Leben in Gottes Gegenwart: Beiträge zur Theologie und Anthropologie des Alten Testaments [1 ed.] 9783788735142, 9783788735128


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Leben in Gottes Gegenwart: Beiträge zur Theologie und Anthropologie des Alten Testaments [1 ed.]
 9783788735142, 9783788735128

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B E R N D

J A N O W S K I

LEBEN IN

GOTTES GEGENWART Beiträge zur Theologie und Anthropologie des Alten Testaments 7

Bernd Janowski

Leben in Gottes Gegenwart Beiträge zur Theologie und Anthropologie des Alten Testaments 7

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 – Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D – 37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.sonnhueter.com DTP: Volker Hampel, Neukirchen-Vluyn

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978–3–7887–3514–2

Vorwort Die Reihe meiner Gesammelten Beiträge habe ich 1993 mit dem Band Gottes Gegenwart in Israel begonnen (Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 1, Neukirchen-Vluyn 1993/22004). Der Titel des vorliegenden Bandes greift das Stichwort „Gottes Gegenwart“ noch einmal auf, fügt ihm aber den Aspekt „Leben“ hinzu. Mit Leben in Gottes Gegenwart ist das menschliche Leben gemeint, das und sofern es mit Gott geführt wird. Und das, obwohl es mit Gott geführt wird, in Turbulenzen geraten kann. Es gehört zu den Stärken des Alten Testaments, dass die dunklen Seiten des Lebens nicht verschwiegen werden, sondern zur Sprache kommen und im Licht der Gegenwart Gottes ,aufgehellt‘ und geheilt werden. Davon handelt dieses Buch. Den Anfang machen zwei Studien zum Zusammenhang von Menschenbild und Personbegriff, die diesen Konnex anhand der anthropologischen Grundfrage von Psalm 8 (Beitrag 1) sowie am Beispiel der sog. Persönlichkeitszeichen wie Name, Körper und Kleid (Beitrag 2) erläutern und konkretisieren. Nach diesen mehr grundsätzlichen Ausführungen wird die Frage nach dem Menschen und seiner Stellung vor Gott und in der Welt anhand von drei zentralen Themenfeldern – Anerkennung und Empathie (Beiträge 3 bis 5), Gottverlassenheit und Rettung (Beiträge 6 und 7) sowie Versöhnung und Opfer (Beiträge 8 und 9) – entfaltet und beantwortet. Mit den Schlussbeiträgen zum Zusammenhang von Gottesbild und Lebenswelt (Beiträge 10 bis 12) kommen schließlich Aspekte zur Sprache, die für das alttestamentliche Gottes- und Menschenbild nicht weniger zentral sind. Bei der Einrichtung des Bandes konnte ich mich wieder auf die kompetente und zuverlässige Hilfe von Herrn Dr. V. Hampel, Neukirchen-Vluyn, verlassen, der für alle Beiträge das Layout erstellt, Druckfehler stillschweigend bereinigt und das Ganze dankenswerter Weise zu einem guten Ende gebracht hat. Ebenso dankbar bin ich Frau stud. theol. M. Wörner, Tübingen, für die Korrekturarbeiten sowie Frau Dr. A. Krüger, Hamburg, für die Anfertigung des Registers. Last but not least danke ich Herrn Dr. I. de Hulster vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die umsichtige verlegerische Betreuung des Bandes. Tübingen, im Januar 2021

Bernd Janowski

Inhalt Vorwort ..................................................................................

V

I Menschenbild und Personbegriff .........................................

1

1

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ Psalm 8 und seine intertextuellen Bezüge ......................

3

Persönlichkeitszeichen Ein Beitrag zum Personverständnis des Alten Testaments

37

II Anerkennung und Empathie ................................................

63

2

3

„JHWH kennt den Weg von Gerechten“ (Ps 1,6) Der Psalter und das Ethos der Anerkennung ..................

65

„JHWH tue an euch Güte, wie ihr sie an den Toten und an mir getan habt“ (Ruth 1,8) Zum Ethos der Hingabe im Buch Ruth ...........................

97

Der Schmerz Gottes Zu einem wichtigen Zug im biblischen Gottesbild .........

115

III Gottverlassenheit und Rettung .............................................

137

4

5

6

Der Angst widerstehen Psalm 22 und der Resilienzbegriff ..................................

139

„Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“ Zur Rezeption der Psalmen in der Markuspassion .........

169

IV Versöhnung und Opfer .........................................................

201

7

8

Schuld, Versöhnung, Stellvertretung Drei biblische Grundbegriffe (Mit einem Anhang zur Begriffsgeschichte) ...................

203

VIII 9

Inhalt

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“ (Ps 51,19) Zur Transformation des Opfers in den Psalmen .............

253

V Gottesbild und Lebenswelt ...................................................

283

10

Die „Übernachtung“ der Gerechtigkeit Zum Gottes- und Menschenbild in Jes 1,21–26 .............

285

„Bis an den Himmel reicht deine Güte“ (Ps 36,6) Zum Thema „Gott und Raum“ in den Psalmen (Mit einem Anhang zu den Raumkonzepten im Psalter)

301

Hymnen und Gebete in Israel und in seiner Umwelt Komparatistische Aspekte (Mit einem bibliographischen Anhang) ..........................

349

Stellenregister (Auswahl) ......................................................

373

Nachweis der Erstveröffentlichungen ..................................

377

11

12

I Menschenbild und Personbegriff

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ Psalm 8 als Grundtext biblischer Anthropologie Hartmut Gese zum 90. Geburtstag Es gibt nur wenige biblische Texte, die theologisch und anthropologisch so gehaltvoll sind wie der kurze, zehn Verse umfassende Ps 8.1 Das belegt nicht zuletzt auch seine intensive Rezeption vom Neuen Testament (Mt 21,16; 1 Kor 15,27; Eph 1,22; Hebr 2,6f)2 über die 2000-jährige Christentumsgeschichte bis hin zur theologischen Anthropologie der Gegenwart.3 Im Folgenden werden zunächst die kompositorischen, semantischen und motivlichen Aspekte des Textes (I–II) und sodann seine intertextuellen Bezüge untersucht (III). Den Schluss bildet eine Zusammenfassung der Hauptergebnisse (IV). I.

Text und Komposition

Ps 8 besteht aus zwei hymnischen JHWH-Prädikationen (V. 2b–3 und V. 4–9), die in V. 2a und V. 10 von zwei Bewunderungsrufen auf den auf der ganzen Erde präsenten Gottesnamen gerahmt werden. Der kurze und schöne Text hat folgenden Wortlaut: 1 Dem Musikmeister. Nach der gittitischen Weise. Ein Psalm Davids. 2 JHWH, unser Herr, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde! Der du deine Hoheit gelegt (‹ gegeben) hast auf den Himmel – 3 aus dem Mund von Kindern und Säuglingen hast du eine Macht gegründet um deiner Bedränger willen, um zum Aufhören zu bringen Feind und Rächer. 4 Wenn ich deinen Himmel sehe, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die du befestigt hast – 1 Die folgenden Überlegungen sind Hartmut Gese zu seinem runden Geburtstag gewidmet. In seiner großartigen Tübinger Psalmen-Vorlesung, die ich in meiner Studienzeit gehört habe, nahm Ps 8 einen zentralen Platz ein. Allzu gerne hätte man diese Ausführungen auch in schriftlicher Form zur Kenntnis genommen, denn der verehrte Lehrer besaß die Gabe, die Poetik und Theologie der Psalmen nachhaltig zum Leuchten zu bringen. Mögen diese wunderbaren Texte ihn auch im neuen Lebensjahr begleiten – ad multos annos! 2 S. dazu Brünenberg, Mensch und Hartenstein / Janowski, Psalmen, 328ff (Janowski). 3 S. dazu Schoberth, Einführung, 31ff; Gillingham, Psalm 8, 167ff und Sauter, Leben, 38ff.

4

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ 5 6 7 8 9 10

Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und das Menschenwesen, dass du nach ihm siehst? Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, und mit Ehre und Pracht hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrscher gemacht über die Werke deiner Hände, alles hast du gelegt unter seine Füße: Kleinvieh und Rinder, sie alle, und auch die Tiere des Feldes, die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres, was immer dahinzieht auf den Pfaden der Meere. JHWH, unser Herr, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde!

Bemerkungen zum Text4 V. 1: Die unklare musikalisch-technische Angabe tytghAl[ „nach der gittitischen (Weise)“ (?), „nach der Kelterlied-Melodie“ (?) (vgl. Ps 81,1; 84,1) wird in LXX als Pl. von tg „Kelter“ gedeutet („über die Keltern“), s. dazu ausführlicher Hartenstein / Janowski, Psalmen, 292.300 (Janowski) – V. 2a: Der masoretische Text ist eine berühmte crux interpretum, zum einen im Blick auf die Syntax der Relativpartikel rva (+ folgende Verbform) und zum anderen im Blick auf die Form und Vokalisation von hnt. Zu den verschiedenen Lösungsvorschlägen s. Neumann-Gorsolke, Herrschen, 22ff und Schnieringer, Psalm 8, 27ff. Gegenüber den Versuchen, das Problem entweder literarkritisch (Spieckermann, Heilsgegenwart, 229f; Köckert, „Wo warst du?“, 35ff u.a.) oder religionsgeschichtlich (Crüsemann, Macht, 57ff; Görg, Eulogie, 299ff u.a.) zu lösen, empfiehlt es sich, mit Hupfeld, Psalmen I, 149ff und einem Teil der alten Versionen (Syr: djhbt/qui dedisti, sæ: o}" e[taxa", vgl. Hier, anders LXX: ejphvrqh „erhoben ist“) eine Form von ˜tn zu konjizieren, und zwar entweder die AK-Form httn „du hast gegeben“ (vgl. Irsigler, Psalm 8,5; Neumann-Gorsolke, Herrschen, 32f u.a.) oder die PK-Form ˜tt „du gibst“ (vgl. Schnieringer, Psalm 8, 36f.42f). Für die Konjektur httn „du hast gegeben“ sprechen – allerdings ohne letzte Sicherheit zu erreichen! – mehrere Gründe: zum einen (1) die syntaktische Parallelität von V. 2b und V. 3aa und zum anderen (2) die gut bezeugte Wortfügung l[ dwh ˜tn „Hoheit legen auf jemanden“ (Num 27,20; 1 Chr 29,25; Dan 11,21, vgl. Ps 21,6). Und schließlich (3) ergibt sich auf diese Weise „ein Vorausverweis auf die Rede vom Schöpfungswirken Jahwes am Himmel in V.4“ (Irsigler, Frage, 5). Danach ist V. 2b nicht als Relativsatz zu V. 2a, sondern als „pendierender Subjektsatz am relativen Beginn einer hymnischen Sequenz“ (Irsigler, Frage, 5) zu V. 3 zu ziehen; zum anknüpfenden rva, das einen hymnischen Vers eröffnet, ist vor allem Ps 95,4f (weniger eindeutig Ps 71,19f) zu vergleichen. – V. 5a: Im Unterschied zum Gattungsbegriff vwna „Mensch, Menschen, Menschheit“ (42-mal im AT, nie mit Artikel) bedeutet das parallele 4 Die folgenden Bemerkungen stellen lediglich eine Auswahl dar, s. dazu ausführlicher Hartenstein / Janowski, Psalmen, 292f (Janowski).

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

5

μdaA˜b „einzelner Mensch, Menschenkind“; das Syntagma bezeichnet also die Zugehörigkeit zur Gattung „Mensch“, vgl. Ges18, 156f s.v. ˜b Ziffer 8. – V. 6b: μyhla wird von LXX mit a[ggeloi „Engel“ übersetzt, s. dazu aber Schnieringer, Psalm 8, 19; Neumann-Gorsolke, „Ehre“, 60f mit Anm. 116 und Bons / Brucker, Buch der Psalmen, 349. Im Übrigen spricht die Differenz zwischen JHWH in V. 2a/10 und μyhla in V. 6a dafür, dass μyhla hier ein Gattungsbegriff ist, vgl. Schmidt, Schöpfungsgeschichte, 141 Anm. 5. – V. 9a: Das Ptz. qal m. Sg. des semantisch unspezifschen rb[ „einherziehen, seines Weges gehen, vorübergehen“ drückt eine andauernde Aktion, nämlich das ständige Dahinziehen der Meeresbewohner aus. Wegen der Numerusdifferenz kommt ein Bezug auf das vorhergehende Syntagma μyh ygd („die Fische des Meeres“) nicht in Frage. Nach Schnieringer, Psalm 8, 283f tritt mit V. 9b neben den in V. 8.9a genannten Tierklassen keine neue Tierklasse (mythischer Meeresdrache o.ä.) auf. Es dürfte sich um einen kollektiven Sg. handeln, der entweder additiv oder – wahrscheinlicher – explikativ an V. 9ab anschließt. Die fehlende Kopula vor V. 9b unterstützt diese Auffassung. Abgesehen von der Überschrift V. 1 besteht Ps 8, der so etwas wie ein „poetisches Kompendium klassischer psalmtheologischer Anthropologie“5 darstellt, aus zwei hymnischen JHWH-Prädikationen (I: V. 2b–3 und II: V. 4–9), die von den beiden Bewunderungsrufen V. 2a und V. 10 gerahmt werden. Dabei spricht der inkludierende Refrain V. 2a / 10 dafür, V. 2b nicht als Relativsatz zu V. 2a zu verstehen, sondern als „pendierenden Subjektsatz am relativen Beginn einer hymnischen Sequenz“6 zu V. 3 zu ziehen.7 Während V. 4–9 vom königlichen Menschen und seiner Herrschaft über die Tierwelt sprechen, handeln V. 2b–3 vom Schöpfungswirken JHWHs an den Kindern und Säuglingen, die zur Überwindung seiner (!) Feinde aufgeboten werden. Die beiden Abschnitte V. 2b–3 und V. 4–9 beginnen mit dem Motivwort „Himmel“ (V. 2b.4) und schildern jeweils JHWHs Wirken auf der Erde, zum einen als Überwindung der Feinde durch den „Mund“ der Kinder und Säuglinge (V. 3) und zum anderen als Einsetzung des Menschen in die Königsherrschaft über die Tiere (V. 6– 9). Diese oft beobachtete Parallelstruktur hat durch O.H. Steck eine Zuspitzung erfahren, auf die kurz einzugehen ist. Nach Steck8 gliedern sich V. 2b–9 in die beiden sachlich parallelen Aussagenreihen V. 2b–3 und V. 4 + V. 5–9, wobei die Position von V. 4 analog zu derjenigen von V. 2b bestimmt und der Aspekt „Bändigung der Tiere“ (V. 5–9) als Entfaltung des Aspekts „Bändigung von Feinden“ verstanden wird: 5 6 7 8

Spieckermann, Heilsgegenwart, 237. Irsigler, Frage, 5. S. dazu die Bemerkungen zum Text oben 4. S. dazu Steck, Beobachtungen, 221ff.

6

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ 2b–3 JHWHs Schöpferwirken auf Erden zur Bändigung von Feinden 4–9

JHWHs Schöpferwirken auf Erden zur Bändigung der Tiere

Während Steck mit einer „stilistischen Zäsur zwischen V.4 und V.5“9 rechnet, sind die beiden Verse als Anakoluth (V. 4) und als verwunderte Frage (V. 5) aufeinander bezogen, was auch durch die korrespondierende Blickrichtung – vom Menschen zu Gottes Werken (har „sehen“ V. 4) und von Gott zum Menschen (rkz „gedenken“ // dqp „nachsehen, in Augenschein nehmen“ V. 5) – unterstrichen wird. Mit V. 6 beginnt dann eine bis V. 9 reichende Stanze, bei der die vergangenheitlichen Verbformen in V. 6a (wa=yiq-tol) und V. 7b (x-qatal) eine rahmende Funktion haben und auch die Verbformen in V. 6b (w·=x-yiqtol) und V. 7a (yiqtol-LF) individuelle Sachverhalte der Vergangenheit zum Ausdruck bringen.10 Die Klassifikation der Tierarten in V. 8f ist weltbildhaft angelegt und konkretisiert die Stellung des königlichen Menschen in der Schöpfung durch die Angabe der Herrschaftsbereiche: 4 5

6 7 8 9

Wenn ich deinen Himmel sehe, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die du befestigt hast – Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und das Menschenwesen, dass du nach ihm siehst?

Mensch → Gottes Werke

Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, und mit Ehre und Pracht hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrscher gemacht über die Werke deiner Hände, alles hast du gelegt unter seine Füße: Kleinvieh und Rinder, sie alle, und auch die Tiere des Feldes, die Vögel des Himmels und die Fische des des Meeres, was immer dahinzieht auf den Pfaden der Meere.

wa=yiqtol

Mensch ← Gott

w·=x-yiqtol yiqtol-LF x-qatal Erde Himmel, Meer Meer

Die eigentliche Schwierigkeit der Ausführungen von Steck besteht allerdings in seiner These, dass V. 4–9 die „sachliche Entfaltung“11 von V. 2b–3 darstellen und „die Totalität von V.3 … nur die Tierwelt auf Erden in ihrer 9 Steck, Beobachtungen, 222. 10 Vgl. Irsigler, Frage, 13 Anm. 26 und Schnieringer, Psalm 8, 142. 11 Steck, Beobachtungen, 225, vgl. Görg, Mensch, 309ff, der von einer „Kommentierung“ von V. 2f durch V. 4–9 spricht und für die Wendung „Kinder und Säuglinge“ (V. 3a) ein metaphorisches Verständnis im Rahmen ägyptischer Königsmythologie vorschlägt. Zu dieser auch von Steck, Beobachtungen, 221ff und Schnieringer, Psalm 8, 69f.317ff vertretenen Deutung s. aber Irsigler, Frage, 7 Anm. 16 und Neumann-Gorsolke, Herrschen, 28f.69ff.

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

7

Gesamtheit sein (kann)“12. Das überzeugt, wie die Kritik von U. NeumannGorsolke gezeigt hat,13 weder im Blick auf V. 3 noch im Blick auf V. 6–9. Das muss hier nicht wiederholt werden. Nur soviel sei angemerkt, dass die Formulierung von V. 7b („alles hast du gelegt unter seine Füße“) nicht einen Akt der „Bändigung der Tiere“14 meint und auch die Haustiere (!) von V. 8a („Kleinvieh und Rinder, sie alle“) kaum als Feinde des Menschen gelten können. Es sprechen also gewichtige Einwände gegen Stecks These der sachlichen „Gleichsinnigkeit“ von V. 2b–3 und V. 4–9. Wie demgegenüber ihr Verhältnis zu profilieren ist, wird noch zu fragen sein.

Inhaltlich lassen sich V. 2b–3 als „ein Vorausverweis auf die Rede vom Schöpfungswerk Jahwes am Himmel in V. 4“15 verstehen. Die folgende Skizze, die auch Angaben zur Redesituation enthält, kann diese Struktur zusammenfassend verdeutlichen:16 1

Überschrift

Redesituation

2a

Bewunderungsruf in Anrede JHWHs (Thema)

Wir-Rede

2b–3

Wir/Ich-Rede (?)

Hymnische JHWH-Prädikation I JHWHs Schöpferwirken am Himmel (2b) JHWHs rettendes Wirken auf der Erde (3): a Machtstellung von Kindern und Säuglingen b Überwindung der Feinde und Gottesleugner

4–9

Hymnische JHWH-Prädikation II

Ich-Rede

Verwunderte Frage: „Was ist der Mensch?“ (4f) 4 Vordersatz zu 5: Blick zum Himmel 5 Fragesatz: Wesen des Menschen Rühmende Antwort: Der königliche Mensch (6–9) 12 Steck, Beobachtungen, 229. 13 S. Neumann-Gorsolke, Herrschen, 48 Anm. 37; 123ff. 14 So Steck, Beobachtungen, 226. 15 Irsigler, Frage, 5. 16 Zu den unterschiedlichen Gliederungsvorschlägen s. van der Lugt, Cantos I, 142ff; Irsigler, Frage, 10 Anm. 23 und ausführlich Schnieringer, Psalm 8, 106ff. Für die Redesituation des Psalms ist kaum mit einem Wechselgesang von „Wir“ (V. 2a.10, auch V. 2b–3?) und „Ich“ (V. 4–9) zu rechnen. Denn auch die beiden Bewunderungsrufe in V. 2a und V. 10 sind „durchaus im Munde eines Einzelbeters, der sich mit der Israel-Gemeinde solidarisiert, vorstellbar … Wir werden daher situativ mit einem Einzelbeter zu rechnen haben, der in der Rolle eines typischen, nicht biographischen ,Ich‘ den Psalm insgesamt vorträgt“ (Irsigler, Frage, 36), vgl. auch Schnieringer, Psalm 8, 200 und Floß, YHWH, 35.37f, der im Übrigen für V. 2a–10 mit einem einzigen Sprecher rechnet.

8

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ 6 Ausstattung mit „Ehre“ und „Pracht“ 7ff Herrschaft über die Tierwelt: Einsetzung in die Königsherrschaft (7) Taxonomie der Herrschaftsbereiche (8) 10

Bewunderungsruf in Anrede JHWHs (Thema / Resümee)

Wir-Rede

Es geht in Ps 8 demnach um die Position des Menschen in der Schöpfung (V. 6–9) angesichts des auf der ganzen Erde akklamierten Gottesnamens (V. 2a.10) und um die machtvolle Manifestation dieses Namens durch den Menschen (V. 2b–3) – obwohl dieser schwach und klein ist („Kinder und Säuglinge“). Beide Zusammenhänge geben eine Antwort darauf, was der Mensch von Gott her ist (V. 4f). Allerdings: Ist für V. 2b–3 und V. 4–9 überhaupt mit einem ursprünglichen – und nicht erst sekundär hergestellten – Zusammenhang zu rechnen? Gegen die Annahme, dass V. 2b–3 und 4–9 eine spannungsfreie thematische Einheit darstellen, sind besonders von H. Schnieringer inhaltliche Einwände erhoben worden.17 Dazu zählen für ihn zum einen der Sachverhalt, dass das Handeln JHWHs in V. 6–9 im Schöpfungskontext, in V. 3 dagegen im Geschichtskontext erfolge, eine „schöpfungshafte Ausstattung“18 der Kinder und Säuglinge mithin auszuschließen sei. Und zum anderen die Beobachtung, dass in V. 5ff von einem heilvollen Handeln JHWHs an allen Menschen (kollektiv), in V. 3 dagegen von einem Handeln an einer bestimmten Menschengruppe (exklusiv) gesprochen werde. Die Schwierigkeiten, V. 3 sinnvoll in den Grundtext einzuordnen, scheinen damit unüberwindlich zu sein. Dem hat allerdings U. Neumann-Gorsolke widersprochen und überzeugende Argumente zum Verständnis von V. 3 vorgetragen,19 die vom vorliegenden Text und seinem Kontext, nämlich der Teilkomposition Ps 3–14, ausgehen. Darauf wird zurückzukommen sein.20

II.

Semantische und motivliche Aspekte

1.

Bewunderungsruf (V. 2a / 10)

Mit den beiden Rahmenversen, die in V. 2a und V. 10 mit dem appositionell erweiterten Vokativ „JHWH, unser Herr“ ein deutliches 17 S. dazu Schnieringer, Psalm 8, 97, vgl. 100. 18 Schnieringer, Psalm 8, 98. 19 S. dazu U. Neumann-Gorsolke, „Mund“, 17ff. 20 S. dazu unten 11ff. Als Entstehungszeit von Ps 8 kommt die frühnachexilische Epoche (5. Jh. v.Chr.?) und hier ein Datum in den Blick, für das Hi 7,17f, wo Ps 8,5 rezipiert und auch transformiert wird (s. dazu unten 19ff), einen terminus ante quem bildet, s. dazu ausführlicher Hartenstein / Janowski, Psalmen, 298ff (Janowski).

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

9

Aufmerksamkeitssignal setzen, wird die theozentrische Perspektive des Psalms markiert. Das zeigen auch die Suffixe der 2. Pers. Sg. (V. 2a.b; 3a; 4a [2-mal]; 7a; 10a) und die Verbalsätze, die JHWH zum Subjekt haben (V. 2b; 3a; 4b; 5a.b; 6a.b; 7a.b). Es geht also „eindeutig um das, was der Mensch von Gott her ist“21, und nicht um die Selbstermächtigung des Menschen zu eigenem Tun. Die beiden Rahmenverse werden von einem „Wir“ gesprochen,22 das in einen Bewunderungsruf über die machtvolle Präsenz des Gottesnamens auf der Erde ausbricht. Ein derartiger, mit dem Modalwort hm „was“ gebildeter Bewunderungsruf begegnet auch in Ps 104,24, wo er am Ende des auf die Erde als Lebensraum bezogenen Abschnitts Ps 104,10–24 steht: Wie (hm) zahlreich sind deine Werke, JHWH, sie alle hast du in Weisheit gemacht, voll (ist) die Erde von deinem Erschaffenen!

Im Unterschied zu Ps 104,24 geht es in Ps 8,2a.10 aber nicht um die Quantität der Schöpfungswerke,23 sondern um die Qualität des Gottesnamens „auf der ganzen Erde“ (≈rahAlkb).24 ≈ra bezeichnet hier nicht „die gesamte Welt, den Kosmos, das All“25, sondern die Erde im Gegensatz zum Himmel.26 Hier hat der Gott, der seine „Hoheit“ auf den Himmel gelegt hat (V. 2b) und zu dessen Himmel der Beter ehrfürchtig aufschaut (V. 4), keinen anderen Herrn (˜wda) neben oder gar über sich (vgl. Jos 3,11.13; Mi 4,13; Sach 4,14; 6,5; Ps 97,5). Die durch das prädikative Adjektiv ryda „gewaltig, mächtig“ bezeichnete Eigenschaft, die dem „Namen“ (μv) JHWHs beigelegt wird, charakterisiert nicht das innere Wesen ihres Trägers, sondern dessen nach außen wirkende Präsenz auf der ganzen Erde. Der Name bezeichnet das, was von seinem Träger als machtvoll-wirksame Präsenz bekannt ist (objektive Gegebenheit), und zugleich das, was von ihm als Manifestation seines Wirkens wahrgenommen wird (subjektive Wahrnehmung). Die Gehalte des Gottesnamens, die dabei aktiviert werden, dürften am ehesten die mit dem Epitheton ˜wda „Herr“ (vgl. wnwda V. 2a), dem Prädikat ryda „gewaltig, mächtig“ (V. 2a) und dem Schöpferwirken JHWHs (V. 4) verbundenen Aspekte der Macht und Herrlichkeit sowie die mit der Zuwendung Gottes zum Menschen („geden21 Irsigler, Frage, 11 (Hervorhebung im Original). 22 Zur Redesituation s. die Hinweise oben Anm. 16. 23 S. dazu Krüger, Lob des Schöpfers, 53f.297ff. 24 Vgl. Ps 36,8 (Güte Gottes); Ps 66,3 (Werke Gottes); Ps 92,6 (Werke Gottes) und Ps 139,17 (Absichten Gottes) 25 Köckert, „Wo warst du?“, 38, vgl. Seybold, Psalmen, 50. 26 Vgl. Irsigler, Frage, 17; Schnieringer, Psalm 8, 203.207f.

10

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

ken“ / „nach jemandem sehen“ V. 5) verbundenen Aspekte der Gnade und Hilfe sein. Dafür gibt es im Psalter und speziell in den Teilkompositionen Ps 3–14 und Ps 15–24 markante Vergleichstexte: Ich will JHWH loben gemäß seiner Gerechtigkeit und preisen den Namen JHWHs, des Höchsten. (Ps 7,18) 2 Ich will dir danken, JHWH, mit meinem ganzen Herzen, ich will erzählen alle deine Wundertaten. 3 Ich will mich freuen und frohlocken über dich, ich will preisen deinen Namen, Höchster, 4 während meine Feinde zurückweichen müssen, sie straucheln und gehen zugrunde vor deinem Angesicht. (Ps 9,2–4) 1b JHWH ist mein Hirte, ich habe keinen Mangel, 2 auf grünen Weiden lässt er mich lagern, an Wasser der Ruhe führt er mich, 3 meine Lebenskraft erneuert er. Er führt mich auf Bahnen der Gerechtigkeit um seines Namens willen. (Ps 23,1b–3)27

Die Wirkmächtigkeit Gottes erweist sich nach Ps 8 nicht in gewaltigen Naturerscheinungen wie etwa in Hi 38,1ff, sondern in der Überwindung der Feinde durch den „Mund“ von Kindern (V. 2b–3) und in der Einsetzung des Menschen in die Königsherrschaft über die Tiere (V. 4f.6–9). Diese Qualität ist es, die die Bewunderung der „Wir“ in den Rahmenversen V. 2a.10 und die hymnische Explikation des Beters in V. 2b–9 auslöst. 2.

Hymnische JHWH-Prädikation I (V. 2b–3)

Das Korpus des Psalms setzt in V. 2a mit einem abrupten Wechsel der Blickrichtung von der Erde zum Himmel ein, der als Ort der machtvollen Präsenz Gottes, nämlich seiner „Hoheit“ (dwh), qualifiziert wird (V. 2b). Diese Hoheit JHWHs ist königlich konnotiert (vgl. Ps 93,1; 96,6/1Chr 16,27, ferner Ps 29,1; 96,7 u.ö.) und zugleich das Korrelat zu der von JHWH auf Erden gegründeten „Macht“ (z[) gegen seine Feinde (V. 3).28 Wenn man V. 2b nicht als Relativsatz zu V. 2a, sondern als „pendierenden Subjektsatz“ zu V. 3 zieht,29 ergibt sich die Möglichkeit, V. 2b–3 zum Grundtext des Psalms zu rechnen und in dieser Hymnischen JHWH-Prädikation I einen Vorausverweis auf die Rede vom 27 S. dazu Schnieringer, Psalm 8, 203f. Zur Namenstheologie von Ps 23 s. Janowski, Der gute Hirte, 162ff. 28 Zur Bedeutung von z[ „Macht, Bollwerk“ s. im Folgenden. 29 S. dazu Irsigler, Frage, 5 und die Bemerkungen zum Text oben 4.

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

11

Schöpferwirken JHWHs in V. 4 zu sehen. Allerdings bleibt die notorische Schwierigkeit bestehen, wonach die „Gründung“ des Bollwerks seitens JHWHs durch den „Mund“ von Kindern und Säuglingen vermittelt sein soll. Schon B. Duhm hatte daran Anstoß genommen und den Vers kurzerhand für „mißlich“ erklärt: „Wie kann ,aus‘ dem Munde der Kinder, der Säuglinge eine Macht ,gegründet‘ werden, eine Macht ,wegen‘ der Feinde Gottes! Aber selbst wenn man an der Hand von II Mak 3,18ff. einen Fall konstruieren wollte, wo vorzüglich das Klagen der Säuglinge, also höchsten dreijähriger Kinder, die ,Gemeinde‘ gegen Gottes Feinde beschützt hätte, so wüßte man noch nicht, was das in diesem Zusammenhang sollte, was es mit Gottes Lichtglanz am Himmel, mit den Gestirnen, mit Schafen, Rindern, Vögeln, Fischen und der Herrschaft der Menschen über sie zu tun hätte.“30

Wie die Forschungsgeschichte zeigt,31 ist dieses Problem nicht so einfach zu lösen. Zuletzt hat H. Schnieringer32 die These vertreten, dass V. 3 nicht sinnvoll in den Grundtext des Psalms einzuordnen ist. Da die von ihm dafür genannten Gründe aber weder der Metaphorik von z[ „Macht, Bollwerk“ noch der Feindproblematik gerecht werden, ist die Frage nach dem Verständnis von V. 3 neu aufzurollen. Wichtige Hinweise dazu hat U. Neumann-Gorsolke gegeben,33 indem sie nicht den Umweg über die altorientalische Religionsgeschichte34 oder die moderne Kinderpsychologie35 nimmt, sondern vom vorliegenden Text und seinen Stichwort- und Motivverbindungen mit der Teilkomposition Ps 3–14 ausgeht.36 Zunächst: Wenn man an der masoretischen Verseinteilung von V. 3 festhält, ergibt sich ein synthetischer Parallelismus zwischen V. 3a und V. 3b, wobei der finale Sinn von V. 3b („um zum Aufhören zu bringen …“) der Aussageintention der präpositionalen Wendung ˜[ml in V. 3a („um deiner Bedränger willen“) entspricht, „während das tybvhl die Gründung der Machtstellung (V. 3a) in ihrer Funktion präzisiert“37:

30 Duhm, Psalmen, 34f. 31 S. dazu Neumann-Gorsolke, Herrschen, 67ff. 32 S. dazu Schnieringer, Psalm 8, 97f. 33 S. dazu Neumann-Gorsolke, „Mund“, 15ff. 34 Dazu zählt die von Görg, Mensch, 309ff u.a. vertretene königsmythologische Erklärung, s. dazu die Hinweise oben Anm. 11. 35 Dazu zählt die Interpretation von Crüsemann, Macht, 48ff, s. dazu die Kritik von Neumann-Gorsolke, Herrschen, 67ff. 36 Zu Ps 8 im Kontext der Teilkomposition Ps 3–14 s. auch unten 28. 37 Neumann-Gorsolke, Herrschen, 35f.

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„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ 3a b

Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen hast du eine Macht gegründet um deiner Bedränger willen, um zum Aufhören zu bringen Feind und Rächer.

Allerdings sind die beiden Kola mit dem Versmaß 3+2+2 (für V. 3a) und dem Versmaß 3 (für V. 3b) ungleich lang. Wie immer man hier gliedert,38 die Verständnisschwierigkeiten dieses Verses haften bekanntlich an der Umstandsangabe „aus dem Mund von Kindern und Säuglingen“. Da es keine tragfähigen Anhaltspunkte für eine metaphorische Bedeutung des Binoms „Kinder und Säuglinge“ gibt,39 muss zunächst nach einer Erklärung für die Verbindung dieses Binoms mit dem Lexem hp „Mund“ (Metonym für eine artikulierte/unartikulierte Äußerung) gesucht werden. a)

„Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen …“

In der Teilkomposition Ps 3–14 begegnet das Lexem „Mund“ an zwei Stellen (Ps 5,10; Ps 10,7), die beide für das Verständnis von Ps 8,3 aufschlussreich sind. So bezieht sich die Bitte um göttlichen Rechtsentscheid in Ps 5,9–11 auf die Repräsentanten der Bosheit, der Verblendung, des Unrechts, der Lüge (bzk yrbd „Lügenredner“: V. 7!), der Bluttat und des Betrugs, die den Beter mit ihrem Treiben bedrängen (Ps 5,5–7) und darin dem Wesen des Gottes der Gerechtigkeit (vgl. Ps 5,9a!) diametral widersprechen. An diesen Gott wendet sich der bedrängte Beter mit seiner Rechtsbitte: 9 10

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JHWH, leite mich in deiner Gerechtigkeit um meiner Widersacher willen (yrrwv ˜[ml), mach eben vor mir deinen Weg! Denn in seinem Mund (hp) ist nichts Rechtes, ihr Inneres ist Verderben. Ein offenes Grab ist ihre Kehle, mit ihrer Zunge heucheln sie. Lass sie (es) büßen, Gott, sie sollen fallen wegen ihrer Pläne, wegen der Menge ihrer Verbrechen verstoße sie, denn sie waren widerspenstig gegen dich! (Ps 5,9–11)

In V. 10 werden dabei bestimmte Körperteile als „Sitz verfehlter geistiger und praktischer Haltungen eines oder mehrerer Menschen“40 ins Spiel gebracht: der Mund, das Innere, die Kehle und die Zunge, mit der nach außen 38 Möglich wäre auch die Auffassung, V. 3 gegen die masoretische Verseinteilung zu gliedern in V. 3aa (3+2) und V. 3ab.b (2+3), s. dazu die Diskussion bei Schnieringer, Psalm 8, 72ff.92ff. 39 S. dazu Schnieringer, Psalm 8, 67ff. 40 Meinhold, Sprüche 1, 114f. Zu Ps 5,9–11 s. Hartenstein / Janowski, Psalmen, 212ff (Janowski).

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

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getragen wird, was im Inneren vorgeht, nämlich „nichts Rechtes“, „Verderben“, „(Grab ›) Tod“ und „Heuchelei“, vgl. Ps 10,7: Sein Mund ist voll von Betrügereien und Gewalt, unter seiner Zunge gibt es (nur) Unheil und Übel.41 Im Mund der Widersacher, so Ps 5,10, ist nichts „Rechtes, Richtiges“ (hnwkn [‹ ˜wk „feststehen, Bestand haben“ Ptz. fem. nif.]), d.h. nichts, was wahrhaftig und verlässlich ist und insofern Bestand hat. So stellt der „Mund“, d.h. das zerstörerische Reden der Lügner (Ps 4,3; 5,7; 7,15), Gottesleugner (Ps 3,3; 4,7 u.ö.) und Widersacher (Ps 5,10) eine Antithese zum „Mund“ der Kinder und Säuglinge in Ps 8,3 dar. Aber warum ist überhaupt von Kindern und Säuglingen die Rede? Weil diese als schwächste Repräsentanten der Gattung „Mensch“, als wehrlose und hilfsbedürftige Wesen „vom Widerstreit gegen Jahwe, von Feindschaft und Rachgier noch nichts wissen“42. Was immer an artikulierten oder unartikulierten Äußerungen aus ihrem Mund hervorgeht, es besitzt – wie der Text hyperbolisch zuspitzt – eine „gebieterische Machtqualität“43 gegenüber dem, was die Feinde mit ihrem Mund (vgl. Ps 5,10; 10,7 u.a.), d.h. mit ihrem lügnerischen und verleumderischen Reden anrichten.

b)

„… hast du eine Macht gegründet“

Welcher Art ist diese Macht, die JHWH zur Überwindung der Feinde aufgerichtet hat? z[ „Macht, Bollwerk“ steht im Psalter 42-mal „ganz dominant für Gottes Rettungsmacht, oft zugespitzt auf den Aspekt der Rettung in der Not. Damit dürfte auch die Beobachtung zusammenhängen, dass ˛øz … personal und relational gedacht wird“44. Die Frage, ob z[ als Konkretum (Errichtung eines realen Bauwerks durch JHWH) oder als metonymische Redeweise (Bild für Macht/Stärke, die JHWH gewährt) aufzufassen ist, ist nicht einseitig aufzulösen. Vielmehr dürfte der Zusammenhang beider Bedeutungsebenen konstitutiv sein45 und z[ eine geschöpflich vermittelte Macht 41 Ein ähnliches Feindbild findet sich auch in Ps 12,2–5 und 14,1 und „bildet ein Netz über die gesamte Teilsammlung, besonders den zweiten Teil 11–14“ (NeumannGorsolke, Herrschen, 19), s. dazu auch Barbiero, Psalmenbuch, 149f. 42 Irsigler, Frage, 19, vgl. Neumann-Gorsolke, „Mund“, 33 43 Irsigler, Frage, 19. 44 Krawelitzki, Gottes Macht, 115, s. dazu 100ff (mit der Tabelle 119). 45 Vgl. Neumann-Gorsolke, Herrschen, 56. Der Grund für die Überschneidung der beiden Bedeutungsebenen – der konkreten und der metonymischen – dürfte mit der Eigenart der metaphorischen Sprache zusammenhängen. Nach Hossfeld, Metaphorisierung, 22f bezeichnet die Metaphorisierung „das Ineinanderschieben mehrerer Bedeutungsebenen und Konnotationen bei einem bestimmten Begriff. Absicht ist die Offenheit für verschiedene Formen der Bedeutungserweiterung ohne Negation des Konkreten wie beim Begriff der ,Spiritualisierung‘. Die ,Metaphorisierung‘ muß nicht darauf festgelegt werden, dass sekundär ein Begriff von außen ausgeweitet wird, sondern kann dem Begriff von Haus aus mitschwingende Bedeutungen offen-

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„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

bezeichnen, die JHWH aus Kindermund aufrichtet. Der schöpfungstheologische oder besser: kosmologische Bezug ergibt sich dabei aus der Verbindung von z[ mit dem Verb dsy pi. „gründen“, das man analog zu seinem Gebrauch in Jes 14,32 und Jes 28,16 verstehen kann. Nach Jes 14,32 (nachexilische Rezeption von Jes 28,16) rührt die Festigkeit des Zion, die den Armen konkreten Schutz („Zuflucht“) bietet, von dem Gegründetsein durch JHWH her: Ja, JHWH hat Zion gegründet (dsy pi.), und in ihr finden Zuflucht die Elenden des Volkes. Ein ähnlicher Bildzusammenhang ist auch für das sog. „Ecksteinwort“ Jes 28,16 leitend: Siehe, ich bin dabei, zu gründen (dsy pi.) in Zion einen Stein, einen Prüf-Stein, einen kostbaren Fundamenteckstein, eine (Fundament-)Gründung, die fest ist, nicht weicht sie.46 Gemäß altorientalischer und alttestamentlicher Tempelbausymbolik gehören die baulich-konkrete Fundamentierung und die kosmische Fundamentgründung sachlich zusammen.47 Ein derartiger Zusammenhang ist auch für die Gründung der von JHWH aus dem Mund der Kinder und Säuglinge aufgerichteten „Macht“ in Ps 8,3 anzunehmen. Gottes „Macht“, so kann man resümieren, „wird in ihrer Funktion als Bollwerk heraufbeschworen, der Festigkeit und Unüberwindbarkeit wie Zion zukommt“48.

Das eigentlich Bemerkenswerte in Ps 8,3 ist aber der Sachverhalt, dass diese Gottesmacht aus dem „Mund“ wehrloser und hilfsbedürftiger Wesen (Kinder und Säuglinge) kommt, der dem „Mund“, d.h. dem Reden der Feinde und Gottesleugner (vgl. Ps 5,10; 10,7 u.a.) entgegengesetzt wird – und zwar dem Reden, mit dem sich die Gottesleugner, wie das Frevlerzitat Ps 12,5 belegt, an die Stelle Gottes setzen: 4 Herausschneiden möge JHWH alle glatten Lippen, (die) großsprecherische Zunge, 5 die, die gesagt haben: „Aufgrund unserer Zunge erweisen wir uns als stark (rbg hif.), unsere Lippen (sind) mit uns – wer (ist) Herr über uns?“

Der Schluss von Ps 8,3 gibt den Grund („um deiner Bedränger willen“) und den Zweck („um zum Aufhören zu bringen …“) des machtlegen bzw. explizieren“, s. zur Sache auch Janowski, Konfliktgespräche, 21ff; Liess, Weg des Lebens, 155ff und Hartenstein, „Spiritualisierung“, 52ff. 46 S. dazu Hartenstein, Archiv, 41ff, dort auch zu den Textproblemen, ferner Beuken, Jesaja 28–39, 44.76ff. 47 Vgl. Hartenstein, Archiv, 42 mit Anm. 19; 45ff. 48 Neumann-Gorsolke, Herrschen, 56.

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

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vollen Handelns JHWHs an. Zwei der drei Feindbegriffe (μyrrwx, bywa, μqntm),49 die eine allgemeine Gegensätzlichkeit bezeichnen, kommen auch in der Teilkomposition Ps 3–14 vor.50 Was diese Feind-bezeichnungen eint, sind die Aktionen der Widersacher: sie schüchtern nicht nur den Beter durch ihr Reden ein, sie bestreiten, wie Ps 3,2f formuliert, auch die rettende Macht Gottes: 2 JHWH, wie zahlreich sind meine Bedränger, viele sind es, die aufstehen gegen mich! 3 Viele sagen von meiner Person: „Es gibt keine Rettung für ihn durch Gott!“51

So schließt V. 2b–3 mit der finalen Angabe, das Treiben der Feinde „zum Aufhören zu bringen“ (tbv hif. + l),52 so wie der Beter nach Ps 7,10 darum bittet, dass die Bosheit der Frevler ein Ende finden möge.53 Damit kommt ein gedanklicher Zusammenhang an sein – vorläufiges – Ziel, der mit Ps 3,8 einsetzt, über Ps 6,11 läuft und gemäß Ps 7,10–12 im Vertrauen auf den Gott der Gerechtigkeit gipfelt.54 3.

Hymnische JHWH-Prädikation II (V. 4–9)

a)

„Was ist der Mensch?“ (V. 4–5)

Im Aufbau des Psalms nimmt die durch den Anakoluth V. 4 eingeleitete anthropologische Grundfrage V. 5 eine zentrale Position zwischen den beiden Hymnischen JHWH-Prädikationen V. 2b–3 und V. 4–9 ein. Mit dem Blick zum nächtlichen Himmel („Wenn ich deinen Himmel sehe …“) enthält dieser Anakoluth ein Bild von großer Eindringlichkeit, vergleichbar dem Anschauen des gestirnten Himmels in Gen 15,5 und in Jes 40,26. Ps 8,4, so W. Schoberth, „zeigt deutlich, dass die Unermeßlichkeit des Alls offenkundig keine Entdeckung der Neuzeit ist, wie es eine gängige geistesgeschichtliche Behauptung will“55. 49 S. dazu Keel, Feinde, 107ff.129ff; Janowski, Konfliktgespräche, 105ff; Weber, Werkbuch III, 116ff und Hartenstein, „Feind“, 19ff. 50 Zu μyrrwx „Bedränger“ vgl. Ps 6,8; 7,5.7, ferner μyrx Ps 3,2; 13,5 und μyrrwv Ps 5,9 (// μyrx). Zu bywa „Feind“ vgl. Ps 7,6; 13,3.5 (// μyrx), μybywa „Feinde“ Ps 3,8 und 6,11. Nur in Ps 8,3 sind die μyrrwx die „Bedränger“ JHWHs. In Ps 10,5 sind die μyrrwx die Gegner des Frevlers. μqntm begegnet nur noch in Ps 44,17 (// bywa), dort aber mit Bezug auf JHWH. 51 Zu diesem Text s. Hartenstein / Janowski, Psalmen, 144f (Janowski). 52 Vgl. Ps 46,10 und Ps 89,45, s. dazu Neumann-Gorsolke, „Mund“, 30f. 53 Zu Ps 7,10 s. Hartenstein / Janowski, Psalmen, 270ff (Janowski). 54 Vgl. Hartenstein, „Recht“, 246. 55 Schoberth, Einführung, 32.

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„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

Bemerkenswert ist dabei, dass sich dem Psalmisten die Frage nach dem Wesen des Menschen (V. 5) nicht aufgrund einer ,Innenschau‘, sondern angesichts des Himmels Gottes, des „Werks deiner Finger“, stellt: „Wer ins Staunen gerät, bleibt nicht länger sich selber verhaftet, schwingt sich aber weder über sich hinaus noch schraubt er sich immer weiter in sich hinein, denn er wird ins Weite geführt, wie der Psalmist an anderer Stelle sagt: in die Weite, die Gott bereitet hat (Ps 31,9). Dem, was ihm hier klar und deutlich wird, kann er ganz zugewandt sein, ohne dass er sich damit selbst aufgeben müsste. Darin besteht die Selbstvergessenheit doxologischer Existenz.“56 Während in V. 7a von den „Werken deiner (s. JHWHs) Hände (μydy)“ die Rede ist, spricht V. 4a vom „Werk deiner Finger ([bxa Pl.)“. Möglicherweise soll damit nicht nur der Aspekt der Macht, sondern auch derjenige der Kunstfertigkeit des Schöpfergottes betont werden.57 Im Parallelstichos V. 4b wird das Verb ˜wk pol. „aufstellen, befestigen“ verwendet (vgl. Ps 74,16), das in Korrespondenz zu V. 2b („der du deine Hoheit gelegt hast auf den Himmel“) die Schöpfermacht JHWHs beschreibt. Im Rahmen des nachexilischen Schöpfungsglaubens verweisen die Gestirne – hier Mond und Sterne – auf den einen Gott. Damit hat die astrale Himmelswelt „der religiösen Sprache Bilder zur Verfügung gestellt, um die letztlich unsagbare Erfahrung mit dem Heiligen und Unbedingten in Worte fassen zu können. Auf diesem religionsgeschichtlichen Hintergrund ist es zu verstehen, daß in der jüdisch-christlichen Tradition der Himmel, also auch der Bereich der Gestirne, zur zentralen Metapher für die Transzendenz, Herrlichkeit, Allmacht und Majestät Gottes geworden ist“58.

Diese theozentrische Perspektive bringt in prägnanter Weise auch V. 5 zum Ausdruck, wenn die Frage nach dem Wesen des Menschen – „Was ist der Mensch?“ (V. 5a) – durch den Hinweis auf das „Gedenken“ (rkz) und das „Nach-jemandem-Sehen, Sich-jemandes-Annehmen“ (dqp) durch JHWH beantwortet wird (V. 5b). Bereits das erste der beiden Verben enthält eine gewichtige Aussage. Denn die Erinnerung bzw. das „Gedenken“ (rkz) ist eine schöpferische Kraft, die es ermöglicht, etwas (Dinge oder Menschen) als nicht vergangen anzusehen. Das Gegenteil ist das „Vergessen“ Gottes, das der bedrängte Beter beklagt (Ps 9,13; 13,2, vgl. 9,19 [jkv nif.]; 10,12) und das der Frevler dreist behauptet (Ps 10,11, vgl. 9,18):59 56 57 58 59

Sauter, Leben, 44f (Hervorhebung im Original). Vgl. Wagner, Art. Finger, 53. Albani, Gott, 261, vgl. 263f. S. dazu Janowski, Konfliktgespräche, 60ff.

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

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Denn er (sc. JHWH) sucht Blutschuld, er hat ihrer gedacht (rkz), er hat nicht vergessen (jkv) das Schreien der Armen. (Ps 9,13) 2 Wie lange, JHWH, vergisst du (jkv) mich auf Dauer? Wie lange verbirgst du (μynp rytsh) dein Angesicht vor mir? 3 Wie lange soll ich Sorgen tragen in meiner vpn, Kummer in meinem Herzen Tag für Tag? Wie lange erhebt sich mein Feind über mich? (Ps 13,2f) Er (sc. der Frevler) sprach in seinem Herzen: „Gott hat vergessen (jkv), er hat sein Angesicht verborgen (μynp rytsh), er sieht nimmer mehr hin!“ (Ps 10,11) Dass Gott „vergisst“, ist eigentlich eine unangemessene Behauptung – nach Ps 10,11 kommt sie denn auch aus dem Mund des Gottlosen (vgl. Ps 50,22). Sie gehört aber zur anthropomorphen Rede von Gott und meint ein Nichtmehr-Kennen(-Wollen) oder Unbeachtet-Lassen. Die Dimension dieses bedrohlichen Gotteshandelns ergibt sich deutlich aus der in Ps 44,25 und Ps 13,2 parallelen Wendung μynp rytsh „das Angesicht verbergen“ (+ Subj. JHWH).60 Denn während die Zuwendung des göttlichen Angesichts Leben, Gedeihen und Gesundheit schenkt,61 ruft dessen Abwendung Schrecken und Bestürzung, ja den Tod hervor.62 Besonders drastisch wird dieser Leben/ Tod-Gegensatz in dem Danklied Ps 30 formuliert: 7 Und ich, ich dachte (einst) in meiner Sorglosigkeit: „Nicht werde ich wanken, in Ewigkeit!“ 8 JHWH, durch dein Wohlgefallen ‹war ich auf feste Berge gestellt›, (da) verbargst du dein Gesicht – ich war schreckensstarr. In seiner Studie zur Wurzel ZKR hat W. Schottroff die Belege für das Syntagma rkz + Subj. JHWH in vier Kategorien eingeteilt.63 Zahlenmäßig an der Spitze stehen die Belege für den personalen Bezug des Syntagmas, die sich in drei Unterkategorien gliedern lassen: 1. rkz mit dem Akkusativ der Person (Gen 8,1; 19,29; 30,22; Lev 26,42; Ri 16,28 u.ö.), 2. rkz mit l der Person (Ex 32,13; Dtn 9,7; Ps 25,6 und 136,23) und 3. rkz mit l der Person und Akkusativ der Sache (Ps 132,1; 2Chr 6,42; Neh 5,19; 6,14; 13,14 u.ö.). Charakteristisch für diese Verwendungsweise ist der Sachverhalt, dass rkz als Begriff für die Gott/Mensch-Beziehung „keinen bloß gedächtnismäßigen Bezug (bezeichnet), sondern ein tathaftes Eingehen der Gottheit auf den Menschen, der sich in Not befindet. Inhalt dieses Gedenkens ist Segen und Heil“64. 60 S. dazu besonders Hartenstein, Angesicht JHWHs, 61ff.192f. 61 Vgl. Ps 31,17; 67,2; 80,4.8.20; 119,135, ferner Num 6,24ff u.ö. 62 Vgl. Ps 10,11; 13,2; 22,25; 27,9; 30,8; 44,25; 69,18; 88,15; 102,3 und 143,7. Ps 88,13 spricht vom Totenreich als dem „Land des Vergessens“ und Ps 88,6 von den Toten, derer JHWH nicht mehr „gedenkt“. 63 S. dazu Schottroff, „Gedenken“, 183ff, ferner Kumpmann, Schöpfen, 369ff 64 Schottroff, „Gedenken“, 201 (Hervorhebung von mir).

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„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

Neben dem personalen Bezug bezeichnet die Wendung rkz + Subj. JHWH das Denken an Gemeinschaftsbegriffe wie Bund, Verheißung(swort), Huld u.a., das Verhalten zu den guten/schlechten Taten der Menschen sowie das Bedenken von Tatbeständen wie der Hinfälligkeit des Menschen oder der Schwachheit Israels.65

Wie die Synonyme und die Antonyme unterstreichen, ist die Grundbedeutung von rkz qal (+ Subj. JHWH) mit „an jemanden/etwas denken“ wiederzugeben, womit ein über bloßes Denken hinausgehender tätiger Bezug zu den Objekten des göttlichen Gedenkens, d.h. seine handelnd-helfende Zuwendung zum Menschen impliziert ist. Genauer müsste man sagen, dass rkz eine Mittelstellung zwischen „denken an“ im Sinn eines Zur-Kenntnis-Nehmens (Person oder Sachverhalt) einerseits und dem daraus folgenden Tätig-Werden andererseits einnimmt: „Gemeint ist ein ,Denken-an‘ im Sinn einer gewollten inneren Zuwendung und Anteilnahme, welche die Bereitschaft einschließt, handelnd/helfend tätig zu werden.“66 Die dem Verb rkz „gedenken“ eignende intentionale Ausrichtung ist in Ps 8,5 auch für das parallele dqp („nach jemandem/etwas sehen, sich jemandes annehmen“) charakteristisch.67 Dieses Interesse an jemandem/etwas kann sich als wohlwollende oder als kritische Prüfung bekunden: positiv: nach jem.em/etw. sehen, sich jem.es annehmen Obj.: Person/Sache/Vergehen (Ps 8,5; 65,10; 85,15 u.ö.)

dqp

negativ: heimsuchen, Rechenschaft einfordern Obj.: Person/Sache/Vergehen (Ex 34,7; Hos 4,9; 12,3 u.ö.)

In Ps 8,5 wird die Zuwendung JHWHs im Sinn eines wohlwollenden Interesses am Geschick des Menschen zum Ausdruck gebracht, d.h.: JHWH überlässt den Menschen in Situationen akuter Bedürftigkeit nicht sich selbst, sondern er ist „ihm darin stets Anteil nehmend und wohlwollend zugetan, so dass er aufmerksam nach ihm sieht und erkundet, wessen er bedarf“68. Diese Aufmerksamkeit Gottes gilt allen Menschen und sie gilt, wie V. 4 mit seinem Hinweis auf die majestätische Höhe und Weite des nächtlichen Himmels mit seinen Gestirnen deutlich macht, dem Menschen in seiner Kleinheit und Hinfälligkeit. Damit steht sie im Dienst der Herausstellung der Größe des 65 S. dazu Schottroff, „Gedenken“, 202ff.217ff.239ff. 66 Schnieringer, Psalm 8, 224. 67 S. dazu Brünenberg, Jahwes Widerstand, 54, vgl. 53ff.71ff; Janowski, Erinnerung, 173ff und Ges18, 1070f s.v. dqp qal. 68 Schnieringer, Psalm 8, 231, vgl. Irsigler, Frage, 12f.22.30 und Brünenberg, Jahwes Widerstand, 53ff.71ff.

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

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Schöpfers (vgl. V. 2a.10) und damit der Gnade, die darin besteht, daß dieser so große Gott sich dem so kleinen / hinfälligen Menschen zuneigt“69. Unübertroffen hat dies bereits H. Hupfeld ausgedrückt, demzufolge V. 5 „nicht ein Ausruf der Verachtung u. Herabsetzung des Menschen ist …, sondern der Bewunderung, näml. der außerordentl. Güte womit sich der große Gott von seiner unermeßlichen Höhe aus so tief zu dem kleinen Menschen in der Niedrigkeit des Erdenstaubs herabgelaßen u. ihn zum Gegenstand einer so zärtlichen Achtsamkeit u. Fürsorge gemacht hat, u. daher der Rührung u. Dankbarkeit womit diese Güte als unverdiente Gnade gefühlt wird“70.

Der Mensch ist also Mensch, weil Gott an ihn denkt und wohlwollend nach ihm sieht oder weil er – wie Ps 144,3f den Gedanken von Ps 8,5 aufnimmt und neu akzentuiert – sich dem vergänglichen und schwachen Menschen zuwendet: 3 JHWH, was ist der Mensch dass du ihn wahrnimmst ([dy), das Menschenkind, dass du es beachtest (bvj pi.)? 4 Der Mensch gleicht einem Windhauch (lbh), seine Tage sind wie ein Schatten (lx), der vorübergeht. (Ps 144,3f) Der Vergleich des Menschen mit dem Windhauch erinnert an die Anthropologie Kohelets (Stichwort lbh „Windhauch“, vgl. Ps 39,6; 62,10; 94,11), während der Vergleich mit dem flüchtigen Schatten in Hi 8,9; 14,2; 17,7 u.ö. begegnet.71 Einen Schritt weiter geht Hi 7,17–21. Denn dieser Text zielt möglicherweise „nicht darauf, die Gültigkeit der Theologie von Ps 8 zu leugnen, sondern – im Gegenteil! – Bezug nehmend auf sie, ein verändertes Verhalten von Seiten Gottes zu erwirken“72. Dabei nehmen die positiven Aussagen von Hi 7,17 in Hi 7,18 Zug um Zug eine negative Färbung an, bis in Hi 7,19 die negative Aussageabsicht klar und deutlich ist: 17

18

Was ist der Mensch, dass du ihn groß machst (ldg pi.), und dass du auf ihn dein Herz richtest (tyv + bl), ihn Morgen für Morgen musterst (dqp), ihn immerfort auf die Probe stellst (˜jb)?

pos. Konnotationen pos. → neg. Konnotationen

69 Schnieringer, Psalm 8, 233. 70 Hupfeld, Psalmen I, 159 (Hervorhebung im Original). 71 S. dazu Hossfeld / Zenger, Psalmen 101–150, 781f, ferner Köckert, „Wo warst du?“, 48ff. 72 Sedlmeier, „Mutterschoß“, 305, s. dazu auch Frevel, „Menschenwürde“, 244ff.

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„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ 19

20

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Wie lange noch wendest du dich nicht von mir ab, gibst mich nicht los, bis meinen Speichel ich geschluckt habe? Habe ich gesündigt, was vermag ich dir zu tun, du Menschenwächter (μdah rxn)? Wozu hast du mich hingestellt, dir zur Zielscheibe, dass ich mir selbst zur Last geworden bin? Weshalb hebst du meinen Frevel nicht weg, und lässt vorüberziehen meine Verfehlung? Fürwahr, jetzt lege ich mich nieder in den Staub, und du wirst mich suchen, doch ich bin nicht mehr.

neg. Konnotationen

In diesem Text wird Ps 8,5 nicht einfach als Subtext rezipiert, sondern so rezipiert, dass eine neue Aussage entsteht. Ähnlich wie in Ps 8,5 sind dabei in Hi 7,17a die Eröffnungsfrage „Was ist der Mensch?“ (vwnaAhm), die syntaktische Fortführung mit yk („dass“) + Verb im Impf. mit Suffix und in Hi 7,18a das Verb dqp („mustern“) im Impf. mit Suffix (vgl. Ps 8,5b). Die Unterschiede sind ebenso deutlich: statt rkz („gedenken“) verwendet Hi 7,17a das Verb ldg pi. („groß machen“). Außerdem weiß der Hiobtext nichts von der Herrlichkeit und Würde des Menschen wie Ps 8,6, aber viel vom ständigen Geprüft-Werden des Leidenden durch den Wächtergott (Hi 7,20).73 Ist das im Sinn einer ,negativen Anthropologie‘ zu verstehen, ja geradezu als „Umkehrung psalmentheologischen Denkens“74 zu werten? Wohl kaum! Vielmehr ist mit F. Sedlmeier davon auszugehen, dass Ps 8,5 „als Subtext weiter (wirkt) und … als strategisches Mittel (dient), um die Diskrepanz zwischen der hoheitlichen Stellung des Menschen in Ps 8 und der tatsächlichen Lage Ijobs aufzuzeigen und mit ihr die notwendige Veränderung dringlich zu machen“75.

In beiden Texten geht es um das Thema „Menschenwürde“: in Hi 7,17f wird sie von dem leidenden Hiob eingeklagt, in Ps 8,5f dagegen wird sie dem Menschen, genauer: jedem Menschen vom Schöpfergott zuerkannt. Doch bildet Ps 8,5f „eine vorfindliche Realität nicht ein73 S. dazu Sedlmeier, „Mutterschoß“, 303ff. Zum Thema „Ehre und Würde“ im Hiobbuch s. Schellenberg, Krankheit, 48ff. 74 So Spieckermann, Heilsgegenwart, 237; Irsigler, Frage, 43 u.a., s. dazu die Kritik von Frevel, „Menschenwürde“, 261 und Sedlmeier, „Mutterschoß“, 303 mit Anm. 6–7. Zuletzt hat sich Köckert, „Wo warst du?“, 53ff wieder der Position von Spieckermann angeschlossen, allerdings ohne bei Hi 7,17f die besondere Art der Rezeption von Ps 8,5 in Rechnung zu stellen. 75 Sedlmeier, „Mutterschoß“, 304, vgl. Frevel, „Menschenwürde“, 257ff.

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

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fachhin ab, sondern affirmiert im Bekenntnis kontrafaktisch eine Wirklichkeit, die sich erst durchzusetzen hat“76. Diese Wirklichkeit ist, wie die Fortsetzung V. 6–9 zeigt, die Wirklichkeit des ,königlichen Menschen‘. b)

Der königliche Mensch (V. 6–9)

Nur von Gott her, so die theologische Position von Ps 8, lässt sich sagen, was oder wer der Mensch ist. Und nur von ihm her wächst dem Menschen, wie der weisheitliche Frage/Antwort-Zusammenhang von V. 4–5.6–9 deutlich macht, auch die Fähigkeit zu, seine Stellung in der Welt wahrzunehmen. Diese Stellung wird nicht wie in Gen 1,26–28 unter Rückgriff auf die imago Dei-Terminologie,77 sondern anhand der Metapher vom ,Königlichen Menschen‘ expliziert, der mit „Ehre“ und „Pracht“ gekrönt ist (V. 6) und der seine Herrschaft über die Tiere ausübt (V. 7–9). a)

„Mit Ehre und Pracht gekrönt“ (V. 6)

Worin die göttliche Erinnerung an den Menschen und die Aufmerksamkeit Gottes auf ihn besteht, zeigt sich an dessen königlicher Ausstattung mit „Ehre“ (dwbk) und „Pracht“ (rdh).78 Der königsideologische Hintergrund dieser Termini geht deutlich aus dem (spätvorexilischen?) Königspsalm Ps 21,2–7 hervor, wonach der König als Paradigma des geretteten Gerechten erscheint: 2 JHWH, über deine Macht (z[) freut sich der König, und über deine Rettung (h[wvy) – wie jubelt er sehr! 3 Das Verlangen seines Herzens hast du ihm gewährt, und das Begehren seiner Lippen hast du nicht verweigert. – Sela 4 Ja, du kommst ihm entgegen mit Segnungen an Gutem, du setzt seinem Haupt eine Krone (hrf[) aus Feingold auf. 5 Leben erbat er von dir, du hast es ihm gegeben, Länge der Tage für immer und ewig. 6 Groß ist seine Ehre (dwbk) durch deine Rettung, Hoheit (dwh) und Pracht (rdh) legst du ihm an. 7 Denn du machst ihn zu Segnungen für immer, du beglückst ihn mit Freude bei deinem Angesicht.79 76 Sedlmeier, „Mutterschoß“, 301. 77 S. dazu den Exkurs bei Hartenstein / Janowski, Psalmen, 316ff (Janowski). 78 Zu diesen beiden Termini s. Irsigler, Frage, 22f mit Anm. 50; Schnieringer, Psalm 8, 247ff; Neumann-Gorsolke, „Ehre“, 57ff u.a. 79 S. dazu außer Hossfeld / Zenger, Psalm 1–50, 142f (Zenger) u.a. noch NeumannGorsolke, „Ehre“, 56f; Saur, Königspsalmen, 102ff; Krawelitzki, Gottes Macht, 122ff und Salo, Königsideologie, 97ff.

22

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

Die Krone (hrf[), die dem König von Gott aufs Haupt gesetzt wird (Ps 21,4), ist ein materielles („Krone aus Feingold“) und zugleich symbolisches Kennzeichen seiner überragenden Machtposition. Den Charakter dieses Vorgangs kann man sich nach Analogie der singulären Darstellung einer neuassyrischen Krönungszeremonie verdeutlichen (s. Abb. 1).80

Abb. 1: Neuassyrische Krönungszeremonie (8./7. Jh. v.Chr.)

Wie in Ps 21,6, wo drei Wesensmerkmale – seine „große Ehre“, seine „Hoheit“ und seine „Pracht“ – die besondere Nähe des Königs zu Gott signalisieren,81 so kennzeichnen nach Ps 8,6 „Ehre“ (rdh) und „Pracht“ (rdh) das Wesen des königlichen Menschen: er ist „wenig niedriger als Gott“ und wird von diesem mit dwbk und rdh „gekrönt“ (rf[ pi.). Die „Krone“ (hrf[) bezieht sich aber nicht auf etwas Materielles wie in Ps 21,4 („Krone aus Feingold“), sondern auf die Teilhabe am Lichtglanz, der dem himmlischen Schöpfer eignet („Hoheit“ Ps 8,2b) und der in Form von „Ehre und Pracht“ nunmehr allen Menschen zuteil wird – nicht zum Zweck der Vergöttlichung, sondern damit der königliche Mensch die „Herrschaft“ über die Tiere wahrnimmt. So wird das qualitative Verhältnis zwischen Gott und Mensch (Ausstattung mit „Ehre“ und „Pracht“) durch die funktionale Bestimmung dieses Verhältnisses (Einsetzung in die Königsherrschaft) fortgeführt und konkretisiert. Auch Ps 8,6 wird im Hiobbuch rezipiert, aber dabei in sein Gegenteil verkehrt. In der mittleren Rede des 2. Redegangs (Hi 15–21) klagt Hiob Gott mit folgenden Worten an:

80 Die Abbildung stammt aus Salo, Königsideologie, 115 Abb. 6. 81 Diese Nähe zu Gott wird nach Ps 21,7b durch die vom göttlichen „Angesicht“ (μynp) ausgehenden Segenswirkungen herbeigeführt, s. dazu Hartenstein, Angesicht JHWHs, 127f und Krawelitzki, Gottes Macht, 123 Anm. 5.

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ 8 9 10

23

Meinen Weg hat er vermauert, ich kann ihn nicht begehen, und auf meine Pfade legt er Finsternis. Meiner Würde (dwbk) hat er mich entkleidet, und entfernt die Krone (hrf[) meines Hauptes. Er hat mich ringsum eingerissen, so dass ich dahingehe, und er hat ausgerissen wie einen Baum meine Hoffnung. (Hi 19,8–10)

Jede dieser sechs Zeilen enthält ein Verb, das JHWH zum Subjekt, und ein Verb, das Hiob bzw. sein Geschick zum Objekt hat. Die „Krone“, die Hiob vom Haupt genommen wird, ist – da das „Haupt“ (var) die individuelle und soziale Identität (Wertschätzung, Rang/Status) bezeichnet82 – die Insignie des sozialen Ansehens: „Vom Bekrönen ist nicht nur das Haupt, sondern die ganze Person betroffen. (…) Deshalb zieht er (sc. Hiob) gerade die Kernstelle des königlichen Menschen aus Ps 8 heran, um seine aussichtslose Lage zu charakterisieren.“83

Zurück zu Ps 8,6–9, dem locus classicus des Motivs vom königlichen Menschen. Dieses Motiv begegnet im Rahmen der imago Dei-Thematik bereits in Gen 1,26–28, erfährt durch Ps 8 aber eine anthropologische Vertiefung, wie V. 7–9 zeigt. b)

„Zum Herrscher gemacht“ (V. 7–9)

Wie in Gen 1,26–28 wird auch in Ps 8,6–9 die Rolle des Menschen in der Welt durch die Position beschrieben, die er gegenüber den nichtmenschlichen Lebewesen einnimmt. Während Gott ihn zum Herrscher über die Tiere gemacht hat, sind diese ihm unter seine Füße gelegt: 6 Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, und mit Ehre und Pracht hast du ihn gekrönt. 7 Du hast ihn zum Herrscher gemacht über die Werke deiner Hände, alles hast du gelegt unter seine Füße:

Dieser Bildzusammenhang und damit die ,Zwischenposition‘ des Menschen zwischen Gott und den Tieren wird durch explizite Oben/ Unten-Relationen ausgedrückt: 82 Vgl. Hi 29,2f: „(2) Wer gäbe, dass ich wäre wie in längst vergangenen Monden, wie in den Tagen, als Gott mich behütete, (3) als er seine Leuchte über meinem Kopf leuchten ließ und ich in seinem Licht durch das Dunkel ging!“, s. dazu Schmidt, „Augen“, 93. 83 Frevel, „Menschenwürde“, 263f.

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„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ 6 a Position des Menschen unterhalb von Gott

// b Krönung des Menschen mit Ehre und Pracht

7 a Herrschaft des Menschen über die Gottes Werke

// b Position des Menschen über den Tieren, die unter seine Füße gelegt sind

Während in Gen 1,26.28 das dominium animalium mit dem Verb hdr „herrschen“ ausgedrückt wird, steht in Ps 8,7 das im Vergleich zu ˚lm „König sein, als König herrschen“ allgemeinere Verb lvm hif. „zum Herrscher machen“84 sowie in Parallele dazu die Wendung tyv μylgr tjt „unter die Füße legen“. lvm ist zwar ein allgemeineres Verb, es hat in kosmologischen Zusammen-

hängen aber eine konkrete Bedeutung. So wird in Gen 1,14–19 im Zusammenhang mit der Erschaffung der Gestirne das Lexem MÇL verwendet, das „für normales, ordnungsgemäß ausgeübtes Regieren und Verwalten (måçal), das sonst für Herrscher bezeichnend ist, auf Sonne und Mond angewandt (wird)“85. Die „Verfügungsgewalt“ (tlvmm Gen 1,16b, vgl. lvm qal Gen 1,18a) von Sonne und Mond bezieht sich dabei auf den Tag/Nacht-Wechsel, auf die „festgesetzten Zeiten“ im Monat und im Jahr sowie auf das Geschenk der Helligkeit am Tag (Sonnenlicht) und in der Nacht (Mondlicht). Der Ausführungsbericht in Gen 1,16ff lautet folgendermaßen: 16

17 18 19

Und Gott machte die beiden großen Leuchten: die große Leuchte zur Herrschaft (tlvmm) über den Tag und die kleine Leuchte zur Herrschaft (tlvmm) über die Nacht und die Sterne. Und Gott setzte sie an die Feste des Himmels, um zu leuchten über der Erde, und um zu herrschen (lvm) über den Tag und über die Nacht, und um zu scheiden zwischen dem Licht und der Finsternis. Und Gott sah, dass es gut war. Und es wurde Abend, und es wurde Morgen: vierter Tag.

Gemeint ist mit dem Begriff „herrschen“ (lvm) also die Strukturierung der Zeit, die durch die Gestirne angezeigt wird und als universaler Ordnungszusammenhang erlebbar ist. Auch der königliche Mensch von Ps 8,7 ist auf einen ihm vorgegebenen Ordnungszusammenhang, nämlich die Totaliät der Tierwelt bezogen, über die er herrschen soll und die ihm als „Werke deiner (sc. JHWHs) Hände“ unter seine Füße gelegt ist. 84 85

S. dazu Neumann-Gorsolke, Herrschen, 90ff und Kumpmann, Schöpfen, 323f. Koch, Imago Dei, 48.

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

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Die Wendung μylgr tjt tyv „unter die Füße legen“ hat dabei immer wieder Anlass gegeben, von einer gewaltsamen Machtausübung des Menschen über die Tiere zu sprechen. Das lässt sich jedoch weder dem Terminus lvm hif. noch der in der Wendung μylgr tjt tyv zum Ausdruck kommenden Herrschaftssymbolik entnehmen.86 Ganz zu schweigen von der Spannung, auf die der Text so viel Wert legt: „Der kleine, hinfällige Mensch ist es, kein anderer, der so von Jahwe herrlich ausgestattet wurde“87 und der zugleich darauf angewiesen bleibt (!), dass der Schöpfergott an ihn denkt und sich seiner annimmt (V. 5). „Daß des Menschen Herrschaft … von derart destruktiver Art sein könnte, daß sie dieser Zuneigung Gottes nicht entspricht, steht für den Psalm noch jenseits seines Blickfelds“88. Das aber ist die Situation, in der wir heute endgültig angekommen sind. Das Syntagma „unter die Füße (legen)“ ist gemeinorientalisch89 und bringt in Verbindung mit dem Obj. „alles“ (lk) die universale Ordnungsfunktion des Königs bzw. des königlichen Menschen, also eine regulative Tätigkeit zum Ausdruck. Was damit konkret gemeint ist, sagt der Text leider nicht. Gemäß der funktionalen Bedeutung der Körperteile im Alten Testament kommt dem „Fuß“ (lgr) aber die Bedeutung zu, Macht und Präsenz auszuüben.90 Wie diese ausgeübt wird, ist dem jeweiligen Kontext zu entnehmen. Und dieser ist – jenseits der konkreten Füllung von lvm hif. und von μylgr tjt tyv91 – gemäß dem Gesamtduktus von Psalm 8 so geartet, dass die Herrschaft über die Tiere durch die göttliche Herrschaftsübertragung legitimiert und zugleich begrenzt ist (V. 7: „Du hast ihn zum Herrscher gemacht … // alles hast du gelegt …“). Ein schrankenloser Despotismus würde nicht nur diesen lebendigen Organismus zerstören, sondern auch das Lob des Schöpfers (V. 2a.10!) desavouieren. 86 Für Steck, Beobachtungen, 226 ist das aber klar: „Der Ausdruck (sc. ,unter die Füße legen‘) meint, was nicht übersehen werden sollte, den Vollzug herrscherlicher Bändigung von Feinden!“, unter Hinweis auf Kraus, Psalmen, 932 (der aber nicht auf Ps 8,7, sondern auf Ps 110,1 Bezug nimmt) und auf Keel, Bildsymbolik, 49f.232f, s. dazu aber Neumann-Gorsolke, Herrschen, 112ff und Schellenberg, Mensch, 148ff. 87 Irsigler, Frage, 25. 88 Irsigler, Frage, 25. 89 S. dazu Neumann-Gorsolke, Herrschen, 99ff. 90 S. dazu Wagner, Gottes Körper, 110ff.116ff und zum Fußmotiv in Ps 8,7 Neumann-Gorsolke, Herrschen, 94ff. 91 Eine ikonographische Konkretisierung, wie sie von Keel, Bildsymbolik, 49f mit Abb. 60–61 vorgeschlagen und vielfach rezipiert wurde (zuletzt von Köckert, „Wo warst du?“, 45ff), führt nicht weiter, s. dazu Neumann-Gorsolke, Herrschen, 112ff, die zu Recht urteilt, dass aufgrund der Transformation altorientalischer Herrschaftstopik durch die Anthropologie von Ps 8 – d.h. „die Royalisierung des Menschen einerseits und die Übertragung der Herrschaftsvorstellung auf die Tierwelt andererseits“ (120 Anm. 289 [Hervorhebung im Original]) – ein dieser Transformation entsprechender ikonographischer Beleg nicht zu erwarten ist.

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„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

Für das universalistische Verständnis von V. 7 spricht nicht zuletzt die Taxonomie der Tierarten in V. 8f, der zufolge die Aufzählung der Tiere von ,innen‘ nach ,außen‘, d.h. von den domestizierbaren Tieren („Kleinvieh und Rinder“) über die wilden Tiere („Tiere des Feldes“) bis hin zu den „Vögeln des Himmels“ und den „Fischen des Meeres“ voranschreitet: 8 Kleinvieh und Rinder, sie alle, und auch die Tiere des Feldes, 9 die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres, was immer dahinzieht auf den Pfaden der Meere. Taxonomie der Tierarten 8 Landtiere: domestizierbare (Kleinvieh // Großvieh) – wilde Tiere 9 Flugtiere – Wassertiere (Fische // mythische Meereswesen)

Wie in Gen 1,26.28 sind hier die drei Bereiche der Schöpfungswelt – Land, Himmel und Meer – und d.h. ihre weltbildhafte Anordnung im Blick: Und Gott sagte: „Wir wollen Menschen machen als unser(e) Bild/Statue, etwa wie unsere Ähnlichkeit, damit sie herrschen über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über das Vieh und über alles ‹Getier› der Erde und über alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen.“ (Gen 1,26) Taxonomie der Tierarten Wassertiere Flugtiere Landtiere: domestizierbare Tiere – wilde Tiere – Kriechtiere Und Gott segnete sie, und Gott sagte zu ihnen: „Seid fruchtbar und werdet zahlreich und füllt die Erde und (›betretet sie‹ =) nehmt sie in Anspruch, und herrscht über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über alles Getier, das auf der Erde kriecht.“ (Gen 1,28) Taxonomie der Tierarten Wassertiere – Flugtiere – Landtiere (alle)

Wie M. Weippert hervorgehoben hat, werden die Gattungen der Tierwelt sowohl in Ps 8,8f als auch in Gen 1,20ff nach einem einfachen Prinzip angeordnet, nämlich

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

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„nach dem Element, in oder auf dem sie leben. So heißt alles, was in der Luft fliegt, πw[, genauer μymvh πw[, alles, was im Wasser des Meeres schwimmt, μyhtgd. Die dritte Kategorie sind die Tiere, deren Lebensraum die Erde ist. Für sie gibt es keinen zusammenfassenden Begriff; sie werden vielmehr je nach ihrer Beziehung zum Erdboden eingeteilt, auch wenn die Termini dafür dies nur teilweise erkennen lassen. So bezeichnet hmhb die Tiere, die sich auf Beinen über den Erdboden erheben (mit ,Großtiere‘ mehr schlecht als recht wiederzugeben), cmr die Tiere, die auf dem Boden kriechen, ≈rah tyj schließlich die ,Erdtiere‘, die unter der Oberfläche leben“92.

Diese Form des klassifikatorischen Denkens hat, wie der Passus über die Weisheit Salomos in 1Kön 5,9–14 zeigt, einen weisheitlichen Hintergrund: (9) Und Gott gab Salomo Weisheit und sehr viel Einsicht und umfassenden Verstand – reich wie der Sand am Gestade des Meeres, (10) so dass die Weisheit Salomos größer war als die Weisheit aller Leute des Ostens und als alle Weisheit Ägyptens. (11) Er war weiser als irgendein Mensch – als der Esrachiter Etan, als Heman, Kalkol und Darda, die Söhne Mahols, und sein Name wurde bei allen Völkern ringsum berühmt. (12) Und Salomo sprach dreitausend Sprüche, und seiner Lieder waren eintausendundfünf. (13) Er sprach über die Bäume, angefangen von der Zeder, die im Libanon wächst, bis zum Ysop, der an der Mauer hervor sprießt; und er sprach über die Landtiere, die Vögel, die Kriechtiere und die Fische. (14) Und man kam von allen Völkern, um die Weisheit Salomos zu hören, und ‹er empfing Geschenke› von allen Königen der Erde, die seine Weisheit hörten.93

Das alles zeigt, dass in Ps 8,7–9 eine universale Herrschaft gemeint ist, mit der der königliche Mensch beauftragt wird. „Universal“ heißt nicht, dass die Erschaffung der Welt und alles, was sie erfüllt, in der Hand des Menschen liegt, sondern vielmehr, dass er in seiner Herrschaft auf „alles“ (lk V. 7b.8a), nämlich „die Werke deiner (sc. JHWHs) Hände“ (V. 7a) bezogen ist. Das ist seine einzigartige Würde und zugleich die Grenze seiner Macht. Das Bewusstsein dieser Grenze, das durch den Blick zum gestirnten Himmel und durch das Innewerden der eigenen Situation coram Deo (V. 4f) immer wieder stimuliert wird, führt den Psalmisten – und mit ihm auch uns – zum Lob des Schöpfers und seines Namens „auf der ganzen (lk) Erde“ (V. 10).

92 Weippert, Tier, 44 mit Anm. 14 (Hervorhebung B.J.), s. zur Sache noch Neumann-Gorsolke, Herrschen, 125ff.224ff und Krüger, Himmel, 65ff. 93 S. dazu Wälchli, Salomo, 67ff.

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„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

III.

Ps 8 im Kontext der Teilkomposition Ps 3–14

Im Vorhergehenden sind die wichtigsten intertextuellen Bezüge von Ps 8 und ihre unterschiedlichen Aussageintentionen herangezogen worden. Dazu zählen im Einzelnen: Ps 8 V. 2a / 10 (Bewunderungsruf) V. 3a (Gründung der Macht) V. 4 (Blick zum Himmel) V. 5 (anthropologische Grundfrage) V. 6 (Krönung mit Ehre und Pracht) V. 7–9 (Herrschaft über die Tiere)

Gen / Pss / Jes / Hi Ps 104,24 Jes 14,32; 28,16 Gen 15,5; Jes 40,26 Ps 144,3f; Hi 7,17f Ps 21,2–6; Hi 19,8–10 Gen 1,26–28

Darüber hinaus ist in der neueren Psalmenforschung auch die zentrale Position von Ps 8 innerhalb der Teilkomposition Ps 3–14 (s. Abb. 2) klarer erkannt und beschrieben worden.94 Durch diese Einbindung erhält die in Ps 8 entworfene Theologie der Menschenwürde (vgl. V. 6: „Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, und mit Ehre und Pracht hast du ihn gekrönt“) – ein besonderes Gewicht. Mit Ps 3,9b und Ps 14,7 wird dabei eine redaktionelle Klammer um Ps 3–14 gelegt, um die Gottesvolk- mit der Zionsperspektive zu verbinden. 8 7 5 4 3 3,9

6

3–7.8: Grundstock (nachexilisch, vor 11–14) 9/10: Redaktionsebene II (hellenistisch)

9/10 11 12 13 14

11–14: Redaktionsebene I (nachexilisch)

14,7

JHWH gehört die Rettung (h[wvy)! Auf deinem Volk (sei) dein Segen! (Ps 3,9) Wer gibt von Zion her die Rettung (h[wvy) Israels? Wenn JHWH wendet das Geschick seines Volks, (dann) juble Jakob, freue sich Israel! (Ps 14,7) Abb. 2: Zur Position von Ps 8 in der Teilkomposition Ps 3–14

Auf die zahlreichen Stichwort- und Motivverbindungen in Ps 3–14 ist im Vorhergehenden immer wieder hingewiesen worden. Für Ps 8 sind darüber hinaus noch folgende Aspekte hervorzuheben: 94 S. dazu Barbiero, Psalmenbuch, 88ff; Hartenstein, „Recht“, 229ff, ferner Zenger, Psalmenexegese, 31ff.

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ 1.

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Ps 8 als Höhepunkt von Ps 3–14

Im Meer der Klagen und Bitten des 1. Davidpsalters (Ps 3–41) gibt es, wie F.-L. Hossfeld treffend formuliert hat, „Inseln des Lobes“95. Eine solche Insel ist Ps 8, der innerhalb der Teilkomposition Ps 3–14 herausragt. Deshalb bildet Ps 8 als Mitte bzw. Höhepunkt der aus Klage- und Bittgebeten bestehenden Teilkomposition Ps 3–14 nicht einen abstrakten und kontextlosen Entwurf des biblischen Menschenbildes (vgl. die anthropologische Grundfrage Ps 8,5), sondern eine konkrete Hoffnungsbotschaft, die gerade den in den Klage- und Bittgebeten Ps 3–7 (einzelne Beter als Leidende) und Ps 9f.11–14 („Arme“ als soziale Gruppe) gemeinten Leidenden gilt.96 2.

Der Lobpreis des „Namens“

Bedeutsam ist sodann das Phänomen der Weiterleitung vom Ende eines Psalms zum Anfang des nächsten Psalms (sog. iuxtapositio „Nebeneinanderstellung“), wie sie auch in Ps 7,18 → Ps 8,2a.10 → Ps 9,2f vorliegt: Ich will JHWH danken/loben gemäß seiner Gerechtigkeit und singen/spielen dem Namen JHWHs, des Höchsten. (Ps 7,18) JHWH, unser Herr, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde! (Ps 8,2a/10) 2 Ich will danken/loben, JHWH, mit meinem ganzem Herzen, ich will erzählen alle deine Wundertaten. 3 Ich will mich freuen und jubeln über dich, ich will singen/spielen deinem Namen, Höchster. (Ps 9,2f)

Aufgrund des Lobpreises des „Namens“ (μv) erscheint Ps 8 als die Ausführung des Lobversprechens von Ps 7,18, das seinerseits einen vorläufigen Schlusspunkt unter das Thema der Feindbedrängnis von Ps 3–7 setzt. Ps 9,2f greift diese Namenstheologie auf und führt sie in Ps 9/10 durch neue Aspekte zum Thema „Gerechtigkeit JHWHs“ weiter.97 3.

Die „Ehre“ des Menschen

Für das Verständnis des Binoms „Ehre und Pracht“ (Ps 8,6) ist schließlich das Vorkommen des Begriffs dwbk „Herrlichkeit, Ehre“ in 95 Hossfeld, Klage, 18. 96 S. dazu Hartenstein / Janowski, Art. Psalmen/Psalter, 1771 und Hartenstein, Recht, 236ff. 97 S. dazu Hartenstein, Recht, 253ff.

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„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

Ps 3,4; 4,3 und 7,6 zu beachten. Während Ps 3,4 eine Vertrauensaussage ist – JHWH ist die „Ehre“ des Beters und der, der sein „Haupt“ erhebt –, geht es in Ps 4,3 und 7,6 um den durch die Feinde in seiner sozialen Existenz bedrohten Beter, dessen „Ehre“ auf dem Spiel steht. In Ps 8,6 wird das Thema „Ehre“ in einer Weise grundsätzlich gefasst, dass es in der Geschichte des Christentums immer wieder als biblischer locus classicus der „Menschenwürde“ rezipiert wurde.98 IV.

Resümee

Versuchen wir abschließend, unsere Überlegungen zum Verständnis von Ps 8 zu bündeln: 1.

Die Würde des Menschen

Es sind zunächst zwei Grundeinsichten, die Ps 8 artikuliert und die ihn zu einem locus classicus der biblischen Anthropologie machen. Zum einen wird in allen Aussagen, die der Psalm über den Menschen macht, von JHWH her gedacht, es geht also darum, „was der Mensch von Gott her ist“99. Das unterstreicht die Rahmung durch die beiden Bewunderungsrufe in V. 2a und V. 10, die jeweils mit dem Tetragramm einsetzen. Charakteristisch ist zum anderen die zweideutige Rede vom Menschen. Ps 8 spricht vom königlichen Menschen, „also von der Hoheit des mit der Herrschaft über die Schöpfung betrauten und insofern von Gott ermächtigten Stellvertreters“100. Zugleich ist das Auftreten des Menschen durch potentielle Feindseligkeit qualifiziert, die sich – wie Ps 3,4; 4,3 und 7,6 zeigen – gegen den Bedrängten und dessen „Würde“ (dwbk „Ehre“) richtet. In Ps 8,6 wird das Thema „Menschenwürde“ grundsätzlich gefasst und die „Ehre“ und „Pracht“ allen Menschen zugesprochen. Damit ist Ps 8 „kontextuelles Widerlager gegen die Not des bedrängten Menschen in den individuellen Klageliedern“101. 2.

Das Gedenken Gottes

Ausgelöst wird die Zuschreibung der Menschenwürde an alle Menschen durch den Frage/Antwort-Zusammenhang von V. 4–5. Denn die Aussage, dass Gott an den Menschen „denkt“ (rkz) und er „sich seiner annimmt“ (dqp), richtet sich nicht darauf, dass er sich punktu98 S. dazu Neumann-Gorsolke, „Ehre“, 39ff. 99 Irsigler, Frage, 11 (Hervorhebung im Original), vgl. Neumann-Gorsolke, Herrschen, 34. 100 Hartenstein, „Recht“, 247. 101 Frevel, „Menschenwürde“, 270.

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

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ell einer Sache erinnert und eine andere vergisst, sondern darauf, dass er „in den Zusammenhängen geschöpflichen Lebens eine Wirklichkeit stiftet, die durch solche duale Abstraktionen selbst nicht zureichend erfaßt wird“102. Anders gesagt: „Gedenken ist der Inbegriff des rettenden Handelns Gottes, nicht eine überdimensionale Gedächtnisleistung, als ob Gott der Oberbuchhalter der Menschheit wäre“103. Es geht in Ps 8 nicht um den Menschen an sich oder um den Menschen in seiner Selbstbezüglichkeit, sondern um die Relation von Schöpfer und Geschöpf und um die Stellung des Menschen in der vom Schöpfer geschaffenen Welt – oder mit den Worten H.W. Wolffs: „Der Mensch des 8. Psalms, der seine Überlegenheit in der Welt entdeckt, kann sie nicht im Selbstruhm zur Sprache bringen, sondern nur in der preisenden Anrede Gottes (V. 6f.) (…) Und der ganze Psalm wird von der Antiphon gerahmt (V. 2.10) (…) Die Bestimmung zum Loben Gottes und also zum dankbaren Dialog mit dem Schöpfer wird in Psalm 8 deshalb nicht von einer Selbstfaszination des Menschen durch seine eigenen Fähigkeiten verdrängt, weil er sich selbst auch mit seiner eigenen Hilfsbedürftigkeit im Auge behält (V. 5).“104

3.

Was ist der Mensch?

Und schließlich: Mit der Adressierung der anthropologischen Grundfrage „Was ist der Mensch?“ an Gott verändert sich diese Frage von Grund auf. Denn für Ps 8 ist „die Frage nach dem Menschen keine, die Menschen von sich aus beantworten können; sie ist vielmehr nur als an Gott gerichtete sinnvoll. Dabei ist gerade die Form der Frage bezeichnend: Nicht eine bestimmte Antwort, die aus dem Gegenüber zu Gott gelöst werden könnte, sondern die offene Begegnung gibt ihr ihren Sinn“105 .

Es geht also um die Lebenswirklichkeit des Menschen, die als Wirklichkeit coram Deo und im Gegenüber zur nichtmenschlichen Kreaturwelt bestimmt wird. Die Wahrnehmung dieser Relationen und damit die Rückbindung an das schöpferische Handeln Gottes an Mensch und Welt entscheidet nach Ps 8 über das Menschsein des Menschen. Dieser Mensch ist kein Despot, sondern ein „Herrscher“, aber weder aus eigener Vollmacht noch über andere Menschen.106 102 Schüle, Gottes Handeln, 269, s. dazu auch Sauter, Leben, 38ff. 103 Sauter, Leben, 45 (Hervorhebung im Original). 104 Wolff, Anthropologie, 316f, vgl. 232f. 105 Schoberth, Einführung, 32. 106 Vgl. Hossfeld / Zenger, Psalm 1–50, 80; Irsigler, Frage, 24 und Frevel, „Menschenwürde“, 268ff.

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„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

Herrscher ist er allein im Auftrag des Schöpfergottes. Der Sinn dieser Herrschaft ist die „Darstellung der Herrschaft Gottes. Worin besteht die Herrschaft Gottes? Darin, dass sie die Dinge und Lebewesen in ihrem eigenen Wesen sein lässt. Gottes Herrschaft ist nicht Fremdherrschaft, sondern jener Zustand, in dem alle Dinge sein können und müssen, was sie von ihrem Wesen her sind.“107

Nichts anderes soll die Herrschaft des Menschen nach Ps 8 sein. Literatur Kommentare Beuken, W.A.M., Jesaja 28–39 (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien 2010 Duhm, B., Die Psalmen (KHC XIV), Tübingen 21922 Hartenstein, F. / Janowski, B., Psalmen (BK XV/1,2–4), Neukirchen-Vluyn 2015 / Göttingen 2018 Hossfeld, F.-L. / Zenger, E., Psalm 1–50 (NEB 29), Würzburg 1993 – / –, Psalmen 101–150 (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien 2008 Hupfeld, H., Die Psalmen I, Gotha 1855 Kraus, H.-J., Psalmen 1–59.60–150 (BK XV/1–2), Neukirchen-Vluyn 61989 Meinhold, A., Sprüche 1 (ZBK.AT XVI/1), Zürich 1991 Seybold, K., Die Psalmen (HAT I/15), Tübingen 1996

Weitere Literatur Albani, M., Der eine Gott und die himmlischen Heerscharen. Zur Begründung des Monotheismus bei Deuterojesaja im Horizont der Astralisierung des Gottesverständnisses im Alten Orient (ABG 1), Leipzig 2000 Barbiero, G., Das erste Psalmenbuch. Eine synchrone Analyse von Psalm 1–41 (ÖBS 1), Frankfurt a.M. 1999 Bons, E. / Brucker, R., Psalmoi / Das Buch der Psalmen, in: Kreuzer, S. (Hg.), Handbuch zur Septuaginta (LXX.H), Bd. 1: Einleitung in die Septuaginta, Gütersloh 2016, 333–353 Brünenberg, E., Wenn Jahwes Widerstand sich regt – Überlegungen zum alttestamentlichen Verständnis von Strafe, in: Kiesow, K. / Meurer, Th. (Hg.), Textarbeit (FS P. Weimar) (AOAT 194), Münster 2003, 53–74 –, Der Mensch in Gottes Herrlichkeit. Psalm 8 und seine Rezeption im Neuen Testament (fzb 119), Würzburg 2009 Crüsemann, F., Die Macht der kleinen Kinder. Ein Versuch, Ps 8,2b–3 zu verstehen, in: ders. u.a. (Hg.), Was ist der Mensch …? Beiträge zur Anthropologie des Alten Testaments (FS H.W. Wolff), München 1992, 48– 60 107

Spaemann, Meditationen, 72

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

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Floß, J.P., YHWH, unser Herr, wie wunderbar (ist) auf der ganzen Erde dein Name! Psalm 8 gelesen nach dem Modell des semiologischen Konstruktivismus, in: Diller, C. u.a. (Hg.), Studien zu Psalmen und Propheten (FS H. Irsigler) (HBS 64), Freiburg / Basel / Wien 2010, 27–46 Frevel, Chr., „Eine kleine Theologie der Menschenwürde“. Ps 8 und seine Rezeption im Buch Ijob, in: Hossfeld, F.-L. / Schwienhorst-Schönberger, L. (Hg.), Das Manna fällt auch heute noch. Beiträge zur Geschichte des Alten, Ersten Testaments (FS E. Zenger) (HBS 44), Freiburg / Basel / Wien 2004, 244–272 Gillingham, S., Psalm 8 Through the Looking Glass. Reception History of a Multi-Faceted Psalm, in: Burnett, J.S. et al. (Ed.), Diachronic and Synchronic. Reading the Psalms in Real Time, LHB 28 (2007) 167–196 Görg, M., Königliche Eulogie. Erwägungen zur Bildsprache in Ps 8,2: in: ders., Aegyptiaca – Biblica (ÄAT 11), Wiesbaden 1991, 299–308 –, Der Mensch als königliches Kind nach Ps 8,3, in: ders., Aegyptiaca – Biblica, 309–315 Hartenstein, F., Das Angesicht JHWHs. Studien zu seinem höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Exodus 32–34 (FAT I/55), Tübingen 2008 –, „Schaffe mir Recht, JHWH!“ (Psalm 7,9). Zum theologischen und anthropologischen Profil der Teilkomposition Psalm 3–14, in: Zenger, E. (ed.), The Composition of the Book of Psalms (BEThL 238), Leuven / Paris / Walpole, MA 2010, 229–258 –, „Spiritualisierung“ oder „Metaphorisierung“? Zur Erforschung der Transformation von Kultbegriffen in den Psalmen, VF 56 (2011) 52–58 –, Das Archiv des verborgenen Gottes. Studien zur Unheilsprophetie Jesajas und zur Zionstheologie der Psalmen in assyrischer Zeit (BThSt 74), Neukirchen-Vluyn 2011 –, „Damit nicht spricht mein Feind: Ich habe ihn vernichtet!“ (Psalm 13,5). Zur theologischen Funktion der Feindbilder in den Psalmen Israels, in: Moxter, M. / Firchow, M. (Hg.), Feindschaft. Theologische und philosophische Perspektiven (MThSt 117), Leipzig 2013, 19–39 – / Janowski, B., Art. Psalmen/Psalter I–III, RGG4 6 (2003) 1761–1777 Hossfeld, F.-L., Die Metaphorisierung der Beziehung Israels zum Land im Frühjudentum und im Christentum, in: Hahn, F. u.a. (Hg.), Zion. Ort der Begegnung (FS L. Klein) (BBB 90), Bodenheim 1993, 19–33 –, Von der Klage zum Lob – die Dynamik des Gebets in den Psalmen, BiKi 56 (2001) 16–20 Irsigler, H., Die Frage nach dem Menschen in Psalm 8, in: ders., Vom Adamssohn zum Immanuel (ATSAT 58), St. Ottilien 1997, 1–48 Janowski, B., Konfliktgespräche mir Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Göttingen 52019 –, Schöpferische Erinnerung. Zum „Gedenken Gottes“ in der biblischen Fluterzählung, in: ders., Die Welt als Schöpfung. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 4, Neukirchen-Vluyn 2008, 172–198 –, Der gute Hirte. Psalm 23 und das biblische Gottesbild, in: ders., Der nahe und der ferne Gott. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 5, Neukirchen-Vluyn 2014, 147–171

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Keel, O., Feinde und Gottesleugner. Studien zum Image der Widersacher in den Individualpsalmen (SBM 7), Stuttgart 1969 –, Altorientalische Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Göttingen 51996 Koch, K., Imago Dei – Die Würde des Menschen im biblischen Text, Hamburg 2000 Köckert, M., „Wo warst du, als ich die Erde gründete?“ (Hi 38,4). Aspekte des Verhältnisses von Kosmologie und Anthropologie im Alten Testament, in: Janowski, B. / Schwöbel, Chr. (Hg.), Der entgrenzte Kosmos und der begrenzte Mensch, Neukirchen-Vluyn 2016, 34–65 Krawelitzki, J., Gottes Macht im Psalter (FAT II/97), Tübingen 2017 Krüger, A., Himmel – Erde – Unterwelt. Kosmologische Entwürfe in der poetischen Literatur Israels, in: Janowski, B. / Ego, B. (Hg.), Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte (FAT 32), Tübingen 2001/22004, 65–83 –, Das Lob des Schöpfers. Studien zu Sprache, Motivik und Theologie von Ps 104 (WMANT 124), Neukirchen-Vluyn 2010 Kumpmann, Chr., Schöpfen, Schlagen, Schützen. Eine semantische, thematische und theologische Untersuchung des Handelns Gottes in den Psalmen (BBB 177), Göttingen 2016 Liess, K., Der Weg des Lebens. Psalm 16 und das Lebens- und Todesverständnis der Individualpsalmen (FAT II/5), Tübingen 2004 van der Lugt, P., Cantos and Strophes in Biblical Hebrew Poetry with Special Reference to the First Book of the Psalter, OTS 53, Leiden / Boston 2006 Neumann-Gorsolke, U., „Mit Ehre und Hoheit hast Du ihn gekrönt“ (Ps 8,6b). Alttestamentliche Aspekte zum Thema Menschenwürde, JBTh 15 (2000) 39–65 –, Herrschen in den Grenzen der Schöpfung. Ein Beitrag zur alttestamentlichen Anthropologie am Beispiel von Psalm 8, Genesis 1 und verwandten Texten (WMANT 101), Neukirchen-Vluyn 2004 –, „Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen …“ Ps 8,3 im Spiegel der Teilkomposition Ps 3–14, in: Grund, A. u.a. (Hg.), Ich will dir danken unter den Völkern. Studien zur israelitischen und altorientalischen Gebetsliteratur (FS B. Janowski), Gütersloh 2013, 15–35 Salo, R.S., Die judäische Königsideologie im Kontext der Nachbarkulturen. Untersuchungen zu den Königspsalmen 2, 18, 20, 21, 45 und 72 (ORA 25), Tübingen 2107 Saur, M., Die Königspsalmen. Studien zur Entstehung und Theologie (BZAW 340), Berlin / New York 2004 Sauter, G., Das verborgene Leben. Eine theologische Anthropologie, Gütersloh 2011 Schellenberg, A., Der Mensch, das Bild Gottes? Zum Gedanken einer Sonderstellung des Menschen im Alten Testament und in weiteren altorientalischen Quellen (AThANT 101), Zürich 2011 –, Warum Hiob trotz Krankheit getröstet sein kann, ThZ 74 (2018) 48–68 Schmidt, U., „Augen war ich für den Blinden …“ (Hi 29,15). Mensch, Körper und Gesellschaft in Hiob 29 und 30, VT 67 (2017) 87–104

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“

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Schmidt, W.H., Die Schöpfungsgeschichte der Priesterschrift. Zur Überlieferungsgeschichte von Genesis 1,1–2,4a und 2,4b–3,24 (WMANT 17), Neukirchen-Vluyn 31973 Schnieringer, H., Psalm 8. Text – Gestalt – Bedeutung (ÄAT 59), Wiesbaden 2004 Schoberth, W., Einführung in die theologische Anthropologie, Darmstadt 2006 Schottroff, W., „Gedenken“ im alten Orient und im Alten Testament. Die Wurzel zåkar im semitischen Sprachkreis (WMANT 15), NeukirchenVluyn 21967 Schüle, A., Gottes Handeln als Gedächtnis, in: Eckstein, H.-J. / Welker, M. (Hg.), Die Wirklichkeit der Auferstehung, Neukirchen-Vluyn 2002, 237–275 Sedlmeier, F., „Vom Mutterschoß her bin ich geworfen auf dich“ (Ps 22,11). Wert und Würde des Menschen nach Texten des Alten Testaments, in: Frevel, Chr. (Hg.), Neue Einsichten aus dem Alten Testament (QD 237), Freiburg / Basel / Wien 2010, 300–316 Spaemann, R., Meditationen eines Christen. Über die Psalmen 1–51, Stuttgart 2014 Spieckermann, H., Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen (FRLANT 148), Göttingen 1989 Steck, O.H., Beobachtungen zu Psalm 8, in: ders., Wahrnehmungen Gottes im Alten Testament (TB 70), München 1982, 221–231 Wälchli, St.H., Der weise König Salomo. Eine Studie zu den Erzählungen von der Weisheit Salomos in ihrem alttestamentlichen und altorientalischen Kontext (BWANT 141), Stuttgart 1999 Wagner, A., Gottes Körper. Zur alttestamentlichen Vorstellung der Menschengestaltigkeit Gottes, Gütersloh 2010 –, Art. Finger of God, EBR 9 (2014) 52f Weber, B., Werkbuch Psalmen III. Theologie und Spiritualität des Psalters und seiner Psalmen, Stuttgart 2010 Weippert, M., Tier und Mensch in einer menschenarmen Welt. Zum sog. dominium terrae in Genesis 1, in: Mathys, H.-P. (Hg.), Ebenbild Gottes – Herrscher über die Welt. Studien zu Würde und Auftrag des Menschen (BThSt 33), Neukirchen-Vluyn 1998, 35–55 Wolff, H.W., Anthropologie des Alten Testaments. Mit zwei Anhängen neu hg. von B. Janowski, Gütersloh 2010/22018 Zenger, E., Psalmenexegese und Psalterexegese. Eine Forschungsskizze, in: ders., The Composition of the Book of Psalms (BEThL 238), Leuven / Paris / Walpole, MA 2010, 17–65

Persönlichkeitszeichen Ein Beitrag zum Personverständnis des Alten Testaments Elena Cassin in memoriam

I.

Zur Fragestellung

Die Frage nach der »Personalen Identität« im Alten Testament ist in den letzten Jahren, ausgehend von einer Definition R.A. di Vitos, intensiver erörtert worden.1 Di Vito hatte die personale Identität – er spricht vom »Subjekt« – anhand von vier ›Identitätsmarkern‹ definiert und diese folgendermaßen beschrieben: »Das Subjekt ist (1) zutiefst eingebettet in seine soziale Identität bzw. eng damit verbunden. Es ist (2) vergleichsweise dezentriert und undefiniert im Blick auf die Grenzen seiner Person. Es ist (3) relativ transpa1 Zum alttestamentlichen Personbegriff s. Dietrich, J., Individualität im Alten Testament, Alten Ägypten und Alten Orient, in: A. Berlejung u.a. (Hg.), Menschenbilder und Körperkonzepte im Alten Israel, in Ägypten und im Alten Orient (ORA 9), Tübingen 2012, 77–96; ders., Sozialanthropologie des Alten Testaments. Grundfragen zur Relationalität und Sozialität des Menschen im alten Israel, ZAW 127 (2015) 224–243; Frevel, Chr., Person – Identität – Selbst. Eine Problemanzeige aus alttestamentlicher Perspektive, in: J. van Oorschot / A. Wagner (Hg.), Anthropologie(n) des Alten Testaments (VWGTh 42), Leipzig 2015, 65–89; ders. / Wischmeyer, O., Menschsein. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments (NEB.T 11), Würzburg 2003, 26ff (Frevel); Grohmann, M., Diskontinuität und Kontinuität in alttestamentlichen Identitätskonzepten, in: M. Öhler (Hg.), Religionsgemeinschaft und Identität. Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike (BThSt 142), Neukirchen-Vluyn 2013, 17–42; Gruber, M. / Michel, A., Art. Individualität, SWB, 270–274; Janowski, B., Wie spricht das Alte Testament von »Personaler Identität«? Ein Antwortversuch, in: E. Bons / K. Finsterbusch (Hg.), Konstruktionen individueller und kollektiver Identität I (BThSt 161), Neukirchen-Vluyn 2016, 31– 61; Neumann, K., Art. Person, HGANT4, 362f; Schroer, S. / Zimmermann, R., Art. Mensch / Menschsein, SWB, 368–376; Staubli, Th. / Schroer, S., Menschenbilder der Bibel, Ostfildern 2014, 11ff; di Vito, R.A., Alttestamentliche Anthropologie und die Konstruktion personaler Identität, in: B. Janowski / K. Liess (Hg.), Der Mensch im alten Israel. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie (HBS 59), Freiburg / Basel / Wien 2009, 213–241; Wagner, A., Körperbegriffe als Stellvertreterausdrücke der Person in den Psalmen, in: ders., Beten und Bekennen. Über Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2008, 289–317 u.a. – Die folgenden Überlegungen sind dem Gedächtnis der französischen Assyriologin E. Cassin (1909–2011) gewidmet, die für mich in den 1970er Jahren zu einer wichtigen Bezugsperson wurde. Zu ihrem Oeuvre s. Glassner, J.J., Elena Cassin, RA 104 (2010) 1f. Für das Thema »Persönlichkeitszeichen« besonders relevant ist ihr Aufsatz Cassin, E., Symboles de cession immobilière dans l’ancien droit mésopotamien, in: dies., Le semblable et le différent. Symbolismes du pouvoir dans le Proche-Orient ancien, Paris 1987, 280–337.

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Persönlichkeitszeichen

rent, ins gesellschaftliche Leben eingebunden und darin verkörpert (mit anderen Worten: es ermangelt all dessen, was mit ›inneren Tiefen‹ bezeichnet ist). Und schließlich ist es (4) ›authentisch‹ gerade in seiner Heteronomie, in seinem Gehorsam anderen gegenüber und in seiner Abhängigkeit von anderen.«2

Diese Definition hebt zu Recht hervor, dass die personale Identität durch Konstellationen zustande kommt, die komplexe, auf Sozialität und Gegenseitigkeit ausgerichtete Beziehungen des Menschseins zum Ausdruck bringen. Das Insistieren auf der Eingebundenheit des einzelnen in soziale Zusammenhänge war – und ist – ohne Zweifel ein richtiger Ansatz. Di Vitos Definition übersieht aber, dass die personale Identität – wie vor allem J. Dietrich und Chr. Frevel kritisch eingewandt haben3 – in gleicher Weise durch Binnenmotivationen konstituiert wird, die den Bezug zur Außenwelt steuern und beeinflussen. Nach alttestamentlicher Vorstellung ist es vor allem das Herz (leb/ lebåb), das diese ›Motivationsarbeit‹ leistet.4 Das Herz ist der Ort der emotionalen, kognitiven und voluntativen Fähigkeiten und Bestrebungen des Menschen, die in seinem Inneren ansetzen, sich aber auf die Außenwelt und deren mannigfache Anforderungen richten. Die von der Kritik an di Vitos Thesen angestoßene Diskussion wird zweifellos zu weiteren Differenzierungen führen. Dabei sollte, um umgekehrte Einseitigkeiten zu vermeiden, allerdings beachtet werden, dass für das alttestamentliche Personverständnis nicht nur das Konzept des »inneren Menschen«,5 sondern auch das Vorhandensein von »äußeren Zeichen« konstitutiv ist. Zu diesen äußeren Zeichen gehören die sog. »Persönlichkeitszeichen«, die sich am Körper befinden (Beschneidung, Tätowierung, Körpereinritzung u.a.) bzw. mit ihm verbunden sind (Gewänder, Gebetsriemen, Sandalen u.a.). Es können aber auch ›körperlose‹ Dinge wie der Name oder Eigenschaften/Qualitäten wie »Ehre«, »Gerechtigkeit« oder »Schande« sein. Der Rechtshistoriker P. Koschaker (1879–1951) hatte diesem Thema vor gut 75 Jahren einen kurzen, aber aufschlussreichen Aufsatz gewidmet und den Ausdruck »Persönlichkeitszeichen« wie folgt eingeführt: 2 Di Vito, Anthropologie (s. Anm. 1), 217, s. dazu auch ders., Art. Anthropology II, EBR 2 (2009) 117–126. 3 S. dazu Dietrich, Individualität (s. Anm. 1), 79ff; Frevel, Person (s. Anm. 1), 69ff.73ff.75ff.79ff, ferner Grohmann, Diskontinuität (s. Anm. 1), 36f und Janowski, Wie spricht das Alte Testament (s. Anm. 1), 34f. 4 S. dazu Janowski, B., Das Herz – ein Beziehungsorgan. Zum Personverständnis des Alten Testaments, in: ders. / Chr. Schwöbel (Hg.), Dimensionen der Leiblichkeit (Theologie Interdisziplinär 16), Neukirchen-Vluyn 2015, 1–45 und Frevel, Person (s. Anm. 1), 85ff. 5 Zur Entdeckung des »inneren Menschen« im Alten Testament s. vorläufig Janowski, Herz (s. Anm. 4), 6ff und Frevel, Person (s. Anm. 1), 73ff.

Persönlichkeitszeichen

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»Ich verstehe unter Persönlichkeitszeichen solche Gegenstände, Teile, aber auch Bezeichnungen des menschlichen Körpers (wie z.B. den Namen), die, unter Umständen auch von ihrem Träger getrennt, den Menschen repräsentieren, ihn darstellen können. Das Thema ist unendlich und unerschöpflich. Erstens, weil es in die verschiedenen Gebiete des menschlichen Lebens eingreift: in Recht, Religion, Kult, Zeremonienwesen, Sitte, Brauchtum, Reliquienverehrung, Zauberei, Aberglauben usw.; zweitens, weil es sich um Erscheinungen, Vorstellungen handelt, die, über die ganz Erde verbreitet, an kein bestimmtes Volkstum gebunden, vielmehr allgemein menschlicher Natur sind und daher, zugleich höchst volkstümlich und primitiv, einerseits den Zugang zu dem Denken und Fühlen sogar des prähistorischen Menschen eröffnen, wie sie andererseits noch im Menschen unserer Tage lebendig sind; drittens, weil die Persönlichkeitszeichen selbst sehr mannigfaltige sind: Name, Haare, Fingernägel, Speichel, Kleid, Hut, Schuh, Ring, Fußspur, Stab u.a.m.«6

Die äußeren bzw. dinglichen Persönlichkeitszeichen sind offensichtlich etwas anderes als das innere Ichbewusstsein. Und dennoch geht es bei ihnen um mehr als nur um die sichtbare Außenseite der Person. Vielmehr ist das Persönlichkeitszeichen, wie Koschaker am Beispiel des Kleides weiter ausführt, »nicht Symbol der Persönlichkeit als eines seelisch-geistigen Phänomens, sondern es ist die Person selbst«7, d.h. es »übernimmt die Eigenschaften seines Trägers, verselbigt sich mit ihm und wird so befähigt, ihn auch, von ihm getrennt, zu reproduzieren«8. Dieser Hinweis ist im Folgenden im Blick zu behalten. Allerdings sind dabei die substanzontologischen Implikationen der Koschaker’schen Definition (ein Persönlichkeitszeichen »ist die Person selbst«) zu vermeiden und stattdessen die semiotischen Aspekte der Persönlichkeitszeichen, d.h. ihr Zeichencharakter zu betonen. In den Kultur- und Sozialwissenschaften gibt es seit längerem eine intensive Diskussion zu der Frage, inwiefern Dinge Zeichencharakter besitzen. »Der Umgang mit Dingen«, schreiben T. L. Kienlin und A. Widura, »begründet kulturelle Wirklichkeit. Er stellt individuelle oder gesellschaftliche Identität her, dient der sozialen Distinktion und vermittelt dies dem Betrachter. Dinge sind Zeichen, wenn sie bei ihrer Verwendung und Wahrnehmung Sinn erlangen und eine spezifische, non-verbale Kommunikation ermöglichen«9. 6 Koschaker, P., Persönlichkeitszeichen, FF 18 (1942) 246–248, hier: 246. Zu Leben und Werk von Koschaker s. Neumann, H., Art. Paul Koschaker, DNP Supplemente 6 (2012) 666–668. 7 Koschaker, Persönlichkeitszeichen, 248. 8 Koschaker, Persönlichkeitszeichen, 248. 9 Kienlin, T.L. / Widura, A., Art. Dinge als Zeichen, in: St. Samida u.a. (Hg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart / Weimar 2014, 31–38, hier: 31.

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Persönlichkeitszeichen

Der angemessene Umgang mit Dingen unterliegt dabei Regeln, die dazu beitragen, sie zu einem »wichtigen Medium der Vermittlung konkreter Fertigkeiten, Verhaltensweisen oder allgemein kulturellen Wissens«10 zu machen. Insofern können Dinge wie die im Folgenden zu besprechenden Persönlichkeitszeichen »Name«, »Gewand(saum)« und »Sandale« Gegenstand von Sinnzuweisungen werden und das soziale Handeln steuern.

II.

Persönlichkeitszeichen im Alten Testament

1.

Überblick

Beginnen wir mit einem Überblick über die Persönlichkeitszeichen im Alten Testament.11 Neben dem Namen als dem primären identity marker gehören der Körper, bestimmte Objekte sowie Eigenschaften / Qualitäten zu den Persönlichkeitszeichen im alten Israel. Alle diese Persönlichkeitszeichen kommen in Zusammenhängen vor, die für das religiöse, politische, rechtliche und soziale Leben von elementarer Bedeutung sind. Dass es dabei – wie etwa im Fall von Dtn 25,5– 10 (Name und Sandale)12 – zu Überschneidungen kommen kann, liegt in der Natur der Sache. Im Einzelnen: a)

Der Name als Persönlichkeitszeichen Gott – Namensoffenbarung (Ex 3,13f; 6,2f, vgl. Gen 32,30; Hos 1,9 u.ö.) – Namensanrufung als Kultakt (Gen 4,26, vgl. Gen 12,8; Jer 10,25; Ps 79,6 u.ö.) – Missbrauchsverbot des Namens (Ex 20,7 par. Dtn 5,11, vgl. Lev 24,16) – Wohnen-Lassen des Namens (Dtn 12,11; 14,23; 16,2.6.11; 26,2 u.ö.)

10 Kienlin, T.L. / Widura, A., Art. Dinge als Zeichen, 31. 11 Auch in Mesopotamien, Ugarit und Kleinasien spielen Persönlichkeitszeichen eine große Rolle. Dazu zählen in Mesopotamien der Name (çumu), der Fingernagel (abdruck) (‚upru), der Gewand(saum) (qannu) / der Gewandzipfel (sissiktu) und der Fuß(abdruck) (ç™pu), s. dazu Cassin, Symboles de cession immobilière (s. Anm. 1), 280ff; Liverani, M., Segni arcaici di individuazione personale. A proposito del motivo del riconascimento nei tragici, Rivista di Filologia e di Istruzione Classica 105 (1977) 106–118, hier: 106f.110ff; Petschow, H., Art. Gewand(saum) im Recht, RLA 3 (1957–1971) 318–322; Malul, M., Studies in Mesopotamian Legal Symbolism, AOAT 221, Kevelaer / Neukirchen-Vluyn 1988, 179ff.197ff.286ff.292ff.299ff; Radner, K., Die Macht des Namens. Altorientalische Strategien zur Selbsterhaltung, Wiesbaden 2005, 27ff; Steinert, U., Aspekte des Menschseins im Alten Mesopotamien. Eine Studie zu Person und Identität im 2. und 1. Jt. v.Chr. (CM 44), Leiden / Boston 2012, 224ff.433ff und Krawelitzki, J., Art. Footwear I, EBR 9 (2014) 403– 406. 12 S. dazu unten 56ff.

Persönlichkeitszeichen

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Mensch / Israel / Völker – Namengebung bei der Geburt (Gen 16,15f; 35,16ff; Ri 13,24; 1 Sam 1,19f; 2 Sam 12,24 u.ö.) – Namensänderungen (Gen 17,15; 32,29; 41,45, vgl. 2 Kön 24,17 u.ö.) – Ausrufung des Namens als Rechtsakt (Dtn 28,10; Jes 4,1; Jer 14,9; 15,16; Am 9,12 u.ö.)13 – Fortleben der Person im Namen (Gen 48,16; Num 27,4, vgl. Dtn 25,6f; Ruth 4,5 u.ö.) – Vergehen des Namens (damnatio memoriae) (Ps 41,6; Hi 18,17–19, vgl. Jes 14,22; Hi 30,8 u.ö.)14 Tiere / Pflanzen – Namengebung (Gen 2,19f) – Tier / Pflanzen als Personennamen (74 Tier-, 14 Pflanzennamen) Dinge (Städte, Länder, Tempel, Lade) – Ausrufung des Namens als Rechtsakt (2 Sam 6,2; 12,26–28; Jer 7,10f; Ps 49,12 u.ö.)

b)

Der Körper als Persönlichkeitszeichen Selbstminderungsriten15 praktiziert (vorexilische/exilische Texte) – Scheren des Haupthaares (Jes 3,24; 22,12; Jer 7,29; 16,6; 41,5; Ez 7,18 u.ö.) – Bestreuen des Hauptes mit Asche/Erde (Jos 7,6; 2 Sam 3,31; Ps 35,13; 69,12; Klgl 2,10 u.ö.) – Ritzen der Haut (Jer 16,6; 41,5) verboten für Laien und Priester (nachexilische Texte) – Rasur des Kopfes / des Bartes (Lev 19,27; 25,1; Dtn 14,1) – Körpereinschnitte (Lev 19,28; 25,1; Dtn 14,1) Demütigung / Beschämung – Abschneiden der Hälfte des Bartes (2 Sam 10,4 par. 1 Chr 19,4, vgl. Jes 7,20) – Bespucken (Dtn 25,9, vgl. Num 12,14; Jes 50,6; Hi 17,6; 30,9f) Beschneidung und Tätowierung – Beschneidung (geboten: Gen 17,9–14; Ex 4,24–26; Lev 12,1–3) – Tätowierung (verboten: Lev 19,28)

13 S. dazu Galling, K., Die Ausrufung des Namens als Rechtsakt in Israel, ThLZ 81 (1956) 65–70. 14 Zur damnatio memoriae s. unten 47. 15 Zur Bezeichnung »Selbstminderungsriten«, die im Folgenden nicht eigens zum Thema gemacht werden, s. Kutsch, E., »Trauerbräuche« und »Selbstminderungsriten« im Alten Testament, in: ders., Kleine Schriften zum Alten Testament (BZAW 168), Berlin 1986, 78–95.

42 c)

Persönlichkeitszeichen

Objekte als Persönlichkeitszeichen Kleid / Gewand – Pfändung des Gewands (Ex 22,25f; Dtn 24,12f, vgl. Am 2,8; Spr 20,16; 27,13; Hi 22,6 u.ö.) – An-/Ablegen des heiligen Gewands (Lev 16,4.23f)16 – Kleiderwechsel (Dtn 21,13 u.ö., verboten: Dtn 22,5) – Anlegen eines ¬aq (Gen 37,24; 2 Sam 3,31; 1 Kön 20,31f; Am 8,10 u.ö.) – Zerreißen des Gewands (Gen 37,34; 2 Sam 1,11; 3,31; Jer 41,4; Hi 1,20 u.ö.) – Ablegen des Trauergewands (Ps 30,12) – Übergabe der Gewänder (1 Sam 18,4) – Abschneiden des Gewands bis zum Gesäß (2 Sam 10,4 par. 1 Chr 19,4, vgl. Jes 20,4f; Nah 3,5: Aufdecken der Rocksäume bis zum Gesicht) – Wegnahme der Kleidung (Jes 20,2–4; Ez 5,1–4; Jer 41,4f) – Nacktheit und Scham/Schande (Gen 2,25; 3,7.10f; 9,22f; Jes 20,4) Turban und Geschmeide, Zeichen an Stirn und Arm – Turban und Geschmeide (Jes 61,10) – Kapsel zwischen den Augen (Dtn 6,8; 11,18, vgl. Ex 13,16) – Gebetsriemen am Arm (Dtn 6,8; 11,18, vgl. Ex 13,16) Fuß / Sandale – Betreten der Erde / des Landes (Gen 1,28, vgl. Num 32,22.29; Jos 18,1; 1 Chr 22,18) – Abschreiten des Landes/Weinbergs (Jos 18,4.8; 1 Kön 21,16 u.ö.) – Ausziehen/Werfen der Sandale (Ruth 4,6–8, vgl. Dtn 25,9f; Ps 60,10; 108,10)

d)

Eigenschaften / Qualitäten als Persönlichkeitszeichen Gott – Hoheit / Pracht / Macht / Kraft / Glanz (Jes 51,9; Ps 29,1.4; 65,7; 71,8; 93,1; 96,6; 104,1) – Licht (Ps 104,2) – Gerechtigkeit / Recht / Rettung / Treue / Wahrheit (Jes 59,17; Ps 85,14; Ps 89,15) – Ahndung und Eifer (Jes 59,17) König – Hoheit und Pracht (Ps 21,6; 45,4) Priester – Gerechtigkeit / Rettung (Ps 132,9.16, vgl. 2 Chr 6,41)

16 S. dazu Bender, C., Die Sprache des Textilen. Untersuchungen zu Kleidung und Textilien im Alten Testament (BWANT 177), Stuttgart 2008, 248ff.

Persönlichkeitszeichen

43

Mensch – Ehre/Herrlichkeit und Pracht (Ps 8,6, vgl. die ironische Aufforderung Hi 40,10) – Gerechtigkeit, Recht, Rettung (Jes 61,10; Hi 29,14) – Geist JHWHs (Ri 6,34; 1 Chr 12,19; 2 Chr 24,20)17 – Schande (Ps 35,26; 109,18.29, vgl. Hi 8,22) – Furcht (Ez 7,27; 26,16)

Wie diese Übersicht zeigt, ist das Thema »Persönlichkeitszeichen« sehr komplex. Im Folgenden beschränken wir uns aus pragmatischen Gründen auf drei ausgewählte Aspekte: den Namen, das Gewand und die Sandale. 2.

Texte und Themen

a)

Der Name als identity marker

In vormodernen Kulturen wie Ägypten, Mesopotamien oder dem alten Israel war der Name nicht »Schall und Rauch« (Goethe, Faust I, 3457), sondern ein Persönlichkeitszeichen erster Ordnung: »Name und Namensträger (werden) als bis zur Austauschbarkeit zusammengehörig empfunden: Die Existenz des einen ist an die Existenz des anderen geknüpft. Dem Akt der Namengebung kommt deshalb genauso viel Bedeutung zu wie dem Schöpfungsakt, auf den er zwingend folgt und mit dem er deshalb weitgehend identifiziert wird.«18

Das zeigt für das Alte Testament bereits der priesterliche Schöpfungsbericht, demzufolge die Benennung der Schöpfungswerke ein kreativer Akt ist. So heißt es vom ersten Schöpfungswerk in Gen 1,3–5: 1 Am Anfang hat Gott Himmel und Erde geschaffen. 2 Und die Erde war Tohuwabohu, und Finsternis war über der Oberfläche der Urflut, und der Wind Gottes war in Bewegung über der Oberfläche des Wassers. 3 Da sprach Gott: »Es werde Licht«, und es wurde Licht. 17 Der Satz »Der Geist JHWHs hatte Gideon angezogen (låbaç)« (Ri 6,34a, vgl. 1 Chr 12,19; 2 Chr 24,20) enthält eine kühne Metapher, die nach Groß, W., Richter, HThK.AT, Freiburg / Basel / Wien 2009, 427 folgendes besagt: »der Geist füllt Gideon derartig aus, dass er gleichsam Gideon angezogen hat, d.h. dass Gideon nur die Hülle des durch ihn wirkenden Geistes JHWHs ist«, vgl. 364 und Müller, R., Art. Kleidung, WAM, 268–272, hier: 272. 18 Radner, Macht des Namens (s. Anm. 11), 15.

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Und Gott sah das Licht, dass es gut war. Und Gott schied zwischen dem Licht und der Finsternis. Und Gott nannte (qr∞) das Licht Tag, die Finsternis aber nannte er (qr∞) Nacht. Und es wurde Abend, und es wurde Morgen: ein Tag.19

Auch der Beginn des mesopotamischen Weltschöpfungsepos En¨ma eliç »Als oben« verdeutlicht diesen Zusammenhang von physischer Existenz und Namengebung, aber gleichsam via negativa: 1 2 3 4

Als oben die Himmel nicht benannt waren, unten die Erde mit Namen nicht ausgesprochen war, (da) war Apsû, der Erste, ihr Erzeuger, (und) Mummu Ti∞åmat, die sie alle gebar. (Ee I 1–4)20

Die anthropologische Seite der Namengebung tritt im Alten Testament zum ersten Mal in Gen 2,19f in Erscheinung, wo dem ersterschaffenen Menschen die Aufgabe zukommt, die Tiere zu benennen: 19

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Da bildete JHWH Elohim aus dem Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels, und er brachte (sie) zum Menschen, um zu sehen, wie er sie nennen würde, und alles, was der Mensch zu ihnen sagt – ein lebendiges Wesen21 –, das sollte ihr Name (çem) sein. Da gab der Mensch Namen (çemôt) allem Vieh und den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes, aber der Mensch – nicht fand man eine Hilfe, die zu ihm passt.

19 Vgl. V. 8 (Himmelsfeste) und V. 10 (Trockenes, Ansammlung des Wassers), s. dazu Keel, O. / Schroer, S., Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Göttingen / Freiburg, Schweiz 22008, 135 und Janowski, B., Die Welt des Anfangs. Gen 1,1–2,4a als Magna Charta des biblischen Schöpfungsglaubens, in: ders., Der nahe und der ferne Gott. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 5, Neukirchen-Vluyn 2014, 3–29, hier: 9ff. 20 Übersetzung: TUAT.NF 8 (2015) 89f (K. Hecker). Zum Zusammenhang von Existenz und Namengebung im En¨ma eliç s. noch Ee I 8.10 (Entstehung der Götter); V 137 (Babylon); VI 6 (Menschen); VI 51 (Marduktempel) u.ö. 21 Nach Bührer, W., Am Anfang … Untersuchungen zur Textgenese und zur relativ-chronologischen Einordnung von Gen 1–3 (FRLANT 256), Göttingen 2014, 222ff ist dieser Satzteil am ehesten als Randglosse zu verstehen. Anders Schellenberg, A., »Und ganz wie der Mensch es nennt …« Beobachtungen zu Gen 2,19f, in: »… der seine Lust hat am Wort des Herrn!« (FS E. Jenni) (AOAT 336), hg. von J. Luchsinger u.a., Münster 2007, 291–308, hier: 298ff, die næpæç ªajjåh auf den Menschen bezieht und übersetzt: »und so wie der Mensch, das lebendige Wesen, sie nannte, so war ihr Name« (301).

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Die Namengebung ist zum einen ein Herrschaftsakt, durch den die Tiere ihrem jeweiligen Lebensbereich – die Vögel dem Himmel, die Fische dem Meer und die Landtiere der Erde – zugeordnet werden,22 und zum anderen ein Sprachakt, »die das Begegnende in seiner Eigen-Art erkennt, der humanen Existenz ›assimiliert‹ und dann wiedergibt«23. In der Benennung der Tiere vollzieht sich mithin so etwas wie die »symbolische Eroberung der Welt«24, indem der Mensch die nichtmenschlichen Geschöpfe in die nach Lebensräumen gegliederte Welt ›einfügt‹ und sich damit zu ihnen verhalten kann. Etwas Ähnliches geschieht auch in der Namengebung eines Kindes, das damit zur sozialen Person, der ersterschaffenen Frau, die zur Partnerin (Gen 2,23), und einem Ort, der zu einer (heils-)geschichtlich bedeutsamen Stätte (Gen 28,19) wird.25 Die Namengebung des Kindes schließt als erste Stufe der ›sozialen Geburt‹ den Vorgang der biologischen Geburt ab (vgl. Gen 16,15f; 21,1ff; 35,16ff u.a.). Dabei wurde dem Neugeborenen in der Regel von der Mutter ein Name gegeben (vgl. Gen 30,11; Ri 13,24; 1 Sam 1,19f u.ö.), aber auch die Benennung durch den Vater ist belegt, wie Gen 5,3; 16,15f und 2 Sam 12,24 zeigen: 15 16

Und Hagar gebar dem Abram einen Sohn; und Abram gab seinem Sohn, den Hagar geboren hatte, den Namen (çem) Ismael. Und Abram war 86 Jahre alt, als Hagar dem Abram Ismael gebar. (Gen 16,15f)

Unter den ca. 1.400 Personennamen des Alten Testaments stellen die Tier- und Pflanzennamen einen Spezialfall dar. Wo man über den Fleiß der Ameise (Spr 6,6; 30,24ff), den Ordnungssinn des Storches (Jer 8,7), den ›Durchblick‹ der Eselin (Num 22,22ff) oder die Eigenart des Steinbocks (jå˛el, s. Abb. 1) staunt, »fehlt es nicht an Verbundenheit. Eltern stellten bei ihren Kindern Eigenheiten fest, die sie an bestimmten Tiere bewunderten, oder wünschten ihrem Kind solche Fähigkeit. So scheinen Klugheit, Flinkheit, Kraft, 22 Deshalb handelt es sich auch nicht um Eigen-, sondern um Gattungsnamen, vgl. Schellenberg, Ganz wie der Mensch (s. Anm. 21), 304f. 23 Müller, H.-P., Mythische Elemente in der jahwistischen Schöpfungserzählung, in: ders., Mythos – Kerygma – Wahrheit. Gesammelte Aufsätze zum Alten Testament in seiner Umwelt und zur Biblischen Theologie (BZAW 200), Berlin / New York 1991, 3–42, hier: 29. 24 Link, Chr., Der Mensch als Geschöpf und als Schöpfer, in: J. Moltmann (Hg.), Versöhnung mit der Natur (KT 92), München 1986, 15–47, hier: 23. 25 Vgl. Keel / Schroer, Schöpfung (s. Anm. 19), 135 und Schroer, S. / Zimmermann, R., Art. Namen, SWB, 416–420, hier: 417.

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soziale Integration und ähnliches begehrte Eigenschaften gewesen zu sein«26.

Abb. 1: Stempelsiegel mit Steinbock und althebräischer Inschrift »Der Jaël (gehörig)« (8./7. Jh. v.Chr.)

Das zweite Beispiel sind Satznamen und Namen, die eine bestimmte Bedeutung für die Eltern haben und Ausdruck der Familienreligion sind.27 Das wird deutlich, wenn man nach dem Vorgang fragt, zu dem die Namengebung gehört. Einerseits schließt sie das Ereignis der Geburt ab und gibt der Freude darüber Ausdruck (vgl. Danknamen wie Ismael oder Samuel). Andererseits bedeutet jede Geburt eine Gefährdung der Frau und damit der gesamten Familie und Sippe. In Gen 35,16–20 wird berichtet, wie sich das Schicksal Rahels, die bei einer schweren Geburt stirbt, in der Namengebung spiegelt: 16 17 18 19 20

Und sie brachen auf von Bethel, und als noch eine Landspanne war, um nach Ephrata zu gehen, gebar Rahel; und sie hatte es schwer beim Gebären. Und als es ihr schwer wurde beim Gebären, sagte die Hebamme zu ihr: »Fürchte dich nicht, denn auch dieser wird dir ein Sohn!« Und als ihr Leben sie verließ, denn sie starb, nannte sie seinen Namen (çem) Ben-Oni (»Sohn meiner Trauer«), sein Vater aber nannte ihn Benjamin (»Sohn zur Rechten«). Und Rahel starb und wurde begraben am Weg nach Ephrata, das ist Bethlehem. Und Jakob errichtete seine Massebe auf ihrem Grab, das ist die Massebe des Rahelgrabes bis heute.

26 Keel / Staubli, »Im Schatten deiner Flügel«. Tiere in der Bibel und im Alten Orient, Freiburg, Schweiz 2001, 27 (I. Glatz), s. dazu umfassend Riede, P., Im Spiegel der Tiere. Studien zum Verhältnis von Mensch und Tier im alten Israel (OBO 187), Freiburg, Schweiz / Göttingen 2002, 165ff. 27 S. dazu Albertz, R. / Schmitt, R., Family and Household Religion in Ancient Israel and the Levant, Winona Lake / IN 2012, 245ff u.a.

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Mit dem Namen ist ein weiterer Aspekt verbunden, der über das diesseitige Leben hinausweist und seine Präsenz im kollektiven Gedächtnis der Gemeinschaft betrifft. Das kann man sich via negativa am Beispiel von Ps 41,5–11 verdeutlichen. Hier klagt der kranke Beter nicht nur darüber, dass seine Feinde ihm den physischen Tod wünschen, sondern auch, dass sie diese damnatio vitae noch durch den Wunsch steigern, sein Name (çem) möge aus dem sozialen Gedächtnis der Gemeinschaft getilgt werden (damnatio memoriae):28 5 6 7 8 9 10 11

Ich selbst sprach: JHWH, sei mir gnädig! Heile mein Leben / mich, denn ich habe an dir gesündigt! Meine Feinde reden Böses über mich: »Wann stirbt er und vergeht sein Name (çem)?« Und wenn einer kommt, (mich) zu sehen, redet sein Herz Falsches, er sammelt sich Unheil zusammen, er geht hinaus, er redet. Gemeinsam zischeln über mich alle, die mich hassen, gegen mich ersinnen sie Böses für mich: »Eine Sache des Verderbens ist über ihn ausgegossen, und wer einmal liegt, steht nicht mehr auf!« Sogar der Mann meines Friedens, dem ich vertraute, der mein Brot aß, hat groß getan (= geprahlt) gegen mich. Aber du, JHWH, sei mir gnädig und richte mich auf, damit ich ihnen vergelten kann!29

Auch in Ägypten kontrastiert das Todesbild der sozialen Isolation dem Lebensbild der sozialen Konnektivität. Dieses Lebensbild, so J. Assmann, »… lässt sich am besten von zwei Sprichwörtern her erschließen … Das eine lautet: ›Der eine lebt, wenn der andere ihn geleitet‹, und bezieht sich vor allem auf das Leben vor dem Tode. Das andere lautet: ›Der eine lebt, wenn sein Name genannt wird‹, und bezieht sich vor allem auf das Leben nach dem Tode. Beide aber beziehen sich auf einen Begriff des Lebens, der auf dem Prinzip der sozialen ›Konnektivität‹ basiert. Einer allein ist gar nicht lebensfähig bzw. im vollen Sinne lebendig. Da muss ein anderer dabei sein, der ihn geleitend an die Hand nimmt. Dafür ist er aber auch keineswegs tot, solange es noch Menschen gibt, die seinen Namen nennen, solange das Band der Konnektivität nicht zerrissen ist.«30 28 Der Begriff der »Auslöschung der (öffentlichen) Erinnerung (an eine Person)« entstammt dem römischen Staatsrecht, s. dazu Mlasowsky, A., Art. Damnatio memoriae, DNP 3 (1997) 299f. 29 S. dazu Janowski, B., Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 42013, 188 und für Mesopotamien Radner, Macht des Namens (s. Anm. 11), 15f.70.252ff. 30 Assmann, J., Tod und Jenseits im alten Ägypten, München 2001, 54 (Hervorhebung im Original), vgl. 73 u.ö.

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Wie die Namengebung ein »schöpferisch-aneignender Akt«31 ist, so ist das Vergehen des Namens gleichbedeutend mit der Tilgung jeglicher Erinnerung an seinen Träger und darum »die größte Sorge eines Menschen im alten Israel«32. Umgekehrt besaßen der Name und das Gedächtnis die Kraft, dem menschlichen Leben Dauer über den Tod hinaus zu verleihen: Das Gedenken (zekær) an den Gerechten bleibt in Segen, aber der Name (çem) der Frevler vermodert. (Spr 10,7)33

Der Name, so können wir resümieren, ist ein Persönlichkeitszeichen, das die Identität einer Person und ihre soziale Stellung in der Welt der Lebenden zum Ausdruck bringt und als Nachruhm (»Gedächtnis«) den Tod überdauert.34 Am Namen kann man besonders gut erkennen, dass »eine Person durch Aspekte einer performativen Präsenz, durch ihre Individualität, ihre sozialen Bezüge etc. gekennzeichnet (ist)«35. b)

Das Gewand als ›symbolisches Kapital‹ und ›soziale Haut‹

Wie zwischen Name und Person eine enge, existentiell zu nennende Verbindung besteht, so auch zwischen dem Gewand und seinem Träger. Kleider sind »ein Teil der Person, und zwar ihr sichtbarster. Sie symbolisieren Ehre, Ansehen, Zugehörigkeit, Reichtum, Freude oder Schande, Verworfenheit, Fremdheit, Armut, Trauer, Protest« 36. 31 Vgl. Schroer / Keel, Schöpfung (s. Anm. 19), 135. 32 Schroer / Zimmermann, Art. Namen (s. Anm. 25), 418 33 Vgl. Dtn 25,6f (s. dazu unten 56f); Ruth 4,5.10 und Ps 112,6. 34 S. dazu van der Woude, A.S., Art. ç™m, THAT 2 (51995) 935–963, hier: 937f und Reiterer, F.V. / Fabry, H.-J., Art. çem, ThWAT 8 (1995) 12–176, hier: 128. Zum Fortleben des Namens in Mesopotamien s. Radner, Macht des Namens (s. Anm. 11), 1: »… während der Geist im Jenseits – der Unterwelt, dem ›Land ohne Wiederkehr‹ – sein Dasein fristet, bindet der Name das Individuum auch nach dem Tode weiterhin an das Diesseits. Um diese Form des Weiterlebens zu gewährleisten, muß der Name so gut wie möglich – mündlich wie auch schriftlich – verankert werden; der Bewahrung des Namens kommt deshalb weit über die Rolle als Gliederungselement von Erinnerung hinaus die Funktion zu, seinen Träger am Leben zu erhalten«, vgl. auch 15f und für Ägypten Brunner-Traut, E., Art. Namenstilgung und -verfolgung, LÄ 4 (1982) 338–341. 35 Frevel, Person (s. Anm. 1), 88, vgl. Radner, Macht des Namens (s. Anm. 11), 15 Anm. 64 und für den vergleichbaren Befund in Ägypten Vernus, P., Art. Name, LÄ 4 (1982) 320–326 und Assmann, Tod (s. Anm. 30), 54ff. 36 Staubli, Th., Kleider in biblischer Zeit, Freiburg, Schweiz 2012, 7, s. dazu auch Schroer, S., Die Problematik der Verkleidung im Alten Israel, in: Diasynchron. Beiträge zur Exegese, Theologie und Rezeption der Hebräischen Biel (FS W. Dietrich), hg. von Th. Naumann / R. Hunziker-Rodewald, Stuttgart 2009, 329–444. Zur alttestamentlichen Kleiderterminologie s. Bender, Sprache des Textilen (s. Anm. 16). Im

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Dem Gewand, speziell dem »Mantel« (me˛îl),37 kommt in den Erzählungen von Samuel, Saul und David mehrfach symbolische Bedeutung zu. Ich beschränke mich auf vier Beispiele. Als Saul einen Zipfel von Samuels Mantel abreißt, ist das ein Zeichen für den künftigen Verlust des Königtums (1 Sam 15,27f): 27 28

Und Samuel wandte sich zum Gehen, und ‹Saul› packte den Zipfel seines Mantels (kenap-me˛îl) und riss ‹ihn› ab. Und Samuel sagte zu ihm: »Heute hat JHWH das Königtum Israels von dir abgerissen. Und er wird es einem dir Nahestehenden geben, der besser ist als du.«38

Als sichtbares Zeichen für den Abschluss des »Bundes« mit David übergibt Jonathan diesem seinen Mantel samt seinen Gewändern und Waffen (1 Sam 18,4), d.h. sein ›symbolisches Kapital‹,39 und schenkt ihm damit »ein Stück seiner Identität«40: 3 4

Und Jonathan schloss mit David einen Bund, weil er ihn liebte wie sich selbst. Und Jonathan zog den Mantel (me˛îl), den er trug, aus und gab ihn David – und seine Gewänder (maddîm)41 und sogar sein Schwert und sogar seinen Bogen und sogar seinen Gürtel (ªagôr).42

Nachdem David dem in einer Höhle bei En-Gedi kauernden und seine Notdurft verrichtenden Saul heimlich einen Mantelzipfel abgeschnitten hatte, schlägt ihm sein Gewissen (1 Sam 24,5f): 5

Und die Männer Davids sagten zu ihm: »Siehe, das ist der Tag, von dem JHWH dir gesagt hat:

Blick auf die Frage nach der symbolischen Bedeutung des Kleides ist diese Arbeit leider defizitär. 37 S. dazu Bender, Sprache des Textilen (s. Anm. 16), 113f.114ff. 38 Zu diesem Text s. Dietrich, W., 1. Samuel 13–26 (BK VIII/2), NeukirchenVluyn 2015, 136f.170ff. 39 Zu diesem auf P. Bourdieu zurückgehenden Ausdruck s. Dietrich, J., Über Ehre und Ehrgefühl. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie (HBS 59), Freiburg / Basel / Wien 2009, 419–452, hier: 434f. 40 Dietrich, 1 Samuel 13–26 (s. Anm. 38), 418, vgl. Weippert, H., Art. Kleidung, NBL 2 (1995) 495–499, hier: 496. 41 Zu mad „Hemd, Weste“ s. Bender Sprache des Textilen (s. Anm. 16), 118f. 42 S. dazu Viberg, Å., Symbols of Law. A Contextual Analysis of Legal Symbolic Acts in the Old Testament (CB.OT 34), Stockholm 1992, 127ff. Zu ªagôr „Gürtel“ s. Bender, Sprache des Textilen (s. Anm. 16), 101ff.

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›Ich werde deinen Feind in deine Hände geben!‹ Sieh, geht mit ihm um, wie es in deinen Augen gut ist!« Und David erhob sich und schnitt heimlich den Zipfel von Sauls Mantel (kenap-hamme˛îl) ab. Und es war danach, und Davids Herz schlug ihn, dass er den Zipfel von Sauls ‹Mantel› abgeschnitten hatte. Und er sagte zu seinen Männern: »Das sei fern von mir um JHWHs willen, dass ich so etwas meinem Herrn, dem Gesalbten JHWHs, antue, meine Hand nach ihm auszustrecken, denn der Gesalbte JHWHs ist er!« 43

Das nachträgliche »Schlagen« von Davids Herz (= »Gewissen«) zeigt nicht nur an, welchen Tabubruch dieser Zugriff auf den Mantel der durch die Salbung geheiligten Person des Königs darstellt, sondern auch, wie gefährlich nah David vor der Versuchung stand, Hand an Saul zu legen (vgl. V.11f!). Der »Zipfel des Mantels« ist, wie auch 1 Sam 15,27f zeigt, »kein nebensächliches Kleidungsaccessoire«. Er steht vielmehr für »die Unversehrtheit des Trägers; den Zipfel abzuschneiden, ist ein Eingriff in dessen private Sphäre, ein Übergriff auf seine Integrität und ein Angriff auf seine Autorität«44.

SB I

SB II

SB II

SB II

EI

Abb. 2: Männerkleidung der Spätbronze- und Eisenzeit

Und schließlich lässt der Ammoniterkönig Óanun die Diener Davids, die gekommen waren, um ihm Davids Beileidsbekundung wegen des Todes seines Vaters Naªasch zu überbringen, festnehmen, ihnen die Hälfte des Bartes abscheren und auch noch die Kleider bis zum Ge43 S. dazu Janowski, Herz (s. Anm. 4), 24f, vgl. Dietrich, 1 Samuel 13–26 (s. Anm. 38), 718f. 44 Dietrich, 1 Samuel 13–26 (s. Anm. 38), 717 (Hervorhebung im Original).

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säß abschneiden (2 Sam 10,4, vgl. 1 Chr 19,4). Als Davids Gesandtschaft zu den Ammonitern gekommen war, sagten ihre Mächtigen folgendes zu ihrem Herrn Óanun: 3 »Meinst du wirklich, dass David deinem Vater damit eine Ehre erweisen wollte, dass er eine Abordnung zum Kondolieren geschickt hat? Hat nicht viel eher David seine Leute zu dir geschickt, um die Stadt zu erforschen, auszuspionieren, um sie schließlich von Grund auf zu vernichten?« 4 Darauf hielt Óanun die Abordnung Davids fest und ließ ihnen den Bart zur Hälfte abscheren und die Kleider (maddîm) halb bis zum Gesäß wegschneiden. So jagte er sie weg.

Das ist eine rüde Form der öffentlichen Beschämung45 und das Gegenstück zur Aufdeckung der männlichen/weiblichen Scham.46 Um sie vor völliger Bloßstellung zu bewahren, beordert David, der mit seiner Initiative dem verstorbenen Ammoniterkönig eine »Ehre« erweisen wollte (kbd pi. V. 3), die so Diffamierten (vgl. klm nif. „diffamieren, bloßstellen“ V. 5)47 nach Jericho, wo ihre Bärte ungestört nachwachsen können. Weitere Erzählungen wie die von der Heraufholung des mit dem Prophetenmantel (me˛îl) bekleideten Samuel aus der Unterwelt, den Saul gerade daran erkennt (1 Sam 28,14, vgl. 2,19), lassen sich anschließen.48 Die angeführten Belege gehören unterschiedlichen Lebenskontexten an: der persönlichen Rivalität (1 Sam 15,27f; 24,5f), dem Akt des Bundschließens (1 Sam 18,4), der kriegerischen Auseinandersetzung (2 Sam 10,4) und dem Prophetenbild/-habitus (1 Sam 28,14). Eine wichtige Rolle als Persönlichkeitszeichen spielt das Gewand schließlich in rechtlichen Zusammenhängen, wie die Schutzbestimmungen für soziale Randgruppen in Ex 22,20–26 zeigen: Doppelprohibitiv (Fremdling) 20

Einen Fremdling sollst du nicht bedrücken und ihn nicht bedrängen, denn ihr seid Fremdlinge im Land Ägypten gewesen.

45 S. dazu auch Dietrich, Ehre (s. Anm. 39), 428f. 46 Vgl. Gen 9,22f; Jes 20,4f und zur Aufdeckung der weiblichen Scham die metaphorischen Aussagen in Jes 47,3 (Babel); Ez 16,36f (Jerusalem); 23,10 (Samaria/ Ohola und Jerusalem/Oholiba); Nah 3,5 (Ninive) und dazu Dietrich, W., Nahum, Habakuk, Zefanja, IEKAT, Stuttgart 2014, 80ff. 47 S. dazu auch Klopfenstein, M., Scham und Schande nach dem Alten Testament. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zu den hebräischen Wurzeln bôç, klm und ªpr (AThANT 62), 1972, 124ff. 48 Zur symbolischen Bedeutung des Obergewands s. noch 1 Kön 11,30f; 2 Kön 2,13–15 u.a.

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Prohibitiv mit Konditionalsatzgefüge (Witwe und Waise) 21 22 23

Keine Witwe und Waise sollt ihr erniedrigen. Wenn du ihn wirklich erniedrigst, wenn er dann laut zu mir schreit, werde ich sein Geschrei ganz bestimmt erhören. Dann wird mein Zorn entbrennen, und ich werde euch mit dem Schwert töten, so dass eure Frauen zu Witwen und eure Söhne zu Waisen werden.

Doppelprohibitiv (Armer) 24

Wenn du meinem Volk, dem Armen bei dir, Geld leihst, sollst du ihm gegenüber nicht wie ein Pfandnehmer auftreten. Ihr sollt auf ihn keinen Zins legen.

Gebot mit Begründung und Konditionalsatzgefüge (Bedürftige) 25 26

Wenn du den Mantel (¬almåh) deines Nächsten als Pfand nimmst, sollst du ihm diesen bis Sonnenuntergang zurückgeben. Denn er ist seine einzige Decke (kesût), er ist sein Gewand für seine Haut (¬imlåtô le˛orô). Womit soll er sich hinlegen? Wenn er zu mir schreit, werde ich (es) hören, denn ich bin gnädig.49

Das Thema von V. 25f ist das Pfandrecht. Dessen Bedeutung besteht darin, dass es im Alten Testament kein grundsätzliches Pfändungsverbot, sondern lediglich Einschränkungen gibt, die entweder das Objekt (Dtn 24,6.10f), die Person (Dtn 27,17) oder die Dauer der Pfändung betreffen (Ex 22,25f; Dtn 24,12f).50 In Ex 22,25f geht es nicht wie in Dtn 24,17 um das Kleid einer Witwe, das nicht gepfändet werden darf, sondern um den Mantel des Bedürftigen, »deines Nächsten« (rea˛), für den Solidarität eingefordert wird. Wer nichts weiter an seinem Körper trägt als einen Mantel, muss zwar damit rechnen, dass dieser als Pfand einbehalten wird – aber nur bis zum Sonnenuntergang. Denn auch ein völlig Verarmter braucht eine Decke, in die er sich hüllen kann, um sich vor der Kälte der Nacht zu schützen (vgl. Dtn 24,12f). Der Ausdruck »Persönlichkeitszeichen« 49 Zu diesem Text s. Otto, E., Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart / Berlin / Köln 1994, 83ff.88ff; Dohmen, Chr., Exodus 19–40 (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien 2004, 172ff und Albertz, R., Exodus 19–40 (ZBK.AT 2/2), Zürich 2015, 114ff. 50 S. dazu Braulik, G., Deuteronomium 16,18–34,12 (NEB 28), Würzburg 1992, 178.181f.183f. Pfändungen des Gewands sind häufiger belegt, z.B. in Am 2,8 (s. im Folgenden); Spr 20,16; 27,13; Hi 22,6, vgl. Hi 24,7 und die Petition eines Erntearbeiters aus Me‚ad Óaçavyåh¨ (7./6. Jh. v.Chr.), der seinen Mantel nicht nur als Schutz gegen die nächtliche Kälte, sondern auch als ein Kleidungsstück brauchte, ohne das er sich nicht in der Öffentlichkeit sehen lassen wollte, s. zum Text unten 60f.

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erhält hier einen elementaren, geradezu leiblichen Sinn: der Mantel ist die ›soziale Haut‹,51 der den Bedürftigen, der nichts anderes besitzt, bei Pfändungen zwar vertreten kann, der aber zurückgegeben werden muss, um darin die Nacht zu verbringen. Er gehört zu seinem Träger und gewährleistet seine soziale Identität. Von diesem Sachverhalt handelt auch die Israelstrophe des Amosbuchs (Am 2,6–16) mit ihrer vierfachen Anklage, die an letzter Stelle von »gepfändeten Kleidern« bzw. »Wein von Bußgeldern« spricht: Zahlenspruch 6 So hat JHWH gesprochen: Wegen der drei Verbrechen von Israel und wegen der vier kann ich es nicht zurücknehmen:

Schuldknechtschaft weil sie den Aufrechten um Geldes willen verkaufen und den Armen wegen eines Paars Sandalen;

Physische Demütigung und Rechtsbeugung 7 die da noch im Staub der Erde die Geringen auf den Kopf treten und den Weg der Bedürftigen beugen;

Sexualvergehen mit sozialem Hintergrund ein Mann und sein Vater gehen zum gleichen Mädchen, um meinen heiligen Namen zu entweihen;

Gepfändete Kleider und Bußgelder im Kult 8 auf gepfändeten Kleidern (begådîm ªabulîm) strecken sie sich aus neben jedem Altar, und Wein von Bußgeldern (jên ˛anûçîm) trinken sie im Haus ihres Gottes.52

Im Unterschied zu Ex 22,25f und Dtn 24,12f liegt der Ton bei den in V. 8 inkriminierten Vergehen nicht auf der Dauer der Pfandnahme, sondern auf der Art der Verwendung. Das Kleid, das mit seinem Träger aufs engste verbunden ist, wird hier zweckentfremdet und »die 51 Zum Ausdruck »soziale Haut« s. Podella, Th., Art. Kleid / Be-, Entkleiden, HRWG 3 (1993) 381–385, hier: 381; ders., Das Lichtkleid JHWHs. Untersuchungen zur Gestalthaftigkeit Gottes im Alten Testament und seiner altorientalischen Umwelt (FAT 15), Tübingen 1996, 42; 66 Anm. 91; 78ff; Weippert, Art. Kleidung (s. Anm. 40), 496 und Dietrich, Ehre (s. Anm. 39), 423. 52 Zu diesem Text und seiner Redaktionsgeschichte s. Jeremias, J., Der Prophet Amos (ATD 24/2), Göttingen 1995, 21ff und Dahmen, U. / Fleischer, G., Die Bücher Joel und Amos (NSK.AT 23/2), Stuttgart 2001, 159ff (Fleischer).

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Person, deren Kleid gepfändet wurde, im wahrsten Sinne des Wortes ›in den Dreck gezogen‹«53. So wird an der Zweckentfremdung des Gewands die soziale Diffamierung seines Trägers öffentlich sichtbar. c)

Die Sandale als Rechtssymbol

Das dritte Persönlichkeitszeichen – die Sandale (na˛al), die aus einer Leder- oder Holzsohle bestand und mit Riemen festgebunden wurde (s. Abb. 3–4)54 – scheint zunächst etwas hergeholt zu sein. Es hat aber, trotz des geringen materiellen Wertes von Sandalen (vgl. Gen 14,23; Am 2,6; 8,6),55 eine wichtige rechtssymbolische Bedeutung, die mit dem Fuß (rægæl) und dessen Funktion und Symbolik zusammenhängt.56 Wie das Ohr, die Nase, der Arm, die Hand, das Auge, der Mund, das Gesicht oder der Kopf als »Stellvertreterausdrücke der Person«57 fungieren, so repräsentiert auch der Fuß bestimmte gestische und funktionale Bedeutungsaspekte der Person wie Bewegungs(sfähigkeit), Macht, Herrschaft und Präsenz:

Abb. 3: Semitische Nomaden mit Sandalen (Beni Hasan, 12. Dyn.) 53 Dahmen / Fleischer, Bücher Joel und Amos (s. Anm. 52), 162 (Fleischer). 54 S. dazu Ringgren, H., Art. na˛al, ThWAT 5 (1986) 497–500; Metzger, M., Art. Sandale, NBL 3 (2001) 442f und Krawelitzki, Art. Footwear (s. Anm. 11), 405f. 55 Im Unterschied zum »Verkauf« des Armen wegen eines Paars Sandalen in Am 2,6 geht es in Am 8,6 um deren unrechtmäßigen »Kauf« durch die Kornhändler, s. dazu Jeremias, Amos (s. Anm. 52), 21f.117. 56 Keel, O., Symbolik des Fußes im Alten Testament und seiner Umwelt, Orthopädische Praxis 18 (1982) 530–538. 57 S. dazu Wagner, Körperbegriffe (s. Anm. 1), 289ff, ferner Janowski, B., Der ganze Mensch. Zu den Koordinaten der alttestamentlichen Anthropologie, ZThK 113 (2016) 1–28, hier: 12f.

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Persönlichkeitszeichen

Abb. 4: Sandalen aus Hebron (Aufnahme K.O. Dalman, 1925)

Körperteil

Gestische und funktionale Bedeutungsaspekte

∞ozæn »Ohr«

akustisches Erkenntnis- / Kommunikationsvermögen, Aufmerksamkeit Ausdrucks- / Kommunikationsvermögen, Zorn Macht, Präsenz, Handlungsfähigkeit gestisches Ausdrucksvermögen, Macht, Tatkraft, (Verfügungs-)Gewalt, vgl. auch jåmîn »rechte (Hand)« und kap »Handfläche« visuelles Erkenntnis- / soziales Kommunikationsvermögen, Aufmerksamkeit Sprache, sprachliches Kommunikationsvermögen, vgl. auch låçôn »Zunge« und ¬åpåh »Lippe« mimisches Ausdrucks- / soziales Kommunikationsvermögen, persönliche Gegenwart Wertschätzung, Rang / Status, individuelle und soziale Identität Bewegung(sfähigkeit), Macht, Herrschaft, Präsenz, vgl. auch kap rægæl »Fußsohle« und pa˛am »Tritt, Schritt, Fuß«

∞ap »Nase« zerôa˛ »Arm« jåd »Hand« ˛ajin »Auge« pæh »Mund« pånîm »Gesicht« ro∞ç »Kopf« rægæl »Fuß«

Einschlägige Belege für die Bedeutung des Fußes als Macht- und Herrschaftssymbol sind die Herrschaftsaussagen in Gen 1,28 (ohne Nennung von rægæl »Fuß«) und Ps 8,7 (mit Nennung von rægæl »Fuß«):58 26

Und Gott sprach: »Wir wollen Menschen machen als unser Bild unseresgleichen, damit sie herrschen über die Fische des Meeres und über die Flugtiere des Himmels und über das Vieh und über alles ‹Getier› der Erde und über alle Kriechtiere, die sich regen auf der Erde.«

58 S. dazu Neumann-Gorsolke, U., Herrschen in den Grenzen der Schöpfung. Ein Beitrag zur alttestamentlichen Anthropologie am Beispiel von Psalm 8, Genesis 1 und verwandten Texten (WMANT 101), Neukirchen-Vluyn 2004, 93ff.

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Persönlichkeitszeichen

27 28

Und Gott schuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes schuf er ihn, männlich und weiblich schuf er sie. Und Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: »Seid fruchtbar und werdet zahlreich und füllt die Erde und (betretet sie =) nehmt sie in Anspruch (kåbaç), und herrscht über die Fische des Meeres und über die Flugtiere des Himmels und über jedes Lebewesen, das sich regt auf der Erde.« (Gen 1,26–28)

Die Herrschaftsaussage von Gen 1,28a, die nicht – so das gängige Missverständnis – die Unterwerfung der Erde, sondern ihre symbolische Indienstnahme durch »Betreten« (kåbaç) meint,59 ist eine förmliche Eigentumsdeklaration. Ihr Vollzug ist ganz konkret, weil der Fuß diejenige Stelle des aufrecht stehenden Menschen ist, die einen direkten Kontakt zum Boden hat.60 Für die rechtssymbolische Bedeutung des Schuhausziehens/-werfens ist diese Beziehung konstitutiv. Sie ergibt sich aus den Bestimmungen zum Levirat (Dtn 25,5–10) und zur Löserinstitution (Ruth 4,6–8), aber auch aus dem Brauch des Schuhwerfens auf ein Land (Ps 60,10; 108,10).61 Die Institution des Levirats gilt für den Fall, dass eine Ehefrau ohne männliche Nachkommen zur Witwe wird. Nach Gen 38,8 ist dieser Fall folgendermaßen zu regeln: Geh mit der Frau deines Bruders die Schwagerehe ein und schaffe62 deinem Bruder Nachkommen (zæra˛).

In Dtn 25,5–10 wird das »Aufrichten« (qûm hif.) der Nachkommenschaft dagegen mit der Wendung »einen Namen (çem) für seinen 59 S. dazu Neumann-Gorsolke, Herrschen (s. Anm. 58) 274ff.290ff.298ff; Janowski, B., Herrschaft über die Tiere. Gen 1,26–28 und die Semantik von rdh, in: ders., Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn 1999, 33–48, hier: 33f mit Anm. 3 und Hardmeier, Chr. / Ott, K., Naturethik und biblische Schöpfungserzählung. Ein diskurstheoretischer und narrativhermeneutischer Brückenschlag, Stuttgart 2015, 137ff. Vom Treten des Fußes / der Fußsohlen auf ein Stück Land ist vor allem in der dtn-dtr Landgabetheologie die Rede, s. z.B. Dtn 11,6.24; Jos 1,3 u.ö. 60 S. dazu auch Cassin, Symboles de cession immobilière (s. Anm. 1), 294ff und Steinert, Aspekte des Menschseins (s. Anm. 11), 223ff. 61 In V. 10 des Gottesorakels von Ps 60,8–10 par. Ps 108,8–10 heißt es: »Moab ist mein Waschbecken, / auf Edom werde ich meinen Schuh werfen, / über mich, Philistäa, juble auf.« 62 Wörtlich: »richte auf« (qûm hif.).

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Bruder aufrichten (qûm hif.)« (V. 6, vgl. V. 7)63 bezeichnet und die Verweigerung dieser innerfamiliären Solidaritätspflicht mit einer Sanktion belegt: (5) Wenn zwei Brüder zusammen wohnen und einer von ihnen, der keinen Sohn hat, stirbt, so soll die Frau des Verstorbenen nicht die Frau eines fremden Mannes außerhalb der Familie werden. Ihr Schwager soll sich ihrer annehmen, sie heiraten und die Schwagerehe mit ihr eingehen. (6) Der Erstgeborene, den sie gebiert, soll den Namen (çem) seines verstorbenen Bruders aufrichten.64 So soll sein Name in Israel nicht erlöschen. (7) Wenn der Mann aber seine Schwägerin nicht heiraten will und seine Schwägerin ans Tor(gericht) zu den Ältesten hinaufgeht und sagt: »Mein Schwager weigert sich, für seinen Bruder einen Namen aufzurichten in Israel,65 er will die Schwagerehe nicht mit mir eingehen!«, (8) und die Ältesten seiner Stadt rufen ihn herbei und reden ihm zu, er aber bei seiner Haltung bleibt und erklärt: »Ich will sie nicht heiraten!«, (9) dann soll seine Schwägerin vor den Augen der Ältesten zu ihm hintreten, ihm seine Sandale (na˛al) vom Fuß ziehen und ihm ins Gesicht spucken und ausrufen: »So behandelt man einen Mann, der seinem Bruder nicht das Haus baut!« (10) Sein Name soll in Israel »Barfüßerhaus«66 genannt werden.

Was die Witwe am Bruder ihres verstorbenen Ehemanns vollzieht, ist ebenso rechtsverbindlich (Schuhausziehen) wie drastisch (Bespucken). Während das Bespucken »eine soziale Sanktion (ist), die von der Schwägerin unter Billigung durch die Gerichtsöffentlichkeit vollzogen wird«67, ist das Ausziehen der Sandale ein performativer Akt, durch den die Verweigerung des Levirats rechtsverbindlich gemacht wird.68 Sein Kontext ergibt sich aus der Erzählung von Ruth 4,1–12 mit ihrer singulären Kombination von Levirat und Löserinstitution (vgl. Lev 25,25–34).69 So heiratet Ruth, die sich nach dem Ende der Gerstenernte nachts auf der Tenne zu Boas legt und ihn um Rechtsschutz bittet – »Ich bin Ruth, deine Dienerin! Breite deinen Gewand63 Zum Namen als Persönlichkeitszeichen s. oben 43ff. 64 Das »Aufrichten des Namens« meint die Fortsetzung der Genealogie der Familie, s. dazu Otto, E., Biblische Altersversorgung im altorientalischen Rechtsvergleich, ZAR 1 (1995) 83–110, hier: 106f. 65 D.h. die Genealogie seines Bruders zu erhalten. 66 Wörtlich: »Haus/Familie des ›ausgezogen an Sandale‹«, vgl. Ges18 825 s.v. na˛al. 67 Otto, Altersversorgung (s. Anm. 64), 108 Anm. 149. 68 Vgl. Otto, Altersversorgung (s. Anm. 64), 109 und Viberg, Symbols of Law (s. Anm. 42), 145ff. 69 S. dazu Kessler, R., Zur israelitischen Löserinstitution, in: ders., Studien zur Sozialgeschichte Israels (SBAB 46), Stuttgart 2009, 74–84 und Hieke, Th., Levitikus 16–27 (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien 2014, 1010ff.

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Persönlichkeitszeichen

saum (kånåp)70 über deine Dienerin, denn Löser bist du!« (Ruth 3, 9) –, den »Löser« Boas, nachdem der anonyme Löser, der das Vorkaufsrecht für das Feld der Naomi hatte (vgl. Ruth 3,12f), davon zurücktritt, weil er das damit verbundene Levirat mit Ruth nicht eingehen will. Warum er nicht will, sagt der Text nicht.71 Er verbindet aber dessen Verzicht mit dem bekannten Brauch des Schuhausziehens: (6) Da sagte der Löser (go∞el): »Ich kann nicht für mich lösen (gå∞al), damit ich nicht meinen Erbbesitz schädige. Löse du für dich meine Lösung (ge∞ullåh), denn ich kann nicht lösen!« (7) Und dies war früher Brauch in Israel bei einer Lösung und beim Tauschgeschäft (temûråh): Um jegliche Angelegenheit zu ratifizieren,72 zog ein Mann seine Sandale (na˛al) aus und gab sie seinem Nächsten. Und dies war die Bestätigung in Israel. (8) Da sagte der Löser zu Boas: »Erwirb (qånåh) für dich!« Und er zog seine Sandale aus.

Im Unterschied zu Dtn 25,9, wo die verschmähte Schwägerin dem Bruder ihres verstorbenen Ehemanns die Sandale vom Fuß zieht und 70 Andere Übersetzung: »Flügel«. Zu kånåp in der Bedeutung »Gewandsaum/-zipfel« s. Dtn 22,12; Num 15,38; 1 Sam 15,27; 24,5f (s. dazu oben 49f); Jer 2,34; Ez 5,3. Ob Ruth 3,9 unter Anspielung auf Ez 16,8 (»Und ich [sc. JHWH] breitete meinen Gewandsaum (kånåp) über dich und bedeckte deine Blöße. Und ich schwor dir und trat ein in einen Bund mit dir, Spruch des Herrn JHWH, und du gehörtest mir«) von Heirat spricht (so die übliche Interpretation), ist u.E. fraglich, weil von Heirat erst in Ruth 4,13 die Rede ist und es in Ez 16,8 eher um eine Schutzmaßnahme JHWHs und um eine durch seinen Schwur motivierte Eigentumsdeklaration geht, vgl. Weippert, Art. Kleidung (s. Anm. 40), 496. Ebenso dürfte es sich in Ruth 3,9 um eine Bitte um Rechtsschutz handeln, der konkret in der Ehe zur Geltung kommt, hier aber vorerst erbeten wird, vgl. Fischer, I., Rut (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien 2001, 211f. Auch ein direkter Bezug von Ruth 3,9 auf Ruth 2,12 (Boas zu Ruth: »Es vergelte JHWH dein Tun und dein Lohn sei vollständig von JHWH, dem Gott Israels, zu dem du gekommen bist, um dich unter seinen Flügeln zu bergen!«), der von Köhlmoos, M., Ruth (ATD 9/3), Göttingen 2010, 62 konstruiert wird (»Was für Boas eine Wallfahrt unter die Flügel JHWHs war, wird von Ruth jetzt in eine Bitte umgesetzt, an ihr die Erwählung Israels durch JHWH nachzuvollziehen«, vgl. 63), liegt m.E. nicht vor, weil dort von den »Flügeln JHWHs« (kånåp im Dual) und hier vom »Flügel« bzw. »Gewandsaum« des Boas (kånåp im Singular) gesprochen wird. Deshalb ist Ruths Bitte m.E. weder »symbolisch-theologisch« (Köhlmoos, Ruth, 62) noch konkret sexuell (so die übliche Auslegung), sondern rechtssymbolisch zu verstehen. Köhlmoos scheint das gemäß dem zweiten Teil ihrer Bemerkung, Ruth bitte Boas »für sie die Rolle JHWHs einzunehmen und sie schützend und anerkennend unter seine Fittiche zu nehmen«, ebenso zu sehen (62). Die Begründung dieser Bitte »denn Löser bist du!« könnte das bestätigen. Dass zwischen Ruth 2,12 und 3,9 dennoch ein buchinterner Zusammenhang besteht, der aber unterschiedlich perspektiviert ist (dort aus der Sicht des Boas, hier aus der Sicht Ruths), ist dagegen unbestritten. 71 Vermutungen dazu bei Fischer, Rut (s. Anm. 69), 240f und Köhlmoos, Ruth (s. Anm. 69), 75. 72 qjm pi. »für gültig erklären, ratifizieren«, vgl. Otto, Altersversorgung (s. Anm. 64), 109 Anm. 150.

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ihm damit den Rechtsanspruch auf das Erbe nimmt, geht es in Ruth 4,7f um den freiwilligen Verzicht des anonymen Lösers auf das Rückkaufsrecht für das Grundstück der Naomi. Er selber – und nicht ein anderer – zieht seine Sandale aus und macht den Verzicht damit rechtskräftig. Die Sandale ist hier ebenso wie in Dtn 25,9f und Ps 60,10 par. Ps 108,10 ein Persönlichkeitszeichen: es vertritt rechtssymbolisch die Person, der es gehört, und setzt den mit ihm vollzogenen Rechtsakt performativ in Kraft. III.

Schlussbemerkungen

Für das alttestamentliche Personverständnis, so können wir resümieren, sind nicht nur der »innere Mensch« und seine Eigenschaften, sondern auch äußere Persönlichkeitszeichen konstitutiv, die gleichsam ›körperlos‹ sind wie der Name oder die sich am Körper befinden (Tätowierungen, Körpereinritzungen u.a.) bzw. mit diesem verbunden sind (Gewand, Sandale u.a.). Bei diesen Zeichen geht es um die Korrelation von Innen und Außen, d.h. darum, dass das Persönlichkeitszeichen der sichtbare Ausdruck der Person ist, von der auf den Träger, auf sein Selbstwertgefühl (Innen) und seine soziale Rolle (Außen) geschlossen werden kann.73 Diese Innen/Außen-Relation kann, wie der Name zeigt, sogar als Identitätsverhältnis bestimmt werden. Denn der Name haftet von der Geburt bis zum Tod an seinem Träger und behält diese Persönlichkeitsbindung, falls er nicht vergessen oder getilgt wird (damnatio memoriae), über den Tod hinaus bei. Weil die Individualität und Sozialität der Person an die Existenz ihres Namens geknüpft ist, ist der Name der identity marker schlechthin. Eine etwas andere, wenn in manchem auch vergleichbare Bedeutung haben das Gewand und die Sandale. Wie das breite Spektrum seiner Verwendungsarten belegt,74 ist das Gewand für die Frage der sozialen Identität von besonderer Wichtigkeit. Als Persönlichkeitszeichen vertritt es seinen Träger bzw. Eigentümer in unterschiedlichen Zusammenhängen (Rivalität, Bundesschluss, Krieg, Pfandrecht u.a.) und fungiert dabei als Statussymbol (›symbolisches Kapital‹) bzw. als ›soziale Haut‹, die bis Sonnenuntergang zurückgegeben werden muss (Ex 22,25f; Dtn 24,12f, vgl. Ostrakon von Me‚ad Óaçavyåh¨). Und schließlich: Weil der Fuß diejenige Stelle des aufrecht stehenden Menschen ist, die einen direkten Kontakt zum Boden hat, 73 Vgl. Podella, Lichtkleid (s. Anm. 51), 3 und zum Zeichencharakter der Dinge (,Dinge als Zeichen‘) oben 38f. 74 S. dazu oben 42.

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kommt der Sandale in Dtn 25,5–10 und Ruth 4,6–8 rechtssymbolische Bedeutung zu. In beiden Texten geht es um die innerfamiliäre Solidaritätspflicht, den Besitz an Grund und Boden im Fall des Todes seines Eigentümers rechtsverbindlich zu regeln, wobei diese Pflicht einmal verweigert und ein andermal abgetreten wird. Jedes Mal spielt dabei das Ausziehen der Sandale eine entscheidende Rolle. Sie ist das Persönlichkeitszeichen des jeweiligen Rechtssubjekts, das dieses in einem performativen Akt in der Öffentlichkeit vertritt. Das Gewand und die Sandale sind alltägliche Dinge mit einem bestimmten Sachwert, der im Fall der Sandale sogar gering ist. Zugleich sind sie mehr als das: »Von den alltäglichen und intimen Gerätschaften wie Bett und Stuhl, Eß- und Waschgeschirr, Kleidung und Werkzeug bis hin zu Häusern, Dörfern und Städten, Straßen, Fahrzeugen und Schiffen ist der Mensch seit alters von Dingen umgeben, in die er seine Vorstellungen von Zweckmäßigkeit, Bequemlichkeit und Schönheit, und damit in gewisser Weise sich selbst investiert.«75

Bezogen auf das »Gewand« und die »Sandale« in den besprochenen Texten: Der Mensch des alten Israel ›investiert sich selbst‹ in diese Dinge so sehr, dass sie ihm zu Persönlichkeitszeichen werden. Das Zusammenspiel von Innenwelt (Selbst, Identität) und Außenwelt (Körper, Dinge) konstituiert die Person und leitet deren Interaktion mit anderen Menschen. Der Körper und seine ›äußeren Zeichen‹ sind dabei der ›Schnittpunkt‹, an dem dieses Zusammenspiel akut und zeichenhaft sichtbar wird.76 IV.

Textanhang: Ostrakon von Me‚ad Óaçavyåh¨ (7./6. Jh. v.Chr.)

Das Ostrakon enthält die Petition eines Erntearbeiters, die »sich auf die Rücknahme der Aktion eines Ernteaufsehers o.ä. (bezieht), die in der Pfändung eines Kleidungsstücks als Sanktion für eine mangelhafte Arbeitsleistung bestand. Der Bittsteller wendet sich an einen ranghohen Beamten, vielleicht an den Kommandanten der Festung, um entweder de jure oder wenigstens durch einen Gnadenakt wieder in den Besitz seines konfiszierten Gewandes zu gelangen« (Weippert, M., Historisches Textbuch zum Alten Testament (GAT 10), Göttingen 2010, 371). Die folgende Übersetzung stammt aus Weippert, 371f (Nr. 225): 75 Assmann, J., Das kulturelle Gedächntis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 20. 76 S. dazu auch die grundsätzlichen Überlegungen von Stavrakopoulou, F., Making Bodies. On Body Modification and Religious Materiality in the Hebrew Bible, HEBAI 4 (2013) 532–553.

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(1) Es höre mein Herr Beamter (2) das Wort seines Dieners! Dein Diener (3) ist ein Erntearbeiter. Als dein Diener in Ḥa(4)ṣar ʼĀsām war, da erntete dein Diener. (5) Da maß er ab, während er aufhäufte wie gewöhnlich. Vor dem Sabb(6)at, als dein [Di]ener ‹seine› Ernte ab[maß], während (7) er aufhäufte wie gewöhnlich, da kam Hōšaʻăyāhū, Sohn des Šōb(8)ī. Da nahm er das Gewand (bgd) deines Dieners, als i‹ch› (9) meine Ernte (8)abmaß. (9) (Schon vor) einiger Zeit nahm er das Gewand deines Dieners. (10) Aber alle meine Genossen können für mich zeugen, die mit mir in (11) der Sonnen(10)hitze ernteten. Meine Genossen können für mich zeugen. Wenn ich von Sch(12)[uld] (11) frei bin, [gib mir doch] mein Gewand [zurück]! Wenn aber der Beamte (13) [das Gewand deines/seines] Dien[ers] (12) nicht zurückgeb(13)[en] (12) darf, [so mögest du] ihm Gna(14)[de (13) erweis]en (14) [und das Gewand] deines [Di]eners [zurückgeb]en. Und schweige? do(15)[ch] (14) nicht!

Quellenachweis zu den Abbildungen 1 Keel / Staubli, »Im Schatten deiner Flügel« (s. Anm. 25), 28 Abb. IIc 2 Weippert, H., Art. Kleidung, in: K. Galling, (Hg.), Biblisches Reallexikon, Tübingen 21977, 185–188, hier: 187 Abb. 44 3 Keel, O., Die altorientalische Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Göttingen 51996, 205 Abb. 308 4 Dalman, G., Arbeit und Sitte in Palästina, Bd. 5, Gütersloh 1937, NachNachdruck Hildesheim 1964, Abb. 77

Bibliographische Abkürzungen Die bibliographischen Abkürzungen richten sich nach dem Verzeichnis von S.M. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin / Boston 32014. Darüber hinaus werden folgende Abkürzungen verwendet: HGANT4 SWB TUAT.NF WAM

Berlejung, A. / Frevel, Chr. (Hg.), Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 42015 Crüsemann, F. u.a. (Hg.), Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009 Janowski, J. / Wilhelm, G. (bis Bd. 4) / Schwemer, D. (ab Bd. 5) (Hg.), Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Neue Folge, Gütersloh 2004–2016 Fieger, M. / Krispenz, J. / Lanckau, J. (Hg.), Wörterbuch alttestamentlicher Motive, Darmstadt 2013

II Anerkennung und Empathie

„JHWH kennt den Weg von Gerechten“ (Ps 1,6) Der Psalter und das Ethos der Anerkennung Den Anderen anerkennen, heißt, einen Hunger anerkennen. Den Anderen anerkennen, heißt geben. E. Lévinas, Totalität, 103

Kaum ein anderer Begriff hat in neuerer Zeit in den Geistes- und Kulturwissenschaften so viel Aufmerksamkeit gefunden wie der Begriff der Anerkennung.1 Das gilt allerdings nicht für die alttestamentliche Exegese. Das mag seinen Grund darin haben, dass es für das Wort „Anerkennung“ im alttestamentlichen Hebräisch kein Äquivalent gibt. Es will aber beachtet sein, dass im Alten Testament zahlreiche Verben und Nomina vorkommen, die dem mit diesem Begriff ausgedrückten Sachverhalt nahekommen. Bevor ich darauf eingehe, frage ich zunächst, welcher Sachverhalt mit dem Begriff „Anerkennung“ gemeint ist. I.

Ideengeschichtliche Vorbemerkung

In Aufnahme der seit Beginn der 1990er Jahre intensiver geführten Diskussion um die sozialen, rechtlichen und moralischen Formen der Anerkennung von Personen oder Personengruppen (ethnische/religiöse Minderheiten, Homosexuelle, Behinderte) gehen die neueren Theorien davon aus, dass Anerkennung „,ein menschliches Grundbedürfnis‘ darstellt, weil Subjekte nur mittels der Reaktionen Anderer und durch die Verinnerlichung gesellschaftlicher Werte und Normen eine Vorstellung davon gewinnen können, wer sie eigentlich sind und sein sollten. Deshalb sind Menschen in fundamentaler Weise von der Haltung anderer Personen (und letztlich der Gesellschaft als ganzer) abhängig“2. 1 Die folgenden Überlegungen, die in Grundzügen am 29. Juli 2019 in Jerusalem auf einem Symposion zum Gedenken an E. Zenger (1939–2010) vorgetragen wurden, sind Günter Thomas, Professor für Systematische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum, herzlich zum 60. Geburtstag gewidmet. Sein Buch Gottes Lebendigkeit. Beiträge zur Systematischen Theologie, Leipzig 2019 enthält zahlreiche Anknüpfungspunkte für die weitere Bearbeitung des Themas „Anerkennung“. – Das obige Zitat stammt aus E. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg / München 32002. 2 M. Iser, Art. Anerkennung, in: E. Bohlken / Chr. Thies (Hg.), Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik, Stuttgart / Weimar 2009,

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„JHWH kennt den Weg von Gerechten“

Als menschliches Grundbedürfnis ist Anerkennung, so das Urteil der neueren Forschung, „ein wesentlich soziales Phänomen“3, gleichsam die Vollzugsform des wechselseitigen Respekts unter Menschen. Allerdings: „Man kann … auf Anerkennung hinarbeiten und sie trotzdem durch Eigenleistung allein nicht erreichen. Denn die Leistung muß von anderen als Leistung wahrgenommen, überdies geschätzt werden, womit man sich ungewollt in fremde Abhängigkeit begibt. (…) Während die Anerkennung im schlichten Verständnis eine Belobigung oder, etwas anspruchsvoller, die im Ansehen zutage tretende Achtung fremder Leistung bedeutet, bezeichnet sie als philosophischer Grundbegriff eine Wechselbeziehung, jenen gegenseitigen Respekt, der sich weder zwischen Individuen noch zwischen Gruppen, Rechtsgemeinschaften und selbst Kulturen von allein einstellt.“4

In der Tat: Anerkennung stellt sich nicht von allein ein, sondern sie ist eine „Form der Resonanz in unseren sozialen Weltbeziehungen“5. Deshalb sind die klassischen Anerkennungstheorien nach H. Rosa um resonanztheoretische Aspekte zu erweitern, denn: „Die Resonanztheorie geht … in ihrem Erklärungsanspruch über die Anerkennungstheorie hinaus, weil sie auch diejenigen Hoffnungen, Bedürfnisse und Sehnsüchte, aber auch die Entfremdungs- und Frustrationserfahrungen zu erfassen und zu erklären vermag, die Menschen jenseits der Sozialsphäre haben oder machen.“6 291–295, hier: 291f. Durch die Formulierung „nur mittels …“ wird die Problembeschreibung in dieser Definition m.E. allerdings verkürzt. Sachlich richtiger wäre eine Formulierung wie „vornehmlich mittels …“. Zur Geschichte und Problematik der Anerkennungstheorien s. A. Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte (stw 1129), Frankfurt a.M. 1994; ders., Anerkennung. Eine europäische Ideengeschichte, Berlin 2018; P. Ricœur, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt a.M. 2006; C. Pelluchon, Ethik der Wertschätzung. Tugenden für eine ungewisse Welt, Darmstadt 2019 und die Hinweise unten Anm. 5. Für einen knappen Überblick s. O. Höffe, Art. Anerkennung, in: ders. (Hg.), Lexikon der Ethik, München 72008, 18f; M. Iser, Art. Anerkennung, 291–295 und M. Düwell, Art. Anerkennung, in: P. Kolmer / A.G. Wildfeuer (Hg.), Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 1–3, Freiburg / München 2011, 124–135. 3 Höffe, Anerkennung (s. Anm. 2), 18. 4 Höffe, Anerkennung (s. Anm. 2), 18, s. dazu auch A. Honneth, Kampf (s. Anm. 2), 148–211. 5 H. Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016, 332. Zum komplexen Vorgang der Anerkennung unter Menschen s. M. Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt a.M. 2009, 200ff und die kritische Weiterführung von I. Därmann, Wie man wird, was man gibt. Marcel Mauss und die Erkenntlichkeit der Gabe, Journal Phänomenologie 31 (2009) 20–31. 6 Rosa, Resonanz (s. Anm. 5), 333.

„JHWH kennt den Weg von Gerechten“

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Es kommt hinzu, dass Anerkennung eine kognitive Dimension hat, denn anerkennen setzt erkennen voraus. Das gilt nicht nur im Blick auf Tatsachen, die man anerkennt, indem man der Zustimmung zu einem erkannten Sachverhalt Ausdruck verleiht bzw. indem man das als wahr oder richtig Erkannte bestätigt.7 Es gilt auch im Blick auf den anderen Menschen: „Wenn man anerkannt wird, wird man nicht nur in Bezug auf bestimmte Eigenschaften erkannt, sondern in diesen auch positiv bestätigt. Wem hingegen ein einseitiges oder gar negatives Bild seiner selbst vermittelt wird oder wer schlicht ignoriert wird, der dürfte es schwer haben, sich selbst zu bejahen und die eigenen Projekte ohne nagenden Selbstzweifel zu verfolgen. Erst Anerkennung ermöglicht einen Zustand positiver Freiheit.“8

Beide Aspekte, der soziale und der kognitive, sind auch für das Thema „Anerkennung“ im Alten Testament und in seiner altorientalischen Umwelt konstitutiv. Es erhält dort aber zusätzlich eine religiöse Dimension, wie der Topos von der „Aufmerksamkeit Gottes“ eindrücklich belegt.9 Da dieser Sachverhalt den philosophischen und soziologischen Anerkennungstheoretikern unbekannt zu sein scheint, soll er hier am Beispiel des Psalters in Erinnerung gebracht werden. II.

Der Psalter und das Ethos der Anerkennung

In seiner Vorrede zum Psalter von 1528 hat M. Luther den Psalter bekanntlich als „Kleine Biblia“ bezeichnet, „darin alles aufs schönste und kürzeste, wie in der ganzen Bibel stehet, gefasset, und zu einem feinen Enchiridion oder Handbuch gemacht und bereitet ist“10. Der Grund für diese Hochschätzung der Psalmen liegt nach Luther darin, dass er ein Spiegel der menschlichen Existenz und zugleich ein Zeug7 Vgl. Düwell, Anerkennung (s. Anm. 2), 124. Die Polysemie des Begriffs „Anerkennung“ verdeutlicht Ricœur, Wege (s. Anm. 2), 19–42 am Beispiel der französischen Wörter reconnaître und reconnaissance. Zu den deutschen Wörtern anerkennen und Anerkenntnis s. J. und W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, München 1984 (Nachdruck der Ausgabe von 1854), 320. 8 Iser, Anerkennung (s. Anm. 2), 292. 9 S. dazu die Skizze von J. Assmann, Die Aufmerksamkeit Gottes. Die religiöse Dimension der Aufmerksamkeit in Israel und Ägypten, in: A. und J. Assmann (Hg.), Aufmerksamkeiten. Archäologie der literarischen Kommunikation VII, München 2001, 69–89. 10 M. Luther, Zweite Vorrede auf den Psalter (1528), in: H. Bornkamm (Hg.), Luthers Vorreden zur Bibel, Frankfurt a.M., 1983, 64–69, hier: 65, s. dazu auch B. Janowski, Die „Kleine Biblia“. Der Psalter als Gebetbuch Israels und der Kirche, JBTh 32 (2017) 3–25.

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„JHWH kennt den Weg von Gerechten“

nis der „Gemeinschaft der Heiligen“ ist. „Summa“, so fasst Luther seine Vorrede zusammen, „… willst du die heilige christliche Kirche gemalet sehen in lebendiger Farbe und Gestalt, in einem kleinem Bilde gefasset, so nimmt den Psalter vor dich, so hast du einen feinen, hellen, reinen Spiegel, der dir zeigen wird, was die Christenheit sei. Ja, du wirst auch dich selbst drinnen und das rechte Gnothi seauton finden, dazu Gott selbst und alle Kreaturen“11.

Vor diesem Hintergrund gewinnt das Thema „Anerkennung“, das bereits in Ps 1 präsent ist, seine besondere Bedeutung. 1.

Anerkennung und Gegenseitigkeit

Ps 1 und Ps 2 bilden das Proömium des Psalters. Beide Texte sind nicht nur durch die Seligpreisung (1,1 / 2,12) miteinander verbunden, sondern auch durch mehrere Stichworte aufeinander bezogen.12 Wichtig für unser Thema ist darüber hinaus der Sachverhalt, dass Ps 1 aufgrund seiner Spitzenstellung am Beginn des 1. Davidpsalters (Ps 3–41) einen programmatischen Hinweis gibt, der in dessen Feindschilderungen konkret ausgestaltet und mittels der rahmenden Seligpreisungen (Ps 1,1; 2,12; 40,5; 41,2) verallgemeinert wird: Proömium Ps 1–2

1. Davidpsalter Ps 3–41

Ps 1,1 Ps 2,12

Ps 40,5 Ps 41,2

Glücklich der Mann, der nicht gegangen ist nach dem Rat von Frevlern, und nicht den Weg von Sündern betreten hat, und am Sitz(platz) von Spöttern nicht gesessen hat. (Ps 1,1) Glücklich alle, die sich in ihm (sc. JHWH) bergen. (Ps 2,12) Glücklich der Mann, der auf JHWH sein Vertrauen gesetzt und sich nicht gewandt hat zu den Stolzen und treulosen Lügnern. (Ps 40,5) 11 Luther, Zweite Vorrede (s. Anm. 10), 69. 12 S. dazu ausführlich F. Hartenstein / B. Janowski, Psalmen (BK 15/1,1), Neukirchen-Vluyn / Göttingen 2012, 1–6.45–48 (Janowski), ferner R.G. Kratz, Die Tora Davids. Psalm 1 und die doxologische Fünfteilung des Psalters, ZThK 93 (1996) 1–34. Anders, aber wenig überzeugend D. Willgren, Why Psalms 1–2 Are Not to Be Considered a Preface to the „Book“ of Psalms, ZAW 130 (2018) 384–397, der den Proömiumscharakter von Ps 1–2 bestreitet.

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Glücklich, wer auf den Geringen achtet: am Tag des Unheils wird JHWH ihn retten. (Ps 41,2)13

Aufgrund dieser Beziehungen bekommt man den „Eindruck, daß zwischen Anfang und Ende des 1. Psalmenbuches ein theologisches Itinerar dargestellt wird“14, zu dem Ps 1 die Tür aufstößt. Die Anerkennungsaussage von Ps 1,6 gibt dabei den entscheidenden Verstehenshinweis. a)

Anerkennung im Kontext von Psalm 1–41

Ps 1 ist von dem scharfen Kontrast zwischen dem „Weg“ (dæræk)15 des Gerechten und dem „Weg“ der Frevler bestimmt, der den Text in Form einer thematischen Zweiteilung (V. 1–3 / V. 4f) und einem abschließenden, die beiden Wege einander gegenüberstellenden Resümee (V. 6) strukturiert:16 Der Weg des Gerechten 1 Glücklich der Mann, der nicht gegangen ist nach dem Rat von Frevlern, und den Weg von Sündern nicht betreten hat, und am Sitz(platz) von Spöttern nicht gesessen hat, 2 sondern der an der Weisung JHWHs sein Gefallen hat und seine Weisung rezitiert bei Tag und bei Nacht. 3 Er wird sein wie ein Baum, gepflanzt an Wasserkanälen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und dessen Laub nicht verwelkt. Und alles, was er tut, wird gelingen.

Der Weg der Frevler 4 Nicht so die Frevler, sondern wie die Spreu (sind sie), die ein Wind verweht. 13 S. dazu B. Janowski, Ein Tempel aus Worten. Zur theologischen Architektur des Psalters, in: ders., Der nahe und der ferne Gott. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 5, Neukirchen-Vluyn 2014, 287–314, hier: 292f. Außer an den genannten Stellen finden sich innerhalb von Ps 3–41 noch vier weitere Makarismen in Ps 32,1.2; 33,12 und 34,9, s. dazu die Hinweise 292 Anm. 19. 14 G. Barbiero, Das erste Psalmenbuch als Einheit. Eine synchrone Analyse von Psalm 1–41 (ÖBS 16), Frankfurt a.M. 1999, 62. 15 Zur doppelten Bedeutung von dæræk als „Weg“ (den man zurücklegt) und „Lebenswandel“ s. F. Hartenstein / B. Janowski, Psalmen (s. Anm. 12), 25f (Janowski), ferner K. Liess, Der Weg des Lebens. Psalm 16 und das Lebens- und Todesverständnis der Individualpsalmen (FAT II/5), Tübingen 2004, 237–248. 16 Zur Gliederung des Textes s. Hartenstein / Janowski, Psalmen (s. Anm. 12), 11–18 (Janowski).

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5 Darum stehen nicht auf Frevler im Gericht und Sünder in einer Versammlung von Gerechten.

Die beiden Wege 6 Denn JHWH kennt den Weg von Gerechten, aber der Weg von Frevlern vergeht.

Den Auftakt bildet eine Seligpreisung des Gerechten bzw. des „Mannes“, der über seine Ablehnung des Lebenswegs der Frevler, Sünder und Spötter (V. 1) sowie kontrastiv dazu über seine Tora-Frömmigkeit (V. 2) definiert wird. Dieser Kontrast wird in V. 3f anhand eines Vergleichs aus der Pflanzenwelt (fruchtbringender Baum vs. verwehte Spreu) verstärkt, wobei die beiden Menschentypen „Gerechter“ und „Frevler“ im Blick auf die Folgen ihres Tuns charakterisiert werden („gelingen“ V. 3, „nicht aufstehen“ V. 5). In V. 5 wendet sich der Blick dem Gericht bzw. der Versammlung der Gerechten zu, in dem/der die Frevler nicht auf- bzw. bestehen werden. V. 6 gibt dafür den Grund an: JHWH „kennt“ (jåda˛) den Weg der Gerechten, während der Weg der Frevler „vergeht“ (∞åbad).17 Dass JHWH den Weg der Gerechten „kennt“, so wie ein Liebender seine Geliebte „(er)kennt“, sagt viel über die Intimität dieser Beziehung aus.18 In der Tora ist alles gesagt, was Gott dem Menschen mitzuteilen hat. Wenn der Mensch diese Tora „rezitiert“ (hågåh V. 2)19 und nach ihr handelt, wird er einen Weg gehen, der ihn an den Mächten des Todes vorbei zum Leben führt. Das ist der Weg, den JHWH „kennt“, d.h. den er fürsorglich und abwägend begleitet, und zwar, wie das Partizip jôdea˛ unterstreicht, dauerhaft. Dazu passt die Beobachtung von I.L. Seeligmann, dass jåda˛ „(er)kennen, wissen“ die Folge einer Erfahrung ausdrückt, also eine „resultative“ Bedeutung hat.20 Und zwar einer Erfahrung, die ihrerseits die Folge einer Sinneswahr17 Gott kommt, was offenbar Absicht ist, in V. 6b nicht vor. Gott sorgt für den/die Gerechten, aber er vernichtet nicht die Frevler – das tun diese schon selber, indem sie sich in ihren Plänen und Machenschaften buchstäblich „verfangen“. C. Sticher, Die Rettung der Guten durch Gott und die Selbstzerstörung der Bösen. Ein theologisches Denkmuster im Psalter (BBB 137), Berlin / Wien 2002, 63–68 spricht deshalb zutreffend von der „Selbstzerstörung der Bösen“, deren Weg „vergeht“ wie die Spreu, die der Wind verweht (V. 4b), oder wie eine Lampe, deren Docht erlischt: „(5) Auch erlischt das Licht der Frevler, und die Flamme seines Feuers strahlt nicht auf. (6) Das Licht verfinstert sich in seinem Zelt, und seine Lampe über ihm erlischt“ (Hi 18,5f). 18 Vgl. Dtn 9,24; Am 3,2 u.ö. und dazu J. Jeremias, Der Prophet Amos (ATD 24/ 2), Göttingen 32013, 33f. 19 S. dazu Hartenstein / Janowski, Psalmen (s. Anm. 12), 10.26–28 (Janowski). 20 S. dazu I.L. Seeligmann, Erkenntnis Gottes und historisches Bewusstsein im Alten Israel, in: ders., Gesammelte Studien zur Hebräischen Bibel (FAT 41), hg. von E. Blum, Tübingen 2004, 233–263.

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nehmung (Hören oder Sehen) ist, die das Alte Testament gerade auch Gott zuschreibt, was nach Ps 73,2–12 von den Frevlern – die in ihrer Selbstbezüglichkeit nicht fähig sind, die Lage des bedrängten Beters wahrzunehmen (V. 7) – aber vehement in Frage gestellt wird (V. 11): 7 8 9 10 11 12

Es geht über vom Fett ihr Auge, es quellen über die Einbildungen des Herzens. Sie höhnen und sprechen im Bösen, Bedrückung reden sie von oben herab. Sie haben an den Himmel ihren Mund gesetzt, und ihre Zunge geht einher auf der Erde. Darum wendet sich das Volk ihnen zu, und die Wasser ihrer Worte schlürft man von ihnen. Und sie sprechen: „Wie kann Gott wissen (jåda˛), und gibt es Wissen (de˛åh) beim Höchsten? Siehe, dies sind die Frevler, und als ewig Sorglose vergrößern sie ihren Reichtum.21

Exkurs 1: „Aufmerksamkeit Gottes“ in ägyptischen Texten Auch in Ägypten spielt, bei aller sonstigen Differenz zu Israel, der Topos der göttlichen Aufmerksamkeit eine große Rolle.22 Als locus classicus kann der Schlusshymnus der Lehre für Merikare (10. Dynastie, nach 2120 v.Chr.) gelten:

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Wohl versorgt sind die Menschen, das Kleinvieh Gottes, ihretwegen (n jb.sn) erschuf er Himmel und Erde, er drängte die Gier des Wassers zurück und schuf die Luft, damit ihre Nasen leben. Seine Ebenbilder sind sie, aus seinem Leib hervorgegangen. Ihnen zuliebe (n jb.sn) geht er am Himmel auf, für sie schuf er Pflanzen und Tiere, Vögel und Fische, damit sie zu essen haben.

21 S. dazu B. Janowski / K. Liess, Gerechtigkeit und Unsterblichkeit. Psalm 73 und die Frage nach dem „ewigen Leben“, in: B. Janowski, Das hörende Herz. Beiträge zur Theologie und Anthropologie des Alten Testaments 6, Göttingen 2018, 385–408, hier: 387–400, ferner J. Schnocks, Rettung und Neuschöpfung. Studien zur alttestamentlichen Grundlegung einer gesamtbiblischen Theologie der Auferstehung (BBB 158), Göttingen 2009, 143–151. Im dritten Teil V. 18–28 kommt der Beter von Ps 73 zu einer gegenüber der in V. 2–12 formulierten Erfahrung der Anfechtung neuen Einsicht, die in der Gewissheit gipfelt, dass JHWH sein Lebensbegleiter über den Tod hinaus sein wird: „(23) Ich aber bin ständig bei dir, du hast mich an meiner rechten Hand ergriffen, (24) nach deinem Rat leitest du mich und auf Ehre/Herrlichkeit (kåbôd) hin wirst du mich (zu dir) nehmen“, s. dazu Janowski / Liess, Gerechtigkeit, 392–397 und zu kåbôd unten 82f.95f. 22 S. dazu Assmann, Aufmerksamkeit Gottes (s. Anm. 9), 79–89.

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Er tötete seine Feinde und ging vor gegen seine Kinder, weil sie auf Rebellion sannen. Ihnen zuliebe (n jb.sn) lässt er es Licht werden, um sie zu sehen, fährt er (am Himmel) dahin. Er errichtete sich einen Schrein hinter ihnen, wenn sie weinen, dann hört er. Er schuf ihnen Herrscher im Ei und Befehlshaber, um den Rücken des Schwachen zu stärken. Er schuf ihnen (sc. den Menschen) Zauber als Waffe, um den Arm des Missgeschicks abzuwehren, wachend über sie Tag und Nacht. Die ,Krummherzigen‘ unter ihnen hat er getötet, wie ein Mann seinen Sohn um seines Bruders willen schlägt. Gott kennt (rΔw) jeden Namen.23

In diesem Lobpreis des göttlichen Hirten drückt sich ein Weltbild aus, das sowohl „die Schöpfung als auch den Sonnenlauf um der Menschen willen geschehen lässt“24. Es ist, wie an der dreimal wiederkehrenden Wendung „um ihretwillen“ deutlich wird, ein anthropozentrisches Weltbild, d.h. der göttliche Hirte sorgt für das Wohl der Menschen, seiner „Ebenbilder“, und erhält sie am Leben, indem er die Schöpfung „um ihretwillen“ in Gang hält. Selbst der König ist dazu erschaffen, diese Aufgabe wahrzunehmen und „den Rücken des Schwachen zu stärken“. Diese Aufmerksamkeit Gottes schafft einen Horizont, in dem die Menschen „sich nicht nur geborgen, sondern auch selbst zur Wachsamkeit aufgerufen wissen“25. „Wachsamkeit“ heißt jedoch Fürsorge für den anderen. Ihr Gegenteil ist die Verachtung und Verhöhnung des Nächsten, die in zahlreichen ägyptischen Weisheitstexten zum Thema gemacht wird. So sagt ein Grabherr auf einer Grabstele der 26. Dynastie (7./6. Jh. v.Chr.) von sich: [Ich schützte den Hilfsbedürftigen:] Ich wusste: Gott ist zufrieden mit einem, der das tut.26

23 Zitiert nach J. Assmann, Re und Amun. Die Krise des polytheistischen Weltbilds im Ägypten der 18.–20. Dynastie (OBO 51), Freiburg, Schweiz / Göttingen 1983, 168f, s. dazu auch ders., Aufmerksamkeit Gottes (s. Anm. 9), 81 und B. Janowski, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen 2019, 588f. 24 Assmann, Re (s. Anm. 23), 279. 25 J. Assmann, Aufmerksamkeit Gottes (s. Anm. 9), 79. Weitere aufschlussreiche Texte zur „Aufmerksamkeit Gottes“ 79–85. 26 Zitiert nach B.U. Schipper, Sprüche 1–15 (BK 17/1), Göttingen 2018, 810.

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Und in der Lehre des Amenemope aus der 20. Dynastie (um 1100 v.Chr.) wird – wie in Spr 14,3127 – das Verhalten gegenüber bestimmten Menschen (Blinder, Zwerg, Lahmer, Frommer) mit dem Verweis auf den Schöpfergott begründet: 480

Verlache nicht einen Blinden und verhöhne nicht einen Zwerg. Erschwere nicht das Geschick eines Lahmen. Verspotte nicht einen Mann, der in der Hand Gottes ist, und sei nicht aufgebracht gegen ihn, wenn er einen Fehler gemacht hat. Der Mensch ist Lehm und Stroh, und Gott ist sein Töpfer.28

Weil Gott der Schöpfer des Menschen ist, dringt seine Aufmerksamkeit auch in das Innere des Menschen und erforscht seine geheimsten Gedanken.29 So erfüllt sie das menschliche Leben und gibt ihm grundlegende Ori(Ende des Exkurses) entierungen.

Kehren wir zu Ps 1 zurück. Das resultative Moment des göttlichen Erkennens, wie es das Verb jåda˛ ausdrückt, harmoniert aufs beste mit der Gelingensaussage am Ende von Ps 1,3 („Und alles, was er tut, wird gelingen“) und macht deutlich, wer der Akteur hinter dem Lebensweg des/der Gerechten ist: „Schon hier bleibt nur die ∞adath zadd⁄q⁄m; den Lebensweg der Gemeinde der Gerechten kennt und umsorgt der Herr. Ihre Tränen hebt er bei sich auf (Ps. 56,9). Es ist nicht zu zweifeln am Sehen und Hören dessen, der Auge und Ohr schuf (Ps 94,9). Er weiß, was für Gedanken er über sie hat (Jer. 29,11). Der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht (Ps. 121,4). Darum soll keiner denken oder sagen: ‚Mein Geschick ist vor Gott verborgen und mein Recht entgeht meinem Gott‘ (Jes. 40,27). In solcher Gewißheit scheint mir der Psalm zu stehen, wenn er vom Wissen Jahwes um den Weg der Gerechten spricht.“30

So beruht die gedankliche Struktur von Ps 1 auf dem Ablauf von Seligpreisung, Schilderung zweier entgegengesetzter Lebensentwürfe (Gerechter vs. Frevler) und Resümee über die „Kenntnis“, die JHWH vom Weg des Gerechten hat. Dass JHWH den Lebensweg der Gerechten „kennt“, meint, wie E. Zenger zutreffend formuliert hat, 27 S. dazu unten 80. 28 Übersetzung H. Brunner, Altägyptische Weisheit. Lehren für das Leben, Zürich / München 1988, 254, vgl. Schipper, Sprüche 1–15 (s. Anm. 26), 818. 29 S. dazu Assmann, Aufmerksamkeit Gottes (s. Anm. 9), 86–89. 30 H.W. Wolff, Wegweisung. Gottes Wirken im Alten Testament, München 1965, 149.

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„seine liebende Zuwendung, mit der er die einzelnen Lebenssituationen so begleitet, daß ,die Gerechten‘ (d.h. die sich gemeinschaftsadäquat verhalten und einsetzen) dieses sein Erkennen als ,Lebensgemeinschaft‘ mit JHWH erleben, die ihnen Kraft und Licht gibt, damit sie ,gehen‘ können und wollen (vgl. Ex 33,12; Jer 1,5; Ps 31,8; 37,18)“31.

Das Motiv der liebenden Zuwendung oder fürsorglichen Aufmerksamkeit, die Gott dem Gerechten zuteil werden lässt, kommt am Ende des 1. Davidpsalters auch in der Seligpreisung von Ps 41,2 zum Ausdruck,32 wo von der Achtsamkeit auf den „Geringen“ (dal) die Rede ist, dem schlimmes Unheil widerfahren ist: 2 Glücklich, wer auf den Geringen achtet (¬kl hif.):33 Am Tag des Unheils wird JHWH ihn retten. 3 JHWH wird ihn behüten und am Leben erhalten, und er wird glücklich gepriesen im Land – ja, du wirst ihn nicht preisgeben der Gier seiner Feinde. 4 JHWH wird ihn stützen auf dem Siechbett – sein ganzes Lager hast du gewendet in seiner Krankheit.

Im Blick auf unser Thema ergibt sich daraus eine wichtige Feststellung. Wenn man nämlich Ps 1,1–3 und Ps 41,2–4, also die jeweils erste Strophe beider ,Eckpsalmen‘, miteinander vergleicht, so wird als „Weg zum Glück in Ps 1 die liebevolle Annahme der Tora JHWHs vorgestellt (1,2), in Ps 41 die Achtung auf den Schwachen (ma¬kîl ∞æl dal 41,2). Durch diese Parallelstellung wird die Tora auf ihren neuralgischen Punkt hin konzentriert. Die Sorge für die Schwachen ist nämlich ein, wenn nicht das zentrale Anliegen des alttestamentlichen Gesetzes; sie entspricht der grundlegenden Gotteserfahrung Israels“34.

Diese Sorge für die Schwachen wird dann akut, wenn, wie Ps 41,5– 11 konkret schildert, die Feinde, Nachbarn und treulosen Freunde die Oberhand gewinnen und dem „Geringen“ mit ihrer Todesdeklaration (vgl. V. 9!) den Garaus machen wollen: 5 Ich selbst sprach: JHWH, sei mir gnädig! Heile mein Leben/mich, denn ich habe an dir gesündigt! 6 Meine Feinde reden Böses über mich: „Wann stirbt er und vergeht sein Name?“ 31 F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalm 1–50 (NEB.AT 29), Würzburg 1993, 48f. 32 Zum intertextuellen Zusammenhang der Seligpreisungen in Ps 1/2 und in Ps 40/41 s. oben 68f. 33 Zur Bedeutung von ¬kl hif. s. im Folgenden. 34 Barbiero, Psalmenbuch (s. Anm. 14), 61.

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Und wenn einer kommt, (mich) zu sehen, redet sein Herz Falsches, er sammelt sich Unheil zusammen, er geht hinaus, er redet. Gemeinsam zischeln über mich alle, die mich hassen, gegen mich ersinnen sie Böses für mich: „Eine Sache des Verderbens ist über ihn ausgegossen, und wer einmal liegt, steht nicht mehr auf!“ Sogar der Mann meines Friedens, dem ich vertraute, der mein Brot aß, hat groß getan (= geprahlt) gegen mich. Aber du, JHWH, sei mir gnädig und richte mich auf, damit ich ihnen vergelten kann!35

Diese Anfeindungen hat der kranke Beter erfahren, durch JHWHs gnädige Zuwendung aber überstanden. „Glücklich“, so die Botschaft von Ps 41,2, wer sich solchen Anfeindungen nicht hingibt, sondern „wer auf den Geringen achtet“. Das hier begegnende Verb ¬kl hif. „achtgeben, einsichtsvoll betrachten“ gehört nicht nur zur Sprachwelt der Weisheit,36 sondern auch zum alttestamentlichen Wortfeld der Anerkennung. Dem wenden wir uns im Folgenden zu. b)

Zur Semantik der Anerkennung

Es gibt im Alten Testament kein hebräisches Äquivalent für unseren Begriff „Anerkennung“.37 Der entsprechende Sachverhalt wird vielmehr durch Verben und Nomina ausgedrückt, die diesem Begriff bedeutungsmäßig nahekommen, darüber hinaus aber weitere Aspekte hinzufügen. Der folgende Überblick versucht, die wichtigsten Bedeutungsaspekte zusammenstellen und anhand ausgewählter Beispiele zu erläutern. a)

Kognitive und wahrnehmungsbezogene Aspekte

Da das Anerkennen elementar mit dem Akt des Erkennens bzw. Wahrnehmens verbunden ist, gehören zum Wortfeld der Anerkennung Verben, die eine kognitive und/oder wahrnehmungsbezogene Aussageintention haben. Dazu zählen u.a.: 35 S. dazu B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Göttingen 52019, 174–193; ders., Anthropologie (s. Anm. 23), 180–182, ferner M. Bauks, Die Feinde des Psalmisten und die Freunde Ijobs. Untersuchungen zur Freund-Klage im Alten Testament am Beispiel von Psalm 22 (SBS 203), Stuttgart 2004, 84–86; A. Kuckhoff, Psalm 6 und die Bitten im Psalter. Ein paradigmatisches Bitt- und Klagegebet im Horizont des Gesamtpsalters (BBB 160), Göttingen 2011, 184–186.194f u.a. 36 S. dazu K. Koenen, Art. ¬kl usw., ThWAT 7 (1993) 781–795, hier: 784f. 37 Zum philosophischen und soziologischen Anerkennungsbegriff s. oben 65ff.

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bîn „achtgeben, wahrnehmen, verstehen“ Die beiden gegensätzlichen Menschentypen – der Gerechte und der Frevler38 – werden immer wieder in ihrem Verhältnis zum „Geringen“ dargestellt, wobei das Wahrnehmen/Verstehen seiner Lage lebenspraktische Konsequenzen hat. Das Nichtverstehen ist deshalb „kein intellektueller Defekt, sondern Ausdruck frevelhafter Verfehltheit“39. Im Vordergrund steht also die innere Einstellung dem/den Armen gegenüber:40 Böse Männer verstehen (bîn) nicht, was recht ist, aber diejenigen, die JHWH suchen, verstehen (bîn) alles. (Spr 28,5) Der Gerechte kennt (jåda˛) das Recht der Geringen, der Frevler kennt (bîn) keinerlei Verständnis (da˛at) (Spr 29,7)41

zåkar „gedenken, sich erinnern“ Das Syntagma zåkar („gedenken, sich erinnern“) + Subj. JHWH ist für das Anerkennungsthema von besonderem Interesse, weil zåkar „einen über bloßes Denken hinausreichenden tathaften Bezug zu den Objekten des Gedenkens“42 impliziert. Zahlenmäßig an der Spitze stehen dabei die Belege für den personalen Bezug, die sich in drei Kategorien einteilen lassen: 1. zåkar + Akk. der Person (Gen 8,1a; Ps 8,5; 9,13; 74,2; 106,4; 115,12 u.ö.), 2. zåkar + le der Person (Dtn 9,7; Ps 25,6; 136,23 u.ö.) und 3. zåkar + le der Person und Akk. der Sache (Ps 132,1; 2 Chr 6,42; Neh 5,19 u.ö.): Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst (zåkar), und das Menschenwesen, dass du dich seiner annimmst (påqad)? (Ps 8,5)43 Denn als einer, der nach Blutschuld forscht, hat er (sc. Gott) sich ihrer erinnert (zåkar), hat nicht vergessen (çåkaª) das Geschrei der Armen. (Ps 9,13) 38 Zur polaren Typendefinition Gerechter vs. Frevler im Psalter s. Hartenstein / Janowski, Psalmen (s. Anm. 12), 21f (Janowski). 39 A. Meinhold, Die Sprüche 1–2 (ZBK.AT 16/1–2), Zürich 1991, 484. 40 S. dazu auch H. Delkurt, Ethische Einsichten in der alttestamentlichen Spruchweisheit (BThSt 21), Neukirchen-Vluyn 1993, 118–122, vgl. W. Schottroff, Art. jd˛, THAT I (51994) 682–701, hier: 690. 41 S. dazu Meinhold, Sprüche (s. Anm. 39), 469.484. 42 W. Schottroff, Art. zåkar, THAT I (51994) 507–518, hier: 510, s. dazu auch B. Janowski, Schöpferische Erinnerung. Zum „Gedenken Gottes“ in der biblischen Fluterzählung, in: ders., Die Welt als Schöpfung. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 4, Neukirchen-Vluyn 2008, 172–198, hier: 173–175. 43 S. dazu unten 95.

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ªåzåh „schauen“, nb† hif. „blicken“, rå∞åh „sehen“; ˛ajin „Auge“ u.a. Für das Thema „Anerkennung“ ist der Blickkontakt zentral.44 So schaut JHWH aus der Höhe / vom Himmel / von seinem Thron herab, um rettend einzugreifen und dem Elenden und Bedrängten Anerkennung zu verschaffen (Ps 11,4f; 14,2 = 53,3; 33,13–15.18f; 102,20f; 138,6; Klgl 3,49f u.ö.).45 Dieses rettend-zugewandte Sehen Gottes wird in der Klage des Einzelnen wie des Volkes eingefordert (Ps 10, 14; 13,4; 17,2; 80,15 u.ö.). Im Gegensatz zum „bösen Auge“ (Spr 23, 6; 28,22) kommt das „gütige Auge“ nur in Spr 22,9 vor. „Es lässt auf ein gutes, zugewandtes Herz schließen, das sich in Taten der Barmherzigkeit äußert“46: Mit Subj. Gott 4 JHWH – in seinem heiligen Tempel, JHWH – im Himmel ist sein Thron. Seine Augen (˛enajim) sollen schauen (ªåzåh), seine Wimpern (˛ap˛apajim) die Menschen prüfen (båªan). 5 JHWH möge den Gerechten und den Frevler prüfen (båªan), aber wer Gewalttat liebt, den hasst seine næpæç. (Ps 11,4f)47 4 Blick doch her (nb† hif.), erhöre mich, JHWH, mein Gott! Lass meine Augen leuchten, damit ich nicht zum Tod entschlafe, 5 damit mein Feind nicht behauptet: „Ich habe ihn überwältigt!“, meine Gegner nicht jubeln, dass ich wanke! (Ps 13,4f)48

44 Auf drastische Weise kommt dieser Sachverhalt in Spr 30,17 zum Ausdruck: „Ein Auge, das über den Vater spottet (lå˛ag) und den Gehorsam der Mutter gegenüber verachtet (bûz) – aushacken werden es die Bachraben und fressen werden es die Geierjungen“. Spott und Verachtung sind Missachtungshandlungen, gegen die das Elterngebot gerichtet ist, s. dazu Meinhold, Sprüche (s. Anm. 39), 507f und unten 83. Der Blickkontakt ist darüber hinaus nicht nur für die ªånan-/ªen-, sondern auch für die nkr hif.-Belege charakteristisch, s. dazu im Folgenden. 45 S. dazu B. Ego, „Der Herr blickt herab von der Höhe seines Heiligtums“. Zur Vorstellung von Gottes himmlischem Thron in exilisch-nachexilischer Zeit, ZAW 110 (1998) 556–569, hier: 560–564; F. Hartenstein, Das Angesicht JHWHs. Studien zu seinem höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Exodus 32–34 (FAT 55), Tübingen 2008, 129–131 und U. Berges, Klagelieder (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien. 2002, 218f. 46 Meinhold, Sprüche (s. Anm. 39), 369. 47 Mit næpæç ist nach K. Müller, Lobe den Herrn, meine „Seele“. Eine kognitivlinguistische Studie zur næfæç des Menschen im Alten Testament (BWANT 215), Stuttgart 2018, 250 wohl „sein (sc. Gottes) nicht folgenlos bleibendes ,Berührtsein‘ vom Handeln der Menschen“ gemeint. Zur næpæç Gottes s. 245–251. 48 S. dazu Janowski, Konfliktgespräche (s. Anm. 35), 65–70.

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Mit Subj. Mensch Wer gütigen Auges (†ôb-ajin) ist, der wird gesegnet (brk pu.), denn er gab von seinem Brot dem Geringen. (Spr 22,9)49

jåda˛ „(er)kennen, wissen“ Nach I.L. Seeligmann hat die Wurzel jd˛ ursprünglich eine resultative Bedeutung, da sie „den Abschluß eines Prozesses der Erfahrung aus(drückt)“50. Die Form dieser Erfahrung kann eine Folge des Sehens oder Hörens sein. Von daher legt es sich nahe, das Verb mit „zur Einsicht gelangen, erkennen“ zu übersetzen. Von Anerkennung, die Folge eines erkennenden, Anteil nehmenden Sehens oder Hörens ist, ist mit göttlichem Subjekt in Ex 3,7; Ps 1,6; 31,8f; 142,4f u.ö. und mit menschlichem Subjekt in Spr 12,10; 29,7 u.ö. die Rede: Mit Subj. Gott Denn JHWH kennt (jåda˛) den Weg von Gerechten, aber der Weg von Frevlern vergeht. (Ps 1,6)51 Mit Subj. Mensch Der Gerechte kennt (jåda˛) das Recht der Geringen, der Frevler kennt (bîn) keinerlei Verständnis (da˛at). (Spr 29,7)52

nkr hif. „aufmerksam betrachten, identifizieren“ Die Grundbedeutung von nkr hif. ist „aufmerksam betrachten, identifizieren“. In vielen Fällen handelt es sich um Zusammenhänge, bei denen das Sehen bzw. Gesehen-Werden eine zentrale, auf die Identität eines Menschen oder Gegenstandes bezogene Rolle spielt (Gen 37,32f; 38,25f u.ö.).53 Das Ruthbuch ist dafür eine aufschlussreiche 49 S. dazu Delkurt, Einsichten (s. Anm. 40), 127, der zu Recht bemerkt, dass der Begriff „segnen“ (brk pi.) ein Eingreifen JHWHs impliziert, vgl. Meinhold, Sprüche (s. Anm. 39), 369 und J. Hausmann, Studien zum Menschenbild der älteren Weisheit (FAT 7), Tübingen 1995, 85–88. brk pu. „gesegnet sein/werden“ bezeichnet das Ergebnis einer vorangehenden Segenshandlung, s. dazu C.A. Keller / G. Wehmeier, Art. brk pi., THAT I (51994) 353–376, hier: 363f. 50 Seeligmann, Erkenntnis Gottes (s. Anm. 20), 235, vgl. oben 70. 51 S. dazu oben 69ff. 52 Vgl. oben 76 und Spr 22,22f, s. dazu Delkurt, Einsichten (s. Anm. 40), 119f; Meinhold, Sprüche (s. Anm. 39), 380f und Hausmann, Menschenbild (s. Anm. 43), 38–40. Zu Spr 12,10 („Der Gerechte kennt [jåda˛] das Bedürfnis seines Viehs, aber das Erbarmen der Frevler ist grausam“) s. Meinhold, Sprüche, 207 und Schipper, Sprüche 1–15 (s. Anm. 26), 717f. 53 S. dazu B. Janowski, „JHWH tue an euch Güte, wie ihr sie an den Toten und mir getan habt“ (Ruth 1,8). Zum Ethos der Hingabe im Buch Ruth, in: J.J. Krause /

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Beispielerzählung. So beginnt Ruth 2 damit, dass Ruth auf dem Feld des Boas Nachlese bei der Gerstenernte halten will und zwar „hinter demjenigen her, in dessen Auge ich Gunst (ªen) finde“ (Ruth 2,2).54 Obwohl sie eine Ausländerin ist, der das Nachleseprivileg eigentlich nicht zusteht (vgl. Lev 19,9f; Dtn 24,19), findet sie Gunst in den Augen des Boas (Ruth 2,8f) und reagiert darauf mit Ehrfurcht und Demut: Da fiel sie auf ihr Angesicht und verneigte sich bis zur Erde und sagte zu ihm: „Warum habe ich Gunst (ªen) gefunden in deinen Augen, dass du mich mit Achtung behandelst (nkr hif.)? Ich bin doch eine Ausländerin (nåkrîjjåh)!“ (Ruth 2,10)55

¬kl hif. „achtgeben, einsichtsvoll betrachten“ Hinter dem Verb ¬kl steht „ein Konzept, das die Aspekte ,vernünftig sein – vernünftig handeln – Gott erkennen – seine Gebote beachten – ein erfolgreiches Leben führen – überlegen sein‘ in sich vereint“56. Die kognitive Qualität von ¬kl hif. geht deutlich aus Neh 8,13 hervor, wonach sich die Familienhäupter des ganzen Volkes bei Esra versammelten, „um die Worte der Tora genau zu beachten (¬kl hif.)“. Dieser Aspekt der Achtsamkeit bzw. des genauen Hinsehens auf jemanden / etwas ist auch für das Thema „Anerkennung“ ausschlaggebend: Glücklich, wer auf den Geringen achtet (¬kl hif.): Am Tag des Unheils wird JHWH ihn retten. (Ps 41,2)57 Wer auf ein Wort achtet (¬kl hif.), findet Gutes, und wer auf JHWH vertraut – glücklich ist er! (Spr 16,20)58

W. Oswald / K. Weingart (Hg.), Eigensinn und Entstehung der Hebräischen Bibel (FAT 136), Tübingen 2020, 441–456 (s. in diesem Band S. 95–112). 54 Zu ªen „Gunst“ s. unten 80f. 55 Das Wortspiel zwischen nkr hif. „mit Achtung behandeln“ (vgl. Ruth 2,19) und nåkrîjjåh „Ausländerin“ demonstriert die Macht der Anerkennung am Fall des/ der Fremden (nåkrî, nåkrîjjåh), der/die in nachexilischer Zeit abwertend behandelt wird (vgl. Neh 13,23–27 u.ö.). Wenn also Ruth zu Boas sagt, dass er sie „mit Achtung behandelt“ habe, dann „verwendet sie den Begriff für das genaue Hinsehen, das hinter der äußeren Erscheinung das wahre Wesen des Gegenübers zu erkennen vermag (Gen 27,23; 42,7f; Ijob 2,12)“ (M. Köhlmoos, Ruth [ATD 9/3], Göttingen 2010, 41). 56 Koenen, ¬kl (s. Anm. 36), 785. 57 S. dazu oben 68f. 58 S. dazu Meinhold, Sprüche (s. Anm. 39), 275.

80 b)

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Sozialethische und rechtliche Aspekte

Wie die bisherigen Belege zeigen, geht es beim Akt der Anerkennung bzw. Nicht-Anerkennung nicht einfach um die kognitive Seite des (An-)Erkennens bzw. Nicht-(An-)Erkennens, sondern auch um die lebenspraktischen Folgen, die dieser Akt für den/die Betroffenen hat. Diese Dimension tritt bei den folgenden Termini noch deutlicher hervor. ªånan „gnädig, barmherzig sein“, ªannûn „gnädig, barmherzig“, ªen „Gunst, Freundlichkeit“ Das Thema „Anerkennung“ hat auch eine rechtliche Dimension.59 Diese spielt etwa in den Schutzbestimmungen von Ex 22,22–26 eine Rolle, wo es um den Mantel des Bedürftigen geht, für den Solidarität eingefordert wird. Der Mantel darf zwar als Pfand einbehalten werden, aber nur bis zum Sonnenuntergang. Darüber wacht JHWH, der sich als „barmherzig“ (ªannûn) erweist, wenn der Bedürftige zu ihm schreit (V. 26). In Spr 14,20f.31; 19,17 u.a. wird das Barmherzigkeitsmotiv nicht nur zu einem Kriterium für den Umgang mit den personae miserae, es hat auch eine schöpfungstheologische Dimension. „Gunst“ (ªen) in den Augen eines anderen zu finden (Ruth 2,10.13 u.a.), bedeutet, von ihm anerkannt zu werden: Mit Subj. Gott 25 26

Wenn du den Mantel deines Nächsten als Pfand nimmst, sollst du ihm diesen bis Sonnenuntergang zurückgeben. Denn er ist seine einzige Decke, er ist sein Gewand für seine Haut. Womit soll er sich hinlegen? Wenn er zu mir schreit, werde ich (es) hören, denn ich bin gnädig (ªannûn ∞anî). (Ex 22,25f)60

Mit Subj. Mensch 20 21

Sogar seinem Nächsten ist der Arme verhasst, aber die Liebhaber des Reichen sind zahlreich. Wer seinen Nächsten verachtet, verfehlt sich, aber wer sich des Elenden erbarmt (ªnn po.) – glücklich ist er! (Spr 14,20f)

Wer einen Geringen bedrückt, hat dessen Schöpfer verhöhnt, aber es ehrt ihn, wer sich eines Armen erbarmt (ªånan). (Spr 14,31, vgl. 17,5) 59 Vgl. oben 76 zu Spr 28,5; 29,7 u.ö. 60 S. dazu Janowski, Anthropologie (s. Anm. 23), 185–187 mit den dortigen Hinweisen.

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JHWH leiht, wer einem Geringen gegenüber barmherzig ist (ªånan), und seine Tat wird er ihm vergelten. (Spr 19,17)61 Und Ruth, die Moabiterin, sprach zu Naomi: „Ich will aufs Feld gehen und auflesen unter den Ähren hinter demjenigen her, in dessen Auge ich Gunst (ªen) finde.“ Und sie sprach zu ihr: „Geh, meine Tochter!“ (Ruth 2,2)62

ªæsæd „Hingabe, Güte“, ªåsîd „liebevoll, treu, fromm“ ªæsæd „Hingabe, Güte, Freundlichkeit“ ist ein relationaler Grundbegriff des Alten Testaments. Er meint eine Lebenshaltung, die man als „respondierendes Verhalten“63 oder als „gegenseitige Hochschätzung“64 bezeichnen kann, bei dem/der immer das Moment des Tuns intendiert ist.65 ªæsæd ist die konnektive Kraft, die der Gemeinschaft Sinn und Zusammenhalt verleiht (vgl. Hos 4,1; 6,4.6 u.ö.), weil sie verlässlich ist und „dem anderen mehr gibt, als rechtlich gefordert ist“66. Dieses Mehr kommt in dem spätnachexilischen locus classicus Mi 6,8 auf prägnante Weise zum Ausdruck:

61 Zu diesen vier Spr-Texten s. Delkurt, Einsichten (s. Anm. 40), 100.113f.126. 135; Meinhold, Sprüche (s. Anm. 39), 238f.244f.284.320f; Hausmann, Menschenbild (s. Anm. 49), 85–88; P. Coulange, Dieu, ami des pauvres. Etude sur la connivence entre le Très-Haut et les petits (OBO 223), Freiburg, Schweiz / Göttingen 2007, 169– 194 und Schipper, Sprüche 1–15 (s. Anm. 26), 808–810.818f (mit ägyptischen Sachparallelen). 62 Gunst findet Ruth in den Augen des Boas (Ruth 2,8f, vgl. 2,13), woraufhin sie mit Erstaunen reagiert, s. dazu oben 78f. Nach I. Willi-Plein, ªn. Ein Übersetzungsproblem, VT 23 (1973) 90–99, 95 ist ªen „immer etwas …, das eine Sache oder Person liebenswert sein oder erscheinen lässt“. Zu der mit ªånan ausgedrückten Bitte des Verachteten um das göttliche Erbarmen s. Ps 4,2; 123,3f u.ö. und dazu D.N. Freedman / J. Lundbom, Art. ªnn, ThWAT 3 (1982) 23–40, 25.30.35f und F. Hartenstein / B. Janowski, Psalmen (BK 15/1,3), Göttingen 2019, 177–180 (Hartenstein). 63 So D. Michel, ªæsæd we∞æmæt, in: A. Wagner (Hg.), Studien zur hebräischen Grammatik (OBO 156), Freiburg, Schweiz / Göttingen 1997, 73–82, hier: 74f: „Wir wollen dieses Verhalten (sc. ªæsæd) anders als (N.) Glueck (,gemeinschaftsgemäße Verhaltensweise‘) lieber nennen: ,respondierendes Verhalten‘ – denn darum geht es: auf eine erwiesene Wohltat hat man … entsprechend zu antworten.“ 64 R. Oberforcher, Das Buch Micha (NSK.AT 24/2), Stuttgart 1995, 131, vgl. zur Gegenseitigkeit des ªæsæd-Erweises auch H.-J. Zobel, Art. ªæsæd, ThWAT 3 (1982) 48–71, hier: 52f. 65 S. dazu Zobel, ªæsæd (s. Anm. 64), 53.56–59; J. Jeremias, Der Prophet Hosea (ATD 24/1), Göttingen 1983, 60f und J. Dietrich, Sozialanthropologie des Alten Testaments. Grundfragen zur Relationalität und Sozialität des Menschen im alten Israel, ZAW 127 (2015) 224–243, hier: 240f. 66 R. Kessler, Micha (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien 1999, 271.

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Mit Subj. Gott Ich aber – dank deiner großen Güte (ªæsæd) trete ein in dein Haus, werfe mich nieder zu deinem heiligen Palast hin in Furcht vor dir. (Ps 5,8)67 Ja, du, Herr, bist gut und bereit zu vergeben und reich an Güte (ªæsæd) gegenüber allen, die dich anrufen. (Ps 86,5)68 Mit Subj. Mensch Hört JHWHs Wort, ihr Israeliten! Einen Prozess hält JHWH mit den Landesbewohnern, denn keine Zuverlässigkeit, keine Hingabe (ªæsæd) und keine Gotteserkenntnis gibt es im Land. (Hos 4,1) Man hat dir gesagt, Mensch, was gut ist und was JHWH von dir fordert: nichts als Recht tun und Hingabe (ªæsæd) lieben und einsichtsvoll gehen mit deinem Gott. (Mi 6,8)69

kbd. pi. „ehren“, kåbôd „Ehre, Herrlichkeit“ „Ehre“ bezeichnet den „… Wert, den eine Person sich selbst gibt (d.h. auf den sie Anspruch erhebt), und den Wert, den eine Person in den Augen ihrer sozialen Gruppe hat. Ehre ist also der Anspruch auf Wertschätzung verbunden mit der sozialen Anerkennung dieses Wertes“70. Diese Wertschätzung wird im Elterngebot (Ex 20,12 par. Dtn 5,16) und verwandten Texten eingeschärft. In den Individualpsalmen und im Hiobbuch geht es dagegen um die Minderung bzw. Zerstörung der Ehre des Beters/Hiobs durch seine Feinde/Gott (Ps 4,3; 7,6; Hi 19,7–12.13–19 u.ö.) und die Wiederherstellung der Ehre durch Gott (Ps 3,4; 16,9; 30,13; 62,8; 73,24; 84,12; 91,15 u.ö.). Die dem Menschen nach Ps 8,6 von Gott verliehene „Ehre und Pracht“ stellt eine anthropologische Konstante dar: 67 Nach der Situationsangabe von V. 4 folgt in V. 5–7 ein Hymnus auf den Gott der Gerechtigkeit, der die Übeltäter und Lügenredner „verabscheut“ (t˛b pi.), s. dazu Hartenstein / Janowski, Psalmen (s. Anm. 62), 209–212 (Janowski). 68 Zur sog. Gnadenformel von Ex 34,6f und ihrer Rezeption in Ps 86,15; 103,8; 145,8 u.a. s. A.-K. Fiß, „Lobe den Herrn, meine Seele!“ Psalm 103 in seinen Kontexten (WMANT 156), Göttingen 2019, 113–118. 69 S. dazu Janowski, Anthropologie (s. Anm. 35), 187–191. 70 B. Malina, Die Welt des Neuen Testaments. Kulturanthropologische Einsichten, Stuttgart u.a. 1993, 42, s. dazu J. Dietrich, Über Ehre und Ehrgefühl im Alten Testament, in: B. Janowski / K. Liess (Hg.), Der Mensch im alten Israel. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie (HBS 59), Freiburg / Basel / Wien 2009, 419–452 und Janowski, Anthropologie (s. Anm. 23), 207–214.

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Mit Subj. Gott 2 3 4

6

JHWH, wie zahlreich sind meine Bedränger, viele sind es, die aufstehen gegen mich! Viele sagen von meiner Person: „Es gibt keine Rettung für ihn durch Gott!“ Aber du, JHWH, bist ein Schild um mich, meine Ehre (kåbôd) und der, der mein Haupt erhebt. (Ps 3,2–4)71 Du hast ihn (sc. den Menschen) wenig niedriger gemacht als Gott, und mit Ehre (kåbôd) und Pracht (hådår) hast du ihn gekrönt. (Ps 8,6)72

12

Du hast meine Trauerklage gewendet zum Reigentanz für mich, du hast mein Trauergewand gelöst und mich mit (einem) Freude(ngewand) umgürtet, 13a damit ‹meine› Ehre (kåbôd) für dich musiziert und nicht schweigt. (Ps 30,12f*)73 Mit Subj. Mensch 4 5 6

JHWH, mein Gott, wenn ich dies getan habe: wenn es Unrecht an meinen Händen gibt, wenn ich dem, der mit mir in Frieden lebte, Böses antat, und meinen Bedränger grundlos beraubte, dann soll der Feind mein Leben verfolgen und (es) einholen und zu Boden treten mein Leben und meine Ehre (kåbôd) in den Staub legen. (Ps 7,4–6)74

Ehre (kbd pi.) deinen Vater und deine Mutter, damit deine Tage lang sind auf dem Ackerboden, den JHWH, dein Gott, dir gibt! (Ex 20,12)75

påqad „nach jemandem/etwas sehen, sich jemandes annehmen“ Für das Verb påqad ergibt sich nach E. Brünenberg die Grundbedeutung „jemanden/etwas nachprüfen, kontrollieren, genau beobach71 S. dazu F. Hartenstein / B. Janowski, Psalmen (BK 15/1,2), Neukirchen-Vluyn 2015, 144–149 (Janowski). 72 Vgl. Ps 103,4 (gekrönt „mit Güte und Erbarmen“), s. dazu F. Hartenstein / B. Janowski, Psalmen (BK 15/1,4), Göttingen 2019, 313–315 (Janowski). 73 Bei der „Ehre“ des Beters, der für JHWH musiziert und nicht schweigt, geht es um das wiederhergestellte Prestige des Geretteten, s. dazu Janowski, Konfliktgespräche (s. Anm. 35), 281–284. Zu kåbôd in Ps 73,24 s. oben Anm. 21. 74 S. dazu Hartenstein / Janowski, Psalmen (s. Anm. 72), 265–267 (Janowski). 75 Vgl. Dtn 5,16. Der verächtliche Umgang mit den alt gewordenen Eltern wird in Ex 21,15.17; Dtn 27,16; Spr 19,26; 20,20; 23,22 u.ö. konkret geschildert und mit Sanktionen belegt, s. dazu Janowski, Anthropologie (s. Anm. 23), 130–133 und oben Anm. 44 zu Spr 30,17.

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ten“.76 Dieses Interesse an jemandem/etwas kann sich als wohlwollende oder als kritische Prüfung bekunden. In Ps 8,5 wird die Zuwendung JHWHs im Sinn eines wohlwollenden Interesses am Geschick des Menschen zum Ausdruck gebracht (vgl. auch Ps 65,10; 85,15 u.ö.): Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst (zåkar), und das Menschenwesen, dass du dich seiner annimmst (påqad)? (Ps 8,5)77

‚dq qal „gerecht sein“, ‚ædæq/‚edåqåh „Gerechtigkeit“, ‚addîq „gerecht“78 Der Begriff „Gerechtigkeit, Gemeinschaftstreue“ (‚ædæq/‚edåqåh) ist unter den sozialanthropologischen Begriffen des Alten Testaments derjenige, der das Handeln des homo socialis umfassend beschreibt und der öfter in Parallele zu den Termini ∞æmæt/∞æmûnåh „Beständigkeit, Richtigkeit, Wahrheit“, ªæsæd „Hingabe, Güte, Freundlichkeit“79 und miçpå† „Recht(sentscheid)“ steht. Seine zentrale theologische Bedeutung ergibt sich aus Texten wie Ps 3,5f; 4,9; 5,4.9–11; 6,5; 7,7–12 u.ö., wo der Israelgott als Gott der Gerechtigkeit80 angerufen wird, der den Elenden und Geringen zum Recht verhilft: 10

Ein Ende finde die Bosheit der Frevler, doch dem Gerechten gibst du Bestand,

76 S. dazu E. Brünenberg, Wenn Jahwes Widerstand sich regt, in: K. Kiesow / Th. Meurer (Hg.), Textarbeit, FS P. Weimar (AOAT 194), Münster 2003, 53–74 und Hartenstein / Janowski, Psalmen (s. Anm. 73), 311 (Janowski). 77 S. dazu Hartenstein / Janowski, Psalmen (s. Anm. 72), 311f (Janowski). 78 Bei ‚dq ist auch das Pi˛el („jemanden als gerecht erweisen“) und das Hif˛il („jemanden gerecht sprechen, rehabilitieren“) belegt, s. dazu die Hinweise bei Janowski, Anthropologie (s. Anm. 23), 261f. Für das Verständnis von ‚ædæq und ‚edåqåh ist zu beachten, dass ‚ædæq ein Kollektivbegriff (nomen collectivum) ist, der die Gesamtheit der Gerechtigkeitserweise meint, während ‚edåqåh ein Einzelwort (nomen untiatis) ist, das einen einzelnen Gerechtigkeitserweis bezeichnet, s. dazu D. Michel / D. Zmijewski, Art. Gerechtigkeit, NBL 1 (1991) 795–798, hier: 796f. 79 Zu ªæsæd s. oben 81f. 80 Zum Thema „Gerechtigkeit/Gericht Gottes“ s. Hartenstein / Janowski, Psalmen (s. Anm. 72), 271–278 (Janowski). Über die Hälfte aller auf JHWH bezogenen Vore kommen von ‚ædæq/‚ dåqåh findet sich im Psalter, und zwar vor allem in Texten, die wie die KE und DE des ersten Davidpsalters (Ps 3,5f; 4,9; 5,4.9–11; 6,5; 7,7–12; 9,5.9; 10,5.18; 11,4–6; 12,8f; 13,4f; 14,2, vgl. Ps 17,1f; 26,1; 35,24; Ps 54,3 u.a.), die Asaph-Psalmen (Ps 50,4.6; 74,22; 75,3f.7f; 76,9f; 81,5f; 82,1.3f.8 u.a., vgl. Ps 79,9; 80,4.8.20 u.a.), die JHWH-König-Psalmen (Ps 96,10.13; 97,6.8; 98,2f.9; 99,4, vgl. Ps 48,11f u.a.) und das Schlusshallel (Ps 145,14.17–20; 146,5–9; 147,6; 149,4, vgl. Ps 138,4–7 u.a.) JHWH als Richter und Retter im Himmel / im Tempel akklamieren.

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als der, der Herzen und Nieren prüft, gerechter Gott (∞ælohîm ‚addîq)! Mein Schild (= Schutz) obliegt Gott, dem Retter derer, die geraden Herzens sind. Gott ist ein gerechter Richter (çôpe† ‚addîq) und ein zürnender Gott allezeit. (Ps 7,10–12)

1* Gott steht in der Gottesversammlung, inmitten der Götter hält er Gericht (çåpa†): 2 „Wie lange wollt ihr ungerecht richten (çåpa†) und die Frevler begünstigen? – Sela 3 Richtet (çåpa†) den Geringen und die Waise, dem Elenden und Bedürftigen schafft Gerechtigkeit (‚dq hif.), 4 befreit (pl† pi.) den Geringen und Armen, aus der Gewalt der Frevler rettet (ihn) (n‚l hif.)!“ (Ps 82,1–4) Der Akt der Anerkennung wird schließlich ebenso wie der Akt der Missachtung mit bestimmten Körperteilen in Verbindung gebracht, die aufgrund der sog. Synthetischen Körperauffassung81 gestische und funktionale Bedeutungsaspekte haben. Während die Hand (jåd), der Kopf (ro∞ç) und das Angesicht (pånîm) in den Anerkennungsbeziehungen Gott → Beter (Ps 3,4, vgl. Gen 40,13.19f u.ö.), Beter → Geringer (Dtn 15,11, vgl. Spr 22,9 u.ö.) und Mensch → Mensch (Gen 32,21 u.ö.) eine Rolle spielen, kommen der Mund (pæh), die Zunge (låçôn) und die Lippe/n (¬åpåh) in den Missachtungsbeziehungen Feind(e) → Beter (Ps 5,9–11; 10,7; 12,2–5; 73,8f u.ö.) zum Einsatz: Anerkennung Die Armen werden niemals ganz aus deinem Land verschwinden. Darum mache ich dir zur Pflicht: Du sollst deinem Not leidenden und armen Bruder, der in deinem Land lebt, deine (jåd) Hand öffnen (påtaª). (Dtn 15,11) Aber du, JHWH, bist ein Schild um mich, meine Ehre (kåbôd) und der, der mein Haupt (ro∞ç) erhebt. (Ps 3,4)82 Missachtung 9 10

81 82

JHWH, leite mich in deiner Gerechtigkeit um meiner Widersacher willen, mach eben vor mir deinen Weg! Denn in seinem Mund (pæh) ist nichts Rechtes, ihr Inneres (qæræb) ist Verderben. Ein offenes Grab ist ihre Kehle (næpæç), mit ihrer Zunge (låçôn) heucheln sie.

S. dazu Janowski, Anthropologie (s. Anm. 23), 142–145. S. dazu Hartenstein / Janowski, Psalmen (s. Anm. 71), 148f (Janowski).

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c)

Lass sie (es) büßen, Gott, sie sollen fallen wegen ihrer Pläne, wegen der Menge ihrer Verbrechen verstoße sie, denn sie waren widerspenstig gegen dich! (Ps 5,9–11)83

Zwischenergebnis

Als Ergebnis dieses Überblicks lässt sich festhalten, dass zwischen den kognitiven/wahrnehmungsbezogenen und den sozialethischen/ rechtlichen Aspekten der Anerkennung nicht getrennt wird. Vielmehr sind diese so aufeinander bezogen, dass die Aufmerksamkeit auf den anderen (Armer, Elender, Geringer) für diesen lebensförderlich ist und darum praktische Konsequenzen hat. Dazu zählen vor allem: – – – – – – – – – –

Achtsamkeit, Fürsorge: Ps 8,5; 41,2; Spr 16,20 u.ö. Barmherzigkeit: Ps 123,3; Spr 14,20f.31; 17,5; 19,17 u.ö. Ehre, Ansehen: Ex 20,12 par. Dtn 5,16; Ps 3,4; 8,6; 30,12f u.ö. (Er)Kennen, Wissen: Ps 1,6; Spr 12,10; 28,5; 29,7 u.ö. Gedenken, Erinnern: Ps 8,5; 9,13; 25,6; 74,2 u.ö. Gerechtigkeit, Recht: Ps 3,5f; 7,7–12; 82,1.3f.8; Spr 28,5; 29,7 u.ö. Güte: Mi 6,8; Ps 5,8; 86,5 u.ö. Gunst, Gnade: Ex 20,26; Ruth 2,2,10.19 u.ö. Hinsehen, Sich Zuwenden: Ps 11,4f; 13,4; 14,2; 33,13–15 u.ö. Versorgung mit Lebensnotwendigem: Dtn 15,11; Spr 22,9 u.ö.84

Besonders akut wird das Ringen um Anerkennung durch die Tatsache, dass viele Anerkennungs- und Missachtungsaussagen im Kontext der Antithese Gerechte vs. Frevler begegnen.85 Der Frevler ist im Psalter und im älteren Sprüchebuch der Repräsentant der Missachtung und Entrechtung, vor dessen Nachstellungen der bedrängte Beter JHWH, den Gott der Gerechtigkeit, um Rettung und Schutz bittet. Wie in einem Brennglas sind diese Motive in Ps 123,3f versammelt: 3 Erbarme dich unser (ªånan), JHWH, erbarme dich unser (ªånan), denn übersatt sind wir von Verachtung (bûz). 4 Allzu sehr sättigt sie, unsere næpæç, der Spott (la˛ag) der Sorglosen, die Verachtung (bûz) durch Hochmütige.86 83 S. dazu Hartenstein / Janowski, Psalmen (s. Anm. 62), 212–214 (Janowski). 84 Eine detailliertere Analyse, die allerdings den Rahmen unserer Ausführungen sprengen würde, müsste noch einmal genauer zwischen dem Vorgang der Anerkennung und seinem Resultat unterscheiden. 85 S. dazu die Hinweise oben Anm. 38. 86 S. dazu F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalmen 101–150 (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien 2008, 471f (Zenger). Zum Verständnis von næpæç in V. 4 s. Müller, „Seele“ (s. Anm. 47), 234f.

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Die Verachtung, die hier beklagt wird und deren exemplarisches Opfer der Gottesknecht ist (Jes 53,2f),87 ist ein Leitmotiv der Individualpsalmen. Dem wenden wir uns abschließend zu. 2.

Formen der Missachtung

In seinem Buch Kampf um Anerkennung hat der Sozialphilosoph A. Honneth Elemente einer „moralischen Grammatik sozialer Konflikte“ (so der Untertitel) zusammengestellt, um von ihnen her eine normativ anspruchsvolle Gesellschaftstheorie zu entwickeln. Danach sind soziale Konflikte durch bestimmte Typen von Missachtung motiviert, die sich als Misshandlung und Vergewaltigung, als Entrechtung und Ausschließung sowie als Entehrung und Beleidigung des anderen bestimmen lassen.88 Diese Missachtungsformen, die Angriffe auf die physische, soziale und moralische Integrität der Person darstellen, begegnen auch im Alten Testament. a)

Überblick

Ein ganzer Katalog derartiger Verletzungen der personalen Integrität findet sich in Mi 7,1–7,89 einer nachexilischen Klage über das Zerbrechen aller sozialen und familiären Bindungen: Klage 1 Weh mir! Denn es ist mir ergangen wie beim Einsammeln von Sommerobst, wie bei der Nachlese der Traubenernte: keine Weintraube zu essen, keine Frühfeige, die mein Verlangen begehrte!

87 Für die Missachtung des Gottesknechts durch die „Wir“-Gruppe ist der (verweigerte) Blickkontakt konstitutiv: „(2) Er wuchs auf wie ein Schössling vor ‹uns› (lepånênû) und wie eine Wurzel aus dürrem Land. Keine Gestalt hatte er und keinen Glanz, dass wir ihn angesehen (rå∞åh), und keine Ansehnlichkeit (mar∞æh), dass wir an ihm Gefallen gefunden hätten. (3) Er war verachtet (bzh nif.) und verlassen von Menschen, ein Mann der Schmerzen und mit Krankheit vertraut, und wie einer, vor dem man das Gesicht verbirgt (str hif. + pånîm), war er verachtet (bzh nif.) und wir schätzten (ªçb) ihn nicht“, s. dazu H.-J. Hermisson, Jesaja 49,14–55,13 (BK 11/3), Neukirchen-Vluyn 2017, 358–366. 88 S. dazu Honneth, Kampf (s. Anm. 2), 212–225. 89 S. dazu Kessler, Micha (s. Anm. 66), 284–293; J. Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha (ATD 24/3), Göttingen 2007, 212–218, ferner P. Kruger, A World Turned on its Head in ancient Near Eastern Prohetic Literature. A Powerful Strategy to Depict Chaotic Scenarios, VT 62 (2012) 58–76, hier: 73f (mit altorientalischen Parallelen).

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Beschreibung der chaotischen Zustände im Volk 2 Verschwunden ist der Gütige (ªåsîd) aus dem Land, und kein Aufrechter (jåçår) ist (mehr) unter den Menschen. Sie alle lauern auf Blutschuld, jeder jagt seinen Bruder mit dem Netz. 3 Um des Bösen willen sind die Hände (kappajim) da, es gut auszuführen: der Beamte fordert, und der Richter (tut es) gegen Bezahlung, und der Große redet nach seinem begehrlichen Verlangen (næpæç), so verdrehen sie es. 4a Ihr Gutes (†ôb) ist wie eine Dornenhecke, der Aufrichtige (jåçår) ist schlimmer als Stachelgestrüpp.

Warnung an jeden einzelnen (mit Begründung) 4b Der Tag deiner Späher, deine Ahndung ist gekommen! Jetzt geschieht ihre Verwirrung. 5 Glaubt nicht dem Nächsten, vertraut nicht dem Freund! Vor der, die in deinem Schoß liegt, hüte die Pforten deines Mundes! 6 Denn der Sohn behandelt den Vater als Narren, die Tochter steht auf gegen ihre Mutter, die Schwiegertochter gegen ihre Schwiegermutter, die Feinde eines jeden sind seine Haussklaven.90

Vertrauensbekenntnis 7 Ich aber will ausspähen nach JHWH, will harren auf den Gott meiner Rettung. Es wird mich erhören mein Gott.

Die Formen sozialer Missachtung, die in Mi 7,1–7 ebenso hellsichtig wie bedrückend geschildert werden, begegnen vor allem in den Individualpsalmen, in den Konfessionen Jeremias, im älteren Sprücheund im Hiobbuch. Sie sind gestischer wie verbaler Natur und reichen von spöttischem Augenzwinkern bis zu verletzender Beschimpfung und Verleumdung.91 Dabei spielen wieder bestimmte Körperteile (Augen, Mund, Kopf, Lippen, Zähne) eine Rolle:

90 Das in V. 6a geschilderte Verhalten unterläuft das Gebot der Elternehrung, s. dazu oben 83. 91 S. dazu E. Lamp / M. Tilly, Öffentlichkeit als Bedrohung. Ein Beitrag zur Deutung des „Feindes“ im Klagepsalm des Einzelnen, BN 50 (1989) 46–57.

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Gesten – Augenzwinkern als Zeichen eines den anderen ausschließenden Einvernehmens (Ps 35,19, vgl. Spr 6,13; 10,10 u.ö.) – „Schärfen, Wetzen“ des Auges als Ausdruck von Angriffslust (Hi 16,9) – Mundaufsperren als Geste der Feindschaft (Hi 16,10) – Bespucken als Ausdruck sozialer Ächtung (Num 12,14; Dtn 25,9; Jes 50,6; Hi 17,6; 30,9f) – Kopfschütteln als Ausdruck ungläubigen Erstaunens / der Verhöhnung (Ps 22,8; 109,25, vgl. Jer 18,16; Ps 44,15; Hi 16,4; Klgl 2,15 u.ö.) – Lippenverziehen als Zeichen der Erniedrigung (Ps 22,8) – Zähneknirschen als Zeichen der Erniedrigung (Ps 35,15f; 37,12; 112,10, vgl. Hi 16,9; Klgl 2,16, politischer Kontext: 2 Kön 18,30. 32b–35; 19,10–13) – Auslachen als ,soziale Strafe‘ (Dtn 21,6b u.ö.)

Worte – verbale Beschimpfung, Beschämung, Verachtung und Verleumdung (Ps 22,7; 31,19; 69,8.10f.20f; Spr 26,18–26) – lügnerisches Reden: Ps 5,9–11; 10,7; 12,2–5 u.ö. – prahlerisches Reden (Ps 35,26; 38,17; 41,10; 55,13, vgl. Jer 48, 26.42 u.ö.) – schmeichlerisches Reden (Spr 26,2; 28,23; 29,5; Ps 55,22 u.ö.) – Preisgeben/Weitertragen von Geheimnissen (Spr 16,28; 17,9; 29,19) – üble Nachrede/höhnisches Gerede (Ps 41,6–9; 69,13; 71,10 u.ö.) – Schadenfreude (persönlicher Feind: Spr 17,5; 24,17; Hi 31,29; politischer Feind: Ob 11–15) – Aussagen als „Lügenzeuge“ (Ex 20,16 par. Dtn 5,20: „nichtiger Zeuge“)

Ein markantes Beispiel für die gestische und verbale Vernichtungsabsicht des Frevlers ist der gestaffelte Zahlenspruch Spr 6,16–19, der sieben Aspekte gemeinschaftswidrigen Verhaltens aufzählt und dabei in vertikaler Anordnung fünf Körperbegriffe von den Augen, der Zunge, den Händen über das Herz bis zu den Füßen nennt: 16 17 18 19

Sechs sind es, die JHWH hasst, und sieben sind Gräuel für ihn: hochmütige Augen (˛ênajim), eine lügnerische Zunge (låçôn) Hände (jådajim), die unschuldiges Blut vergießen, und ein Herz (leb), das Unheilspläne schmiedet, Füße (raglajim), die eilig zum Bösen laufen, einer, der als falscher Zeuge Lügen ausbläst, und wer zwischen Brüdern Streit entfacht.92

92 S. dazu Meinhold, Sprüche (s. Anm. 39), 114–116 und Schipper, Sprüche 1–15 (s. Anm. 26), 397–400. Zu einer ägyptischen Sachparallele s. die Lehre des Amene-

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Von den Körperteilen, die hier als „Sitz geistiger und praktischer Haltungen“93 ins Spiel gebracht werden, ist auch in mesopotamischen Texten immer wieder die Rede. Exkurs 2: „Missachtung“ in mesopotamischen Texten Anerkennungs- und Missachtungsbeziehungen sind auch in mesopotamischen Texten (Briefe, speziell Grußformeln, Omina, Weisheitstexte u.a.) häufig belegt.94 In Frage kommen dabei vor allem zwei Ausdrucksweisen – eine idiomatische und eine nicht-idiomatische –, für die im Folgenden ausgewählte Beispiele angeführt werden.

1.

Den Kopf „gewichtig“ oder „leicht“ machen

Ebenso wie beim hebräischen ro∞ç „Kopf, Haupt“95 bezeichnen die akkadischen Termini qaqqadu „Kopf“ und r™çu „Kopf“ die Wertschätzung oder den sozialen Rang/Status einer Person. Dieser Rang kann durch das „Gewichtig“- und das „Leicht“-Machen des Kopfes erhöht (Anerkennung) oder erniedrigt (Missachtung) werden. Die entsprechenden akkadischen Wortverbindungen sind qaqqadu + kubbutu „(den Kopf gewichtig machen ›) geehrt, angesehen machen“96 und qaqqadu + qullulu „(den Kopf leicht machen ›) geringschätzig behandeln, demütigen“97. Während das Schwer-Sein soziales Gewicht/Ansehen bedeutet, steht das Leicht-Sein dafür, sozial unbedeutend zu sein. Das häufige Vorkommen dieser Wendungen in der Briefliteratur „steht in Verbindung zu dynamischen Prozessen und Situationen des täglichen Lebens, in den Individuen ihre Identität durch Interaktion mit Anderen konstruieren und manifestieren“98. So heißt es in einem altbabylonischen Brief: mope, Kap.13, 292–297: „Schädige nicht einen Menschen durch die Schreibbinse auf dem Papyrus: das ist für den Gott ein Abscheu. Lege auch mit Worten kein falsches Zeugnis ab und schiebe nicht einen anderen mit deinem Munde beiseite. Stelle keine (Steuer-)Berechnung auf für den, der nichts hat, fälsche also nicht mit deiner Schreibbinse“, s. dazu Janowski, Anthropologie (s. Anm. 23), 575. 93 Meinhold, Sprüche (s. Anm. 39), 114f. 94 S. dazu U. Steinert, Aspekte des Menschseins im Alten Mesopotamien. Eine Studie zu Person und Identität im 2. und 1. Jt. v.Chr. (CM 44), Leiden / Boston 2012, 187ff.405ff. Für Ägypten s. oben 71ff. 95 S. dazu Janowski, Anthropologie (s. Anm. 23), 142–145. 96 Zu den Belegen mit r™çu „Kopf“ s. Steinert, Aspekte (s. Anm. 95), 198ff. Die symbolische Bedeutung des Kopfes spielt in alttestamentlichen Anerkennungsaussagen ebenfalls eine Rolle, s. etwa Ps 3,4 und dazu oben 83.85f. 97 In alttestamentlichen Texten zur Elternehrung begegnet das entsprechende hebräische Verb qll pi. „verächtlich behandeln“, z.B. in Ex 21,17: „Wer seinen Vater oder seine Mutter verächtlich behandelt (qll pi.), wird des Todes sterben“ (vgl. Lev 20,9; Ez 22,7; Spr 20,20 u.ö. Es geht bei qll pi. offenbar um die Herabsetzung, das ,Klein-Machen‘ der Eltern, s. dazu Janowski, Anthropologie (s. Anm. 23), 130– 133. 98 Steinert, Aspekte (s. Anm. 95), 189.

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Die Götter Çamaç und Marduk mögen meinen Vater für allezeit gesund erhalten! Der Gott Zababa möge dich jetzt in Windeseile angesehen machen (qaqqadu + kubbutu).99 Um den Kontrast zwischen dem Gewinn und dem Verlust öffentlicher Wertschätzung auszudrücken, findet sich auch die Wendung qaqqadu qullulu „geringschätzig behandeln, demütigen“. In einem Brief aus Tell Harmal beschwert sich beispielsweise der Absender, dass ein Mann namens Imgur-Sîn bestimmte, ihm zustehende Leistungen von Dritten abstreitet und ihn dadurch in seinem Ansehen herabsetzt: Warum behandelt er mich wie eine un[bedeutende Person] und streitet das Getreide und mein Mehl ab? Und dass er mich (dadurch) gering macht (wörtl. „meinen Kopf leicht macht“), sind diese (Dinge) gut?100 Zitiert sei schließlich aus dem berühmten Weisheitstext Counsels of Wisdom, in dem die Geringschätzung durch die Umwelt zu asozialem Verhalten in Beziehung gesetzt wird: Kontrolliert sei dein Mund, vorsichtig (wachsam) sei deine Rede! (Darin liegt) die Zierde eines Menschen; erlesen (gut ausgewählt) seien deine Worte (wörtl. Lippen). Mögen Gemeinheit und Gehässigkeit (wörtl. böse Rede) dir (etwas) Verbotenes/Abstoßendes sein! Äußere keinen Spott, keine falsche Behauptung! Wer (andere) verhöhnt, dessen Person (wörtl. Kopf) wird gering geachtet.101 Dem Kopf, so können wir festhalten, kommt in der mesopotamischen Personauffassung eine herausgehobene Bedeutung zu. Denn „auf ihn konzentriert sich die Identität des Menschen, weil der Kopf am stärksten das individuelle Aussehen prägt“102 . Insofern sind Anerkennungs- und Missachtungsbeziehungen ein Beleg für den engen Zusammenhang von Leibsphäre und Sozialsphäre.

2.

Scham(gefühl), Beschämung, Schande

Dieser Zusammenhang prägt auch die mit dem Verb bâçu/ba∞åçu „sich schämen, beschämt/zuschanden werden“ und dem Nomen b¨çtu „Scham(gefühl), Beschämung, Schande“ ausgedrückten Anerkennungs- und Missachtungsaussagen. Im Unterschied zu båçtu „vitale Ausstrahlung, Attraktivität, Würde“ kann b¨çtu sowohl das subjektive „Schamgefühl“ (positiv) als auch 99 100 101 102

Zitiert nach Steinert, Aspekte (s. Anm. 95), 190. Zitiert nach Steinert, Aspekte (s. Anm. 95), 195. Zitiert nach Steinert, Aspekte (s. Anm. 95), 197. Steinert, Aspekte (s. Anm. 95), 201.

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die objektive „Schande“ oder „Entehrung“ (negativ) bezeichnen.103 Interessant für unser Thema ist das Verb bâçu, das im Grundstamm (G) „beschämt, der Schande ausgesetzt sein“ und im Doppelungsstamm (D) „beschämen, der Schande aussetzen, zuschanden machen“ bedeutet.104 Auch hier müssen wenige Beispiele genügen. So wird in einem neubabylonischen Brief des Gouverneurs von Babylon B™l-ibni (703–700 v.Chr.) die Beziehung zwischen Verleumdung, Scham und drohendem Ehrverlust vor Augen gestellt. Am Ende heißt es dann: Ich habe [nach den Händen] meines [Herrn, des rab ça r™çi], gegriffen, (denn) ich will nicht der Schande ausgesetzt werden (bâçu G-Stamm)!105 Da asoziales Verhalten den Verlust des Ansehens/der Ehre nach sich zieht, wird in Gebeten immer wieder die Bitte artikuliert, denjenigen der Schande auszusetzen, der dem Beter mit Gedanken (böse Absichten), Worten und Taten Schaden zufügt bzw. zufügen will: Möge derjenige, der mich (mit bösen Absichten) ansieht, der Schande ausgesetzt werden (bâçu G-Stamm), in der Versammlung soll mein Ausspruch gehört sein, eine lamassu-Schutzgottheit des Sprechens, (Er-)Hörens und der Zustimmung möge jeden Tag neben mir hergehen!106 Bezeichnend für den Vorgang der geschehenen Missachtung und der erhofften Anerkennung ist die Öffentlichkeit („Versammlung“), der böse Blick („ansehen“), die Zustimmung zum vorgebrachten Anliegen und die Beglei(Ende des Exkurses) tung durch die Schutzgottheit.

b)

Psalm 69 als Beispieltext

Kehren wir zum Hauptfaden zurück. Wie reagierte man im alten Israel auf die Äußerungen sozialer Missachtung: mit blindem Hass, mit Selbststigmatisierung oder mit stummer Ergebenheit? Das alles wird es gegeben haben. Einen anderen Weg beschreiten die Klagen der Individualpsalmen und des Hiobbuchs, mit denen der Beter, das paradigmatische Opfer solcher Machenschaften, seine Demütigung hinausschreit und sich dabei an JHWH wendet. Die Gottklage von Ps 69,6–14a107 ist dafür einschlägig: 103 S. dazu Steinert, Aspekte (s. Anm. 95), 405–509. 104 S. dazu Steinert, Aspekte (s. Anm. 95), 469–492. 105 Zitiert nach Steinert, Aspekte (s. Anm. 95), 483. 106 Zitiert nach Steinert, Aspekte (s. Anm. 95), 485. 107 Außer den Kommentaren zu Ps 69 s. noch A. Grund, „Schmähungen der dich Schmähenden sind auf mich gefallen“. Kulturanthropologische und sozialpsychologische Aspekte von Ehre und Scham in Ps 69, EvTh 72 (2012) 174–193; J. Bremer,

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Gott, du, du hast erkannt meine Torheit, und meine Verschuldungen sind vor dir nicht verborgen gewesen. Nicht sollen durch mich zuschanden werden (bôç), die auf dich hoffen, Herr, JHWH Zebaoth, nicht sollen durch mich beschämt werden (klm nif.), die dich suchen, Gott Israels! Fürwahr, deinetwegen habe ich Schmach (ªærpåh) ertragen, hat Beschämung (kelimmåh) bedeckt mein Angesicht! Entfremdet worden bin ich meinen Brüdern, und ein Fremder108 den Söhnen meiner Mutter. Fürwahr, der Eifer um dein Haus hat mich verzehrt, und die Schmähungen (ªærpôt) derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen! Als ich ‹beugte› beim Fasten meine Lebenskraft (næpæç),109 geschahen Schmähungen (ªærpôt) gegen mich. Als ich zu meinem Gewand den Bußsack machte, wurde ich ihnen zum Spottwort. Es reden über mich die, die am Stadttor sitzen, und Spottlieder (singen) die, die Rauschtrank trinken. Ich aber, mein Bittgebet (geht) zu dir, JHWH, zur Zeit des Wohlgefallens.

In keinem anderen Psalm „werden die sozialen Mechanismen von Demütigung und Scham so facettenreich erfasst“110 wie in diesem Text. Allein das Wortfeld von Schmach, Schande und Beschämung ist singulär.111 Gezeichnet wird damit ein dichtes Bild der religiösen und sozialen Konflikte, die nicht nur den Beter, sondern auch diejenigen in Mitleidenschaft ziehen, die sich wie er zu JHWH Zebaoth Wo Gott sich auf die Armen einlässt. Der sozio-ökonomische Hintergrund der achämenidischen Provinz Yeh¨d und seine Implikationen für die Armentheologie des Psalters (BBB 174), Göttingen 2016, 369–377 und A.F. Wilke, „Ich aber!“ – Identität und Sprache im Gebet des Psalters, in: F. Wilk (Hg.), Identität und Sprache. Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike (BThSt 174), Göttingen 2018, 89–113, hier: 98–110. 108 Oder: „Ausländer“ (nåkrî). V. 9 beschreibt „eine Situation, wie sie für eine familienorientierte Person des antiken Jehud schlimmer kaum vorstellbar war, eine Situation zudem, die sie gänzlich auf die Beziehung zur persönlichen Gottheit zurückwirft“ (Grund, „Schmähungen“ [s. Anm. 109], 188). 109 Oder: „Als ich mich mit Fasten demütigte“. Statt båkåh „weinen“ ist wahrscheinlich kåpap „beugen“ (+ Obj. napçî) zu konjizieren, vgl. E. Jenni, Die hebräischen Präpositionen, Bd. 1: Die Präposition Beth, Stuttgart u.a. 1992, 144 mit Anm. 239. 110 Grund, „Schmähungen“ (s. Anm. 109), 180. 111 S. dazu die Hinweise bei Grund, „Schmähungen“ (s. Anm. 109), 181 Anm. 43, ferner J. Dietrich, Zur Individualität und Sozialität der Scham im Alten Testament, in: Grund-Wittenberg / Poser (Hg.), Die verborgene Macht der Scham. Ehre, Scham und Schuld im alten Israel, in seinem Umfeld und in der gegenwärtigen Lebenswelt (BThSt 173), Göttingen 2018, 58–83.

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halten (In-Group V. 7). Die aggressiven Akteure (Out-Group) gehören möglicherweise verschiedenen Personengruppen an, nämlich einer Gruppe, die sogar JHWH verspottet (V. 10b), sodann einer Gruppe, die den Beter bei der Verrichtung von Fasten- und Trauerriten verhöhnt (V. 11f), und schließlich einer Gruppe, die sich am Tor, dem Ort des öffentlichen Lebens, auf seine Kosten verlustiert (V. 13). Die Dinge geschehen jedenfalls in aller Öffentlichkeit und führen sogar zur Entfremdung von seinen leiblichen Brüdern (V. 9). Auslöser der dramatischen Ereignisse scheint der „Eifer“ des Geschmähten für den JHWH-Tempel (V. 10a) zu sein, der seinen Kontrahenten ein Dorn im Auge ist.112 Dennoch hält der Beter an seinem Gott fest. Aber nicht nur das. Im zweiten Klagegang (V. 20ff) geschieht eine regelrechte Umkehrung der Verhältnisse, indem der Geschmähte die ihm angetanen Schmähungen auf seine Gegner herabwünscht. Die an JHWH gerichteten Feindschädigungsbitten V. 23–26, die an die Notschilderung V. 20–22 nahtlos anschließen, sprechen eine deutliche Sprache: 23 24 25 26

Es werde ihr Tisch vor ihnen zum Klappnetz und ‹für die sich sicher Wähnenden›113 zum Fangholz. Es sollen finster werden ihre Augen, dass sie nicht mehr sehen, und ihre Hüften lass immerdar wanken. Gieß aus über sie deinen Grimm, und die Glut deines Zorns soll sie erfassen. Ihr Lagerplatz soll zur Öde werden, in ihren Zelten soll niemand mehr wohnen.114

Der Sinn dieser Bitten ist, wie die Metaphorik von V. 23 zeigt, eindeutig: statt einer friedlichen Tischgemeinschaft möge es, so der entehrte und marginalisierte Beter, zum göttlichen Gericht kommen, das den Lagerplatz und das Zelt der Frevler verödet (V. 26). Wird hier hemmungslos überzogen und Gleiches mit Gleichem vergolten? So scheint es zu sein. Allerdings sollte das Ausmaß der beschriebenen Missachtungserfahrungen nicht relativiert werden. Im Übrigen gilt, dass „hier nicht der Weg der Wiederherstellung der eigenen Ehre durch direkte Wiederschädigung gesucht, sondern JHWH als zustän112 Zum religionssoziologischen Hintergrund s. Grund, „Schmähungen“ (s. Anm. 109), 183, ferner die Hinweise bei Bremer, Gott (s. Anm. 109), 370 Anm. 1257. 113 Zum Text s. P. Riede, „Du bereitest vor mir einen Tisch“. Zum Tischmotiv in den Psalmen 23 und 69, in: ders., Schöpfung und Lebenswelt. Studien zur Theologie und Anthropologie des Alten Testaments (MThSt 106), Leipzig 2009, 151–165, hier: 159.162f. 114 S. dazu F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalmen 51–100 (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien 2000, 277 (Zenger).

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diger Rechtshelfer angerufen (wird)“115. So verweist diese biblische Traditionslinie auf „ein Ethos, in dem das Ansehen des anderen Menschen vor Verleumdung geschützt und Schamgrenzen respektiert werden, auf ein Ethos, das ein aktives Bemühen um eine Kultur der Anerkennung einschließt“116. III.

Resümee

Ziehen wir ein kurzes Fazit. Wer sich dem Thema „Anerkennung“ zuwendet, wendet sich, wie die philosophischen und soziologischen Studien der letzten drei Jahrzehnte hinreichend deutlich gemacht haben,117 einer zentralen Idee der europäischen Moderne zu. Die Geschichte der Anerkennung – das wollten meine Überlegungen zeigen – beginnt aber nicht mit Kant, Fichte oder Hegel, sondern mit Ägypten, Mesopotamien118 und Israel, wo sie zu den Grundbedingungen des gelungenen Lebens gehört. Von hier aus ist das Ethos der Anerkennung mit der zweigeteilten christlichen Bibel auf den Weg gebracht worden und hat – implizit wie explizit – die neuzeitlichen Diskussionen um die Menschenwürde beeinflusst.119 Ihr normativer Kern besteht in der Antwort, die der Beter von Ps 8 nach seinem Blick an den nächtlichen Himmel auf die anthropologische Grundfrage gibt und die in den Würdeprädikaten „Ehre“ und „Pracht“ gipfelt, mit denen der Mensch von Gott ausgestattet worden ist: 4 Wenn ich deinen Himmel sehe, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die du befestigt hast – 5 Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst (zåkar), und das Menschenwesen, dass du dich seiner annimmst (påqad)? 6 Du hast ihn (sc. den Menschen) wenig niedriger gemacht als Gott, und mit Ehre (kåbôd) und Pracht (hådår) hast du ihn gekrönt.

Das mit dem Binom „Ehre und Pracht“ (V. 6) formulierte Anerkennungsmotiv tritt im Kontext der Teilkomposition Ps 3–14 aber nicht unvorbereitet auf. Vielmehr wird es bereits durch den Einzelbegriff „Ehre“ (kåbôd) in Ps 3,4; 4,3 und 7,6 eingeführt:

115 Grund, „Schmähungen“ (s. Anm. 109), 191. 116 Grund, „Schmähungen“ (s. Anm. 109), 193. 117 S. dazu die Hinweise oben 65ff. 118 Zu den Themen „Anerkennung“ und „Missachtung“ in Ägypten und Mesopotamien s. oben 71ff.90ff. 119 S. dazu U. Neumann-Gorsolke, „Mit Ehre und Hoheit hast Du ihn gekrönt“ (Ps 8,6). Alttestamentliche Aspekte zum Thema Menschenwürde, JBTh 15 (2000) 39–65.

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Aber du, JHWH, bist ein Schild um mich, meine Ehre (kåbôd) und der, der mein Haupt erhebt. (Ps 3,4) Ihr Männer, wie lang soll meine Ehre (kåbôd) zur Schmach sein? Ihr liebt Nichtiges, sucht Täuschung! (Ps 4,3) … dann soll der Feind mein Leben verfolgen und (es) einholen und zu Boden treten mein Leben und meine Ehre (kåbôd) in den Staub legen. (Ps 7,6)120

Während Ps 3,4 eine Vertrauensaussage ist – JHWH ist die „Ehre“ des Beters und der, der sein „Haupt“ erhebt –, geht es in Ps 4,3 und 7,6 um den durch die Feinde in seiner sozialen Existenz bedrohten Beter, dessen „Ehre“ auf dem Spiel steht. In Ps 8,6 schließlich wird das Thema „Ehre“ in einer Weise grundsätzlich gefasst, dass es in der Geschichte des Christentums immer wieder als biblischer locus classicus der Menschenwürde rezipiert wurde. Ausgelöst wird die Zuschreibung der Menschenwürde an alle Menschen durch den Frage/Antwort-Zusammenhang von V. 4f, dessen zentrales Stichwort „gedenken“ (zåkar) ist. Das „Gedenken“, so G. Sauter, ist „der Inbegriff des rettenden Handelns Gottes, nicht eine überdimensionale Gedächtnisleistung, als ob Gott der Oberbuchhalter der Menschheit wäre“121. Es geht in Ps 8 also nicht um den Menschen an sich oder um den Menschen in seiner Selbstbezüglichkeit, sondern um die Relation von Schöpfer und Geschöpf. Diese Relation wird in Frage gestellt, wo Kräfte auf den Plan treten, die das Ethos der Anerkennung durch Akte der Missachtung untergraben und damit JHWH, den Schöpfergott, selbst tangieren (vgl. Spr 14,31; 17,5).122 Der Psalter ist nicht zuletzt deshalb die „Kleine Biblia“123, weil er nicht müde wird, dem entgegenzuwirken – und zwar von Anfang an: „JHWH kennt den Weg von Gerechten, aber der Weg von Frevlern vergeht“ (Ps 1,6).

120 S. dazu Hartenstein / Janowski, Psalmen (s. Anm. 72), 265–267 (Janowski). 121 G. Sauter, Das verborgene Leben. Eine theologische Anthropologie, Gütersloh 2011, 45 (Hervorhebung im Original). 122 S. dazu oben 80 und Meinhold, Sprüche (s. Anm. 39), 381: „Mit jedem Unrecht am Mitmenschen, mit dem an den bedürftigen Menschen verübten aber besonders ([Spr] 14,31a; 17,5a), wird JHWH selbst betroffen. Deshalb kündigt er für derartige Fälle sein Einschreiten an“. Zu vergleichen ist auch Tob 4,7 („Wende dein Angesicht nicht ab von irgendeinem Armen, und vor dir wird sich auch das Angesicht Gottes nie abwenden“) u.a., s. dazu die Hinweise bei Janowski, Anthropologie (s. Anm. 23), 684. 123 S. dazu oben 67f.

„JHWH tue an euch Güte, wie ihr sie an den Toten und an mir getan habt“ (Ruth 1,8) Zum Ethos der Hingabe im Buch Ruth Ebenso wie die Josephsgeschichte und das Jonabuch ist das perserzeitliche Buch Ruth (5./4. Jh. v.Chr.) ein Kleinod althebräischer Erzählkunst und zugleich ein Grundtext alttestamentlicher Anthropologie.1 In nur vier Kapiteln entwirft es ein Panorama menschlicher Verhaltensweisen, die nicht nur anthropologisch beispielhaft sind, sondern die auch ein helles Licht auf die Geschichte Gottes mit seinem Volk werfen. Und dabei, so will es die Erzählung, ist Ruth eine Moabiterin, also eine Ausländerin, aber eine Ausländerin, die zum zweiten Mal einen Judäer heiratet2 und die nach der Genealogie des Perez zur Mutter Obeds, des Vaters Isais, des Vaters Davids wird (Ruth 4,18–22): Und diese sind die Abstammungen des Perez: Perez zeugte Hezron. Und Hezron zeugte Ram, und Ram zeugte Amminadab. Und Amminadab zeugte Naḥšon, und Naḥšon zeugte Salma. Und Salmon zeugte Boas, und Boas zeugte Obed. Und Obed zeugte Isai, und Isai zeugte David.

1 S. dazu S. Niditch, The Responsive Self. Personal Religion in Biblical Literature of the Neo-Babylonian and Persian Periods, New Haven / London 2015, 120–128 und B. Janowski, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen 2019, 191–196. Zur Datierung und Redaktionsgeschichte des Ruthbuchs s. außer den Kommentaren noch E. Zenger / Chr. Frevel, Das Buch Rut, in: E. Zenger u.a., Einleitung in das Alte Testament, hg. von Chr. Frevel (KStTh 1,1), Stuttgart 92016, 282–285 und F. Fechter, Die Familie in der Nachexilszeit. Untersuchungen zur Bedeutung der Verwandtschaft in ausgewählten Texten des Alten Testaments (BZAW 264), Berlin / New York 1998, 239–278. – Die folgenden Überlegungen sind Erhard Blum zu seinem runden Geburtstag gewidmet. In unterschiedlichen theologischen Milieus sozialisiert – er in Heidelberg, wohin ich 1991 ging und bis 1995 blieb, ich in Tübingen, wohin er zum SoSe 2000 von Augsburg aus kam – waren wir uns in der gemeinsamen Tübinger Zeit (2000 bis 2011) immer darin einig, dass es in Forschung und Lehre um die „Eigenheit des Alten Testaments“ und dessen Bedeutung für Kirche und Gesellschaft gehen müsse. In diesem Sinne meinen herzlichen Glückwunsch und ad multos annos! 2 M. Köhlmoos, Ruth (ATD 9/3), Göttingen 2010, XIV Anm. 17 spricht dabei nicht von einer „Mischehe“, sondern von einer „Fremdehe“. Zur Herkunft Ruths sowie zur Fremdenthematik s. A. Beyer, Hoffnung in Bethlehem. Innerbiblische Querbezüge als Deutungshorizonte im Ruthbuch (BZAW 463), Berlin / Boston 2014, 36– 40.49–64.

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„JHWH tue an euch Güte“

Das ist eine weitreichende heilsgeschichtliche Perspektive. Im Folgenden geht es aber nicht um diese Perspektive, sondern um die narrative Anthropologie des Buchs Ruth. Im Mittelpunkt steht dabei der Begriff der „Hingabe“ (ªæsæd) und die ihn charakterisierenden Aspekte der Verbundenheit und Gegenseitigkeit, wie sie in der Titelformulierung dieses Beitrags – dem Wunsch Naomis gegenüber ihren beiden Schwiegertöchtern – bündig zum Ausdruck kommen. I.

Von Bethlehem nach Moab – und zurück

Am märchenhaften Anfang des Ruthbuchs – „Und es geschah zu der Zeit, als die Richter regierten“ (1,1) – steht eine bittere Hungersnot und eine Familie, die sich deswegen aus Bethlehem in die Gefilde Moabs begab, wo sie ihr Auskommen fand.3 Die beiden Söhne Machlon und Kiljon heirateten dort die Moabiterinnen Orpa und Ruth. Als Elimelech und seine beiden Söhne starben, machte sich seine Witwe Naomi auf, um nach dem Ende der Hungersnot nach Bethlehem zurückzukehren.4 Während Orpa in Moab blieb, wollte Ruth ihre Schwiegermutter nicht allein ziehen lassen, sondern sprach die berühmten Sätze von 1,16f und handelte danach. Im Zentrum dieser kleinen poetischen Einheit steht die nominale Paraphrase des sog. Bundesformel von Dtn 26,16–19 u.ö., die im äußeren Ring von einem Aufforderungs- und einem Schwursatz sowie im inneren Ring von mehreren, auf den gemeinsamen Lebensweg von Naomi und Ruth („gehen“ / „übernachten“, „sterben“ / „begraben werden“) bezogenen Verbalsätzen gerahmt wird: 16

Und Ruth sprach: „Zwing mich nicht, dich zu verlassen (˛åzab), indem ich zurückkehre, von dir weg!

Aufforderungssatz: Abwehr Naomis

Fürwahr: Wohin du gehst, gehe ich (hin) , und wo du übernachtest, übernachte ich.

Verbalsätze (Du – Ich): gehen/übernachten

Dein Volk – mein Volk und dein Gott – mein Gott.

Nominalsätze: Paraphrase d. Bundesformel

3 Zu den geographischen und klimatischen Gegebenheiten s. W. Zwickel, „Ein Mann von Bethlehem zog aus in das Land der Moabiter“ (Rut 1,1). Überlegungen zu den Lebensbedingungen in Juda und Moab im Altertum, in: ders., Studien zur Geschichte Israels (SBAB 59), Stuttgart 2015, 241–250. 4 Die Personennamen des Ruthbuchs sind „sprechend“ und enthalten jeweils eine auf die Erzählung abgestimmte Botschaft, s. dazu I. Fischer, Rut (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien 2001, 33–36; K. Seybold, Poetik der erzählenden Literatur im Alten Testament, Stuttgart 2006, 168 und Köhlmoos, Ruth, 5.7.

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„JHWH tue an euch Güte“ 17

Wo du stirbst, sterbe ich, und dort will ich begraben werden. JHWH möge mir tun, was er will – fürwahr: Der Tod allein wird mich von dir trennen!“

Verbalsätze (Du – Ich): sterben/begraben werden

Schwursatz: Unbedingtheitsaussage

Dieser Text ist, wie auch die Rückbezüge in 2,6–7.11; 3,10 zeigen,5 aus mehreren Gründen zentral. Zum einen nimmt die Ausländerin Ruth hier zum ersten und einzigen Mal den Namen JHWHs in den Mund (1,17b), und zum anderen begegnet in 1,16 – wie auch in 2,11 (s. im Folgenden) – als Gegenbegriff zu dåbaq „anhängen“ (1,14: „Ruth aber hängte sich an sie“, vgl. 2,8.21.23) das Verb ˛åzab „verlassen“, das zu den Leitwörtern des Ruthbuchs gehört.6 Beide Verben begegnen auch in Gen 2,24, wo es als Begründung der sog. Verwandtschaftsformel von V. 23 heißt: 23

24

Da sagte der Mensch: „Diese endlich ist Gebein von meinen Gebeinen und Fleisch von meinem Fleisch, und diese soll ∞iššāh („Frau“) genannt werden, denn vom ∞îš („Mann“) ist diese genommen. Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen (˛åzab) und seiner Frau anhängen (dåbaq), und sie werden zu einem Fleisch.“

Die Verwandtschaftsformel V. 237 besagt, dass der Mensch nicht dem Tier, sondern nur dem Menschen verwandt ist und der Mann allein in der Frau und diese in ihm sein/ihr „Gegenüber“ hat. Dieser Formel wird in V. 24 eine Metareflexion angehängt, die davon spricht, dass ein Mann seine Eltern „verlässt“ (˛åzab) und seiner Frau „anhängt“ (dåbaq, vgl. Gen 34,3 u.ö.) und sie beide zu „einem Fleisch“ (bå¬år ∞æªåd) werden. V. 25 formuliert schließlich ein Summarium und bildet gleichzeitig den Übergang zur Paradieserzählung in Gen 3. Der mit begründendem „darum“ eingeleitete Satz V. 24 widerspricht nicht der patrilinear organisierten Gesellschaft des alten Israel8 und ist auch kein Plädoyer für eine matrilokale Eheform. Vielmehr

5 S. dazu die Übersicht unten Abb. 2 und Köhlmoos, Ruth, 17–18. 6 S. dazu auch Fischer, Rut, 37 und Köhlmoos, Ruth, 16–18. 7 Zu dieser Formel und ihren Abwandlungen s. noch Gen 29,14; Ri 9,2; 2 Sam 5,9; 19,13f; 1 Chr 11,1 und W. Bührer, Am Anfang … Untersuchungen zur Textgenese und zur relativ-chronologischen Einordnung von Gen 1–3 (FRLANT 256), Göttingen 2014, 227 Anm. 279. 8 Zur Patrilinearität s. H. Utzschneider, Patrilinearität im alten Israel – eine Studie zur Familie und ihrer Religion, BN 56 (1991) 60–97.

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„JHWH tue an euch Güte“

verweist der Text auf die elementare Kraft der Liebe zwischen Mann und Frau und will „vermutlich … nicht an vorfindliche Lebensverhältnisse anschließen, sondern dazu eine Gegenwelt entwerfen. Der Liebe zwischen Mann und Frau eignet eine Intimität, die soziale Konventionen übersteigt und im Garten Eden ihren eigentlichen, wenngleich imaginären Ort findet“9.

Darüber hinaus gibt es einen interessanten intertextuellen Zusammenhang zwischen Gen 2,24 und Ruth 2,11. Denn nur in diesen beiden Texten begegnet die Wendung „Vater und Mutter verlassen (˛åzab)“, zum einen in Bezug auf den ersterschaffenen Menschen/ Mann (Gen 2,24) und zum anderen in Bezug auf Ruth (Ruth 2,11), der Boas bei ihrer ersten Begegnung auf ihre Frage nach dem Grund für seine „Gunst“ antwortet: Verkündet, ja verkündet wurde mir alles, was du für deine Schwiegermutter getan hast nach dem Tod deines Mannes: Du hast deinen Vater und deine Mutter und das Land deiner Verwandtschaft verlassen und bist zu einem Volk gegangen, das du zuvor nicht gekannt hast. (2,11)

Dieser Text kombiniert Gen 2,24 und Gen 12,110 miteinander und besagt, „dass das Verlassen von Vater und Mutter in andere – aber ebenso gottgewollte – Beziehungen führen kann als in eine Ehe“11. Anschließend an die Erzählung von der Rückkehr Naomis (und ihrer beiden Schwiegertöchter bzw.) Ruths nach Juda (1,7–19a) folgen die Schilderung der Ankunft der beiden Frauen in Bethlehem (1,19b–21) und die zusammenfassende Rückblende (1,22), die das Eingangskapitel abschließen. Die persönliche und soziale Desintegration, die dabei in Naomis Klage zum Ausdruck kommt, ist „inhaltlich wie atmosphärisch der vollständige Kontrast zu Ruths Schwur in Vv. 16–17“12: Ich – erfüllt bin ich gegangen, aber leer hat mich JHWH zurückkehren lassen. Wozu solltet ihr mich Naomi nennen? Hat doch JHWH mich gedemütigt und Çaddaj mir Böses angetan! (1,21) 9 A. Schüle, Der Prolog der hebräischen Bibel. Der literar- und theologiegeschichtliche Diskurs der Urgeschichte (Genesis 1–11) (AThANT 86), Zürich 2006, 172, s. dazu auch O. Keel, Das Hohelied (ZBK.AT 18), Zürich 1991, 41–42 und Bührer, Am Anfang, 230–231. 10 „Geh aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde!“ Zum gegenseitigen Bezug von Ruth 2,11 und Gen 12,1 s. auch Fischer, Rut, 37. 11 Köhlmoos, Ruth, 42, vgl. Fischer, Rut, 176–177. 12 Köhlmoos, Ruth, 24, s. dazu auch Beyer, Hoffnung, 81–84.

„JHWH tue an euch Güte“

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Abb. 1: Arbeitsteilung bei der Gerstenernte (äg. Grabmalerei, 19. Dyn.)

Das zweite Kapitel zeigt Ruth auf dem Feld von Boas, einem Verwandten aus der Sippe Elimelechs, zu Beginn der Gerstenernte im Mai/Juni (2,1–23, s. Abb. 1).13 Jedes der vier Kapitel, die spiegelbildlich angeordnet sind (außen: Kap. 1 und 4, innen: Kap. 2 und 3),14 enthält einen zentralen Dialog zweier Figuren, der die Handlung thematisch und erzählerisch vorantreibt (1,8ff; 2,4ff; 3,9ff; 4,1ff). Diese Dialoge tragen zur indirekten Charakterisierung der Erzählfiguren bei,15 die damit zu „ethischen Modellen“16 mit entsprechenden Identifikationsangeboten werden. Im Unterschied zur direkten Charakterisierung mit ihrer Beschreibung der äußeren Erscheinung und der charakteristischen Wesenszüge ist die indirekte Charakterisierung aus den Aussagen/Dialogen der Personen, ihren Handlungen und den Nebenfiguren ablesbar.17 Das Ruthbuch ist dafür ein großartiges Beispiel. II.

Ruth als personifizierte Hingabe

Ruth ist die Hingabe in Person, die personifizierte ªæsæd („Hingabe, Güte, Freundlichkeit“). Bereits im ersten Dialog (1,8–17) begegnet das Stichwort ªæsæd, und zwar aus dem Mund Naomis, die ihre beiden Schwiegertöchter zur Rückkehr nach Moab auffordert: 13 Zur Gerstenernte s. Fischer, Rut, 160–164 und Köhlmoos, Ruth, 31–32. 14 Zur Buchkomposition s. die Übersicht bei Fischer, Rut, 24–25 und ausführlich Beyer, Hoffnung, 68–139. 15 Zu den literarischen Stilmitteln des Buchs s. A. Berlin, Poetics and Interpretation of Biblical Narrative, Winona Lake / IN 1994, 83–110; Fischer, Rut, 24–40; Seybold, Poetik, 165–169; Köhlmoos, Ruth, XI–XIII und grundsätzlich zum biblischen Erzählen Th. Naumann, Art. Biblisches Erzählen, in: D. Weidner (Hg.), Handbuch Literatur und Religion, Stuttgart 2016, 241–245. 16 B. Kowalski, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, in: H. Baranzke u.a., Handeln verantworten. Grundlagen – Kriterien – Kompetenzen (TheoMod 11), Freiburg / Basel / Wien 2010, 95–143, hier: 95. 17 S. dazu dies., Gerechtigkeit, 95–97.101–106 und Niditch, Self, 124–128.

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„JHWH tue an euch Güte“

Geht, kehrt zurück, jede in das Haus ihrer Mutter! JHWH tue an euch Güte (ªæsæd), wie ihr sie an den Toten und an mir getan habt. (1,8)

Das ist eine sehr gewichtige Aussage. Denn der Begriff ªæsæd „Hingabe, Güte, Freundlichkeit“ meint eine Lebenshaltung, die man als „respondierendes Verhalten“18 oder als „gegenseitige Hochschätzung“19 bezeichnen kann, bei dem/der immer das Moment des Tuns intendiert und das/die durch Beständigkeit charakterisiert ist.20 J. Jeremias hat diese Bedeutung von ªæsæd folgendermaßen beschrieben: „Óæsæd (,Hingabe‘, ,Güte‘, ,Huld‘) ist ein Relationsbegriff, üblicherweise für zwischenmenschliche Beziehungen. Er bezeichnet ein Handeln, das der Verpflichtung zu Rücksichtnahme und Hilfe in vorgefundenen oder einmal eingegangenen Bindungen – Familie, Sippe, Beruf, Stadt, Staat – voll nachkommt, und zwar in einer dauerhaften und verlässlichen Weise … Solche selbstverständliche, keinen Schwankungen unterlegene, gefühlsmäßige und willentliche Verbundenheit mit anderen orientiert sich nicht an Pflichtenkatalogen, sondern schließt unerwartete und unverdienbare Großherzigkeit, Güte und Liebe ein und ist nie Ausdruck bloßer Gesinnung, sondern äußert sich stets in der Tat. Sie ist primär auf Menschen bezogen, betrifft aber ebendarin auch Gott, weil sich in Vollzug oder aber Unterlassung solchen Tuns intaktes oder zerbrochenes Gottesverhältnis widerspiegelt.“21

Anders gesagt: ªæsæd ist die konnektive Kraft, die der Gemeinschaft Sinn und Zusammenhalt verleiht, weil sie verlässlich ist und „dem anderen mehr gibt, als rechtlich gefordert ist“22. Dieses Mehr kommt in dem spätnachexilischen locus classicus Mi 6,8 auf eine besonders prägnante Weise zum Ausdruck: 18 So D. Michel, ªæsæd we∞æmæt, in: A. Wagner (Hg.), Studien zur hebräischen Grammatik (OBO 156), Fribourg / Göttingen 1997, 73–82, hier: 74f: „Wir wollen dieses Verhalten (sc. ªæsæd) anders als (N.) Glueck (,gemeinschaftsgemäße Verhaltensweise‘) lieber nennen: ,respondierendes Verhalten‘ – denn darum geht es: auf eine erwiesene Wohltat hat man … entsprechend zu antworten.“ 19 R. Oberforcher, Das Buch Micha (NSK.AT 24/2), Stuttgart 1995, 131, vgl. zur Gegenseitigkeit des ªæsæd-Erweises auch H.-J. Zobel, Art. ªæsæd, ThWAT 3 (1982) 48–71, hier: 52–53. 20 S. dazu Zobel, Art. ªæsæd, 53.56–59. 21 J. Jeremias, Der Prophet Hosea (ATD 24/1), Göttingen 1983, 60–61, vgl. auch H. Gese, Der Johannesprolog, in: ders., Zur biblischen Theologie, Tübingen 31989, 152–201, hier: 186 und J. Dietrich, Sozialanthropologie des Alten Testaments. Grundfragen zur Relationalität und Sozialität des Menschen im alten Israel, ZAW 127 (2015) 224–243, hier 240f. 22 R. Kessler, Micha (HThK.AT), Freiburg u.a. 1999, 271, vgl. Jeremias, Hosea 203–204.

„JHWH tue an euch Güte“

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Man hat dir gesagt, Mensch, was gut ist und was JHWH von dir fordert: nichts als Recht (miçpå†) tun und Hingabe (ªæsæd) lieben und einsichtsvoll gehen (ha‚nea˛ lækæt) mit deinem Gott.23

In Ruth 1,8 kommt der Wunsch Naomis – „JHWH tue an euch Güte (ªæsæd), wie ihr sie an den Toten und an mir getan habt“ – aus dem Mund einer Judäerin, die auf diese Weise der Wertschätzung ihrer beiden Schwiegertöchter Ausdruck verleiht. Darüber hinaus stattet sie „die beiden Moabiterinnen mit einer zentralen Eigenschaft JHWHs aus. Dem Schreckgespenst der moabitischen Frauen, das durch die atl. Literatur geistert, wird hier der Abschied gegeben“24. Damit erhält die Erzählung von Anfang an eine Färbung, die nicht mehr verblasst, sondern die nach und nach ausgestaltet und intensiviert wird. 1.

Aufmerksamkeit gegenüber einer Ausländerin

Das zweite Kapitel beginnt dann damit, dass Ruth auf dem Feld des Boas Nachlese bei der Gerstenernte halten will und zwar „hinter demjenigen her, in dessen Auge ich Gunst (ªen) finde“ (2,2).25 Obwohl sie eine Ausländerin ist, der das Nachleseprivileg eigentlich nicht zusteht (vgl. Lev 19,9f; Dtn 24,19), findet sie Gunst in den Augen des Boas (2,8f) und reagiert darauf mit Erstaunen, ja Ungläubigkeit: Da fiel sie auf ihr Angesicht und verneigte sich bis zur Erde und sagte zu ihm: „Warum habe ich Gunst (ªen) gefunden in deinen Augen, dass du mich aufmerksam betrachtest (nkr hif.)? Ich bin doch eine Ausländerin (nåkrîjjåh)!“ (2,10)

Das Erstaunen Ruths könnte nicht größer sein: sie ist, wie sie einwendet, doch eine „Ausländerin“, also hätte Boas eigentlich allen Grund, sie zu übersehen. Das Gegenteil ist aber der Fall, denn er begegnet ihr mit Respekt und Aufmerksamkeit. Das Wortspiel zwischen nkr hif. „aufmerksam, genau betrachten“ (vgl. 2,19)26 und nåkrîjjåh 23 Zu diesem Text s. Janowski, Anthropologie, 187ff. 24 Köhlmoos, Ruth, 14. 25 Nach I. Willi-Plein, ªn. Ein Übersetzungsproblem, VT 23 (1973) 90–99 ist ªen „immer etwas …, das eine Sache oder Person liebenswert sein oder erscheinen lässt“ (95). Man kann das als Sympathie bezeichnen. 26 S. dazu Ges18, 819 s.v. nkr hif. und B. Lang / H. Ringgren, Art. nkr usw., ThWAT 5 (1986) 454–463, hier 462f, zu den Belegen im Ruthbuch s. E. Zenger, Das Buch Ruth (ZBK.AT 8), Zürich 1986, 56; Y. Zakovitch, Das Buch Rut. Ein jüdi-

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„JHWH tue an euch Güte“

„Ausländerin“ ist vom Erzähler beabsichtigt und demonstriert die Macht der Anerkennung an einem Fall, der, weil er die Grenze des Familien- und Nachbarschaftsethos überschreitet, exemplarisch ist: am Fall des/r Fremden (nåkrî, nåkrîjjåh), der/die in nachexilischer Zeit abwertend behandelt wird (vgl. Neh 13,23–30 u.ö.).27 Wenn also Ruth zu Boas sagt, dass er sie „aufmerksam, genau betrachtet“ habe, dann „verwendet sie den Begriff für das genaue Hinsehen, das hinter der äußeren Erscheinung das wahre Wesen des Gegenübers zu erkennen vermag (Gen 27,23; 42,7f; Hi 2,12)“28. Einige Textbeispiele sollen das Gesagte vertiefen. Exkurs 1: Zur Bedeutung von nkr hif. Die Grundbedeutung von nkr hif. ist „aufmerksam betrachten, genau hinsehen, identifizieren“. In vielen Fällen handelt es sich um Zusammenhänge, bei denen das Sehen bzw. Gesehen-Werden eine zentrale, auf die Identität eines Menschen oder Gegenstandes bezogene Rolle spielt.

a)

nkr hif. „genau betrachten, identifizieren“

In der Episode von Tamar und Juda in Gen 38,12–26 wird berichtet, dass Tamar, um zu beweisen, dass Juda sie geschwängert habe, diesem das Siegel mit der Schnur und den Stab gezeigt hat, die er ihr als Pfandstücke nach der Tat überlassen hatte. Diese, so fordert sie ihren Schwiegervater auf, solle er genau betrachten und identifizieren: (25) Als man sie hinausführte (sc. um sie wegen ihrer angeblichen Hurerei zu verbrennen), schickte sie ihrem Schwiegervater folgende Botschaft: ,Von dem Mann, dem dies gehört, bin ich schwanger.‘ Und sie sagte: ,Identifiziere (nkr hif.) doch, wem dieses Siegel und diese Schnüre und dieser Stab gehören!‘ (26) Und Juda identifizierte (nkr hif.) sie und sagte: ,Sie hat gerecht gehandelt im Verhältnis zu mir! Es ist ja so, dass ich sie meinem Sohn Schela nicht gegeben habe.“ Und er wurde nicht noch einmal intim mit ihr. Das Urteil Judas in V. 26 ist „keine persönliche Meinung, sondern eine Rechtssetzung“29: „Sie hat gerecht gehandelt im Verhältnis zu mir!“ Damit ist die Identifikationsszene abgeschlossen. In Gen 37,32f, der Identifikation von Josephs blutgetränktem Gewand durch Jakob, gibt es dazu eine buchinscher Kommentar (SBS 177), Stuttgart 1999, 117; Fischer, Rut, 175 und Köhlmoos, Ruth, 41. 27 S. dazu Fischer, Rut, 58–61.63–64.75. Skeptisch demgegenüber Beyer, Hoffnung, 36–40.49–64. 28 Köhlmoos, Ruth, 41. 29 J. Ebach, Genesis 37–50 (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien 2007, 141.145– 149.

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terne, aber vom Kontext her gegenläufige Entsprechung.30 Der Akt der Identifizierung begegnet ebenfalls mit nkr hif. dann noch einmal, nämlich bei der ersten Begegnung Josephs mit seinen Brüdern in Gen 42,7f.31

b)

nkr hif. „wahrnehmen, erkennen“

Eine Bedeutungsnuance von nkr hif. „aufmerksam, genau betrachten, identifizieren“ liegt an den Stellen vor, in denen es um die Wahrnehmung bzw. das Erkennen einer Person oder Sache geht. Besonders im Dunkeln bzw. in der Nacht erkennt man weder einander noch die Dinge um sich her, so z.B. in Ruth 3,14: Da legte sie (sc. Ruth) sich an sein (sc. Boas’) Fußende bis zum Morgen. Und dann erhob sie sich, bevor man jemanden wahrnehmen konnte (nkr hif.). Da sprach er (sc. Boas): „Man darf nicht wissen (jåda˛), dass die Frau zur Tenne gekommen ist!“32 Nach Hi 2,12 ist Hiobs Aussehen so entstellt, dass seine Freunde ihn nicht wiedererkennen, vgl. Hi 4,16; 7,10. Auch an der Stimme kann man jemanden erkennen (Ri 18,3; 1 Sam 26,17).

c)

nkr hif. (+ pånîm „Angesicht“) „die Person ansehen, parteiisch sein“

Ausschlaggebend für die altisraelitische Rechtsprechung ist die Intention, nicht einer abstrakten Vorstellung von Gerechtigkeit zu genügen, sondern „Streitigkeiten zu schlichten und das Wohl der Gemeinschaft zu wahren. Richten heißt für sie schlichten“33. Das kommt in besonderer Weise im abschließenden Urteilsspruch zum Ausdruck. In Spr 24,23b–25, wo ein solcher Urteilsspruch wörtlich zitiert wird (V. 23b), begegnet er in einem Kontext, in dem es um einen Richter geht, der jemanden, der Unrecht getan hat, fälschlicherweise für unschuldig erklärt: 23b Das Ansehen der Person (nkr hif. + pånîm) bei Gericht ist nicht gut. 24 Wer zum Frevler sagt: „Gerecht bist du!“ (‚addîq ∞attåh), den werden Völker verfluchen, dem werden Nationen Verwünschungen aussprechen. 25 Aber für diejenigen, die zurechtweisen (jkª hif.), wird es angenehm sein, und auf sie wird der Segen des Guten kommen. 30 S. dazu die Tabelle bei Blum, Komposition, 245 und Ebach, Genesis 37–50, 106.108.142. 31 S. dazu ders., Genesis 37–50, 142.280.281–283. Außerhalb von Gen 37–50 begegnet das Verb nkr hif. in der Bedeutung „identifizieren“ noch in Gen 27,23 (negiert) und in Gen 31,32, s. dazu ders., Genesis 37–50, 143–144. 32 Vgl. auch die nkr hif.-Belege in 1 Kön 18,7; 20,41 u.a. 33 L. Köhler, Der hebräische Mensch. Eine Skizze, Darmstadt 1976, 150, vgl. H.J. Boecker, Recht und Gesetz im Alten Testament und im Alten Orient, NeukirchenVluyn 21984, 29–30.

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„JHWH tue an euch Güte“

Der Text beginnt in V. 23b mit dem rechtsanthropologischen Motiv der Ansehung der Person (vgl. Dtn 1,17; 16,19; Spr 28,21; Sir 38,10), das mit dem substantivierten Infinitiv hakker (< nkr hif.) + pånîm „Angesicht“ ausgedrückt wird. Im Unterschied zur Wendung vom „Aufheben (nå¬å˛) des Angesichts“, die ursprünglich „nach bestandenem Gericht aufstehen lassen“ (Spr 18,5) bedeutet, heißt nkr hif. + pånîm „freundlich ansehen, Rücksicht nehmen auf, beschönigen“.34 Die parallele Aufforderung „Seht nicht freundlich an im Gericht!“ (Dtn 1,17, vgl. Dtn 16,19) lässt sich auch mit „Seid unparteiisch im Gericht!“ übersetzen. Es geht also um das Gebot der Unparteilichkeit. Dieses Gebot wird nach V. 24 durch den Freispruch des Frevlers unterlaufen. Das richtige Verhalten, auf dem „der Segen des Guten“ liegen wird, besteht demgegenüber in der entschlossenen „Zurechtweisung“ (jkª hif.)35 des Frevlers. Damit ist ein Rechtsgrundsatz formuliert, der auch bei den Völkern // Nationen Anerkennung findet (V. 25). (Ende des Exkurses)

Wie die Ausführungen zur Bedeutung von nkr hif. unterstreichen, nimmt der nkr hif.-Beleg von 2,10 (und seine Wiederaufnahme in 2,19) eine Schlüsselstellung im Ruthbuch ein. Und zwar auch deswegen, weil hier mit ªen „Gunst, Sympathie, Freundlichkeit“ ein weiterer sozialanthropologischer Grundbegriff des Alten Testaments begegnet. Dieser Begriff erscheint auch in der Reaktion Ruths (2,13) auf die Antwort des Boas (2,11f), der als Grund für sein Verhalten das Verhalten Ruths gegenüber Naomi (vgl. 1,8) angibt und dann einen Wunsch anschließt: (11) Und Boas antwortete und sagte zu ihr: „Verkündet, ja verkündet wurde mir alles, was du deiner Schwiegermutter getan hast nach dem Tod deines Mannes: Du hast deinen Vater und deine Mutter und das Land deiner Abstammung verlassen (˛åzab) und bist zu einem Volk gegangen, das du nie zuvor gekannt hast. (12) Es vergelte dir JHWH dein Tun und dein Lohn sei vollständig von JHWH, dem Gott Israels, zu dem du gekommen bist, um dich unter seinen Flügeln zu bergen.“ (13) Da sagte sie: „Möge ich weiterhin Gunst (ªen) finden in deinen Augen, mein Herr! Denn du hast mich getröstet und hast deiner Magd zu Herzen geredet. Aber ich, ich bin nicht wie eine deiner Mägde!“ (2,11–13)

Die anschließende Szene bestätigt das gewachsene Vertrauensverhältnis zwischen Ruth und Boas durch dessen Einladung zum gemeinsamen Mittagsmahl. 34 S. dazu I.L. Seeligmann, Zur Terminologie für das Gerichtsverfahren im Wortschatz des biblischen Hebräisch, in: ders., Gesammelte Studien zur Hebräischen Bibel (FAT 41), hg. von E. Blum, Tübingen 2004, 293–317, hier 310–312 und A. Meinhold, Die Sprüche 2 (ZBK.AT 16/2), Zürich 1991, 299. 35 Ursprünglich bedeutet jkª hif. „feststellen, was recht ist“, s. dazu H.-J. Boecker, Redeformen des Rechtslebens im Alten Testament (WMANT 14), NeukirchenVluyn 21970, 45–47 und Seeligmann, Terminologie, 306–308.

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Exkurs 2: Gastfreundschaft Das Ruthbuch ist auch eine Erzählung über die Gastfreundschaft. Die Geste, mit der Boas die Moabiterin Ruth zum gemeinsamen Essen mit den Schnittern einlädt, besticht durch ihre Selbstverständlichkeit: Und Boas sprach zu ihr zur Essenszeit: „Komm hierher und iss von dem Brot und tauche deinen Bissen in die Tunke!“ Und sie setzte sich an die Seite der Schnitter. Und er reicht ihr Röstkorn, und sie aß und wurde satt und behielt noch etwas übrig. (2,14) Eingerahmt wird diese Urszene der Gastfreundschaft mit der Darreichung von Brot (læªæm), Tunke (ªomæ‚ „Essiglimonade“) und Röstkorn (qålî) durch die Ruth widerfahrene Anerkennung durch Boas (2,8–13) und dessen Vermahnung an seine jungen Männer, sie bei der Nachlese nicht verächtlich zu behandeln (klm hif.) und zu beschimpfen (gå˛ar) (2,15–16). „Die kleine Szene zeigt, wie weit Ruths Integration schon fortgeschritten ist, wenn der Herr, die Arbeitskräfte und die ausländische Nachleserin gemeinsam Seite an Seite essen.“36 Die hier gewährte Gastfreundschaft mündet denn auch in ein dauerhaftes Bindungsverhältnis (4,13–17). Elementare Regeln der Gastfreundschaft gibt es nicht nur in Mesopotamien, sondern auch in Griechenland und Rom.37 Was nach dem Alten Testament zum ,Ritual‘ der Gastfreundschaft gehörte, lässt sich etwa anhand der Bewirtung der drei Männer durch Abraham in Gen 18,1–838 ablesen. Es wird ihnen zunächst Wasser zum Waschen der staubigen Füße gereicht, sie ruhen abgestützt an einem der Schatten spendenden Bäume, und der Gastgeber bereitet ihnen ein köstliches Mahl zu, um sie für die Weiterreise zu stärken. Dabei steht er respektvoll abseits, ohne mit ihnen zusammen zu essen: (1) Da erschien ihm (sc. Abraham) JHWH bei den Terebinthen von Mamre, als er während der Hitze des Tages im Eingang des Zeltes saß. (2) Und er erhob seine Augen und siehe, drei Männer standen vor ihm. Als er das sah, lief er ihnen vom Zelteingang her entgegen. Und er verneigte sich zur Erde (3) und sagte: „Meine Herren, wenn ich in euren Augen Gunst (ªen)39 finde, zieht nicht an eurem Diener vorüber! (4) Es möge ein wenig Wasser genommen werden, und so wascht eure Füße und ruht aufgestützt unter dem Baum! (5) Ich will einen Bissen holen und euer Herz (leb)40 stärken, danach mögt ihr weiterziehen; denn dazu 36 Köhlmoos, Ruth, 45, vgl. Fischer, Rut, 181–182. 37 S. dazu H. Felber u.a., Art. Gastfreundschaft (DNP 4), 1998, 793–797. 38 Zur vorexilischen Abraham-Lot-Erzählung Gen 13*.18f* (8./7.Jh. v.Chr. [?]) s. außer H. Seebass, Genesis II (11,27–22,24), Neukirchen-Vluyn 1997, 121–123 u.a. bes. E. Blum, Die Komposition der Vätergeschichte (WMANT 57), NeukirchenVluyn 1984, 273–289.282–283.287–288. 39 Zu ªen „Gunst, Sympathie, Freundlichkeit“ s. oben Anm. 25. 40 Im Herzen konzentrieren sich nicht nur die emotionalen, kognitiven und voluntativen Fähigkeiten des Menschen (s. dazu Janowski, Anthropologie, 148–155), son-

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seid ihr an eurem Diener vorübergekommen.“ Sie sagten: „Ja, du magst tun, wie du gesagt hast.“ (6) Da eilte Abraham zu Sara ins Zelt und sagte: „Beeil dich, knete drei Se∞a Mehl (Feinmehl) und mach Fladenbrote!“ (7) Und Abraham lief zum Vieh und nahm ein zartes und schönes Kalb und gab es dem Knecht und eilte, es zuzubereiten. (8) Dann nahm er Dickmilch und Milch sowie das Kalb, das er zubereitet hatte, und legte es ihnen vor. Er aber blieb unter dem Baum neben ihnen stehen, während sie aßen. (Gen 18,1–8) Dann folgt – als Gastgeschenk der/des göttlichen Besucher/s – die Ankündigung der Geburt eines Sohns (V. 9–15) und die Überleitung zur Sodomgeschichte (V. 16*). Auffallend nach der wortreichen Einladung (V. 3–5a) und der knappen Antwort der drei Männer (V. 5b) ist das eilige Bemühen Abrahams (vgl. V. 2.6.7), seinen Gästen ein üppiges und feines Mahl zu bereiten. Dieses besteht aus Fladenbroten, die aus 3 Se∞a Mehl41 gebacken werden, Fleisch vom geschlachteten Kalb sowie Dickmilch/Rahm und Milch. Die Erzählung vom beispielhaften Gastgeber Abraham hat in der nachfolgenden Sodomgeschichte Gen 19 ein Gegenstück – allerdings mit einer unverhofften Wendung und einem überraschenden Ausgang.42 Zunächst setzt die Geschichte mit einem eindrücklichen Bild ein, das an die Eingangsszene von Gen 18 erinnert.43 Aber im Unterschied dazu spielt sie hier am Abend, so dass Lot seine beiden Gäste nötigt, mit ihm in sein Haus zu kommen: (1) Und es kamen die zwei Boten am Abend nach Sodom, als Lot im Tor(raum) von Sodom saß. Als Lot (sie) sah, erhob er sich ihnen entgegen und warf sich mit seiner Nase bis zur Erde nieder (2) und sagte: „Seht doch, meine Herren, biegt doch ab zum Haus eures Knechts und bleibt über Nacht und wascht eure Füße und brecht am Morgen auf und geht (dann) eures Weges!“ Sie aber sagten: „Nein, sondern wir übernachten auf dem Platz (sc. innen vor dem Tor).“ (3) Da drang er sehr in sie, und so bogen sie ab zu ihm und gingen in sein Haus. Er aber bereitete ihnen ein Gastmahl (miçtæh) und buk Mazzen (ma‚‚ôt), und sie aßen. dern auch sein leibliches Wesen (vgl. Spr 4,23; 25,13), das gelabt bzw. „gestützt“ werden muss, in der Regel mit Brot (Ri 19,5.8, vgl. Gen 18,5; 1 Kön 21,7; Ps 102,5). 41 Nach K. Jaroç, Art. Maße und Gewichte, NBL 2 (1995) 731–735, hier 734 entspricht das der riesigen Menge von 3 x 7,3 Liter! 42 S. dazu O. Keel, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus, Teil 1–2, Göttingen 2007, 278–281; Th. Römer, Lot, l’hospitalité et l’inceste, in: J.-M. Durand u.a. (éd.), Tabou et transgressions (OBO 274), Fribourg / Göttingen 2015, 135–144 und B. Janowski, Die „Übernachtung“ der Gerechtigkeit. Zum Gottes- und Menschenbild in Jes 1,21–26, in: J. van Oorschot / A. Wagner (Hg.), Gott und Mensch im Alten Testament. Zum Verhältnis von Gottes- und Menschenbild (VWGTh 52), Leipzig 2018, 163–177, hier 169ff. 43 Zum Vergleich der beiden Texte s. Blum, Komposition, 280–281.

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Der Fortgang der Geschichte mit dem brutalen Missbrauch des Gastrechts durch die Bewohner von Sodom und dessen Folgen ist bekannt.44 (Ende des Exkurses)

2.

Rechtsschutz für eine Moabiterin

Kehren wir wieder zum Ruthbuch zurück. Die Ruth erwiesene Gunst, die von Boas gegenüber den Schnittern mit negiertem klm hif. „verächtlich behandeln“ und negiertem gå˛ar „beschimpfen“ noch einmal eingeschärft wird (2,15f), ermutigt diese in der folgenden Szene (3,1– 18), den entscheidenden Schritt zu wagen und sich nachts auf der Tenne zu Boas zu legen und ihn um Rechtsschutz zu bitten. Als er sie um Mitternacht an seinem Fußende bemerkt, schreckt er auf, beugt sich vor, sieht sie und fragt, wer sie sei: (7) Und Boas aß und trank und war zufrieden. Dann kam er, um sich hinzulegen am Ende des Kornhaufens. Und da kam sie heimlich und deckte sein Fußende auf und legte sich hin. (8) Und da geschah es um Mitternacht: Da erschauderte der Mann und tastete um sich und siehe da – eine Frau an seinem Fußende! (9) Da sagte er: „Wer bist du?“ Und sie sagte: „Ich bin Ruth, deine Dienerin! Breite deinen Gewandsaum (kånåp) über deine Dienerin, denn Löser bist du!“ (10) Da sagte er: „Sei gesegnet von JHWH, meine Tochter! Du hast jetzt noch größere Güte (ªæsæd) gezeigt als zuvor, weil du nicht hinter den Jünglingen hergelaufen bist, seien sie arm oder reich.“ (3,7–10)

Diese Szene, die noch bis 3,15 reicht, ist „erzählerisch und inhaltlich die intensivste des Ruthbuches und gleichzeitig eine der intimsten Szenen des Alten Testaments“45. Allerdings ist ihre Interpretation umstritten. So wird das masoretische kenåpækåh in 3,9 von I. Fischer als defektiv geschriebener Plural gedeutet und mit „deine Gewandsäume“ übersetzt, während M. Köhlmoos beim Singular kånåp bleibt, dieses Wort mit „Flügel“ wiedergibt und ihm eine „symbolisch-theologische“ Bedeutung beilegt.46 Ausschlaggebend für ihre Interpretation ist dabei der Bezug zu Ez 16,8. Ob 3,9 unter Anspielung auf Ez 16,8: „Und ich [sc. JHWH] breitete meinen Gewandsaum (kånåp) über dich und bedeckte deine Blöße. Und ich 44 S. dazu Janowski, „Übernachtung“, 169ff. 45 Köhlmoos, Ruth, 65. 46 S. dazu Köhlmoos, Ruth, 61f. Zu kånåp in der Bedeutung „Gewandsaum/zipfel“ s. Dtn 22,12; Num 15,38; 1 Sam 15,27; 2 Sam 24,5f; Jer 2,34; Ez 5,3 und zur Sache B. Janowski, Persönlichkeitszeichen. Ein Beitrag zum Personverständnis des Alten Testaments, in: A. Wagner / J. van Oorschot (Hg.), Individualität und Selbstreflexion in den Literaturen des Alten Testaments (VWGTh 48), Leipzig 2017, 315– 340, hier 336 Anm. 70.

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schwor dir und trat ein in einen Bund mit dir, Spruch des Herrn JHWH, und du gehörtest mir“ von Heirat spricht (so die übliche Interpretation), ist fraglich, weil von Heirat erst in 4,13 die Rede ist und es in Ez 16,8 eher um eine Schutzmaßnahme JHWHs und um eine durch dessen Schwur motivierte Eigentumsdeklaration geht.47 Ebenso dürfte es sich in 3,9 um eine Bitte um Rechtsschutz handeln, der konkret in der Ehe zur Geltung kommt, hier aber vorerst erbeten wird.48 Auch ein direkter Bezug von 3,9 auf 2,12 (Boas zu Ruth: „Es vergelte JHWH dein Tun, und dein Lohn sei vollständig von JHWH, dem Gott Israels, zu dem du gekommen bist, um dich unter seinen Flügeln zu bergen!“), der von Köhlmoos konstruiert wird,49 liegt meines Erachtens nicht vor, weil dort von den „Flügeln JHWHs“ (kånåp im Dual) und hier vom „Flügel“ bzw. „Gewandsaum“ des Boas (kånåp im Singular) gesprochen wird. Deshalb ist Ruths Bitte meines Erachtens weder „symbolisch-theologisch“50 noch konkret sexuell (so die übliche Auslegung), sondern rechtssymbolisch zu verstehen. Köhlmoos scheint das gemäß ihrer Bemerkung, Ruth bitte Boas „für sie die Rolle JHWHs einzunehmen und sie schützend und anerkennend unter seine Fittiche zu nehmen“51, ebenso zu sehen. Die Begründung dieser Bitte „denn Löser bist du!“ (3,9) sowie die dem Heilsorakel entstammende Formel „Fürchte dich nicht!“ (3, 11) dürften das bestätigen. Dass zwischen 2,12 und 3,9 dennoch ein buchinterner Zusammenhang besteht, der aber unterschiedlich perspektiviert ist – dort aus der Sicht des Boas, hier aus der Sicht Ruths –, ist dagegen unbestritten.

Mit dem guten Ende der Nachtszene in 3,15 ist jedenfalls die Entscheidung für den öffentlichen Vorgang des „Lösens“ gefallen, der dann in 4,1–12 erzählt wird.52 Diese Szene spielt am Tor von Bethlehem und nennt als beteiligte Personen Boas, den anonymen Löser, die Ältesten der Stadt und das „ganze Volk“. „Boas aber“, so beginnt der Text, (1) stieg zum Tor hinauf und blieb dort. Und siehe: Der Löser (go∞el) ging vorüber, von dem Boas gesprochen hatte. Und er sagte „Bieg ab, bleib hier, Soundso!“ Und er bog ab und blieb. (2) Und er nahm zehn Männer von den Ältesten der Stadt und sagte: „Bleibt hier!“ Und sie blieben. (3) Und er sagte zu dem Löser: „Den Anteil des Feldes, der unserem Bruder Elimelech gehörte, will Naomi, die Rückkehrerin aus dem Feld Moabs, verkaufen. (4) Ich sagte mir darum: Ich will folgen47 Vgl. H. Weippert, Art. Kleidung, NBL 2 (1995) 495–499, hier 496. 48 Vgl. Fischer, Rut, 211f. 49 S. dazu Köhlmoos, Ruth, 62: „Was für Boas eine Wallfahrt unter die Flügel JHWHs war, wird von Ruth jetzt in eine Bitte umgesetzt, an ihr die Erwählung Israels durch JHWH nachzuvollziehen“, vgl. auch 63. 50 Köhlmoos, Ruth, 62. 51 Köhlmoos, Ruth, 62. 52 S. dazu Janowski, „Übernachtung“, 169ff.

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des vor deinem Ohr aufdecken: Erwirb es in Gegenwart der Hiergebliebenen und in Gegenwart der Ältesten meines Volkes! Wenn du lösen (gå∞al)53 willst, dann löse. Wenn du aber nicht lösen willst, dann künde es mir, damit ich es erkenne. Denn es gibt keinen außer dir zum Lösen; ich aber komme nach dir“. Da sagte er: „Ich, ich löse es!“ (5) Da sagte Boas: „An dem Tag, an dem du das Feld aus der Hand Naomis erwirbst, erwirbst du auch Ruth, die Moabiterin, die Frau des Toten, um den Namen des Toten auf seinem Erbbesitz erstehen zu lassen.“ (4,1–5)

In diesem Augenblick tritt der anonyme Löser, der das Vorkaufsrecht für das Feld der Naomi hatte (vgl. 3,12f), aber davon zurück, weil er das damit verbundene Levirat mit Ruth nicht eingehen will. Der Text sagt nicht, warum. Er verbindet aber den Verzicht des anonymen Lösers mit dem Brauch des Schuhausziehens: (6) Da sagte der Löser: „Ich kann nicht für mich lösen, damit ich nicht meinen Erbbesitz (naªalåh) schädige. Löse du für dich meine Lösung, denn ich kann nicht lösen!“ (7) Und dies war früher Brauch in Israel bei einer Lösung und beim Tauschgeschäft: Um jegliche Angelegenheit zu ratifizieren (qjm pi.),54 zog ein Mann seine Sandale aus und gab sie seinem Nächsten. Und dies war die Bestätigung in Israel. (8) Da sagte der Löser zu Boas: „Erwirb für dich!“ Und er zog seine Sandale aus. (4,6–8)55

Damit ist der Rechtsfall entschieden: (9) Da sagte Boas zu den Ältesten und zum ganzen Volk: „Zeugen seid ihr heute, dass ich alles erwerbe, was Elimelech gehörte, und alles, was Kiljon und Machlon gehörte, aus der Hand Naomis! (10) Und auch Ruth, die Moabiterin, die Frau Machlons, erwerbe ich für mich zur Frau, um den Namen des Toten erstehen zu lassen auf seinem Erbbesitz, damit der Name des Toten nicht ausgetilgt werde unter seinen Brüdern und aus dem Tor seines Ortes. Zeugen seid ihr heute!“ (11) Da sagte das ganze Volk, das im Tor war, samt den Ältesten: „Zeugen (sind wir)! Es gebe JHWH, dass die Frau, die in dein Haus kommt, wie Rahel und Lea werde, die zwei, die das Haus Israel auferbaut haben! Sei fähig in Ephrata und rufe deinen Namen aus in Bethlehem! (12) Es sei dein Haus wie das 53 Zum Leitwort gå˛al „lösen“ s. Beyer, Hoffnung, 120ff u.a. 54 Zu qjm pi. „für gültig erklären, ratifizieren“ s. E. Otto, Biblische Altersversorgung im altorientalischen Rechtsvergleich, ZAR 1 (1995) 83–110, hier 109 Anm. 150. 55 Die Sandale (na˛al) ist hier ebenso wie in Dtn 25,9f und Ps 60,10 par. Ps 108,10 ein Persönlichkeitszeichen: Sie vertritt rechtssymbolisch die Person, der sie gehört, und setzt den mit ihr vollzogenen Rechtsakt performativ in Kraft, s. dazu Janowski, Persönlichkeitszeichen, 332–337. Zum Metakommentar in Ruth 4,7 s. Köhlmoos, Ruth, 79.

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Haus des Perez, den Tamar dem Juda gebar, vom Samen, den JHWH dir von dieser jungen Frau geben wird!“ (4,9–12)56

Das ist der solenne Schluss der Rutherzählung, die mit dem Hinweis auf Rahel und Lea (4,11) theologisch an den Beginn der Heilsgeschichte zurücklenkt und damit den Bogen noch über die Richterzeit (1,1) hinaus spannt. III.

Eine narrative Anthropologie

Wie bereits eingangs bemerkt, ist das Ruthbuch ein Kleinod althebräischer Erzählkunst. Seine Sprache ist einfach und doch von einer anthropologischen und theologischen Tiefe, die ihresgleichen sucht. Israel ist, wie auch das Ruthbuch demonstriert, eine Erzählgemeinschaft, in der die kollektive wie die individuelle Rettungserfahrung erinnert und für die lebenden wie die künftigen Generationen vergegenwärtigt wird. Als Versuch, kollektive wie individuelle Erlebnisse zu ordnen und in sinnvolle Zusammenhänge zu bringen, ist das Erzählen ein grundlegender Modus, um Wirklichkeit zu bewältigen. Woher kommt dieser Impuls zur Vergegenwärtigung durch Erzählen? „Im Unterschied zu Erzähltraditionen anderer Kulturen“, so schreibt K. Seybold, „ist der hebräischen Erzählkultur ein Impuls eigen, sich selbst zu erhalten und sich durch die Zeiten hindurch zu festigen. Nach eigenem, späteren Zeugnis ist dieser Impuls von religiöser Art und wird auf die Initiative JHWHs zurückgeführt. Von ihm wird gesagt, dass er selbst ein ,Gedächtnis seiner Wunder gestiftet hat‘ (Ps 111,4), wozu – wie die Verwendung der hebräischen Vokabel für ,erzählen‘ (spr pi.) an verschiedenen Stellen zeigt – das mündliche Weitergeben des Erlebten an die folgenden Generationen und ,für alle Zeit‘ wesentlich gehört“57.

Im Buch Ruth, das um das Thema „Hingabe“ kreist, wird dieses Thema nicht wie in Mi 6,8 („Man hat dir gesagt, Mensch, was gut ist …“)58 normativ gesetzt, sondern in den Dialogen und Handlungen der Hauptpersonen narrativ entfaltet. Dieses Thema enthält einen aktiven („Hingabe, Güte üben“) und einen passiven Aspekt („Gunst finden“, „Achtung erlangen“). Beide Aspekte sind aufeinander bezogen und werden durch buchinterne Rückbezüge immer wieder miteinander verknüpft. Dadurch entsteht ein dichtes Geflecht, wie am Vorkommen der entsprechenden Leitwörter zu erkennen ist: 56 57 58

Zum Verständnis von V. 10ab und V. 12 als Glossen s. Köhlmoos, Ruth, 79f. Seybold, Poetik, 24, s. dazu auch Naumann, Biblisches Erzählen, 241–245. S. dazu oben 102f.

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Naomi, Boas, Vorarbeiter 1,8

Ruth

Naomi zu ihren Schwiegertöchtern (ªæsæd JHWHs und der Schwiegertöchter) 1,16f Ruth zu Naomi (ohne den Begriff ªæsæd) 2,2 Ruth im Selbstgespräch (ªen)

2,6f 2,11

Vorarbeiter zu Boas (Rückbezug auf 1,8.16f)59

2,10 2,10

Ruth zu Boas (ªen) Ruth zu Boas (nkr hif.)

2,13

Ruth zu Boas (ªen)

Boas zu Ruth (Rückbezug auf 1,8.16f)

2,15f Boas zu den Schnittern (klm hif., gå˛ar, jeweils negiert) 2,19 Naomi zu Ruth (nkr hif., Rückbezug auf 2,10) 2,20 Naomi zu Ruth (ªæsæd JHWHs) 3,10 Boas zu Ruth (ªæsæd Ruths, Rückbezug auf 1,8.16f)

Worterklärungen: gå˛ar „beschimpfen“; ªen „Gunst, Sympathie, Freundlichkeit“; ªæsæd „Hingabe, Güte, Freundlichkeit“; nkr hif. „aufmerksam, genau betrachten, identifizieren“; klm hif. „verächtlich behandeln“. Abb. 2: Leitwörter zum Thema „Hingabe“ im Ruthbuch

JHWHs impliziter (1,8; 2,20) und Ruths expliziter ªæsæd-Erweis (1,8, vgl. 1,16f ohne den ªæsæd-Begriff) sind, wie diese Übersicht noch einmal verdeutlicht, die grundlegenden Handlungen, die alles Weitere in Gang setzen und die durch die Akte der Anerkennung und Großherzigkeit seitens des Vorarbeiters, aber vor allem des Boas ,beantwortet‘ werden. Diese Antwort wird in 2,2.10.13 mit der Wendung „jemandes Gunst (ªen) finden“ ausgedrückt: „Doch ªen und ªæsæd sind zwei Seiten derselben Medaille; wer ªen findet, dem wird ªæsæd erwiesen“60 oder m.E. besser: wer „Hingabe“ (ªæsæd) erweist, der wird „Gunst“ (ªen) finden. 59 Der Vorarbeiter ist der erste, der Ruth ausdrücklich anerkennt: „(5) Und Boas sagte zu seinem jungen Mann, der den Schnittern vorstand: ,Zu wem gehört diese junge Frau da?‘ (6) Und der junge Mann, der den Schnittern vorstand, antwortete und sagte: ,Sie ist eine moabitische junge Frau, die zurückgekehrt ist mit Naomi aus dem Gefilde Moabs. (7) Und sie sprach: Ich will lesen und einsammeln hinter den Schnittern her! Und da kam sie und war auf den Beinen vom Morgen bis jetzt; jetzt hat sie sich ein wenig hingesetzt‘“, s. dazu Köhlmoos, Ruth, 36–37.46. 60 Beyer, Hoffnung, 176, vgl. Köhlmoos, Ruth, 224–227.

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So erzählt das spätnachexilische Ruthbuch eine Beispielgeschichte der Achtung gegenüber dem anderen, der überdies ein Fremder bzw. eine Fremde/Ausländerin ist, im Gewand einer Familiengeschichte. Indem es die Ereignisse in die Richterzeit verlegt (1,1), schafft es eine übergreifende Perspektive, die mehrere Jahrhunderte umfasst und die die ethischen Maßstäbe seiner Protagonistin als Identifikationsmöglichkeit vor Augen stellt – für die Zeit des Erzählers und weit darüber hinaus. Quellennachweis zu den Abbildungen 1 O. Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Göttingen 51996, 88 Abb. 128. 2 B. Janowski.

Der Schmerz Gottes Zu einem wichtigen Zug im biblischen Gottesbild Man könnte versucht sein, den Untertitel meines Beitrags wörtlich zu nehmen. Denn wenn vom Schmerz die Rede ist, zeigt sich dieser nicht zuletzt im Gesicht bzw. in den Gesichtszügen.1 Gilt das auch vom Gesicht des biblischen Gottes? Darüber wird im Alten Testament nichts gesagt, obwohl es zahlreiche Belege zum „Angesicht JHWHs“ enthält.2 Auch die übrigen Teile des göttlichen Körpers – sein Kopf, seine Ohren, seine Nase, sein Mund, seine Arme/Hände, sein Füße u.a.3 – werden nie mit dem Thema „Schmerz“ verbunden. Das ist anders beim Herzen und bei den Augen Gottes. Offenbar geht geht es dabei aber nicht um physischen Schmerz, sondern um eine Reaktion Gottes, die gemäß dem synthetischen Bedeutungsspektrum hebräischer Körperbegriffe dem Ausdruck göttlicher Kommunikation und göttlichen Handelns dient.4 Dennoch stellt sich die Frage, ob der Aspekt der Körperlichkeit bei den anthropomorphen Gottesbeschreibungen gänzlich getilgt ist oder ob er – und wenn ja: warum – erhalten bleibt. Darauf ist am Schluss zurück zu kommen. Zunächst wenden wir uns der Frage nach dem theologischen Ort unseres Themas zu. I.

Gottes Eigenschaften – Vorbemerkungen

Dass die Gestalt JHWHs nicht nach ihrem äußeren Aussehen beschrieben und auch kein anschauliches Gesamtbild von ihr gezeichnet, sondern diese hinsichtlich der beiden Funktionen Kommunikation und Handlung entfaltet wird, dürfte nicht zuletzt mit dem Bilderverbot zusammenhängen,5 obwohl das Alte Testament „sich ohne Scheu der Vorstellungen vom Körper Gottes bedient, um Aussagen zu machen, die mit dem monotheistischen Gott verbunden sind, etwa solche wie in Ps 139, in dem die Hand Gottes ,überall‘ hinreichen 1 S. dazu Weigel, Grammatologie, 168ff. 2 S. dazu Hartenstein, Angesicht JHWHs. 3 S. dazu Wagner, Gottes Körper, 101ff, vgl. ders., Art. Körper, 283f. 4 S. dazu Wagner, Art. Körper, 280ff. Zur Frage, ob der Schmerz Gottes physischer oder geistiger Natur ist, s. unten 122. 5 Das Bilderverbot von Ex 20,4–6 par. Dtn 5,8–10 ist kein generelles Kunstverbot, sondern ein Verbot zur Anfertigung eines materialen Kultbilds JHWHs, s. dazu Wagner, Gottes Körper, 21ff.186 und Hartenstein / Moxter, Hermeneutik, 72ff. 142ff.

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kann“6. Das Problem ist also komplexer, wie das Thema „Eigenschaften Gottes“ zeigt. Dass Gott „Eigenschaften“ hat, die seinem Wesen entsprechen und dieses explizit zum Ausdruck bringen, ist ein zentrales Lehrstück der christlichen Dogmatik.7 Wie mit diesem Lehrstück umgegangen wird, entscheidet mit über die angemessene Rede von Gott. In seiner „Dogmatik“ unterscheidet W. Härle zwischen Eigenschaften, die den kategorialen Unterschied zwischen Gott und Mensch8 zum Ausdruck bringen, und Eigenschaften, die die reale Verbundenheit zwischen ihnen9 betonen. Diese Eigenschaften sind im Unterschied zu denjenigen der ersten Gruppe „nicht Gott vorbehalten, sondern teilen sich mit. Von diesen Eigenschaften gilt: Weil sie für Gott, dessen Wesen Liebe ist, gelten, darum auch für uns (als Liebende)“10. Von den Eigenschaften, die die reale Verbundenheit Gottes mit dem Menschen ausdrücken, ist auch im Alten und Neuen Testament immer wieder, ja fast auf jeder Seite die Rede. Die theologische Tradition spricht hier von Anthropomorphismen,11 also von Sprachbildern, die Gott in menschlicher Gestalt zeigen und menschlich von ihm reden.12 Der biblische Gott spricht (Gen 1,3), ruft (Hos 11,1), antwortet (Ps 22,3), sieht (Gen 6,5, vgl. 6,8), riecht (Gen 8,21), lacht (Ps 2,4), weint (Jer 9,9; 14,17), stöhnt (Jes 42,14) und pfeift (Jes 7, 18), er hat einen Kopf, Augen, Ohren, einen Mund, Lippen, Zunge, Hände, Finger, Arme, Füße und sogar ein Herz.13 Die Rede von Gott bezieht sich aber nicht nur auf die Ebene der konkreten Körperlichkeit, sondern auch auf die kognitiven und voluntativen Aspekte seines Wirkens (Denken, Wollen, Planen). Darüber hinaus betrifft sie auch „Gottes Herrschaft und Reich, sein Königtum oder sein Richteramt und vieles andere mehr. Wollte man das alles abziehen, bliebe wenig oder 6 Wagner, Gottes Körper, 186. 7 S. dazu Krötke, Gottes Klarheiten; Härle, Dogmatik, 240ff u.a. 8 Dazu zählen Allmacht, Allwissenheit, Ewigkeit, Allgegenwart u.a., s. dazu Härle, Dogmatik, 262ff. Jeder dieser Begriffe ist erklärungsbedürftig. 9 Dazu zählen Güte, Gerechtigkeit, Treue, Barmherzigkeit, Gnade u.a., aber auch Heiligkeit, Eifer, „Rache“, Zorn u.a., s. dazu Härle, Dogmatik, 270ff. 10 Härle, Dogmatik, 261 (Hervorhebung im Original). 11 S. dazu Dietrich / Link, Die dunklen Seiten Gottes, Bd. 1; dies., Die dunklen Seiten Gottes, Bd. 2; Wagner, Gottes Körper, 41ff.163ff u.ö.; Janowski / Scholtissek, Art. Eigenschaften Gottes, 147ff; Janowski, Gott und van Oorschot, Art. Anthropomorphismus. 12 S. dazu Jüngel, Anthropomorphismus, 110ff u.a. 13 Es gibt natürlich mehr als die genannten Belege. Zur Menschengestaltigkeit Gottes im Alten Testament s. Wagner, Gottes Körper, 135ff. Zum Herzen Gottes s. unten 118ff.

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nichts vom Alten Testament – vielleicht das sprachlose fascinosum und tremendum, vielleicht das totaliter aliter, die Negation, aber nicht einmal eine mathematische Formel und auch nicht die aristotelische Gedankenfigur des ,unbewegten Bewegers‘, nichts, woran der Mensch sich orientieren könnte“14.

Das wäre allerdings ein Desaster. Theologie muss deshalb „menschlich von Gott reden, da sie anders nicht reden kann. Man muß aber fragen, ob solche Begründung mit dem begrenzten menschlichen Vermögen überhaupt zureicht. Sie ist dann unzureichend, ja unangemessen, wenn sie unterstellt, dass die menschliche Rede von Gott nur ein Notbehelf sei, nur uneigentlich, nur um menschlicher Schwäche willen. Denn das bedeutete, dass von Gott ,wie er wirklich ist‘ (oder ähnlich) überhaupt nicht die Rede sein könnte. Das ist ein philosophisches Vorurteil (oder eine Errungenschaft philosophischer Theologie), aber nicht biblische Theologie.“15

Menschliches Reden von Gott ist nicht ein uneigentliches, sondern ein eigentliches, ja notwendiges Reden, das Gottes Gestalt und Handeln in Analogie zur Gestalt und zum Handeln des Menschen bringt, ohne Gott damit zu vermenschlichen oder zu vergegenständlichen. Das zeigen auch die folgenden Überlegungen zum Thema „Schmerz Gottes“ im Alten Testament. II.

Gottes Schmerz – Textbeispiele

Von den Gefühlen Gottes ist im Alten Testament ausführlich (am häufigsten in Dtn, Jes, Jer und Pss) die Rede. Dazu gehören nach M. Köhlmoos körperliche und emotionale Empfindungen:16 Körperliche Empfindungen Gottes (Wohl-)Behagen: Gen 8,21; Lev 26,31; Num 28,2 u.ö. (insgesamt 39-mal) Hunger: Ps 50,12 Sättigung: Jes 1,11 Müdigkeit/Erschöpfung: Jes 1,14; 7,13; 40,28; 43,24; Mal 2,1717 14 Hermisson, Theologie, 94. 15 Hermisson, Theologie, 89. 16 Zum Folgenden s. den Überblick bei Köhlmoos, Gottes Gefühle, 191ff und im Anschluss daran Wagner, Menschenkörper, 265ff, ferner Scharbert, Schmerz; ders., Art. Schmerz, 493f; Kumpmann, Schöpfen, 391ff und Janowski, Empathie, 175ff. 17 S. dazu Köhlmoos, Gottes Gefühle, 193f. Nach Köhlmoos fehlen dabei Durst, Kälte, Schmerz und Übelkeit.

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Emotionale Empfindungen / Zustände Gottes Interesse/Anteilnahme/Wohlwollen, Ablehnung/Widerwillen, Freude, Zorn, Verachtung, Ekel/Abscheu, Mitleid, Reue, Begehren, Hoffnung, Liebe, Hass, Eifersucht und Genugtuung18

Ob allerdings die Behauptung von Köhlmoos zutrifft, dass vom Schmerz und vom Leiden/Kummer Gottes im Alten Testament nicht gesprochen wird, ja ein leidender Gott „nicht denkbar“19 ist – warum eigentlich nicht? –, ist u.E. mehr als fraglich. Wichtig ist demgegenüber die Beobachtung von F. Hartenstein, dass „das Konzept des göttlichen ,Körpers‘ … als logisches Implikat personaler Gottesvorstellungen (erscheint)“20. Das trifft auch auf die im Folgenden zu besprechenden Texte zum Thema „Schmerz Gottes“ zu. 1.

Gott schmerzt die Bosheit seines Geschöpfs (Gen 6,5–8)

Eine zentrale Eigenschaft des biblischen Gottes ist sein Reden (vs. Schweigen), eine andere sein Gedenken (vs. Vergessen). Beide Eigenschaften begegnen bereits in der biblischen Urgeschichte.21 Das Reden und Gedenken sind aber nicht die einzigen (Re-)Aktionen Gottes in Gen 1–11. Ebenso bemerkenswert sind die Aussagen über seine „Reue“ und seinen „Schmerz“, die beide im Prolog (Gen 6,5–8) der nichtpriesterlichen Fluterzählung (Gen *6,5–8,22) begegnen und von einem dramatischen Wandel in Gott berichten. Danach „reute“ es JHWH, den Menschen, der seine schöpfungsgemäße Bestimmung durch seine „Bosheit“ pervertiert hatte, geschaffen zu haben, so dass er beschloss, ihn von der Erde auszutilgen, Noah aber von seinem Vernichtungsbeschluss auszunehmen: 5 Und JHWH sah, dass die Bosheit des Menschen zahlreich war auf der Erde und jedes Gebilde der Gedanken seines Herzens nur böse war alle Tage. 6 Da reute es JHWH, dass er den Menschen auf der Erde gemacht hatte, und es schmerzte ihn in seinem Herzen.22 18 S. dazu Köhlmoos, Gottes Gefühle, 194ff.214f. Nach Köhlmoos fehlen dabei Leid/Kummer/Sorge, Überraschung, Scham, Schuld, Furcht, Erstaunen, Verwirrung, Neugier, Sehnsucht, Heiterkeit, Begeisterung und Neid. 19 Köhlmoos, Gottes Gefühle, 215. 20 Hartenstein, Angesicht JHWHs, 284f, vgl. im Anschluss daran auch Köhlmoos, Gottes Gefühle, 213. 21 S. dazu Janowski, Erinnerung, 183ff. Im Folgenden nehme ich einige Überlegungen aus Janowski, Empathie, 175ff auf und führe sie weiter. 22 Wörtlich: „es schmerzte ihn (bx[ hitp.) zu (la) seinem Herzen hin“, vgl. Ges18, 999 s.v. bx[2 hitp. Die Präposition la bezeichnet die Richtung zu dem Ort bzw.

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7 Und JHWH sprach: „Ich will austilgen den Menschen, den ich geschaffen habe, von der Oberfläche des Ackerbodens, vom Menschen bis zum Vieh, bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln der Himmels, denn es reut mich, dass ich sie [ihn] gemacht habe.“ 8 Noah aber fand Gnade in den Augen JHWHs.23

Dieser Text gewährt nicht nur einen „Blick in das bekümmerte Herz Gottes“ (V. 6), sondern setzt auch mit dem Topos der Aufmerksamkeit Gottes ein, der die umfassende, im Herzen (bl)24 lokalisierte „Bosheit“ seines Geschöpfs „sieht“ (har V. 5). Ebenso wenig wie diese Bosheit etwas Peripheres ist – es geht vielmehr um „die ethische Qualität der im Herzen, also dem Verstand und Willen des Menschen gründenden Handlungsentwürfe und deren Folgen25 –, ebenso wenig ist es die göttliche Reaktion, die nach V. 6b ihren Ort ebenfalls im Herzen hat. So steht das göttliche gegen das menschliche Herz, und diese Konfrontation scheint total und unwiderruflich zu sein. Denn es droht, wie die in V. 6a formulierte Zuordnung der Reue Gottes zur Erschaffung des Menschen zeigt, nichts weniger als die Rücknahme der geschöpflichen Konstitution des Menschen durch ein Gerichtshandeln Gottes (s. auch die folgende Aufbauskizze). Für unser Thema sind dabei die beiden Verben μjn nif. (V. 6a.7b) und bx[ hitp. (V. 6b) relevant. Hinsichtlich der Übersetzung von μjn nif. mit „bereuen, Reue empfinden, sich etwas leid sein lassen“ gibt es einen breiten Konsens.26 Dabei ist zu beachten, dass JHWH nicht sein vergangenes Schöpfungshandeln als solches bereut, sondern allein das Resultat dessen, was durch das Fehlverhalten des von ihm erschaffenen Menschen aus seiner Schöpfung geworden ist. Weil JHWH dies „sah“ (V. 5), „reute“ es ihn, dass er den Menschen auf der Erde gemacht hatte (V. 6a). Die Schöpfung ist durch die „Bosheit“ des Menschen zwar verunstaltet, sie wird durch die „Reue“ des Körperorgan hin, in dem der Vernichtungsbeschluss JHWHs (V. 7) gefasst wird, vgl. Jacob, Genesis, 181; Ebach, Noah, 46; Gertz, Genesis 1–11, 239ff und Fischer, Genesis 1–11, 367.384. Zur Konstruktion s. auch 1 Sam 20,34 vom Schmerz Jonathans: „denn es schmerzte ihn (bx[ nif.) hin zu (la) David“. Anders 2 Sam 19,3: „Der König grämte sich um (bx[ nif. + l[) seinen Sohn“. 23 Der Relativsatz V. 7aa und die Aufzählung der Lebewesen V. 7abg (jeweils kursiv) dürften endredaktionell sein, s. dazu Arneth, Adams Fall, 174ff und Gertz, Genesis 1–11, 218. 24 Zur emotionalen, kognitiven und voluntativen Bedeutung von bl/bbl „Herz“ s. Fabry, Art. bl÷bbl, 413ff; Janowski, Herz, 31ff, ferner Krüger, „Herz“, 91ff. 25 Arneth, Adams Fall, 176 Anm. 234. 26 Zur Bedeutung von μjn nif. s. Jeremias, Reue Gottes, 15ff.124ff; Oberforcher, Flutprologe, 136ff; Willi-Plein, Hiobs Widerruf?, 137ff; Seifert, Metaphorisches Reden, 220ff; Gertz, Beobachtungen, 55ff und Döhling, Gott, passim.

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Schöpfers aber nicht revoziert. Demgegenüber bestehen Differenzen im Blick auf die Übersetzung von bx[ hitp. in V. 6b mit „sich bekümmern, betrüben“ bzw. „Schmerz empfinden“ oder mit „zornig werden“. Da die Übersetzung „zornig, wütend werden“ u.E. nicht plausibel zu machen ist,27 bleiben wir bei der Übersetzung „Schmerz empfinden“. Das Verb zeigt einen „Zustand psychischer und emotionaler Not“, also eine „innere und ernste Gemütsbewegung“ 28 an. Exposition 5 Wahrnehmung menschlicher Bosheit (in ihrem Herzen) durch JHWH

Sehen JHWHs

Reaktion JHWHs 6 Reue und Schmerz a Reue (μjn nif.) Zuordnung zur Erschaffung des Menschen (2,4bff) b Schmerz (bx[ hitp.) emotionale Betroffenheit JHWHs in seinem Herzen 7 Vernichtungsbeschluss a Urteil: Austilgung aktive Reaktion JHWHs b Begründung: Reue (μjn nif.) Zuordnung zur Erschaffung des Menschen (2,4bff) Kontrapunkt 8 Begnadigung Noahs durch JHWH

Augen JHWHs

Skizze zur Komposition von Gen 6,5–8

Neben der Frage nach der Bedeutung von μjn nif. und bx[ hitp. stellt sich die weitere Frage, wie die „Reue“ und der „Schmerz“ JHWHs in Gen 6,6 aufeinander bezogen sind. Die Reaktion JHWHs (V. 6) korrespondiert dabei dem Ausmaß („zahlreich“) und der Totalität („alle Tage“) der menschlichen Bosheit (V. 5). Beide Handlungsweisen, die menschliche Aktion wie die göttliche Reaktion, sind im menschlichen / göttlichen Herzen (bl) als dem Ort des emotionalen, kognitiven und voluntativen Aktionszentrums verankert. Dabei ist V. 6a auch inhaltlich auf V. 5 zurückbezogen, was durch die Zuordnung der Reue Gottes zur Erschaffung des Menschen (vgl. Gen 2,4bff) explizit gemacht wird. 27 S. dazu ausführlich Janowski, Empathie, 178ff, vgl. Berges, Zorn Gottes, 312. 28 Meyers, Art. bx'[;, 299, vgl. Jacob, Genesis, 181; Oberforcher, Flutprologe, 141ff; Ruppert, Genesis, 318 und Baumgart, Umkehr, 137.

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Die „Reue“ JHWHs hat also einen negativen Schöpfungsbezug, weil der Schöpfer auf seine Geschöpfe mit einem Akt reagiert, der Endgültigkeitscharakter zu haben scheint. Die Fortführung dieser „Reue“ durch den „Schmerz“ JHWHs in V. 6b bezieht sich zum einen auf die menschliche Bosheit samt JHWHs Reaktion darauf. Zum anderen dürfte sie zu der drohenden Vernichtung der Menschheit überleiten, die in V. 7 von JHWH in direkter Rede angekündigt wird – „nicht mit kaltblütiger Gleichgültigkeit“29, sondern unter Schmerzen, d.h. in einem „Zustand psychischer und emotionaler Not“30. Insofern lässt sich die These vertreten, dass sich JHWH „in tiefer Anteilnahme … zur Vernichtung der Menschheit durch(ringt)“31 und sein „Schmerz“ einen neuen, wichtigen Aspekt ins biblische Gottesbild einträgt. Um unsere Überlegungen abzurunden, müssen wir noch den Bogen zum Epilog der nichtpriesterlichen Fluterzählung in Gen 8,20–22 schlagen, demzufolge JHWH seinem Vernichtungshandeln Schranken auferlegt und damit den Fortbestand der Erde und ihrer grundlegenden Lebensrhythmen zusichert – obwohl die Bosheit des Menschen unverändert weiterbesteht. Der Text setzt mit dem Altarbau Noahs und der Darbringung von Brandopfern ein, die JHWH, der ihren „lieblichen Duft“ riecht, zu einem folgenreichen Entschluss motiviert. Abermals spielt dabei das göttliche „Herz“ (vgl. Gen 6,6b) eine zentrale Rolle: 20

21

22

Und Noah baute einen Altar für JHWH und nahm von allem reinen Vieh und von allen reinen Vögeln und ließ Brandopfer aufsteigen auf dem Altar. Da roch JHWH den lieblichen Duft, und er sagte zu seinem Herzen (bl): „Ich will nicht noch einmal den Ackerboden um des Menschen willen verfluchen, denn das Gebilde des Herzens des Menschen ist böse von Jugend auf, und ich will nicht noch einmal alles Lebendige schlagen, wie ich es getan habe. Während aller Tage der Erde (gilt): Saat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht sollen nicht aufhören.“

Rückbezug auf Gen 3,17 Gen 6,5 Gen *6,5–8,13

Dieser Text markiert nichts weniger als eine „Zeitenwende“32 von der Vernichtung zur Bewahrung der Schöpfung. Dabei wird die bindende Zusage 29 30 31 32

Delitzsch, Genesis,153, vgl. von Rad, 1. Buch Mose, 87. Meyers, Art. bx'[;, 299 und die Hinweise oben Anm. 28. Berges, Zorn Gottes, 312, vgl. Baumgart, Umkehr, 135ff. Vgl. Baumgart, Umkehr, 165, vgl. 152.

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JHWHs in dem „schwurartigen Satz“ V. 21b.2233 durch zwei parallele Satzreihen ausgedrückt (V. 21ab.b),34 die sich zum einen auf die Paradies- und Fluterzählung zurück beziehen und zum anderen jeweils durch einen Nebensatz erweitert sind.

In der biblischen Urgeschichte, so können wir resümieren, ist nur an zwei Stellen, nämlich in Gen 6,6b und in Gen 8,21a, vom Herzen Gottes die Rede. Und an beiden Stellen steht die Wendung „zu seinem Herzen (hin)“. Ist der Schmerz von dem in Gen 6,6 die Rede ist, physischer oder geistiger Natur? Anders gesagt: Hat Gott im physischen Sinn Herzschmerzen wegen der Bosheit seiner Geschöpfe oder verursacht diese Bosheit bei ihm eine emotionale Not, entsprechend der Wendung: „Es tut mir im Herzen weh/leid“? Das ist möglicherweise eine falsche Alternative. Es liegt jedenfalls auf der Hand, warum innere Organe wie das Herz zum Ort von Gefühlen/Emotionen werden, und zwar deswegen, „weil sie dort physisch erfahren werden“35. Und sie werden dort physisch erfahren, weil das Herz – im Alten Testament das Zentralorgan des Menschen – ein physiologisch empfindliches Organ ist.36 Zu diesem spezifischen Bedeutungsfeld „geistiger Schmerz“ sind nun noch die Belege zu beachten, in denen das Verb bx[ „sich bekümmern, Schmerz empfinden“ und das Nomen tbx[ „Kummer, Schmerz“ außer mit dem „Herzen“ (bl) wie in Gen 6,6 noch mit dem „Geist“ (jwr) verbunden werden wie in Jes 54,6; 63,10 und Spr 15,13: Denn wie eine verlassene Frau, eine tief gekränkte (jwr tbwx[),37 hat dich (sc. Zion) JHWH gerufen. (Jes 54,6) Aber sie (sc. Die Israeliten) lehnten sich auf und kränkten (bx[ pi.) seinen (sc. JHWHs) heiligen Geist (vdq jwr). (Jes 63,10) Ein frohes Herz (jmc bl) macht das Angesicht schön, aber durch Kummer des Herzens (blAtbx[) (entsteht) ein niedergeschlagener Geist (hakn jwr). (Spr 15,13)

Zurück zu Gen 6,6 und Gen 8,21. Die Rede vom Herzen Gottes bringt die „Vehemenz seiner Menschenfreundlichkeit“38 zum Aus33 S. zur Einzelinterpretation Baumgart, Umkehr, 152ff. 34 S. dazu Jeremias, Reue Gottes, 24 mit Anm.13. 35 Smith, Herz, 175. 36 S. dazu Janowski, Herz, 43f. 37 Oder: „eine in der Lebenskraft verletzte (Frau)“, vgl. Hermisson, Deuterojesaja, 511 mit dem Hinweis auf die jwr-Belege Jes 42,5 und Ps 104,30. 38 Wolff, Anthropologie, 98, vgl. Fabry, Art. bl÷bbl, 448.

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druck und zeigt, dass es um „eine substantielle Veränderung im Verhältnis des Schöpfers zu seinen Geschöpfen“39 geht. Wie substantiell diese ist, zeigt sich in Gen 8,20–22. Denn hier wird klar, dass die Flut nicht den Menschen, sondern Gott verändert hat,40 weil dieser seine „Reue“ über die Erschaffung des fehlbaren Menschen durch „Umkehr“ zu überwinden vermochte.41 Es ist nicht übertrieben, hier von einer dramatischen Transformation des biblischen Gottesbilds42 zu sprechen. 2.

Gottes Herz kehrt sich gegen ihn selbst (Hos 11,*7–11)

Wie wir sahen, erzählt die nichtpriesterliche Fluterzählung in Gen *6,5–8,22 von der Umkehr Gottes in Form eines dramatischen Wandels von der Vernichtung zur Bewahrung der Schöpfung. Dieser Wandel ist ein Zwillingbruder des „Herzensumsturzes“ Gottes, von dem in Hos 11,7–1143 die Rede ist: Anklage gegen „mein Volk“ 7 Aber mein Volk bleibt verstrickt in die Abkehr von mir: zum „Hohen“ rufen sie; ‹der› bringt ‹sie› nie und nimmer hoch.

Willenswandel in Gott und Rücknahme seines Zorns 8 Wie könnte ich dich preisgeben, Ephraim, dich ausliefern, Israel? Wie könnte ich dich preisgeben wie Adma, dich zurichten wie Zeboim? Mein Herz hat sich in mir umgewandt, mit Macht sind meine Mitleidsregungen entbrannt.44 9 Ich kann meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken, kann Ephraim nicht wieder verderben: Denn Gott bin ich, nicht Mensch, in deiner Mitte der Heilige: Ich lasse Zornesglut nicht aufkommen.

39 Baumgart, Ende, 35. 40 Vgl. Perlitt, 1 Mose 8,15–22, 393, vgl. Jeremias, Reue Gottes, 26f und Baumgart, Umkehr, 166. 41 S. dazu ausführlich Baumgart, Umkehr, 163ff, ferner Hartenstein, Zumutung, 443f. 42 Vgl. Gertz, Noah, 517. 43 S. dazu Jeremias, Reue Gottes, 52ff, ferner Döhling, Gott, 304ff. 44 Zu niªûmîm im Sinn von „Mitleiden, Erbarmen“ s. Seifert, Metaphorisches Reden, 220ff und Ges18, 805 s.v. niªûmîm. Döhling, Gott, 309f übersetzt mit „Reueaufwallungen“.

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Später Kommentar 10

Hinter JHWH werden sie herziehen, der wie ein Löwe brüllt. Wenn er brüllt, kehren bebend die Söhne aus dem Westen zurück.

Folge des göttlichen Willenswandels 11

Bebend kehren sie aus Ägypten zurück wie Vögel, wie Tauben aus dem Land Assur. Zu ihren Häusern lasse ich sie ‹heimkehren›, spricht JHWH.

Israel, so urteilt dieser Text, hat sich nicht gewandelt (vgl. V. 7), wohl aber Gott selber (V. 8f). An die Stelle eines zu erwartenden Gerichtsworts tritt darum die „göttliche Erklärung des Strafverzichts“45: Mein Herz hat sich in mir umgewandt, mit Macht sind meine Mitleidsregungen (niªûmîm) entbrannt. (V. 8)

Ausgelöst ist diese Rücknahme des Vernichtungsbeschlusses durch einen ,Herzensumsturz‘, der zu einem Willenswandel in Gott führt. Die rettende Gerechtigkeit – die hier ganz im Zeichen der brennenden Liebe Gottes zu seinem Volk steht – rettet also nicht nur vor Unrecht (Unterdrückung, Gewalt, Verfolgung), sondern auch vor Recht – sogar vor dem Recht eines Gottes, der Grund zur Unnachgiebigkeit hätte, sich aber ,selbst beherrscht‘ bzw. erbarmt: „Diese Selbstbeherrschung Gottes ist in Israels Verhalten ganz und gar nicht begründet (V. 7!), sondern nur in Gott selber, der sein schon verlorenes Volk nicht preiszugeben vermag. Es ist im Blick auf Israel Gottes Rettungswille, die letzte Möglichkeit Gottes, seine Menschen trotz übergroßer Schuld noch zu verschonen. So schreitet Gott gegen sich selbst ein; in letzter Stunde fällt er dem eigenen Gerichtswillen in den Arm.“46

Indem JHWH seinen Zorn gegen sich selbst wendet, verwandelt er dessen Energie in eine Kraft zur Rettung Israels. Damit ist ein Maßstab für die Rede von der Barmherzigkeit Gottes gefunden, die zwar immer wieder überdeckt, aber nicht mehr verlorengehen wird. Diese Perspektive hat sich zunächst allerdings nicht bewahrheitet, da das angesprochene Nordreich 722 v.Chr. untergegangen ist. Aber schon auf der 45 Jeremias, Hosea, 145. 46 Jeremias, Hosea, 145f, vgl. ders., Theologie, 144f.296f.489f und Seifert, Metaphorisches Reden, 222f u.a.

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Buchebene beginnt und endet das folgende Kapitel Hos 12, „als stünde Kap.11 (bes. 11,8–11) nicht im Hoseabuch“47. A. Schart versucht das damit zu erklären, „daß Hos 11,8-9.11 im Sinne der Tradenten nur ein vorübergehendes Ablassen Jahwes von seinem Zorn darstellen. Sollte dies richtig sein, so haben die Tradenten die Globalstruktur von Hos nach einem Schema gestaltet, das schon die Grundstruktur des den Amos-Tradenten vorgegebenen Visionszyklus prägt. (…) Damit soll in beiden Schriften gezeigt werden, daß Jahwes Strafgericht erst eintritt, nachdem Jahwes Mitleid bis aufs Äußerste strapaziert worden ist“48. Eine Variante – oder im Sinn der These A. Scharts gar eine Voraussetzung – der hoseanischen Theologie der Barmherzigkeit Gottes liegt im Visionenzyklus Am 7–9*49 vor. Während JHWH nach dem ersten Visionspaar (Am 7,1–3.4–6) seinen über Israel beschlossenen Vernichtungsplan zurücknimmt, indem er sich durch die Fürbitte des Propheten zur „Reue“ bewegen lässt (7,3.6), wird das göttliche Erbarmen ab der 3. Vision (Am 7,7f), die mit der 4. Vision (Am 8,1f) ebenfalls ein Paar bildet, als überholt angesehen, weil JHWH „nicht länger (schonend) an ihm (sc. Israel) vorübergehen kann“ (7,8; 8,2). Die „Reue“, die nicht durch den prophetischen Appell an Gottes Gerechtigkeit, sondern an sein Mitleid zustande kommt, ist „ein äußerstes Mittel Gottes, das überaus schuldige Israel noch einmal zu bewahren«50. Die Reue Gottes bewirkt nach diesem Zusammenhang nicht die Tilgung der Schuld, ist also nicht Vergebung, sondern sie bewirkt die befristete Aussetzung des göttlichen Vernichtungsbeschlusses.

3.

Gott weint über sein abtrünniges Volk (Jer 14,13–18)

In der sakralen Topographie Jerusalems gibt es am Westabhang des Ölbergs eine Kustodie der Franziskaner namens Dominus Flevit („Der Herr hat geweint“), die der Überlieferung nach an dem Ort steht, an dem der lukanische Jesus über Jerusalem geweint hat: (41) Als er (sc. Jesus) näher kam, sah er die Stadt, weinte über sie (42) und sprach: Wenn doch selbst du an diesem Tag hättest erkennen können, was zum Frieden führt … (Lk 19,41f)51

Eine ähnlich heftige Gemütsbewegung, aber dieses Mal von Gott, findet sich auch im Jeremiabuch, und zwar in Jer 9,9f und in Jer 14,17f. So heißt es am Ende der Klage Gottes in Jer 9,6–1052: 47 Jeremias, Hosea, 149. 48 Schart, Entstehung, 144. 49 S. dazu Jeremias, Reue Gottes, 40ff.135ff und ders., Amos, 94ff. 50 Jeremias, Reue Gottes, 137. 51 S. dazu Bovon, Lukas IV, 43f und zur Lage und zum Namen von Dominus Flevit Küchler, Jerusalem, 831ff. 52 Zu Gott als Sprecher von Jer 9,1–10 s. Fischer, Jeremia 1–25, 343ff.349ff. 354ff, anders z.B. Finsterbusch / Jacoby, MT-Jeremia, 123 mit Anm. 477 (Jeremia

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Über die Berge will ich erheben Weinen (ykb) und Wehklage (yhn) und über die Weideplätze der Wüste ein Leichenlied (hnyq), denn sie (sc. die Weideplätze) sind angezündet worden ohne einen vorbeiziehenden Menschen, und nicht haben sie die Stimme von Vieh vernommen. Von den Vögeln des Himmels und bis zu (anderen) Tieren, sie sind geflüchtet, sind gegangen. Und ich werde machen Jerusalem zu Steinhaufen, zu einer Wohnung von Schakalen, und die Städte Judas werde ich machen zur Einöde, ohne einen Bewohner.

„Die ganze Zerrissenheit Gottes“, so kommentiert G. Fischer, „spiegelt sich … in V9f mit ihrer Mischung von Klage und Gericht. Er möchte nun intensiv trauern, wie die menschliche Person in 8,21.23, über den Niedergang der ländlichen Gegenden (V9); bei den Städten aber bewirkt er ihn selber“53.

Der zweite Text ist Jer 14,14–18, die Antwort JHWHs auf den Einwand Jeremias (Jer 14,13), dass allein die Heilspropheten Schuld am Untergang Jerusalems haben.54 Dieser Dialog von Prophet und Gott hat folgenden Aufbau: 13 14ff

Jeremias Einwand: Entschuldigung des Volkes durch Verweis auf die Heilspropheten (mit Zitat) Gottes abweisende Antwort an Jeremia 14f Das Ende der Heilspropheten 14 Schuldaufweis 15 Gerichtsankündigung 16 Das Ende des Volkes: Männer, Frauen, Söhne, Töchter 17f Gottes Leiden am Schicksal des Volkes (mit Redeauftrag an den Propheten) 17 Klage 18 Notschilderung

Auch der Passus über das Leiden JHWHs am Schicksal seines Volkes zeichnet ein Gottesbild, das an Empathie kaum zu überbieten ist: als Sprecher), die die Unterbrechung der Gottesrede 9,6–10 durch V. 9 (Jeremia als Sprecher) aber nicht plausibilisieren können, s. dazu im Folgenden. 53 Fischer, Jeremia 1–25, 354. Zu Jer 8,23 s. im Folgenden. 54 S. dazu Fischer, Jeremia 1–25, 481ff und Schmidt, Jeremia 1–20, 271f, ferner die Textdarbietung (MT / LXX) bei Finsterbusch / Jabcoby, MT-Jeremia, 167ff.

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Und du sollst sprechen zu ihnen (sc. den Propheten) dieses Wort: „Meine Augen fließen über von Tränen (h[md) Nacht und Tag, und sie sollen nicht zur Ruhe kommen, denn einen großen Zusammenbruch erlitt die Jungfrau-Tochter-meines-Volkes,55 einen sehr schlimmen Schlag!

18

Wenn ich hinausgegangen bin auf das Feld, und siehe: Schwert-Durchbohrte! Und wenn ich gekommen bin in die Stadt, und siehe: Hunger-Qualen! Fürwahr, sowohl Prophet als auch Priester sind gezogen in ein Land, und sie haben (es) nicht gekannt.

Diese Verse, denen zufolge Gott in der Redeeinleitung (V. 17aa) den Propheten instruiert, dem Volk seine innere Erschütterung mitzuteilen, sind singulär im Alten Testament. Gott weint wie Menschen weinen: seine Augen fließen über von Tränen56 und zwar unaufhörlich, Nacht und Tag. Der Grund ist der große Zusammenbruch // der sehr schlimme Schlag, der von Gott außen (Feld) wie innen (Stadt) wahrgenommen wird und der auch Prophet und Priester betrifft (Verbannung? Orientierungslosigkeit?).57 Es ist nicht überraschend, dass Trauer und Leid eng mit den Augen verbunden sind, denn „tears being an obvious result of distress“58, wie im Kontext von Jer 8,21–9,2a auch die Klage des Propheten in Jer 8,23 belegt: Wer gäbe (es), mein Kopf (wäre) Wasser (μym) und meine Augen (wären) eine Quelle von Tränen (h[md rwqm), und ich wollte beweinen (hkb) Tag und Nacht die Erschlagenen der Tochter-meines-Volkes.

Die Frage, ob Gott oder der Prophet der Sprecher von Jer 9,9f und 14,17f ist, wird allerdings kontrovers beantwortet.59 In den meisten Fällen ist dabei ein bestimmtes „Jeremiabild“ für die Annahme eines menschlichen Sprechers verantwortlich.60 So führen etwa K. Finster55 Zu dieser Wendung s. Finsterbusch / Jacoby, MT-Jeremia, 75 Anm. 220. 56 Wörtlich: „Es steigen herab meine Augen von Tränen“, vgl. Jer 9,17; 13,17; Ps 119,136; Klgl 1,16; 3,48f u.ö., s. dazu GK28 § 117 z und Thomas, Idiom, 35f. 57 Zum Verständnis von V. 1, Fischer, Jeremia 1–25, 485 und Häusl, Bilder, 267 Anm. 129. 58 Thomas, Idiom, 35. 59 S. dazu bereits Roberts, Motif, 132ff. 60 So Häusl, Bilder, 266.

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busch / N. Jacoby zwei Gründe dafür an, dass an beiden Stellen nur der Prophet und nicht Gott der Sprecher sein könne. Der erste Grund ist den beiden Autoren zufolge die „Metaphorik“, d.h. die anthropomorphe Begrifflichkeit, die für das Ich des Propheten spricht. Das wird für Jer 8,23 zutreffen,61 auch wenn u.E. dafür eher der Gesamtduktus von Jer 8,21–9,2a und hier besonders die Wendungen von 8,21 („Über dem Zusammenbruch der Tochtermeines-Volkes bin ich zusammengebrochen, bin ich finster geworden, Entsetzenstarrendes hat mich ergriffen“) und von 9,1a („Wer gäbe mir in der Wüste ein Nachtquartier für Wanderer, und ich wollte verlassen mein Volk und weggehen von ihm?“)62 in Frage kommen. „Anthropomorphe Begrifflichkeit“ allein ist noch kein stichhaltiger Einwand gegen Gott als Sprecher der Klagen von Jer 9,9f und 14,17f. Auch der zweite Grund, den Finsterbusch / Jacoby anführen – „Die Aussagen der Bewegung in [Jer 14] V. 18 weisen ebenfalls auf Jeremia als Sprecher“63 – kann nicht überzeugen. Denn das Syntagma Verben der Bewegung + Subj. Gott ist im Alten Testament breit belegt. Hier eine kleine Auswahl:64 – awb „kommen, hineingehen“: Ex 20,24; Dtn 33,2; 1 Sam 4,7; Ps 24,7.9; 50,3 u.ö. – ˚lh „gehen“: Gen 3,8 (hip.); 18,33 u.ö. – dry „hinabsteigen“: Gen 11,5; Mi 1,3 u.ö. – axy „hinausgehen“: Ri 5,4; Mi 1,3; Hab 3,13; Ps 68,8 u.ö. – hl[ „hinaufsteigen“: Ps 47,6 u.ö. – rb[ „vorübergehen“: 1 Kön 19,11 u.ö. – d[x „einherschreiten“: Ri 5,4; Hab 3,12; Ps 68,8 u.ö.

Aufgrund dieser Überlegungen gibt es keinen Grund, Gott nicht als Sprecher von Jer 9,9f und 14,17f anzunehmen, im Gegenteil. Auch die Redeeinleitung V. 17aa („Und du sollst sprechen zu ihnen [sc. den Heilspropheten] dieses Wort“) unterstützt diese These, denn durch sie wird die folgende Klage als JHWH-Klage ausgewiesen.65 61 So Finsterbusch / Jacoby, MT-Jeremia, 119 Anm. 459, s. dazu auch Finsterbusch, JHWH-Rede, 9 (dort auch der Ausdruck „anthropomorphe Begrifflichkeit“) und Fischer, Jeremia 1–25, 347. 62 Möglicherweise ist Jer 9,1 aber der Einleitungsvers der Gottesrede Jer 9,1–10, s. dazu oben Anm. 52. 63 Finsterbusch / Jacoby, MT-Jeremia, 169 Anm. 701, 64 S. dazu Jeremias, Theophanie, 232 (Register); Jenni, „Kommen“, 25ff und die entsprechenden Artikel in THAT und ThWAT (jeweils mit weiterer Lit.). 65 Vgl. Fischer, Jeremia 1–25, 484 („Die Aufforderung ,und du sollst sagen‘ bezog sich bisher immer [seit 3,12 achtmal] auf im Folgenden mitgeteilte Worte“) und Häusl, Bilder, 266. Das gilt auch, wenn V. 17aa redaktionell sein sollte.

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Für das Motiv des göttlichen Weinens hat bereits J.J.M. Roberts auf altorientalische Sachparallelen hingewiesen.66 In Frage kommen vor allem die fünf sumerischen Stadtklagen über die Zerstörung von Ur, Sumer und Ur, Nippur, Uruk und Eridu sowie die balag und erçemma-Lieder.67 Die aus der Zeit der Dynastie von Isin (19. Jh. v.Chr.) stammenden sumerischen Stadtklagen beziehen sich auf den Untergang einer Stadt, deren katastrophales Geschick in drastischen Bildern ausgemalt wird. Als Beispiel sei die Klage über den Untergang von Ur Z. 205–249 genannt.68 Entsprechend heftig ist die Reaktion der Schutzgottheiten, die die Stadt verlassen haben und die das durch die Willkür der Götter, besonders Enlils und Ans, herbeigeführte Leid beklagen. Bevor die klagende Göttin Ningal ins Blickfeld rückt, wendet sich der Dichter in direkter Rede an die Stadt Ur und beklagt sie: O Stadt, bitter ist die Klage um dich geworden, bitter ist, o Stadt, die Klage um dich geworden. Um die gute Stadt, die zerstört worden ist, erhebt sich bittere Klage, um Ur, das ihr zerstört worden ist, erhebt sich bittere Klage. Bitter ist, o Stadt, die Klage um dich geworden, um Ur, das zerstört worden ist, erhebt sich bittere Klage. Bis wann wird die bittere Klage um dich die Herrin, die um dich weint, bedrücken? Bis wann wird die bittere Klage um dich Nanna, der um dich weint, bedrücken? (Z. 40–47, vgl. Z. 65–72)69 Mit Z. 77–84 verschiebt sich der Fokus von der Stadt und ihrer Klage zur Klage der Göttin, die in Z. 88–101 eine intensive Beschreibung ihrer Furcht gibt: Ein Tag ist mir verhängt, die Klage darob mir auferlegt, dass ich mich wegen dieses Tages betrübe, ist mir, der (hohen) Frau, ein Tag verhängt, die Klage mir darob auferlegt, ist mir ein Tag verhängt, die Klage darob mir auferlegt. (…) Des Nachts ist mir bittere Klage verhängt, ich zittere vor dieser Nacht, komme nicht an gegen die Macht dieser Nacht, die Furcht vor diesem Tag. Der alles wie ein Orkan vernichtet, ist mir auferlegt, 66 S. dazu Roberts, Motif, 135ff. 67 S. dazu den Überblick bei Koenen, Art. Stadtklagen und Berges, Klagelieder, 46ff, ferner die Studien von Dobbs-Allsopp, Weep, 30ff; Wischnowsky, Tochter Zion, 18ff und die Textauswahl in SAHG 192ff und bei Hays, Hidden Riches, 397ff. 68 S. dazu die Übersetzung in SAHG, 201ff (Falkenstein). 69 Übersetzung SAHG, 194 (Falkenstein).

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ist mir ob seiner … die Ruhe des nächtlichen Lagers, des nächtlichen Lagers verleidet, ist ob seiner … die Stille meines nächtlichen Lagers dahin. (Z. 88–91.96–101)70 Ningal, die ihre Ruhestätte verloren hat und heimatlos in die Steppe gegangen ist (Z. 286–327), verleiht ihrer Klage durch die Selbstminderungsriten des Raufens der Haare und des Schlagens der Brust lebhaften Ausdruck. Auch hier spielt das Weinen wieder eine Rolle: Sie rauft ihr Haupthaar wie Schilfstengel aus, Schlägt ihre Brust als wäre sie eine Trommel, ruft „Ach um meine Stadt!“, Ihre Augen stehen voll Tränen, bitterlich weint sie. (Z. 299–301, vgl. Z. 154f)71 Auch wenn von einer literarischen Abhängigkeit der alttestamentlichen von den mesopotamischen Texten nicht die Rede sein kann,72 sind die sachlichen Parallelen doch sehr aufschlussreich.73 Das gilt auch für zwei mesopotamische Sachparallelen zur nichtpriesterlichen Fluterzählung – das altbabylonische AtramΔas⁄s-Epos (III iv 4ff: Klage der Muttergöttin Nintu mit dem Motiv des Weinens über die Vernichtung der Menschheit) und die ninivitische Version des Gilgamesch-Epos Taf. XI, 114–127: Klagen und Weinen der Muttergöttin Belet-ili „Herrin der Götter“ nach der Flut) –, auf die ich an anderer Stelle eingegangen bin.74

Tief bewegt, so können wir resümieren, nimmt JHWH Anteil am Schicksal seines Volkes. Die emotionale Haltung Gottes, von der Jer 9,9f und 14,17f sprechen, „ist weit davon entfernt, Freude über das schwere Geschick seines Volkes zu empfinden. Im Gegenteil, er identifiziert sich noch mit ihm, ist ohne Unterlaß seinetwegen weinend und möchte auch diese Betrübnis bewahren“75. Das Motiv des weinenden und klagenden Gottes stellt einen Höhepunkt des Jeremiabuchs dar, weil es einen Blick in die Gefühlswelt Gottes gewährt und damit – trotz der düsteren Gerichtsbilder von Jer 9,10 und 14,16 – in einer vorher nicht gekannten Weise Gottes Mitleiden zum Thema macht.

70 Übersetzung SAHG, 196f (Falkenstein). 71 Übersetzung SAHG, 206 (Falkenstein). 72 S. dazu Koenen, Art. Stadtklagen u.a. 73 S. dazu die ausführliche Tabelle bei Dobbs-Allsopp, Weep, 167ff (zum Motiv „Weeping and Mourning Gestures“ s. 178). 74 S. dazu Janowski, Empathie, 193ff. 75 Fischer, Jeremia 1–25, 484f (Hervorhebung im Original), vgl. 355f.

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III.

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Der menschengestaltige Gott – Resümee

Der Gott des Alten Testaments, das zeigen nicht zuletzt die Texte zum Thema „Schmerz Gottes“, ist ein empathischer und kein apathischer Gott. Die christliche Theologie hat nicht nur lange gebraucht, um diesen Sachverhalt in den Blick zu nehmen, zu guten Teilen arbeitet sie noch immer mit dem Modell des „Gottes der Philosophen“76. Demgegenüber zeigt die nichtpriesterliche Fluterzählung, dass der biblische Gott ein Gott ist, der seiner Schöpfung zugewandt bleibt, der sich durch sie affizieren lässt und der am Fehlverhalten seiner Geschöpfe leidet: „Wäre Gott in jeder Hinsicht leidensunfähig, dann wäre er auch liebesunfähig. Er wäre allenfalls fähig, sich selbst, nicht aber anderes als sich selbst zu lieben, wie Aristoteles sagt. Ist er aber fähig, anderes zu lieben, dann öffnet er sich selbst den Leiden, die ihm die Liebe zu anderen einträgt, und bleibt dem Schmerz, der dadurch entsteht, doch kraft seiner Liebe überlegen. Gott leidet nicht wie die Kreatur aus Mangel an Sein. Insofern ist er apathisch. Er leidet aber an seiner Liebe, die der Überfluß seines Seins ist. Insofern ist er pathisch.“77

Im Gegensatz zur philosophischen Reinigung des Gottesbildes durch das Apathie-Axiom78 sind die Aussagen über die Empathie Gottes konstitutiv für das biblische Gottesverständnis. Dennoch bleibt die eingangs gestellte Frage, ob die Körperlichkeit Gottes, wie sie in den anthropomorphen Gottesbeschreibungen zum Ausdruck kommt, mehr als eine Funktionsaussage ist. Dazu abschließend drei Bemerkungen 1. Der Ausdruck „Funktionsaussage“ bedeutet, dass ein bestimmter Körperteil eine bestimmte gestisch-funktionale Bedeutung hat wie etwa die Hand, die dem Funktionsbereich „Handlung“ (Macht, Tatkraft [Verfügungs-]Gewalt), oder die Augen, die dem Funktionsbereich „Kommunikation“ (Erkenntnis-, soziales Kommunikationsvermögen, Aufmerksamkeit) zugehören.79 Beide Charakteristika zeigen: 76 Diese Formulierung geht bekanntlich auf Pascal zurück, der auf einem am 23.11.1654 verfassten „Gedenkblatt“ (Mémorial) den „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ dem „Gott der Philosophen und der Gelehrten“ gegenübergestellt hat, s. dazu Pascal, Gedanken, 212 (mit dem Kommentar 397f). 77 Moltmann, Trinität, 39, vgl. Härle, Dogmatik, 260, der versucht „die Eigenschaften Gottes konsequent als Eigenschaften der Liebe Gottes zu denken. D.h. sie sollen verstanden werden als Konkretisierungen, Spezifizierungen und Qualifizierungen der göttlichen Liebe“, s. dazu auch oben 116. 78 S. dazu Janowski, Empathie, 189ff. 79 S. dazu Wagner, Gottes Körper, 101ff.

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„Der alttestamentliche Gott ist kein ferner, weltabgewandter Gott, sondern ein mit dem Menschen kommunizierender und in der Welt handelnder Gott“80.

2. Die Körperorgane bzw. Körperteile, die mit dem Schmerz Gottes verbunden werden, sind das Herz (Gen 6,6; Hos 11,8, vgl. Gen 8,21) und die Augen (Jer 9,9; 14,17, vgl. Gen 6,5.8). Wie das menschliche Herz ist auch das göttliche Herz das Zentralorgan, in dem sich die emotionalen (Gefühl), kognitiven (Verstand) und voluntativen Fähigkeiten (Wille) bündeln. Die Augen aber sind das ,Fenster zur Welt‘, mit denen die äußere Wirklichkeit wahrgenommen wird und die zugleich den Kontakt zum Innenleben Gottes (Herz) herstellen. Gottes Reaktion auf das Treiben seiner Geschöpfe (Gen 6,5ff) bzw. seines Volkes (Jer 9f; 14,17f; Hos 11,7ff) ist kein rein ,geistiger Akt‘, sondern „rückgebunden an den Aspekt der Körperlichkeit“81. 3. Da die mit dem Herzen und den Augen Gottes verbundenen Funktionen an den Körper Gottes gebunden bleiben und nicht davon losgelöst werden, liegt die besondere Leistung des alttestamentlichen Anthropomorphismus in seiner Anschaulichkeit, d.h. in dem Sachverhalt, dass ein Abstraktum wie „Macht“ durch ein Konkretum wie „Hand“ ausgedrückt wird und so die Zuwendung Gottes konkret werden lässt. Ohne diese Sprachbilder bliebe das Gottesbild vordergründig und abstrakt, durch sie gewinnt es an Vorstellbarkeit, Nähe und Vertrautheit.82 So lehren die biblischen Anthropomorphismen, dass wir nicht anders als in Analogien von Gott reden können. Die menschliche Rede von Gott, die sich nicht scheut, von seinem Körper und dessen Eigenheiten zu sprechen, ist kein Notbehelf, sondern Ausdruck des Glaubens an den lebendigen Gott und sein dem Menschen zugewandtes Wesen. In diesem Sinn ist der Schmerz ein wichtiger Zug im biblischen Gottesbild, denn er „beruht nicht auf einer Schwäche Gottes, sondern auf seiner Liebe zum Geschöpf“83.

80 Wagner, Gottes Körper, 156. Zur Weltzugewandtheit Gottes s. auch Janowski, Gott, passim. 81 Wagner, Gestalt Gottes, 309. 82 Vgl. Wagner, Gestalt Gottes, 311. 83 Scharbert, Art. Schmerz, 493.

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III Gottverlassenheit und Rettung

Der Angst widerstehen Psalm 22 und der Resilienzbegriff Friedhelm Hartenstein zum 60. Geburtstag I.

Phänomenologie der Angst – Vorbemerkungen

Angst ist ein starkes und komplexes Gefühl.1 Es ist so stark, dass es den Körper ergreift und selbst körperlich ist.2 Die leibliche Codierung der Angst lässt sich durch zahlreiche Sprachbilder belegen, so wenn wir davon sprechen, »dass die Angst unser Herz schneller schlagen oder gar aussetzen lässt, dass die Knie weich werden und der Schritt versagt, der Puls zu jagen beginnt, die Haare sich sträuben, Kälte uns befällt und über den Rücken jagt und doch zugleich der Schweiß ausbricht, der Atem stockt oder im Gegenteil heftig anschwillt, ringend mit dem abschnürenden Gefühl im Hals, das Kopf und Körper zu trennen droht, die Augen aufgerissen werden und die Pupillen sich schreckhaft weiten, die Glieder schlottern oder sich krampfartig verspannen«3.

Die negative Grundemotion der Angst hat Paul Klee (1879–1940) in einer Federzeichnung festgehalten, die die durch Krankheit verursachte Desintegration des Körpers durch eine neue Bildidee zur Anschauung bringt. „Angst“, so schreibt J. Ringleben dazu, »wird hier Form als Verlust von Zusammenhalt, als gestalteter Verfall. Daß Einheit als verlorene in ihrem Zersetztwerden durch die Angst noch irgendwie präsent ist – eben als formaler Rahmen der ängstigenden Erfahrung ihres Verlustes –, das wird durch dreierlei evoziert: 1. den unsichtbaren Gesamtumriss der Teilfragmente, die sich so ordnen, dass sie nach außen optisch die Begrenzung des Blattes wiederholen, das heißt sie bilden etwa ein Rechteck; 2. durch die formale Verwandtschaft in der 1 Mit den folgenden Überlegungen grüße ich F. Hartenstein, dem ich seit einem Vierteljahrhundert freundschaftlich verbunden bin, herzlich zu seinem runden Geburtstag. Für die kommenden Jahre wünsche ich ihm Gottes Segen und die nötige Widerstandskraft in allen Fährnissen des Lebens. 2 Zu den medizinischen, psychologischen und philosophischen Aspekten der Angst s. Bösch, Art. Angst, 155–163 und Domschke, Angst, 13–23. Angst ist nicht nur eine negative Grundemotion, sondern auch ein Gefühl, das für Mensch und Tier eine Grundvoraussetzung für das Überleben ist. 3 Böhme, Codierungen, 218. Zu den Symptomen der Angst s. auch Domschke, Angst, 14–16.

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Linienführung der einzelnen Fragmentumrisse; und 3. schließlich durch gegenständliche Anklänge an das angstvoll verzerrte Gesicht rechts oben und die Hand, der sich auch ein Arm zuordnen lässt, darunter. (…) Das Gesicht – in exzentrischer Position – mit seinen aufgerissenen Augen und Mund scheint verzweifelt auf das Entgleiten seiner selbständig gewordenen Körperteile zu starren.«4

Paul Klee, Angstausbruch II (1939)

Auch im Alten Testament und im Alten Orient wird die Angst als körperliche Desintegration (Leibsphäre) geschildert und bis zur Auflösung der Person und ihrer sozialen Bindungen (Sozialsphäre) gesteigert. Typische Merkmale sind physische Unruhe, erhöhte Herzfrequenz, Erbleichen, Aufstellen der Haare, Atembeschwerden, Schwitzen, Schreien, Schreckhaftigkeit, Fluchtreflex und anderes mehr:5 – physische Unruhe (Gen 42,28; Ex 19,16; Ex 15,15; Ps 48,7; Ex 20,18; Jes 7,2; Ex 15,14; Dtn 2,25 u.a.) – erhöhte Herzfrequenz (Ps 38,11; Hi 37,1) – Erbleichen (Nah 2,11; Dan 5,6.9) – sich aufstellende Haare (Ez 27,35; Hi 4,14f) – Unfähigkeit, sich zu bewegen (Ex 15,16; Jes 13,7; Ez 7,27), zu atmen (Dan 10,17b; Jos 2,11), zu sprechen (Jer 4,9; Ps 48,6; Dan 10,15), zu denken (Dan 5,6; Jer 21,3f) 4 Ringleben, Dornenkrone, 56 (Hervorhebung im Original). Im selben Jahr 1939 hat Klee auch das Aquarell Angstausbruch III gemalt, s. dazu Domschke, Angst, 92f. 5 S. dazu den Überblick bei Janowski, Anthropologie, 168–171 (mit der dort genannten Lit.) sowie die ausführliche kognitiv-linguistische Untersuchung von Kipfer, Angst, 15–79. Zu vergleichbaren Texten aus Mesopotamien und Ugarit s. Janowski, Anthropologie, 606–608.642.

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– (unfreiwillige) Entleerung des Darms / der Blase (Hi 18,11; Ez 21,12) – nervöser Magen (Hab 3,16; Jer 4,19) – Trennung der Gebeine (Ps 22,15) – trockener Mund (Ps 22,16) – Schreien (Jer 4,31; Jes 26,17) – veränderter Gesichtsausdruck (Jes 13,8; Gen 42,28) – Fluchtreflex (Ps 48,5–8; Jer 26,21)

Die Semantik der Auflösung und des Zerfließens einerseits und des Vertrocknens und Verdorrens andererseits ist charakteristisch für die Angstbilder biblischer und nachbiblischer Individualpsalmen. Der locus classicus ist Ps 22. Der Begriff „Angst“ (‚åråh „Bedrängnis, Not“)6 findet sich mit V. 12 dabei an einer Stelle – nämlich am Übergang von der Vertrauensäußerung II (V. 10–12) zur Klage III (V. 13– 19) –, die für den Gebetsprozess einschneidend ist. II.

Angsterfahrung und Angstbewältigung in Psalm 22

1.

Formale Aspekte

a)

Text und Komposition

Ps 22 ist ein dichter und beziehungsreicher Text.7 Nach der Überschrift (V. 1) setzt er mit einem Klagelied des Einzelnen (V. 2–22) ein, das an seinem Scheitelpunkt in V. 22b in ein Dankversprechen (V. 23–27) und einen eschatologischen Schluss (V. 28–32) übergeht. Die Textgrenze zwischen Klage und Lob (V. 22/23) ist identisch mit der Sachgrenze zwischen erlebter Gottesferne und erhoffter Gottesnähe und darum der markanteste Einschnitt im gesamten Gebetsprozess:8

6 Abgeleitet von ‚årar „eng, zusammengedrängt sein“, s. dazu Fabry, Art. ‚ar, 1114f.1119 7 Zu Ps 22 s. außer den Kommentaren (Hossfeld / Zenger, Psalm 1–50, 144–151; Weber, Werkbuch 1, 120–125 u.a.) noch Gese, Psalm 22, 180–201; Fuchs, Klage; Irsigler, Psalm 22, 193–239; Spieckermann, Heilsgegenwart, 239–253; Riede, Netz, 221–230.307–313; Bauks, Feinde, 14–54.95–103.150–173; Bester, Körperbilder; Rechberger, Klage; Gärtner, Lebensstark, 75–81; Janowski, Konfliktgespräche, 76– 81.348–365; ders., „Mein Gott“, 371–401 und die Beiträge in Sänger (Hg.), Psalm 22. 8 Im Folgenden wird nur auf ausgewählte Textprobleme eingegangen, s. dazu ausführlich Gese, Psalm 22, 182f; Irsigler, Psalm 22, 194–198; Janowski, Konfliktgespräche, 348–350; Bester, Körperbilder, 47–76 und Rechberger, Klage, 148–151. Zur nachexilischen Datierung von Ps 22 s. Irsigler, Psalm 22, 219–221.221–225.

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Überschrift 1

Für den Musikmeister. Nach „Die Hindin der Morgenröte.“ 9 Ein Psalm Davids.

Klage I + Doppelte Invocatio 2 3

Mein Gott, mein Gott, wozu10 hast du mich verlassen, fern von meiner Rettung, den Worten meines Schreiens?11 Mein Gott, ich rufe bei Tag, aber du antwortest nicht, und bei Nacht, doch es gibt keine Ruhe12 für mich.

Vertrauensäußerung 4 5 6

Du aber (bist) heilig, thronend auf den Lobgesängen Israels.13 Auf dich vertrauten unsere Väter, sie vertrauten, und du rettetest sie. Zu dir schrien sie und wurden gerettet, auf dich vertrauten sie und wurden nicht zuschanden.

Klage II 7 8 9

Ich aber – ein Wurm und kein Mensch, ein Gespött von Menschen und verachtet vom Volk. Alle, die mich sehen, spotten über mich, sie verziehen die Lippe, schütteln den Kopf: „Wälze (es) auf JHWH!“, „Er soll ihn retten, er soll ihn herausreißen, denn er hat Gefallen an ihm!“14

Vertrauensäußerung (mit Bitte V. 12) 10 11 12

Ja, du bist es, der mich aus dem Mutterleib zog, der mir Vertrauen einflößte an den Brüsten meiner Mutter! Auf dich bin ich geworfen vom Mutterschoß an, vom Leib meiner Mutter her bist du mein Gott! Sei nicht fern von mir, denn die Not ist nah, denn, es gibt keinen Helfer!

9 Auf der Ebene der Endgestalt von Ps 22 hat die Korrelation von ∞ajjælæt (im Syntagma ∞ajjælæt haççaªar „Die Hindin der Morgenröte“ V. 1) und ∞æjålût „Stärke“ (V. 20b) eine den Sinn des Textes erschließende Bedeutung, s. dazu Janowski, „Hindin“, 318–327. 10 In der Regel wird låmåh mit „warum“ übersetzt, s. dazu die Diskussion bei Bester, Körperbilder, 47–54 (die mit „warum“ übersetzt) und Janowski, „Mein Gott“, 392 mit Anm. 98. 11 Möglich ist auch die Übersetzung: „Fern von meiner Rettung sind die Worte meines Schreiens“, vgl. Bester, Körperbilder, 54. 12 Zum Verständnis von dûmijjåh s. Bester, Körperbilder, 110–112. 13 Zur ungewöhnlichen Aussage von V. 4b s. unten 156. 14 Zu dem mit dem Übergang von der 2. Person („wälze“) zur 3. Person („er soll …“) verbundenen Perspektivenwechsel s. Bester, Körperbilder, 57.

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143

Klage III 13 14 15

16 17 18 19

Umgeben haben mich viele Stiere, die Starken Basans haben mich umstellt. Aufgerissen haben sie gegen mich ihr Maul – ein Löwe, reißend und brüllend. Wie Wasser bin ich ausgeschüttet, und getrennt haben sich alle meine Gebeine, geworden ist mein Herz wie Wachs, zerflossen in meinem Inneren. Trocken wie eine (Ton-)Scherbe ist meine Kraft,15 und meine Zunge klebt mir am Gaumen, und in den Staub des Todes legst du mich. Fürwahr, umgeben haben mich Hunde, eine Rotte von Übeltätern hat mich umkreist wie der Löwe – meine Hände und Füße.16 Ich kann zählen alle meine Gebeine, sie aber blicken her, sehen auf mich (herab). Sie teilen meine Kleider unter sich, und über mein Gewand werfen sie das Los.

Bitte + Invocatio 20 21 22

Aber du, JHWH, sei nicht fern, meine Stärke, zu meiner Hilfe eile herbei! Entreiß doch dem Schwert mein Leben, aus der Pranke des Hundes meine Einzige! Rette mich aus dem Maul des Löwen und vor den Hörnern der Wildstiere – du hast mir geantwortet!17

Dankversprechen 23 24 25

Ich will erzählen deinen Namen meinen Brüdern, inmitten der Gemeinde will ich dich loben: „Die ihr JHWH fürchtet, lobt ihn, aller Same Jakobs, ehrt ihn, und erschauert vor ihm, aller Same Israels! Denn nicht hat er verachtet und nicht verabscheut das Elend des Armen,

15 Zu dem Vorschlag, das masoretische koªî („meine Kraft“) in ªikkî („mein Gaumen“) zu ändern (so etwa Spieckermann, Heilsgegenwart, 240), s. Bester, Körperbilder, 61f. 16 V. 17b ist eine klassische crux interpretum, die aber verständlich zu machen ist, nämlich als Bild für die totale – „Hände und Füße“ (oben/unten) – Handlungs- und Bewegungsunfähigkeit des bedrängten Beters, s. dazu Bester, Körperbilder, 63–70. 17 Die Suffixkonjugation ˛anîtanî „du hast mir geantwortet“ betrachtet Irsigler, Psalm 22, 195 nicht als primär, s. dazu aber Rechberger, Klage, 150 mit Anm. 17; 191–202. Zur abweichenden Textüberlieferung von ˛anîtanî in der LXX, in der Peschitta und bei Symmachus s. Bester, Körperbilder, 71f und Bons, Psalm 22, 22–24.

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26 27

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und nicht hat er sein Angesicht vor ihm verborgen, und auf sein Schreien zu ihm hat er gehört. Von dir kommt mein Lobpreis in großer Gemeinde, meine Gelübde erfülle ich vor denen, die ihn fürchten. Essen sollen Arme und satt werden, loben sollen JHWH, die ihn suchen! Aufleben soll euer Herz für immer!“18

Eschatologischer Schluss 28 29 30

31 32

Es sollen gedenken und umkehren zu JHWH alle Enden der Erde, und niederfallen vor deinem Angesicht alle Geschlechter der Völker! Denn JHWH gehört die Königsherrschaft, und er ist Herrscher über die Völker. Gegessen haben und (verehrend) niedergefallen sind alle Fetten der Erde, vor seinem Angesicht sollen sich beugen alle, die in den Staub hinabgestiegen sind, und der sein Leben nicht bewahrt hat.19 Nachkommenschaft wird ihm dienen, erzählen soll man von Adonaj dem Geschlecht derer, die kommen werden. Verkünden soll man seine Gerechtigkeit dem Volk, das noch nicht geboren wird, denn er hat (es) getan!

In seinen beiden Teilen – dem Klagelied V. 2–22 und dem Dankversprechen V. 23–27 (+ eschatologischem Schluss V. 28–32) – durchmisst der leidende Beter den langen und dramatischen Weg von der Gottesferne (Todeserfahrung) zur Gottesnähe (Lebenszuversicht).20 Der Klageliedteil (V. 2–22) enthält dabei drei Klagegänge: I. V. 2–6, II. V. 7–12 und III: V. 13–22. Die beiden ersten Klagegänge sind so aufgebaut, dass auf die Klage jeweils eine Vertrauensäußerung folgt (V. 4–6 / V. 10–12 mit abschließender Bitte in V. 12). Während die erste Vertrauensäußerung JHWH als Königsgott sowie als Väter- und Exodusgott prädiziert (V. 4–6), also heilsgeschichtlich orientiert ist, wechselt die zweite Vertrauensäußerung auf die biographische Ebene, indem JHWH als persönlicher Gott angesprochen wird, der den Beter seit dessen Geburt schützend umgibt (V. 10–12). Der dritte Klagegang (V. 13–19) enthält demgegenüber etwas Neues, weil er am 18 Mit Irsigler, Psalm 22, 200–202.215f gehe ich davon aus, dass V. 24–27 als „Lobdurchführung zum Versprechen V. 23, d.h. als Zitat der versprochenen Lobrede“ (201) zu verstehen sind. 19 Zu den Textproblemen von V. 30 s. Bester, Körperbilder, 74f. 20 Vgl. Irsigler, Psalm 22, 213–215.

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Ende statt in eine abermalige Vertrauensäußerung in eine – gegenüber V. 12 – gesteigerte Bitte um Rettung durch JHWH mündet (V. 20– 22), die ihrerseits die Basis für den anschließenden Dank (V. 23–27) sowie den eschatologischen Schluss (V. 28–32) ist. „So wird Ps 22 zum Formular eines umfassenden Gebetsprozesses, der aus der Tiefe und Enge der Klage in die Höhe und Weite des Lobs führen soll“21. b)

Kommunikationsstruktur

Die Klagelieder des Einzelnen gewähren, sprechaktanalytisch gelesen, nicht nur einen Einblick in die Kommunikationsstruktur, sondern auch in das soziale Umfeld dieser Gebete. Das Musterbeispiel dafür ist Ps 13: 1 Für den Musikmeister. Ein Psalm Davids.

Überschrift

2 Wie lange, JHWH, vergisst du mich auf Dauer? Wie lange verbirgst du dein Gesicht vor mir? 3 Wie lange soll ich Sorgen tragen in meiner næpæç, Kummer in meinem Herzen Tag für Tag? Wie lange erhebt sich mein Feind über mich?

Klage + Invocatio

4 Blick doch her, erhöre mich, JHWH, mein Gott! Mach hell meine Augen, damit ich nicht zum Tod entschlafe, 5 damit mein Feind nicht behauptet: „Ich habe ihn überwältigt!“, meine Gegner nicht jubeln, dass ich wanke!

Bitte

6 Aber ich – auf deine Güte habe ich vertraut, mein Herz juble über deine Rettung: „Singen will ich JHWH, dass er an mir gehandelt hat!“22

Vertrauensäußerung Lobversprechen

Die einzelnen Gattungselemente sind klar erkennbar und in der Anlage des Psalms aufeinander bezogen. Die dreiteilige Klage – Gott-Klage, Ich-Klage, Feind-Klage (V. 2f) – ist stilistisch durch vier Wie lange-Fragen gestaltet, wobei die Not des Beters unter drei Aspekten erscheint: – im Blick auf JHWH als Entzug seiner Gegenwart („vergessen“ // „Gesicht verbergen“) (V. 2) – im Blick auf den Beter als Tragen von „Sorgen“ in seiner næpæç // von „Kummer“ in seinem Herzen (V. 3a) 21 Irsigler, Psalm 22, 214f, vgl. 221–225. 22 Zu diesem Text s. Irsigler, Psalm-Rede, 76–88; Janowski, Konfliktgespräche, 56–84 und Schnocks, Psalmen, 46–49.

146

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– im Blick auf den Feind als Überwältigung und Vernichtung des Beters (V. 3b) Damit erweist sich das Klagelied des Einzelnen als anthropologischer Grundtext, der in seinen Sprechakten die Situation des leidenden Beters umfassend thematisiert. Es stellt den Menschen nicht als isoliertes Ich, als eine ,fensterlose Monade‘, sondern als ein Wesen dar, das in die grundlegenden Konstellationen Gott, Welt und Mitmensch/en eingebunden ist und in diesen Bezügen handelt und lebt (konstellativer Personbegriff).23

Auch in Ps 22 sind die einzelnen Gattungselemente klar erkennbar und über die Wortfelder der Gottesferne und der Gottesnähe24 vielfältig aufeinander bezogen. Entscheidend dafür, dass es sich dabei um ein Gebet handelt, ist die dialogische Kommunikationssituation zwischen Gott und Mensch.25 Diese Situation zeigt sich an den Sprechrichtungen und den beteiligten Kommunikationspartnern: Klage I 2 3

Gott-Klage + Invocatio Gott-Klage

Sprechrichtung/ Kommunikationspartner Gott → Beter Beter → Gott

Vertrauensäußerung 4 5

Vertrauensäußerung Vertrauensäußerung

6

Vertrauensäußerung

Beter → Gott Väter Israels → Gott (b: Gott → Väter Israels) Väter Israels → Gott

Klage II 7 8 9

Ich-Klage Feind-Klage Feind-Klage

Beter Feinde → Beter Feinde → Beter

Vertrauensäußerung 10 11 12

Vertrauensäußerung Vertrauensäußerung Bitte

Gott → Beter Beter → Gott Beter → Gott

23 S. dazu Janowski, Konfliktgespräche, 36; ders, Anthropologie, 29f.31f und Schnocks, Psalmen, 95–97. 24 S. dazu im Folgenden. 25 S. dazu Irsigler, Psalm 22, 213–216.238 (Tabelle) und Janowski, Anthropologie, 291–294 mit der dort genannten Lit.

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Klage III 13 14 15 16 17 18 19

Feind-Klage Feind-Klage Ich-Klage Ich-Klage (b: Gott-Klage) Feind-Klage (b: Ich-Klage) Ich-Klage (a) / Feind-Klage (b) Feind-Klage

Feinde → Beter Feinde → Beter Beter Beter (b: Gott → Beter) Feinde → Beter a: Beter / b: Feinde → Beter Feinde → Beter

Bitte + Invocatio Bitte Bitte

Beter → Gott Beter → Gott Beter → Gott

Bitte 20 21 22

Wie Ps 22 paradigmatisch zeigt, kommt im Gebet die persönliche Erfahrung von Anfeindung, Krankheit und Rechtsnot zur Sprache, die der Beter macht bzw. gemacht hat und von der er errettet zu werden hofft. Der Betende ist der klagende, bittende und dankende Mensch, der sich dem göttlichen Du zuwendet und der dabei „ich“ sagt.26 „Diese Bedingung des Dialogs“, so hat es der Sprachwissenschaftler E. Benveniste (1902–1976) formuliert, „ist es, welche die Person konstituiert, denn sie impliziert umgekehrt, daß ich zu einem du werde in der Anrede desjenigen, der sich seinerseits als ich bezeichnet“27. Signifikant für die Bedeutung von Ps 22,2–22 sind schließlich die Wortfelder der erfahrenen Gottesferne und der erhofften Gottesnähe: – erfahrene Gottesferne verlassen (˛åzab) + Subj. JHWH fern (råªôq) von meiner Rettung (jeçû˛åh) nicht antworten (˛ånåh) + Subj. JHWH keine Ruhe (dûmijjåh) + Subj. Beter die Angst ist nahe (qerôbåh) kein Helfer (˛åzar Ptz.)

2a 2b 3a 3b 12a 12b, vgl. 20b

– erhoffte Gottesnähe retten (pl† pi.) + Subj. JHWH gerettet werden (ml† nif.) nicht zuschanden werden (bôç) herausreißen (n‚l hif.) + Subj. JHWH nicht fern sein (råªaq) meine Stärke (∞æjålût) 26 27

5b.9a 6a 6b 9b.21 12a.20a 20b, vgl. 1 (∞ajjælæt)

Zum „Ich“ in den Psalmen s. Wilke, Identität, 98–100. Benveniste, Probleme, 289 (Hervorhebung im Original).

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meine Hilfe (∞æzråh) retten (jç˛ hif.) + Subj. JHWH antworten (˛ånåh) + Subj. JHWH

20b, vgl. 12b 22a, vgl. 2b 22b, vgl. 3a

In seiner Anlage bringt das Klagelied V. 2–22, das in V. 22b („du hast mir geantwortet“) zum Dankversprechen (V. 23–27) und zur eschatologischen Coda (V. 28–32) übergeht, die Tiefe der Gottverlassenheit des Beters und dessen Angewiesenheit auf die Rettung durch JHWH zum Ausdruck. Wie der Angst, von Gott verlassen zu sein, widerstanden werden kann – das ist das Thema von Ps 22. Für dessen Analyse ist ein Rekurs auf den Resilienzbegriff28 hilfreich. 2.

Thematische Aspekte

Im Blick auf den Versuch, Ps 22 als Resilienztext zu lesen, sind vorab zwei Bemerkungen zu machen. Zum einen ist Resilienz ein metasprachlicher Begriff, der erstmals in der Psychologie der 1970er Jahre auftauchte und nach und nach von anderen Wissenschaften adaptiert wurde.29 Zum anderen ist Resilienz ein schillernder Begriff, dessen Leistungsfähigkeit davon abhängt, wie sehr er der Eigenart der jeweiligen Krisenerfahrung(en) gerecht wird. Dem Wortsinn nach meint „Resilienz“ (abgeleitet von lat. resilire „zurückspringen, abprallen“) die psychische Widerstandskraft, „die Individuen in der Konfrontation mit und der Bewältigung von widrigen Lebensumständen herausbilden“30. Im Anschluss an die Ausführungen von J. Gärtner und C. Richter ist hinzuzufügen, dass Resilienz, weil sie „nicht zu trennen ist vom Erleben einer schweren Lebenskrise, … deren tiefe Ambivalenz in sich (trägt)“31. Das aber bedeutet, dass Resilienz nicht ein krisenunabhängiges, sondern ein „mit bedrückenden Erfahrungen behaftetes reaktives Phänomen (ist): Resilienz ist als neu zu gewinnende, 28 Zum Thema „Resilienz“ s. den einleitenden Beitrag von Gärtner / Richter, Begriff der Resilienz, in: Gärtner / Schmitz (Hg), Resilienznarrative (im Druck) mit der dort genannten Lit., ferner die Überblicke bei Richter / Blank, „Resilienz“, 69–74 und Böhme, Resilienz. 29 S. dazu etwa Böhme, Resilienz, 9–11. 30 Hildenbrand, Resilienz, 205, s. dazu auch Richter / Blank, „Resilienz“, 69–74 und Böhme, die zu Recht einschränkt, dass „die Beschreibung der Resilienz als ,Widerstandsfähigkeit‘ eigentlich fehlleitend (ist) – denn der Begriff ,Widerstand‘ impliziert ein hartes Gegen-etwas-Ankämpfen, während es sich bei der Resilienz vielmehr um sanfte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit handelt. Trotzdem werde ich das Synonym ,Widerständigkeit‘ … verwenden, im Sinne einer auf Dauer den Widrigkeiten trotzenden Psyche. Wir wollen hier ,Resilienz‘ als die Erhaltung oder zügige Wiederherstellung der psychischen Gesundheit nach einem traumatischen Erlebnis oder während adverser Lebensumstände definieren“ (Resilienz, 8). 31 Gärtner / Richter, Begriff der Resilienz (im Druck).

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auszuhaltende und gestaltende ,Freiheit‘ in der Krise, aber nicht als Krisenfreiheit zu verstehen“32. Vor diesem Hintergrund soll Ps 22 als Resilienztext gelesen werden. In Aufnahme der Formulierung des Tagungsthemas „Zwischen Aushalten und Gestalten“ mache ich dabei einen zweifachen Durchgang durch den Text, indem zunächst die Erfahrung der Gottesferne (Klagen I–III: V. 2f.7–9.13–19, Abschließende Bitte: V. 20–22) und danach die Hoffnung auf Gottesnähe (Vertrauensäußerungen I–II: V. 4–6.10–12, Dankversprechen: V. 23–27) thematisiert werden. Mit der Überschrift (V. 1) wird eine zusätzliche Ebene eröffnet, die dem im Korpus von Ps 22 artikulierten Gebetsprozess einen weiteren, für das Thema „Resilienz“ aufschlussreichen Aspekt hinzufügt. Denn hier tritt mit der „Hindin der Morgenröte“ ein Tier auf, das aufgrund seiner Scheu und Verletzlichkeit dem menschlichen Gefährdungsbewusstsein einen elementaren Anknüpfungspunkt gibt. Jedenfalls wird der Leser schon mit V. 1 hellhörig auf das, was der folgende Text dann detailliert entfaltet. a)

Die Erfahrung der Gottesferne

a)

Erster und Zweiter Klagegang (V. 2f.7–9)

Wie das Musterbeispiel Ps 13 zeigt, haben die Klagelieder des Einzelnen einen klar strukturierten Aufbau mit den Elementen Klage, Bitte, Vertrauensäußerung, Schuld-/Unschuldsbekenntnis und Lobversprechen.33 Die Abfolge dieser Elemente ist variabel, und so ist es auch im Fall von Ps 22,2–22 mit seinen Klagen (V. 2f.7–9.13–19), Vertrauensäußerungen (V. 4–6.10–11) und Bitten (V. 12.20–22). Nach einer, die persönliche Gottesbeziehung hervorhebenden doppelten Invocatio34 beginnt der Text in V. 2f mit dem Zentralmotiv der Gottesferne und seinem Leitwort RÓQ „fern sein“ (V. 2b, jeweils negiert in V. 12a.20a):

32 Gärtner / Richter, Begriff der Resilienz (im Druck) (Hervorhebung von mir), vgl. auch Schult, „Unkraut“, 196: „Posttraumatische Reife ist keine Abwehrgröße im Sinne eines ,Abpralls‘ und kein ,Zurückspringen‘ in einen ,Normalzustand‘. Die Reifung bleibt an die Erfahrung der Krise gekoppelt und das Trauma mit Verlusten verbunden. Was immer nach einer Traumatisierung reifen, heilen, und (zu)wachsen mag – die Narbe bleibt“. 33 S. dazu oben 145f und Janowski, Konfliktgespräche, 39–46. 34 Die syntaktische Stellung des Vokativs „mein Gott“ „treibt in Verbindung mit der rhetorischen Stilfigur der Wiederholung die Expressivität der Anrede auf die Spitze“ (Fuchs, Klage, 70), vgl. Gärtner, Lebensstark, 77f.

150

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2 3

Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen (˛åzab), fern (råªôq) von meiner Rettung, den Worten meines Schreiens? Mein Gott, ich rufe bei Tag, aber du antwortest (˛ånåh) nicht, und bei Nacht, doch es gibt keine Ruhe (dûmijjåh) für mich.

Verstärkt wird das Motiv der Gottesferne35 durch die Aussage, dass Gott den Beter „verlassen“ hat (V. 2a), dass er ihm nicht „antwortet“, so dass er keine Ruhe“ findet (V. 3) und die Not „nah“ (qerôbåh) ist (V. 12a). Worin die Gottverlassenheit des Beters ihren Grund hat, wird nicht gesagt, sondern nur, dass sie den „Kern seiner Not aus(macht) und … motivierender Hintergrund aller weiteren Noterfahrungen (ist)“36. Diese Noterfahrungen werden gleich in der zweiten Klage konkreter benannt: 7 Ich aber – ein Wurm und kein Mensch, ein Gespött von Menschen und verachtet vom Volk. 8 Alle, die mich sehen, spotten über mich, sie verziehen die Lippe, schütteln den Kopf: 9 „Wälze (es) auf JHWH!“, „Er soll ihn retten, er soll ihn herausreißen, denn er hat Gefallen an ihm!“

Zu beachten sind dabei die Textstruktursignale: Während V. 2f mit der doppelten Invocatio „Mein Gott, mein Gott“ einsetzt, beginnt V. 7–9 mit dem selbstständigen Personalpronomen „ich“ (∞ånokî), das nach dem göttlichen „du“ (∞attåh) der Vertrauensäußerung I und vor dem göttlichen „du“ (∞attåh) der Vertrauensäußerung II die Situation des Beters in den Blick rückt. Während der dritte Klagegang (V. 13– 19) dann mit einem neuen Subjekt („viele Stiere“) beginnt, kehrt die abschließende Bitte (V. 20–22) mit dem adversativ eingeführten „du“ (∞attåh) wieder zur Anrede Gottes zurück:37 2 4 7 10 13 20

35 36 37

Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen Du aber (we∞attåh) bist heilig (:: „ich“ 3, „sie“ 18b–19) Ich aber (we∞ånokî) – ein Wurm und kein Mensch (:: „sie“ 5f) Ja, du (kî ∞attåh) bist es, der mich aus dem Mutterleib zog (:: Spötter 8f) Umgeben haben mich viele Stiere Aber du (we∞attåh), JHWH, sei nicht fern

Klage I + doppelte Invocatio Vertrauensäußerung I Klage II Vertrauensäußerung II Klage III Bitte + Invocatio

S. dazu auch Irsigler, Psalm 22, 199.222 und Bester, Körperbilder, 112f. Irsigler, Psalm 22, 212. Vgl. Irsigler, Psalm 22, 204.

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Zur Gottverlassenheit des Beters, mit der der Psalm beginnt (V. 2f), tritt in V. 7f die Erfahrung der Entmenschlichung („ein Wurm und kein Mensch“)38 und des Gespötts hinzu, die in den Schmähungen seiner Mitmenschen gipfelt (V. 9).39 Mit der Selbstwahrnehmung des Beters als „Wurm“ wird, wie J. Gärtner zu Recht bemerkt, „deutlich, dass der soziale Tod nicht vom körperlichen Leid zu trennen ist“40. Dieser Aspekt, d.h. die Leibsphäre des Beters, rückt dann im dritten Klagegang in den Vordergrund. Darüber hinaus taucht nach V. 2b das Motiv der „Rettung“ auf, das den gesamten Klageteil durchzieht (V. 5b.6a.9.12b.20b.21a.22a)41 und das, da die Mitmenschen jede Empathie schuldig bleiben, die Angewiesenheit des Beters auf Gottes Eingreifen überdeutlich macht. b)

Dritter Klagegang (V. 13–19)

Wegen der Schwere der Noterfahrung ist es verständlich, dass der Beter nach seiner ersten, heilsgeschichtlich orientierten Vertrauensäußerung (V. 4–6), mit der er sich die Heiligkeit JHWHs und das Gottvertrauen der Väter Israels in Erinnerung ruft,42 wieder in die Klage zurückfällt (V. 7–9). Erstaunlich aber ist, dass er dies auch nach seiner zweiten, biographisch und schöpfungstheologisch gefärbten Vertrauensäußerung (V. 10–12) tut und dabei intensiver klagt als zuvor (V. 13–19). Ist sein Vertrauen, so mag man fragen, so schwach, dass es (noch) nicht trägt? Eine reibungslose Bewältigung der Angst wird der Schwere der erlebten Not allerdings nicht gerecht, denn „der Weg aus einer Traumatisierung ist steinig, mühsam und lang“43, und Zuversicht braucht Zeit, unter Umständen viel Zeit. Auf diesem langen und steinigen Weg können neue Angstbilder aufsteigen, die den Leidenden lähmen und zurückwerfen. In Ps 22, 13–19 sind es Bilder, die einen engen Zusammenhang zwischen seinem geschundenen Körper (Gebeine, Herz, Zunge, Gaumen, Hände, Füße) und der vertrauten Natur- und Kulturwelt (wilde Tiere, Wasser, Wachs, Tonscherbe, Staub des Todes) herstellen. Charakteristisch ist dabei die Verschränkung von Leib- und Sozialsphäre: 38 Nach Riede, Netz, 307–313 steht der Wurm für die Notsituation des Beters: „Im Staub sich windend, zu Boden gedrückt, ohne aufrecht gehen zu können, hineingestellt in die Welt der Verwesung und des Todes, ist er einsam, isoliert“ (310), vgl. ders., Spiegel, 51–54 und Bester, Körperbilder, 120–122. 39 Die Verletzungsmacht der Gegner kommt in V. 7b–9 in ihrer Mimik, Gestik und Sprache unverhohlen zum Ausdruck, s. dazu Bester, Körperbilder, 122–130 und grundsätzlich Janowski, Anthropologie, 202–204.279–283. 40 Gärtner, Lebensstark, 78. 41 S. dazu die tabellarische Übersicht oben 147f. 42 S. dazu unten 156. 43 Fischer, Psalmen, 39.

152

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Sozialsphäre: Feindbilder (wilde Tiere)

Bild-/Themenfelder

13

Stiere Starke Basans

14

Umgeben haben mich viele Stiere, die Starken Basans haben mich umstellt. Aufgerissen haben sie gegen mich ihr Maul – ein Löwe, reißend und brüllend.

Löwe

Leibsphäre: Körperbilder (flüssig/trocken) 15

16

Wie Wasser bin ich ausgeschüttet, und getrennt haben sich alle meine Gebeine, geworden ist mein Herz wie Wachs, zerflossen in meinem Inneren. Trocken wie eine (Ton-)Scherbe ist meine (Lebens-)Kraft, und meine Zunge klebt mir am Gaumen, und in den Staub des Todes legst du mich.

Wasser Gebeine Herz → Wachs Tonscherbe Zunge, Gaumen Todesstaub

Leibsphäre und Sozialsphäre 17 18 19

Fürwahr (kî), umgeben haben mich Hunde, eine Rotte von Übeltätern hat mich umkreist wie der Löwe – meine Hände und Füße. Ich kann zählen alle meine Gebeine, sie aber blicken her, sehen auf mich (herab). Sie teilen meine Kleider unter sich, und über mein Gewand werfen sie das Los.

Hunde Rotte von Übeltätern Löwe, Hände, Füße Gebeine Akte sozialer Missachtung

In der Feindklage V. 13f werden die Feinde zunächst als Stier(e) und Löwe, d.h. als „das stärkste Repräsentationspaar der nicht menschlichen næpæç-Welt“44 gezeichnet. Beide Tierarten sind für den Beter aber „nicht in erster Linie Exemplare einer zoologischen Spezies, sondern Träger bestimmter Kräfte und Mächte“45. Ihre Bedrohlichkeit wird als kreisendes Umringen (V. 13, vgl. Ps 59,7.15), als Maulaufsperren (V. 14a) und als Reißen und Brüllen (V. 14b) dargestellt. Der Beter fasst damit sein Erleben in Worte, einem aggressiven Überwältigungswillen ausgeliefert zu sein. Im Sinn einer – beabsichtigten – Überlappung der Feindbilder46 geht dann die Ich-Klage von V. 15f zur Semantik der Auflösung und 44 Gese, Psalm 22, 188. In den Individualpsalmen werden die Feinde nie mit Haustieren, sondern immer mit Raub- und Wildtieren (Löwe, Stier, [Paria-]Hund, Schlange, Biene) verglichen, s. dazu Keel, Bildsymbolik, 75–78; Janowski, Konfliktgespräche, 117–124; Riede, Netz, 183.213f.221–230 und Móricz, „Rette mich“, 109– 133. Speziell zum Feindbild „Löwe“ s. Strawn, Lion Hunting, 255–257. 45 Keel, Feinde, 73. 46 Das ist ein charakteristischer Zug der Individualpsalmen, s. dazu Janowski, Gott, 181–192.

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153

des Vertrocknens über.47 Besonders eindrücklich ist dabei die Aussage von der Trennung der Gebeine und vom Zerfließen des Herzens (V. 15).48 Denn sie zeigt, dass die Person buchstäblich in ihre Einzelteile zerfällt, die jetzt – wie in P. Klees Zeichnung Angstausbruch II49 – unverbunden nebeneinander liegen (V. 16). In V. 17–19 schließlich wird die – durch kî „fürwahr“ eingeführte und damit auf V. 13–16 zurück bezogene – Klage noch einmal gesteigert, weil die Ich-Klage V. 17b.18a von der Feindklage V. 17a. 18b–19 gerahmt und auf diese Weise eine Verschränkung der Leibsphäre (Hände, Füße, Gebeine des Beters) und der Sozialsphäre (Umkreisen, spöttisches Blicken, Verteilen der Kleider) herbeigeführt wird. Da das Kleid als ,soziale Haut‘ ein elementares Persönlichkeitszeichen (identity marker) ist,50 besiegelt seine Verteilung unter die Gegner des Beters dessen soziale Vernichtung. Der Text hat diese Auflösung der Person bereits in V. 16b („und in den Staub des Todes legst du mich“) zum Ausdruck gebracht51 und Gott als Akteur hinter diesem Geschehen ausgemacht. Mit der Schilderung seines Elends „will der Betende Gott auf diese Not aufmerksam machen, darauf, daß es ums Ganze geht“52. g)

Abschließende Bitte (V. 20–22)

Die intensive Bitte um JHWHs Eingreifen (V. 20–22), die in V. 20a den Vetitiv ∞al-tirªaq „sei nicht ferne!“ von V. 12a aufnimmt, kommt also „in der höchsten Krise“53. Wieder wird der Adressat dabei mit adversativem „aber du“ eingeführt (vgl. V. 4.10)54 und der Vokativ JHWH in V. 20b vom Vokativ „meine Stärke (∞æjålût)“ aufgenom47 S. dazu ders., Konfliktgespräche, 217f und Bester, Körperbilder, 165–185.201– 220. Zur Rezeption von Ps 22,15f in den Texten vom Toten Meer s. Janowski, Gott, 218 und ausführlich Omerzu, Rezeption, 55–67. Von „hingeschütteten Gliedmaßen“ einer unter Depression leidenden Person ist auch im mesopotamischen „Bann-Lösungs“-Ritual BAM 234,7f die Rede: „(wenn) während er unter Völlegefühl leidet, seine Gliedmaßen immer wieder „hingeschüttet“ sind (çapåku Ntn), (und) er das ein und das andere Mal aufschreckt; (wenn) er bei Tag und bei Nacht nicht schlafen kann; (wenn) er immer wieder schreckliche Träume sieht (und) Lähmungszustände bekommt“, s. dazu Janowski, Anthropologie, 608f. 48 Das Herz ist der Körperteil, der am häufigsten mit Angst und Schrecken in Verbindung gebracht wird, s. dazu Kipfer, Angst, 39–45.49–53. 49 S. dazu oben 139f. 50 S. dazu Janowski, Anthropologie, 210–212, ferner Bester, Körperbilder, 231– 234 und Gärtner, Lebensstark, 79. Zur Rezeption dieses Motivs in Mk 15,24 s. Janowski, „Mein Gott“, 397. 51 S. dazu Bester, Körperbilder, 212–216. 52 Fuchs, Klage, 109, vgl. Irsigler, Psalm 22, 204. 53 Fuchs, Klage, 109. 54 S. dazu oben 150.

154

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men und weitergeführt, der seinerseits auf der Endtextebene mit der Wendung „Hindin der Morgenröte“ (∞ajjælæt haççaªar) in der Überschrift V. 1 korrespondiert:55 20 21 22

Aber du, JHWH, sei nicht fern, meine Stärke, zu meiner Hilfe eile herbei! Entreiß doch dem Schwert mein Leben, aus der Pranke des Hundes meine Einzige! Rette mich aus dem Maul des Löwen und vor den Hörnern der Wildstiere – du hast mir geantwortet!

Feinde Hund Löwe Wildstiere

Diese Bitte ist noch ganz von der Feind- und Tiermetaphorik der Klage III geprägt. Umso abrupter wirkt deshalb die Wendung „du hast mir geantwortet“ (˛anîtanî) in V. 22b, die traditionell mit dem Ausdruck „Stimmungsumschwung“ belegt wird. Dieser Ausdruck suggeriert, dass die Wende von der Klage zum Lob plötzlich kommt und ein von außen initiiertes Geschehen („priesterliches Heilsorakel“) ist.56 Demgegenüber ist davon auszugehen, dass der Beter angesichts der Spannung zwischen Gottesferne und Gottesnähe von der Hoffnung getragen wird, dass Gott gerade in dieser Not nahe ist und die erhoffte Rettung herbeiführt.57 Gegenüber der einleitenden Klage über das Schweigen Gottes (V. 3) ist damit ein Kontrapunkt gesetzt, der mit O. Fuchs als antizipiertes Faktum bezeichnet werden kann: Die Antwort Jahwes ist … schon ausgesprochen, alles andere ist eine nur noch zu erlebende Folge dieses Beschlusses. Aus der Perspektive des Beters liegt damit ein Perfectum confidentiae oder propheticum vor, aus der Perspektive des handelnden Gottes ein Perfekt des sicheren Futurs. Der beschlossenen Sicherheit der zukünftigen Rettung entspricht die vertrauensvolle Gewißheit der erhofften Erhörung.58

In diesen neu eröffneten Raum der Gewissheit tritt der Beter mit dem Aussprechen dieser Gewissheit („du hast mir geantwortet“ V. 22b) ebenso vertrauens- wie erwartungsvoll ein. Das ist das Thema des anschließenden Dankversprechens V. 23–27.59 55 S. dazu oben 142. 56 S. dazu die Kritik von Janowski, Konfliktgespräche, 76–84, ferner Bester, Körperbilder, 241–244 und Rechberger, Klage, 215–229. 57 Vgl. auch Fuchs, Klage, 98. Markschies, „Ich aber vertraue“, 386–398 spricht in diesem Zusammenhang von einem „gezielten Vertrauensparadigma“, vgl. Janowski, Konfliktgespräche, 81. 58 Fuchs, Klage, 184. 59 S. dazu unten 160f.

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b)

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Die Hoffnung auf Gottesnähe

Die Klagen und Vertrauensäußerungen von V. 2–19 werden, wie wir gesehen haben, nicht einfach durch die Bitte von V. 20–22 überwunden und gleichsam ad acta gelegt. Vielmehr wachsen die Momente des Vertrauens (V. 4ff.10ff) im Fortgang des Betens weiter und münden schließlich in den Sprechakt der abschließenden Bitte ein. Welcher Art aber, so müssen wir fragen, sind diese Momente des Vertrauens und durch welche Faktoren werden sie beeinflusst? Wir kommen damit auf das Thema „Resilienz“ im engeren Sinn zurück. a)

Erste und Zweite Vertrauensäußerung (V. 4–6.10–12)

Wie die Resilienzforschung zeigt, wird die Fähigkeit zur Resilienz durch eine komplexe „Kombination von Veranlagung und Erfahrung“60 gefördert und unterstützt. Im Blick auf die Psalmen ist es natürlich nicht möglich, den Faktor „Veranlagung des Beters/der Beterin“ zu konkretisieren. Anders steht es dagegen mit der Erfahrung bzw. Erinnerung. Erinnerungen aber sind ambivalent, denn sie können belasten und lähmen61 oder beglücken und befreien. Von einer beglückenden Erinnerung und ihrer resilienten Kraft spricht der Beter in der Vertrauensäußerung V. 4–6: Gegenwart: Heiligkeit JHWHs / Lobgesänge Israels als Gottesthron 4 Du aber (we∞attåh) bist heilig, thronend auf den Lobgesängen Israels.

Vergangenheit: Vertrauen der Väter → Rettung durch JHWH 5 Auf dich vertrauten unsere Väter, sie vertrauten, und du rettetest sie. 6 Zu dir schrien sie und wurden gerettet, auf dich vertrauten sie und wurden nicht zuschanden.

Dieser Text enthält eine Gegenwartsaussage (V. 4) und eine Vergangenheitsaussage (V. 5f). Der in V. 2f artikulierten Erfahrung der Got60 Böhme, Resilienz, 31. 61 Beispiele dafür sind die traumatischen Erinnerungen an die Zerstörung Jerusalems / des Tempels (Thr; Ps 74; 137 u.a.), an eine Vergewaltigung (Gen 34; 2 Sam 13,1–22 u.a.) oder an Verletzungen verbaler und physischer Art (Schmähung, Demütigung, Entehrung u.a.), s. dazu Carr, Resilience. Zur These von D. Carr, die Literaturwerdung des Alten Testaments insgesamt als das Ergebnis der Verarbeitung politischer Krisen und traumatischer Erfahrungen zu verstehen, s. zu Recht die kritischen Bemerkungen von Gärtner / Richter, Begriff der Resilienz [im Druck]). Zu den kulturellen Traumata im Alten Orient und in Ägypten s. Dietrich, Traumata, 145–161.

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tesferne62 wird in V. 4 mit dem Gottesprädikat „heilig“ (qådôç, vgl. Jes 6,3 u.ö.) und der singulären Wendung „thronend auf den Lobgesängen Israels“ (jôçeb tehillôt ji¬rå∞el) zunächst eine Vertrauensaussage gegenüber gestellt, die mit dem adversativ eingeführten göttlichen „Du“ (we∞attåh) einen deutlichen Kontrapunkt setzt. Die zweite Prädikation „thronend auf den Lobgesängen Israels“ liest sich wie eine Entsprechung zum Gottestitel „Der Kerubenthroner“ (jôçeb hakkerûbîm 1 Sam 4,4; 2 Sam 6,2; Ps 80,2 u.ö.) und seinen königs- und tempeltheologischen Implikationen.63 An die Stelle der Keruben sind die Lobgesänge Israels getreten, die nunmehr den Gottesthron ,tragen‘ und damit die Königsherrschaft JHWHs kultisch vergegenwärtigen.64 Daran schließt in V. 5f die heilsgeschichtliche Erinnerung an die Väter Israels an, die auf JHWH vertrauten (bå†aª V. 5.6b, vgl. V. 10b), zu ihm schrien (zå˛aq, vgl. Ex 2,23!)65 und gerettet wurden (pl† pi. V. 5b, ml† nif. V. 6a). So wird im Akt der Erinnerung „die Heilsgeschichte ein Teil des individuellen Ich“66, dessen Noterfahrung damit in einen übergreifenden Horizont gerückt wird. Mit dem Fokus auf dem Vertrauen der Väter und dem Rettungshandeln Gottes wird dem leidenden Beter eine andere, hoffnungsvolle Perspektive eröffnet. Der Beter erinnert sich aber nicht nur an die Rettung Israels in Ägypten, sondern, wie V. 10f zeigt, auch an seine eigene Geburt:67 10 11 12

Ja, du (∞attåh) bist es, der mich aus dem Mutterleib zog, der mir Vertrauen einflößte an den Brüsten meiner Mutter! Auf dich bin ich geworfen vom Mutterschoß an, vom Leib meiner Mutter her bist du (∞attåh) mein Gott! Sei nicht fern von mir, denn die Not ist nah, denn, es gibt keinen Helfer!

Unmittelbar vor dieser schöpfungstheologisch orientierten Vertrauensäußerung steht die Klage II (V. 7–9), die mit einem Feindzitat endet: „Wälze (es) auf JHWH!“, „Er soll ihn retten, er soll ihn herausreißen (n‚l hif.), denn er hat Gefallen an ihm!“ (V. 9) 62 S. dazu oben 149ff. 63 S. dazu Janowski, Keruben, 247–280. 64 Nach Hossfeld / Zenger, Psalm 1–50, 149 (Hossfeld) wird hier „der alte Titel des unsichtbaren ,Kerubenthrones‘ im salomonischen Tempel … spiritualisierend umgebildet“. Diese Umbildung dürfte in den Zusammenhang der tiefgreifenden Transformation des Kults gehören, die in den Psalmen an vielen anderen Stellen zu beobachten ist, s. dazu Janowski, „Mein Schlachtopfer“, 207–232. 65 S. dazu Janowski, Erinnerung, 181–183. 66 Rechberger, Klage, 313, vgl. Irsigler, Psalm 22, 209.211 und Gärtner, Lebensstark, 80f. 67 S. dazu Bester, Körperbilder, 131–159 und Grohmann, Fruchtbarkeit, 52–69.

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Aber wird JHWH den Beter „herausreißen“, weil er Gefallen an ihm hat (V. 9b), oder bleibt es dabei, dass es für ihn keinen „Helfer“ gibt, wie es kategorisch in V. 12b heißt? Für den Beter ist das (noch) nicht zu beantworten, weil die Not nah ist (V. 12a) und sie ihm nach V. 13–19 buchstäblich auf den Leib rückt.68 Stattdessen erinnert er sich an den Tag seiner Geburt, als JHWH ihn aus dem Mutterleib „herauszog“ (gåªåh V. 10a) und ihm „Vertrauen“ an den Brüsten seiner Mutter einflößte (bå†aª Ptz. hif. V. 10b). Nimmt man V. 11 hinzu, so wird der Zusammenhang zwischen Anthropologie (Geschöpflichkeit) und Theologie (Gott als Hebamme) vollends deutlich. Das Kind, das Gott aus dem Mutterleib herauszieht, wird damit nicht nur in die Eltern-, sondern auch in die Gottesbeziehung hineingeboren, wodurch ein lebenslanges Vertrauensverhältnis begründet und in der persönlichen Gottesbezeichnung „mein Gott“ (V. 2f.11) wachgehalten wird: Die Entstehung des Menschen im Mutterleib, die Geburt und die weitere Entwicklung sind ein von Gott begleiteter Vorgang. Göttliches und menschliches Handeln gehen ineinander über. Das betende Ich holt die eigene Geburt in die Lebensgeschichte, macht sie zum Bild für sein Verhältnis zu Gott. Geborgensein im Mutterleib und Bewahrung bei der Geburt dienen als Bilder für das Vertrauen zu Gott.69

Dieses Ur-Vertrauen ist auch nach Ps 71,5f eine Kraft, die die lebenslange Beziehung des Beters zu seinem Gott begründet und trägt: 5 Denn du bist meine Hoffnung, mein Herr, JHWH, meine Sicherheit seit meiner Jugendzeit. 6 Auf dich habe ich mich gestützt vom Mutterleib an, vom Inneren meiner Mutter hast du mich abgeschnitten, durch dich ist mein Lobpreis beständig.70

Es gibt also einen engen Zusammenhang zwischen Erinnerung und Resilienz. Der folgende Exkurs geht dem noch etwas genauer nach. Exkurs: Resilienz und Erinnerung Nicht jede Erinnerung ist heilsam und beruhigend, aber jede ist »ein verflüssigter Prozess, in dem Vergangenes aktualisiert wird. Es handelt sich um einen kontextabhängigen und kommunikativen, d.h. inter68 S. dazu oben 151ff. 69 Grohmann, Anfang, 381f, vgl. dies., Fruchtbarkeit, 67f; Bester, Körperbilder, 133–136 und Janowski, Anthropologie, 68f. 70 S. dazu Grohmann, Fruchtbarkeit, 58–64 und Bester, Körperbilder, 141–144. Noch weiter zurück, nämlich bis zur Erschaffung im Mutterleib durch Gott, geht der Beter nach Ps 139,13–18 zurück, s. dazu Janowski, Anthropologie, 59–64.

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subjektiven Vorgang, in welchem Menschen Bilder der Vergangenheit vergegenwärtigen und sich ihrer Zukunft vergewissern«71. Außer in Ps 22,10f und Ps 71,5f spielt auch in anderen Individualpsalmen die Erinnerung eine Rolle und ist von ihrer resilienten Kraft die Rede.72 So beginnt die erste Strophe (V. 2–6) des Klagegebets Ps 42/4373 mit einem Tiervergleich (V. 2), der die existentielle Not des Beters in ein eindrückliches Sehnsuchtsbild (lechzende Hirschkuh) fasst, und dieses Bild in jedem der fünf Verse mit Wasserbildern (Wasserbäche/Durst/Tränen/Ausschütten/ Zerfließen)74 fortsetzt:

Klage (= Situation der trostlosen Gegenwart) 2 Wie eine Hirschkuh lechzt an Wasserbächen, so lechzt mein Leben (næpæç) nach dir, Gott. 3 Es dürstet mein Leben (næpæç) nach Gott, dem lebendigen Gott: wann werde ich kommen und ‹sehen› das Gesicht Gottes? 4 Es wurden mir meine Tränen (zu) Brot bei Tag und bei Nacht, wenn man zu mir sagt den ganzen Tag: „Wo ist dein Gott?“

Erinnerung (= Rückblick auf die heilvolle Vergangenheit) 5 Daran75 denke ich (zåkar) und schütte aus mein Leben (næpæç) in/bei mir, dass ich ‹im Kreis der Edlen› zum Haus Gottes zog unter der Stimme des Jubels und Dankes einer feiernden Schar.

Hoffnung (= Sehnsucht nach dem rettenden Gott) 6 Was zerfließt du, mein Leben (næpæç), und was begehrst du auf gegen mich? Harre auf Gott, denn ich werde ihm wieder danken, der Rettung ‹meines› Gesichts ‹und› meinem Gott. (Ps 42,2–6) Zunächst wird in V. 2–4 die Ferne Gottes und das Dürsten des Beters bzw. seiner næpæç nach Gott thematisiert. Dabei wird die Not des Beters, die durch die Spottfrage seiner Umgebung „Wo ist dein Gott“ (V. 4b) noch ge71 Tanner, Art. Erinnern/Vergessen, 77. 72 S. dazu Schottroff, „Gedenken“, 130–132.177–181; Rechberger, Klage, 313– 316 und Grund, Erinnerungsarbeit, 158–173. Geschichtstheologische Rückblicke, die in diesem Zusammenhang relevant sind, finden sich auch Volksklagen wie Ps 44,2–4; 74,12–17; 80,9–14; 83,10–13; 85,2–4 u.a., s. dazu Emmendörffer, Gott, 107– 113 u.ö. und Klein, Geschichte, 182f u.ö. 73 S. dazu Janowski, næpæç, 101–105 und zuletzt Riegert, „Ich-Sphäre“, 58–163. 74 Zum „Zerfließen“ der næpæç s. Janowski, næpæç, 103f. 75 ∞elæh hat eine kataphorische, d.h. auf den anschließenden kî-Satz verweisende Funktion.

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steigert wird, in ein existentielles Bild gefasst, wonach sein Hunger nach einem gotterfüllten Leben durch Tränen ,gestillt‘ wird. Mit V. 5 ändert sich die Situation, weil sich der Beter jetzt an vergangene Zeiten erinnert (zåkar), als er in der Gemeinschaft der Tempel-Wallfahrer die Nähe Gottes erlebt hatte. Mit dieser Erinnerung hält er fest, was an der heilvollen Vergangenheit (V. 5) für die trostlose Gegenwart (V. 2–4) bedeutsam ist – nämlich die Nähe des lebendigen Gottes –, um zu einer Neubestimmung seiner Situation coram Deo zu finden. Diese Neubestimmung äußert sich in den Fragen von V. 6a, mit denen der Beter seine næpæç als Gegenüber anspricht („du“) und sie auffordert, auf Gott zu harren, für dessen Rettung sie ihm wieder dankbar sein wird (V. 6b, vgl. V. 5b). So gelangt die lechzende (V. 2), dürstende (V. 3) und klagende næpæç (V. 5ab) an einen Punkt oder besser: an einen Ort, an dem die Trostlosigkeit der Gegenwart überwunden und die Rettung durch den lebendigen Gott erfahren wird. Die Erinnerung an JHWH und seine heilvollen Taten begegnet darüber hinaus in dem Vertrauensgebet Ps 63,7 (im Kontext von V. 6–8) sowie in dem Klagegebet Ps 77,11–13 (mit anschließendem hymnischen Geschichtsrückblick V. 14–21). Nach Ps 63 ist der Tempel der Ort der „Sättigung“ des Lebens (vgl. V. 3, ferner Ps 16,11; 17,15; 65,5). Auf ihn und seinen Gott richten sich die nächtlichen Gedanken des Beters (zåkar // hågåh V. 7), der sich nach der schützenden Nähe JHWHs verzehrt (V. 1–4) und der über dessen Hilfe jubelt: 6 7 8 11 12 13

Wie mit Milch und Fett sättigt sich meine Lebenskraft (næpæç), und mit jubelnden Lippen preist (hll pi.) (dich) mein Mund. Wenn ich auf meinem Lager an dich dachte (zåkar), in Nachtwachen über dich nachsann (hågåh): Ja, du bist mir zur Hilfe geworden, und im Schatten deiner Flügel will ich jubeln. (Ps 63,6–9)76 Da sprach ich: Meine Krankheit ist dies, dass die Rechte des Höchsten sich geändert hat. Ich will die Großtaten JHs in Erinnerung rufen (zkr hif.), gewiss, gedenken (zåkar) will ich an dein Wunderwirken von Urzeit her, ich will nachsinnen (hågåh) über dein ganzes Wirken, ja, deine Taten will ich bedenken (¬îaª). (Ps 77,11–13)77

Noch dramatischer wird die Not des von Feinden verfolgten und wie ein ausgetrocknetes Land erschöpften Beters in Ps 143 gezeichnet: Er sieht sich bereits im Totenreich (V. 3, vgl. Ps 88,4ff) und beschreibt den Zusammenbruch seines Lebenswillens („Geist“ // „Herz“ V. 4). In dieser kritischen 76 Zu diesem Text s. außer den Kommentaren noch Liess, Weg, 267f. 77 S. dazu Hossfeld / Zenger, Psalm 51–100, 437 (Hossfeld); Weber, Werkbuch 2, 42 (mit einer alternativen Übersetzung von V. 11a) und Riegert, „Ich-Sphäre“, 227– 236. Zur Selbstreflexion des Beters s. auch V. 4 (ohne Beziehungsumschwung) und V. 5–7 (mit Beziehungsumschwung).

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Lage erinnert er an die früheren Heilstaten JHWHs (V. 5), erhebt seine Hände zum Gebet (V. 6) und bittet JHWH um Antwort (V. 7ff). 3 4 5 6

Ja, ein Feind hat meine Lebenskraft (næpæç) verfolgt, er trat mein Leben (ªajjåh) zu Boden, er versetzte mich in tiefe Finsternis wie längst Verstorbene Und da verzagte mein (Lebens-)Geist (rûaª) über mich, in meinem Inneren erstarrte mein Herz (leb). Ich dachte (zåkar) an die Tage von früher, ich sann (hågåh) über dein ganzes Tun nach, erwog das Werk deiner Hände. Zu dir hin habe ich meine Hände ausgebreitet, ich selbst bin wie die erschöpfte Erde vor dir. (Ps 143,3–6)78

Die psychische Widerstandskraft (Resilienz) wird in all diesen Texten (Ps 22,10f; 42,5; 63,7; 71,5f; 77,12f; 143,5) durch den Akt der Erinnerung – an die (früheren) Heilstaten JHWHs, an den (gemeinsamen) Besuch im Tempel oder an den von Gott begleiteten Vorgang der eigenen Geburt – in Gang gebracht.79 Es braucht allerdings Zeit, bis sie ihre heilsame Wirkung entfaltet und die Narben sich schließen. b)

Dankversprechen (V. 23–27)

Nach dem Weg durch die Höhen und Tiefen der eigenen Existenz, den der Beter in Ps 22,2–22 zurückgelegt hat, gelangt er mit V. 22b an einen Punkt, an dem die resiliente Kraft der Erinnerung mit ihren kollektiven und individuellen Vertrauensmotiven (V. 4ff.10ff) offenbar trägt und situationsverändernd wirkt.80 Wie sehr sich die Situation für den Beter verändert hat, zeigt das in der kultischen Gemeinde abgelegte Dankversprechen V. 23–27.81 Dieses Versprechen ist „nicht Danksagung für ein schon erhaltenes heilversprechendes Orakel, sondern Gelübde“82, das in V. 23 durch das Pronomen der 2. Pers. m. Sg. für Gott („deinen Namen“, „dich“) an den Klageliedteil zurückgebunden ist. Diesen Rückbezug belegt besonders V. 25, der die Semantik der Elendsschilderung von V. 2f.7–9 explizit aufnimmt und ins Gegenteil verkehrt:83 78 S. dazu Hossfeld / Zenger, Psalm 101–150, 864 (Hossfeld). 79 Mutatis mutandis gilt dies auch für Klgl 1–5 und dabei besonders für Klgl 1,7 und 3,19–21, s. dazu Berges, Klagelieder, 104f.195–198. 80 Vgl. Irsigler, Psalm 22, 199 und Gärtner, Lebensstark, 80. Zu V. 22b s. oben 154. 81 S. dazu auch oben 144 mit Anm. 18. 82 Irsigler, Psalm 22, 222f, vgl. Tita, Gelübde, 139–149. 83 Vgl. Irsigler, Psalm 22, 200–202.

Der Angst widerstehen

Denn nicht hat er verachtet und nicht verabscheut das Elend des Armen, und nicht hat er sein Angesicht vor ihm verborgen, und auf sein Schreien zu ihm hat er gehört.

161 vgl. 7b (Volk: „verachten“)

vgl. 3a (Gott: „nicht antworten“)

So lobt der Gerettete seinen Gott, lädt die JHWH-Fürchtigen zu einem Mahlopfer ein und fordert sie wie in V. 24a zum Gotteslob auf: 26 27

Von dir kommt mein Lobpreis (tehillåh) in großer Gemeinde, meine Gelübde (nedårîm) erfülle ich vor denen, die ihn fürchten. Essen (∞åkal) sollen Arme und satt werden (¬åba˛ nif.), loben (hll pi.) sollen JHWH, die ihn suchen! Aufleben (ªåjåh) soll euer Herz (leb) für immer!“

Mit dem Sättigungsmotiv von V. 27a („essen“ → „satt werden“) erreicht das Dankversprechen seine Klimax. Denn es bildet einen bis ins Leibliche gehenden Kontrast zu den Körperbildern von V. 15f.18a84 und bringt in Verbindung mit dem Herz-Motiv von V. 27b („aufleben soll euer Herz“) die durch die Gottesnähe geschenkte Lebensfülle eindrücklich zur Geltung.85 Da das Herz – das nach V. 15b aufgrund der aggressiven Feindbedrängnis wie Wachs geworden ist und im Inneren des Beters zerfließt – das Zentralorgan des Menschen ist,86 ist mit seinem erhofften „Aufleben“ (ªåjåh) mehr als eine körperliche Genesung gemeint. Es geht um den „ganzen Menschen“,87 d.h. um die Person in leiblicher wie in sozialer Hinsicht. In dem Wunsch, dass das Herz der „Armen“ für immer „aufleben“ möge und dass ihnen dies in der Mahlgemeinschaft mit dem geretteten Beter widerfährt, gipfelt das Resilienznarrativ von Ps 22. 84 Vgl. Gärtner, Lebensstark, 80. In weiten Teilen der älteren Psalmenforschung wird das Sättigungsmotiv dagegen auf das Spirituelle verengt und überdies die soziale Dimension der Mahlgemeinschaft nicht gesehen, s. als Beispiel Delitzsch, Psalmen, 218: „… deutlich ist, daß dieser Segen in etwas viel Höherem besteht, als in dem materiellen Vorteil, den die Teilnahme am Genusse von Tieropfern gewährt; das Opfer ist geistlich aufgefaßt, so daß die Äußerlichkeit desselben wie zum bloßen Bilde seines Wesens herabgesetzt ist, es handelt sich um eine geistliche Nießung von geistlichen ewigen Folgen“. 85 S. dazu auch Hossfeld / Zenger, Psalm 1–50, 150f (Hossfeld); Bester, Körperbilder, 252–256 und zur Stärkung des Herzens durch Essen und Trinken 256–258. Das Motiv der Sättigung ist auch sonst im Kontext eines Kultmahls belegt (Ps 65,6) und begegnet darüber hinaus im Zusammenhang des Durstmotivs in Ps 42,3; 63,2–4 u.ö., s. dazu Janowski, næpæç, 107f. 86 S. dazu ausführlich Janowski, Herz, 31–75 und ders, Anthropologie, 148–157. 87 Es ist deshalb zu wenig, wenn Baethgen, Psalmen, 66 meint, dass „Herz soviel wie Mut“ bedeute. Zum Ausdruck „ganzer Mensch“ s. Janowski, Konfliktgespräche, 44 u.ö. und ders., Anthropologie, 30–32.519 u.ö.

162 III.

Der Angst widerstehen

Der Angst widerstehen – Resümee

Versuchen wir abschließend, die Hauptergebnisse zu bündeln und auf das Rahmenthema „Resilienz“ zu beziehen. Es sind im Wesentlichen drei Aspekte, die dabei ausschlaggebend sind. 1.

Die Anthropologie der Klage

Es gehört zur Eigenart der Individualpsalmen, dass sie die Mechanismen der Gewalt nicht verschweigen, sondern schonungslos als von konkreten Menschen ausgehende Aktionen sozialer Missachtung aufdecken und Gegenbilder der Anerkennung entwerfen. Angesichts der Übermacht des Leidens, dem die Beter ausgesetzt sind, bewahren sie die Opfer davor, sprachlos und apathisch zu werden – gerade auch gegenüber Gott. Buchstäblich nichts, was im Leben des Beters an Not und Leid begegnet, fällt aus der Gottesbeziehung heraus, alles wird in diese hineingenommen und dort zum Thema gemacht. Dieser Grundzug zeigt sich besonders am Umgang mit der Leben/Tod-Problematik. „Leben“ ist das Prinzip der verknüpfenden, personale Identität und soziale Gemeinschaft stiftenden Kraft. Die Klaglieder des Einzelnen bezeichnen ein solches Leben als „gerecht“ und bringen dies mittels einer Semantik zum Ausdruck, die die Eingebundenheit des Einzelnen in die Sozialsphäre in den Blick nimmt. „Tod“ dagegen ist das Prinzip des alles auflösenden und isolierenden Zerfalls. Die Klagelieder bezeichnen ein solches Leben als „todesbefallen“ und bringen dies mittels einer Semantik zum Ausdruck, die den Körper des Einzelnen, also die Leibsphäre in den Blick nimmt. Leibsphäre und Sozialsphäre sind eng aufeinander bezogen.88 Deshalb kann das Leben schon vor dem biologischen Tod enden, wenn sich die sozialen Bindungen lockern und Kräfte auf den Plan treten, die die Klagelieder in der Gestalt des Feindes verorten.89 2.

Der Akt der Erinnerung

An diesem Punkt der leiblichen und sozialen Desintegration setzen die Individualpsalmen an. Die Frage aber ist, wie der Prozess der Wiedergewinnung der körperlichen und sozialen Integrität in Gang kommt und welche Faktoren ihn unterstützen. Das können, wie die Resilienzforschung zeigt, persönliche Veranlagungen, frühkindliche 88 S. dazu grundsätzlich Janowski, Anthropologie, 137–182.183–224, vgl. Gärtner, Lebensstark, 80f. 89 Zur Rolle des Feindes in den Individualpsalmen s. Janowski, Konfliktgespräche, 98–124 und umfassend Riede, Netz.

Der Angst widerstehen

163

Erfahrungen, sozioökonomische Faktoren und anderes mehr sein.90 In der Regel ist die Resilienz genannte Widerstandskraft kein monokausales, sondern ein multifaktorielles Phänomen, das von Kultur zu Kultur variiert. Der Versuch, Resilienznarrative in den Psalmen auszumachen, muss deshalb auf die spezifisch biblischen Faktoren achten, die den Betroffenen in die Lage versetzen, widrige Lebensumstände auszuhalten und zu überwinden. Zu diesen Faktoren zählen in Ps 22,2–22 die beiden Vertrauensäußerungen V. 4–6 und V. 10–12. Die eine ist heilsgeschichtlich, die andere ist biographisch orientiert. Beide aber gehen zurück in die Vergangenheit und finden im Vertrauen der Väter (V. 5f) wie im Handeln Gottes bei der Geburt (V. 10f) Situationen vor, die lebensrettend und lebensstärkend sind. Die resiliente Kraft der Erinnerung kommt auch in Ps 42/43 zum Ausdruck, wenn der bedrängte Beter seiner trostlosen Gegenwart (V. 2–4) den Rückblick auf die heilvolle Vergangenheit gegenüberstellt (V. 5) und sich erneut seinem Gott zuwendet (V. 6). Die Erinnerung an die Rettung Israels in Ägypten bzw. an die früheren Taten JHWHs (Ps 22,4ff, vgl. Ps 44, 2ff; 74,12ff; 77,11ff u.a.), an Gottes Hilfe bei der eigenen Geburt (Ps 22,10ff, vgl. Ps 71,5f; 139,13ff) und an die gemeinsame Wallfahrt zum Heiligtum (Ps 42,5) sind existentielle Grundsituationen, die für das Resilienznarrativ in den Psalmen charakteristisch sind.91 3.

Das Wunder der Rettung

Mit den Vertrauensäußerungen von Ps 22,4–6.10–12 und dem Rückblick auf die heilvolle Vergangenheit in Ps 42,5 ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg aus der Not getan, die entscheidende Wende steht aber noch aus. Und zwar deswegen, weil der Weg aus einer Traumatisierung steinig und lang ist bzw. sein kann.92 So belegt die abschließende Bitte in Ps 22,20–22 mit ihren aggressiven Tierbildern,93 aber auch der Rückblick auf die heilvolle Vergangenheit in Ps 42,5 und anderen Texten mit ihrem klagenden „Ausschütten“ der næpæç des Beters,94 wie tiefgreifend die Erfahrung der Gottesferne ist. Dennoch sprechen die Texte explizit von einer Lebenswende, die an ein Wunder grenzt. Die Psalmenforschung hat diese Wende, die außer in Ps 22,22b auch in Ps 3,8; 6,8f; 13,6; 57,7f u.ö. begegnet, als „Stimmungsumschwung“ bezeichnet.95 Damit ist nicht ein plötzliches 90 91 92 93 94 95

S. dazu die Übersicht bei Böhme, Resilienz, 31–55. S. dazu auch oben 148f. Vgl. Fischer, Psalmen, 39 und dazu oben 148f. S. dazu oben 154. S. dazu oben 158f. S. dazu Rechberger, Klage, 133–147

164

Der Angst widerstehen

und von außen initiiertes Geschehen („priesterliches Heilsorakel“) gemeint, sondern ein Sachverhalt, der in der Struktur des Textes angelegt ist und als „antizipiertes Faktum“ in Erscheinung tritt.96 Im Dankversprechen Ps 22,23–27 wird dieses Faktum erlebnismäßig ,nachgeholt‘, indem der Beter realisiert, dass und wie Gott die Wende herbeigeführt hat (V. 25). An diesem Handeln Gottes lässt er die Kultgemeinde teilhaben, indem er sie zum sättigenden und das „Herz“ stärkenden Mahl einlädt (V. 26f). So sieht sich am Ende der durch die Erfahrungen der Gottesferne und Feindbedrängnis geschundene Beter in leiblicher wie in sozialer Hinsicht rehabilitiert und kann den Schritt ins neue Leben wagen.97

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96 97

S. dazu oben 154. Vgl. Gärtner, Lebensstark, 81.

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165

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»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?« Zur Rezeption der Psalmen in der Markuspassion Durch die Geschichte des Christentums zieht sich wie ein roter Faden die Überzeugung, dass der Psalter ein »Spiegel« ist,1 in dem, wie Luther in seiner Zweiten Vorrede zum Psalter von 1528 schreibt, der Mensch sich selbst erkennt, »dazu Gott selbst und alle Kreaturen«: »Summa, willst du die heilige christliche Kirche gemalet sehen in lebendiger Farbe und Gestalt, in einem kleinem Bilde gefasset, so nimmt den Psalter vor dich, so hast du einen feinen, hellen, reinen Spiegel, der dir zeigen wird, was die Christenheit sei. Ja, du wirst auch dich selbst drinnen und das rechte Gnothi seauton finden, dazu Gott selbst und alle Kreaturen.«2

Das Organ, das diese Erkenntnis herbeiführt, ist das menschliche Herz, das Luther wenige Zeilen vorher mit einem »Schiff auf einem wilden Meer« vergleicht. Dieser Vergleich, der nichts weniger als eine »Daseinsmetapher«3 ist, macht deutlich, warum der Psalter, das Gebetbuch Israels, zum Gebet- und Lebensbuch der Kirche wurde und bis heute geblieben ist: »Denn ein menschlich Herz ist wie ein Schiff auf einem wilden Meer, welches die Sturmwinde von den vier Orten der Welt treiben. Hier stößt 1 Die folgenden Ausführungen wurden im Rahmen des Seminars »Die Psalmen und das Neue Testament« erarbeitet, das ich im Sommersemester 2019 mit meinem Kollegen M. Tilly an der Ev.-theol. Fakultät der Universität Tübingen gehalten habe. Sie geben mir Gelegenheit, frühere Äußerungen zum Thema (s. B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, 2003/52019, 347ff) weiterzuführen und zu präzisieren. Ich danke M. Tilly für die sorgfältige Lektüre des Beitrags. 2 M. Luther, Zweite Vorrede auf den Psalter (1528), in: H. Bornkamm (Hg.), Luthers Vorreden zur Bibel, 64–69, hier: 69. Auch J. Calvin nennt in seiner Vorrede zum Psalmenkommentar von 1557 den Psalter einen »Spiegel« (speculum): »Mit gutem Grund nenne ich das [Psalm]Buch eine Aufgliederung aller Teile der Seele. Denn jede Regung, die jemand in sich empfindet, begegnet als Abbild in diesem Spiegel«, zitiert nach E. Busch u.a. (Hg.), Calvin-Studienausgabe, Bd. 6: Der Psalmenkommentar. Eine Auswahl, 21, s. dazu auch die Hinweise bei B. Janowski, Ein Tempel aus Worten. Zur theologischen Architektur des Psalters, in: ders., Der nahe und der ferne Gott. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 5, 2014, 287–314, hier 287f. 3 Zum Begriff »Daseinsmetapher« s. H. Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher (stw 289), 1979.

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»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

her Furcht und Sorge vor zukünftigem Unfall; dort fähret Grämen her und Traurigkeit von gegenwärtigem Übel. Hier weht Hoffnung und Vermessenheit von zukünftigem Glück; dort bläset her Sicherheit und Freude in gegenwärtigen Gütern. Solche Sturmwinde aber lehren mit Ernst reden und das Herz öffnen und den Grund herausschütten. Denn wer in Furcht und Not steckt, redet ganz anders von Unfall, als der in Freuden schwebt. Und wer in Freuden schwebt, redet und singet ganz anders von Freuden, als der in Furcht steckt. Es gehet nicht von Herzen (spricht man), wenn ein Trauriger lachen oder ein Fröhlicher weinen soll; das ist, seines Herzens Grund stehet nicht offen und ist nicht heraus.«4

Im Psalter kommt das menschliche Leben zu sich selbst, weil er ein »Spiegel der Seele« und eine »Schatzkammer der Heiligen Schrift« ist. Und er ist dieser Spiegel und diese Schatzkammer, weil ihm buchstäblich »die rettende, schützende, tröstende und vergebende Gegenwart Gottes«5 innewohnt. Keine andere Sprache führt tiefer hinein in die Finsternis des Todes und keine andere ist wie sie ein Weg zum Leben. Die folgenden Überlegungen wollen diesen Sachverhalt am Beispiel der Psalmenrezeption in der markinischen Passionserzählung verdeutlichen, also an einem Text, der für die Christentumsgeschichte von eminenter Bedeutung ist. I.

Überblick

Die Psalmen gehören zu den am meisten zitierten und sprachlich/ motivlich herangezogenen Texten des Alten Testament im Neuen Testament. Mit insgesamt 110 wörtlichen Zitaten und Anspielungen (vor allem aus Ps 2; 22; 110 und Ps 118) stellt der Psalter etwa ein Drittel aller Schriftzitate im Neuen Testament.6 Psalmen sind vor allem für die Markuspassion (Mk 14,1–16,8) charakteristisch, in der an zehn bzw. elf Stellen7 aus dem Psalter (ohne einführende Zitationsformel) zitiert bzw. auf ihn angespielt wird: 4 Luther, Zweite Vorrede auf den Psalter (s. Anm. 2), 67, s. dazu B. Stolt, Martin Luthers Rhetorik des Herzens (UTB 2141), 2000, 51ff. 5 E. Zenger, Psalmenforschung nach H. Gunkel und S. Mowinckel (VT.S 80), 2000, 399–435, hier: 435. 6 Vgl. K. Löning, Die Funktion des Psalters im Neuen Testament, in: E. Zenger (Hg.), Der Psalter im Judentum und Christentum (HBS 18), 1998, 269–295, hier: 269 mit Anm. 1; s. zur Sache bereits H.-J. Kraus, Theologie der Psalmen (BK XV/ 3), 21989, 223ff und ausführlich J.-L. Vesco, Le psautier de Jésus. Les citations des psaumes dans le Nouveau Testament, t. I–II, 2012 und R.I. Watts, Mark, in: G.K. Beale / D.A. Carson (ed.), Commentary on the New Testament Use of the Old Testament, 2007, 111–249. 7 Es sind 11 Belege, wenn man Mk 14,20 (Anspielung auf Ps 41,10) hinzunimmt.

171

»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

Markuspassion

Psalmen

14,18 14,20

41,10 41,10

14,26 14,34 14,38 14,61 14,62 15,24 15,29–31 15,34 15,36

»einer, der mit mir isst« »einer der Zwölf, der mit mir in die Schüssel tunkt« Singen des Lobgesangs »Tief betrübt ist mein Leben zu Tode« »Der Geist ist willig …« »Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten?« Sitzen zur Rechten der Kraft Verteilung der Kleider Spott der Vorübergehenden, der Hohenpriester und Schriftgelehrten Invocatio: »Mein Gott, mein Gott …« Tränken mit Essig

114–118 (2. Hälfte des Passa-Hallel Ps 113–118)8 42,6.12; 43,5 51,14 2,7 110,19 22,19 22,8f 22,2a 69,2210

Dazu kommen die Anspielungen in Mk 14,1 auf die List der Hohenpriester und Schriftgelehrten,11 in Mk 14,41 auf das Ausgeliefertwerden des Menschensohns in die Gewalt der Frevler,12 in Mk 14,55–60 auf das Suchen nach einem Zeugnis gegen Jesus13 und in Mk 14,61 und 15,4f auf das Schweigen Jesu angesichts der Anklage gegen ihn.14 Außerhalb der Passionsgeschichte kommen noch die Anspielungen in Mk 1,1 auf Ps 2,7, in Mk 11,9f auf Ps 118,25f, in Mk 12,10f auf Ps 118,22f und in Mk 12,36 auf Ps 110,1 in Frage.15 Die zitierten oder sprachlich/motivlich herangezogenen Ps 2 (1 Beleg), Ps 22 (4 Belege), Ps 41 (2 Belege), Ps 42/43 (3 Belege), Ps 51 8 S. dazu G. Kennel, Frühchristliche Hymnen? Gattungskritische Studien zur Frage nach den Liedern der frühen Christenheit (WMANT 71), 1995, 9 unter Hinweis auf J. Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu, 41967, 49.246f. 9 In Kombination mit Dan 7,13, vgl. Lk 22,69, wo nur Ps 110,1 zitiert wird, s. dazu E. Flessemann-van Leer, Die Interpretation der Passionsgeschichte vom Alten Testament aus, in: F. Viering (Hg.), Zur Bedeutung des Todes Jesu. Exegetische Beiträge, 1967, 79–96, hier: 90f; Kraus, Theologie (s. Anm. 6), 233ff u.a. 10 In Mk 15,23 (Jesus wurde mit Myrrhe gewürzter Wein gereicht, den er aber ablehnte), ist keine Anspielung auf die Psalmen erkennbar, s. dazu unten Anm. 84. 11 Vgl. Ps 10,7f, ferner Ps 35,20; 52,2 u.ö. 12 Vgl. Ps 36,12; 71,4; 82,4; 97,10 und 140,5, s. dazu Vesco, Le psautier (s. Anm. 6), 279f. 13 Vgl. Ps 27,12 und 35,11, s. dazu Vesco, Le psautier (s. Anm. 6), 280f. 14 Vgl. Ps 38,14f, ferner Jes 53,7. 15 S. dazu Kraus, Theologie (s. Anm. 6), 243f, ferner Löning, Funktion (s. Anm. 6), 274 Anm. 15–16 und die Übersicht bei Vesco, Le psautier (s. Anm. 6), 308ff.

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»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

(1 Beleg), Ps 69 (1 Beleg) und Ps 110 (1 Beleg) verteilen sich auf drei Szenen der markinischen Passionsgeschichte:16 – auf den Bericht über das letzte Mahl Mk 14,12–25 (V. 18.20: Ps 41,10,17 vgl. 1QH 13,23f) – auf das Gebet in Gethsemane Mk 14,32–42 (V. 34: Ps 42,6.12; 43,5; V. 38: Ps 51,14), mit Vorverweis auf das Bekenntnis Jesu Mk 14,53– 65 (V. 61: Ps 2,7; V. 62: Ps 110,1 [und Dan 7,13]) – auf den Kreuzigungsbericht Mk 15,20b–41 (V. 23.24.29.30f.34.36: Ps 22,19.8.9.2a; 69,22).

Diese Verteilung zeigt, dass die genannten Psalmen an dramatischen Höhepunkten der markinischen Passionsgeschichte eingeflochten werden. Wichtig ist dabei die Beobachtung von K. Löning, dass sowohl die Hauptfigur (Jesus) als auch der Erzähler (Markus) »die Sprache (langue) des Psalters als ihre eigene (verwenden)«18 und die Psalmenzitate und Anspielungen »nie wie Texte anderer Herkunft behandelt (werden), sondern … stets als integrale Elemente des vom Autor Markus gebotenen Textes (fungieren)«19. Zugleich unterstreichen sie als Klage- und Danklieder des Einzelnen, dass es sich im Geschick Jesu um »die Erfahrung des Bedrängtseins durch die Macht des Todes als Schicksal der Gerechten und Frommen, erlitten als Gewalt durch Menschenhände und als Hohn der Frevler«20 handelt. Beginnen wir mit dem Bericht über das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern. II.

Der Bericht über das letzte Mahl

Mk 14,17–25 ist der erste Erzählzusammenhang in der markinischen Passionserzählung (Mk 14,1–16,8), in dem gezielt auf den Psalter angespielt wird: (17) Und als es Abend wurde, kam Jesus mit den Zwölfen. (18) Und als sie zu Tisch lagen und aßen, sagte Jesus: »Amen, ich sage euch: Einer 16 Zu beachten ist, dass die herangezogenen Psalmentexte in der Nachbarschaft von Zitaten und Anspielungen aus DtJes (Jes 51,17.22; 53,7.11f), Am (8,9) und Sach (9,11; 13,7) stehen. 17 S. dazu Flessemann-van Leer, Interpretation (s. Anm. 9), 83f; L. Ruppert, Der leidende Gerechte und seine Feinde. Eine Wortfelduntersuchung, 1973, 50; J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, 2. Teilband; Mk 8,27–16,20 (EKK II/2), 1979, 236f.238 u.a. Diese Anspielung ist besonders aufschlussreich, s. dazu im Folgenden. 18 Löning, Funktion (s. Anm. 6), 270. 19 Löning, Funktion (s. Anm. 6), 271, vgl. J. Frey, Vom Sinn-Raum der Schrift zur erfüllten Prophetie. Zur Psalmenrezeption in den Passionserzählungen der Evangelien, JBTh 32 (2017) 101–127, hier: 109f. 20 Löning, Funktion (s. Anm. 6), 271.

»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

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von euch wird mich ausliefern, einer, der mit mir isst.« (19) Da begannen sie traurig zu werden und zu ihm zu sprechen, einer nach dem anderen: »Doch nicht ich?« (20) Er aber sagte ihnen: »Einer der Zwölf, der mit mir in die Schüssel tunkt. (21) Der Menschensohn geht hin, wie von ihm geschrieben steht; wehe aber jenem Menschen, durch den der Menschensohn ausgeliefert wird. Es wäre besser für ihn, wenn er, jener Mensch, nicht geboren wäre.« (22) Und während sie aßen, nahm er Brot, sprach den Segen, brach (es) und gab es ihnen und sagte: »Nehmt, das ist mein Leib!« (23) Und er nahm einen Becher, sprach den Dank, gab ihn ihnen, und sie tranken alle daraus. (24) Und er sagte zu ihnen: »Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird. (25) Amen, ich sage euch, dass ich nicht mehr vom Gewächs des Weinstocks trinken werde bis zu jenem Tag, an dem ich es neu trinken werde im Reich Gottes.«

Die Anspielungen auf den Psalter finden sich in V. 18 und V. 20. Es handelt sich dabei um Aussagen aus dem Mund Jesu, die nach Mk 14,10f (»Judas Iskariot, einer der Zwölf«, vgl. Mk 3,19)21 denselben Akteur, nämlich Judas, meinen, ohne ihn namentlich zu nennen: Einer von euch wird mich ausliefern, einer, der mit mir isst. (V. 18) Einer der Zwölf, der mit mir in die Schüssel tunkt. (V. 20)

Sowohl das Amen-Wort Jesu (V. 18b) als auch seine Antwort auf die Frage der Jünger, die den Verräter als einen der Zwölf identifiziert (V. 20f), ist situationsgebunden, d.h. auf das vorausgesetzte Passamahl bezogen. Dabei wird der Bruch des mit dem gemeinsamen Mahl dokumentierten Gemeinschaftsverhältnisses – Jesus kommt mit (metav) den Zwölfen (V. 17), und einer, »der mit (metav) mir isst«, wird ihn ausliefern (V. 18, vgl. V. 20) – nachdrücklich betont. Mit der nachklappenden und damit besonders hervorgehobenen Anspielung auf Ps 41,10 »… ist ein in die Situation des Mahls passendes, den frevlerischen Bruch der Gemeinschaft markierendes Motiv der passio iusti-Thematik aufgenommen«22. 21 Zu Mk 14,10f s. M. Meiser, Judas Iskariot. Einer von uns (BG 10), 2004, 58f. 22 R. Pesch, Das Markusevangelium 2 (HThK.NT II/2), 1977, 349, vgl. Gnilka, Markus II (s. Anm. 17), 236f.238 u.a. Da Ps 41,10 (∞okel laªmî = oJ ejsqivwn a[rtou~ mou) in Mk 14,18.20 nicht wörtlich zitiert wird, ist von einer Anspielung zu sprechen, vgl. noch Joh 13,26f. Dagegen hat Mt 26,21 die Reminiszenz an Ps 41,10 »getilgt, vielleicht weil der Psalter für ihn keine theologische Beweiskraft hat« (Gnilka, Markus II [s. Anm. 17], 236 Anm. 10), s. dazu auch U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 4. Teilband: Mt 26–28 (EKK I/4), 2002, 88 und M. Konradt, Das Evangelium nach Matthäus (NTD 1), 2015, 404 (»Straffungstendenz«). Dass der Psalter für Matthäus »vielleicht … keine theologische Beweiskraft« hat, ist allerdings zu hinterfragen, s. dazu jetzt A.C. Euler, Kurze Texte mit großer Wirkung. Psalmen im Matthäusevangelium, BiKi 74 (2019) 143–149.

174

»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

Die Formulierungen von Mk 14,18.20f spielen dabei auf ein Traditionsmotiv an, das sich in Psalm 4123 findet und dort am Ende des Klagegebets V. 5–11 steht, das seinerseits von einer weisheitlichparänetischen Sentenz (V. 2–4) und einem Dankbekenntnis (V. 12f) gerahmt wird: 5 Ich selbst sprach: JHWH, sei mir gnädig! Heile mein Leben/mich, denn ich habe an dir gesündigt! 6 Meine Feinde reden Böses über mich: »Wann stirbt er und vergeht sein Name?« 7 Und wenn einer kommt, (mich) zu sehen, redet sein Herz Falsches, er sammelt sich Unheil zusammen, er geht hinaus, er redet. 8 Gemeinsam zischeln über mich alle, die mich hassen, gegen mich ersinnen sie Böses für mich: 9 »Eine Sache des Verderbens ist über ihn ausgegossen, und wer einmal liegt, steht nicht mehr auf!« 10 Sogar der Mann meines Friedens, dem ich vertraute, der mein Brot aß, hat groß getan (= geprahlt) gegen mich. 11 Aber du, JHWH, sei mir gnädig und richte mich auf, damit ich ihnen vergelten kann!

Diese Feindschilderung, die eine kleine Phänomenologie des ›sozialen Todes‹24 darstellt, ist ausgesprochen dramatisch: Sie beginnt mit dem vernichtenden Todeswunsch zunächst außenstehender »Feinde« (V. 6), lässt dann einen einzelnen Krankenbesucher (Nachbar oder Familienangehöriger?) auftreten, der die Hilflosigkeit des Beters ausnutzt (V. 7) und begleitet ihn vom Krankenbett nach draußen auf die Straße, wo man bereits dabei ist, dem Opfer mittels Zusammenrottung und regelrechter Todesdeklaration den Garaus zu machen (V. 8f). Damit nicht genug, tritt auch noch der vertraute Freund in Erscheinung, der aus der Menge der Feinde hervorsticht, weil er zur unmittelbaren Umgebung des Leidenden gehörte (Tischgemeinschaft) und jetzt zur höchsten Gefahr für ihn geworden ist. Dieser Kontrast von intimer Nähe und höchster Gefahr wird in V. 10 mit der Steigerungspartikel »sogar« eingeführt. Die Dramatik dieses Kontrasts hängt mit dem Motiv der sog. Freundklage zusammen, auf das im Zusammenhang mit der Gethsemane-Erzählung zurückzukommen ist.25 23 Zu Ps 41 s. außer den Kommentaren noch Janowski, Konfliktgespräche (s. Anm. 1), 180ff.457f; M. Bauks, Die Feinde des Psalmisten und die Freunde Ijobs. Untersuchungen zur Freund-Klage im Alten Testament am Beispiel von Psalm 22 (SBS 203), 2004, 84ff; A. Kuckhoff, Psalm 6 und die Bitten im Psalter. Ein paradigmatisches Bitt- und Klagegebet im Horizont des Gesamtpsalters (BBB 160), 2011, 176ff.184ff.193ff u.a. 24 Zum Begriff »sozialer Tod« s. Janowski, Konfliktgespräche (s. Anm. 1), 47f. 25 S. dazu unten 183ff.

»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

175

Außer in Mk 14,17–21 hat Ps 41,10 auch in den Texten vom Toten Meer eine Nachgeschichte. Wie N. Lohfink26 gezeigt hat, wird in den Lobliedern aus Qumran (Hodayot), speziell in 1QH 13,(1–2.)3–41, eine weitreichende Armentheologie entwickelt, die mit Ps 41,10 als Schriftbeleg arbeitet. Wenn man der editio princeps von H. Stegemann / E. Schuller / C. Newsom sowie der neuen Ausgabe von U. Dahmen27 folgt und sich dabei auf Z. 20–28 konzentriert, wird deutlich, dass hier konkrete und von Ps 41 her bekannte Auseinandersetzungen angesprochen werden. Es sind »Auseinandersetzungen mit einem inneren und dem Beter besonders verbundenen Kreis, der ihn verraten hat«28. Der Text lautet folgendermaßen: (22) Gepriesen seist du, Herr, denn nicht hast du verlassen die Waise und nicht verachtet den Geringen. Denn deine Macht ist ohne Ende, und deine Herrlichkeit (23) ohne Maß, und wunderbare Helden sind deine Diener. Und mit den Elenden im Staub deiner Füße [zusammen] mit denen, die eifern für (24) die Gerechtigkeit, (bist du), um hinaufzuführen aus dem Schlamm gemeinschaftlich alle Armen der Gnade. Aber ich wurde wegen [ ] zum Streit (25) und Hader für meine Freunde, zu Eifer und Zorn für die, die in meinen Bund eingetreten waren, und zu Makel und Tadel für alle, die sich um mich zusammengefunden hatten. Auch die, die mein Brot essen, (26) haben gegen mich die Ferse erhoben, und es redeten Übles gegen mich mit schuldhafter Lippe alle, die meinem Kreis verbunden waren, und die Männer meines Rates sind störrisch (27) und murren ringsum. Und an dem Geheimnis, das du in mir geborgen hast, übten sie Verrat bei den Söhnen des Unheils. Aber damit du dich machtvoll erweist durch mich, und wegen (28) ihrer Schuld hast du verborgen die Quelle der Einsicht und den Ratschluss der Wahrheit.29 Diese Notschilderung, die in Z. 24–26 sechs bzw. sieben (Textlücke in Z. 24) unterschiedliche Feindbezeichnungen enthält, ist um Ps 41,10 herum gruppiert, der in Z. 25f wörtlich zitiert wird, zugleich aber vom Singular in den Plural übergeht: »Auch die, die mein Brot essen, haben gegen mich die Ferse erhoben«30. So ist auch dieser Text ein Beleg für die im Alten Testa26 N. Lohfink, Lobgesänge der Armen. Studien zum Magnifikat, den Hodajot von Qumran und einigen späten Psalmen (SBS 143), 1990, 78ff. 27 S. dazu H. Stegemann / E. Schuller / C. Newsom, 1 QHodayota (DJD 40), 2009, 167ff und U. Dahmen, Die Loblieder (Hodayot) aus Qumran, 2019, 51ff, ferner G. Jeremias, Der Lehrer der Gerechtigkeit (StUNT 2), 1963, 226ff und J. Maier, Die Qumran-Essener, Bd. 1 (UTB 1862), 1995, 76ff. 28 Lohfink, Lobgesänge (s. Anm. 26), 81f. Ob mit dem Beter der »Lehrer der Gerechtigkeit« gemeint ist, wird nach wie vor kontrovers diskutiert. 29 Übersetzung Dahmen, Loblieder (s. Anm. 27), 53, vgl. Jeremias, Lehrer (s. Anm. 27), 226f (mit dem Kommentar 239ff). 30 In Ps 41,10 MT ist ˛åqeb »Ferse« offenbar eine Randglosse, s. dazu Janowski, Konfliktgespräche (s. Anm. 1), 181f. Mit »Fersengeld geben« (so Maier, QumranEssener (s. Anm. 27), 79; Dahmen, Loblieder (s. Anm. 27), 53 Anm. 398) hat die Wendung »die Ferse erheben« in 1 QH 13,26 jedenfalls nichts zu tun, ganz im Gegenteil. Im Unterschied zur sprichwörtlichen Redeweise mit der Bedeutung »sich da-

176

»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

ment, in Qumran und im Neuen Testament verbreitete Klage über den Freund, der zum Feind wird.31

III.

Die Gethsemane-Erzählung

Bei der Bezugnahme der markinischen Passionsgeschichte auf den Psalter geht es, wie bereits Mk 14,17–25 zeigt, um mehr als um biblisches Sprachkolorit. Da mit der Sprache der Psalmen ein bestimmtes Gottes-, Welt- und Menschenverständnis zum Ausdruck gebracht wird, liegt der Rezeption der Klage- und Danklieder vielmehr die Absicht zugrunde, Jesu Leiden das Zufällige zu nehmen und es – mit signifikanten Akzentsetzungen – in der Motivtradition der passio iusti zu verankern.32 Dieses in den Klage- und Dankpsalmen beheimatete Leidensmotiv findet sich in expliziter Form im Bericht über das Gebet Jesu in Gethsemane Mk 14,32–4233 mit seinen in V. 34 auf Ps 42/43 (und Ps 55) zurückgreifenden Anspielungen: (32) Und sie kommen zu einem Landstück mit Namen Gethsemane, und er sagt seinen Jüngern: »Setzt euch hier, bis ich gebetet habe.« (33) Und er nimmt den Petrus und den Jakobus und den Johannes mit sich und begann, sich zu entsetzen und zu ängstigen. (34) Und er sagt ihnen: »Tief betrübt ist mein Leben (περίλυπός ἐστιν ἡ ψυχή μου)34 bis zum Tod. Bleibt hier und wacht!« (35) Und er ging ein Stück weiter, warf sich auf die Erde und betete, dass, wenn es möglich wäre, die Stunde an ihm vorvonmachen, ohne zu kämpfen oder zu zahlen« (s. dazu L. Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Bd. 1, 62003, 435f) bedeutet die Wendung gdl hif. + ˛al »prahlen, groß tun gegen jemanden«, s. dazu Ps 55,13 u.ö.; Ges18 201 s.v. gdl hif. und Janowski, Konfliktgespräche (s. Anm. 1), 182. 31 S. dazu unten 183ff. 32 S. dazu Ruppert, Der leidende Gerechte (s. Anm. 17), 42ff, ferner Flessemannvan Leer, Interpretation (s. Anm. 9), 82f.96; D. Lührmann, Das Markusevangelium (HNT 3), 1987, 43f.230.245.250.260.269 u.ö.; G. Barth, Der Tod Jesu Christi im Verständnis des Neuen Testaments, 1992, 28ff u.a. 33 Zur Funktion der Gethsemaneszene im Kontext der Passionsgeschichte s. R. Feldmeier, Die Krisis des Gottessohnes. Die Gethsemaneerzählung als Schlüssel der Markuspassion (WUNT II/21), 1987, 128ff.237ff und J. Herzer, Freund und Feind. Beobachtungen zum alttestamentlich-frühjüdischen Hintergrund und zum impliziten Handlungsmodell der Gethsemane-Perikope Mk 14,32–42, Leqach 1 (2001) 107– 136), 118ff. 34 Zur »Betrübnis« (z.T. mit ψυχή) s. noch Tob 3,1.10; Sir 30,21; Bar 2,18; Spr 14,10LXX; freundlicher Hinweis von Dr. R. Brucker, Kiel. Zu ψυχή »Leben, Lebenskraft« in den synoptischen Evangelien (38 Belege) und in der Apostelgeschichte (15 Belege) s. A. Sand, Art. ψυχή (EWNT 3, 1983, 1197–1203), 1198f.1201f; G. Harder / U. Schnelle, Art. ψυχή, in: L. Coenen / K. Haacker (Hg.), Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament, 1997, 1617–1626, hier: 1621f.1623 (Schnelle) und A. Weissenrieder / K. Dolle (Hg.), Körper und Verkörperung. Biblische Anthropologie im Kontext antiker Medizin und Philosophie. Ein Quellenbuch für die Septuaginta und das Neue Testament (FOSUB 8), 2019, 161ff.

»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

177

überginge. (36) Und er sagte: »Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir, aber nicht, was ich will, sondern was du (willst)!“ (37) Und er kommt und findet sie schlafend und sagt Petrus: »Simon, du schläfst? Konntest du nicht eine Stunde wachen? (38) Wacht und betet, damit ihr nicht in Versuchung kommt! Der Geist ist willig, das Fleisch aber schwach.« (39) Und er ging wieder weg und betete, indem er dasselbe Wort sprach. (40) Und wieder kam er und fand sie schlafend. Denn ihre Augen waren schwer; und sie wussten nicht, was sie ihm antworten sollten. (41) Und er kommt zum dritten Mal und sagt ihnen: »Ihr schlaft weiter und ruht euch aus? Es ist genug. Die Stunde ist gekommen. Siehe, der Menschensohn wird ausgeliefert in die Hände der Sünder. (42) Steht auf, wir wollen gehen! Siehe, der mich ausliefert, hat sich genaht.«

Das ist eine dichte Schilderung des dramatischen Geschehens mit dem zweimaligem Weggehen und dem dreimaligem Zurückkommen Jesu. Im Folgenden steht die Frage nach der Bedeutung der Klage in V. 34a und ihrem traditionsgeschichtlichen Hintergrund im Mittelpunkt.35 1.

Die emotionale Erschütterung Jesu

In Mk 14,33b werden mit »sich entsetzen« (ejkqambei'sqai) und »in Angst geraten« (ajdhmonei'n) zwei Verben verwendet, die zum Wortfeld der emotionalen Erschütterung gehören.36 Deren Ursache wird in V. 34 möglicherweise unter Anspielung auf den Kehrvers von Ps 42/43 geschildert, in dem der Beter seine næpæç (»Leben, Lebenskraft«)37 nach dem Grund ihrer Angst fragt, um darauf seiner Hoffnung auf Rettung Ausdruck zu verleihen: Was zerfließt du,38 mein Leben (næpæç), und was begehrst du auf gegen mich? Harre auf Gott, denn ich werde ihm wieder danken, der Rettung ‹meines› Angesichts ‹und› meinem Gott (Ps 42,6, vgl. V. 12; 43,5)39 35 Zum Motiv des Schlafens der drei Jünger s. etwa Herzer, Freund (s. Anm. 33), 117f. 36 Zu diesen beiden Verben s. Feldmeier, Krisis (s. Anm. 33), 146ff. 37 Zur Bedeutung von næpæç s. B. Janowski, Die lebendige næpæç. Das Alte Testament und die Frage nach der »Seele«, in: ders., Der nahe und der ferne Gott. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 5, 2014, 73–11 und ders., Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, 2019, 52ff mit den dortigen Literaturhinweisen. 38 Zur Bedeutung von çîaª hitpol. s. Ges18 1347 s.v. çjª und Th. Dockner, »Sicut«. Text, Struktur und Bedeutung von Psalm 42 und 43 (ATSAT 67), 2001, 180f. 39 Masoretischer Text: »den Rettungstaten seines Angesichts« und andere Satzabgrenzung (»mein Gott«) zu Beginn von V. 7. Zu den textkritischen Problemen s.

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»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

Wie ist dieser Kehrvers zu verstehen und bildet er den Traditionshintergrund von Mk 14,34? Exkurs 1: Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund von Mk 14,34 Die These, dass hinter Mk 14,34a der Kehrvers von Ps 42/43 steht, ist nachdrücklich von R. Feldmeier vertreten worden.40 Nach Feldmeier »erklärt sich … aus der Entsprechung der Situationen (sc. von Ps 42/43 und Mk 14,32ff), dass Jesus seine Klage in Anlehnung an die Worte des Ps 42/43 (41/42 LXX) formuliert«41. Das ist, wie auch J. Herzer42 einräumt, zunächst plausibel. Da die markinische Wendung »bis zum Tod« (ἕως θανάτου) in Ps 42,6.12; 43,5) aber nicht vorkommt und es auch sonst Formulierungsdifferenzen zwischen den beiden Texten gibt, ist zunächst nach der Eigenaussage des Psalms43 zu fragen. Die erste Strophe (V. 2–6) von Ps 42/43 beginnt mit einem Tiervergleich (V. 2), der die existentielle Not des Beters in ein eindrückliches Sehnsuchtsbild (lechzende Hirschkuh) fasst, und dieses Bild in jedem der fünf Verse mit Wasserbildern – Wasserbäche / Durst / Tränen / Ausschütten / Zerfließen – fortsetzt:

Klage (= Situation der trostlosen Gegenwart) 2 3 4

Wie eine Hirschkuh lechzt an Wasserbächen, so lechzt mein Leben (næpæç) nach dir, Gott. Es dürstet mein Leben (næpæç) nach Gott, dem lebendigen Gott: wann werde ich kommen und ‹sehen›44 das Gesicht Gottes? Es wurden mir meine Tränen (zu) Brot bei Tag und bei Nacht, wenn man zu mir sagt den ganzen Tag: »Wo ist dein Gott?«

Erinnerung (= Blick in die heilvolle Vergangenheit) 5

Daran45 denke ich und schütte aus mein Leben (næpæç) über mir/gegen mich,46

Dockner, »Sicut« (s. Anm. 38), 17f und T. Aoki, »Wann darf ich kommen und schauen das Angesicht Gottes?« Untersuchungen zur Zusammengehörigkeit beziehungsweise Eigenständigkeit von Ps 42 und Ps 43 (ATM 23), 2008, 61ff. 40 S. dazu Feldmeier, Krisis (s. Anm. 33), 156ff. 41 Feldmeier, Krisis (s. Anm. 33), 160. 42 Herzer, Freund (s. Anm. 33), 122. 43 Zu Ps 42/43 s. außer den Kommentaren noch Dockner, »Sicut« (s. Anm. 38); Aoki, »Wann« (s. Anm. 39); Janowski, næpæç (s. Anm. 37), 101ff u.a. 44 Der masoretische Text liest liest r∞h nif., s. dazu Janowski, næpæç (s. Anm. 37), 101 Anm. 104. 45 ∞elæh hat eine kataphorische, d.h. auf den anschließenden kî-Satz (»dass ich hinüberzog …«) verweisende Funktion, vgl. Dockner, »Sicut« (s. Anm. 38), 179. 46 Zur Konstruktion vgl. Hi 30,16: »Doch jetzt hat sich mein Leben ausgeschüttet über mir / gegen mich« (çåpak hitp. + ˛al), s. dazu K. Müller, Lobe den Herrn, meine

»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

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dass ich hinüberzog ‹zur herrlichen Hütte›47, bis zum Haus Gottes unter der Stimme des Jubels und Dankes einer feiernden Schar.

Hoffnung (= Sehnsucht nach dem rettenden Gott) 6

Was zerfließt du, mein Leben (næpæç), und was begehrst du auf gegen mich?48 Harre auf Gott, denn ich werde ihm wieder danken, der Rettung ‹meines› Gesichts ‹und› meinem Gott.

Klage 7 8 9 10

11

Mein Gott, mein Leben (næpæç) ist vor mir aufgelöst, deshalb denke ich an dich von der Jordangegend und vom Hermongebirge, vom Berg Mizar. Eine Flut ruft nach der nächsten im Tosen deiner Wasserfälle. Alle deine Brandungen und Wogen sind über mich hinweggegangen. Am Tag befiehlt Adonai seine Gunst herbei, aber in der Nacht ist sein Lied bei mir, ein Gebet zum Gott meines Lebens. Es sagt zu Gott, meinem Felsen: »Warum hast du mich vergessen? Warum muss ich als Trauernder wandeln, bei Bedrängung durch einen Feind, unter Mord in meinen Knochen? Mich verhöhnten meine Bedränger, als sie die ganze Zeit zu mir sagten: ›Wo ist denn dein Gott?‹«

Kehrvers (vgl. V. 6; 43,5) 12

Was zerfließt du, mein Leben (næpæç), und was begehrst du auf gegen mich? Harre auf Gott, denn ich werde ihm wieder danken, der Rettung ‹meines› Gesichts ‹und› meinem Gott.49

Das Besondere an Ps 42 ist, dass der Beter seiner eigenen næpæç gegenübertritt.50 Das geschieht in V. 5f (sowie in 42,12 und 43,5). Zu»Seele«. Eine kognitiv-linguistische Studie zur næfæç des Menschen im Alten Testament (BWANT 215), 2018, 284 Anm. 225. 47 Der masoretische Text ist kaum verständlich. Die obige Emendation folgt Dockner, »Sicut« (s. Anm. 38), 59f.90. Anders Aoki, »Wann« (s. Anm. 39), 14ff.261 (»dass ich ‹im Kreis der Edlen› hinüberzog zum Haus YHWHs«). 48 Oder: »was bist du leidenschaftlich erregt gegen mich?«. 49 Zum Textproblem von V. 12 s. die Hinweise oben Anm. 39.

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»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

nächst aber wird – mit dem elementaren Bild der nach Wasser lechzenden Hirschkuh, das mehrfach auf hebräischen Namenssiegeln des 8. und 7. Jh. v.Chr. erscheint51 – die Ferne Gottes und das Dürsten des Beters bzw. seiner næpæç nach Gott thematisiert (V. 2–4). Dabei wird die Not des Beters, die durch die unentwegte Spottfrage seiner Umgebung »Wo ist dein Gott« (V. 4b, vgl. V. 11) noch gesteigert wird, in ein existentielles Bild gefasst, wonach sein Hunger nach einem gotterfüllten Leben durch Tränen ›gestillt‹ wird. Mit V. 5 ändert sich die Situation, weil sich der Beter jetzt an vergangene Zeiten erinnert, als er in der Gemeinschaft der Tempel-Wallfahrer die Nähe Gottes erlebt hatte. In diesem Zusammenhang ist davon die Rede, dass er seine næpæç über/gegen sich »ausschüttet«. Auch wenn V. 5 »die Entschlossenheit des Beters widerspiegelt, seine Not durch die Erinnerung an die in der Vergangenheit erfahrene heilvolle Nähe Gottes zu überwinden«52, ist aufgrund des Klagekontextes (V. 1–4) davon auszugehen, dass sich das Syntagma çåpak + næpæç auf die Klage des Beters bezieht, der im Vergleich mit der heilvollen Vergangenheit seiner trostlosen Gegenwart inne wird und deshalb seine næpæç über/gegen sich »ausschüttet«: »Die Klage, in der man ›sich ausspricht‹, in der man ›alles los werden will‹, ist selbst die Bewegung des Ausschüttens«53. Dennoch hält, wie das Verb zåkar »gedenken« in V. 5 unterstreicht, der Beter mit seinem Blick auf die heilvolle Vergangenheit das fest, was an ihr für die trostlose Gegenwart (V. 1–4) bedeutsam ist – nämlich die Nähe des lebendigen Gottes. Der Beter stößt also auf die Asymmetrie von Einst und Jetzt, was ihn zu einer Neubestimmung seiner Situation coram Deo bringt. Diese Neubestimmung äußert sich in den Fragen von V. 6a, mit denen er seine næpæç als Gegenüber anspricht (»du«) und sie auffordert, auf Gott zu harren, für dessen Rettung sie ihm wieder dankbar sein wird (V. 6b, vgl. V. 5b). So gelangt die lechzende (V. 2), dürstende (V. 3) und klagende næpæç (V. 5ab) an einen Punkt, an dem die Trostlosigkeit der Gegenwart überwunden und die Rettung durch den lebendigen Gott erfahren wird. Kehren wir von hier zu der Frage zurück, ob die Klage Jesu in Mk 14,34a eine bewusste Anspielung auf Ps 42,6.12; 43,5 enthält. 50 Vgl. Ps 62,6 und 116,7. Etwas anders orientiert sind die Belege Ps 34,3; 103, 1b–2; 104,1.35 u.ö., in denen die næpæç das Subjekt des Preisens ist, z.B. Ps 103, 1b–2: »Segne, mein Leben (næpæç), JHWH, und alles, was in mir ist (kål-qeråbaj), seinen heiligen Namen! Segne, mein Leben (næpæç), JHWH, und vergiss nicht alle seine Wohltaten!«, s. dazu Müller, »Seele« (s. Anm. 46), 232f. 51 S. dazu Janowski, næpæç (s. Anm. 37), 102f. 52 Aoki, »Wann« (s. Anm. 39), 82, vgl. 131. 53 C. Westermann, Art. næpæç (THAT 2, 51995, 71–96), 81, s. dazu auch Dockner, »Sicut« (s. Anm. 38), 180; Müller, »Seele« (s. Anm. 46), 282ff u.a.

»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

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Unser Zwischenergebnis lautet: ja und nein. Ja, im Blick auf die Anspielung von περίλυπός ἐστιν ἡ ψυχή μου (»tief betrübt ist mein Leben«) auf mah-tiçtoªaªî napçî (»Was zerfließt du, mein Leben?«), und Nein, im Blick auf die Fortsetzung ἕως θανάτου »bis zum Tod«, für die es im Psalmtext keine Entsprechung gibt, auch wenn es in Ps 42/43 um die Leben/Tod-Problematik geht. Eine mit der markinischen Wendung ἕως θανάτου »bis zum Tod« vergleichbare Formulierung gibt es aber in den Lobliedern (Hodayot) aus Qumran, und zwar in der eindrücklichen Elendsschilderung 1QH 16,28–3654 und hier bee sonders in Z. 33 (l kålåh »bis zur Vernichtung«): (28) Aber ich war wie ein Mann, allein gelassen in Kummer [… …] ohne Kraft für mich, denn es spross meine Plage (29) zu Bitternissen und unheilbarem Schmerz, so dass es nicht mehr möglich war, Kraft aufzubringen. Und Schrecken [kam] über mich wie (über) die, die zur Unterwelt hinabsteigen, und bei (30) den Toten wäre mein Geist zu suchen, denn schon hatte mein Leben die Grube erreicht […] verzagte meine næpæç55 Tag und Nacht (31) ohne Ruhe. Und sie sprießt hoch wie brennendes Feuer, eingeschlossen in meinen Gebeinen. Für viele Tage frisst die Flamme, (32) um die Kraft zu rauben für alle Zeiten und das Fleisch auszuzehren auf Dauer. Und Brecher fliegen auf mich zu, (33) so dass mein Leben (næpæç) bedrückt ist in mir bis zur Vernichtung,56 denn verschwunden ist meine Kraft aus meinem Leib, und wie Wasser fließt hin mein Herz, und wie Wachs (34) zerschmilzt mein Fleisch, und die Kraft meiner Hüften unterliegt dem Verfall. 54 Auf diesen Text weisen u.a. auch Feldmeier, Krisis (s. Anm. 33), 161 und Herzer, Freund (s. Anm. 33), 122f hin, s. ferner H. Omerzu, Die Rezeption von Psalm 22 im Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels, in: D. Sänger (Hg.), Psalm 22 und die Passionsgeschichten der Evangelien (BThSt 88), 2007, 33–76, hier: 64f. 55 kî higgî˛û laççaªat ªajjafij^ tit˛a††ep napçî. Zu ˛†p hitp. »verzagen, verschmachten« vgl. Ps 77,4, 142,4; 143,4 (jeweils mit rûaª »Geist«) und Ps 107,5; Jon 2,8 (jeweils mit næpæç »Leben«). e 56 w napçî ˛ålaj tiçtôªaª lekålåh. Zu 窪 hitp. »bedrückt sein« vgl. Ps 35,14 (Trauergestus) und 38,7 (Depression) (jeweils çåªaª »sich beugen > niedergebeugt sein«), s. dazu B. Janowski, Das erschöpfte Selbst. Zur Semantik der Depression in den Psalmen und im Ijobbuch, in: ders., Das hörende Herz. Beiträge zur Theologie und Anthropologie des Alten Testaments 6, 2018, 77–123, hier: 82.89f.97 Anm. 101.

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»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

Und mein Arm ist aus seinem Gelenk gebrochen, so dass es unmöglich ist, die Hand auszustrecken. (35) Und mein Fuß ist in einer Fessel gefangen, und wie Wasser gehen meine Knie dahin, so dass es unmöglich ist, einen Schritt voran zu tun, und kein Schritt (geschieht) beim Schall meiner Füße. (36) Und die Kraft meines Arms haben sie in Fesseln gelegt, die straucheln lassen.57 Wenn man die entsprechenden Formulierungen der drei Texte – Ps 42,6 (und Kehrvers 42,12; 43,5), 1 QH 16,33 und Mk 14,34 – miteinander vergleicht, ergeben sich folgende Zusammenhänge: Ps 42,6.12; 43,5

1 QH 16,33

mah-tiçtoªaªî

wenapçî ˛ålaj tiçtôªaª lekålåh so dass mein Leben bedrückt ist in mir bis zur Vernichtung

napçî Was zerfließt du, mein Leben, und was begehrst du auf gegen mich? Ps 41,6.12; 42,5 LXX i{na tiv perivlupov" ei\ yuchv Was bist du tief betrübt, (mein) Leben? Mk 14,34

perivlupov" ejstivn hJ yuchv mou e{w" qanavtou Tief betrübt ist mein Leben bis zum Tod Das aber heißt: In Mk 14,34a dürfte eine Motiv- oder Themenkombination vorliegen, die sich vor allem aus Ps 42,6.12; 43,5 und 1 QH 16,33 speist.58 In allen drei Texten ist von einer existenziellen Bedrängnis der næpæç / ψυχή, also von einer Situation am Rande des Todes die Rede. Dieser Be57 S. dazu Stegemann / Schuller / Newsom, 1 QHodayota (s. Anm. 27), 216ff und die Übersetzung von Dahmen, Loblieder (s. Anm. 27), 65.67, vgl. auch Maier, Qumran-Essener (s. Anm. 27), 91f. Zur Übersetzung von næpæç mit »Leben, Lebenskraft« s. auch R.B. Bonfiglio, Art. næpæç, ThQ 2 (2013) 1007–1017, hier: 1012f und die Hinweise oben Anm. 37. 58 Demgegenüber spricht Herzer, Freund (s. Anm. 33), 122 von einem »Mischzitat«. Die Problematik dieses Ausdrucks besteht darin, dass er die Annahme einer literarischen Abhängigkeit von Mk 14,34 von den genannten Bezugstexten suggeriert. Im Unterschied dazu ist der Ausdruck »Motiv- oder Themenkombination« offener und meint – anders als das Zitat (wie etwa in Mk 15,34 < Ps 22,2) oder die Anspielung (wie in Mk 14,18.20 ‹ Ps 41,10) – eine Rezeption von Motiven oder Themen, die, ohne literarisch von ihnen abhängig zu sein, den Zieltext auf erkennbare Weise prägen. Eine derartige Motiv- oder Themenkombination begegnet etwa in den späten Ps 103–104; 145–147 u.a., die für die Du- und Wir-Bitten des Vaterunsers Mt 6,9– 13 par. Lk 11,2–4 prägend sind, s. dazu R.G. Kratz, Die Gnade des täglichen Brots. Späte Psalmen auf dem Weg zum Vaterunser, ZThK 89 (1992) 1–40), 13ff.19ff.25ff. 28ff.

»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

183

drängnis standzuhalten, bietet der Beter seine ganze (verbliebene) Lebenskraft auf.

2.

Der Freund, der zum Feind wird

Ein Aspekt, der sowohl für Ps 41 und Ps 42/43 als auch für die Markuspassion von Bedeutung ist, fällt besonders ins Auge: die Rolle der Feinde des Beters59 bzw. der Gegner Jesu. Unter ihnen sticht die Figur des sog. ›Freundes, der zum Feind wird‹60 noch einmal hervor. Sie tritt sowohl in Ps 41,10 als auch in Mk 14,18.20f auf. 61 Daneben gibt es eine Figurenkonstellation, die von J. Herzer als »Handlungsmodell«62 bezeichnet wird und die im Unterschied zur ›expliziten Tradition‹, wie sie in den Psalmen-Zitaten und -Anspielungen zum Ausdruck kommt, »eine Tradition eher implizit assoziiert, die textpragmatisch von großer Bedeutung ist«63. Eine derartige, die Gesamtszene bestimmende ›implizite Tradition‹ enthält auch die Gebetsreflexion Ps 55.64 Wie in der Gethsemane-Erzählung Mk 14,32–42 wird der Todesschrecken des Beters auch nach Ps 55,13–15 durch einen Vertrauten ausgelöst, der sich in die Menge der Feinde und Gottlosen einreiht, die ihn bedrängen: Bitte um Erhörung 2 3

Vernimm, Gott, mein Gebet, und verbirg dich nicht vor meinem Flehen! Achte doch auf mich und antworte mir!

Klage Ich irre umher in meiner Klage und ich bin außer mir 59 Anders Herzer, Freund (s. Anm. 33), 122, demzufolge in Ps 42/43 »von den eigenen Gefährten gerade nicht die Rede ist« (Hervorhebung im Original). Dem widersprechen aber das Reden und Handeln der Feinde des Beters in Ps 42,4.10f und 43,1f. 60 S. dazu Herzer, Freund (s. Anm. 33), 124ff und Janowski, Anthropologie (s. Anm. 37), 214ff. 61 S. dazu oben 173ff. 62 S. dazu Herzer, Freund (s. Anm. 33), 118f.126ff.133f. 63 Herzer, Freund (s. Anm. 33), 126. 64 Zu Ps 55 s. außer den Kommentaren noch P. Riede, Im Netz des Jägers. Studien zur Feindmetaphorik der Individualpsalmen (WMANT 85), 2000, 279ff; C. Süssenbach, Der elohistische Psalter. Untersuchungen zu Komposition und Theologie von Ps 42–83 (FAT II/7), 2005, 115ff; Chr. Hardmeier, Lesehermeneutische Sinnerschließung von Psalm 55, in: A. Ruwe (Hg.), Du aber bist es, ein Mensch meinesgleichen (Psalm 55,14). Ein Gespräch über Psalm 55 und seine Parallelen (BThSt 157), 2016, 1–81; A. Ruwe, Vertrauenszuwachs in der Klage. Zu Gliederung und Aussagegefälle von Psalm 55, in: ders. (Hg.), Du aber bist es, 147–189 und Janowski, Anthropologie (s. Anm. 37), 218ff.

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»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

4

5 6

wegen der Stimme des Feindes, wegen der Bedrängnis des Frevlers, denn sie wälzen auf mich Unheil, und im Zorn feinden sie mich an. Mein Herz bebt in meinem Inneren, und Todesschrecken sind auf mich gefallen. Furcht und Zittern überkommen mich, und es hat mich Entsetzen bedeckt.

Irrealer Wunsch 7 8 9

Und ich sprach: Hätte ich doch Flügel wie eine Taube, fliegen wollte ich und mich niederlassen! Siehe, ich möchte in die Ferne fliehen, übernachten möchte ich in der Wüste! – Sela Eilen möchte ich zu meinem Zufluchtsort vor dem reißenden Wind, vor dem Sturm.

Anrede an Gott 10 11 12

Vertilge, mein Herr, spalte ihre Zunge, denn ich habe gesehen Gewalttat und Streit in der Stadt! Bei Tag und bei Nacht umkreisen sie (sc. die Feinde) sie (sc. die Stadt) auf ihren Mauern, und Unheil und Bedrückung sind in ihrem Inneren. Frevel sind in ihrer Mitte, und nicht weicht von ihrem (Markt-)Platz Unterdrückung und Betrug.

Anrede an den Freund 13

14 15 16

Fürwahr, nicht ein Feind ist es, der mich schmäht – ich würde (es) ertragen, nicht einer, der mich hasst, hat gegen mich groß getan – ich könnte mich vor ihm verstecken, sondern du, ein Mensch meinesgleichen, mein Vertrauter und Bekannter, die wir zusammen vertraute Gemeinschaft pflegten, im Haus Gottes umhergingen in der Menge! Er (sc. JHWH) ‹möge Tod legen›65 auf sie, hinabsteigen sollen sie ins Totenreich lebendig, denn Bosheiten sind in ihrer Wohnung, in ihrem Inneren!

65 Oder: »‹Tod komme› über sie«. Beim ersten Wort ist das Qere jçj mwt zu bevorzugen und dabei jçj entweder als jå¬îm »er setze/lege« zu konjizieren oder als jçj hif. von *çw∞ »übel umgehen mit« zu verstehen, s. dazu Ges18 508 s.v. jeçîmôt und HAL 1323 s.v. *çw∞.

»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

185

Gemäß der Klage V. 3b–666 ist die existentielle Situation des Beters bedrückend klar: er leidet unter der anhaltenden Bedrängnis seiner Feinde, die ihn zu unkoordinierten Bewegungen veranlasst (»[ziellos] umherirren« V. 3b, vgl. Gen 27,40) und mit Todesschrecken, Furcht, Zittern und Entsetzen überzieht (V. 5f). Während V. 3b die depressive Reaktion des Beters (»umherirren« // »außer sich sein«) ausmalt und V. 4a den Grund dafür angibt, expliziert V. 4b die Aktion der Feinde. Die dabei gebrauchte Wendung »sie bringen Unheil zum Wanken« dürfte besagen, dass »das Unheil wie eine Mauer oder ein Felsblock gedacht (ist), den man über dem Dichter ›zum Umfallen bringt‹«67. Das passt zur vertikalen Bewegungsrichtung der Bedrohung, von der in V. 5b (»fallen auf etwas/jemanden«) und V. 6b (»bedecken«) die Rede ist. Demgegenüber entwerfen V. 7–9 ein horizontales Gegenbild, indem sie den Wunsch des Beters nach einer Flucht aus der von ihm als bedrohlich erlebten Stadt (vgl. V. 10b–12) in die – lebensfeindliche! – Wüste formulieren, wo er, was eine Steigerung ist, sogar »übernachten« möchte. Der Passus verwendet dabei Verben der Bewegung (»fliegen«, »in die Ferne fliehen«, »eilen«), die nach V. 7b und V. 8b zur Ruhe kommt (»sich niederlassen«, »übernachten«). Obwohl der Wunsch des Beters irreal ist (»hätte ich doch Flügel …«) und auch unvermittelt abbricht, tut er mit ihm den ersten Schritt aus der Umklammerung seiner Feinde und ihrer hinterhältigen Sprachgewalt (V. 22), der aber erst nach mehreren Stadien (Klagegänge V. 10b–16.21f [.23], unablässiges Gebet V. 17–19, Bitte V. 24a) in das abschließende Vertrauensbekenntnis mündet (V. 24b). Im zweiten Teil (V. 10–16) des Klagegebets V. 2–16 wird die Feindthematik, die bereits in V. 4 anklingt, dann in voller Breite entfaltet. Hier kommen die Folgen der Feindseligkeit zur Sprache, und zwar in der sozialen (V. 10b–12) wie in der persönlichen Umgebung des Beters (V. 13–15):68 Nach dem »Bild eines völlig zerrütteten Gemeinwesens«69 mit Gewalt, Unterdrückung und Betrug (V. 10b–12) wird in V. 13–15 die persönliche Not des Beters geschildert. Nicht ein Feind, der ihn verhöhnt – was er ertragen könnte –, auch nicht ein Hasser, der ihn demütigt – vor dem er sich verstecken könnte (V. 13b) –, sondern »ein Mensch meinesgleichen, mein Vertrauter und Bekannter« (V. 14) ist es, der die tiefe Bestürzung des Beters auslöst.70

66 S. dazu Hardmeier, Sinnerschließung (s. Anm. 64), 44ff.49ff. 67 B. Duhm, Die Psalmen (KHC 14), 21922, 219 mit der Übersetzung »denn sie stürzen auf mich Unheil«. 68 S. dazu Hardmeier, Sinnerschließung (s. Anm. 64), und M. Köhlmoos, Audiatur et altera pars. Ps 55 und das Hiobbuch, in: Ruwe (Hg.), Du aber bist es (s. Anm. 64), 83–105, hier: 99ff. 69 Hardmeier, Sinnerschließung (s. Anm. 64), 51. 70 Hardmeier, Sinnerschließung (s. Anm. 64), 62f vermutet m.E. zu Recht, dass der Kern der Vertrauenskrise mit den gewalttätigen Vorgängen in der Stadt (V. 10bff) zusammenhängt, denen der einstige, jetzt aber treulose Freund tatenlos zusieht (Entsolidarisierung) und denen der Beter schutzlos ausgesetzt ist.

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»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

»Ist es nicht ein Kummer, der bis an den Tod (ἕως θανάτου)71 heranreicht, wenn ein Freund, der dir ganz nahe steht, sich in einen Feind verwandelt?« – so heißt es unüberbietbar klar in Sir 37,2.72 In Anbetracht der strukturellen Ähnlichkeit (»Handlungsmodell«) zwischen der Rolle der Feinde / des treulosen Freundes in Ps 41,10; 42,4.10f; 55,13–15 und Mk 14,18.20f.43ff sowie der Entsprechung zwischen der Situation des Psalmbeters und derjenigen des betenden Gottessohns wird die Erzählung vom letzten Gebet Jesu zu einem aufschlussreichen Hinweis auf »… die Tragfähigkeit der Psalmentraditionen Israels: Sie haben das Gebet des Gottessohnes Jesus in Zeiten höchster Bedrängnis und Not getragen«73. Diese Linie wird im markinischen Kreuzigungsbericht fortgesetzt und noch einmal gesteigert. IV.

Der Kreuzigungsbericht

Der eigentliche Bericht vom Tod Jesu setzt gemäß Mk 15,33–41 mit der Darstellung einer kosmischen Finsternis in der sechsten Stunde ein. Davor werden die Kreuzigung (V. 20b–27) und die Verspottung durch Vorübergehende, Hohepriester, Schriftgelehrte und die beiden Mitgekreuzigten (V. 29–32) geschildert: (20b) Und sie führen ihn (sc. Jesus) hinaus, um ihn zu kreuzigen. (21) Und sie zwingen einen Vorübergehenden, einen gewissen Simon von Kyrene, der vom Feld kommt, den Vater des Alexander und des Rufus, dass er sein Kreuz trage. (22) Und sie bringen ihn an den Ort Golgatha, das heißt übersetzt: »Schädelstätte«. (23) Und sie gaben ihm mit Myrrhe gewürzten Wein, er aber nahm (ihn) nicht. (24) Und sie kreuzigen ihn; und sie verteilen seine Kleider, indem sie das Los über sie werfen [vgl. Ps 22,19], wer was bekommen solle. (25) Es war aber die dritte Stunde, als sie ihn kreuzigen. (26) Und es war die Aufschrift seiner Schuld aufgeschrieben: »Der König der Juden« [= titulus crucis]. (27) Und mit ihm kreuzigen sie zwei Verbrecher, einen zur Rechten und einen zu seiner Linken. [28] (29) Und die Vorübergehenden verhöhnten ihn, schüttelten ihre Köpfe [vgl. Ps 22,8] und sagten: »Ha, der du den Tempel niederreißt und 71 Vgl. dazu außer Mk 14,34 (ἕως θανάτου) und 1 QH 16,33 (lekålåh »bis zur Vernichtung«, s. oben 181f) noch Sir 51,6: »Mein Leben war an den Rand des Todes (ἕως θανάτου) gekommen, und ich lebte in der Nähe der Tiefen der Unterwelt«), s. dazu G. Sauer, Jesus Sirach / Ben Sira (ATD.Apokryphen 1), 2000, 254.346. Abweichend vom masoretischen Text auch in Jon 4,9 LXX: »Und Gott sprach zu Jona: ›Bist du sehr betrübt wegen der Kürbisstaude?‹ Und er sprach: ›Ich bin sehr betrübt bis zum Tod (ἕως θανάτου)‹«; freundlicher Hinweis von Dr. R. Brucker, Kiel. 72 Zum Motiv des »treulosen Freundes« s. die Hinweise oben Anm. 60. 73 Herzer, Freund (s. Anm. 33), 134, vgl. 135f.

»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

187

in drei Tagen aufbaust (30), rette dich selbst [vgl. Ps 22,9]74 und steig herab vom Kreuz!« (31) Desgleichen höhnten auch die Hohenpriester untereinander mit den Schriftgelehrten und sagten: »Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten! (32) Der Christus, der König Israels! Steig jetzt herab vom Kreuz, damit wir sehen und glauben!« Auch die mit ihm zusammen Gekreuzigten schmähten ihn. (33) Und als die sechste Stunde kam, entstand eine Finsternis über das ganze Land75 bis zur neunten Stunde. (34) Und zur neunten Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: »Eloï, Eloï, lema sabachtani«, was übersetzt heißt: »Mein Gott, mein Gott, wozu76 hast du mich verlassen?« [Ps 22, 2a]. (35) Und einige der Dabeistehenden, die es hörten, sagten: »Siehe, er ruft Elia!« (36) Einer aber lief, füllte einen Schwamm mit Essig, steckte ihn auf ein Rohr, tränkte ihn [vgl. Ps 69,22b], wobei er sagte: »Lasst uns sehen, ob Elia kommt, um ihn herunterzunehmen!« (37) Jesus aber stieß einen lauten Schrei aus und hauchte (sein Leben) aus. (38) Und der Vorhang des Tempels zerriss in zwei (Teile) von oben bis unten. (39) Als aber der Centurio, der ihm gegenüberstand, sah, dass er so (sein Leben) aushauchte, sagte er: »Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn!“ (40) Es schauten aber auch Frauen von weitem zu, unter ihnen auch Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus des Kleinen und des Joses, und Salome, (41) die ihm, als er in Galiläa war, nachgefolgt waren und ihm gedient hatten, und viele andere, die mit ihm nach Jerusalem hinaufgezogen waren.

Wenn man auf die Zeitangaben (3./6./9. Stunde) und weitere Textmarkierungen achtet, lässt sich Mk 15,20b–41 szenisch folgendermaßen gliedern:77 74 In Ps 22,9 ist von Rettung durch JHWH, in Mk 14,30 dagegen von Selbstrettung die Rede. 75 Oder: »über die ganze Erde«, s. dazu A. Wypadlo, »Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn« (Mk 15,39). Überlegungen zur Funktion des Centuriobekenntnisses im christologischen Entwurf des Markusevangeliums, BZ 55 (2011) 179–208, hier: 191 Anm. 48. 76 Das aramäische Fragewort lema (zu den Parallelen s. H.-P. Rüger, Aramäisch II, TRE 3 [1974] 602–610, hier: 605) wird hier sachlich richtig mit eij~ tiv »wozu« übersetzt, s. dazu auch Chr. Burchard, Markus 15,34, ZNW 74 (1983) 1–11, hier: 8; G. Barth, Der Tod Jesu Christi im Verständnis des Neuen Testaments, 1992, 130f; A.M. Schwemer, Die Passion des Messias nach Markus und der Vorwurf des Antijudaismus, in: M. Hengel / A.M. Schwemer, Der messianische Anspruch Jesu und die Anfänge der Christologie. Vier Studien (WUNT 138), 2001, 133–163, hier: 156 Anm. 109; M. Ebner, Klage und Auferweckungshoffnung im Neuen Testament, JBTh 16 (2001) 73–87, hier: 78 Anm. 12; M. Theobald, Der Tod Jesu im Spiegel seiner »letzten Worte« vom Kreuz, ThQ 190 (2010) 1–30, hier: 22; Wypadlo, »Wahrhaftig« (s. Anm. 75), 192ff.196; Frey, Sinn-Raum (s. Anm. 19), 106 u.a. Eine umsichtige Diskussion des Problems findet sich bei H.-U. Rüegger / A. Hämmig, »Mein gott: varzuo hastu mich gelassen?« Philologische Annäherung an eine theologische Frage (Mk 15,34), ZNW 102 (2011) 40–58. 77 S. dazu auch Burchard, Markus 15,34 (s. Anm. 76), 2 und Wypadlo, »Wahrhaftig« (s. Anm. 75), 186f.

188

»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

20b–32 Kreuzigungsszene (neuer Ortswechsel in 20b gegenüber 16–20a) 20b–24 25–27 29–32 33–39

Sterbeszene (neuer Zeitmarker in 33 gegenüber 25–27) 33 34

Zeitangabe (6. Stunde) und kosmische Finsternis (1. Zeichen: kosmologisch) bis zur 9. Stunde Zeitangabe (9. Stunde): Kreuzesruf Jesu mit aram. Zitat in griech. Umschrift von Ps 22,2a (und griech. Übersetzung)

35 36 37

Elia-Missverständnis Reaktion: Tränkung Jesu mit Essig (vgl. Ps 69,22b) Tod Jesu

38

Zerreißen des Tempelvorhangs (2. Zeichen: tempeltheologisch) Bekenntnis des Centurio als Reaktion darauf

39 40–41

Schilderung der Kreuzigung Zeitangabe (3. Stunde), titulus crucis, zwei Mitgekreuzigte78 Verspottung durch Vorübergehende, Hohepriester, Schriftgelehrte u.a.

Frauen und viele andere, die der Kreuzigung von weitem zuschauen

Wird in diesem Bericht, das ist unsere Frage, der gesamte Ps 22, also auch das Danklied V. 23–27 samt eschatologischer Ausweitung (V. 28–32), oder nur Ps 22,2 zitiert – so dass im Grunde nichts anderes als der Schrei der Gottverlassenheit bleibt? Diese These hat eine lange Wirkungsgeschichte und reicht von H.S. Reimarus über J. Moltmann bis zu Th. Gut.79 In Aufnahme dieser These hat sich bekanntlich R. Bultmann nicht der Möglichkeit verschlossen, dass Jesus am Kreuz zusammengebrochen und in Verzweiflung gestorben sei.80 Demgegenüber hat H. Gese81 die These vertreten, dass nicht allein Ps 22,2a, sondern der gesamte Psalm den Anknüpfungspunkt für den Bericht vom Tod Jesu gebildet und die Darstellung dieses Ereignisses 78 Demgegenüber versteht Wypadlo, »Wahrhaftig« (s. Anm. 75), 186 mit Anm. 35–36 den Anschnitt V. 25–32 als szenische Einheit. 79 S. dazu Th. Gut, Der Schrei der Gottverlassenheit. Fragen an die Theologie, ThSt(B) 140 (1994) (mit den entsprechenden Nachweisen). 80 R. Bultmann, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus (SAH 1960), 31962, 12, s. dazu auch Gut, Schrei (s. Anm. 79), 25f. 81 S. dazu H. Gese, Psalm 22 und das Neue Testament. Der älteste Bericht vom Tode Jesu und die Entstehung des Herrenmahles, in: ders., Vom Sinai zum Zion. Alttestamentliche Beiträge zur biblischen Theologie (BEvTh 64), 31989, 180–201, hier: 193ff.

»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

189

geprägt habe. Gehen wir zur Beurteilung dieser These von der szenischen Anordnung der Sterbeszene aus. Nach Mk 15,34 ruft Jesus »mit lauter Stimme« (fwnh` megavlh): »Eloï, Eloï, lema sabachtani«.82 Dieses Rufen wird von einigen Umstehenden missverstanden und die doppelte Invocatio Eloï, Eloï von ihnen auf Elia bezogen (V. 35). Es folgt die Szene mit dem Tränken des Gekreuzigten mit Essig (V. 36, vgl. V. 23),83 woraufhin Jesus laut rufend verscheidet: »Jesus aber stieß einen lauten Schrei (fwnh;n megavlhn) aus und hauchte (sein Leben) aus« (V. 37). Dann zerreißt der Tempelvorhang (V. 38). Der Hauptmann, der sieht, dass Jesus »so« (ou{tw~) verschied, bekennt sich zum Gekreuzigten als dem »Sohn Gottes« (V. 39). Die Aussage, dass der Hauptmann sich zum Gekreuzigten bekennt, weil er sah, »dass er so (sein Leben) aushauchte« (V. 39), ist – zunächst, aber nicht nur!84 – auf die Aussage zu beziehen, dass Jesus verschied, indem er einen lauten Schrei ausstieß (V. 37). Dazwischen steht der Satz vom Zerreißen des Tempelvorhangs (V. 38). Ebenso steht der Abschnitt V. 35f zwischen V. 34 und V. 37, so dass man Gese zufolge jetzt »nicht mehr ohne weiteres (merkt), daß die fwnh; megavlh beim Tod Jesu sich auf die fwnh; megavlh des Zitierens von Ps 22 bezieht«85. Die These, dass Jesus laut rufend, d.h. mit Ps 22 auf den Lippen stirbt, ergibt sich nach H. Gese aus der Reaktion des Hauptmanns: »Als der Centurio, der ihm gegenüberstand, sah, dass er so (sein Leben) aushauchte, sagte er: ›Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn‹« (V. 39). Aufgrund dieser Erwägungen kommt Gese zu dem »Ergebnis, daß sich der gesamte ursprüngliche Bericht vom Tod Jesu auf ein Zitie82 S. dazu oben Anm. 76. Mt 27,46 zitiert die hebräische Invocatio »Eli, Eli …«, s. dazu Luz, Matthäus IV (s. Anm. 22), 342ff und Konradt, Matthäus (s. Anm. 22), 444f. In Lk 23,46 (»Und Jesus rief mit lauter Stimme: ›Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist‹. Nachdem er dies gesagt hatte, hauchte er seinen Geist aus«) wird Ps 22,2 durch Ps 31,6a (»In deine Hand befehle ich meinen Geist«) ersetzt, s. dazu Gese, Psalm 22 (s. Anm. 81), 194f und Löning, Funktion (s. Anm. 6), 270 Anm. 3. Eine gegenüber den Synoptikern nochmals andere Aussageintention enthält die Sterbeszene in Joh 19,28–30 mit ihrer Rezeption von Ps 69,22, s. dazu A. Obermann, Die christologische Erfüllung der Schrift im Johannesevangelium. Eine Untersuchung zur johanneischen Hermeneutik anhand der Schriftzitate (WUNT II/83), 1996, 350ff. 83 Durch das Tränken mit Essig (nach Ps 69,22 in Parallele zu »Gift«) wird das Leiden Jesu unmittelbar vor dem Eintreten seines Todes (Mk 15,37) qualvoll gesteigert, s. dazu auch Frey, Sinn-Raum (s. Anm. 19), 108. Unmittelbar vor dem Akt der Kreuzigung (Mk 15,24) wird Jesus ein Betäubungstrank (»mit Myrrhe gewürzter Wein«) gereicht, den er aber abweist (Mk 15,23). Löning, Funktion (s. Anm. 6), 269 Anm. 2 sieht auch hier eine Anspielung auf Ps 69,22b, s. dagegen aber zu Recht Frey, Sinn-Raum, 108. In Mt 27,31b–56 wird in diesen beiden Szenen auf Ps 69,22b angespielt (Mt 27,34: mit Galle vermischter Wein; V. 48: Essig), s. dazu Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 32), 260 und Konradt, Matthäus (s. Anm. 22), 441.446. 84 S. dazu im Folgenden. 85 Gese, Psalm 22 (s. Anm. 81), 195.

190

»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

ren von Ps 22 bezieht …«86 und gleichsam »unter dem Schleier von Ps 22«87 verborgen wird. Zum einen muss allerdings auffallen, dass der Ausdruck fwnh; megavlh »laute Stimme« in V. 34 und V. 37 nicht funktionsgleich verwendet wird. Denn während er in V. 34 im Dativ (»mit lauter Stimme«) die Art des Rufens Jesu bezeichnet, bildet er in V. 37 das Objekt zum Verb ajfivhmi »ausstoßen«: »Jesus aber stieß einen lauten Schrei aus«.88 Das aber bedeutet, dass das Bekenntnis des Centurio »nicht durch Jesu Rezitation des Psalms ausgelöst (ist), sondern unspezifischer durch die gesamte, zuvor geschilderte Kreuzigungsszene«89, wozu nicht nur der Kreuzesruf Jesu (V. 34), sondern auch die beiden Zeichen, die kosmische Finsternis (V. 33) und das Zerreißen des Tempelvorhangs (V. 38), gehören.90 Zum anderen – und das ist der zweite Einwand – gibt es keinen textlichen Hinweis darauf, dass das Bekenntnis des Centurio auf den Dankliedteil Ps 22,23–27.28–32 Bezug nimmt.91 Einzig das Elia-Missverständnis in V. 35 ließe sich als Hinweis auf die Vision von der endzeitlichen Königsherrschaft JHWHs verstehen, wie sie in Ps 22,29f entfaltet wird. Denn nach der jüdischen Messianologie war Elia der prophetische Ankündiger des Eschatons. Allerdings: »Die Umstehenden haben … den eschatologischen Augenblick bemerkt, ihn letztlich aber nicht begriffen«92. Dabei liegt aber weder ein Zitat aus Ps 22,23–32 noch eine textliche Anspielung darauf vor.

Was der Gekreuzigte in der Stunde seines Todes empfunden hat, können wir nicht wissen – selbst wenn Mk 15,20b–41 ein historischer Bericht wäre. Woran wir uns dagegen halten können – und auch sollten –, ist die literarische Darstellung dieses Ereignisses durch den Erzähler Markus, der, auch wenn ihm der ganze Ps 22 vor Augen gestanden mag,93 nur das Zitat von Ps 22,2a sowie weitere Anspielungen auf Ps 86 Gese, Psalm 22 (s. Anm. 81), 196. 87 Gese, Psalm 22 (s. Anm. 81), 196. 88 S. dazu Frey, Sinn-Raum (s. Anm. 19), 110ff. 89 Frey, Sinn-Raum (s. Anm. 19), 111. 90 S. dazu auch Burchard, Markus 15,34 (s. Anm. 76), 10f; Wypadlo, »Wahrhaftig« (s. Anm. 75), 199ff und unten 197f. 91 Vgl. Frey, Sinn-Raum (s. Anm. 19), 112. Darüber hinaus weist Frey zu Recht darauf hin, dass in der Tränkung Jesu mit Essig (V. 36) ein Anklang an Ps 69,22b folgt, »womit Ps 22 als Referenzgröße noch weiter in den Hintergrund rückt, so dass ein solcher Bezug in V. 39 nicht zu erwarten ist« (112). 92 H.-J. Fabry, Die Wirkungsgeschichte des Psalms 22, in: J. Schreiner (Hg.), Beiträge zur Psalmenforschung. Ps 2 und 22 (fzb 60), 1988, 279–317, hier: 313, vgl. Wypadlo, »Wahrhaftig« (s. Anm. 75), 195f. Im Übrigen gibt es keine phonetische Brücke zwischen dem Eigennamen Elia und der doppelten Invocatio Eloï, Eloï, s. dazu auch W. Groß, Wer dominiert? Methodische Probleme mit neutestamentlichen Rezeptionen alttestamentlicher Texte, in: W. Eisele u.a. (Hg.), Aneignung durch Transformation (HBS 74), 377–394, hier: 388. 93 Vgl. Wypadlo, »Wahrhaftig« (s. Anm. 75), 191 Anm. 54.

»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

191

22 (V. 8f.19)94 narrativ eingeflochten hat. Im Blick auf diese Darstellung ist m.E. aber weder von einer die Klage Jesu aufhebenden Auferweckungshoffnung, wie sie durch die Zitation des gesamten Ps 22 präfiguriert sei (H. Gese u.a.), noch von einem nackten Verzweiflungsschrei des sterbenden Gottessohns (R. Bultmann u.a.) zu sprechen. Bevor ich dazu eine Alternative entwickle, soll zunächst auf Ps 22,1–22 als den für den markinischen Kreuzigungsbericht entscheidenden Referenztext eingegangen werden. 1.

Das individuelle Klagelied Ps 22,1–22

Ps 22 ist ein dichter und beziehungsreicher Text.95 Er setzt ein mit einem Klagelied des Einzelnen (V. 2–22), das an seinem Scheitelpunkt V. 22b in ein individuelles Danklied (V. 23–27.28–32) übergeht. Die Textgrenze zwischen Klage und Lob (V. 22/23)96 ist identisch mit der Sachgrenze zwischen Tod und Leben: Überschrift 1

Für den Chormeister. Nach »Die Hindin der Morgenröte«. Ein Psalm Davids.97

Klage I + Invocatio 2

Mein Gott, mein Gott, wozu98 hast du mich verlassen,

94 Zur szenischen Anordnung dieser Anspielungen s. unten 195f. 95 Zu Ps 22 s. außer den Kommentaren noch O. Fuchs, Die Klage als Gebet. Eine theologische Besinnung am Beispiel des Psalms 22, 1982; H. Irsigler, Psalm 22: Endgestalt, Bedeutung und Funktion, in: Schreiner (Hg.), Beiträge (s. Anm. 92), 193–239; H. Spieckermann, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen (FRLANT 148), 1989, 239ff; Bauks, Feinde (s. Anm. 23), 14ff.95ff.150ff; D. Bester, Körperbilder in den Psalmen. Studien zu Psalm 22 und verwandten Texten (FAT II/24), 2007; U. Rechberger, Von der Klage zum Lob. Studien zum »Stimmungsumschwung« in den Psalmen (WMANT 133), 2012 und die Beiträge in Sänger (Hg.), Psalm 22 (s. Anm. 54). 96 Auf das mit dem Übergang von der Klage zum Lob verbundene Problem des sog. Stimmungsumschwungs kann in unserem Zusammenhang nicht eingegangen werden, s. dazu Janowski, Konfliktgespräche (s. Anm. 1), 75ff.453f und Rechberger, Klage (s. Anm. 95), 148ff. 97 Zur Überschrift V. 1 s. die Hinweise unten Anm. 104. 98 In der Regel wird låmåh mit »warum?« übersetzt, s. dazu ausführlich Bester, Körperbilder (s. Anm. 95), 47ff. Nach D. Michel, »Warum« und »wozu«? Eine bisher übersehene Eigentümlichkeit des Hebräischen und ihre Konsequenz für das alttestamentliche Geschichtsverständnis, in: ders., Studien zur Studien zur Überlieferungsgeschichte alttestamentlicher Texte (TB 93), 1997, 13–34 markiert die låmåhFrage (»wozu?«) im Unterschied zur maddua˛-Frage (»warum?«) das Erfragte nicht als Grund (causa causalis), sondern als Sinn bzw. Zweck (causa finalis). maddua˛ fragt deshalb in die Vergangenheit und låmåh in die Zukunft: »Der Beter (sc. von Ps

192

»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

3

(der du) fern (bist) von meiner Rettung, den Worten meines Schreiens?99 Mein Gott, ich rufe bei Tag, aber du antwortest nicht, und bei Nacht, doch es gibt kein Schweigen für mich.

Vertrauensäußerung 4 5 6

Du aber bist heilig, thronend auf den Lobgesängen Israels. Auf dich vertrauten unsere Väter, sie vertrauten, und du hast sie gerettet. Zu dir riefen sie und wurden gerettet, auf dich vertrauten sie und wurden nicht zuschanden.

Klage II 7 8 9

Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Gespött von Menschen und verachtet vom Volk. Alle, die mich sehen, spotten über mich, sie verziehen die Lippe, schütteln den Kopf: »Wälze (es) auf JHWH!«, »Er soll ihn retten, er soll ihn herausreißen, denn er hat Gefallen an ihm!«100

Vertrauensäußerung 10 11 12

Ja, du bist es, der mich aus dem Mutterleib zog, der mir Vertrauen einflößte an den Brüsten meiner Mutter! Auf dich bin ich geworfen vom Mutterschoß an, vom Leib meiner Mutter an: mein Gott bist du! Sei nicht fern von mir, denn die Not ist nah ja, es gibt keinen Helfer!

Klage III 13

Umgeben haben mich viele Stiere, die Starken Basans haben mich umstellt.

22) setzt voraus, daß Jahwe bei seinem Handeln, auch wenn der Mensch es als ein Verlassen empfindet und keinen Sinn erkennen kann, doch einen Sinn hat, ein Ziel, auf das hin er handelt und das man erfragen kann. Kurz: Die lama-Frage verläßt nicht den Boden des Glaubens« (22). Wie Rüegger / Hämming, »Mein gott« (s. Anm. 76), 43ff zu Recht feststellen, ist eine Frage nach dem Grund immer zweideutig und »lässt sich grundsätzlich kausal oder final verstehen. In dieser Hinsicht ist einzuräumen: Die Übersetzung mit warum ist kaum falsch. Aber es bleibt zu fragen: Ist sie angemessen, d.h. gibt sie zu verstehen, was die griechische Frage verstehen lässt?« (44). Zur eij~ tiv-Frage (»wozu?«) in Mk 15,34 LXX s. oben Anm. 76. 99 Möglich ist auch die Übersetzung: »Fern von meiner Rettung sind die Worte meines Schreiens«, vgl. Bester, Körperbilder (s. Anm. 95), 54. 100 Zu dem mit dem Übergang von der 2. (»wälze«) zur 3. Person (»er soll …«) verbundenen Perspektivenwechsel s. Bester, Körperbilder (s. Anm. 95), 57.

»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

14 15

16 17 18 19

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Aufgerissen haben sie gegen mich ihr Maul – ein Löwe, reißend und brüllend. Wie Wasser bin ich ausgeschüttet, und getrennt haben sich alle meine Knochen, geworden ist mein Herz wie Wachs, zerflossen in meinem Inneren. Trocken geworden wie eine (Ton-)Scherbe ist meine Kraft,101 und meine Zunge klebt mir am Gaumen, und in den Staub des Todes legst du mich. Fürwahr, umgeben haben mich Hunde, eine Rotte von Übeltätern hat mich umkreist wie der Löwe – meine Hände und Füße.102 Ich kann zählen alle meine Knochen, sie aber blicken (her), sehen auf mich. Sie teilen meine Kleider unter sich und über mein Gewand werfen sie das Los.

Bitte + Invocatio 20 21 22

Aber du, JHWH, sei nicht fern, meine Stärke, zu meiner Hilfe eile herbei! Entreiß doch dem Schwert mein Leben, aus der Gewalt des Hundes meine Einzige! Rette mich aus dem Maul des Löwen und vor den Hörnern der Wildstiere – du hast mir geantwortet!103

In seinen beiden Teilen – dem Klagelied V. 2–22 und dem Danklied V. 23–32 – durchmisst der leidende Beter den zweifachen Weg vom Leben zum Tod und vom Tod zum Leben. Er setzt an bei der tiefsten Gottverlassenheit und endet in V. 28–32 mit der Vision von der endzeitlichen Königsherrschaft JHWHs. 101 Zu dem häufig gemachten Vorschlag, das masoretische koªî (»meine Kraft«) in ªikkî (»mein Gaumen«) zu ändern (so etwa Spieckermann, Heilsgegenwart [s. Anm. 95], 240), s. Bester, Körperbilder (s. Anm. 95), 61f. 102 V. 17b ist eine klassische crux interpretum, die aber verständlich zu machen ist, nämlich als Bild für die totale – »Hände und Füße« (oben/unten) – Handlungsunfähigkeit des bedrängten Beters, s. dazu W. Bühlmann / K. Scherer, Stilfiguren der Bibel, 1994, 35 und Bester, Bester, Körperbilder (s. Anm. 95), 63ff. Zur Auslegungsgeschichte s. noch D. Garrone, Psalm 22,17b: Textkritische Probleme, divergierende Deutungen, in: P. Verebics u.a. (Hg.), Ein pralles Leben (ABG 56), 2017, 135–145. 103 V. 22 (»Rette mich aus dem Maul des Löwen und vor den Hörnern der Wildstiere – du hast mir geantwortet [˛anîtanî])!«) stellt semantisch eine Antithese zu V. 3 dar (»Mein Gott, ich rufe bei Tag, aber du antwortest nicht [lo∞ ta˛anæh], und bei Nacht, doch es gibt kein Schweigen für mich«), anders etwa Spieckermann, Heilsgegenwart (s. Anm. 95), 241. Zur abweichenden Textüberlieferung von ˛anîtanî in der LXX, in der Peschitta und bei Symmachus s. Bester, Körperbilder (s. Anm. 95), 71f und E. Bons, Die Septuaginta-Version von Psalm 22, in: Sänger (Hg.), Psalm 22 (s. Anm. 54), 12–32, hier: 22ff.

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»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

Der Klageliedteil enthält drei Klagegänge: I. V. 2–6, II. V. 7–12 und III: V. 13–22. Die beiden ersten Klagegänge sind so aufgebaut, dass auf eine einleitende Klage (V. 2f / V. 7–9) jeweils eine Vertrauensäußerung folgt (V. 4–6 / V. 10–12 mit abschließender Bitte in V. 12). Das Motivwort, das diese beiden Klagegänge zusammenhält, ist die »Ferne« Gottes (in der einleitenden Klage V. 2b und in der abschließenden Bitte V. 12). Während das erste Vertrauensbekenntnis JHWH als Königsgott sowie als Väter- und Exodusgott prädiziert (V. 4–6), also heilsgeschichtlich orientiert ist, wechselt das zweite Vertrauensbekenntnis auf die biographische Ebene, indem JHWH als persönlicher Gott angesprochen wird, der den Beter seit dessen Geburt schützend umgibt (V. 10–12). Der dritte Klagegang enthält demgegenüber etwas Neues, weil die ausführliche Klage (V. 13–19) am Ende statt in ein abermaliges Vertrauensbekenntnis in eine Bitte mündet (V. 20–22). Signifikant für die Bedeutung von Ps 22,2–22 sind die Wortfelder der beklagten Gottverlassenheit / Rettungsferne sowie der erbetenen Gottesnähe / Rettung durch Gott, im Einzelnen – Gottverlassenheit / Rettungsferne

Gattungselemente

verlassen (˛åzab) + Subj. JHWH fern (råªôq) von meiner Rettung (jeçû˛åh) nicht antworten (˛ånåh) + Subj. JHWH kein Schweigen (dûmijjåh) + Subj. Beter nicht fern sein (råªaq)

2a 2b 3a 3b 12aa

Not ist nah (qerôbåh) Kein Helfer (˛åzar Ptz.), im Gegensatz zu 20b (meine Hilfe)

12ab 12b

Klage I (2–3)

Bitte (Kontext 10–12)

– Gottesnähe / Rettung durch Gott retten (pl† pi.) + Subj. JHWH

5b

gerettet werden (ml† nif.) nicht zuschanden werden (bôç) retten (pl† pi.) + Subj. JHWH herausreißen (n‚l hif.) + Subj. JHWH nicht fern sein (råªaq), vgl. 12aa meine Stärke (∞æjålût), vgl. 1 (∞ajjælæt)104

6a 6b 9a 9b 20a 20b

Vertrauensäußerung (4–6) Klage II (7–9) Bitte (20–22)

104 Auf der Ebene der Endgestalt von Ps 22 hat die Korrelation von ∞ajjælæt (im Syntagma ∞ajjælæt haççaªar »Die Hindin der Morgenröte« V. 1) und ∞æjålût »Stärke« (V. 20b) eine den Sinn des Textes erschließende Bedeutung, s. dazu B. Janowski, »Die Hindin der Morgenröte« (Ps 22,1). Ein Beitrag zum Verständnis der Psalmenüberschriften, in: ders., Das hörende Herz (s. Anm. 56), 293–344, hier: 318ff.

»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

meine Hilfe (∞æzråh), vgl. 12b (Bitte) entreißen (n‚l hif.) + Subj. JHWH retten (jç˛ hif.) + Subj. JHWH, im Gegensatz zu 2b (fern von meiner Rettung) antworten (˛ånåh) + Subj. JHWH, im Gegensatz zu 3a (nicht antworten)

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20b 21a 22a 22b

In der Gesamtanlage zeigt das Klagelied V. 2–22, das – auf der Endtextebene gelesen – in V. 22b (»du hast mir geantwortet«) zum Danklied (V. 23–27) und zur eschatologischen Coda (V. 28–32) übergeht, die Tiefe der Gottverlassenheit des Beters und dessen Angewiesenheit auf die Rettung durch JHWH. Diese Spannung von Gottesferne und Gottesnähe ist der für die Rezeption von Ps 22 in Mk 15,20b–41 ausschlaggebende Gesichtspunkt. 2.

Ps 22 und der markinische Kreuzigungsbericht

Kehren wir von hier aus zum markinischen Kreuzigungsbericht zurück. Betrachtet man nämlich die Abfolge der in Mk 15,20b–41 aufgegriffenen Textelemente aus Ps 22, so ergibt sich zwischen beiden Texten eine gegenläufige szenische Anordnung:105 Mk 15 15,24 15,29 15,30 15,34

Ps 22 ← ← ← ←

Ps 22,19 Ps 22,8 Ps 22,9 Ps 22,2a

Verteilung der Kleider Kopfschütteln der Vorübergehenden Verspottung des Gerechten Invocatio und »Wozu«-Frage

Verteilung der Kleider … sie teilen meine Kleider unter sich, und über mein Gewand werfen sie das Los. (Ps 22,19) Und sie kreuzigen ihn und teilen seine Kleider, indem sie das Los über sie werfen, wer was bekommen sollte. (Mk 15,24) 105 Vgl. bereits E. Zenger, Ein Gott der Rache? Feindpsalmen verstehen, 1994, 151f, der davon ausgeht, dass »Mk gerade den hoffnungsvollen Schluß von Ps 22 ausblenden will. Vor dem Hintergrund der Mk 15 prägenden Vorstellung von Jesus als dem ›leidenden Gerechten‹ ist Ps 22,2 im Munde Jesu das anklagende Offenhalten der Theodizeefrage: Im anklagenden Festhalten an Gott, wo alles gegen diesen Gott spricht, ist ›dieser Mensch wahrlich Gottes Sohn gewesen‹ (Mk 15,39)« (Hervorhebung im Original), s. zur Sache auch M. Oeming, Das Buch der Psalmen. Psalm 1–41 (NSK.AT 13/1), 2000, 150f; Ebner, Klage (s. Anm. 76), 75ff; Theobald, Tod Jesu (s. Anm. 76), 15 und P. Krawczack, Der Psalmbeter am Kreuz. Annäherungen an die Verlassenheitsklage aus Psalm 22 im Munde des Gekreuzigten, in: J. Knop / U. Nothelle-Wildfeuer (Hg.), Kreuz-Zeichen. Zwischen Hoffnung, Unverständnis und Empörung, 2013, 138–154, hier: 145f.

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»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

Kopfschütteln der Vorübergehenden / Verspottung des Gerechten Alle, die mich sehen, spotten über mich, sie verziehen die Lippe, schütteln den Kopf: »Wälze (es) auf JHWH!«, »Er soll ihn retten, er soll ihn herausreißen, denn er hat Gefallen an ihm!« (Ps 22,8f) (29) Und die Vorübergehenden verhöhnten ihn, schüttelten ihre Köpfe und sagten: »Ha, der du den Tempel niederreißt und in drei Tagen aufbaust, (30) rette dich selbst, steige herab vom Kreuz!« (Mk 15,29f, vgl. V. 31)

Invocatio und »Wozu«-Frage Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen? (Ps 22,2a) Und zur neunten Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: »Eloï, Eloï, lema sabachtani«, was übersetzt heißt: »Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?« (Mk 15,34)

Bei dieser szenischen Anordnung fällt auf, dass das individuelle Klagelied Ps 22,2–22 in der Markuspassion »von hinten her aufgerollt«106 wird: zuerst werden die Elemente der Feindklagen aus Ps 22,19 und 22,8f aufgegriffen, bevor die doppelte Invocatio von Ps 22,2a zitiert wird. Die beschriebene Gegenläufigkeit ergibt sich daraus, dass im Kreuzigungsbericht entsprechend der narrativen Chronologie die Schilderung der Feindbedrängnis – Verteilung der Kleider (V. 24),107 Kopfschütteln der Vorübergehenden (V. 29) und Verspottung des Gerechten (V. 30f) – als der die Dramatik des Geschehens auslösende Faktor am Anfang steht, während die klagende »Wozu«-Frage (V. 34) am Ende der Erzählung folgt. Nach dem EliaMissverständnis (V. 35)108 heißt es nur noch: »Jesus aber stieß einen lauten Schrei aus und hauchte (sein Leben) aus« (V. 37). Gott aber, der vom Gekreuzigten mit der »Wozu«-Frage direkt angeredet wird, schweigt. Und auch der Erzähler Markus gibt vorerst mit keinem Wort zu erkennen, wie und wann Gott reagiert – das tut er erst in der Grabesperikope Mk 16,1–8.109 Im Kreuzigungsbericht gibt es »keinen verborgenen Lichtglanz«110, alles ist Finsternis und Schweigen Gottes – so scheint es jedenfalls.

106 Ebner, Klage (s. Anm. 76), 77. 107 Da Kleider nach biblischer Auffassung nichts weniger sind als die ›soziale Haut‹ (s. dazu Janowski, Anthropologie [s. Anm. 37], 207ff), ist die Verteilung der Kleider in Ps 22,19 / Mk 15,24 kein bedeutungsschwaches Nebenmotiv, sondern ein erzählerischer Vorgriff auf das, was in V. 25–27 dann folgt: die Kreuzigung des Gottessohns. 108 S. dazu oben 189. 109 S. dazu unten Anm. 122. 110 Luz, Matthäus IV (s. Anm. 22), 347 (zum Parallelbericht Mt 27,45–50).

»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

197

Exkurs 2: Zum Schweigen Gottes in Mk 15,33–39 Vordergründig stimmt es: Im markinischen Kreuzigungsbericht ist alles Finsternis und Schweigen Gottes. Aber nur vordergründig. Denn es gibt zwei Motive, die auf die hintergründige praesentia Dei hinweisen und für die Darstellung des Kreuzigungsgeschehens von theologischer Bedeutung sind: die kosmische Finsternis (V. 33), und das Zerreißen des Tempelvorhangs (V. 38). Beide Zeichen, die die Sterbeszene V. 33–39 rahmen,111 verdeutlichen, dass »Gott auf Golgatha nicht abwesend, sondern verborgen anwesend ist«112: Und als die sechste Stunde kam, entstand eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. (V. 33) Und zur neunten Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: »Eloï, Eloï, lema sabachtani«, was übersetzt heißt: »Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«. Und einige der Dabeistehenden, die es hörten, sagten: »Siehe, er ruft Elia!« Einer aber lief, füllte einen Schwamm mit Essig, steckte ihn auf ein Rohr, tränkte ihn, wobei er sagte: »Lasst uns sehen, ob Elia kommt, um ihn herunterzunehmen!« Jesus aber stieß einen lauten Schrei aus und hauchte (sein Leben) aus. (V. 34–37) Und der Vorhang des Tempels zerriss in zwei (Teile) von oben bis unten. (V. 38) Als aber der Centurio, der ihm gegenüberstand, sah, dass er so (sein Leben) aushauchte, sagte er: »Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn!« (V. 39) Die Notiz über die von der 6. Bis zur 9. Stunde andauernde Finsternis ist »keine Leerstelle«113 und auch »nicht … ein ›Wetterbericht‹ zur Region Jerusalem«114, sondern auf dem Hintergrund von Am 8,9f als Hinweis auf das kosmische Gerichtshandeln Gottes zu deuten: 9 10

An jenem Tag, Spruch des Herrn JHWH, lasse ich die Sonne am Mittag untergehen und verdunkele die Erde am hellen Tage. Da wandle ich eure Feste in Trauer und alle eure Lieder in Leichenklage; ich bringe auf alle Hüften das Sackgewand und auf jedes Haupt eine Glatze;

111 Zur szenischen Gliederung s. oben 188. 112 Theobald, Tod Jesu (s. Anm. 76), 21. 113 Burchard, Markus 15,34 (s. Anm. 76), 7, vgl. Wypadlo, »Wahrhaftig« (s. Anm. 75), 191. 114 Theobald, Tod Jesu (s. Anm. 76), 22.

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»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

ich lasse es werden wie die Trauer um den Einzigen und die Folge davon wie einen bitteren Tag. (Am 8,9f)115 Da die Finsternis in Mk 15,33 als ein durch die Autorität Gottes initiiertes kosmisches Zeichen zu verstehen ist, kann auch der in V. 34 folgende Kreuzesruf Jesu nicht einfach als Schrei der Gottverlassenheit gelten.116 »Nicht einfach« heißt: der Schrei Jesu, der an der gottverursachten Finsternis seinen Anhalt hat,117 ist zum einen als Schrei der Gottverlassenheit zu deuten. Zum anderen ist der Kreuzesruf Jesu als Gebet an den persönlichen Gott (»mein Gott«) adressiert oder anders ausgedrückt: »Jesus als Sohn Gottes richtet inmitten der Gottverlassenheit die Gottesnähe auf«118 . Diese Spannung von Gottverlassenheit und Gottesnähe bestimmt die Szenerie von Mk 15,33f. Auch das zweite Zeichen – das Zerreißen des Tempelvorhangs (V. 38) – ist von eminenter theologischer Bedeutung. Denn zum einen ist zu beachten, dass V. 38 und V. 39 (Reaktion des Centurio) nicht zu trennen sind, wie die kaiv (»und« V. 38) / dev (»aber« V. 39)-Relation unmissverständlich zeigt. Zum anderen wird V. 39 vom passivum divinum ejscivsqh »er (sc. der Vorhang des Tempels) zerriss« beherrscht, das zusammen mit der Angabe der Bewegungsrichtung »von oben bis unten« auf die Taufszene in Mk 1,10 verweist: »Und alsbald, als er (sc. Jesus) aus dem Wasser stieg, sah er, dass die Himmel zerrissen (scizovmenoi oujranoiv) und der Geist wie eine Taube herabkam auf ihn«). So bestätigt das Zerreißen des Tempelvorhangs, dass es sich um einen Eingriff Gottes handelt, der »dem ungehinderten Zugang des (Ende des Exkurses) Menschen zu Gott«119 dient. 115 Vgl. ergänzend Am 5,18–20, s. dazu J. Jeremias, Der Prophet Amos (ATD 24/2), 32013, 75ff.119. Zum Motiv der Finsternis in Mk 15,33 s. noch J. Schreiber, Der Kreuzigungsbericht des Markusevangeliums Mk 15,20b–41 (BZNW 48), 1986, 132ff und grundsätzlich B. Janowski, Art. Licht und Finsternis II, RGG4 5 (2002) 330f. 116 Dafür spricht auch die Tatsache, dass V. 33 und V. 34 durch das anaphorische »und zur neunten Stunde« (V. 34) eng miteinander verbunden werden, vgl. Wypadlo, »Wahrhaftig« (s. Anm. 75), 192. Zu beachten ist darüber hinaus, dass die Finsternis nicht Jesus, sondern dem ganzen Land bzw. der ganzen Erde gilt. Damit wird sub contrario die Rettung Jesu angedeutet, und »wenn sie ihm gilt, dann besagt sie erst recht, daß Gott Jesus nicht verlassen hat« (Burchard, Markus 15,34 [s. Anm. 76], 7). Etwas anders, aber wenig überzeugend Theobald, Tod Jesu (s. Anm. 76), 22: »Dass auch der Gekreuzigte über drei Stunden in dieser Finsternis versinkt, zeigt ihn auf der Seite derer, denen das Gericht Gottes gilt«. Der Gekreuzigt steht aber nicht »auf der Seite derer, denen das Gericht Gottes gilt«, weil er das Opfer ihrer Machenschaften ist. Gleichwohl befindet er sich in der Situation der Gottverlassenheit. 117 So mit Burchard, Markus 15,34 (s. Anm. 76), 6f, vgl. Wypadlo, »Wahrhaftig« (s. Anm. 75), 192. 118 Fabry, Wirkungsgeschichte (s. Anm. 92), 312. 119 Wypadlo, »Wahrhaftig« (s. Anm. 75), 198. Im Rahmen seiner Untersuchung zum Raumverständnis in der Markuspassion hat P.-G. Klumbies, Von der Hinrichtung zur Himmelfahrt. Der Schluss der Jesuserzählung nach Markus und Lukas (BThSt 114), 2010, 38ff die Tauf- und die Sterbeszene miteinander verknüpft und das Zerreißen des Tempelvorhangs wie folgt gedeutet: »Der zerrissene Vorhang legt den Blick in das Allerheiligste frei. Der zentrale Ort jüdischer Gottesverehrung wird

»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

199

Vor dem Hintergrund der mit den beiden Zeichen (Finsternis, Zerreißen des Tempelvorhangs) indizierten Gegenwart Gottes stellt sich noch einmal die Frage, welchen Sinn die Klage des Gekreuzigten haben kann. Die Antwort darauf dürfte dieselbe sein wie im Fall der alttestamentlichen Klagelieder des Einzelnen. Dort ist die Klage, wie man sich anhand des Musterbeispiels von Ps 13120 deutlich machen kann, weder ein nackter Schrei der Verzweiflung noch ein bedeutungsschwaches Durchgangsphänomen zur Rettungsgewissheit, sondern im Gegenteil der »… Versuch einer erneuten ›Vertrauenssicherung‹, indem die Frage nach Ziel und Sinn der Bedrängnis gestellt und damit zugleich die Hoffnung auf mögliche Veränderung zum Ausdruck gebracht wird«121. Insofern verlässt die am Sinn des göttlichen Handelns orientierte »Wozu«-Frage von Mk 15,34, auch wenn sie durch ein rettendes Wort Gottes unbeantwortet bleibt,122 nicht den Boden des Glaubens. Sie richtet sich »auch in der Todesstunde an Gottes Adresse. Er allein kann ihn (sc. Jesus) retten«123. V.

Resümee

Der markinische Kreuzigungsbericht, so können wir resümieren, ist kein historisches Protokoll, sondern von Anfang an ein gedeutetes Geschehen. Zur Deutung werden die Klagepsalmen Ps 22 und 69 herangezogen, wobei mit Ausnahme des Zitats von Ps 22,2a in Mk 15, 34a mit sprachlichen und motivlichen Anspielungen operiert wird. Diese Anspielungen liegen auf unterschiedlichen Textebenen: auf der gewaltsam geöffnet. Gott wird bloßgestellt und steht quasi nackt da. Aus christlicher Erzählperspektive geschieht freilich etwas anderes, durch die Blickachse von West nach Ost werden Gottesverehrung und die Katastrophe Jesu in einen Zusammenhang gestellt. Wer Gott ist, erschließt sich für die christliche Leserschaft vom Sterben Jeus her« (43). 120 S. dazu Janowski, Konfliktgespräche (s. Anm. 1), 56ff. 121 Ebner, Klage (s. Anm. 76), 79, s. dazu auch R. Feldmeier / H. Spieckermann, Menschwerdung (TOBITH 2), 2018, 208ff (Feldmeier) und Groß, Wer dominiert? (s. Anm. 92), 391f: »Ps 22 enthält … einen großen Dankteil, aber Markus verweist eben nicht auf diesen, sondern legt Jesus nur Ps 22,2a in den Mund und zeigt ihn so in dieser für Klagepsalmen typischen und unaufgelösten extremen Spannung zwischen Gottesbezug durch den Gebetsakt einerseits und Anklage andererseits: ›mein Gott‹ und ›du hast mich verlassen‹ stoßen unvermittelt aufeinander« (392). Eine z.T. ähnliche Interpretation wird von Konradt, Matthäus (s. Anm. 22), 444f für Mt 27,46 vorgetragen. 122 Im Kontext des Markusevangeliums verhallt die Klage Jesu aber nicht ungehört. Ein Eingreifen Gottes wird allerdings erst in der Grabesperikope Mk 16,1–8 zur Sprache gebracht, wo der Erzähler Markus die Frauen, die das Grab aufsuchen, den weggewälzten Stein sehen und die Auferstehungsbotschaft des Engels hören lässt, vgl. Ebner Klage (s. Anm. 76), 79f. 123 K. Berger, Wozu ist Jesus am Kreuz gestorben?, 1998, 149.

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»Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?«

Ebene des Erzählers des Evangeliums, der die Psalmensprache als seine eigene gebraucht (Mk 15,24.29.30f.34b [Übersetzungsformel].36), auf der Ebene der Hauptfigur der Erzählung (Jesus), die ebenso wie der Erzähler die Sprache der Psalmen als ihre eigene verwendet (Mk 15,34a, vgl. Mk 14,18.34.38.62) und schließlich auf der Ebene der Nebenfiguren, die die Psalmen aus eigener Kompetenz sprechen (Mk 11,9f).124 Charakteristisch für die Verwendung der Psalmen in der Markuspassion ist demnach der Sachverhalt, dass die alttestamentlichen Texte »nie als Teiltexte gekennzeichnet und daher nie wie Texte anderer Herkunft« behandelt werden, sondern »stets als integrale Elemente des vom Autor Markus gebotenen Textes«125 fungieren, die in die Erzählung einfließen und diese im Horizont der religiösen Erfahrungen Israels deuten. So konnte die nachösterliche Gemeinde unter Rekurs auf die Psalmen Israels »… sprachlich ›fassen‹, was an Jesu Leben und Tod unfaßbar war. (…) Die erste Deutereaktion auf das Schicksal Jesu war jedenfalls von jener jüdischen Klage-Spiritualität evoziert, welche der Sterbende wie auch die Hinterbliebenen aus ihrer jüdischen Tradition her nicht nur kannten, sondern lebten. Jesus war der zu Gott im Vertrauen klagende Arme und Gerechte, den Gott erhört und den er aus der Not erretten wird, zunächst gegen jeglichen Augenschein«126.

So gesehen enthält die Zitation von Ps 22,2a im markinischen Kreuzigungsbericht einen aufschlussreichen hermeneutischen Hinweis. Denn die Bezugnahme auf die Psalmen, die nicht zufällig, sondern von Markus intendiert ist, zeigt, dass »die neutestamentliche Christologie … weithin ›Psalmen-Christologie‹ (ist)«127. Die Bedeutung der alttestamentlichen Klagespiritualität für das christliche Verständnis von Tod und Auferweckung Jesu ist demnach die Grundlage dafür, dass die Klagepsalmen Israels ein integraler Bestandteil des christlichen Gebets sind. Es ist essentiell, dass diese – keineswegs neue – Einsicht in Theologie und Kirche immer wieder zur Geltung kommt.

124 Vgl. Löning, Funktion (s. Anm. 6), 270f. 125 Löning, Funktion (s. Anm. 6), 271. 126 O. Fuchs, Art. Klage, NBL 2 (1995) 489–493, hier: 492. 127 E. Zenger, Das Buch der Psalmen, in: ders. u.a., Einleitung in das Alte Testament (KStTh 1/1), 92016, 431–455, hier: 454. Es ist deshalb ein eigenartiger, um nicht zu sagen befremdlicher Sachverhalt, dass die Rezeption der Psalmen in der Markuspassion in den Jesusdarstellungen von J. Schröter, Jesus von Nazaret (BG 15), 62017 und von M. Wolter, Jesus von Nazaret (Theologische Bibliothek), 2019, keiner Erwähnung wert ist, s. dagegen M. Ebner, Jesus von Nazaret, 72016, 163.167. 210 Anm. 78.

IV Versöhnung und Opfer

Schuld, Versöhnung, Stellvertretung Drei biblische Grundbegriffe (Mit einem Anhang zur Begriffsgeschichte) Die Erfahrung von Schuld und der Umgang mit ihr gehören zu den elementaren Gegebenheiten des menschlichen Lebens.1 Wie schwer eine Verschuldung wiegt und in welcher Weise eine bestimmte Gesellschaft auf sie reagiert, hängt von der Sozialstruktur dieser Gesellschaft und ihren ethischen Normen ab.2 Sofern ein angerichteter Schaden durch das restitutive Handeln des Missetäters wieder gutgemacht wird, ist der Schuld/Tatfolge-Zusammenhang unterbrochen und können die Konsequenzen einer Fehlhandlung kompensiert werden. Es gibt aber Grenzfälle, in denen nichts mehr zu helfen und sich auch kein Ausweg aufzutun scheint – es sei denn, der Geschädigte gibt sich der Rache anheim.3 Für das alte Israel gab es mehrere Wege, um aus Situationen der Schuldverstrickung und Unversöhntheit herauszufinden: „1. den Weg des Rechts mit der Wiedergutmachung des angerichteten Schadens, 2. den Weg des Kultus mit dem Opfer und anderen Reinigungsmitteln, wobei Blut und Wasser eine große Rolle spielen, 3. den Weg der Fürbitte, welche eine Vertiefung und Vergeistigung des Opfers ist, in der Gott durch einen Mittler selber den zerbrochnen Bund wiederherstellt. Alle drei Wege zeigen, wie die Sünde ernst genommen wird und nur durch Aufwand aller göttlichen und menschlichen Kräfte überwunden wird.“4

Diesen drei „Wegen der Versöhnung“ lassen sich, wie die folgende Darstellung zeigt, weitere Wege hinzufügen. Beginnen wir mit zwei berühmten Konfliktgeschichten des Genesisbuchs, der Begegnung zwischen Jakob und Esau und der Versöhnung Josephs mit seinen Brüdern. I.

Versöhnung statt Vergeltung

Am Ende der Jakobgeschichte kommt es nach aufwändigen Vorbereitungen, die von Jakobs Furcht (Gen 32,4–22), aber auch von sei1 Dieser Beitrag stellt eine Weiterführung von Janowski, Schuld und Versöhnung, 353ff dar. 2 S. dazu Moos / Engert (Hg.), Schuld. 3 S. dazu Dietrich, Rache, 39ff. 4 Jacob, Art. Versöhnung, 2097 (Hervorhebung im Original).

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ner Versöhnungsabsicht5 gekennzeichnet sind, zur Begegnung mit seinem Bruder Esau, der sein Erstgeburtsrecht an ihn verkauft (Gen 25,29–34) und den er um den väterlichen Segen betrogen hatte (Gen 27,1–40). Esau hätte trotz seines unüberlegten Handelns allen Grund gehabt, Jakob unversöhnlich gegenüberzutreten. Überraschenderweise passiert aber das genaue Gegenteil. Zunächst wird erzählt, was Jakob tat und wie er sich verhielt: Er sah Esau mit 400 Mann auf sich zukommen, teilte die Frauen, Mägde und Kinder so auf, dass sie nicht (gleich) in Gefahr gerieten, stellte sich selbst an die Spitze des Zugs und warf sich siebenmal zur Erde nieder, bis er sich Esau näherte: (1) Da hob Jakob seine Augen und er sah, und siehe, Esau kam, und mit ihm 400 Mann. Und er verteilte die Kinder auf Lea und auf Rahel und auf die zwei Sklavinnen. (2) Und er stellte die Sklavinnen und ihre Kinder voran und Lea und ihre Kinder dahinter und Rahel und Joseph dahinter. (3) Er aber ging vor ihnen her und warf sich siebenmal zur Erde (ªwh hiçt. +∞ar‚åh) nieder, bis er seinen Bruder erreichte. (Gen 33, 1–3)6

Und genau in diesem kritischen Moment wendet sich der Erzähler Esau zu, um seine Reaktion zu schildern: Esau aber lief ihm entgegen und umarmte ihn, fiel ihm um den Hals und küsste ihn, und sie weinten. (Gen 33,4)

Das ist nicht nur unerwartet, sondern im wörtlichen Sinn atemberaubend, denn Jakob hatte gar keine Möglichkeit, seine Schuld mit Worten – dafür aber mit seiner Körperhaltung (siebenmaliges Niederwerfen!) – zu bekennen. Er wird von den starken Emotionen seines Bruders geradezu überwältigt, so dass sich die jahrelange Spannung zwischen ihnen nun löst. „An kaum einer anderen Stelle des Alten Testaments wird von einer so herzlichen und intensiven Begrüßung erzählt wie hier.“7

5 Gen 32,21 hat die Form eines Reverenzerweises des Untergegebenen gegenüber dem Höhergestellten: „Ich (sc. Jakob) will sein (sc. Esaus) Angesicht besänftigen (= ihn versöhnen) mit dem Geschenk (minªåh), das vor mir herzieht; erst dann will ich sein Angesicht sehen (= mich ihm nähern), vielleicht erhebt er mein Angesicht (= ist er mir gnädig gestimmt)“, s. dazu Albertz, Täter, 153ff; Fischer / Backhaus, Sühne, 28ff; Dietrich / Mayordomo, Gewalt, 218ff und Janowski, Anthropologie, 143f. 6 Zur Bedeutung der Wendung ªwh hiçt. „sich niederwerfen“ + ∞ar‚åh „zur Erde“ s. Janowski, Anthropologie, 282 mit Abb. 54. 7 Dietrich / Mayordomo, Gewalt, 221.

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Die andere Geschichte ist die Versöhnung Josephs mit seinen Brüdern, die in Gen 50 ihren Höhepunkt und Abschluss findet.8 Nachdem das Begräbnis Jakobs durch seine Söhne stattgefunden hatte und damit die familiäre Einheit wiedergefunden wurde (V. 1–14), löst der Tod des Vaters dennoch Angst vor Vergeltung bei Josephs Brüdern aus. Daraufhin schicken sie zu ihm und lassen ihm ein Wort ihres Vaters ausrichten, das dieser zu ihnen vor seinem Tod gesprochen hatte: Und als Josephs Brüder sahen, dass ihr Vater gestorben war, sagten sie: „Wenn nun Joseph uns anfeindet und uns all das Böse vergilt (çûb hif. „zurückbringen“), das wir ihm angetan haben!“ So entboten sie dem Joseph und ließen sagen: „Dein Vater hat vor seinem Tod befohlen und gesagt: ,So sollt ihr zu Joseph sagen: Ach, trag (nå¬åh) doch das Verbrechen deiner Brüder und ihre Sünde, dass sie dir Böses angetan haben!‘ Und nun trag doch das Verbrechen der Knechte des Gottes deines Vaters!“ Da weinte Joseph, als sie zu ihm redeten. (Gen 50,15–17) 9

Das ist ein großer Fortschritt gegenüber Gen 44,1–13, wo die Brüder von Joseph ein zweites Mal hart geprüft werden, indem er seinen silbernen Becher in den Sack Benjamins legen lässt (V. 2), um sie mit diesem „Diebstahl“ zu konfrontieren: Als der Morgen hell wurde, wurden die Männer fortgelassen, sie und ihre Esel. Sie zogen aus der Stadt, waren noch nicht weit gekommen, da sagte Joseph zu seinem Hausvorsteher: „Los, verfolge die Männer, hole sie ein und sage zu ihnen: ,Warum habt ihr Böses erstattet (çlm pi.) anstelle von Gutem? Ist da nicht der (sc. Becher), woraus mein Herr trinkt? Er ist einer, der damit treffsicher Vorzeichen deutet. Zu einem bösen Ende habt ihr gebracht, was ihr getan habt.‘“ Und er holte sie ein und sprach zu ihnen eben diese Worte. (Gen 44,3–6)

Jetzt aber, in Gen 50,15–17, wird das Verbrechen der Brüder klar und sogar zweimal benannt und die Bitte geäußert, es zu vergeben bzw. zu „tragen“. Die dann folgende Reaktion Josephs ist unerwartet: er weint – und löst damit eine Gegenreaktion bei seinen Brüdern aus, die ihre Bereitschaft zur Schuldübernahme ausdrückt: Und auch seine Brüder gingen und fielen vor ihm nieder und sagten: „Siehe, da hast du uns zu deinen Knechten.“ Joseph aber sagte zu ihnen: „Fürchtet euch nicht! Bin ich denn an Gottes Stelle? Ihr habt Böses geplant gegen mich, Gott (aber) hat es zum Guten geplant, um zu tun, was 8 S. dazu Albertz, Täter, 156ff; Fischer / Backhaus, Sühne, 35f; Lux, Josef, 205ff; Dietrich / Mayordomo, Gewalt, 227ff und Ebach, Genesis 37–50, 650ff. 9 Zum „Tragen“ der Schuld als Akt der Vergebung s. Lux, Josef, 206ff.

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heute am Tag ist: ein zahlreiches Volk am Leben zu erhalten. Und nun, fürchtet euch nicht! Ich werde euch und eure Kinder versorgen.“ Und er tröstete sie und redete ihnen zu Herzen. (Gen 50,18–21)

In diesem Text konzentriert sich die Kernbotschaft der Josephsnovelle. Denn hier führt Joseph „die theologische Deutung von 45,5–8 weiter, indem er Gott sogar die Kraft zuspricht, geplantes Böses zum Guten zu wenden. Wer so glaubt ist versöhnt. Bei einem derart denkenden Menschen ist die Angst vor Rachsucht unbegründet. Josephs Zusage (vgl. 45,11) und tröstendes Reden ,zu ihrem Herzen‘ löst endgültig die vergangenen Spannungen“10.

Im Nicht-Vergelten, so lehrt die Josephsnovelle, kommt die Versöhnung von Täter und Opfer und damit die Wiedergutmachung von Schuld in überzeugender Weise zum Ausdruck. Die vergeltende Zufügung eines Strafübels – wie die vergeltenden Maßnahmen Josephs in Gen 42–44 – stellt die durch die Untat der Brüder gestörte Gerechtigkeit noch nicht wieder her, dazu bedarf es der Einsicht des Täters in die eigene Schuld. Die Schuldeinsicht, wie sie sich in der großen Rede Judas (Gen 44,14–34)11 ankündigt – „Gott hat die Missetat (˛awôn) deiner Knechte gefunden“ (V. 16) –, eröffnet einen Lernprozess, dasjenige Verhalten an den Tag zu legen, das bei der Untat der Brüder an Joseph (Gen 37,18–30) gefehlt hatte.12 Indem der Täter zu dieser Einsicht kommt, kann auch das Opfer den schwierigen Schritt von der Vergeltung zur Verschonung wagen. Genau das erzählt die Josephsnovelle. II.

Das Bekenntnis der Schuld

Das Sündenbekenntnis, das in Gen 32–33 fehlt, findet sich ebenso wie die Vergebungsbitte allenthalben im Alten Testament,13 aber auffallend häufig in den Individualpsalmen. JHWH, so heißt es, möge die/ der „Verfehlung“ (ªattåt) des Beters „tragen“ (Ps 25,18; 32,5), „bedecken“ (Ps 32,1; 85,3), „abwischen“ (Ps 109,14), „reinigen“ (Ps 51, 4.9), „nicht gedenken“ (Ps 25,7), „entsündigen“ (Ps 51,9) oder „sühnen“ (Ps 79,9). Unter diesen Texten ragt Ps 51, der zusammen mit Ps 6; 32; 37; 102; 130 und 143 zu den sieben kirchlichen Bußpsalmen gehört, besonders hervor. Er stellt ein nachexilisches Bittgebet eines einzelnen mit biographischer Überschrift (V. 1f) und zionstheologi10 11 12 13

Fischer / Backhaus, Sühne, 36, vgl. Lux, Josef, 210ff. S. dazu Lux, Josef, 165ff und Ebach, Genesis 37–50, 362ff. Vgl. Albertz, Täter, 158. Vgl. Grund, Art. Sünde/Schuld, 1875f.

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scher Fortschreibung (V. 20f) dar. Im Anschluss an H. Irsigler14 lässt sich sein Aufbau wie folgt skizzieren: 3–4

Thema: Bitten um Reinigung von Sünde

5–14 Durchführung des Themas 5–8 Sündenbekenntnis 9–14 Bitten um Reinigung und Neuschaffung 15–19 Qualitäten des ,neuen Menschen‘ 15–17 Befähigung zum Lehren und Loben 18–19 Begründung

Während das Sündenbekenntnis in den Individualpsalmen auffallend zurücktritt – dominant sind hier die (An-)Klage und die Unschuldsbeteuerung15 –, tritt es im ersten Teil von Ps 51 (V. 3–14) beherrschend in den Vordergrund: Thema: Bitten um Reinigung von Sünde (mit Invocatio) 3 4

Sei mir gnädig, Gott, nach deiner Güte, nach der Fülle deiner Barmherzigkeit wisch ab meine Verbrechen (peçå˛îm)! Wasche mich ganz rein von meiner Verkehrtheit (˛awôn), und von meiner Verfehlung (ªattåt) reinige mich!

Sündenbekenntnis 5 6

7 8

Denn meine Verbrechen erkenne ich selbst, und meine Verfehlung ist beständig vor mir. An dir allein habe ich gesündigt, und das in deinen Augen Böse habe ich getan, so dass du dich als gerecht erweist in deinem Reden, makellos in deinem Richten. Siehe, in Schuld wurde ich in Wehen geboren, und in Verfehlung hat mich empfangen meine Mutter. Siehe, an Wahrheit hast du Gefallen im Innersten, und im Verborgenen – Weisheit lässt du mich erkennen.

Bitten um Reinigung und Neuschaffung 9 10

Entsündige mich mit Ysop, dass ich rein werde, wasche mich, dass ich weißer werde als Schnee! Lass mich hören Wonne und Freude, es sollen jauchzen die Gebeine, die du zerschlagen hast!

14 S. dazu Irsigler, Neuer Mensch, 296f, anders z.B. Hossfeld / Zenger, Psalmen 51–100 (HThK.AT), 45ff (V. 3–11 und 12–19). 15 S. dazu die Gesamtdarstellung bei Janowski, Konfliktgespräche.

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11 12 13 14

Verbirg dein Angesicht vor meinen Verfehlungen, und alle meine Verkehrtheiten wisch ab! Ein reines Herz erschaffe mir, Gott, und einen beständigen Geist erneuere in meinem Inneren! Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und deinen heiligen Geist nimm nicht von mir! Bring mir zurück die Wonne deiner Rettung, und mit einem willigen Geist sollst du mich stützen!

Dieser erste Teil des Psalms wird in V. 3f mit einem eindringlichen Appell an den Gott eröffnet, der sich nach Ex 34,6f als barmherziger und gnädiger Gott vorgestellt hat, der Verkehrtheit, Verbrechen und Vergehen vergibt: 6 7

JHWH zog vor ihm (sc. Mose) vorüber und rief: JHWH, JHWH, ein barmherziger und gnädiger Gott, langsam zum Zorn und reich an Güte und Treue: der Güte bewahrt den Tausenden, der Verkehrtheit, Verbrechen und Verfehlung vergibt, aber (den Sünder) gewiss nicht aus der Haftung entlässt, der Rechenschaft einfordert bezüglich der Verkehrtheit der Väter an den Söhnen und Enkeln, an der dritten und vierten Generation.

Durch die drei Verben „ab-/wegwischen“, „waschen“ und „reinigen“, mit denen in Ps 51,3f (vgl. V. 9–11) um die Reinigung von der Sünde gebeten wird, wird diese als ,Schmutz‘ qualifiziert, der den Menschen von innen her verunreinigt. Die Opposition von rein und unrein ist Ausdruck eines komplexen, auf die symbolische Ordnung der Wirklichkeit ausgerichteten Systems, das eine eigene Logik besitzt16 und auch im Alten Testament eine zentrale Rolle spielt. In Ps 51,9 (Ysop // Waschung) ist allerdings nicht (mehr) von einem konkreten Reinigungsritus die Rede, vielmehr wird mit Hilfe kultischer Begrifflichkeit von einer Unreinheit und ihrer Beseitigung gesprochen, die in die Tiefen menschlicher Existenz hinabreicht.17 Diese Tiefendimension ergibt sich vor allem aus V. 5–8. Denn hier hält sich der Beter – nicht aus eigener Einsicht, sondern angeleitet durch die Weisheit Gottes (V. 8)! – seine Sünde(n) vor Augen und bekennt, dass er nicht gegen dies und das, sondern allein an Gott gesündigt hat (V. 6, vgl. 2 Sam 12,13).18 Was er dabei erkennt, nämlich seine eigene Sündhaftigkeit, ist schwerwiegend. Sie kommt „aus ei16 S. dazu die klassische Darstellung von Douglas, Reinheit. 17 S. dazu Irsigler, Neuer Mensch, 297ff.310f. Zur Reinigung mit Ysop s. Lev 14,1–9; Num 19,14–19 u.ö. 18 S. dazu Fischer / Backhaus, Sühne, 57ff.

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ner rätselhaften Tiefe seiner menschlichen Existenz“19 und bestimmt diese von Anfang an. Das zeigt die Rede von Geburt und Empfängnis (V. 7), die deutlich macht, dass er Teil einer sozialen Gemeinschaft ist, in die er hineingeboren wird, in der er lebt und von der er sich als handelnde Person nicht dispensieren kann. Die Schulderfahrung des Menschen gründet in Unheilszusammenhängen, die täglich aufbrechen können und die immer wieder eine überindividuelle Dimension haben. Das meint das Symbol der Geburt: „Wir haben kein Recht, über das bereits vorfindliche Böse außerhalb des Bösen, das wir setzen, zu spekulieren. Hier liegt zweifellos das letzte Geheimnis der Sünde: Wir beginnen das Böse, durch uns kommt es in die Welt, aber wir beginnen es von einem bereits vorhandenen Bösen aus, wofür unsere Geburt das undurchdringliche Symbol bildet.“20

Nur eine fundamentale Neubestimmung kann dem Sünder eine neue Sicht auf sein Leben eröffnen. Diese Neubestimmung wird in V. 12– 14 mit Hilfe der Verben „erschaffen“ (immer mit Subjekt Gott) und „neu machen“ als Neuschöpfung qualifiziert. Sie ist keine Wiedererlangung einer ehemals vorhandenen Reinheit, sondern eine „bleibende Verwandlung“21 des sündigen Menschen, die durch einen kreativen Akt Gottes in dessen Personzentrum, nämlich in seinem „Herzen“ (V. 12a.19b) und in seinem „Geist“ (V. 12b.13b.14b.19a) geschieht. Während das Herz als Sitz der Gefühle, des Verstandes und des Willens das Zentralorgan des Menschen ist,22 ist der Geist, wie vor allem Ez 11,19f und 36,25–27 zeigen, die Quelle der von Gott geschenkten Lebenskraft: 25 26 27

Und ich sprenge über euch reines Wasser und ihr werdet rein sein. Von allen euren Unreinheiten und von allen euren Götzen werde ich euch rein machen. Und ich gebe euch ein neues Herz, und einen neuen Geist gebe ich in euer Inneres. Und ich entferne das Herz von Stein aus eurem Fleisch und gebe euch ein Herz von Fleisch. Und meinen Geist gebe ich in euer Inneres, und ich mache, dass ihr in meinen Satzungen wandelt und meine Rechte bewahrt und sie tut. (Ez 36,25–27)

19 Zenger, Erbsündentheologie, 16. Es geht hier nicht um „Erbsünde“ im traditionellen Sinn, sondern um „eine von Anfang an gegebene Schuldverhaftung als allgemeine Sündhaftigkeit von den Anfängen menschlicher Existenz her“ (Irsigler, Neuer Mensch, 307), also um eine überindividuelle Schuldverstrickung vom Lebensbeginn an, vgl. Hossfeld / Zenger, Psalmen 51–100, 51f. 20 Ricœur, Erbsünde, 161. 21 Irsigler, Neuer Mensch, 310. 22 S. dazu Janowski, Konfliktgespräche, 166ff.

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Beide, Herz und Geist, sollen nach Ps 51,12 „rein“ und „neu“ werden, damit der Beter das mit dem Herzen Erkannte zuverlässig („beständiger Geist“ V. 12b) und hingebungsvoll („williger Geist“ V. 14b) tun kann.23 Das ist aber nur möglich, weil und sofern Gott sein Angesicht nicht vom Beter abwendet (V. 13a) und seinen „heiligen Geist“ nicht von ihm wegnimmt (V. 13b), sondern die „Wonne“ seiner Rettung zu ihm „zurückbringt“ (V. 14a) – obwohl der Beter sich als Sünder weiß. Das ist ganz und gar paradox! „Wir spüren“, kommentiert H. Irsigler treffend, „die Spannung zwischen der Vorstellung von Verlierbarkeit heilvoller Erfahrung und intentionaler Endgültigkeit der Neuschöpfung durch Gott“24. Die Dringlichkeit, mit der in V. 12 um die „Beständigkeit“ des Geistes gebeten wird, macht diese Spannung unübersehbar. Wenn man auf den Gebetsprozess des ersten Teils zurückblickt, wird deutlich, dass sich das, was Ps 51 unter Neuschöpfung versteht, nicht von selbst einstellt. Es bedarf der Erkenntnis und Anerkenntnis der eigenen Sünde. Das aber gehört zum Schwersten. Niemand ist aus sich allein zu solcher Erkenntnis fähig, sie bedarf des Anstoßes von außen, der – wie der Beter von Ps 51 weiß – von Gott kommt: „Siehe, an Wahrheit hast du Gefallen im Innersten, und im Verborgenen – Weisheit lässt du mich erkennen“ (V. 8). Und weil der Beter um diese Initiative Gottes weiß und sie zu erleben hofft, setzt er im zweiten Teil mit einem Versprechen (V. 15) und nochmaligen Bitten (V. 16f) ein: 15 16 17

Ich will lehren Verbrecher deine Wege, dass Sünder zu dir zurückkehren. Errette mich aus Blutschuld, Gott, Gott meiner Rettung, dass meine Zunge juble über deine Gerechtigkeit(stat)! Herr, meine Lippen sollst du öffnen, so wird mein Mund verkünden dein Lob!

Hier geht es nicht um eine äußerliche Belehrung der Sünder, sondern um eine werbende Einsicht in die „Wege“ Gottes, wie sie der Beter selbst gewinnt und die auch die Sünder zu Gott „zurückkehren“ lassen kann (vgl. V. 14a). Solche Einsicht, die vor einer todbringenden Gefahr („Blutschuld“ V. 16a)25 warnt, macht frei und drängt zum jubelnden Gotteslob (V. 16b.17). Dieses wird in V. 18f opfertheologisch begründet. Es ist aber, wie die auf die Metapher von den „zer23 Vgl. Hossfeld / Zenger, Psalmen 51–100, 53. 24 Irsigler, Neuer Mensch, 314. 25 Mit dieser „Blutschuld“ ist nach Irsigler, Neuer Mensch, 315f die drohende Schuld am Tod des Sünders gemeint, den der Beter durch sein „Lehren“ (lmd pi.) zu zurückführen will.

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schlagenen Gebeinen“ (V. 10) zurückgreifende Formulierung zeigt, ein Opfer sui generis: 18 19

Denn ein Schlachtopfer gefällt dir nicht, und gebe ich ein Brandopfer – du hast kein Wohlgefallen (daran). Schlachtopfer Gottes sind ein zerbrochener Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz, Gott, verachtest du nicht.

Die vom Beter ersehnte und durch Reinigung von seiner Sünde geschenkte Neuschöpfung seiner Person – dafür stehen „Herz“ und „Geist“ – kommt nur durch einen ,Bruch‘ mit seiner bisherigen Existenzweise zustande (vgl. Ez 6,9).26 Die Voraussetzung dafür ist das Bekenntnis der Sünde, das ihm die verfehlten Möglichkeiten eines wahren Lebens (vgl. V. 8) vor Augen stellt. III.

Das Tragen der Schuld

Die innerhalb des Alten Testaments theologisch vielleicht anspruchsvollste Form der Schuldbewältigung findet sich im vierten Gottesknechtslied Jes 52,13–53,12.27 Nach Jes 53,7–10ab wird künftiges Heil für Israel dadurch erwirkt, dass der Gottesknecht sein Leben als „Schuldtilgung“ (∞åçåm)28 einsetzt: 7

8

9

10

Er wurde bedrängt, aber er beugte sich und tat seinen Mund nicht auf, wie ein Schaf, das zur Schlachtung gebracht wird, und wie ein Mutterschaf, das vor seinen Scherern stumm ist, so tat er seinen Mund nicht auf. Aus Haft und Gericht wurde er weggerafft, und was seine Generation betrifft – wer bedenkt (es)? Denn er wurde abgeschnitten vom Land der Lebenden, wegen des Verbrechens ‹seines› Volks ‹wurde er zum Tode getroffen›. Und man gab (ihm) bei Frevlern sein Grab und bei ‹Übeltätern› seine ‹Grabstätte›, obwohl er keine Gewalttat verübt hatte und in seinem Mund kein Trug war. Aber JHWH, dessen Plan es war, ihn zu schlagen, ‹heilte den, der› als Schuldtilgung sein Leben ‹einsetzte›.29

26 Vgl. Irsigler, Neuer Mensch, 307f. 27 Zum Folgenden s. auch Janowski, Anthropologie, 462ff. 28 S. dazu Janowski, Stellvertretung, 88ff, ferner Hermisson, Deuterojesaja, 397f. 29 Zur Übersetzung und Textkritik s. Janowski, Stellvertretung, 71f, ferner Schenker, Knecht, 67ff und Hermisson, Deuterojesaja, 314ff.

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Das ist der für unseren Zusammenhang entscheidende Text. Da es bei Deuterojesaja und in den ersten drei Gottesknechtsliedern (Jes 42,1– 4; 49,1–6; 50,4–9) um die „Rettung“ Israels geht (vgl. Jes 49,5f mit Jes 44,21f), kann nur das unschuldige Leben, das der Gottesknecht in Handlungs- und Willenseinheit mit JHWH hingibt (53,10aa.b), Israel aus seiner Schuldverfallenheit lösen. Ohne diese Hingabe, die in Jes 53,10ab als Einsatz des Lebens zur „Schuldtilgung“ bezeichnet wird, bliebe Israel dem eigenen Tun/Ergehen-Zusammenhang verhaftet, müsste also die Folgen seines Tuns selber tragen. Es trägt diese Folgen aber nicht selbst, sondern erkennt, dass dies ein anderer, der Gottesknecht, für es getan hat: 2 Er wuchs auf wie ein Schössling vor ‹uns› und wie eine Wurzel aus dürrem Land. Keine (schöne) Gestalt hatte er und keinen Glanz, dass wir ihn angesehen, und keine Ansehnlichkeit, dass wir an ihm Gefallen gefunden hätten. 3 Er war verachtet und verlassen von Menschen, ein Mann der Schmerzen und mit Krankheit vertraut, und wie einer, vor dem man das Gesicht verbirgt, war er verachtet, und wir schätzten ihn nicht. 4 Fürwahr: unsere Krankheiten – er trug sie, und unsere Schmerzen – ‹er› schleppte sie. Wir aber hielten ihn für einen Getroffenen, für einen von Gott Geschlagenen und Gebeugten. 5 Er aber war durchbohrt wegen unseres Frevels, zerschlagen wegen unserer Verkehrtheiten. Züchtigung zu unserem Heil lag auf ihm, und durch seine Strieme wurde uns Heilung zuteil. 6 Wir alle irrten umher wie Schafe, ein jeder kümmerte sich um seinen Weg. Aber JHWH ließ ihn treffen die Verkehrtheit von uns allen.

Während V. 2f die frühere Sicht der Wir und damit die Abwendung Israels vom Gottesknecht beschreiben, setzt V. 4 mit der jetzigen Sicht ein, mit der die Wir auf dieses frühere Stadium zurückblicken: „Fürwahr: unsere Krankheiten – er trug sie“ (V. 4a). Das Leiden des Gottesknechts – so erkennen sie jetzt – war nicht die Folge seines eigenen, sondern ihres, also eines fremden Tuns. Indem die Wir aufgrund des JHWH-Orakels Jes 52,13–15 zu ihrer jetzigen Sicht gelangen, können sie sich den unheilvollen Konsequenzen ihres Tuns stellen. Das ist der Anfang, aber auch die Bedingung der Veränderung. Jes 53 hat diesen Vorgang der Stellvertretung in seiner ganzen Dramatik entfaltet und seine beunruhigende wie befreiende Seite

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aufgedeckt: Er ist beunruhigend, weil ein Unschuldiger sich schlagen lässt, ohne zurückzuschlagen, und alle Gewalt auf sich zieht, um ihre Macht zu brechen. Und er ist befreiend, weil dieser Vorgang nicht einfach so hingenommen wird, sondern die Wir an ihm ihre eigene Schuld erkennen. Der Schuldige erkennt, dass er schuldig ist – das ist der Anfang der Veränderung. Die Wirklichkeit der Stellvertretung erschließt sich den Wir aber nicht einfach durch Reflexion oder durch Entschluss, sondern durch das im Bekenntnis von Jes 53,4 ergriffene Wort, das JHWH nach Jes 52,13–15 über den Erfolg seines Knechts spricht. Dieses Wort hat bei den Wir den Prozess der Erkenntnis ausgelöst. So einsichtig dieser Zusammenhang ist, so befremdlich wirkt doch der Gedanke, dass Gott selbst aktiv in das Geschehen involviert ist. „Musste“ also der Gottesknecht – wie mutatis mutandis der Menschensohn (vgl. Mk 8,31 par.; 14,21 par., vgl. Lk 24,26) – nicht aufgrund der Initiative Gottes leiden und sterben? Jes 53,4–6 fasst dieses Problem in die anstößige Aussage, dass JHWH den Knecht „die Schuld von uns allen treffen ließ“ (V. 6b), ja, dass er „es geplant hatte, ihn zu schlagen“ (V. 10aa). Beide Wendungen sind im Kontext von V. 2–10ab aufeinander bezogen. Ebenso sind die Aussagen, die vom Gottesknecht als handelndem Subjekt sprechen (V. 4a und V. 7aa) aufeinander bezogen. Neben der passiven, auf Leiden und Tod bezogenen, wird die aktive, auf die stellvertretende Lebenshingabe bezogene Rolle des Gottesknechts betont.30 Was aber ist das für ein Gott, der seinen „Erwählten“ (Jes 42,1) preisgibt und der Gewalt seiner Feinde ausliefert? Der ihn wohlmöglich „opfert“31, um Israel zu retten? Diese Frage berührt den empfindlichsten Punkt des vierten Gottesknechtslieds. Man kann sie aber nicht beantworten, ohne die Fortsetzung von V. 7–10aa.b in den Blick zu nehmen: 10ag Er wird Nachkommenschaft sehen, er wird lange leben, b und JHWHs Plan – durch ihn wird er gelingen.

Man muss diesen Satz vor dem Hintergrund der ersten drei Gottesknechtslieder lesen: JHWH – und das ist sein „Plan“ – hat seinen Knecht nach Jes 42,1–4 zu einem Weg beauftragt, der ihn Zug um Zug an die Stelle anderer treten lässt. Er übernimmt handelnd und leidend ein fremdes Geschick, das an ihm zur vollen Auswirkung kommt. Aber warum dieser dramatische, Abweisung, Leiden und Tod des Unschuldigen mit sich bringende „Rollentausch“? Warum 30 S. dazu Spieckermann, Konzeption, 282ff und Janowski, Stellvertretung, 84f. 31 Zu der Frage, ob Jes 52,13–53,12 opfertheologisch zu interpretieren ist, s. Janowski, Stellvertretung, 88f.

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eine Rettung der Vielen auf Kosten des Einen? Die Antwort lautet: um die Vielen von den bösen Folgen ihres bösen Tuns zu lösen, konkret: um Israel nach der Katastrophe von 586 v.Chr. zu JHWH „zurückzubringen“ (Jes 49,5f, vgl. 44,21f). Im Leidens- und Todesgeschick des Gottesknechts vollzieht sich demnach eine Stellvertretung für die Sünder (die „Wir“ von Jes 53), die als der von JHWH bestimmte Weg zum Heil beschrieben und verstanden wird. Ausschlaggebend für diesen Sachverhalt ist nach E. Haag „… der Umstand, dass bei dieser von dem Mittler ausgeübten Stellvertretung primär Jahwe selbst das Subjekt des Geschehens ist, insofern er bei der Erwählung Israels von Anfang an auch dessen Sündenschuld sich aufgeladen und sie als Schöpfer und Erlöser schließlich überwunden und getilgt hat. Die Stellvertretung, die der Knecht in diesem Heilsgeschehen übernimmt, erklärt sich dann als ein in radikaler Solidarität mit Gott und seinem Volk gelebtes Mittlertum, durch dessen Einsatz Jahwe seinen Schöpfungs- und Geschichtsplan zur Vollendung führt. (…) Das Mittlertum des Knechts und dessen Stellvertretung hängen … von dem Einsatz des Erwählten bei der Offenbarung Jahwes ab. Hierbei aber geht es darum, daß Gott die schon bei der Auserwählung Israels geoffenbarte Liebe (Dtn 7,6–8) auch bei dem Zusammenstoß mit dessen Sünde nicht vergißt und aufgibt (Hos 11,8f), sondern sie trotz allem Widerstand von seiten Israels am Ende siegen läßt (Jer 31,3). Für den Mittler aber, der bei dieser Heilszuwendung Jahwes in der Nachfolge (Jer 2,2) seines Gottes steht, bedeutet dies, daß er den sich hierbei offenbarenden, auch zu letztem Opfer bereiten Erlöserwillen Jahwes sich ganz zu eigen macht und so das Leiden der Verkennung und Zurückstoßung, wie es Verstocktheit und abgründiger Haß verursachen können, willig erträgt und gerade so die durchgehaltene Liebe Jahwes bezeugt“32.

Nicht das Leiden seines Knechts ist nach Jes 52,13–53,12 also JHWHs Plan, sondern die Rettung Israels – aber JHWH ließ es zu, dass sein Knecht um dieser Rettung willen ins Leiden gerät. Israel, das zur Übernahme seiner Schuld nicht imstande war, musste – so der Duktus der vier Gottesknechtslieder – aus ihr gelöst werden, um noch eine Zukunft zu haben. Eröffnet wird Israel diese Zukunft durch die Stellvertretung, die der Gottesknecht in liebender Hingabe an Israel, den Gottesknecht (Jes 44,21f), und in Bewahrheitung seiner Erwählung durch JHWH (Jes 42,1–4) ausübt. Ein anderer Weg, etwa der, den die vorexilische Gerichtsprophetie mit ihrer Unheilsankündigung beschritten hatte, war gemäß der unbedingten Heilszusage von Jes 40–55 offenbar nicht gangbar. Es geht beim stellvertretenden Leiden des Gottesknechts also um die Rettung Israels und im Kontext der Gottesknechtslieder um die Rettung der Völker. 32

Haag, Stellvertretung, 13.

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IV.

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Das Geschenk der Versöhnung

Das vierte Beispiel führt mit Lev 16, dem Ritual des Großen Versöhnungstags, mitten ins Zentrum des Pentateuchs. Zusammen mit Lev 17 bildet dieses Kapitel die kompositorische und thematische Mitte des Leviticusbuchs, die die Botschaft vom Versöhnung stiftenden Gott propagiert. Schon die Wendung „Geschenk der Versöhnung“ zeigt an, dass bei dieser Form des Umgangs mit Schuld ein Geschehen im Blick ist, das der Schuldige – kollektiv die Israeliten – nicht von sich aus herstellen oder gar erzwingen kann, sondern das ihm geschenkt wird. Er kann dieses Geschenk annehmen und wird, wenn er es annimmt, die Erfahrung eines fundamentalen Neuanfangs machen. Dieser Neuanfang wird in Lev 16 höchst dramatisch inszeniert. 1.

Die narrative Struktur von Lev 16

In Lev 16 sind mehrere Rituale miteinander verbunden und zu einer Handlungseinheit verschmolzen. Liest man Lev 16,2–28.34b als synchronen Text, d.h. unbeschadet der redaktionellen Erweiterungen (im Folgenden kursiv), so lässt sich dessen Struktur – ohne den narrativen Anfang V. 1 und ohne den paränetischen Schluss V. 29–34a – wie folgt gliedern:33 Ausstattung Aarons beim Eintritt ins Heiligtum 2 Und JHWH sagte zu Mose: Sprich zu Aaron, deinem Bruder, dass er nicht zu jeder Zeit in das Heiligtum kommen soll, hinter den Vorhang vor die kapporæt, die auf der Lade ist, damit er nicht stirbt. Denn in der Wolke erscheine ich auf der kapporæt. 3 Damit geht Aaron in das Heiligtum: mit einem Stier, einem Rind, zum Sündopfer und einem Widder zum Brandopfer. 4 Einen leinenen heiligen Leibrock zieht er an und leinene Hosen sind auf seinem Körper. Und mit einem leinenen Gürtel gürtet er sich. Und einen leinenen Turban bindet er sich um. Heilige Kleider sind es. Und er badet seinen Körper mit Wasser und er zieht sie an. 5 Und von der Versammlung der Israeliten nimmt er zwei Ziegenböcke zum Sündopfer und einen Widder zum Brandopfer.

Zweckbestimmung von Stier und Ziegenböcken 6 Und Aaron bringt den Sündopferstier dar, der für ihn ist, und schafft Sühne34 für sich und sein Haus. 7 Und er nimmt die beiden Böcke und stellt sie vor JHWH an den Eingang des Begegnungszeltes. 8 Und Aaron gibt auf die beiden Böcke Lose, ein Los für JHWH und ein Los für Azazel. 9 Und Aaron bringt den Bock dar, auf den das Los für JHWH gefal33 Zur Textgliederung s. Janowski, Geschenk, 120ff und die dort genannte Literatur, ferner Hieke, Levitikus, 565ff. 34 Hieke, Kult, 144f übersetzt kippær mit „Versöhnung erwirken“.

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len ist, und bereitet ihn als Sündopfer. 10 Und der Bock, auf den das Los für Azazel gefallen ist, wird lebend vor JHWH gestellt, um auf ihm Sühne zu schaffen, um ihn zu Azazel in die Wüste zu schicken.

Ritus an der kapporæt 11 Und Aaron bringt den Sündopferstier dar, der für ihn ist, und schafft Sühne für sich und sein Haus. Und er schlachtet den Sündopferstier, der für ihn ist. 12 Und er nimmt eine Feuerpfanne voll von glühender Kohle vom Altar vor JHWH und beide Hände voll von wohlriechendem feinem Räucherwerk und bringt es hinter den Vorhang. 13 Und er gibt das Räucherwerk auf das Feuer vor JHWH. Und die Wolke des Räucherwerks bedeckt die kapporæt, die auf dem Zeugnis ist, damit er nicht stirbt. 14 Und er nimmt vom Blut des Stiers und sprengt (es) mit seinem Finger vorn auf die kapporæt ostwärts. Und vor die kapporæt sprengt er siebenmal vom Blut mit seinem Finger. 15 Und er schlachtet den Sündopferbock, der für das Volk ist. Und er bringt sein Blut hinter den Vorhang und verfährt mit seinem Blut, wie er mit dem Blut des Stiers verfahren ist. Und er sprengt es auf die kapporæt und vor die kapporæt. 16 Und er schafft dem Heiligtum Sühne wegen der Unreinheiten der Israeliten und wegen ihrer Übertretungen hinsichtlich aller ihrer Sünden. Und so verfährt er mit dem Begegnungszelt, das bei ihnen wohnt inmitten ihrer Unreinheit. 17 Und niemand soll im Begegnungszelt sein, wenn er hineingeht, um Sühne im Heiligtum zu schaffen, bis er herauskommt. Und er schafft Sühne für sich und sein Haus und für die ganze Versammlung Israels.

Ritus am Brandopferaltar 18 Und er geht hinaus zum Altar, der vor JHWH ist, und schafft Sühne auf ihm. Und er nimmt vom Blut des Stiers und vom Blut des Bockes und gibt es ringsum an die Hörner des Altars. 19 Und er sprengt auf ihn vom Blut mit seinem Finger siebenmal. Und er reinigt ihn und heiligt ihn von den Unreinheiten der Israeliten.

Sündenbock-Ritus 20 Und er vollendet, das Heiligtum, das Begegnungszelt und den Altar zu sühnen. Und er bringt den lebenden Bock dar. 21 Und Aaron stemmt seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bocks. Und er bekennt auf ihm alle Verschuldungen der Israeliten und alle ihre Übertretungen hinsichtlich aller ihrer Sünden. Und er gibt sie auf den Kopf des Bocks. Und er schickt ihn durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste. 22 Und der Bock trägt auf sich alle ihre Verschuldungen in ein abgeschnittenes Land. Und er schickt den Bock in die Wüste.

Kleiderwechsel und Darbringung des Brandopfers 23 Und Aaron geht in das Begegnungszelt und zieht die leinenen Kleider aus, die er angezogen hatte, als er in das Heiligtum hineinging, und legt

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sie dort nieder. 24 Und er badet seinen Körper mit Wasser an einem heiligen Ort und er zieht seine Kleider an und geht hinaus. Und er bereitet sein Brandopfer und das Brandopfer des Volkes. Und er schafft Sühne für sich und für das Volk. 25 Und das Fett des Sündopfers lässt er auf dem Altar in Rauch aufgehen.

Sonderbestimmung für den Begleiter des Sündenbocks 26 Und der den Bock zu Azazel geschickt hat, wäscht seine Kleider und badet seinen Körper mit Wasser. Und danach kommt er (wieder) ins Lager.

Entsorgung des Sündopferstiers und Sündopferbocks 27 Und den Sündopferstier und den Sündopferbock, deren Blut hineingebracht worden ist, um im Heiligtum Sühne zu schaffen, bringt er hinaus aus dem Lager. Und sie verbrennen ihr Fell, ihren Körper und ihren Mageninhalt im Feuer. 28 Und der sie verbrannt hat, wäscht seine Kleider und badet seinen Körper mit Wasser. Und danach kommt er (wieder) ins Lager.

Ausführungsbericht 34b

Er tat, wie JHWH dem Mose geboten hatte.

Wie der Text zeigt, steht der Ritus mit dem Sündopferstier für Aaron (vgl. V. 3) und einem der beiden Sündopferböcke für das Volk (vgl. V. 5) im Zentrum des Gesamtrituals, das die Riten an der kapporæt (V. 11–17) und am Brandopferaltar (V. 18f) umfasst. Beide Riten werden gerahmt durch den Losritus V. 6–10 und den Ritus am lebenden Bock („Sündenbock“ V. 20–22). Den äußeren Rahmen bilden die Vorbereitungshandlungen V. 2–5 auf der einen und die Abschlussriten V. 23–28 auf der anderen Seite. 2.

Zwei komplementäre Riten

Lev 16 ist vor allem wegen seines sprichwörtlich gewordenen Sündenbockritus bekannt. Das ist allerdings nur ein, wenn auch zentraler Aspekt des Rituals vom Großen Versöhnungstag. Der andere Aspekt ist mit dem Ritus an der kapporæt verbunden, die in der Mitte des Allerheiligsten auf der dort aufgestellten Lade angebracht ist. a)

Der Blutritus an der kapporæt (V. 11–17)

Die kapporæt genannte, auf einem offenen Kasten (∞årôn „Lade“) platzierte Goldauflage, die ihrerseits zwei aus den Plattenenden getriebene Keruben trägt, verdankt ihren Namen nicht ihrer äußeren

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Position, sondern der „Funktion im Rahmen des Ritualsystems zur Sühne (vgl. Lev 4,3–21; 16)“35. Sie ist deshalb und aufgrund des etymologischen Zusammenhangs mit kippær „sühnen, Sühne schaffen“ oder „Versöhnung erwirken“ am besten mit „Sühnmal, Sühneort“ zu übersetzen; mit einem „Deckel“ auf der Lade, so manche Bibelübersetzungen, hat dieser Kultgegenstand nichts zu tun.36 Seine Anfertigung wird in Ex 25,17–22 angeordnet: 17 Und du sollst eine kapporæt aus reinem Gold machen, zweieinhalb Ellen lang und eineinhalb Ellen breit. 18 Und du sollst zwei Keruben aus Gold anfertigen, als getriebene Arbeit sollst du sie machen aus den beiden Enden der kapporæt. 19 Und (zwar) mach den einen Kerub aus dem einen Ende und den anderen Kerub aus dem anderen Ende der kapporæt, aus der kapporæt sollt ihr die Keruben an ihren beiden Enden machen. 20 Und die Keruben sollen (so) sein, dass sie (ihre) Flügel nach oben hin ausbreiten, mit ihren Flügeln die kapporæt beschirmend; und ihre Vorderseiten sollen sich einander zuwenden, zur kapporæt hin sollen die Vorderseiten der Keruben (gerichtet) sein. 21 Und du sollst die kapporæt oben auf die Lade geben (setzen), und in die Lade sollst du das Zeugnis geben (legen), das ich dir geben werde. 22 Und ich werde dir dort begegnen (j˛d nif.) und mit dir von der kapporæt aus, von (dem Ort) zwischen den beiden Keruben, die auf der Lade des Zeugnisses sind, reden alles, was ich dir für die Israeliten auftragen werde.

Wie dieser Text zeigt, ist die Lade nur ‚technisch‘ mit der kapporæt verbunden, um die Transportabilität dieses unberührbaren Kultgegenstands zu ermöglichen, d.h. sie fungiert als tragbarer (Ex 25,13–15), kastenförmiger Sockel oder Untersatz der kapporæt. In theologischer Hinsicht markiert diese den Ort der Gottesnähe, an dem JHWH nach Ex 25,22 Mose begegnen und mit ihm alles reden wird, was er ihm für die Israeliten auftragen wird. War die Bedeutung der beiden Keruben im salomonischen Tempel – als Tragtiere des „Kerubenthroners“37 markieren sie die Grenze zur göttlichen Sphäre – wesentlich darauf zurückzuführen, dass an diesem Ort himmlischer und irdischer Bereich ineinander übergehen (vgl. 1 Kön 6,23–28 = 2 Chr 3,10–13), so wird die Art der Gottesgegenwart im priesterlichen Begegnungszelt nach Ex 25,22 anders bestimmt: nicht als ein Thronen „auf / über“ den Keruben, sondern als ein „Begegnen“ (j˛d nif.) und als ein „Reden“ JHWHs mit Mose von der kapporæt aus, genauer „von (dem Ort) zwischen den beiden Keruben aus, die auf der Lade des Zeugnisses sind“. 35 36 37

Görg, Art. Sühnestätte, 727f, s. dazu ausführlich Janowski, Sühne, 277ff.443f. S. dazu Janowski, Sühne, 274f.340. 1 Sam 4,4; 2 Sam 6,2; 2 Kön 19,15 = Jes 37,16; Ps 80,2; 99,1 und 1 Chr 13,6.

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Vor diesem Hintergrund bekommt die Szene von Lev 16,*11–17 ihre eminente kultsymbolische Bedeutung. Denn in dem zeichenhaften Blutritus von V. 14f – der Hohepriester „nimmt vom Blut des Stiers und sprengt es mit seinem Finger vorn auf die kapporæt ostwärts. Und vor die kapporæt sprengt er siebenmal von dem Blut mit seinem Finger“ – wird das schuldig gewordene Israel in Kontakt mit dem sich auf der kapporæt offenbarenden Gott gebracht, der hier dem kultischen Repräsentanten seines Volks „begegnet“: „In einer Zeremonie, die das Nahekommen zu Gott bis zur letzten materiellen Berührung verdichtet und doch die äußerste Sublimität der Berührung in der Sprengung des Tropfens wahrt, wird das Urphänomen der heiligenden Gottesbegegnung vollzogen, der Kontakt des sich offenbarenden Gottes und des sich ganz und gar hingebenden Menschen.“38

Das ist das Herzstück des Rituals des Großen Versöhnungstags! Die kostbarste Gabe, die JHWH seinem Volk zur Versöhnung gegeben hat, ist das tierische Blut, in dem, wie Lev 17,11 konstatiert, das „Leben“ bzw. die „Lebenskraft, Vitalität“ (næpæç) ist: Denn gerade das Leben des Fleisches ist im Blut. Und ich (sc. JHWH) selbst habe es euch auf/für den Altar gegeben, damit es euch persönlich Sühne schafft / Versöhnung erwirkt; denn das Blut ist es, das durch das (in ihm enthaltene) Leben Sühne schafft / Versöhnung erwirkt.39

Im Zentrum des Begegnungszeltes findet damit eine Gottesbegegnung statt, deren kultsymbolische Bedeutung nicht zu überschätzen ist. b)

Der Sündenbockritus (V. 20–22)

Wenn man den Ritus an der kapporæt innerhalb des Vorhangs (Lev 16,*11–17) mit den vor dem Allerheiligsten und dem Vorhang vollzogenen Sühneriten von Lev 4–5 und Lev 9 vergleicht, dann wird das sündige Israel nach der Komposition des Leviticusbuchs „schrittweise an das Heilige Jahwes angenähert“40. Dem entspricht – gemäß den kulttopographischen Gegebenheiten – gleichsam spiegelbildlich, dass der mit den Verschuldungen Israels beladene Sündenbock von einem Begleiter aus dem Bereich des Heiligtums in die „Wüste“ bzw. in ein „abgeschnittenes Land“ geführt wird (V. 8.10.20–22). Die für den 38 39 40

Gese, Sühne, 104. S. dazu Janowski, Sühne, 242ff. Seidl, Levitikus 16, 239.

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Sündenbockritus charakteristischen Elemente sind das Aufstemmen der beiden Hände Aarons auf den Kopf des Tieres,41 die Übertragung der Verschuldungen Israels auf den rituellen Unheilsträger und das Wegschicken des Sündenbocks in die Wüste. Besonders die Formulierung von V. 22 veranschaulicht die Funktion dieses Ritus, nämlich dass der Sündenbock alle Verschuldungen Israels in ein abgeschnittenes Land wegträgt – damit die Kultgemeinde Israel von ihrer Schuld ent-lastet. Das ist auch der Sinn des alttestamentlichen Sündenbockritus. Nach Lev 16,22 wird nämlich der Sündenbock von seinem Begleiter in ein Gebiet geführt, das „abgeschnittenes Land“ (∞æræ‚ gezeråh) bzw. „Wüste“ (midbår) genannt wird: Und der Bock trägt auf sich alle ihre Verschuldungen in ein abgeschnittenes Land. Und er schickt den Bock in die Wüste.

Diese gzr-Formulierung gehört zu einer Beleggruppe des Verbs, die vom „Abgeschnitten-Sein“ vom Land der Lebenden (Jes 53,8), vom Haus JHWHs (2 Chr 26,21) oder von seiner Hand (Ps 88,6) handelt:42 8 Aus Haft und Gericht wurde er weggerafft, und was seine Generation betrifft – wer bedenkt (es)? Denn er wurde abgeschnitten (gzr nif.) vom Land der Lebenden, wegen des Verbrechen ‹seines› Volks ‹wurde er zum Tode getroffen›. (Jes 53,8)43 So war König Usija aussätzig bis zum Tag seines Todes, er saß aussätzig im „Haus der Freien“, denn er war ausgeschlossen (gzr nif.) aus dem Haus JHWHs, und sein Sohn Jotam war über das Haus des Königs gesetzt und richtete das Volk des Landes. (2 Chr 26,21) 4 Denn gesättigt mit Übeln ist meine næpæç (Leben/Lebenskraft), und mein Leben hat die Unterwelt berührt. 5 Zugezählt worden bin ich denen, die in die Grube hinabsteigen, ich bin geworden wie ein Mann ohne Kraft. 6 Unter den Toten (bin ich) ein Freigelassener, wie Erschlagene, die im Grab liegen, an die du nicht mehr gedacht hast, sind sie doch von deiner Hand abgeschnitten (gzr nif.). (Ps 88,4–6) 41 Zur Bedeutung der Handaufstemmung s. die Hinweise bei Janowski, Anthropologie, 440 mit Anm. 133. 42 Vgl. noch Ez 37,11 und Thr 3,54, s. dazu Görg, Art. gzr, 1003f. 43 Vgl. oben Abschnitt III.

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In ähnlicher Weise dürfte mit der Bezeichnung „abgeschnittenes Land“ in Lev 16,22 „‚unfruchtbares Land‘ gemeint sein, vielleicht aber auch ein Gebiet, das strikt getrennt vom kultisch relevanten Lagerbereich liegt“44. Der Sündenbockritus von Lev 16,20–22 ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Anders gesagt: das „abgeschnittene Land“, in das der Sündenbock geführt wird, repräsentiert raumsymbolisch die Sphäre des Todes bzw. die Gegenwelt. Darum muss auch sein Begleiter vor seiner Rückkehr ins Lager seine Kleider waschen und seinen Körper mit Wasser reinigen (V. 26). Nimmt man beide Riten – den Ritus an der kapporæt und den Sündenbockritus – zusammen, so wird das Ritual des Großen Versöhnungstages „zwischen den beiden äußersten Polen der den Texten der Bücher Exodus bis Numeri zugrunde liegenden konzentrischen Heiligtumskonzeption vollzogen: dem Allerheiligsten im Innersten des Begegnungszeltes auf der einen und der Wüste (midbar Lev 16,10a.12.21d.22b) bzw. dem ‚abgeschnittenen Land‘ (ærætz gezerah Lev 16,22a) auf der anderen Seite. Alle zwischen diesen beiden extremen Punkten liegenden Orte werden im Lauf des Rituals berührt“45.

Beide Orte – das Allerheiligste im Innersten des Begegnungszeltes und die Wüste außerhalb von Heiligtum und Lager – verhalten sich als Kontrastelemente der religiösen Topographie also komplementär zueinander. V.

Die Lebenshingabe des Gottessohns

Das letzte Beispiel kommt aus dem Neuen Testament und betrifft die kultmetaphorische Deutung des Todes Jesu, wie sie in Röm 3,25f begegnet. Der gewichtige Text lautet folgendermaßen: 25

26

Ihn (sc. Jesus Christus) hat Gott hingestellt (proevqeto) als iJlasthvrion durch (den) Glauben durch sein Blut (ejn tw'/ aujtou' ai{mati) zum Aufweis seiner Gerechtigkeit wegen des Zulassens der zuvor geschehenen Sünden in der (Zeit der) Zurückhaltung Gottes, für den Aufweis seiner Gerechtigkeit in der jetzigen Zeit, auf dass er sei gerecht und gerecht machend den aus Glauben an Jesus.

Nach dieser Deutung wird der Tod Jesu im Horizont der rettenden Gottesgegenwart expliziert und der Gekreuzigte als iJlasthvrion zum 44 45

Görg, Art. gzr, 1003. Jürgens, Heiligkeit, 75.

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„Ort“ des entscheidenden Epochenwechsels von der verborgenen zur offenbar gewordenen Gerechtigkeit Gottes. Der christologisch motivierte Rückgriff auf den Jerusalemer Tempelkult und hier besonders auf Lev 16 ruft denjenigen Lebensbereich des alten Israel auf, dessen Grundaxiom der kultischen Annäherung an die Sphäre Gottes wie nichts anderes geeignet war, die urchristliche Vorstellung von der Aufhebung der Distanz zwischen Gott und Mensch antithetisch ‚zur Anschauung‘ zu bringen. Der Abschnitt Röm 3,19–26 kann als Zentraltext der paulinischen Christologie gelten, in deren Rahmen der sühnetheologischen Aussage von V. 25f eine begründende Funktion zukommt. Sieht man dabei von der Frage der Aufteilung in vorpaulinische Tradition und paulinische Interpretation einmal ab,46 so ist deutlich, dass die kultische Kategorie der Sühne von Paulus personal zugespitzt und zugleich modifiziert wird. Wie aber ist bei diesem Interpretationsansatz das artikellose iJlasthvrion zu verstehen: als Wiedergabe des alttestamentlichen Terminus kapporæt „Sühneort, Sühnmal“ (Ex 25,17–22; Lev 16,2.13–15 u.ö., vgl. Hebr 9,5), als „Sühnopfer“ (vgl. 4 Makk 17,21f u.ö.)47 oder unspezifisch als „Sühne(mittel)“48? Die Literatur zu dieser Frage ist bekanntlich Legion. Gegen die Rezeption des alttestamentlichen Traditionshintergrunds, also die Deutung auf die kapporæt, wird vor allem der vermeintliche Widerspruch ins Feld geführt, dass „Christus zugleich der ‚Sühnedeckel‘ ist, an den das Blut gespritzt wird – und das Opfer, dessen Blut dabei verwandt wird“49. Der logische Widerspruch besteht nach dieser Auffassung darin, dass Jesus Christus der Gegenstand (Objekt) und zugleich das Mittel (Instrument) ist, mit dem von Gott die Sühne vollzogen wird. Die Inkongruenz des Vergleichs Jesus Christus / kapporæt besteht nach Lohse, darin, „daß ja eben das Blut Christi an die Kapporet, die er selbst wäre, gesprengt werden müßte. Wenn überhaupt an die Kapporet gedacht sein sollte, so hätte man weit eher erwarten sollen, daß das Kreuz, nicht aber Christus selbst so bezeichnet sein sollte“50.

46 Vorpaulinisch wahrscheinlich V. 25 (ohne „durch [den] Glauben“).26a, paulinisch wohl V. 25* (nur „durch [den] Glauben“).26b, s. dazu Stuhlmacher, Biblische Theologie, 193ff.297f; Karrer, Jesus Christus, 74f; Knöppler, Sühne, 113ff und Zimmermann, Deutung, 72ff. 47 Zu dieser von Lohse, Römer, 135 verteidigten Deutung auf das Selbstopfer der Märtyrer s. die Einwände von Knöppler, Sühne, 113f und Röhser, Stellvertretung, 72ff.117ff. 48 So etwa Schnelle, Paulus, 509. 49 Von Gemünden / Theißen, Logik, 117 Anm. 13, vgl. Barth, Tod, 39f u.a. 50 Lohse, Märtyrer, 152.

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Ist das stichhaltig? Da Paulus den Begriff iJlasthvrion an theologisch zentraler Stelle einführt und die Einwände gegen 4 Makk 17,21f als Prätext von Röm 3,25 erheblich sind,51 ist noch einmal über die diesbezügliche Relevanz der alttestamentlichen kapporæt-Tradition nachzudenken. Wichtig dürften dabei zwei Aspekte sein: 1. Das Subjekt des Sühnegeschehens ist in den alttestamentlichen kapporæt-Texten wie auch in Röm 3,25f immer Gott. So ist nach Ex 25,17– 22 die im Zentrum des Begegnungszelts auf der Lade angebrachte kapporæt der Ort, an dem JHWH den Israeliten im Kult „begegnet, sich offenbart“ (j˛d nif.): 21 22

Du (sc. Mose) sollst die kapporæt oben auf die Lade setzen, ‹und ‹und in die Lade sollst du die (Gesetzes-)Bestimmung legen, die ich dir geben werde.› Ich will dir dort begegnen und mit dir von der kapporæt aus (von dem Raum) zwischen den beiden Keruben, die über der Lade der (Gesetzes-) Bestimmung ist, reden ‹alles, was ich dir dort für die Israeliten auftragen werde›.52

Ebenso hat Gott nach Röm 3,25f Jesus Christus als „Sühneort“ (iJlasthvrion) hingestellt durch sein Blut53 „zum Aufweis seiner (sc. Gottes) Gerechtigkeit“. Ausgangspunkt des Heils ist also „das Handeln Gottes. Hier zeigt sich eine Kontinuität zu den Grundanschauungen der alttestamentlichen Sühnevorstellung!“54 und zugleich eine wichtige Differenz zu 4 Makk 17,21f.55 2. Eine noch so „neue“, alttestamentliche Gegebenheiten überbietende Kulthandlung ist mit dem Tod Jesu gerade nicht intendiert und eine Sprengung des „Blut(es) Christi an die Kapporet, die er selbst wäre“ – so das Argument E. Lohses –, von vornherein nicht im Blick. Es geht nicht um den Kult, sondern um das Kreuzesgeschehen, das durch umwertende Metaphorik christologisch reflektiert wird. Wie Jesus nach Joh 10,7 keine hölzerne „Tür“ ist, sondern der „gute Hirte“, der seinen „Schafen“ den Weg zum Leben vorbei an den Mächten des Todes „eröffnet“,56 so ist auch der Gekreuzigte nach Röm 3,25 kein goldener „Sühnedeckel“57, an 51 S. dazu die oben Anm. 47 genannten Ausführungen von Knöppler und Röhser. 52 S. dazu oben 218. 53 Die Frage, ob die Wendung „durch sein Blut“ metonymisch auf den gewaltsamen Tod Jesu zu beziehen ist, wie von Röhser, Stellvertretung, 118 vorgeschlagen wird (so auch Janowski, Sühne, 353 Anm. 472), wird von Breytenbach, Versöhnung und Schröter, Christologie, 65 Anm. 38 verneint. 54 Schnelle, Paulus, 509. 55 Vgl. Knöppler, Sühne, 114. 56 S. dazu Zimmermann, Ästhetik, 94.103ff. 57 Diese Wiedergabe wird beispielsweise von von Gemünden / Theißen gewählt, s. dazu oben 222 mit Anm. 49.

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den seine eigenes Blut – und dann auch noch von ihm selbst – gesprengt wird. Im Übrigen ist die kapporæt schon im Alten Testament mehr als bloß ein Inventarstück des Begegnungszeltes, nämlich der Ort, an dem der heilige Gott inmitten seines unreinen Volkes gegenwärtig ist.

Wenn Paulus den Begriff kapporæt in seine christologische Argumentation übernimmt, geht es nicht einfach um die Übertragung eines alttestamentlichen Kultbegriffs in einen neutestamentlichen Kontext, sondern grundsätzlicher darum, das Wirken und Geschick Jesu mit einer bestimmten Bedeutungszuschreibung zu versehen und damit die Wirklichkeit des Menschen neu zu deuten.58 Das Verfahren, durch das dies geschieht, ist die Metaphorisierung. Wenn deren Funktion in der Offenheit für verschiedene Formen der Bedeutungserweiterung ohne Negation des Konkreten59 besteht, dann wird auch verständlich, warum Paulus auf einen Zentralbegriff des altisraelitischen Kults zurückgegriffen hat. Denn mit ihm ist die im kollektiven Gedächtnis des Gottesvolks aufbewahrte Anschauung verbunden, dass die im Inneren des Begegnungszeltes befindliche kapporæt der Ort der Gottesnähe ist, wie die Riten am Großen Versöhnungstag (Lev 16,11–17)60 exemplarisch zeigen. Diese Ebene der kultischen Konkretion wird von Paulus nicht negiert – sonst hätte er auf den Begriff iJlasthvrion verzichten können! –, sondern transformiert, ja in ihrer Sinnrichtung geradezu umgekehrt: der von Gott im Tod am Kreuz öffentlich hingestellte Jesus Christus „tritt an die Stelle, die zuvor der Aufsatz der Lade innehatte und wird zu dem Ort, an dem sich nunmehr die Reinigung von Sünden ereignet“61. Der Tempelkult wird damit zwar abgelöst, aber die in ihm verwurzelten Anschauungen von der Annäherung an die Sphäre Gottes bleiben erhalten, weil sie wie nichts anderes geeignet sind, die „urchristlichen Vorstellungen von der eschatologischen Aufhebung der Distanz zwischen Gott und der Menschenwelt“62 modifiziert zur Sprache zu bringen. Ist der Kult also der unverzichtbare metaphernspendende Lebensbereich, so geht es bei der Verwendung von Kultmetaphern im Neuen Testament nicht darum, einen neuen Kult zu etablieren. Denn: „Das Denotat von Kultmetaphern ist nicht der Kult. Sonst wären die Metaphern keine Metaphern“.63 Entscheidend für die kultmetaphorische Deutung des Todes Jesu in Röm 3,25 ist vielmehr der doppelte Sach58 59 60 61 62 63

S. dazu auch Schröter, Christologie, 57.61ff. S. dazu vor allem Hossfeld, Metaphorisierung, 19ff. S. dazu oben 217ff. Schröter, Christologie, 64. Löning, Kultmetaphorik, 259. Löning, Kultmetaphorik, 232.

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verhalt, dass „sowohl die Sünden beseitigende Wirkung des Blutes als auch der Ort, an dem sich dieser Vorgang vollzieht, auf Jesus übertragen wurde“64. Damit entfällt auch die Notwendigkeit, den ‚Gegenstand‘ (Jesus Christus) und das ‚Mittel‘ (sein Blut) des von Gott inaugurierten Sühnegeschehens gegeneinander auszuspielen, weil beide von Paulus im Tod des Gekreuzigten in eins gesetzt werden. Wie Mk 15,38 par. vom Zerreißen des Tempelvorhangs in zwei Stücke „von oben nach unten“ spricht und damit in Entsprechung zur Spaltung des Himmels und zum Herabsteigen des Geistes bei der Taufe Jesu (Mk 1,10) den Zugang zu Gott meint – „Gott selbst legt den Zugang zum Ort seiner Anwesenheit frei“65 –, so ist nach Röm 3,25 der Ort der aus der Sünde rettenden Gottesgegenwart nicht mehr die im Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels befindliche kapporæt, sondern der Gekreuzigte, den Gott selbst als „Sühneort“ öffentlich hingestellt hat. Radikaler kann man den Tempelkult nicht durchbrechen und tiefgreifender läßt sich der Epochenwechsel von der verborgenen zur offenbar gewordenen Gerechtigkeit Gottes nicht markieren. VI.

Fazit

Ziehen wir ein kurzes Fazit. Es gibt eine Form, mit Schuld fertig zu werden, die mit der Schuld nicht fertig wird, nämlich sie zu verdrängen oder zu leugnen. „Schaffen wir den Begriff der Sünde aus der Welt – und schicken wir ihm den Begriff der Strafe hinterdrein!“66 rief Friedrich Nietzsche in seiner Schrift „Morgenröthe“ (1881/87) zur Beendigung des krankmachenden „Aufwiegenwollen(s) der Schuld durch die Strafe“ auf. Penetrantes Herumreiten auf der Schuld – das macht die Traditionen des Judentums und Christentums in den Augen vieler Zeitgenossen zu einer Angelegenheit, von der man sich distanzieren muss.67 Hilfreich ist das nicht, weil die Schuld allzu oft durch die Hintertür wieder ins eigene Haus eindringt und alles Handeln lähmt. Deshalb ist es realistischer, wenn zuweilen auch schmerzhafter, sich dem eigenen Versagen zu stellen und die Schuld anzunehmen. Dies kann man vom Alten Testament und seinen großen Schuldgeschichten lernen. „Schuld“ und „Sünde“, so schärft die priesterliche Kulttheologie ein, umfasst „alles, was von Gott trennt“68 oder die heilvolle Beziehung zu ihm stört. Schuldig zu werden, so wird sie nicht müde zu betonen, ist aber menschliches Los (vgl. Lev 4–5). Die64 65 66 67 68

Schröter, Christologie, 65 (Hervorhebung von mir). Klumbies, Sterben Jesu, 193. Nietzsche, Morgenröthe, 177. S. dazu Werbick, Schuld-los-werden?, 114ff. Hieke, Kult, 142.

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ses Los wiegt manchmal so schwer, dass es nicht getragen oder ertragen werden kann. In seiner langen Geschichte hat das alte Israel diese Erfahrung immer wieder gemacht und dennoch immer wieder die Kraft zu einem Neuanfang gefunden. Von einem solchen Neuanfang ist nicht nur in Lev 16, sondern auch in Gen 32–33; 37–50; Ps 51 und Jes 52,13–53,12 in eindrücklicher Weise die Rede. ***

Anhang zur Begriffsgeschichte der Stellvertretung Die folgende Textsammlung bietet nur einen kleinen Ausschnitt aus der weit verzweigten Geschichte der Begriffe Schuld, Versöhnung und Stellvertretung. Im Vordergrund stehen dabei Beiträge aus Philosophie und Theologie (1) sowie aus Rechtswissenschaft und Soziologie (2).69

1.

Philosophie und Theologie

In der Theologie taucht der Begriff „Stellvertretung“ offenbar zum ersten Mal bei dem Erlanger Vermittlungstheologen G.F. Seiler (1753–1807) auf, der das Abstraktum als soteriologischen Terminus einführte, um den an juristisch-merkantiles Ersatzdenken erinnernden Ausdruck satisfactio vicaria zu vermeiden. Anselm von Canterbury (1033–1109), auf den Seiler sich dabei beruft, spricht zwar von satisfactio („Genugtuung“), nicht aber von satisfactio vicaria („stellvertretende Genugtuung“).70 Auch M. Luther (1483– 1546) scheint das Abstraktum noch nicht gekannt zu haben. Erst in der Zeit nach Luther wird der Ausdruck satisfactio vicaria zum „protestantischen Zentraldogma“71. In der Religionswissenschaft oft sehr unscharf für eine Vielzahl divergierender Phänomene gebraucht, ist das ursprünglich theologische Wort, nachdem es im 19. Jahrhundert von der Rechtswissenschaft und Staatslehre „vereinnahmt“ wurde, im 20. Jahrhundert für die Theologie zurückgewonnen worden. 69 Eine ausführlichere Zusammenstellung von Dokumenten zur Begriffsgeschichte von Schuld, Versöhnung und Stellvertretung findet sich in Janowski, Ecce homo, 91ff. Zur Definition des Stellvertretungsbegriffs s. ders., Anthropologie, 462ff mit der dort genannten Lit. 70 Anselm, Cur deus homo, I/21: Patet quia secundum quantitatem peccati exigit deus satisfactionem („Es ist klar, dass Gott die Genugtuung nach der Größe der Sünde fordert“) u.ö., s. dazu Menke, Stellvertretung, 71 Anm. 177; 82 Anm. 216. 71 So etwa Troeltsch, Soziallehren, 447: „Das Mittel, beide (sc. Vergeltungsordnung und Gnadenordnung) zusammenzudenken, ist der Genugtuungstod des Gottmenschen, der daher das protestantische Zentraldogma wird und den sonst überall ausgestoßenen Stellvertretungsgedanken beim Gottmenschen zur höchsten Bedeutung bringt.“

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a)

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Philosophie

I. Kant Diese ursprüngliche oder überhaupt vor jedem Guten, was er immer tun mag, vorhergehende Schuld, die auch dasjenige ist, was und nichts mehr wir unter dem radikalen Bösen verstanden (s. das erste Stück), kann aber auch, soviel wir nach unserem Vernunftrecht einsehen, nicht von einem anderen getilgt werden; denn sie ist keine transmissibele Verbindlichkeit, die etwa, wie eine Geldschuld (bei der es dem Gläubiger einerlei ist, ob der Schuldner selbst oder ein anderer für ihn bezahlt), auf einen anderen übertragen werden kann, sondern die allerpersönlichste, nämlich eine Sündenschuld, die nur der Strafbare, nicht der Unschuldige, er mag auch noch so großmütig sein, sie für jenen übernehmen zu wollen, tragen kann.72 W.T. Krug Stellvertretung findet in persönlichen Verhältnissen statt, wenn Jemand in irgend einer Beziehung dasjenige thut oder leidet, was eigentlich ein Andrer zu thun oder zu leiden hätte. Da der sittliche Werth oder Unwerth (Verdienst oder Schuld) das innerste oder persönlichste Eigenthum eines Menschen ist: so kann in dieser Hinsicht keine Stellvertretung im eigentlichen Sinne stattfinden, so daß man z.B. das Verdienst des A dem schuldigen B zum Verdienste und die Schuld des B dem unschuldigen A zur Schuld zurechnete, und in Folge dieser umgekehrten Zurechnung A für B bestrafte und B für A belohnte. Eine solche Umkehrung der Zurechnung (die man auch stellvertretende Genugthuung oder Rechtfertigung nennt) wäre eine Umkehrung aller sittlichen Ordnung. In andern Lebensverhältnissen aber kann sehr wohl Stellvertretung stattfinden, z.B. wenn Einer für den Anderen Bürgschaft leistet, bevollmächtigt oder abgesandt wird. Denn hier bleibt der sittliche Werth oder Unwerth der Personen ganz aus dem Spiele; sie leisten oder übernehmen nur äußerlich etwas für einander. So ist es auch der Fall bei der stellvertretenden Verfassung, wo gewisse Personen im Namen des Volks als dessen Stellvertreter mit der Regierung wegen der Gesetzgebung, Versteuerung ec. berathschlagen und verhandeln. S. Staatsverfassung. Daß auch unter Sachen eine Art von Stellvertretung stattfinden könne, leidet keinen Zweifel. Alle sog. Surrogate sind sachliche Stellvertreter; wie Runkelrübenzucker die Stelle des eigentlichen Zuckers, Cichorienkaffee die Stelle des echten Kaffees ec. vertritt, aber freilich auf eine unbefriedigende Weise.73 F. Nietzsche Und von nun an tauchte ein absurdes Problem auf „wie konnte Gott das zulassen!“ Darauf fand die gestörte Vernunft der kleinen Gemeinschaft eine geradezu schrecklich absurde Antwort: Gott gab seinen Sohn zur Vergebung der Sünden, als Opfer. Wie war es mit Einem Male zu Ende mit dem Evan72 73

Kant, Die Religion, 77 (B 94/95). Krug, Art. Stellvertretung, 57f. Krug war ein Schüler Kants.

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gelium! Das Schuldopfer, und zwar in seiner widerlichsten, barbarischsten Form, das Opfer des Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen! Welches schauderhafte Heidenthum!74 (…) bis wir mit Einem Male vor dem paradoxen und entsetzlichen Auskunftsmittel stehn, an dem die gemarterte Menschheit eine zeitweilige Erleichterung gefunden hat, jenem Geniestreich des Christenthums: Gott selbst sich für die Schuld des Menschen opfernd, Gott selbst sich an sich selbst bezahlt machend, Gott als der Einzige, der vom Menschen ablösen kann, was für den Menschen selbst unablösbar geworden ist – der Gläubiger sich für seinen Schuldner opfernd, aus Liebe (sollte man's glauben? –), aus Liebe zu seinem Schuldner! …75 E. Lévinas Das Ich ist nicht ein Seiendes, das fähig wäre, für die anderen zu sühnen: Es ist diese ursprüngliche – unwillkürliche –, weil der Initiative des Willens vorausgehende Sühne, so als sei die Einheit und Einzigkeit des Ich schon das Aufsichnehmen des Ernstes des Seins, das verlassen ist aufgrund des unvorstellbaren Rückzugs des Unendlichen. Das Sich ist Aufsichnehmen außerhalb aller Ortschaft, die es von seiner Last zu entlasten vermöchte: NichtOrt, wo das „Ich“ – freilich ohne die rimbaudhafte Entfremdung – ein anderer ist. Wenn die Subjektivität nicht Substanz ist, so deswegen, weil sie anund-in-sich ist, diesseits der Autonomie der Selbstaffektion, diesseits der Identität; sie ist an-und-in-sich in der absoluten Passivität, die ihr anarchisch vom Anderen kommt; hier hätte man wohl Grund, die Alternative von Aktivität und Passivität zu verlassen, und statt dessen von Sühne zu sprechen.76 So verstehe ich auch „Subjektivität“ – als Geisel dieser Erkenntnis. Das Subjekt steht dem Anderen ganz passiv gegenüber. Es kann erst Ich werden, weil in der Verpflichtung gegenüber dem Anderen niemand an meine Stelle treten kann. Ich bin verpflichtet, ohne daß man mich vertreten kann. Das Ich ist das Nicht-vertreten-werden-Können. Die Einzigkeit des Ich ist kein abstrakter Begriff, sie versteht sich von der konkreten Lage des Verhältnisses zum Anderen. Von der Subjektivität muß man also sagen, daß das Ich im Verhältnis zum Anderen nicht frei ist. Die Ich-Werdung geschieht in dieser Verantwortlichkeit für den Anderen. Der Sinn der Welt entspringt aus dem Sinn des Anderen. Auch in der Libido, im Sexuellen besteht das starke Moment darin, daß es der Andere ist. Die Hauptsache ist nicht das Selbstbewußtsein, sondern das Verhältnis zum Anderen. Die ganze Philosophie im Westen war die Philosophie des Selbstbewußtseins, des Zu-sich-Kommens. Das in Wahrheit Menschliche und Geistige ist aber nicht das Zu-sich-Kommen, sondern eigentlich das Aussich-Heraustreten, das Zum-Andern-Kommen. Auch die vielen Weisen der 74 Nietzsche, Antichrist, 214f, s. dazu Breuning, „Sühne“, 77f und Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte, 245f. 75 Nietzsche, Genealogie, 331. 76 Lévinas, Spur, 320ff, s. dazu Gestrich, Wiederkehr, 344 mit Anm. 38–39; Menke, Stellvertretung, 392ff; Hoping, Stellvertretung, 355f u.a.

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Rede von Einfühlung deuten darauf hin. Die Einfühlung setzt voraus, daß ich mich an die Stelle des Anderen setzten kann. Das geht so weit, daß das Sein des Ich Sühne ist. Das scheint utopisch, ist aber in Wirklichkeit die Bedingung der Möglichkeit jedes wahrhaft menschlichen Verhaltens. Also ist der letzte Wert der Andere. Wo ich dem Anderen begegne? Überall, überall. Das mag vielleicht an Christus erinnern. Doch im Christentum wird delegiert. Aber jeder ist gemeint. Mich erinnert diese Betrachtung des Seins an Jesaja 53, an das Lied vom Gottesknecht: „Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht. – Aber er hat unsere Krankheiten getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Zu unserem Heil lag Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt. Der Plan des Herrn wird durch ihn gelingen“.77 E. Scheerer In der philosophischen und psychologischen Tradition tritt bis heute „Repräsentation“ im wesentlichen in folgenden vier Bedeutungen auf: 1) „Vorstellung“ im weiteren Sinn, d.h. mentaler Zustand mit kognitivem Gehalt; 2) „Vorstellung“ im engeren Sinn, d.h. ein mentaler Zustand, der einen früheren mentalen Zustand reproduziert, aus ihm abgeleitet ist oder sich auf ihn bezieht; 3) „Darstellung“, d.h. strukturerhaltende Abbildung durch Bilder, Symbole und Zeichen aller Art; 4) „Stellvertretung“. Die Bedeutungen 1) und 2) sind per definitionem mentalistisch, doch begegnen auch 3) und 4) in mentalistischer Verwendung, während umgekehrt zumindest 1) im Mittelalter allgemein und gelegentlich auch in der Neuzeit auf nicht-menschliche bzw. auf überindividuelle geistige Sachverhalte bezogen wurde. Eine Begriffsgeschichte von „Repräsentation“ am Leitfaden dieser vier Grundbedeutungen bleibt ein Desiderat. Zwar kann man angeben, bei welchem Autor oder in welchem intellektuellen Kontext die Grundbedeutungen 2) bis 4) erstmals auftreten, aber die immer bestehenden Äquivokationen von ‚Repräsentation‘ verhindern die Herausbildung deutlicher Konturen in der Begriffsgeschichte; diese müßten immer Konstruktion bleiben, auch angesichts der stets mitschwingenden nichttechnischen Konnotationen des Wortfeldes.78

b)

Theologie

G.F. Seiler (Anselm) war weit entfernt, Gott als einen harten Tyrannen vorzustellen, der die Sünde durchaus nicht vergeben wollte, biß er das Blut des Sündenbürgen, seines Sohnes, hätte fließen sehen. Er zeigte vielmehr, daß die Liebe Gottes zu den Menschen die Bewegursache sey, warum Gott seinen Sohn ihnen zum Mittler gegeben habe. Das Wort Satisfaction ist nichts weiter bey ihm, als ein damals gewöhnlicher Ausdruck in den Gerichten, angewendet auf das göttliche Gericht, und sagt dasjenige kurz, was mit mehreren Worten 77 Lévinas, Ich, 2, vgl. ders., Menschwerdung, 73ff, s. dazu Hoping, Stellvertretung, 355f. 78 Scheerer, Art. Repräsentation, 790.

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so hiesse: Die göttliche Gerechtigkeit erfordert, daß die dem Sünder gedrohte Strafe vollzogen werde, und diese litte Christus an der Sünder Statt. Daß aber diese Lehre keine Ausgeburt der afrikanischen Theologen, und kein Einfall eines blöden Kopfs in den mittlern Zeiten, sondern die reine Lehre der heil. Schrift und der ältesten christlichen Kirche durch alle Jahrhunderte gewesen sey, das ist, deucht mir, mit so starken Gründen bewiesen, daß alle Gegner derselben biß an den jüngsten Tag sie nicht umstoßen werden.79 F.D.E. Schleiermacher Ich kann nicht glauben, daß der wahrer ewiger Gott war, der sich selbst nur den Menschensohn nannte, ich kann nicht glauben, daß sein Tod eine stellvertretende Versöhnung war, weil er es selbst nie ausdrücklich gesagt hat, und weil ich nicht glauben kann, daß sie nöthig gewesen, denn Gott könne die Menschen, die Er offenbar nicht zur Vollkommenheit, sondern nur zum Streben nach derselben geschaffen hat, unmöglich darum ewig strafen wollen, weil sie nicht vollkommen geworden sind. Ach, bester Vater, der tiefe durchdringende Schmerz, den ich beim Schreiben dieses Briefes empfinde, hindert mich, Ihnen die Geschichte meiner Seele in Absicht auf meine Meinungen und alle meine starken Gründe für dieselben umständlich zu erzählen; aber ich bitte Sie inständig, halten Sie sie nicht für vorübergehende, nicht tief gewurzelte Gedanken; fast ein Jahr lang haften sie bei mir, denn ein langes, angestrengtes Nachdenken hat mich dazu bestimmt. Ich bitte Sie, enthalten Sie mir Ihre stärksten Gründe zur Widerlegung derselben nicht vor, aber, aufrichtig zu gestehen, glaub' ich nicht, daß sie mich jetzt überzeugen werden, denn ich stehe fest darauf.80 Die Vertretung besteht … auf der einen Seite überhaupt darin, daß nur durch Christum unsere Gemeinschaft mit Gott geknüpft wird, worauf sich auch eigentlich der Ausdruck Mittler bezieht, und dieses gehört zum hohenpriesterlichen Amt offenbar, insofern diese Gemeinschaft überhaupt von Christo für uns nachgesucht und von Gott um seinetwillen bewilliget wird, durch welche Bewilligung erst sowol das menschliche Geschlecht überhaupt als jeder Einzelne in seiner Ordnung ein Gegenstand für das königliche Geschäft Christi werden kann. Dann aber besteht die Vertretung auch darin, daß jede Anrufung Gottes nicht nur sondern auch jede Anbetung desselben ihm nicht anders wohlgefällig sein kann, als in Christo, weil nur in diesem das reine Bewußtsein Gottes gesetzt ist.81 A. von Harnack Damit ist das Schlimmste an Anselm's Theorie berührt: der mythologische Begriff Gottes als des mächtigen Privatmanns, der seiner beleidigten Ehre wegen zürnt und den Zorn nicht eher aufgiebt, als bis er irgend ein mindes79 Seiler, Versöhnungstod 2,158, vgl. 1,207.232ff, s. zur Sache Wenz, Versöhnungslehre 1, 206ff und Menke, Stellvertretung, 82ff. 80 Schleiermacher, Briefwechsel, 50. 81 Schleiermacher, Glaube 2, 96, s. dazu Wenz, Versöhnungslehre 1, 366ff; Menke, Stellvertretung, 121ff u.a.

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tens gleich grosses Aequivalent erhalten hat; die ganz gnostische Spannung zwischen Gerechtigkeit und Güte, sofern der Vater der Gerechte ist und der Sohn der Gute; die furchtbare Vorstellung (der gegenüber die Anschauungen der Väter und der Gnostiker weit vorzuziehen sind), dass die Menschheit vom zornigen Gott befreit wird; das Schattenspiel zwischen Vater und Sohn, während doch der Sohn Eins ist mit dem Vater; das Schattenspiel des Sohnes mit sich selber; denn nach Anselm bringt sich der Sohn sich selber dar (II,18: „filius ad honorem suum seipsum sibi obtulit“); die blasphemische Vorstellung, dass für Gott die datio vitae des Sohnes als acceptio mortis ein Gut sei; der schreckliche Gedanke, dass Gott das grässliche Vorrecht vor den Menschen habe, nicht aus Liebe vergeben zu können, sondern stets eine Bezahlung brauche (I,12); die corrumpirte Auffassung unseres Vergebungsgebetes an Gott, dass es ein Theil unserer Satisfactionen sei, aber nie an sich den Effect der Vergebung haben könne (I,19: „qui non solvit, frustra dicit: dimitte“). Nimmt man nun hinzu, dass … bei dem Allem nur die Möglichkeit, dass wir selig werden, nachgewiesen ist, dass der Gedanke der Strafe der Sünde eliminirt ist (die Gerechtigkeit Gottes also zu lax gefasst ist), dass hier kein Unschuldiger Strafe leidet für die Schuldigen, und dass in dem Effect auf uns nur der schwächliche Gedanke des Vorbildes zu deutlicher Klarheit kommt, so muss man sagen, dass trotz der guten Absichten Anselm's und trotz einiger richtigen Erkenntnisse niemals vor ihm eine so schlimme Theorie als kirchliche producirt worden ist. Aber vielleicht vermag Niemand eine bessere aufzustellen, der den Tod Christi von seinem Leben isolirt und in diesem Tode noch etwas Anderes sehen will, als den Höhepunkt des „Dienstes“, den er durch sein Leben geleistet hat.82 D. Bonhoeffer Daß Verantwortung auf Stellvertretung beruht, geht am deutlichsten aus jenen Verhältnissen hervor, in denen der Mensch unmittelbar genötigt ist, an der Stelle anderer Menschen zu handeln, also etwa als Vater, als Staatsmann, als Lehrmeister. Der Vater handelt an der Stelle der Kinder, indem er für sie arbeitet, für sie sorgt, eintritt, kämpft, leidet. Er tritt damit real an ihre Stelle. Er ist nicht ein isolierter Einzelner, sondern er vereinigt in sich das Ich mehrerer Menschen. Jeder Versuch zu leben als wäre er allein, ist eine Leugnung der Tatsächlichkeit seiner Verantwortlichkeit. Entgehen kann er der durch seine Vaterschaft gegebenen Verantwortlichkeit nicht. An dieser Wirklichkeit scheitert die Fiktion, als sei das Subjekt alles ethischen Verhaltens der isolierte Einzelne. Nicht er, sondern der Verantwortliche ist das Subjekt, auf das sich die ethische Besinnung zu richten hat. Dabei macht es keinen Unterschied, in welchem Umfang Verantwortung getragen wird, ob für einen einzelnen Menschen, ob für eine Gemeinschaft, oder für ganze Gemeinschaftsgruppen. Kein Mensch, der der Verantwortung und das heißt der Stellvertretung überhaupt entgehen könnte. Selbst der Einsame lebt stellvertretend, ja er in qualificierter Weise, da sein Leben stellvertretend für den Menschen schlechthin, für die Menschheit, gelebt wird. Der Begriff ei82

Harnack, Lehrbuch 3, 408f, s. dazu Sölle, Stellvertretung, 37f.

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ner Verantwortung für sich selbst ist ja auch nur insofern sinnvoll, als er eben die Verantwortung meint, die ich mir als Mensch, – also weil ich Mensch bin – gegenüber wahrnehme. Selbstverantwortung ist in Wahrheit Verantwortung gegenüber dem Menschen und das heißt der Menschheit. Daß Jesus ohne die besondere Verantwortlichkeit einer Ehe, einer Familie, eines Berufes lebte, stellt ihn keineswegs aus dem Bereich der Verantwortlichkeit heraus, sondern macht seine Verantwortung und seine Stellvertretung für alle Menschen nur umso deutlicher. Damit aber rühren wir bereits an den tragenden Grund alles bisher Gesagten. Weil Jesus, – das Leben, unser Leben, – als der Menschgewordene Sohn Gottes stellvertretend für uns gelebt hat, darum ist alles menschliche Leben durch ihn wesentlich stellvertretendes Leben. Jesus war nicht der Einzelne, der zu einer eigenen Vollkommenheit gelangen wollte, sondern er lebte nur als der, der in sich das Ich aller Menschen aufgenommen hat und trägt. Sein gesamtes Leben, Handeln und Leiden war Stellvertretung. Was die Menschen leben, handeln und leiden sollten, erfüllt sich an ihm. In dieser realen Stellvertretung, die seine menschliche Existenz ausmacht, ist er der Verantwortliche schlechthin. Weil er das Leben ist, ist durch ihn alles Leben zur Stellvertretung bestimmt. Ob es sich auch dagegen wehrt, so bleibt es doch stellvertretend, zum Leben oder zum Tode, wie der Vater Vater bleibt, zum Guten oder zum Bösen.83 R. Bultmann Für beide, den Naturalisten und den Idealisten, gilt auch, daß sie den Tod nicht als Strafe für die Sünde verstehen können; er ist für sie ein einfacher und notwendiger Naturvorgang. Bedeutet er für jenen überhaupt kein Problem, so erwächst für diesen allerdings das Problem des Todes gerade daraus, daß er ein Naturvorgang ist. Denn als solcher wächst er nicht aus meinem eigentlichen geistigen Selbst, sondern er zerstört dieses. Und das ist die Problematik, daß der Mensch, der ein geistiges Selbst ist im Unterschied von Pflanze und Tier, doch auch der Natur verhaftet ist; daß er gezeugt wird, heranwächst und stirbt wie ein Tier. Er kann aber diese Tatsache nicht als die Strafe seiner Sünde verstehen; denn er ist ja schon vorher, ehe er schuldig ward, dem Tode verfallen. Und daß er infolge der Schuld seines Ahnherrn dazu verdammt sei, dem Todesschicksal eines Naturwesens verhaftet zu sein, kann er nicht verstehen, da er Schuld nur als verantwortliche Tat kennt und deshalb die Erbsünde als eine mit Naturkraft fortwirkende Krankheit für ihn ein untersittlicher und unmöglicher Begriff ist. Eben deshalb kann er auch die Lehre von der stellvertretenden Genugtuung durch den Tod Christi nicht verstehen. Wie kann meine Schuld durch den Tod eines Schuldlosen (wenn man von einem solchen überhaupt reden darf) gesühnt werden? Welche primitiven Begriffe von Schuld und Gerechtigkeit liegen solcher Vorstellung zugrunde? Welch primitiver Gottesbegriff? Soll die Anschauung vom sündentilgenden Tode Christi aus der Opfervorstellung verstanden werden: welch primitive Mythologie, daß ein 83 Bonhoeffer, Ethik, 256ff, s. dazu Gestrich, Wiederkehr, 329ff; Menke, Stellvertretung, 207ff u.a.

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Mensch gewordenes Gotteswesen durch sein Blut die Sünden der Menschen sühnt! Oder aus der Rechtsanschauung, so daß also in dem Rechtshandel zwischen Gott und Mensch durch den Tod Christi den Forderungen Gottes Genugtuung geleistet wäre: dann könnte die Sünde ja nur juristisch als äußerliche Gebotsübertretung verstanden sein, und die ethischen Maßstäbe wären ausgeschaltet! Und zudem: war Christus, der den Tod litt, Gottes Sohn, das präexistente Gottwesen, was bedeutet dann für ihn die Übernahme des Sterbens? Wer weiß, daß er nach drei Tagen auferstehen wird, für den will offenbar das Sterben nicht viel besagen! (…) Diese mythologische Interpretation, in der sich Opfervorstellungen und eine juristische Satisfaktionstheorie mischen, ist für uns nicht nachvollziehbar. Aber sie besagt auch innerhalb des Neuen Testaments gar nicht, was sie besagen soll.84 H. Vogel Er trat an unsere Stelle. (…) Es ist darin das ausgesagt, was kein Mensch tun oder auch nur denken kann! Was kann ein Mensch für den anderen tun? Wir wollen es nicht aufzählen, was da an Geringem und Großem einer dem anderen geben kann. Eines kann und will ein Mensch gewiß nicht geben: sich selbst. (…) das kann … der allmächtige Gott …, das Unmögliche ist bei ihm möglich (…) … in seinem Erbarmen wird er in Christus einer von uns. Christus, er allein steht wirklich an unserer Stelle. Er lebt unser vom Todesfluch gezeichnetes Leben, er stirbt unseren Tod, er, der einzig Unschuldige, wird der Schuldige an unserer Stelle, ja, der durch Gottes Zorn Verfluchte. In allem, was du im Evangelium von ihm hörst, mußt du dies Eine beibehalten: für uns, an unserer Stelle! Wer das ausläßt, läßt Christus selber aus.85 (Gott) wurde … Mensch, einer von uns an unserer Stelle. (…) Das Wunder, in dessen … Tiefe das „incarnatus weist, will im ausschließlichen Gegensatz zum Mythos gesichtet werden“.86 K. Barth „Jesus, der Herr der Zeit“ – der Titel dieses christologischen und also grundlegenden Abschnitts der vor uns liegenden Untersuchung bezeichnet das Resultat, auf das wir bei dieser Grundlegung herauskommen werden. Ich umreiße es in kürzesten Worten: Auch der Mensch Jesus ist in seiner Zeit, seiner Lebenszeit, in der Zeit, die er wie alle Menschen braucht, um als Mensch leben zu können. Aber nun lebt er in dieser seiner Zeit als der, der er kraft seiner Einheit mit Gott ist, nämlich nicht nur mit Gott, sondern für Gott, d.h. nicht nur als sein Erwählter und Berufener in der Verantwortung vor ihm, 84 Bultmann, Neues Testament, 20.42, s. dazu Link, „Für uns gestorben“, 151f (kritisch); Zager, Deutung, 185f (zustimmend) und die Darstellung von Menke, Stellvertretung, 200ff und Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte, 241.243. 85 Vogel, Ration, 121f, s. dazu Jüngel, Geheimnis, 246ff; Wenz, Versöhnungslehre 2, 438ff und Menke, Stellvertretung, 237ff. 86 Vogel, Glaubensbekenntnis, 81, s. dazu Menke, Stellvertretung, 238f mit Anm. 389.

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sondern als sein Stellvertreter vor den Menschen – und nicht nur mit den Menschen, sondern für sie, d.h. nicht nur als ihresgleichen in der Begegnung mit ihnen, sondern als ihr Stellvertreter vor Gott. Nun lebt er in seiner Zeit als der Richter, durch dessen Wort und Werk Gottes Recht vor den Menschen und eben damit auch das Recht der Menschen vor Gott und untereinander hergestellt und zu Ehren gebracht, durch welchen also das Reich Gottes unter den Menschen aufgerichtet, der Bund Gottes unter den Menschen zu seinem Ziel geführt wird. So – in dieser doppelten Stellvertretung und in dieser doppelten Rechtsbegründung – lebt der Mensch Jesus in seiner Zeit. Und nun ist es eben dieser Inhalt seines Lebens, der die Schranke seiner Zeit nach allen Seiten zum Tor macht. Indem er kraft seiner Einheit mit Gott dieses Leben des höchsten Stellvertreters und Richters lebt, hört es auf, exklusiv sein Leben zu sein: ist es doch für Gott und gerade damit für die Menschen gelebt. Und indem er dieses Leben in seiner Zeit lebt, hört diese auf, exklusiv seine Zeit zu sein: wird seine Zeit zur Zeit für Gott und eben damit zur Zeit für alle Menschen. Die Frage Gottes an alle Menschen und die Frage aller Menschen an Gott ist es ja, die Jesus in seinem Leben (im Dienste Gottes und darum auch im Dienste der Menschen) beantwortet und entscheidet. Er steht ein für Gottes Gnade und gibt eben damit dem Menschen, was recht ist, was ihm zukommt. Und er steht ein für des Menschen Dankbarkeit und gibt eben damit Gott, was recht ist, was Gott zukommt.87 H.J. Iwand Die Frage der Stellvertretung ist außerordentlich schwierig, und zwar darum, weil wir uns immer fragen müssen, wie es denn möglich sein kann, daß in den Dingen, die wir nur ganz allein tragen können, ein anderer an unsere Stelle treten kann. Denn die Stellvertretung betrifft gerade die menschlichen Situationen, in denen es keine menschliche Stellvertretung gibt. Die Stellvertretung, die wir in Jesus Christus haben, betrifft den Tod, die Sünde, die Situationen, die nicht übertragbar sind wie Gold und Silber. Jeder muß seinen eigenen Tod sterben, jeder kennt die Sünde als seine eigene, unübertragbare. Gerade in diesen Situationen, in denen wir ganz allein sind, tritt Christus an unsere Stelle. Christus tritt auch nicht an unsere Stelle, um uns das irdische Leben zu erhalten, wie es beim irdischen Opfertod möglich ist, sondern um uns das ewige Leben zu erhalten. Und hier liegt die entscheidende Frage der Stellvertretung, daß da Christus an unsere Stelle tritt, wo kein anderer Mensch an unsere Stelle treten kann. Ich könnte auch so sagen: Jesus Christus tritt da an unsere Stelle, wo wir ganz bei uns selber sind, wo wir wirklich das sind, was wir sind, wo unser Leben nichts mehr gemein hat mit dem Leben eines anderen. Den Tod, den wir sterben müssen, den können wir nicht mit einem anderen teilen. Ebenso die Sünde, die wir zu schmecken bekommen, die können wir nicht als ein Generelles ansehen. „Vor dir allein habe ich gesündigt“, sagt der Psalmist. Darum, weil wir eben hier vor Gott stehen, darum kann da niemand uns vertreten. 87 Barth, KD III/2, 527, s. dazu Wenz, Versöhnungslehre 2, 214ff; Schwager, Tausch, 232ff; Menke, Stellvertretung, 168ff u.a.

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Und das ist nun die große Schwierigkeit, die große Frage von dem stellvertretenden Leiden Jesu, daß nun gerade gesagt wird: Hier, wo dich niemand vertreten kann, tritt Jesus Christus an deine Stelle „ejntugcavnei uJpe;r hJmw`n“ (Röm 8,34), „er sitzt zur Rechten Gottes und vertritt uns“, heißt es bei Luther. Es springt für uns ein. Der Stoß, der uns treffen sollte, der trifft ihn, das Urteil, das uns gilt, trifft ihn. Es ist also nicht so, als ob Jesus Christus zunächst für sich gelitten hätte und daß dann dieses Leiden uns angerechnet wird, sondern indem er an unsere Stelle tritt, wird er getroffen, und sein Getroffenwerden kommt uns zu Gesