grom sieht in seinem religionspädagogisch-psychologischen Konzept der Gebetserziehung die »[a]llgemeine Meditationsfähigkeit, die sich zu einer religiösen Erfahrungsbereitschaft und zum Gebetsdialog entwickelt«, als Grundvoraussetzung für »Erfahrungsansätze und Lernschritte erlebnisverwurzelter, reifer Religiosität«.9 1981 umschrieb er sein Verständnis von »Meditationsfähigkeit« als »Bereitschaft zu innerer Erfahrung«.10 Zwei Jahrzehnte später stellt er sie in den Zusammenhang der »Fähigkeit zur Emotionsregulation mit Entspannung und Sammlung – auch als Grundlage intensiveren religiösen Erlebens und Sprechens mit Gott« und versteht sie als »Kunst«, als »Fertigkeit und Bereitschaft, seine Aufmerksamkeit genügend lang gesammelt, konzentriert Gegenständen seiner Wahl (selektiv) zuzuwenden«.11 Für Christian Grethlein gelten als Voraussetzung für Meditation und Gebet: »Die Fähigkeit zum Schweigen und Stillsein, zum genauen Wahrnehmen, zum Sich-Öffnen für die ›Unbedingtheitserfahrung‹ als Ausdruck der allgemein menschlichen Tendenz, ›sich irgendwohin zu öffnen‹, und zur kommunikativen Gestaltung hiervon.«12 Gemeinsam ist den unterschiedlichen Ansätzen, dass eine wache, aufmerksame, achtsame Existenzweise grundlegend für Beten ist.
2.2.
Orientiert an der Bibel
Die neuen Zugänge zur Bibel und ihren zentralen Themen, die im 20. Jahrhundert an vielen Orten und in unterschiedlicher Weise eröffnet worden sind, haben auch in neuen Gebeten und Liedern ihren Niederschlag gefunden. Für unser Thema besonders bemerkenswert ist die Entdeckung der Psalmen als Texte für Kinder in der evangelischen Religionspädagogik, wovon sich auch die katholische Fachwelt inspirieren ließ. Seit etwa zwei Jahrzehnten werden biblische Gebetsformen (Klagen, Lobpreis, Danken, Bitten) und Texte (»Wenn wir beten, sprechen wir mit Gott, wenn wir lesen, spricht Gott mit uns.«) gerade für die Arbeit mit
9 10 11 12
192
Vgl. Bernhard Grom, Religionspädagogische Psychologie, Düsseldorf 1981, 49. Ebd. Ders., Religionspädagogische Psychologie, Düsseldorf 52000, 151–158. Christian Grethlein, Art. Spirituelle Bildung – Gebet – Meditation, in: Gottfried Bitter u.a. (Hg.), Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, München 2002, 253.
Kindern wiederentdeckt.13 Seitdem sind Psalmen und biblische Hymnen zu einem festen Bestandteil auch katholischer Religionsbücher 14 geworden.
2.3.
Die Bedeutung des Singens und des körperlichen Ausdrucks
»Wer singt, betet doppelt!« So lautet ein altes Sprichwort. Nicht nur in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wird dem in besonderer Weise und vielfältig entsprochen. Gesang ist unverzichtbarer Teil des christlichen Betens und Feierns. Darüber hinaus konnte sich in den letzten Jahrzehnten die Praxis etablieren, ein Gebet nicht nur zu singen, sondern auch mit dem Körper oder einem speziellen Tanz zum Ausdruck zu bringen, gleichsam leibhaftig zu beten. Dies trifft auch für christliche Grundgebete der Tradition wie etwa das Vaterunser zu. Die Gesten interpretieren den Text, der Text interpretiert die Gesten, der Rhythmus und die Melodie vervollkommnen beides. Gerade die katholische Tradition mit ihrer Vielfalt an Körperhaltungen des Betens (stehen, sitzen, knien, gehen; unterschiedliche Arm- und Handhaltungen) hat sich als dafür offen erwiesen. Getanzt wurde aber schon in der Kirche des Mittelalters, etwa das auf dem Boden wiedergegebene Labyrinth entlang. Vielleicht sind es aber Lob und Dank, die nach ganzheitlichem Ausdruck in der Gemeinschaft drängen, womit der Gemeinde und ihrer liturgischen Praxis hier eine besondere Aufgabe in der Hinführung zum Gebet zukommt. Hier führten die Impulse der Kinderliturgie zu einer Erneuerung der Gemeindeliturgie. Beten mit Leib und Seele ist im Islam und im Christentum in der Form sicher verschieden, aber im Anliegen, »als ganzer Mensch« beten zu können, ähnlich.
2.4.
Die Bedeutung des Nachahmens und Mitbetens
Kinder lernen durch Wahrnehmen, Anteilnehmen und durch Nachahmung. Ihre Lernmöglichkeiten sind wesentlich von Menschen, mit denen sie sich identifizieren, und von Vorgaben, die sie imitieren können, abhängig. Insofern benötigt ein Kind eine Gebetspraxis der mit ihm lebenden Erwachsenen, die es wahrnehmen, an der es Anteil nehmen und die es nachahmen kann. Aus religionspädagogischer Sicht sollte das Gebet 13 14
Vgl. Ingo Baldermann, Wer hört denn mein Weinen? Kinder entdecken sich selbst in den Psalmen, Neukirchen 1986. Vgl. Martin Jäggle u.a., Religion 1–4, Wien 1994–1997.
193
der Erwachsenen und des Kindes mit den Erwachsenen primär sein. Aber dies erschwert einerseits der moderne Alltag und andererseits das bestehende, gebrochene Verhältnis zum gemeinschaftlichen Gebet auch im privaten Bereich der Familie. Das (vielleicht gelegentliche) Tischgebet dürfte noch die relativ häufigste gemeinschaftliche Gebetspraxis im Alltag sein. Es kann zu einem möglichen Ort des Dankes und der Bitte um Segen werden. Sekundär sollte sein, das Kind zum Beten anzuleiten, gemeint ist hier Beten als vorwiegend alleinige Praxis des Kindes. Wahrscheinlich wird sich dies in der Regel auf das Abendgebet als Teil des abendlichen Schlafengehen-Rituals konzentrieren. Hier legt sich nahe, vor Gott, »der auf mich schaut«, das Leben, den Tag zu erinnern, zu erzählen und zu bedenken. Das kann Herz und Mund öffnen und das Leben vertiefen. So kann für die guten Erfahrungen des Tages Gott gedankt, können aber auch die bedrückenden Erfahrungen, jene von Angst, Leid und Schuld ausgesprochen werden. Dafür braucht ein Kind Begleitung durch vertrauenswürdige Erwachsene, die ihm aufmerksam ihr Ohr leihen.
2.5.
Beten als »Lernchance« Erwachsener
In dem Maß, in dem Familien die Möglichkeit des Beten-Lernens nicht bieten (können), wird dies zu einer Aufgabe und Lebenschance junger Menschen und Erwachsener. Auch wenn realistischerweise festgestellt werden muss, dass es aus unterschiedlichen Gründen einen Abbruch in der (familiären) Gebetstradition gibt, so sehr ist es wichtig, die neuen Herausforderungen und Entdeckungsmöglichkeiten, die sich gerade dadurch für Erwachsene heute ergeben, wahrnehmen zu können. Ein etwaiger Mangel an Tradition kann auch einen unbelasteteren Zugang bedeuten, vielleicht auch einen leichteren, unverbildeteren Zugang zur Mitte des Gebetes und seiner Hochform, dem Schweigen vor Gott.
2.6.
Die Bedeutung der Formen und Formeln der Tradition
Die Bedeutung von freiem und geformtem Gebet und das Verhältnis der beiden zueinander werden unterschiedlich diskutiert, sowohl im Blick auf die Gebetspraxis als auch im Blick auf die Hinführung zum Gebet. Dass sie einander sinnvoll ergänzen sollen, dürfte Konsens sein. Das geformte Gebet wird dabei in der Argumentation immer wieder vorwiegend von seiner Bedeutung für gemeinsames Beten gesehen. Dies erscheint aber eher als eine kurzschlüssige Argumentation, sind doch auch 194
so genannte freie Fürbitten wichtiger Teil der gemeinsamen Liturgie. Aus religionspädagogischer Sicht könnte der Hinweis zielführender sein auf die rituelle Bedeutung des stets gleich bleibenden, geformten Gebetes, auf seine Bedeutung, »Sprache« zu leihen, und das Vertrautwerden mit Formen und Formeln der Tradition, die den Sprach- und Lebenshorizont erweitern und generationenübergreifende Perspektiven eröffnen können. So reich der Gebetsschatz der Kirche und damit die Möglichkeiten für die Einzelnen auch sein mögen, ist aber doch zu beachten, was Martin Walser als sensibler Zeitgenosse schon vor mehr als vier Jahrzehnten formuliert hat: »Mein Leben ist in der Gebetssprache nicht mehr unterzubringen. Ich kann mich nicht mehr so verrenken. Ich habe Gott mit diesen Formeln geerbt, aber jetzt verliere ich ihn durch diese Formeln.«15 Kann es Gebetsformeln geben, mit denen Menschen groß und alt werden können, oder ist Gebetssprache, die festlegt, bleibend ambivalent? Wie sprachliche Qualität, Texttreue und Kindgemäßheit vereinbar sind, zeigen die Beispiele am Ende dieses Beitrages. Änderungen von Glaubensinhalten sind aber nicht beliebig. Nach Eugen Paul haben sie »sich am grundlegend christlichen Ziel (Liebe) zu orientieren«. Zwingend ist die »Besinnung auf das zentral Christliche und seine notwendige Elementarisierung16.« Es geht dabei nicht darum, Texte der Tradition zu ersetzen, sondern sie im Verstehenshorizont der Kinder neu zu formulieren.
2.7.
Texte der Tradition für Kinder17 »Gott ist mein Licht und mein Heil, vor wem soll ich mich denn noch fürchten? Gott macht mich stark, lässt mich leben, da hab ich keine Angst mehr. Wenn andere mich umringen, bleib ich doch mutig. Sie können schreien, wie sie wollen: Ich habe stets Vertrauen.« (nach Ps 27)
15 16
Martin Walser, Halbzeit, Frankfurt 1960, 374 f. Eugen Paul, »Katechese« heute. Zur Problematik einer Begriffsbildung, in: ders./Alex Stock (Hg.), Glauben ermöglichen. Zum gegenwärtigen Stand
17
Günter Stachel, Religionspädagogik der Spiritualität (s. Anm. 7), 330.
der Religionspädagogik, Mainz 1987, 44.
195
»Ich liebe dich, mein Gott, mit ganzem Herzen, in meinem ganzen Leben, mit meiner ganzen Kraft.« (nach Dtn 6,4 f.) »Ich möchte singen und tanzen. Gott, du bist wunderbar. Für viele bin ich niemand. Du aber nimmst mich wichtig. Du hast mein Leben verändert. Du bist heilig. Du hältst zu den Menschen, die dich lieben. Du veränderst die Welt: Stolze werden einsam. Mächtige werden hilflos. Unterdrückte werden aufgerichtet. Hungrige werden reich beschenkt. Gottes neue Welt beginnt. Du liebst uns, wie du Abraham, Isaak und Jakob versprochen hast, heute und immer.« (Magnificat, nach Lk 1,46–55)18
18
Martin Jäggle u.a., Du machst mein Leben schön. Religion 2, Wien 1995,
36–51.
196
Beobachterbericht zum Forum: Gebet und religiöse Identität in der säkularen Gesellschaft Stephan Leimgruber
Im Anschluss an die Impulse der Professoren Klaus Hock und Martin Jäggle sowie an Dr. Mohammed Heidari ist der Beobachter zu folgenden Thesen gekommen: 1.
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Beten gehört für Christen und Muslime wesentlich zum religiösen Leben. Für Muslime ist es ein »Pfeiler«, eine »Säule« und das »zentrale Identitätszeichen« (Klaus Hock) der religiösen Praxis. Das Pflichtgebet ist neben dem Glaubensbekenntnis, der Almosensteuer, dem Fasten im Monat Ramadan und der Pilgerfahrt eine der fünf Säulen des Islam. Für Christen ist das Gebet der lebensnotwendige Atem der Seele, ohne den eine gläubige Person bald ersticken oder absterben würde. Die beiden erwähnten »abrahamitischen« Religionen Christentum und Islam und die großen Religionen überhaupt sind sich darin einig, dass das Gebet ein integriertes, fundamentales Wesensmerkmal des Glaubens ist. Das Gebet bringt eine spezifische religiöse Tradition in bestimmten Formen und inhaltlichen Festlegungen zum Ausdruck und spiegelt so die religiöse Identität einer Religion. Im Vollzug des Gebetes zeigt sich, wer (und was) ein Muslim, eine Muslima ist, und ebenso wird durch das Gebet offenkundig, wer sich als Christin bzw. als Christ begreift. Für Christen wie für Muslime ist das Gebet ein »Ausdruck der Hoffnung« (Mohammed Heidari); es setzt Sinnfindung und religiöse Überzeugung voraus, wiewohl diese immer wieder gesucht, gefunden und definiert werden müssen. Islam und Christentum kennen eine Vielfalt von Gebetsweisen: das stille Gebet als Vor-Gott-Treten in hörender Grundhaltung; das rituelle und ritualisierte Gebet, wo der Leib mitbetet; das persönliche und das gemeinschaftliche Gebet; das eher formelhafte und das eher
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frei formulierte Gebet; Beten als Dank, als Bitte, als Klage und als Lobpreis. Alle Weisen tragen zur religiösen Selbstfindung bei und verleihen Identität. Betend wird man sich bewusst, wer man ist und in welcher Situation man sich vor Gott befindet. Christen und Muslime pflegen neben dem privaten Gebet das gemeinschaftliche Gebet, wodurch das Gebet – auch das christliche – Öffentlichkeitscharakter erhält (Klaus Hock). In der Regel sind alle Interessierten, auch Angehörige anderer Religionen, zu öffentlichen Gebeten eingeladen und zugelassen. Muslime erkennen im Gebet eine dialogische Grundstruktur, ähnlich wie christliche Mystiker im Gebet eine intime, intensive Kommunikation mit Gott pflegen. Sie sehen im Gebet eine Reaktion auf die Zuwendung Gottes innerhalb einer personalen Ich-Du-Beziehung (Klaus Hock). – »Weltlich« gewordene Christen in einer Welt nach der Aufklärung und der Gott-ist-tot-Theologie indessen erfahren das Gebet nicht mehr einfach als »Dialog mit Gott«, sondern eher als Anrede und »Sein vor Gott«, das eventuell in der Geschichte des Alltags Antworten erhält. Beten ist ein performativer Sprechakt, d.h. das Gebet geschieht im Vollzug des Gebetsaktes. Es ist also kein bloßes Sprechen oder Theologisieren über das Gebet, kein Bericht über gehaltene Gebete. Vielmehr geschieht beim Beten etwas, es verändert sich die Beziehung zwischen dem Betenden und Gott. Die Menschen selbst verändern sich und erhalten eine neue Vergewisserung ihrer Beziehung zur personalen Transzendenz. Noch wenig ist über die Frage nachgedacht worden, ob Frauen anders beten als Männer und wie. Zu berücksichtigen wären bei dieser Gender-Fragestellung die geschlechts-spezifischen Rollenzuschreibungen in Islam und Christentum. Auch eine allfällige besondere religiöse Erziehung für Jungen und Mädchen wäre zu bedenken. Werden Jungen anders als Mädchen ins Gebet eingeführt? Die Erfahrung des Gebets »Schulter an Schulter« in der Moschee etwa bewirkt auch Solidarität. Die frühere Sitzordnung in Kirchen: rechts die Bänke (nur) für Männer, links die Bänke (nur) für Frauen hatte, ähnlich wie die Geschlechtertrennung beim Gebet in der Moschee, die Absicht, eine Irritation oder Störung durch die Angehörigen des anderen Geschlechts zu verhindern. Solche und ähnliche GenderFragen rund um das Gebet wurden bisher noch kaum diskutiert. Für Christen ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit Muslime in öffentlichen Räumen (z.B. im Zug oder im Flugzeug) ihr
Gebet verrichten. Christen haben indessen oft eine gewisse Scheu, an solchen Orten sich als Betende zu zeigen. Vielleicht hängt das mit der Minderheits- oder Mehrheitsgesellschaft zusammen, denn eine Minderheit mit anderen Glaubensüberzeugungen und -formen zeigt sich nicht gerne einer Mehrheit, die außerdem noch das Sagen hat. Der letzte Weltjugendtag in Köln aber hat gezeigt, dass heutige Jugendliche wieder weniger Scheu empfinden, auch öffentlich zu ihrem Glauben zu stehen und z.B. auch Gebete vor laufender Kamera zu sprechen. Gegenwärtig scheint Religiosität in der Öffentlichkeit im Aufwind zu sein. Die Gesellschaft erkennt wieder vermehrt die Notwendigkeit transzendenter Sinngebung des Lebens. 9. Eine erhebliche Differenz zwischen christlichem und islamischem Gebet besteht in der Gebetsform. Islamische Gebete scheinen leibbetonter als christliche zu sein, obwohl christliches Beten mit bestimmten Körperhaltungen verbunden ist: Stehen, Sitzen, Knien. Die Vorbereitung auf das Gebet im Sinne der äußeren und inneren Reinigung und Öffnung der Sinne kommt islamischerseits stärker zum Ausdruck, während christlicherseits z.B. das Sich-Bekreuzigen mit Weihwasser eine Erinnerung an die Taufe und die trinitarische Ausrichtung des Gebets ist. 10. Unterschiedlich ist die inhaltliche Ausprägung der Gebete. Während sich Muslime im Gebet streng an den einen Gott wenden, ihn um Hilfe, Schutz und Segen bitten, also ein streng monotheistisches Gebet pflegen, so ist das christliche Gebet grundsätzlich trinitarisch und christologisch gewendet, d.h. es geschieht im Heiligen Geist und wird von Christus zum Vater »gebracht«. Das Gebet der Christen ist an Gott gerichtet, aber durch, mit und in Christus. 11. Die inhaltlichen Differenzen zwischen christlichem und islamischem Gebet erfordern wechselseitigen Respekt vor den je eigenen Gebeten der anderen Religion. Sie mahnen zur Vorsicht gegenüber so genannten »interreligiösen« Gebeten, wo Christen und Muslime einfach gemeinsam beten, als gehörten sie derselben Religion an. Die erwähnten inhaltlichen Differenzen empfehlen konsekutives »multireligiöses« Beten nach dem Modell Assisi, wo Angehörige verschiedener Religionen versammelt sind, eine Person vorträgt, während die andern andächtig zuhören. 12. Das Bedürfnis nach multireligiösen Gebeten kann einerseits in einer multikulturellen und religiös-pluralen gesellschaftlichen Situation entstehen, wo die Zusammengehörigkeit zu einer Menschheitsfamilie durch Zeichen der Transzendenz gefestigt werden kann. Anderer199
seits können schwerwiegende Ereignisse (z.B. Naturkatastrophen, Unglücksfälle) das Bedürfnis nach solchen multireligiösen Feiern wecken und ebenfalls Verwiesenheit auf ein Absolutes verdeutlichen. 13. Allen Teilnehmenden der Gesprächsgruppe Forum 3 war bewusst, wie schwierig heute in Europa die Vermittlung einer lebendigen Gebetspraxis an die nachwachsende Generation geworden ist. Auch für Muslime ist es in einer säkularen Großstadt nicht einfach, in ein regelmäßiges Gebetsleben hineinzuwachsen, denn die Pluralisierung der Lebensstile und die Individualisierung der Alltagsgestaltung nehmen zu und drängen das Gebet in den privaten Raum ab. 14. Angesichts dieser Problematik schlägt der Religionspädagoge Martin Jäggle eine Propädeutik des Gebets vor. Kirche und Jugendliche sollen sich zuerst ihrer menschlichen Grundkräfte bewusst werden und Achtsamkeit, Staunen, Aufmerksamkeit, Hören unter anderem durch Stille-Übungen lernen. Sie sollen sich die Semantik der religiösen Sprache, der Symbole und symbolischen Handlungen aneignen. Mohammed Heidari sah ebenfalls große Schwierigkeiten, islamische Kinder für eine lebendige Glaubens- und Gebetspraxis zu gewinnen. Der offizielle Weg über die Koranschulen und das Auswendiglernen von Suren scheint seine Selbstverständlichkeit verloren zu haben. Eine Propädeutik des Gebetes ist aber noch nicht angedacht, wohl aber gibt es Verständnis für den von Martin Jäggle aufgezeigten Weg. Letztlich aber kann niemand von einer grundsätzlichen existentiellen Glaubensentscheidung dispensiert werden.
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V. Gemeinsam beten?
Gemeinsam vor Gott Beobachtungen und Überlegungen zum gemeinsamen Beten von Juden, Christen und Muslimen Martin Bauschke
1. Erfahrungen mit dem gemeinsamen Beten Der so genannte »Trialog« oder trilaterale Dialog von Juden, Christen und Muslimen hat sich seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts immer stärker etabliert sowohl in Deutschland als auch in vielen Teilen der Welt. Dieser Trialog bildet den Nährboden für gemeinsame Gebetsfeiern, denn wo Religionen eine Kultur der Begegnung und freundschaftlicher Kontakte pflegen, entsteht auch das Bedürfnis nach gemeinsamen spirituellen Feiern. Dies war zuletzt besonders deutlich zu beobachten in drei Zusammenhängen: bei Friedensgebeten in der Zeit nach den Terror-Attentaten vom 11. September 2001, vor dem Irak-Krieg im Frühjahr 2003 sowie zuletzt anlässlich des Todes von Papst Johannes Paul II. im April 2005. Auch die kalendarische Überschneidung von Chanukka, Advent und Ramadan in den vergangenen Jahren hat an vielen Orten zu gemeinsamen Gebetsveranstaltungen geführt. Zu meiner Erfahrung bei Gebetsfeiern mit Juden und Muslimen gehört, dass das gemeinsame Beten nicht nur in inniger Weise Gott berührt, sondern auch diejenigen, die miteinander beten. Das gemeinsame Gebet schafft eine Verbindung, eine Art »unio mystica« zwischen den Betenden. Dabei habe ich erlebt: Ich kann den Anderen – so fremd er mir bis zu diesem Augenblick des ersten gemeinsamen Gebets gewesen sein mag – nicht länger remoto Deo (unter Absehung von Gott) betrachten, sondern sehe ihn oder sie von nun an permanent coram Deo (vor Gott): wie er oder sie als betender Mensch neben und mit mir vor Gott steht, sich neigt und verbeugt. Wenn ich diesen Menschen ansehe, verwandelt er sich vor meinen Augen. Er oder sie ist nicht einfach mehr nur ein 203
Mensch wie ich, sondern auch ein Gläubiger wie ich, ein Bittender, ein Hilfesuchender und Lobpreisender. Mehr noch: Das Gebet mit Juden und Muslimen ist ein wahrer Augen- und Herzensöffner. Es öffnet mich dafür, dass der Andere nicht irgendein Gläubiger ist, sondern mein abrahamischer Bruder, meine abrahamische Schwester. Das gemeinsame Gebet ist eine Brücke zur Glaubenswelt, sogar zum Herzen des Anderen. Wenn das gemeinsame Stehen, Sitzen oder Knien vor Gott mit dem gegenseitigen Friedens- und Segensgruß beendet wird, haben wir bereits den ersten Schritt zur Entfeindung und zur Befreundung getan.
2. Formen und Anlässe gemeinsamer Gebetsfeiern Der »Sitz im Leben« von abrahamischen Gebetsfeiern ist so vielfältig wie die konkreten Orte des Trialogs selbst. Sie finden statt in Tagungshäusern, Rathäusern und Krankenhäusern, in Flughäfen und Gefängnissen, auf Straßenfesten und Friedhöfen. Und natürlich direkt in den Räumlichkeiten der jeweils gastgebenden Religionen: in Synagogen, Kirchen und Moscheen. Ebenso unterschiedlich sind faktisch die liturgischen Formen, in denen solche Gebetsfeiern landauf, landab durchgeführt werden. Drei Hauptformen sind zu beobachten: –
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Juden, Christen und Muslime beten nebeneinander, also sprechen nacheinander ausschließlich je ihre eigenen Gebete. Die vom Papst initiierten Friedensgebete von Assisi sind ein bekanntes Beispiel für dieses sog. »multireligiöse Beten«. Die zweite liturgische Möglichkeit: Juden, Christen und Muslime beten miteinander, indem sie entweder dieselben, gemeinsam formulierten Gebete sprechen oder indem sich die Angehörigen zweier Religionen am Gebet und Gottesdienst der sie einladenden dritten Religion beteiligen, also Gebete einer anderen Religion mitbeten. Dieses sog. »interreligiöse Beten« wird in dieser oder jener Art schon lange alltäglich im Kontext von Schulen, Krankenhäusern, Gefängnissen und Trauerfeiern sowie bei immer mehr Trialog-Tagungen praktiziert. Die dritte Möglichkeit: Juden, Christen und Muslime verbinden beide genannten Formen. Meist wird das in den Gebetsfeiern so gehandhabt, dass zunächst nacheinander die eigenen Gebete gesprochen werden und dann am Schluss der Feier ein gemeinsames Gebet vorgetragen wird. Diese Form macht aus dem Entweder-Oder der ersten beiden Formen ein
Sowohl-als-Auch. Ich schlage vor, diese Form abrahamisches Beten zu nennen, da sie sowohl das je Eigene als auch das allen Gemeinsame berücksichtigt. Die seit mehr als 30 Jahren stattfindenden Trialog-Konferenzen von Bendorf (seit 2004 in Wuppertal) beispielsweise praktizieren das abrahamische Beten. Es gibt nicht die ein für allemal gültige und richtige Form einer gemeinsamen Gebetsfeier. Diese ergibt sich aus dem jeweiligen Kontext und äußeren Anlass und muss von den daran beteiligten Personen und Gruppen selbst verantwortet werden. Die Vielfalt der Strömungen und Richtungen innerhalb der drei Religionen spiegelt sich wider in der Vielfalt der Formen gemeinsamen Betens. Tendenziell ist zu beobachten, dass es in Judentum, Christentum und Islam jeweils –
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die fundamentalistischen Strömungen sind, welche das gemeinsame Beten mit Angehörigen anderer Religionen in welcher Form auch immer grundsätzlich ablehnen; die konservativen Kreise in der Regel höchstens das multireligiöse Beten gestatten; und die liberalen sowie mystischen Gruppen überwiegend das interreligiöse und abrahamische Beten praktizieren.1 Vgl. zu 1. etwa die Erklärung der Lausanner Bewegung Deutschland: »Interreligiöse bzw. multireligiöse Veranstaltungen und Gebete (...) können nicht befürwortet werden, weil das jeweilige Bekenntnis zu Gott unterschiedlich ist« (Christlicher Glaube und Islam, Stuttgart 2002, Nr. 3.3.2). Zu 2. vgl. etwa die Handreichung des Rates der EKD: »Weil diese Unterschiede (sc. im Gottes- und Menschenbild) nicht verwischt werden dürfen, haben wir uns zu bescheiden und die Grenzen zu akzeptieren, die es uns verwehren, uns im gemeinsamen Gebet mit Muslimen vor Gott zu vereinen« (Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland: Gestaltung der christlichen Begegnung mit Muslimen. Eine Handreichung des Rates der EKD, Gütersloh 2000, 44). Die Akzeptanz allein des multireligiösen Betens kommt schon im Titel der Broschüre »Multireligiöse Feiern zum Schulanfang. Hinweise und Vorschläge für die Gestaltung« zum Ausdruck (hg. vom Landeskirchenamt der Ev. Kirche von Westfalen, Bielefeld 2004). Auch die aktuelle Handreichung der deutschen Bischöfe optiert eindeutig für bi- oder trilaterale »multireligiöse Feiern«, lehnt aber interreligiöse Feiern ab, »weil hier die Gefahr besteht, den anderen zu vereinnahmen und vorhandene Gegensätze zu verschleiern« (Leitlinien für multireligiöse Feiern von Christen, Juden und Muslimen. Eine Handreichung der deutschen Bischöfe, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2003, 20, vgl. 19–24). Zu 3. vgl. etwa das »Interreligiöse Gebet Dortmund«, wo seit 1996 Juden, Christen und Muslime gemeinsam mit Bahais alljährlich eine gemeinsame
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Nun gibt es von der Wiege bis zur Bahre viele typische Anlässe für gemeinsame Gebete von Juden, Christen und Muslimen. Denn sie alle teilen die Erfahrung: Der Eine Gott ist in jeder Lage des Lebens und auch noch angesichts des Todes ansprechbar. Der wohl häufigste und wichtigste Anlass, weshalb sich Juden, Christen und Muslime zu gemeinsamen Gebetsfeiern treffen, ist der Frieden in der Welt und speziell die Versöhnung dieser drei Religionen. Friedensgebete stellen einen Kontrapunkt dar zu den fundamentalistischen Agitationen in den Religionen. Weitere konkrete Anlässe für gemeinsame Gebete sind Schulgottesdienste oder gemeinsame Mahlzeiten beim »Iftar-Essen« im Fastenmonat Ramadan. Dabei handelt es sich um das abendliche Fastenbrechen, das Muslime in vielen Regionen der Welt traditionell zusammen mit Juden und Christen feiern. In Deutschland hat man das gemeinsame Iftar-Essen erst in den letzten Jahren entdeckt. Auch am Tag der Offenen Moschee (3. Oktober) oder bei Abrahamsfesten werden jüdische und christliche Besucher zu gemeinsamen Mahlzeiten eingeladen.
3. Erste abrahamische Gebetbücher Der zunehmenden Praxis gemeinsamer Gebetsfeiern entsprechend gibt es bereits erste Publikationen jüdischer, christlicher und muslimischer Autoren in Deutschland, die aus der Praxis des Dialogs und des gemeinsamen Betens kommend Gebetstexte gesammelt oder formuliert haben, um den Dialog und das gemeinsame Beten zu fördern. Die drei Publikationen seien kurz vorgestellt. 1996 veröffentlichten die christlichen Theologen Georg Schwikart und Pater Werner Wanzura eine Sammlung von rund 120 Gebeten unter dem Titel »Die großen Gebete: Juden, Christen, Muslime« (Styria Verlag, vergriffen). Der Band hat primär dokumentarischen Charakter. Die Auswahl der Gebete beschränkt sich auf traditionelle und offizielle Texte. In drei Teilen bietet es Gebete »aus der gesamten Spannbreite menschlichen Lebens« (S. 7): durch den Tag (auch zu Krankheit, Schöpfung und Frieden), durch das Leben sowie durch das Jahr. Einbezogen Gebetsfeier veranstalten, die in Textform und auf Video dokumentiert wird. Als Beispiel für den Bereich der Schule nenne ich: Elke Kuhn (Hg.), Gott in vielen Namen feiern. Interreligiöse Schulfeiern mit christlichen und islamischen Schülerinnen und Schülern, Gütersloh 1998. Die Neuausgabe unter dem Titel »Christlich-muslimische Schulfeiern« (Neukirchen-Vluyn 2005) enthält auch eine trilaterale interreligiöse Feier (85 ff.).
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werden auch solche Gebete, die religionsspezifischen liturgischen Charakter haben, also etwa zum jüdischen Versöhnungstag, zum christlichen Karfreitag oder zum islamischen Opferfest gebetet werden – Gebete also, die sich nicht für religionsübergreifend gemeinsames Beten eignen. Einen völlig anderen Charakter hat das – überregional kaum bekannte – Mannheimer Gebetbüchlein, das der evangelische Theologe Michael Lipps 2001 unter dem Titel »Gott in vielen Stimmen. Eine Sammlung jüdischer, christlicher und islamischer Gebete von heute« (Edition Quadrat, 5. Auflage 2003) herausgegeben hat. Es sind rund 80 ganz persönliche und zeitgenössische Gebete von mehr als 50 Juden, Christen, Muslimen (und Aleviten) aus Mannheim, die mit dieser Edition den spirituellen Reichtum dieser Stadt und den Beitrag der Religionen zur Kultur und zum Stadtfrieden Mannheims zum Ausdruck bringen. Es gibt drei Themenbereiche: Gott (sinnen, spüren, sagen) – Stadt (lachen, leiden, lieben) – Leben (genießen, gestaltet, gesegnet). Wieder anders geprägt ist die neueste Publikation, an der ich selber mitgewirkt habe. Sie ist im August 2004 im Gütersloher Verlagshaus unter dem Titel »Gemeinsam vor Gott. Gebete aus Judentum, Christentum und Islam« erschienen. Das Gebetbuch ist ebenfalls eine reine Gebetssammlung mit etwa 120 Gebeten, die sowohl traditionell und offiziell als auch zeitgenössisch und persönlich charakterisiert sind. Die ausgewählten Gebete möchten unmittelbar zum gemeinsamen Beten von Juden, Christen und Muslimen einladen. Die Auswahl haben die Herausgeber daher so angelegt, dass die Angehörigen der jeweils anderen beiden Religionen mitbeten können, sofern sie das möchten. Der Rabbiner Walter Homolka aus Berlin, Leiter des Abraham-Geiger-Kollegs für Rabbinerausbildung in Potsdam, hat die Auswahl der jüdischen Gebete vorgenommen. Dabei hat er direkte Bezüge auf das Volk Israel und die Erzväter und Erzmütter vermieden. Ich selber als evangelischer Theologe bin verantwortlich für die Auswahl der christlichen Gebete. Dabei wurde auf trinitarisch strukturierte Gebete ebenso verzichtet wie auf Gebete an Jesus. Es wurden nur solche Gebete aufgenommen, die unmissverständlich für alle Beteiligten an den einen Gott gerichtet sind. Ich bin der Meinung: Authentisches christliches Beten muss nicht unbedingt trinitarisches Beten sein, denn christliches Beten ist historisch älter und empirisch vielfältiger als trinitarisches Beten.2 Die Religionspädagogin 2
Vgl. beispielsweise Adalbert Hamman (Hg.), Gebete der ersten Christen, Düsseldorf 1963; Walter Nigg (Hg.), Gebete der Christenheit, München/ Hamburg 1965; Sabine Naegeli, Die Nacht ist voller Sterne. Gebete in
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Rabeya Müller aus Köln, Mitarbeiterin des Zentrums für Islamische Frauenforschung, war zuständig für die Auswahl der muslimischen Gebete. Die wichtigsten Quellen sind der Koran und die islamische Tradition. Neben die religionsspezifische Zuordnung der Gebete tritt eine thematische Einteilung. Die Gebete sind nach zwölf Themen geordnet: 1. Lobpreis und Dank – 2. Bitte und Fürbitte – 3. Mahlgemeinschaft – 4. Durch den Tag und das Jahr – 5. Schöpfung – 6. Freundschaft und Liebe – 7. Kinder und Schule – 8. Frieden und Versöhnung – 9. Schuld und Vergebung – 10. In Not und Gefahr – 11. Krankheit, Klage, Trauer und Tod – 12. Auf allen Wegen. Innovativ ist dieses Gebetbuch vor allen Dingen in zweierlei Hinsicht. Erstens insofern, als wir Herausgeber eine große Anzahl von solchen Gebeten aufgenommen haben, die sich nach unserer Einschätzung ganz besonders für das gleichzeitige Beten eignen. Dabei handelt es sich sowohl um Texte, die in interreligiösen Gebetsfeiern bereits erprobt wurden, als auch um Gebete, die wir genau für diesen Zweck ausgewählt oder zum Teil auch selber verfasst haben. Die zweite Novität ist die spezifische Zielgruppe der Seelsorge in Krankenhäusern, Gefängnissen und bei der Bundeswehr. Kranke, Gefangene und Soldaten, die faktisch vielen verschiedenen Religionen zugehören oder religionslos sind, haben zwar ein Recht auf seelsorgerliche Begleitung, doch kann ihnen diese derzeit fast ausschließlich von christlichen Seelsorgern angeboten werden, die zudem bei Privatgesprächen oder gottesdienstlichen Feiern begreiflicherweise nur ihre eigenen christlichen Gebete anzubieten haben. Doch gerade an allen diesen Orten wäre wenigstens ein breiteres Angebot von Gebetstexten aus mehreren Religionen sehr wünschenswert. Auch zeigt die Erfahrung, dass sich Konfessionslose über den »Umweg« fremder Religionen spirituell eher ansprechen lassen als über biblischchristliche Texte. Dies haben die Verantwortlichen bei der evangelischen und katholischen Militärseelsorge erkannt. So leistet an diesem Punkt das Gebetbuch Pionierarbeit. Denn es wurde gleichzeitig eine inhaltlich mit der Normalausgabe identische Sonderausgabe für die Bundeswehr gedruckt.3 Es ist wichtig, dass es für die Zielgruppe der Bundeswehrsolda-
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dunklen Stunden, Freiburg/Basel/Wien 71992; Helge Adolphsen, Minutengebete, Stuttgart 2000. Im Rahmen einer gemeinsamen Gebetsfeier im Andachtsraum des Bundestages wurde die Sonderausgabe am 27. September 2004 dem Verteidigungsausschuss präsentiert. Es war die erste jüdisch-christlich-muslimische Gebetsfeier überhaupt in der Geschichte des Reichstags. Ein Rabbiner, ein Imam sowie der katholische Militärgeneralvikar und der evangelische Mili-
ten, die ihren Dienst ausüben in Deutschland oder sonst auf der Welt (im Rahmen einer UNO-Schutz- und Friedenstruppe), auch Gebete gibt, die die Juden und die vielen Muslime unter ihnen4 selber beten oder mit Christen mitbeten können. – Aber, könnte man hier einwenden: Glauben Juden, Christen und Muslime überhaupt an denselben Gott? Beten wir dann auch zu demselben Gott? Mit diesen Fragen komme ich zu einigen theologischen Überlegungen.
4. Der eine Gott Die grundlegende Gemeinsamkeit von Juden, Christen und Muslimen dürfte der Glaube an den einen Gott sein. Im bilateralen jüdisch-christlichen Dialog ist diese Frage insgesamt kaum, im jüdisch-islamischen Dialog m.W. nie strittig gewesen.5 Muslime verweisen auf den Koran: »Unser Gott und euer Gott ist einer« (Sure 29,46; vgl. 2,139; 3,64; 42,15). Christen taten sich die längste Zeit ihrer bisherigen Geschichte schwer mit dieser Auffassung. Ihnen galt »Allah« vielfach nur als Götze und ketzerisches Zerrbild des wahren (= christlichen) Gottes. Zur Selbigkeit Gottes hat sich 1964 das Zweite Vatikanische Konzil bekannt. Die berühmten Sätze lauten: »Die Heilsabsicht (sc. Gottes) umfaßt aber auch die, welche den Schöpfer anerkennen, unter ihnen besonders die Muslime, die sich zum Festhalten am Glauben Abrahams bekennen und mit uns den einzigen Gott anbeten, den barmherzigen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten wird.« (Lumen gentium Nr. 16; DH 4140) Wenige Jahre später folgte – was viele nicht wissen – der Ökumenische Rat der Kirchen. Im Schlussdokument des ersten Dialogtreffens mit Vertretern des Islams 1969 in Cartigny steht: »Judentum, Christentum und Islam
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tärgeneraldekan haben aktiv mitgewirkt. Vgl. dazu die Sendung »Gemeinsam vor Gott und in Tarnfarbe. Bundeswehrsoldaten im interreligiösen Gebet« von Radio Multikulti am 17.10.2004 von 8.05–08.20 Uhr in der Reihe »Von Abraham bis Zarathustra. Glaubensgemeinschaften der Welt in Berlin«. Da die Angabe der Religionsgemeinschaft freiwillig ist, existieren keine genauen Angaben über die Zahl der Juden und Muslime in der Bundeswehr. Schätzungen von Mitarbeitern der Hardthöhe variieren für die Muslime von 3.000 bis zu 10.000. Vgl. Albert H. Friedlander, Beten Juden und Muslime zu demselben Gott?, in: Zeitschrift für Mission 21 (1995), 15–23; Pinchas Lapide/Raimundo Panikkar, Meinen wir denselben Gott? Ein Streitgespräch, München 1994; Rudolf Weth (Hg.), Bekenntnis zu dem einen Gott? Christen und Muslime zwischen Mission und Dialog, Neukirchen/Vluyn 2000.
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gehören nicht nur historisch zusammen; sie sprechen von demselben Gott, Schöpfer, Offenbarer und Richter.«6 Neben dem Hinweis auf die gemeinsame Traditionsgeschichte sind es besonders die gemeinsamen Grundzüge in der Gottesvorstellung, die die Überzeugung von der Selbigkeit Gottes begründen.7 Die beiden eben zitierten Verlautbarungen nennen zusammen vier grundlegende gemeinsame Merkmale im Gottesbild: Gott, der Schöpfer, der Barmherzige, der Offenbarer und der Richter. Weitere Merkmale lassen sich benennen, die Juden, Christen und Muslime gleichermaßen von Gott glauben: z.B. – – – –
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der Lebendige und Ewige, der Erhalter und das Licht der Welt, der Verborgene, Transzendente und Geheimnisvolle, der durch Propheten, aber auch durch andere Mittel und Zeichen zu den Menschen spricht, der barmherzig und hilfreich dem Menschen Zugewandte, der Gerechte und Liebhaber des Friedens, der Lenker und Vollender der Geschichte, der vom Tod auferweckt.
Oft wird gegen die Selbigkeit Gottes in den drei Religionen eingewandt, diese Auffassung sei empirisch nicht verifizierbar, denn dazu müsse man einen »Standpunkt über den Religionen« einnehmen. Was empirisch nicht verifizierbar ist, kann jedoch ebensowenig empirisch falsifizierbar sein. Woher will man denn wissen, dass Juden, Christen und Muslime nicht an denselben Gott glauben, wenn man nicht seinerseits einen Standpunkt über den Religionen einnimmt? Es ist keine Frage: Einen objektiven Beweis für die Selbigkeit Gottes gibt es nicht, genauso wenig wie es einen solchen Beweis auch nur für die Existenz dieses Gottes gibt. Doch im Trialog engagierte Juden, Christen und Muslime machen gerade bei gemeinsamen Gebetsfeiern die Erfahrung, dass sie an denselben Gott glauben. Das ist kein abstrakter, theoretischer Meta-Standpunkt, sondern eine konkrete, gemeinsame Glaubenserfahrung derer, die den Dialog praktizieren. Daher verweisen die Herausgeber/Autoren in allen drei 6 7
World Council of Churches (Hg.), Meeting in Faith. Twenty Years of Christian-Muslim Conversations, compiled by Stuart E. Brown, Genf 1989, 4. Vgl. John Hick, Juden, Christen, Muslime: Verehren wir alle denselben Gott?, in: Reinhard Kirste/Paul Schwarzenau/Udo Tworuschka (Hg.), Wer-
tewandel und religiöse Umbrüche (Religionen im Gespräch 4), Balve 1996, 189–207; Udo Tworuschka, Einige Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Glaubenswelt von Christentum und Islam, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 22 (1980), 268–281.
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genannten Gebetbüchern auf den einen gemeinsamen Gott und die abrahamische Ökumene. In dieser Richtung formuliert auch die aktuelle Handreichung der deutschen Bischöfe: »Die drei monotheistischen Religionen teilen die Überzeugung, dass Gott einer und einzig, Schöpfer des Alls und des Leben ist, der den Menschen zu ihrem Heil seinen Willen offenbart. Der eine Gott ist Quelle allen Segens und im Gottesdienst Adressat des Lobpreises, des Dankes und der Bitte. So können Begegnungen daran anknüpfen, dass die Partner ähnliche religiöse Erfahrungen haben und sich dadurch letztlich nicht fremd sind.«8 Die Überzeugung von Juden, Christen und Muslimen, dass sie an denselben einen Gott glauben, kann, wie die Praxis zeigt, als die Minimalbedingung jedes gelungenen theologischen Trialogs bezeichnet werden. Dabei ist jedoch zu differenzieren: Es ist derselbe eine Gott, an den Juden, Christen und Muslime glauben, aber nicht in jeder Hinsicht der gleiche Gott, also die gleiche Erfahrung mit und Vorstellung von ihm, die sie ins Gespräch einbringen. Der Hinweis auf die gemeinsame Verehrung des einen Gottes bedeutet keineswegs zu verschweigen, dass es im Gottesverständnis auch Unterschiede gibt, doch gilt dies nicht nur interreligiös, sondern bereits intrareligiös. Vorstellungen etwa vom liebenden, vom strafenden, vom ohnmächtigen oder doch allmächtigen Gott unterscheiden nicht pauschal und prinzipiell Juden, Christen und Muslime voneinander, sondern auch die Gläubigen in den einzelnen Religionen selbst. Es ist derselbe eine Gott, an den Juden, Christen und Muslime glauben. Gott verbindet und vereint Juden, Christen und Muslime unbeschadet ihrer unterschiedlichen Gottesbegriffe oder Gebetsstile. Auf der einen Seite nehmen beim gemeinsamen Gebet Juden, Christen und Muslime ihren gemeinsamen Gott in Anspruch. Die Identität des Adressaten – also Gottes – fällt stärker ins Gewicht als alle Differenzen der betenden Juden, Christen und Muslime. Der eine Gott relativiert diese Differenzen, so dass es sein kann, dass diese nach dem gemeinsamen Beten in einem anderen Licht erscheinen als davor. Auf der anderen Seite werden beim gemeinsamen Beten die Identitäten der Betenden nicht verwischt. Juden, Christen und Muslime hören nicht auf zu sein, was sie sind, nur weil sie mit Andersglaubenden zusammen beten. Juden sollen als Juden beten und Juden bleiben. Christen sollen als Christen beten und Christen bleiben. Muslime sollen als Muslime beten und Muslime bleiben. Vielleicht 8
Leitlinien für multireligiöse Feiern von Christen, Juden und Muslimen (s. Anm. 1), 18 f.
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werden sie sogar bessere Juden, Christen und Muslime, wenn sie es lernen, miteinander zu beten. Wenn sie lernen, nicht nur wie man miteinander über Gott diskutiert und die Welt verändert, sondern auch, wie man gemeinsam zu Gott spricht.
5. Abraham als gemeinsames Glaubensideal Die meisten trilateralen Dialog-Aktivitäten wie auch die vorgestellten Gebetbücher wissen sich der größeren Ökumene im Geiste Abrahams verpflichtet. Der Glaube an den einen Gott beinhaltet eine existentielle Gemeinsamkeit von Juden, Christen und Muslimen, die im Vollzug dieses Glaubens besteht. Sie divergieren hinsichtlich ihrer inhaltlichen Glaubensüberzeugungen (lat. fides quae creditur, engl. beliefs ), doch sie konvergieren im Blick auf den Glaubensakt als solchen (lat. fides qua creditur, engl. faith ). Abraham ist für sie alle der Archetyp desjenigen Menschen, der in einer götzendienerischen Umwelt nach dem Gott sucht, der sein Vertrauen absolut verdient. Abraham wird zum Wanderer zwischen den Welten, Religionen und Kulturen auf dem Weg einer wahrhaftigen Gottessuche und konsequenten Gotteshingabe. Natürlich hat die Gestalt Abrahams in den drei Religionen auch jeweils eine spezifische Ausprägung gefunden. Juden betonen Abrahams bedingungslosen Gehorsam, seine Bundestreue bis hin zur »Bindung Isaaks«; Christen verweisen mit Paulus auf das große Vertrauen Abrahams in Gottes Verheißungen; Muslime sehen in ihm einen »Hanifen«, der die Einheit und Einzigkeit Gottes erkannte und bekannte, noch ehe es Juden, Christen und Muslime gab.9 Doch muss solche Profilierung nicht zwangsläufig gegen die anderen Glaubensgemeinschaften gerichtet sein. Abraham wird auch als das symbolische Bindeglied zwischen Juden, Christen und Muslimen in Anspruch genommen. Wie der eine Gott sie vertikal verbindet (als metaphysisches Band), so verbindet Abraham die Anhänger der drei Religionen in horizontaler Weise miteinander (als archetypisches Band). Beide Bindeglieder, das göttliche und das menschliche, haben zudem die Funktion, Juden, Christen und Muslime vor intoleranten Absolutheitsansprüchen zu bewahren. Denn ein Gott, der nur der Gott der 9
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Vgl. Reinhard G. Kratz/Tilman Nagel (Hg.), »Abraham, unser Vater«. Die gemeinsamen Wurzeln von Judentum, Christentum und Islam, Göttingen 2003; Karl-Josef Kuschel, Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint, München 1994.
Juden oder nur der Gott der Christen oder nur der Gott der Muslime wäre, bliebe ein Götze, ein von Menschen und ihren Interessen vereinnahmtes und instrumentalisiertes Zerrbild Gottes. Um es mit den Worten Friedrich Rückerts, des Dichters und Brückenbauers zwischen den Religionen, zu sagen: »Begehret nicht mit Haß und Neid, / Die Gnaden Gottes andern zu entziehen. / Er ist, der allen gern verleiht; / Begehrt von ihm, so ist auch euch verliehen.«10
6. Spirituelle Gastfreundschaft im Gebet Gemeinsames Beten ist eine Form spiritueller Gastfreundschaft. Sie ist für Juden, Christen und Muslime das Angebot, sich in die Gebetswelt einander nahe stehender Religionen hineinnehmen zu lassen und auf diese Weise Gott anders – sei es überraschend vertraut, sei es seltsam befremdlich – zu erfahren. Sich gegenseitig spirituelle Gastfreundschaft zu gewähren, bedeutet, sich auf das Wagnis einzulassen, gemeinsame Gebetserfahrungen mit dem einen Gott zu machen. Juden, Christen und Muslime beschenken sich gegenseitig durch den Reichtum ihrer Gebete, die sie voreinander, nebeneinander oder auch miteinander sprechen. Ich meine: Je mehr sie gemeinsam beten, desto gesegneter werden sie selber sein. Desto mehr auch werden Anhänger dieser drei Religionen zum Segen für die Welt und womöglich eine Quelle für die Versöhnung der Völker sein. Als ein Held gilt gemeinhin, wer seinen Feind besiegt. Ein größerer Held ist sicher der, der aus seinem Feind einen Freund macht. Der größte Held ist für mich jener, der mit diesem seinem neuen Freund auch betet. Dieses gemeinsame Gebet macht beide zu Helden. Von einem Heldentum ist hier freilich die Rede, das eigentlich keine menschliche Eigenschaft darstellt, sondern ein Geschenk ist, ein Segen des Himmels. Juden, Christen und Muslime machen zusammen mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung aus. Von ihrem gedeihlichen Miteinander hängt viel ab, im lokalen wie im globalen Maßstab. Doch kommt es darauf an, ob wir das Trennende betonen wollen und damit nur immer neues Öl in das Feuer der Rivalität der Religionen gießen, das vor allem von den fundamentalistischen Gruppen geschürt wird. Oder ob wir das Verbindende in den Vordergrund rücken und damit vor Ort und weltweit die 10
August Müller (Hg.), Der Koran. Im Auszuge übersetzt von Friedrich Rückert, Frankfurt 1888, 18.
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Brückenbauer zwischen den Kulturen unterstützen, die kooperative und komplementäre Strategien für den Weg in eine friedliche Zukunft der Religionen halten. Das gemeinsame Gebet könnte eine solche Brücke sein. Wenn schon das große Glaubensvorbild Abraham in allen drei Religionen »Freund Gottes« genannt wird (Jesaja 41,8; Jakobus 2,23; Sure 4,125), sollten sich Juden, Christen und Muslime bemühen, für- und untereinander Freunde zu werden. So wären sie Helden der Versöhnung. Für mich sind der abrahamische Dialog und das gemeinsame Gebet zwei Seiten einer Medaille. Sie sollten eigentlich untrennbar zusammengehören, auch wenn das faktisch nicht immer der Fall oder möglich ist. Das gemeinsame Beten ist die Innenseite des Dialogs und der Dialog die Außenseite des Gebets. Das eine kann ohne das andere nicht wirkliche Fortschritte machen. Denn die monotheistischen Religionen sind ja schon jeweils für sich auf das Gebet angewiesen. Religionen können nicht lebendig sein ohne die Praxis des Betens ihrer Anhänger. Wenn eine Religion für sich genommen ohne Gebet nicht existieren kann, dann gilt das m.E. erst recht, wenn zwei oder drei Religionen im Dialog aufeinander treffen. Umso mehr ist das der Fall, wenn diese Religionen denselben Gott anbeten. Lebendige Religionen brauchen betende Menschen. Religionen in einem lebendigen Dialog brauchen gemeinsam betende Menschen. Um diese Beobachtungen und Überlegungen pointiert zusammenzufassen: Solange wir miteinander reden, können wir nicht aufeinander schießen. Wenn wir miteinander und füreinander gebetet haben, wollen wir gar nicht mehr aufeinander schießen. Dann bleibt uns erst recht nichts anderes übrig, als miteinander zu reden und einander immer besser zu verstehen. Schon die religionsübergreifende Fürbitte füreinander verbindet Menschen. Erst recht geschieht das im gemeinsamen Gebet. Es ist ein Mittel der Friedenserziehung. Es ist ein Weg zur Versöhnung. Es ist eine Brücke zum Bruder und zur Schwester im Angesicht des gemeinsamen Gottes. Dieses Plädoyer für das gemeinsame Beten von Juden, Christen und Muslimen kann eigentlich nur mit einem gemeinsamen Gebet abgeschlossen werden: »Möge der, welcher unser Vater für die Christen ist, Jahwe für die Juden, Allah für die Muslime, möge dieses allmächtige und allwissende Wesen, 214
das wir als Gott erkennen, den Menschen Frieden geben und unsere Herzen in einer geistigen Familie vereinen.«11
11
Zit. nach Elke Kuhn, Christlich-muslimische Schulfeiern (s. Anm. 1), 85.
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Gemeinsam beten? Eine Anfrage an das interreligiöse Gebet unter dem Vorzeichen abrahamischer Ökumene Friedmann Eißler
Beginnen wir mit dem Konsens: Christliches Gebet lebt – als gottesdienstliche Grundform – vom Gegenüber, genauer: von der Gegenwart des dreieinigen Gottes.1 Dies ist – und es ist bemerkenswert und für die Diskussionslage bezeichnend zugleich, dass darauf eigens hingewiesen werden muss – nicht Ausdruck dogmatisierender Engstirnigkeit, sondern Konsens der christlichen Kirche(n) wie überhaupt der Christenheit von Anfang an. Es gibt keine Phase der Kirchengeschichte, in der ein nichttrinitarisches Gebet denkbar wäre. Schon im Neuen Testament ist die trinitarische Verfasstheit christlicher Gottesbegegnung der Sache nach gegeben.2 In der Alten Kirche werden Gebete sehr früh regelmäßig 1
2
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Gebet ist »im engeren Sinne antwortendes Sprechen zu Gott, dessen Zuwendung durch Wort und Sakrament erfahren worden ist. […] Vorausgesetzt sind dabei das vom menschlichen Bewusstsein und Willen unabhängige personale Sein Gottes, seine Dreieinigkeit und seine Offenbarung durch Jesus Christus.« Auch wo die explizit trinitarischen Forme(l)n wie das trinitarische Votum, das Gloria Patri und das Kreuzeszeichen (Bekreuzigung) »ganz oder teilweise weggelassen werden, ist ihr Sinn doch impliziert« (Günter R. Schmidt, Art. Gebet IX. Praktisch-theologisch, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 3, 501). – Gebet ist eine »Totaldimension des Gottesdienstes« (Berthold W. Köber, Die Elemente des Gottesdienstes II. Gebete, in: Hans-Christoph Schmidt-Lauber/Karl-Heinrich Bieritz [Hg.], Handbuch der Liturgik, Göttingen 11995, 696 nach Peter Brunner) und setzt als solche »die offenbare Gegenwart Gottes voraus. Das Gebet setzt diejenige Gegenwart Gottes voraus, in der Gott für uns da ist, so dass wir mit ihm sprechen können, wie er mit uns redet. Gebet geschieht in der Inkarnationsgegenwart Gottes.« (Peter Brunner, Der Gottesdienst als Gebet, in: Leiturgia 1 (1954), 256–259, 256; Hervorhebung geändert). Schöpfungsmittlerschaft und Präexistenz Jesu etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, werden nicht erst johanneisch formuliert, sondern schon bei Paulus vorausgesetzt – also auch lange vor der Formulierung des Vaterunsers, das
trinitarisch formuliert. Die klassische Doxologie richtet sich an Gott den Vater durch Jesus Christus im Heiligen Geist.3 Denn es gilt, was der Marburger Theologe Hans-Martin Barth in seiner Entfaltung des evangelischen Glaubens »im Kontext der Weltreligionen« (so der Untertitel) prägnant so auf den Punkt bringt: »Nur im Zuge trinitarischen Denkens konnte die Begegnung mit Jesus, dem Christus, als das erfasst werden, was sie war. Aus der Begegnung mit Jesus als dem Christus erwuchs das trinitarische Bekenntnis mit innerer Notwendigkeit.«4 Gebet ist von daher weder reine Anbetung noch zuallererst Kontemplation, sondern ein wirklichkeitserschließendes Beziehungsgeschehen, nach Luther cognitio Dei et hominis (WA 32, 419,33): »also leret uns das Gebet das wir beide uns und Gott erkennen«5. Der damit angesprochene Erkenntnisprozess, der das Verhältnis von Gott und Mensch so erschließt, dass die menschliche Wirklichkeit im Licht der göttlichen Wirklichkeit neu zur Erfahrung kommt, ist gleichwohl nicht, auch nicht in der interreligiösen Kommunikation, pädagogisch funktionalisierbar.6
3
4 5 6
in diesem Zusammenhang gerne angeführt wird (vgl. 1Kor 8,6; Phil 2,6–11; in Röm 10,13 wird das Zitat Joel 3,5 gleichsam selbstverständlich auf den Kyrios Jesus bezogen). Die Erkenntnis der kyriotes Jesu und seine Anrufung geschieht ebenso wie das Rufen zu Gott durch den heiligen Geist (1Kor 12,3; Röm 8,15; Gal 4,6). Das ShmaÝ Yisrael Dtn 6,4 wird in 1Kor 8,6 binitarisch entfaltet, triadische Formeln werden tradiert und gebraucht, ohne dass sie eigens reflektiert werden (müssen). – Die neutestamentliche Christologie wird entgegen hartnäckig sich haltender (Vor-)Urteile keineswegs erst und nur in der hellenistischen Schicht des Neuen Testaments angelegt und dann im hellenistischen Umfeld entfaltet, vielmehr schon in frühester Zeit zumindest in ihren Ansätzen im aramäischsprachigen judenchristlichen Bereich mit Juden zum Thema. Stellvertretend verweise ich nur auf die Arbeiten von Martin Hengel, die ich in dieser Hinsicht immer noch für wegweisend halte (hier v.a.: Der Sohn Gottes. Die Entstehung der Christologie und der jüdisch-hellenistischen Religionsgeschichte, Tübingen 21977). Wie auch das Gloria Patri ursprünglich lautete: »Ehr sei dem Vater durch den Sohn im Heiligen Geist«. Eine Fülle von Beispielen übersichtlich greifbar im Abschnitt »Stimmen der Kirche« in: Edgar Hennecke (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen, Tübingen 21924, 473 ff. (z.B. Didache, Kirchenordnung Hippolyts) und besonders 598–619 (Hymnen, Gebete, liturgische Stücke). Hans-Martin Barth, Dogmatik. Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen, Gütersloh 22002, 273 f. Zit. nach Doris Hiller, Art. Gebet VII. Fundamentaltheologisch, Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 3, 499 (meine Hervorhebung). Gottesdienst und Gebet sind nicht der Ort des Lernens, gegen das Votum verschiedener kirchlicher Verlautbarungen, vgl. z.B. Evangelische Kirche
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Ebenso wenig ist er historisierend relativierbar oder gar reduzierbar, wie es das diesen Gesprächsbeitrag auslösende Gebetbuch Gemeinsam vor Gott im Vorwort lapidar nahe legt: »Christliches Beten ist historisch älter und empirisch vielfältiger als trinitarisches Beten.«7 Spätestens hier scheint der Konsens in Frage gestellt. Denn diese geradezu suggestive Aussage – in der, wie um die Schieflage zu komplettieren, »christlich« in einen eigenartigen Gegensatz zu »trinitarisch« gerät – blendet nicht nur die erwähnten Zusammenhänge programmatisch und ohne weitere Begründung aus,8 sie ist zudem im Blick auf die grundlegende Unterscheidung von Genese und Geltung höchst problematisch, insofern mit dem historischen Argument ein systematisch zentraler Punkt angegangen wird. Die historische Vielfältigkeit kann ebenso wenig wie ein individueller Erkenntniszusammenhang, der gleichfalls historisch »verortet« ist, die trinitarische Konstitution des Gegenübers christlichen Gebets im Ernst in Frage stellen.9 im Rheinland (Hg.), Christen und Muslime nebeneinander vor dem einen
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Gott – Zur Frage des gemeinsamen Betens. Eine Orientierungshilfe, Düsseldorf 1998, 13 f. Martin Bauschke/Walter Homolka/Rabeya Müller (Hg.), Gemeinsam vor Gott. Gebete aus Judentum, Christentum und Islam, Gütersloh 2004, 8. – Für eine Besprechung des Buches ist hier nicht der Ort, vgl. dazu meine Rezension in: Judaica. Beiträge zum Verstehen des Judentums 61/1 (2005), 87–89; ferner: Buchvorstellung »Gemeinsam vor Gott« im Bundestag, in: Kescher. Informationen über liberales Judentum im deutschsprachigen Raum (Abraham-Geiger-Kolleg), 3/1 (2005), 9; Wolfgang Wagner, Gewalt überwinden durch interreligiöse [sic] Gebet, in: www.ev-akademie-boll.de/ special/gewueb1.htm (abgerufen am 23.5.2005); zu der darin angesprochenen Debatte auch: Marcus Mockler, Ein Gebetbuch verschweigt Jesus, in: idea Pressedienst, Kommentar vom 27.10.2004. Eines der neuesten prominenten Beispiele liefert Hans Küng, Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft, München 2004, dessen Trinitätskapitel (604 ff.) mehr als deutlich zum Ausdruck bringt: Die »heidenchristliche« Trinitätslehre ist im Prinzip nichts anderes als eine »traditionelle Ausweitung«, wenn nicht gar eine (selbst Christen kaum zumutbare) »Auswucherung« (617) des Ursprünglichen, sie entspringt jedenfalls einem »aufgeweichten Monotheismus« (604), der mit den Anfängen wenig zu tun hat. Dasselbe Problem erscheint in analoger Weise und durchaus nicht zufällig auch beim Stichwort »Abrahamische Ökumene«, vgl. dazu meine Kritik an diesem Konzept: Friedmann Eißler, Gibt es eine abrahamische Ökumene? Zur Konstitution eines Begriffs und seinen religionstheologischen Implikationen, in: Ralph Pechmann/Dietmar Kamlah (Hg.), So weit die Worte tragen. Wie tragfähig ist der Dialog zwischen Christen, Juden und Muslimen?, Gießen 2005, 261–287.
»Trinitarisches Beten« als nur eine und zudem eine späte(re) Form christlichen Gebets, diese These wird pragmatisch plausibilisiert durch das Kriterium, das im Vorwort des erwähnten Buches kurz zuvor genannt wird und das uns zu einem weiteren Argument führt. Demnach sollten »möglichst alle Gebete für die abrahamischen Schwestern und Brüder mitbetbar sein«10. Die Öffnung zur »Mitbetbarkeit« (!?) als Kriterium in diesem Sinne führt zur Schere im Kopf, die sich die Liturgie so zurechtschneidet, wie sie allseits annehmbar (nämlich »einladend« und »nicht ausgrenzend«) erscheint. Trotz regelmäßiger gegenteiliger Behauptungen ist die faktische Reduzierung auf so etwas wie den kleinsten gemeinsamen Nenner nicht zu verkennen. Notwendige Voraussetzung dafür ist – und hier sehe ich zugleich den wesentlichen Dissenspunkt in der Sache der hier thematisierten Frage – die konsequente theoretische, theologische, dann auch pragmatisch-liturgisch durchgeführte Unterscheidung, ja Aufspaltung des christlichen Gottesbegriffs in zwei Momente: a) Gott selbst, das transzendente noumenon, unerfassbar und erhaben, in Kantscher Manier: Gott an sich, sowie b) das konkrete phainomenon, die positive Glaubenstradition in ihrer geschichtlich gewachsenen Gestalt, christlich: die Erkenntnis dieses einen Gottes als in menschlicher Nähe zugewandt, menschgeworden, durch den Heiligen Geist zum Vertrauen rufend und durch all dies letztendlich trinitarisch zu bekennen. Dem entspricht die Unterscheidung Gott – Gottesbilder, die in der einen oder anderen Form die Stellungnahmen zum Thema durchziehen.11 Auf diesem Hintergrund meint man Gott selbst auf der einen Seite eine Art allgemeiner Gottesverehrung, eine wie auch immer näher zu beschreibende abrahamische Gottesverehrung zuordnen zu können, der spezifisch christlichen Erkenntnis dieses einen Gottes auf der anderen Seite jedoch den christlichen (traditionellen) Ausdruck des trinitarischen Bekenntnisses in seinen vielfältigen Formen. Der Sinn der Übung liegt auf der Hand: Wenn die doch erheblichen Differenzen auf der menschlichen 10
Martin Bauschke/Walter Homolka/Rabeya Müller, Gemeinsam vor Gott
11
Evangelische Kirche im Rheinland, Christen und Muslime nebeneinander
(s. Anm. 7), 8.
vor dem einen Gott (s. Anm. 6), 6.9.13; Leitlinien für multireligiöse Feiern von Christen, Juden und Muslimen. Eine Handreichung der deutschen Bischöfe (Arbeitshilfe 170), Bonn 2003, 19; Begegnen – Feiern – Beten. Handreichung zur Frage interreligiöser Feiern von Christen und Muslimen, hg. im Auftrag des Evang. Oberkirchenrats, Stuttgart 2003, 15; Martin Bauschke/Walter Homolka/Rabeya Müller, Gemeinsam vor Gott (s. Anm. 7), 18.
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Seite konstruktiver »Vorstellungen« zu verbuchen sind, dann ist Gott selbst nicht im Streit (1. Gebot!), sondern nur seine Konzeptualisierungen. Movens dieser Überlegungen ist die Beförderung der Einsicht in eine übergeordnete Einheit der Religionen, ein Harmoniebedürfnis, das angesichts fundamental widerstreitender Aussagen zwischen den Religionen den Konvergenzpunkt auf der Metaebene postuliert, freilich zu dem Preis, dass Gott gleichsam eine Stufe höher in die – unbegreifbare – Transzendenz gehoben wird und damit entscheidende Momente dessen, was Offenbarung als Selbsterschließung Gottes ausmacht, auf die menschliche Seite geschlagen werden.12 Hat diese grundlegende Weichenstellung, den Trinitätsbegriff bzw. die ihr zugrunde liegende und christlichen Glauben konstituierende Offenbarungserfahrung sachlich auf der Seite menschlicher Perzeption, auf der Seite der Gottesbilder, zu verorten, erkenntnistheoretisch und theologisch Bestand?13 Wenn christlicher – wie auch muslimischer! – Glaube gemäß seinem Selbstverständnis als existentiell überzeugend und von daher bindend wahrgenommen wird, kann die Antwort nur lauten: Nein. Denn solcher Glaube erschließt eine Totalperspektive auf die Wirklichkeit von Gott, Welt und Mitwelt, deren Relativierung im Sinne eines 12
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Noch einmal Hans Küng, Der Islam (s. Anm. 8): Dialogfähig, ja, »weltfähig« zu werden, heißt nach Küng anzuerkennen, dass »die eine ursprüngliche Wahrheit sich in vielen Sprachformen manifestiert« (618), d.h. Christentum und Islam sind Manifestationen im Grunde und in Wahrheit ein und derselben göttlichen Transzendenz. Von hier aus kann dann auch Muslimen nahe gelegt werden, ihrerseits doch bitte ebenfalls von der »traditionellen Einstellung zum Koran« (638) Abstand zu nehmen. Die faktische Konkurrenz der Wahrheitsansprüche der konkret von Christen bzw. Muslimen gelebten Religionen wird somit über eine behauptete Konvergenz sehr unterschiedlicher Aussagelinien nicht nur relativiert, sondern schlicht negiert, weil harmonieren muss, was nicht widerständig sein darf. Ungeachtet der permanenten entgegengesetzten Beteuerungen geschieht hier eine radikale, weil die Transzendenz einbeziehende Vereinnahmung des Anderen, indem ein gemeinsamer islam (klein geschrieben: Hingabe an Gott; 114) postuliert wird, der dann nur noch unterschiedlich gedeutet wird. Die kritische Überprüfung kann an dieser Stelle freilich nicht durchgeführt werden. Wichtig und hilfreich wäre, sich die theologie- und geistesgeschichtlichen Linien zur Begründung der These vor Augen zu führen (etwa Ausprägungen natürlicher Theologie, praeambula fidei als Argument für eine zweifache Quelle der Gotteserkenntnis über Thomas von Aquin, die altprotestantische Orthodoxie und die beiden vatikanischen Konzilien bis in die heutige Debatte usw.).
(menschlichen) Verständnisses/Gottesbildes einen Standpunkt außerhalb der Teilnehmerperspektive notwendig machte.14 Diese von der analytischen Philosophie »Gottesstandpunkt« genannte Position ist uns nicht gegeben. Christen erfahren die Zuwendung Gottes durch Jesus, der der Christus ist (dies ist ja nicht nur Epitheton). Diese Zuwendung gilt universal und impliziert einen universalen Anspruch zum Heil aller Menschen, den freilich nicht der einzelne Christ erhebt, sondern in den jeder Christ hineingestellt ist und den er und sie zu bezeugen haben. Von daher ließe sich weiter entfalten, was damit angesprochen ist: die (Selbst-)Offenbarung Gottes als Grund des Glaubens.15 Analoges gilt mutatis mutandis selbstverständlich auch für Muslime. Eben deshalb ist bewusst und entschieden die gegebene Situation als eine von konkurrierenden Wahrheitsansprüchen nicht nur zu beschreiben, sondern theologisch anzuerkennen und angemessen zu reflektieren. Nicht erst in neuerer Zeit und auch nicht nur aus theologischer Sicht werden daher schwerwiegende Einwände gegen die zweistufige Perspektive auf eine Konvergenz in der Transzendenz vorgebracht, nicht zuletzt deshalb, weil sie ein Einheitspostulat impliziert, das die konkreten »Gottesbilder« als relativ zu einer gemeinsamen Mitte denkt und damit konkret entleert bzw. als vorläufig und äußerlich entlarvt.16 14
15
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Besonders aufschlussreich in grundsätzlicher Perspektive: Ingolf U. Dalferth, Der Eine und das Viele. Theologie und die Wissenschaften, in: ders.,
Gedeutete Gegenwart. Zur Wahrnehmung Gottes in den Erfahrungen der Zeit, Tübingen 1997, 193–208; angewandt auf die Frage des christlichen Absolutheitsanspruches ist herausragend Reinhold Bernhardt, Der Absolutheitsanspruch des Christentums. Von der Aufklärung bis zur Pluralistischen Religionstheologie, Gütersloh 1990, darin v.a. Kap. VI: Absolutheit des Christentums und die Religionen, 226–239. – Zur Klärung einiger Grundbegriffe ist auch die übersichtliche Darstellung bei Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin/New York 2000, 96–110, hilfreich. Christoph Schwöbel charakterisiert eine Theologie der Offenbarung so, dass sie als Selbstexplikation des christlichen Glaubens »alles, was Menschen über Gott und Gottes Beziehung zur Welt vertrauensvoll und mit Gewissheit aussagen können, in Gottes Selbsterschließung als Bedingung der Möglichkeit des Glaubens begründet sieht« (Christlicher Glaube im Pluralismus. Studien zu einer Theologie der Kultur, Tübingen 2003, 139). Jedes Differenzmoment qualifiziert das ganze System, so schon Schleiermacher in klassischer Diktion: Über die »monotheistischen Glaubensweisen« lässt sich eben nicht sagen, »daß das meiste in allen Gemeinschaften der höchsten Stufe dasselbige sei, und daß zu diesem allen Gemeinsamen nur in jeder noch einiges Besondere hinzukomme, so etwa, um es nur aus dem Groben darzustellen, daß der Glaube an einen Gott das allen diesen Ge-
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Dass dieses Einheitspostulat der übergeordneten Harmonisierung eben gerade nicht Ausdruck von Toleranz, sondern eines durchaus autoritären Zugriffs auf die auf der Ebene der Propositionen und der existentiellen Bindung konkurrierenden Totalperspektiven ist, lässt sich auch an dem bekannten Gleichnis vom Elefanten und den Blinden sehen, das ja eigentlich gerade als Veranschaulichung interreligiöser Toleranz populär geworden ist.17 Es illustriert ganz im Gegenteil die Einbindung der anderen Religionen in das eigene System, indem sie als Teilwahrheiten und Wege zu demselben Absoluten gedeutet werden. Gebhard Löhr hat mit Recht darauf hingewiesen, dass es sich also durchaus um eine Art »kalter Gleichschaltung« handelt, die so gerade im Widerspruch zu der damit verbundenen Toleranzbehauptung steht.18
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meinsame sei mit allem, was daran hängt, in der einen aber komme der Gehorsam gegen die Gesetzgebung hinzu, in der andern statt dessen der Glaube an Christum, und in der dritten der an den Propheten« (Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. von Martin Redeker, Bd. 1, Berlin 71960, 66 [§ 10.2]). – Vgl. ferner Ingolf U. Dalferth, Gedeutete Gegenwart (s. Anm. 14), 36–56 (Vor Gott gibt es keine Beobachter), 177– 179 (Postanalytische Pluralitätsphilosophie und die Aporie der Beobachterperspektive); weitere Hinweise in Abschnitt »III. Teilnehmerperspektive – Anmerkungen zu den erkenntnistheoretischen und religionstheologischen Grundlagen« meines in Anm. 9 genannten Aufsatzes. Buddhistischer Pali-Kanon, Udana VI,4, von hier aus in vielen Zusammenhängen aufgegriffen; vgl. dazu Gebhard Löhr, Das indische Gleichnis vom Elephanten und den Blinden und seine verschiedenen Deutungen. Zum Problem interreligiöser Toleranz und des interreligiösen Dialogs, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 79 (1995), 290– 304. Ebd. 299. Dort wird auch Paul Hacker zitiert, der diese Form des Geltenlassens eine »eigentümliche Mischung aus doktrinärer Toleranz und Intoleranz« nennt. Um es noch einmal zu betonen: Es ist nicht starrsinniger Dogmatismus oder das Ergebnis neu aufgelegter Polemik zu sagen: Das Übersteigen der eigenen Binnenperspektive zur Einheitsschau im Sinne des Elefantengleichnisses ist uns nicht gegeben, da dies den Standpunkt des »Sehenden« voraussetzte. Andererseits ist Verständigung über die Grenzen der Überzeugungssysteme hinweg damit nicht ausgeschlossen! Binnenperspektiven sind nie isolierte Inseln, »nie rein gegensätzlich und nie scharf gegeneinander abgrenzbar; zwischen ihnen bestehende Überlappungen ermöglichen die Auffindung partiell übergreifender Kriterien« (Reinhold Bernhardt, Der Absolutheitsanspruch des Christentums [s. Anm. 14], 236). Wolfgang Welsch (Unsere postmoderne Moderne, Berlin 51997) spricht an der Stelle von »transversaler Vernunft«.
Selbstverständlich ist, um nur zwei Missverständnissen vorzubeugen, zwischen Gott selbst und unseren menschlichen Konzeptualisierungen von ihm zu unterscheiden.19 Und selbstverständlich schafft eine Vielzahl von Gottesbildern keine Vielzahl von Göttern.20 Darin ist jedoch keineswegs der Umkehrschluss enthalten, dass das Bekenntnis des einen Gottes zugleich seine gemeinsame Verehrung, etwa in den abrahamischen Religionen, nur unter verschiedenen Formen, sicherte.21 Es geht an dieser Stelle gar nicht um die Bestreitung der Aussage, Juden, Christen und Muslime glaubten an denselben Gott,22 vielmehr um die Schärfung des Blicks für notwendige Differenzierungen. Die abstrakte, nämlich einen theoretischen Gottesbegriff abstrahierende Gottesverehrung tendiert zu massiven Äquivokationen in zentralen Begriffen, was dann zu konkreten Ergebnissen führt, die weder christlich noch muslimisch zu nennen sind. Die Aussage, alle beteten denselben Gott an, zielt entweder auf eine fundamentalanthropologische Konstitution (etwa als Streben des homo religiosus nach »dem Heiligen« [R. Otto]), oder sie ist innerhalb des Bekenntnisses zu verorten (theologisch). Denn christlich kann diese Aussage nur heißen: Alle beten denselben Gott an, der sich durch Jesus Christus zu erkennen gibt. Dabei stehen jedoch beide Aussagespitzen (derselbe Gott, durch Jesus Christus) unter dem eschatologischen Vorbehalt, im Modus der Hoffnung – der allen einsichtige Erweis ihrer Wahrheit steht noch aus. Dies verhindert jeden Überlegenheitsgestus und alle Selbstverabsolutierung, freilich auch die »Ontologisierung« dieser Hoffnung und ihrer Erfüllung durch das Einheitspostulat.23 19
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Vgl. in Hinsicht auf die Wirklichkeit Gottes und den christlichen Glauben als deren Wahrnehmung: Ingolf U. Dalferth, Wirklichkeit Gottes und christlicher Glaube, in: ders., Gedeutete Gegenwart (s. Anm. 14), 99–132; angewandt auf die Explikation des Christusbekenntnisses im Kontext des interreligiösen Dialogs: Christoph Schwöbel, Solus Christus? Zur Frage der Einzigartigkeit Jesu Christi im Kontext des interreligiösen Dialogs, in: ders., Christlicher Glaube im Pluralismus (s. Anm. 15), 179–216. So der plumpe Vorwurf der Orientierungshilfe: Christen und Muslime nebeneinander vor dem einen Gott (s. Anm. 6), 6. Vgl. ebd. mit Verweis auf das ShmaÝ Yisrael Dtn 6,4; Mk 12,28 (vgl. dazu oben Anm. 2). Vgl. Martin Bauschke/Walter Homolka/Rabeya Müller, Gemeinsam vor Gott (s. Anm. 7), 18: Es ist »derselbe eine Gott, an den Juden, Christen und Muslime glauben«. An dieser Stelle ist auf die Unverfügbarkeit des Deus semper maior und seines Wirkens hinzuweisen, dem allein die Demut als angemessene menschliche Haltung entsprechen kann. Angesichts der Selbsterschließung Gottes, also des Offenbarungsgeschehens in seinem überwindenden, ja le-
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Ein Aspekt soll am Ende nicht unerwähnt bleiben, bevor ich mit einigen wenigen positiven Vorschlägen schließen möchte: Sowohl die Orientierungshilfe der rheinländischen Kirche als auch M. Bauschke in der diesem Beitrag vorausgehenden Diskussion betonen, dass die Praxis gemeinsamen Betens der »Theologie« vorausgegangen sei und diese daher auch affiziere.24 Dem ist zweifellos zuzustimmen, nicht jedoch der Tendenz, die dem Argument in der konkreten Verwendung innewohnt. Denn hier wird eine Praxiserfahrung – und »Erfahrung« ist immer subjektiv und schon von daher nicht hinterfragbar – als ein wirkungsvolles Mittel eingesetzt, um theologische Argumentation zu neutralisieren. Wird so die Praxis zur Norm bzw. die Reflexion der Praxis von vornherein reglementiert, macht man es sich mehr als einfach. Praxis ist fraglos immer da – und je nach Perspektive vorgängig – und Theologie geht immer auf Praxis ein: Sie verhält sich nicht im luftleeren Raum. Dies bedeutet aber keineswegs, dass die Praxis die Theologie normierte, es sei denn, Theologie verstünde sich rein deskriptiv. Auf diesem Niveau erübrigte sich freilich jede weitere Diskussion. Wir haben uns in sehr gedrängter Form auf einen Kernbereich der Frage gemeinsamen Gebets konzentriert. Mein Fazit lautet: Der Respekt vor dem anderen muss weiter reichen, und dieser Respekt sollte dazu befähigen und mündig machen, Fremdes auch wirklich fremd sein zu lassen und nicht über die Harmonisierung auf der Metaebene doch wie-
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bensschaffenden Charakter, ist die Forderung von »Demut und Bescheidenheit« hingegen völlig deplatziert. Noch einmal gilt: Existentielles Überwundensein (Lk 5,8; Joh 20,28; 2Kor 5,17; Gal 2,20; 4,9 bis hin zu 1Kor 9,16) steht nicht zur Disposition einer scheinbaren Demut, die nicht nur den zentralen Aussagegehalt christlichen Glaubens gleichsam als Akzidens marginalisiert, sondern zudem weit über die eigene Glaubensperspektive hinausgreift und in ganz und gar nicht demütiger Manier sehr klare Vorstellungen von der Einheit und Identität Gottes sogar über die eigene Religion hinaus hat. Diese Art von Demut zeugt vielmehr von mangelndem Respekt gegenüber der lebensgestaltenden Kraft vitalen Glaubens, was sich sowohl in einem reduktionistisch-relativierenden Umgang mit dem eigenen Glauben als auch in einer fundamentaltheologischen Bevormundung anderer Glaubenstraditionen äußert. Vgl. Evangelische Kirche im Rheinland (Hg.), Christen und Muslime nebeneinander vor dem einen Gott (s. Anm. 6), 4. – In der Tat ist die erste kirchliche Verlautbarung zum Thema: Multireligiöses Beten. Eine Arbeitshilfe des Landeskirchenrates der Evang.-Luth. Kirche in Bayern, erarbeitet von der Islam-Kommission, München 1992, nicht zuletzt eine theologische Reflexion der 1991 aus dem Zweiten Golfkrieg erwachsenen praxis pietatis gemeinsamer Friedensgebete.
der ins Eigene einholen zu wollen. Diese Debatte sollte im Ernst und ohne Polemik geführt werden. Ich behaupte, dass mein Ansatz sowohl den Dialog als auch ein konstruktives Miteinander nicht behindert, ja im Gegenteil, dass ich den Respekt vor dem anderen deutlicher zum Ausdruck bringe, als das in der Konzeption eines abrahamischen Gebetbuchs in der Art, wie es vorliegt, möglich ist. Diese führt zu einer Reduktion des Gebets, die trotz gegenteiliger Behauptung wenig mit »Demut und Bescheidenheit« zu tun hat, vielmehr Ausdruck eines auf ihre Weise autoritären Zugriffs auf die Offenbarungstexte und ihre verbindlichen Aussagen ist. Zum Schluss – damit das Analytisch-Kritische nicht das letzte Wort hat – fünf konkrete Vorschläge, wie ich mir konstruktiv gestaltete Praxis vorstelle: –
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Wir öffnen unsere Häuser, private und kirchliche Einrichtungen, zur offenen Gastfreundschaft. An dieser Stelle haben wir hierzulande Entfaltungspotenzial! Die nachbarschaftliche Kommunikation sucht auf verschiedenen Ebenen und zu unterschiedlichsten Anlässen, was am nachhaltigsten gegen Ab- und Ausgrenzung wirkt und im Begriff schon enthalten ist: Freundschaft. Wir packen gemeinsam an, wo wir durch uns verbindende oder zumindest uns auf beiden Seiten beschäftigende Fragestellungen herausgefordert sind. Wir beten füreinander im fürbittenden Gebet. Christen beten für Menschen anderen Glaubens, und dies nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch im persönlichen Gebet (vgl. 1Tim 2,1–7; 1Thess 5,17; Röm 12). Wir öffnen unsere Gottesdienste25 und üben spirituelle Gastfreundschaft. Dies nun freilich nicht so, dass eine neue Liturgie kreiert wird, sondern in der Weise, dass wir bewusst Anteil geben an Formen christlichen Gottesdienstes, wie wir sie pflegen, und dass wir Anteil nehmen an Formen muslimischen Gottesdienstes, wie sie in muslimischen Gemeinden gepflegt werden.26 Bzw. fragen uns, inwiefern diese ohnehin öffentlichen Kristallisationspunkte christlichen Gemeindelebens als »geschlossen« erscheinen! Im Sinne der eingeführten – allerdings m.E. nur bedingt sinnvollen, da in der Praxis und vor allem im Blick auf die Wahrnehmung aus Sicht der Gemeinden kaum eindeutig und unmittelbar nachzuvollziehenden – Unterscheidung zwischen interreligiösem und multireligiösem Gebet (vgl. Multireligiöses Beten [s. Anm. 24], seither durchgängig rezipiert) käme im Ein-
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Keineswegs ausgeschlossen ist eine durch gemeinsame Betroffenheit motivierte oder spontan in bestimmten Situationen sich ergebende Anteilnahme und Anteilgabe am persönlichen Gebet, in der freundschaftliche Nähe und seelsorgerliche Sensibilität selbstverständlich auch die Formulierung nicht unberührt lässt.
klang mit der überwiegenden Mehrheit der Verlautbarungen nur die letztere Form des Gebets in Betracht. Dazu sind besondere Textzusammenstellungen, Neu- und Umformulierungen vollkommen überflüssig. Gebete sind generell als in der Gemeinschaft der Glaubenden formulierte und von ihr getragene Gebete »mitbetbar«, oder sie sind es überhaupt nicht. Wie sollten sie »mitbetbarer« werden, indem sie zurechtgestutzt werden? – Etwas akzeptabler als »Gemeinsam vor Gott« sind die Texte in der katholischen Handreichung: Leitlinien für multireligiöse Feiern von Christen, Juden und Muslimen (s. Anm. 11), 41–43 (hier kommen Formulierungen wie »durch Christus, unsern Herrn« oder »Gepriesen sei unser Herr Jesus Christus, eingeborener Sohn des Vaters« vor). Ganz problematisch sind hingegen aufgrund der Fülle von Äquivokationen die Texte der KEK-CCEE in: Christen und Muslime – Gemeinsam Beten? Überlegungen und Texte, Arbeitspapier des Ausschusses »Islam in Europa« der Konferenz Europäischer Kirchen und des Rates der europäischen Bischofskonferenzen vom 24.11.2003.
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Das lukanische Jesusbild und der Dialog mit dem Islam Eine christologische Skizze zur Theozentrik des Gebets Heikki Räisänen
Mein Augenmerk gilt in diesem kleinen Beitrag einem Zeugnis aus der farbenreichen Glaubenswelt des frühen Christentums, dem Werk des »Lukas«, das immerhin nicht weniger als ein Viertel des Neuen Testaments ausmacht.1 Ich habe die lukanische Jesusdarstellung zum Thema gewählt, weil sich darin auffällige, vielleicht auch etwas überraschende Anknüpfungspunkte und Parallelen zum Koran entdecken lassen.2 Dabei soll das Wort »lukanisch« bewusst etwas in der Schwebe bleiben; es bezeichnet sowohl das, was dem Verfasser ganz charakteristisch ist und am ehesten seinen eigenen Intentionen entsprechen könnte,3 als auch das, was er vielleicht nur übernommen hat. Um eine systematische Harmonisierung seiner diversen Traditionen hat sich Lukas offensichtlich nicht bemüht; inwiefern er sich solcher Spannungen und Widersprüche be1
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Dieses Werk besteht aus zwei Teilen, dem Lukasevangelium und der Apostelgeschichte. Es wurde in der altkirchlichen Überlieferung einem Mitarbeiter des Apostels Paulus, dem Arzt Lukas, zugeschrieben, gilt aber heute zumeist als das Werk eines unbekannten Christen der dritten Generation. Zum erstenmal herausgestellt bei Heikki Räisänen, Das koranische Jesusbild. Ein Beitrag zur Theologie des Korans (Schriften der Finnischen Gesellschaft für Missiologie und Ökumenik 20), Helsinki 1971, 90–94. Meine Ausführungen schließen sich u.a. an folgende Beiträge an: Kurt Rudolph, Jesus nach dem Koran, in: Wolfgang Trilling/Inge Berndt (Hg.), Was haltet ihr von Jesus? Beiträge zum Gespräch über Jesus von Nazaret, Leipzig 1975, 260–287, hier 285; Hans Küng u.a., Christentum und Weltreligionen. Hinführung zum Dialog mit Islam, Hinduismus und Buddhismus, München 1984, 191. Selbstverständlich kann man von den Intentionen eines Autors nur mit großer Vorsicht sprechen.
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wusst gewesen ist, die wir meinen feststellen zu können, lässt sich kaum noch ausmachen. Was das Jesusbild betrifft, scheint er ältere Vorstellungen, die seiner eigenen Anschauung nicht ganz entsprechen, weitertradiert zu haben, und zwar solche, die gerade im Zusammenhang des Religionsdialogs bedeutsam sind. Genauso interessant sind freilich auch manche Akzente, die Lukas offenbar selbst setzt. Es ist in der Tat kaum möglich, hier eine klare Grenzlinie zu ziehen.4
1. Parallelen zwischen Lukas und dem Koran 1.1.
Jesus als Beter
Um zunächst am Generalthema des Forums anzuknüpfen: Der Jesus des Lukasevangeliums ist ein vorbildlicher Beter. »Der betende Jesus wird zum Paradigma.«5 Noch viel stärker als die anderen Evangelien hebt Lukas diesen Zug hervor, auch an Stellen, wo andere Evangelisten nicht vom Gebet sprechen. Bei der Taufe Jesu kommt der Geist herab auf ihn, während er gerade betet (Lk 3,21–22), und auch seine Verklärung findet während eines Gebets statt (Lk 9,28–29). Wenn Jesus auf einen Berg steigt, lässt Matthäus ihn eine große Predigt halten (Mt 5–7), aber Lukas sagt: »Er ging auf einen Berg, um zu beten. Und er verbrachte die ganze Nacht im Gebet zu Gott.« (Lk 6,12). Matthäus bringt das Vaterunser im Zusammenhang einer Belehrung Jesu über das Gebet (Mt 6,9–15); bei Lukas betet Jesus zunächst selbst, und erst »als er das Gebet beendet hatte«, bittet ihn einer der Jünger, dass er sie beten lehre (Lk 11,1). »Immer wieder zieht er sich zum Gebet zurück (5,16), vor wichtigen Entscheidungen wie der Berufung der zwölf Apostel (6,12), vor seinem Leiden. Er erfährt die Unterstützung Gottes, der seinen Engel sendet, um ihn zu stärken (22,41–43).«6 Dass Jesus so intensiv zu Gott betet, sollte Christen schon zu denken geben. »Das von Lukas stereotypierte Motiv vom Gebet Jesu« zeigt of-
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Vgl. Christopher M. Tuckett, The Christology of Luke-Acts, in: Joseph Verheyden (Hg.), The Unity of Luke-Acts (Bibliotheca Ephemeridum The-
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Joachim Gnilka, Theologie des Neuen Testaments (Herders Theologischer
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ologicarum Lovaniensium 142), Leuven 1999, 133–164, hier 133–149.
Kommentar zum Neuen Testament, Supplementband 5), Freiburg/Basel/ Wien 1994, 207. Gnilka, ebd.
fensichtlich seine Unterordnung unter Gott.7 »The union between him [Jesus] and the Father is, as it were, an external bond. Luke does not picture such a unity as we find in the Pauline or the Johannine Christology. They are joined by the Spirit on the one side and the human response of prayer, on the other.«8 Zwar berichtet auch das Johannesevangelium, wo der himmlische Ursprung Jesu vorausgesetzt wird, vom Beten Jesu, aber es handelt sich eben nicht um echte Gebete. In Joh 11,41–42 verbalisiert »ein Demonstrationsgebet … die Einheit Jesu mit dem Vater«; »Jesus bedarf des Gebetes nicht.«9 Jesu Abschiedsgebet in Joh 17 ist in Wirklichkeit eine lange Belehrung für die Jünger, eine »demonstrative Entfaltung der Gesandtenchristologie und der Situation der Adressaten der Sendung nach seiner Rückkehr, und zwar für die Gemeinde«10. Bezeichnenderweise wird Jesu Gebetskampf in Getsemani nicht erwähnt.11 Im Koran erscheint Jesus ebenfalls als ein vorbildlicher Beter, der auch die sonstigen Tugenden eines guten Muslims aufweist. Er sagt dort (Sure 19,31–32), Gott habe ihm »das Gebet [zu verrichten] und die Almosensteuer [zu geben] anbefohlen, solange ich lebe, und [dass ich] gegen meine Mutter pietätvoll [sein soll]«12.
1.2.
Theozentrische Christologie
Noch auffallendere christologische Aussagen begegnen in der Apostelgeschichte, insbesondere in Predigten, die dem führenden Apostel Petrus in den Mund gelegt worden sind. Sicherlich hat Lukas ihren Wortlaut gestaltet, aber er hat sich dabei wohl auch alter Überlieferungen bedient;13 7 8 9
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Hans Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas
(Beiträge zur historischen Theologie 17), Tübingen 41962, 163, vgl. 167. Geoffrey W. H. Lampe, The Lucan Portrait of Christ, in: New Testament Studies 2 (1955/56), 160–175, 172. Jürgen Becker, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 11–21 (Ökumenischer Taschenbuchkommentar zum Neuen Testament 4/2), Gütersloh 1981, 363–364. Ebd. 510. Zur Uminterpretation der Getsemani-Tradition in Joh 12,27–30 vgl. ebd. 387–390. Übersetzungen nach Rudi Paret, Der Koran, Stuttgart u.a. 21980. Ein eingehender Vergleich der Marienbilder bei Lukas und im Koran wäre eine Aufgabe für sich. »Lukas hat die Reden stark bearbeitet und stilisiert. Wenn man aber nach Traditionen fragt, lassen diese sich vor allem in Einzelstücken des Baumaterials des Lukas aufzeigen, und diese Traditionen gehen offenbar auf juden-
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das legt die gelegentliche Spannung zwischen dem Inhalt jener Reden und dem des Lukasevangeliums nahe. Aus dem Munde des Petrus hören die Jerusalemer u.a. Folgendes: »Jesus, den Nazoräer, einen Mann, der von Gott vor euch beglaubigt worden ist durch machtvolle Taten und Wunder und Zeichen, die Gott durch ihn in eurer Mitte getan hat […], diesen, der nach Gottes festgesetztem Ratschluss und Vorsatz dahingegeben worden war, habt ihr […] töten lassen. Und ihn hat Gott auferweckt.« (Apg 2,22–24) In einer späteren Predigt sagt Petrus entsprechend: »Ihr kennt […] Jesus von Nazareth, wie ihn Gott mit Heiligem Geist und Kraft gesalbt hat, der umherzog beginnend von Galiläa aus nach der Taufe, die Johannes predigte, und Gutes tat und alle heilte, die vom Teufel überwältigt waren; denn Gott war mit ihm.« (Apg 10,38) Die Wunder, die Gott durch Jesus wirkte, sind als »Legitimationszeichen« gedacht, »denn durch sie wird der Beweis erbracht, dass Gott es war […], der hinter Jesu Leben, Wirken und Lehren stand«14. Die Geschichte Jesu wird hier als eine völlig theozentrische Geschichte dargestellt: Sie erzählt davon, was Gott durch einen Menschen ausrichtete. Jesus ist ganz klar Gott untergeordnet. Nicht alles, was in diesen Versen steht, könnte so im Koran stehen, wohl aber die Aussage, dass Jesus durch Wunder und Zeichen beglaubigt wurde. Ist doch das Wort »Zeichen« gerade ein Schlüsselwort im Koran, der ebenfalls sagt, dass Jesus »mit meiner [Gottes] Erlaubnis« Zeichen wirkte (5,110).15 Wie der Koran, so stellt auch Lukas Jesus als ein völlig Gott zur Verfügung gestelltes Werkzeug dar. Der lukanische Jesus ist »der Erwählte« Gottes (Lk 9,35, Apg 3,20), »der Heilige und Gerechte« (Apg 3,14). Man vergleiche Sure 3,46, wo Jesus als »einer von den Rechtschaffenen (ÒÁliÎÐna)« bezeichnet wird (ähnlich Sure 6,85). Nach dem Ratschluss Gottes wurde Jesus getötet (Apg 2,23). An diesem Punkt ist der Koran bekanntlich anderer Meinung (siehe unten), aber die Theozentrik ist Lukas und dem Koran gemeinsam: Was auch immer durch und mit Jesus geschah, dahinter stand Gott. Von Gott wurde Jesus auferweckt (Apg 2,23) und »zum Herrn und zum Christus gemacht«
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christliche Vorstellungen zurück.« (Jacob Jervell, Die Apostelgeschichte [Kritisch-exegetischer Kommentar zum Neuen Testament 3], Göttingen 1998, 152–153). Emmeram Kränkl, Jesus, der Knecht Gottes. Die heilsgeschichtliche Stellung Jesu in den Reden der Apostelgeschichte (Biblische Untersuchungen 8), Regensburg 1972, 208. Vgl. Martin Bauschke, Jesus im Koran, Köln/Weimar/Wien 2001, 125–127.
(Apg 2,36). Gott hat ihn dabei »als Anführer und Retter an seine rechte Seite erhoben, um Israel die Umkehr und Vergebung der Sünden zu schenken« (Apg 5,31, in einer Rede von »Petrus und den Aposteln«). In Apg 17,31 heißt es entsprechend in einer Rede des Paulus, dass Gott einmal die Welt richten wird »durch einen Mann, den er dazu bestimmt und vor allen Menschen dadurch ausgewiesen hat, dass er ihn von den Toten auferweckte«. Dass Jesus zum Herrn und Christus gemacht wurde (Apg 2,36), setzt voraus, dass er zu einer Stellung erhöht wurde, die er vorher noch nicht hatte. Wir können uns die Debatte ersparen, ob Lukas hier mit Absicht so formuliert oder ob er eine ältere Vorstellung zu Wort kommen lässt, die er selbst nicht völlig teilt. In seinem Evangelium bringt er nämlich fortgeschrittenere Vorstellungen, nach denen Jesus schon im Erdenleben ein besonderes Verhältnis zu Gott hatte: Spätestens seit seiner Taufe (Lk 3,22), aber eigentlich schon seit seiner Empfängnis im Mutterleib (Lk 1,35) heißt er »Sohn Gottes«. In Bethlehem wurde »der Retter«, der »Christus und Herr« ist, geboren (Lk 2,11).16 Wie dem auch sei, auf alle Fälle schimmert in den Reden der Apostelgeschichte eine sehr alte Christologie durch,17 die vermutlich bis zur ältesten Jerusalemer Gemeinde zurückgeht. In Apg 13,33 wird denn auch Ostern als der »Geburtstag« Jesu als Gottessohn angegeben: Hier bezieht Paulus das Psalmwort (Ps 2,7): »Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt« auf dessen Auferweckung. Unabhängig von der Frage, seit wann Jesus nach Lukas als »Messias« oder »Gottessohn« bezeichnet werden kann, bietet Lukas ein Bild, in dem Jesus Gott klar untergeordnet bleibt.18 Gott hat den Mann Jesus 16
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Kränkl fragt allerdings nachdrücklich, ob den Reden der Apostelgeschichte als »programmatischen heilsgeschichtlichen Aufrissen des Lebens Jesu« nicht größeres Gewicht zukommt, so dass Lukas mit Aussagen wie Apg 2,36 »primär seiner eigenen Überzeugung« Ausdruck verleiht (Emmeram Kränkl, Jesus [s. Anm. 14], 161–163). Vgl. die zweifellos vorpaulinische Formel in Röm 1,3–4: Jesus »ist dem Fleisch nach geboren als Nachkomme Davids« und »dem Geist der Heiligkeit nach eingesetzt als Sohn Gottes in Macht seit der Auferstehung von den Toten«. Paulus interpretiert die Formel allerdings im Sinne seiner Präexistenzchristologie (1,2). Tuckett fasst eine weitgehende Übereinstimmung der Exegeten zusammen: »the Lukan Jesus is a figure who is very much subordinate to God«; »Jesus is supremely a man chosen by God to do God’s will (Acts 2:22, 17:31).« (Christopher M. Tuckett, Christology and the New Testament. Jesus and His Earliest Followers, Edinburgh 2001, 143–144.) Für eine Auseinanderset-
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zu dem »gemacht«, was er für die Christen ist. Eine Sendungschristologie johanneischen Stils (Jesus sei ein präexistentes Wesen, das vom Himmel auf die Erde gesandt wurde) ist dadurch ausgeschlossen. Hier ist anzumerken, dass die Bezeichnung »Christus« sowohl bei Christen als auch bei Muslimen falsche Assoziationen der Göttlichkeit wecken kann. Ursprünglich bezeichnete »Messias«, auf Griechisch »Christos«, einen von Gott auserwählten menschlichen König, dessen Erscheinen in der Endzeit manche erwarteten. Bei Lukas ist dieser Sprachgebrauch noch zu erkennen, vor allem in den Kindheitsgeschichten Lk 1–2. Gott ist es, der ihm den Thron Davids geben wird (Lk 1,32 f.; allerdings wird der Charakter des Messiastums völlig uminterpretiert; letztlich ist das Königtum Jesu kein irdisches mehr). Jesus ist der Christus Gottes (Apg 3,18 usw.) und, was noch enger an den Koran erinnert, auch ein Knecht Gottes (vgl. z.B. Sure 19,30). Den Juden zuerst »hat Gott seinen Knecht [Jesus] erstehen lassen und ihn gesandt, euch zu segnen« (Apg 3,26; vgl. 3,13; 4,27), sagt Petrus. In einer Rede des Paulus erscheint Jesus neben den Vätern, den Richtern und Königen als ein Glied in der Kette der Heilsmittler, die Gott an Israel gesandt hat, freilich als bedeutsamstes Glied (Apg 13,17–25). In der langen Rede des Stephanus wiederum steht Jesu Schicksal neben dem der Gottesdiener Joseph und Mose und dem der Propheten (Apg 7,9–52). »Jesus ist […] keine isolierte Heilsgestalt, er steht vielmehr in der Nachfolge der alttestamentlichen Gottesboten und bildet zugleich deren Abschluss und Höhepunkt. Diese heilsgeschichtliche Zuordnung hat ihren prägnanten Ausdruck in dem Jesusprädikat ›Knecht Gottes‹ (Apg 3,13.26; 4,27.30) gefunden. Denn als ›Knechte Gottes‹ galten auch die alttestamentlichen Gerechten (vgl. Lk 1,54.69; Apg 4,25).«19 Der Titel »Prophet«, der im Koran so bedeutsam ist, findet sich gelegentlich auch im Werk des Lukas als eine Bezeichnung Jesu (z.B. Lk 7,16), doch es handelt sich hier eher um eine »historische« Erinnerung: Zu seinen Lebzeiten wurde Jesus von manchen Leuten für einen Propheten gehalten. Allerdings ist Jesus nicht nur der Endpunkt einer heilsgeschichtlichen Entwicklung, mit ihm beginnt auch etwas Neues und Entscheidendes (Lk 16,16). Schon zu seinen Lebzeiten bringt Jesus in besonderer
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zung mit einigen angelsächsischen Forschern, die bei Lukas eine höhere Christologie finden wollen, vgl. ders., Christology of Luke-Acts (s. Anm. 4), 149–157. Emmeram Kränkl, Jesus (s. Anm. 14), 210 f.
Weise Gottes Gnade den Menschen nahe, und nach seiner Erhöhung hat er eine ganz außerordentliche Stellung in Bezug auf die Welt; er kann z.B. den Heiligen Geist auf die Menschen ausgießen (Apg 2,33), allerdings nur als Folge seiner Unterordnung unter Gott.20 Dem Tod Jesu wird im Doppelwerk des Lukas kein Heilswert beigemessen. An der Stelle, wo im Markusevangelium die Aussage steht, der Menschensohn sei gekommen, um »sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele« (Mk 10,45), lesen wir im Lukasevangelium nur dies: »Ich aber bin unter euch wie der, der bedient.« (Lk 22,27) Der Tod Jesu erscheint als das unschuldige Leiden des Gerechten (vgl. bes. Lk 23,47) und als eine »notwendige Durchgangsstufe zu Auferweckung und Erhöhung«21 (vgl. u.a. Lk 24,46). Zwar zeigen der Abendmahlsbericht (Lk 22,19–20) und ein dem Paulus zugeschriebenes Wort vom Blut Jesu (Apg 20,28), »dass für Lukas und seine Gemeinde die Heilsbedeutsamkeit des Todes Jesu auch im Sinne stellvertretenden Sterbens ›für‹ bekannt war. Aber um so erstaunlicher ist es, dass Lukas selbst diese Verständnisweise für die Heilsbegründung und Heilsverkündigung nie verwertet. Er hat sie vielmehr bewusst vermieden und zugunsten einer anderen Konzeption umgangen.«22 Denn »nach Lukas hat offenbar nicht nur Jesu Tod, sondern sein ganzes Leben und Sterben samt der Auferweckung das Heil des Menschen bewirkt. Sein gesamtes Wirken ist der Dienst (22,27), bei dem es darum geht, ›das Verlorene zu suchen und zu retten‹ (19,10).«23 Im Lukasevangelium ruft Jesus seine Hörer nachdrücklich zur Umkehr auf (z.B. Lk 15,7.10) und bietet dem heimkehrenden Sünder die Gnade Gottes an (so besonders Lk 15,11–32). Nach der Verkündigung der Apostel in der Apg wird ein Mensch gerettet, wenn er Buße tut und sich taufen lässt; dann werden seine Sünden vergeben (Apg 2,38). Das Jesusbild des Lukas weicht also deutlich von dem eher gottähnlichen Bild ab, das Johannes (und im Ansatz wohl schon auch Paulus) zeichnet. Auch die jungfräuliche Empfängnis Jesu – eine Vorstellung, die im Neuen Testament nur in den Kindheitsgeschichten bei Lukas und 20 21 22
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Vgl. Christopher M. Tuckett, Christology (s. Anm. 18), 144. Emmeram Kränkl, Jesus (s. Anm. 14), 209. Alfons Weiser, Theologie des Neuen Testaments II. Die Theologie der
Evangelien, Stuttgart/Berlin/Köln 1993, 145. Weiser bemerkt ferner, dass Lukas selbst dort, wo er aus Jes 53 zitiert, den Sühnegedanken konsequent weglässt (Lk 22,37; Apg 8,32–33). Walter Radl, Das Lukas-Evangelium (Erträge der Forschung 261), Darmstadt 1988, 106; zit. bei Alfons Weiser, Theologie (s. Anm. 22), 146.
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Matthäus auftaucht (Lk 1; Mt 1) – verändert diesen Tatbestand nicht. Denn die Präexistenz (von Paulus und Johannes vorausgesetzt) auf der einen und die jungfräuliche Empfängnis auf der anderen Seite sind ursprünglich alternative und sich gegenseitig ausschließende Versuche, das besondere Verhältnis Jesu zu Gott zu umschreiben. Es ist bei den Christen üblich geworden, die Lehre von der Jungfrauengeburt mit der Göttlichkeit Jesu zu verbinden. Aber man kann ja gerade aus dem Koran lernen, dass es nicht so sein muss. Der Koran zeigt, dass es möglich ist, die Geburt Jesu ohne einen menschlichen Vater zu bejahen und zugleich seine Göttlichkeit sogar streng zu verneinen. Die Geburt Jesu ist im Koran (Sure 19,16–33; 3,45–47) ein Zeichen der Allmacht Gottes – ähnlich wie die Erschaffung Adams aus dem Staub (Sure 3,59). Ob die Dinge bei Lukas anders liegen, lässt sich diskutieren. Auch er hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass Gott nichts unmöglich ist (Lk 1,37). Der Ursprung Jesu liegt im schöpferischen Geist Gottes: »Der Heilige Geist wird über dich [Maria] kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig genannt werden, Sohn Gottes.« (Lk 1,35). Man könnte diesen Spruch des Engels Gabriel zwar so deuten, dass die besondere Art der Empfängnis mit der (dann vorauszusetzenden) göttlichen »Natur« Jesu zu verbinden wäre (allerdings nicht im Sinne der späteren Zwei-Naturenlehre); auch in diesem Fall würde Jesus als der »Sohn« deutlich dem Vater subordiniert bleiben. Aber Lukas zeigt kein Interesse an einer Systematisierung der diversen Aussagen über Jesu Gottessohnschaft.24 Lk 1,35 lässt sich denn auch durchaus in seine theozentrische Gesamtanschauung eingliedern: Schon vor seiner Geburt ist Jesus zum Heiland bestimmt; seine Geburt verdankt sich demselben Geist, der nachher sein ganzes Leben und Wirken bestimmen wird (Lk 3,22; 4,1.14; 10,21; Apg 10,38; vgl. auch Lk 4,36; 5,17).25 Man kann Sure 5,110 (2.87; 2,253) zum Vergleich heranziehen: Gott hat Jesus von Geburt an »mit dem Geist der Heiligkeit« gestärkt.26 24
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Wir sahen oben, dass in Apg 13,33 die Auferweckung als der Zeitpunkt der Einsetzung Jesu in die Würdestellung des »Sohnes« angegeben wird. Im Laufe der Traditionsbildung, deren verschiedene Stadien noch im Lukasevangelium zu erkennen sind, wurde der Tag der »Adoption« weiter rückwärts datiert: zunächst auf die Taufe Jesu (Lk 3,22), schließlich auf seine Geburt (Lk 1,35). Vgl. Martin Bauschke, Jesus (s. Anm. 15), 142 f. Vgl. ebd. 54.
2. Unterschiede Die größten Unterschiede zwischen Lukas und dem Koran, die sich auch im jeweiligen Jesusbild widerspiegeln, bestehen einerseits in der Auffassung von der Geschichte, andererseits im Verhältnis zum Problem des Leidens. Zwar vertreten beide eine »heilsgeschichtliche« Konzeption, doch jeweils eine verschiedene. Von Gott gelenkt, bewegt sich nach Lukas die Geschichte durch verschiedene Stadien – die Zeit Israels, die Zeit Jesu und die Zeit der Kirche – ihrem Ziel entgegen, wobei die Zeit Jesu das entscheidende Zentrum, die »Mitte der Zeit« ausmacht.27 Die Geschichte Jesu ist etwas Einmaliges und Unwiederholbares – obwohl Lukas eigentlich nicht sagt, warum sie so entscheidend wichtig ist.28 Nach der koranischen Konzeption dagegen wiederholt sich im Grunde die gleiche Geschichte unzählige Male.29 Ein wesentlicher Unterschied kommt in der jeweiligen Einstellung zum Leiden zum Vorschein. Lukas betont, dass Christus leiden »müsse« (Apg 26,23). Die Passion Jesu stellt sich bei Lukas als eine Schilderung von einem leidenden Gerechten dar; auch hier wird er zum großen Vorbild.30 Auch von dem ersten christlichen Märtyrer, Stephanus, zeichnet Lukas ein idealisiertes und eindrucksvolles Bild (Apg 7). Die Zeit der Kirche ist eine Periode von Leiden und Verfolgungen, und so muss es sein. Die christliche Ethik konzentriert sich auf das tägliche »Tragen des Kreuzes« und die konkrete Nachfolge Jesu; sie neigt sich zu einer Martyriumsethik hin.31 Ist das Leiden letzten Endes bei Lukas ein »Tor zur Herrlichkeit«, so vertritt der Koran eine Einstellung, die man theologia gloriae nennen könnte – eine »Theologie der Herrlichkeit«, in der der
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Die klassische Darstellung: Hans Conzelmann, Mitte der Zeit (s. Anm. 7). Bei Lukas entsteht in der Tat eine fühlbare Spannung zwischen der Betonung, dass das Heil durch Umkehr und frommes Leben zu erreichen ist, und der Behauptung, den Menschen sei »kein anderer Name gegeben worden, durch den wir gerettet werden sollen« (Apg 4,12). Diese Inkonsistenz wird von David Seeley, Deconstructing the New Testament (Biblical Interpretation Series 5), Leiden u.a. 1994, 81–102, herausgestellt. Rudi Paret, Mohammed und der Koran. Geschichte und Verkündigung des arabischen Propheten (Urban-Bücher 32), Stuttgart u.a. 51980, 100: »Eintönig, mit nur geringfügigen Abwandlungen, wurde auf der Bühne der Geschichte immer wieder dasselbe Stück gespielt.« Vgl. auch Martin Bauschke, Jesus (s. Anm. 15), 125. Vgl. Joachim Gnilka, Theologie (s. Anm. 5), 207. Vgl. Hans Conzelmann, Mitte der Zeit (s. Anm. 7), 218 f.
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schmachvolle Tod eines Gesandten Gottes undenkbar bleibt.32 Der Kreuzestod Jesu wird in einem (im Übrigen vieldeutigen) Koranvers (Sure 4,157) bestritten. Inwiefern das im Blick auf den Dialog ein unüberbrückbarer Unterschied ist, sei dahingestellt. Ansonsten drängt sich folgende These auf: Im Neuen Testament gibt es Ansätze zu unterschiedlichen Lehren über Person und Werk Jesu. Die klassische christliche Dogmatik hat den Weg eingeschlagen, dessen Anfänge bei Paulus und im Johannesevangelium liegen (Gott hat seinen Sohn in die Welt gesandt, der von allem Anfang an bei ihm weilte), und diese Ansätze bis hin zur Trinitätslehre weiterentwickelt. Es wäre aber auch möglich gewesen, beim lukanischen Ansatz anzufangen und eine Christologie zu entwickeln, in welcher der Sohn deutlich dem Vater untergeordnet ist. Das ist in einigen (judenchristlichen oder auch etwa arianischen) Kreisen auch geschehen, diese haben jedoch im Kampf um die rechte Lehre verloren. Die islamische Kritik am »offiziellen« christlichen Jesusbild wird von Christen gewöhnlich schroff zurückgewiesen. Doch Hans Küng hat m.E. Recht, wenn er bemerkt, dass die Kirche dabei auch einen Teil ihrer eigenen Vergangenheit verdrängt: »Der Islam erinnert die Christen an ihre eigene Vergangenheit!«33 Denn am Anfang war für die Kirche vom Neuen Testament aus – und im Anschluss an Jesu eigene Botschaft!34 – auch eine theozentrische Christologie eine Möglichkeit. Neuerdings hat eine wachsende Anzahl christlicher Theologen35 versucht, jenen Ansatz
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Vgl. Martin Bauschke, Jesus (s. Anm. 15), 41: »Gott hat seine eigene Ehre so sehr an den Gesandten gebunden, dass dem Koran zufolge zwar Propheten getötet werden können […], nicht aber ein Gesandter.« Hans Küng, Christentum (s. Anm. 2), 192. Vgl. Martin Bauschke, Jesus (s. Anm. 15) 45, 136 ff. So schlossen sich die Verfasser eines von John Hick herausgegebenen berühmten Sammelbandes unter Verweis auf »eine wachsende Anzahl von Christen, professionellen Theologen wie Laien«, dem frühen Bekenntnis an, dass Jesus »ein von Gott für eine besondere Rolle beglaubigter Mann (Apg 2,22)« war; »die spätere Vorstellung von ihm als der inkarnierte Gott, die zweite Person der Trinität, die ein menschliches Leben führte«, sei »eine mythologische oder poetische Weise, seine Bedeutung für uns auszudrücken« (John Hick [Hg.], The Myth of God Incarnate, London 1977, IX–X). Vgl. etwa Hans Küng, Christ sein, München 81976, 436; Gösta Lindeskog, Das jüdisch-christliche Problem. Randglossen zu einer Forschungsepoche, Uppsala 1986, 27–29, 191–192. Weitere Hinweise bei Martin Bauschke, Jesus (s. Anm. 15), 138, 146 ff.
aufzunehmen. Daraus könnten sich neue Perspektiven für den Dialog ergeben.36 Um am Ende zum Thema Gebet zurückzukommen: Manche frühen Christen haben Jesus kultisch verehrt und sogar zu ihm gebetet. Das auf aramäisch bewahrte maranatha (»Unser Herr, komm!«) ist eine eschatologische Bitte an Jesus (1Kor 16,22; vgl. Offb 22,20); Paulus hat den Herrn Jesus Christus (vergeblich!) gebeten, den »Stachel« von seinem Fleisch (wohl eine Krankheit) wegzunehmen (2Kor 12,8).37 Doch im Lichte des lukanischen Jesusbildes ist es nur konsequent, dass Gebete an Jesus in der Apostelgeschichte des Lukas eben nicht vorkommen. Lukas berichtet sehr oft, dass die Christen beteten, aber diese Gebete werden immer an Gott gerichtet. Das wird in Apg 12,5; 16,25 ausdrücklich gesagt, und besonders klar wird die Sache in Apg 4: Die Apostel »erhoben einmütig ihre Stimme zu Gott« (4,24); in dem langen Gebet wird zweimal »dein heiliger Knecht Jesus« erwähnt (4,27.30), der also ganz deutlich von Gott unterschieden wird. Wer als Christ seine Gebete nur an Gott richtet, findet im Werk des Lukas eine starke Stütze.
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Um Missverständnissen vorzubeugen, sei bemerkt, dass eine solche Schwerpunktverschiebung nicht durch muslimische Kritik an der christlichen Christologie veranlasst wurde; das Problem hat als ein innerchristliches schon immer existiert. Dass christliche Selbstkritik Muslimen willkommen ist, versteht sich. Ein wirklicher Dialog kann m. E. jedoch erst dann entstehen, wenn Muslime eine ebenso tiefgreifende Veränderung in ihrem Verständnis vom Koran zustande bringen. Der »Vermenschlichung« der Christologie auf der christlichen Seite sollte eine entsprechende »Vermenschlichung« des Korans auf islamischer Seite entsprechen – nicht wegen des Dialogs, sondern einfach weil die Frage nach der Natur des Korans auch längst ein innerislamisches Problem ist. Vgl. Heikki Räisänen, Critical Exegesis and the Christian-Muslim Encounter, in: Hannu Juusola u.a. (Hg.), Verbum et Calamus. Semitic and Related Studies in Honour of Tapani Harviainen (Studia Orientalia 99), Helsinki 2004, 253–267. Allerdings richtet Paulus seine Danksagung nicht an Christus, sondern an Gott (1 Thess 1,2; 1Kor 1,4 usw.), wenn auch gelegentlich »durch Christus« (Röm 1,8).
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Menschliche Hinwendung zu Gott – göttliche Nähe zum Menschen Zusammenfassende Reflexionen und Thesen Andreas Renz/Hansjörg Schmid/Jutta Sperber
Das Thema Gebet hat sich den Erwartungen entsprechend als ein äußerst geeigneter Ausgangspunkt für eine theologische Reflexion zwischen Christen und Muslimen erwiesen, geht es hier doch um die Mitte jeglicher Theologie und religiösen Praxis. So wird bei diesem Thema einerseits das Verbindende und Gemeinsame deutlich. Aus dem Geist des Gebets heraus aber entsteht andererseits zugleich auch jene notwendige Haltung, die es ermöglicht, das Unterscheidende und Trennende in Respekt, Wertschätzung und Demut anzuerkennen und stehen zu lassen, ohne dabei das Eigene zu verschweigen oder gar aufzugeben. Im Folgenden sollen thesenhaft einige Ergebnisse festgehalten, aber auch offen gebliebene Fragen angezeigt werden: 1. Eine erste, Christen und Muslimen gemeinsame, sich wie ein roter Faden durch die Tagung ziehende Grundüberzeugung konnte darin gefunden werden, dass Gott den Betenden nahe ist, dass der Betende Gottes Nähe und Gegenwart erfährt. Dem Christen ist diese Nähe Gottes gewiss, weil sie ihm von Christus her zugesagt ist und weil er weiß, dass es letztlich der Geist Christi selbst ist, der in ihm betet (Röm 8,26; vgl. Lk 11,9– 13 par). Der Muslim weiß darum, weil sie ihm vom Koran her zugesagt ist – so in den Worten »[...] ich bin nahe. Ich antworte dem Ruf des Rufenden, wenn er zu mir ruft.« (Sure 2,186) – und weil jede Koranrezitation im Gebet Gottes Wort vergegenwärtigt und aktualisiert. Das Gebet setzt also immer schon einen Begriff von Gott voraus und umgekehrt bestimmt das Gebet auch den Gottesbegriff. Das bringt auch das Prinzip lex orandi, lex credendi (»das Gesetz des Betens ist das Gesetz des Glaubens«) zum Ausdruck. Gott selbst muss das alleinige Ziel des Gebetes sein – das darf als ein, wenn nicht das entscheidende Kriterium für ein authentisches Gebet
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gelten. Die ausschließliche Bindung an Gott im Gebet, so die gemeinsame Erfahrung von Christen und Muslimen, macht den Menschen frei von allen weltlichen Bindungen und Mächten, die ihn einschränken und belasten. In diesem Sinne ist das Gebet gerade auch in seiner Regelmäßigkeit und Formalität eine »Unterbrechung« und zugleich Gliederung des Alltags, die Raum und Zeit schafft für Gott. 2. Christen und Muslime sind sich dessen bewusst, dass sie Gott im Gebet weder besitzen noch irgendwie magisch beeinflussen können, sondern dass Gott sich bzw. sein Mit-Sein in freier Gnade dem Betenden schenkt. Im Akt und in der Haltung des Gebets verwirklicht der gläubige Christ wie Muslim seine Hinwendung zu Gott und damit aus Sicht beider Religionen seine eigentliche, von Gott geschaffene und gewollte Natur. Als Ausdruck und Verwirklichung des Glaubens ist das Gebet aus Sicht beider Religionen heilsnotwendig. Diese Hinwendung zu Gott ist ganzheitlich, ein umfassender personaler Akt, der sich in beiden Traditionen in Gebetsgebärden und -handlungen leib-seelisch ausdrückt. Während im Islam, besonders im islamischen Pflichtgebet (am ehesten wohl vergleichbar mit dem christlichen Tagzeitengebet), die Leiblichkeit im Gebetsvollzug deutlicher zum Ausdruck kommt als in den üblichen christlichen Gebetstraditionen, scheint im Christentum der Gemeinschaftsaspekt beim Gebet teilweise noch ausgeprägter und von größerer theologischer Bedeutung zu sein. Zwar wird in der islamischen Tradition das gemeinschaftliche Gebet wesentlich höher bewertet als das Allein-Beten, doch bleibt das islamische Gebet stets ein Gebet des Individuums, während zumindest die katholische und die orthodoxe Kirche auch das »Gebet der (ganzen) Kirche« im Sinne eines kollektiven Aktes kennen und gottesdienstlich vollziehen. Selbst das private Gebet des einzelnen Christen hat in diesen Traditionen stets ekklesialen Charakter, weil es im Bewusstsein der Gemeinschaft aller Gläubigen in demselben Geist gesprochen wird. Zugleich lässt offensichtlich selbst das liturgisch-öffentliche Gebet im Christentum – mit graduellen Unterschieden zwischen den konfessionellen Ausprägungen – eine größere Variabilität und Freiheit in Inhalt und Form zu als das islamische Ritualgebet. 3. Drückt sich das personale Wesen des Menschen in seiner LeibGeist-Struktur wie in seiner gemeinschaftlichen Dimension in formaler Hinsicht in der Gebetshaltung und dem gemeinschaftlichen Gebet aus, so finden die verschiedenen Situationen und Haltungen der menschlichen Existenz wie Freude, Dankbarkeit, Klage ihren inhaltlichen Niederschlag im Gebet. Dabei wird deutlich, dass sowohl in der biblisch-christlichen wie in der islamischen Gebetstradition die verschiedenen Gebetsgattun239
gen wie Lobpreis, Anbetung, Dank, Bitte, Klage zwar zu unterscheiden, nie aber wirklich voneinander zu trennen sind. Vielmehr gehen sie meist fließend ineinander über, was letztlich dem Gottesverständnis geschuldet ist: Gott als der Allmächtige, Allweise, Allgütige verdient Lob und Dank für all sein Handeln am Menschen, selbst und gerade in schwierigen Lebenssituationen. Noch bevor der Mensch seine Bitten auszusprechen wagt, weiß Gott darum und wird – orientiert am Heil des Menschen – handeln. Denn jede wahre Bitte im Gebet ist Bitte um ganzheitliches Heil und damit letztlich um Gott selbst, d.h. um seine »Gemeinschaft«. Die jüdisch-christliche Tradition allerdings kennt und betont wohl stärker als die islamische die Empathie Gottes, die bis zum Mitleiden Gottes mit seinem Volk und den Menschen gehen kann. Wohl auch deshalb ist der Aspekt der Klage im Gebet in der biblischen Tradition ausgeprägter als im Koran und in der islamischen Tradition. 4. Ein weiteres Merkmal des Gebets wurde ebenfalls von beiden Seiten angesprochen: Das Gebet, besonders das Bittgebet, ist ein Mittel der (transformierenden) Selbsterkenntnis. Der Mensch erkennt sein wahres Wesen vor Gott, er deutet sein Leben und die Welt im Lichte Gottes und seines Willens. Das Leben kommt vor Gott zur Sprache und damit kommt auch Gott selbst zur Sprache. Das Gebet wird so auch zu einem Ort der Gewissenserforschung und zugleich der Selbstüberschreitung. Gemeinsam ist beiden Religionen deshalb auch die Verbindung, ja Einbettung des Gebets in die Verantwortung gegenüber den Mitmenschen, ja der gesamten Schöpfung. Weder im Christentum noch im Islam ist das echte Gebet denkbar ohne die Solidarität im Geist – die sich im Fürbittgebet zeigt – und im Handeln für die Bedürftigen und Notleidenden. Das Gebet bindet auch auf dieser (horizontalen) Ebene der Beziehungen Herz, Vernunft und Handeln zusammen. Das Überschreiten von Grenzen darf deshalb wohl als ein weiteres gemeinsames Kriterium für ein authentisches Gebet bzw. Gebetsleben gelten. Bekenntnis, Gebet und Lebensgestaltung bilden so eine innere Einheit. Im Gebet verwirklicht sich die höchste Bestimmung des Menschseins und somit die »Menschwerdung des Menschen«. 5. So lassen sich sowohl am äußeren Vollzug als auch am Inhalt des christlichen wie islamischen Gebets Aspekte der Gott-Mensch-Beziehung ablesen: Im Gebet steht der Mensch in seiner Doppelnatur von Geschöpflichkeit und Würde seinem Schöpfer und Retter gegenüber. Der unendliche Graben zwischen Schöpfer und Geschöpf wird vom Schöpfer selbst her überbrückt, wenn auch nicht aufgehoben. Gott will nicht einfach Gott-für-sich sein und bleiben, sondern Gott-für-uns. Damit erweist 240
sich der Akt des Betens als ein Heilsgeschehen in der Gegenwart und zugleich als Vorgriff auf die erhoffte endgültige und vollkommene Gemeinschaft des Menschen mit Gott am Ende der Zeiten. 6. Für die Muslime spielt Muhammad auch bezüglich des Gebets eine wichtige Rolle: Vor allem ist er das Vorbild des idealen Beters, das es nachzuahmen gilt. Zahlreiche überlieferte Gebete werden direkt auf ihn zurückgeführt. Aber in der islamischen Gebetstradition geht die Bedeutung Muhammads weit darüber hinaus: Mit Berufung auf Stellen des Korans wie Sure 43,86 und prophetische Überlieferungen wird Muhammad (und zum Teil auch anderen Propheten und Heiligen) in Theologie und Volksfrömmigkeit die Erlaubnis Gottes zugesprochen, für die Gemeinde der Gläubigen Fürbitte bei Gott einzulegen. Dieser Fürbitte Muhammads wiederum versichern sich die Muslime durch die Herabrufung des Segens auf Muhammad und seine Familie. Christen dagegen wissen, dass ihnen die Gemeinschaft mit Gott durch und in Jesus Christus eröffnet worden ist – ihm gilt es in seiner besonderen Gottesbeziehung nachzufolgen. Christliches Beten ist daher, ob explizit oder implizit, stets trinitarisches Beten: Es richtet sich an Gott, den Vater, durch Jesus Christus im Heiligen Geist. Gott ist für den Christen ansprechbar geworden in der Person Jesu Christi, und es ist sein Geist, der uns beten lehrt und in uns betet. Diese ursprüngliche Glaubens- und Gebetserfahrung der Christen ist der Grund für die Rede von der Trinität Gottes, nicht umgekehrt. So wurde schon im frühen Christentum auch das Gebet zu Jesus Christus kirchliche Praxis. Es war auf der Tagung offensichtlich, dass zu diesem Punkt am meisten Verständnis- und Anfragen von muslimischer Seite kamen. Hier liegt eine eindeutige Trennlinie zwischen beiden Religionen. 7. Dieser Unterschied in der Gebetspraxis und -theologie zwischen Christentum und Islam macht die Frage nach der Möglichkeit und konkreten Form gemeinsamen Gebets zu einem ernsthaften theologischen Problem. Das Spektrum christlicher wie muslimischer Positionen und Praktiken reicht von »interreligiösen« (gemeinsam gesprochenen Gebeten) über »multireligiöse« Gebete (Gebete in der Anwesenheit des jeweils anderen) bis hin zur Ablehnung jeglicher Form gemeinsamen Betens. Die große Mehrheit der christlichen und muslimischen Theologen halten allerdings ein »multireligiöses« Gebet, bei dem man nach der je eigenen Tradition betet, für theologisch verantwortbar: Christen und Muslime anerkennen auf diese Weise, dass sie gemeinsam als Geschöpfe vor Gott stehen und doch bei allen Gemeinsamkeiten auch unterschiedli-
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che Gottesvorstellungen und Gebetspraktiken besitzen, die identitätsstiftend nach innen wirken. 8. Hinzu kommt eine Asymmetrie, die sich aus den unterschiedlichen religiösen und sozio-kulturellen Kontexten ergibt: Während das islamische Ritualgebet grundsätzlich einen Öffentlichkeits- und damit auch Verkündigungscharakter besitzt (was bereits am Muezzinruf deutlich wird), wurde zumindest im west- und mitteleuropäischen Kontext unter dem Einfluss von Reformation, Aufklärung und Säkularisierung das Gebet zunehmend auf die intime Privatsphäre bzw. die begrenzte Öffentlichkeit der Gemeinde beschränkt. Allerdings scheinen die Kirchen in Mittel- und Westeuropa – vielleicht nicht zuletzt aufgrund der multireligiösen Situation – die öffentliche Dimension des liturgischen Gebets wieder stärker zu entdecken (z.B. Kirchentage, Weltjugendtag etc.). Gerade aber die öffentliche Präsenz religiöser Praxis fordert die säkulare westliche Zivilgesellschaft heraus, ihr Verhältnis zur Religion zu klären und Grenzen abzustecken: Wie viel an öffentlicher religiöser Verkündigung will die säkulare Gesellschaft ertragen? An diesem Punkt wird deutlich, dass sich Christen und Muslime stets mindestens in einem Dreiecksverhältnis befinden. 9. So stehen beide Glaubensgemeinschaften im Kontext moderner Gesellschaften auch vor denselben oder zumindest vergleichbaren Herausforderungen und Aufgaben, wie Menschen in die individuelle und gemeinschaftliche Gebetspraxis eingeführt werden können. Auch hier besteht wohl ein grundlegender, durch jahrhundertelange Praxiserfahrung gestützter Konsens, dass dies nicht abstrakt-kognitiv gelehrt, sondern nur vorgelebt, nachgeahmt und praktisch eingeübt werden kann. Doch bloße Nachahmung überlieferter Formen und Inhalte kann wohl auf Dauer nicht genügen und befriedigen. Für die Muslime in der westlichen Diaspora stellt sich diese Herausforderung angesichts von veränderten Sozialisierungsbedingungen und sich wandelnden Lebens- und damit Sprachund Denkwelten zwar in besonderer Weise, aber nicht nur für sie: Wie können Menschen heute zur Verbalisierung eigener Erfahrungen und zu einer kreativen Gestaltung des persönlichen Gebetslebens befähigt werden, wie können ihnen Gebetstraditionen und die Bedeutung gemeinschaftlichen Betens erschlossen werden? Wie können Fehlformen des Gebets (magisches Verständnis v.a. im Bittgebet, Ritualismus, Leistungsfrömmigkeit etc.) korrigiert werden? Die interreligiöse Begegnung kann in dieser Hinsicht bereits in Gang gekommene Lernprozesse sicherlich begleiten und fortführen.
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Das Thema Gebet im christlich-islamischen Kontext ist so reich und vielfältig, dass eine Tagung allein nicht ausreicht, es auch nur annähernd erschöpfend zu behandeln. Aus den Diskussionen und behandelten Teilthemen ergeben sich jedoch zahlreiche Anstöße zur weiteren Reflexion und Vertiefung. So wäre es ein notwendiges Desiderat, etwa die zahlreichen Gebetssammlungen der islamischen Tradition mit Gebetsschätzen der christlichen Traditionen in Form und Inhalt zu vergleichen. Dabei könnten auch Untersuchungen über eventuelle religionsgeschichtliche Abhängigkeiten und wechselseitige Einflüsse aufschlussreich sein. Vor allem die Frage nach Berechtigung und Praxis der Klage im Gebet bedürfte noch einer weiteren Diskussion, weil darin möglicherweise noch einmal markante Unterschiede im Gottesverständnis und im konkreten Umgang mit Leiderfahrungen zur Geltung kommen. Auch das Verhältnis von Gebetstheologie einerseits und praktizierter Volksfrömmigkeit andererseits – etwa am Beispiel der Fürbitte der Heiligen – müsste noch näher erörtert werden. Besonders interessant und ergiebig für das christlich-islamische Verhältnis könnte außerdem eine vertiefte Beschäftigung mit den mystischen Strömungen in beiden Religionen sein. Wie kaum ein anderer Mystiker hat ÉalÁl-ad-DÐn RÙmÐ jene Erfahrung des sich nach Gott sehnenden Menschen in Worte fassen können, die wohl Christen und Muslime vereint. Nicht ohne Grund hat der schwedische Erzbischof und Religionswissenschaftler Nathan Söderblom im folgenden Text aus dem Mathnawi die christliche Erfahrung des Gnadengebetes wiedererkannt, wonach Gott im Gebet der Aktive und der sich selbst Schenkende ist: »›Oh Gott!‹ rief einer viele Nächte lang, und süß ward ihm sein Mund von diesem Klang. ›Viel rufst du wohl‹, sprach Satan voller Spott. ›Wo bleibt die Antwort ›Hier bin ich‹ von Gott? Nein, keine Antwort kommt vom Thron herab! Wie lange schreist du noch ›O Gott!‹ Laß ab!‹ Als er betrübt, gesenkten Hauptes, schwieg, sah er im Traum, wie Chidr1 niederstieg und sprach: ›Warum nennest du Ihn denn nicht mehr? Was du ersehnt – bereust du es so sehr?‹ 1
Chidr ist eine Gestalt aus der islamischen Tradition und Mystik, über deren Existenz und Identität unter den islamischen Gelehrten kein Konsens besteht. Manche identifizieren ihn mit Elias oder dem Hl. Georg.
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Er sprach: ›Nie kommt die Antwort: ›Ich bin hier.‹ So fürchte ich, Er weist die Türe mir!‹ Dein Ruf ›O Gott‹ ist Mein Ruf: ›Ich bin hier!‹ Dein Schmerz und Flehn ist Botschaft doch von Mir, und all dein Streben, um Mich zu erreichen – Daß Ich zu Mir dich ziehe, ist’s ein Zeichen! Dein Liebesschmerz ist Meine Huld für dich – Im Ruf ›O Gott!‹ sind hundert ›Hier bin ich!‹«2
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ÉalÁl-ad-DÐn RÙmÐ, Das Mathnawi. Ausgewählte Geschichten. Aus dem Pers. von Annemarie Schimmel, Basel 1994, 108 und 110.
Autorinnen und Autoren Martin Bauschke, Dr. theol., Leiter des Berliner Büros der Stiftung Weltethos
Reinhold Bernhardt, Dr. theol., Professor für Systematische Theologie an der Universität Basel
Michael Bongardt, Dr. theol., Professor für Katholische Systematische Theologie/Dogmatik an der Freien Universität Berlin Kenneth Cragg, PhD, Islamwissenschaftler, 1970–1973 anglikanischer Bischof in Kairo, danach in Chichester, Gastprofessor an verschiedenen Universitäten der Welt, Autor zahlreicher Bücher zum Islam Friedmann Eißler, Dr. theol., Wiss. Angestellter am Lehrstuhl für Religionswissenschaft und Judaistik an der Universität Tübingen Elhadi Essabah, Dr. phil., Habilitand an der Universität Tübingen, Passau Ansgar Franz, Dr. theol., Professor für Liturgiewissenschaft an der Universität Mainz
Mohammed Heidari, Dr. phil., Leiter der interkulturellen Bildungsinitiative pro-dialog, Köln
Klaus Hock, Dr. theol., Professor für Religionsgeschichte/Religion und Gesellschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock Martin Jäggle, Dr. theol., Professor für Religionspädagogik an der Universität Wien
Assaad E. Kattan, Dr. theol., Professor für Orthodoxe Theologie am Centrum für Religiöse Studien der Universität Münster Stephan Leimgruber, Dr. theol., Professor für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Universität München 245
Hamideh Mohagheghi, Islamwissenschaftlerin und Juristin, freiberufliche Bildungsreferentin, Hannover
Andreas Obermann, Dr. theol., Privatdozent an der Universität Bonn, Pfarrer in Wuppertal
Heikki Räisänen, Dr. theol., Professor für neutestamentliche Exegese an der Universität Helsinki
Andreas Renz, Dr. theol., Ökumenereferent des Bistums Hildesheim und Dozent am Priesterseminar Hansjörg Schmid, Dr. theol., Referent an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart mit Arbeitsschwerpunkt christlich-islamischer Dialog
Jutta Sperber, Dr. theol., Pfarrerin der Bayerischen Landeskirche und Habilitandin im Fach Religions- und Missionswissenschaften, Bayreuth Abdullah Takım, Dr. phil., Islamwissenschaftler, Herne Christian W. Troll SJ, PhD, Honorarprofessor der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt, Mitglied des Päpstlichen Rates für den Interreligiösen Dialog Catherina Wenzel, Dr. theol., Wiss. Assistentin am Seminar für Religions- und Missionswissenschaft der Humboldt-Universität Berlin
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Zum Buch Das Gebet ist zentraler Ausdruck der Gott-Mensch-Beziehung in Christentum und Islam. Muslimische und christliche WissenschaftlerInnen untersuchen vergleichend die Theologie des Gebets, die verschiedenen Gebetsformen und das Verhältnis von Gebet und Leiblichkeit. Außerdem fragen sie nach dem Beitrag des Gebets zur religiösen Identität in der säkularen Gesellschaft sowie nach Möglichkeiten und Grenzen gemeinsamen Betens. Erstmals wird anhand der jeweiligen Gebetspraxis die Dialektik von Nähe und Distanz beider Religionen kontrovers diskutiert. Zur Reihe Die Reihe „Theologisches Forum Christentum – Islam“ bietet eine neuartige Diskussionsplattform mit dem Ziel einer theologischen Verhältnisbestimmung von Christentum und Islam. Zu den Herausgebern Hansjörg Schmid, Dr. theol., ist Referent an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart mit Arbeitsschwerpunkt christlich-islamischer Dialog. Andreas Renz, Dr. theol., ist Fachreferent für Ökumene und interreligiösen Dialog im Erzbischöflichen Ordinariat München; Lehrbeauftragter an der Universität München. Jutta Sperber, Dr. theol., Bayreuth, ist Pfarrerin der evangelischlutherischen Kirche in Bayern und Habilitandin im Fachbereich Missions-, Religionswissenschaften und Ökumenik.
Theologisches Forum Christentum – Islam in den Hohenheimer Protokollen Hansjörg Schmid/Andreas Renz/ Jutta Sperber (Hg.) Heil in Christentum und Islam. Erlösung oder Rechtleitung? Theologisches Forum Christentum – Islam (Hohenheimer Protokolle 61) Stuttgart 2004, 255 S., ISBN 3-926297-93-X, 12 € mit Beiträgen von Stefan Schreiner, Claude Gilliot, Andreas Renz, Friedmann Eißler, Martin Bauschke, Christian W. Troll, Heikki Räisänen, Ulrich Schoen, Anja Middelbeck-Varwick, Christiane Paulus, Klaus Hock, John B. Taylor und Assaad E. Kattan „Mehr als freundliche Worte und Religionsfolklore“ (Zeitzeichen - evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft) „Ein sehr gelungener Beleg für die Überzeugung, dass der interreligiöse Dialog auf absehbare Zeit eines der spannendsten Felder der Theologie ist.“ (Theologische Zeitschrift, Basel)
Bestellung: Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Im Schellenkönig 61, 70184 Stuttgart, www.akademie-rs.de., Tel.: 0711-1640-600, Fax: -777
Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Theologisches Forum Christentum – Islam in den Hohenheimer Protokollen Hansjörg Schmid/Andreas Renz/ Jutta Sperber (Hg.) Herausforderung Islam. Anfragen an das christliche Selbstverständnis Theologisches Forum Christentum – Islam (Hohenheimer Protokolle 60) 2. Auflage Stuttgart 2005, 176 S., ISBN 3-926297-90-5, 12 € mit Beiträgen von Hans Zirker, Ulrich Schoen, Christian W. Troll, Oliver Lellek, Stephan Leimgruber, Raymund Schwager, Hans-Martin Gloël, Volker Meißner und Thomas Lemmen „Ein interessantes Buch, das auch bei theologisch interessierten moslemischen Lesern auf Resonanz stoßen könnte.“ (Moslemische Revue) „Die so unterschiedlichen Themen und Blickwinkel, die in den Buchbeiträgen ihren Niederschlag finden, spiegeln gut die derzeitige Situation der christlich-islamischen Beziehungen und zeigen die Stellen auf, wo Diskussions- und Klärungsbedarf besteht.“ (KNA – Ökumenische Information) Bestellung: Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Im Schellenkönig 61, 70184 Stuttgart, www.akademie-rs.de., Tel.: 0711-1640-600, Fax: -777
Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart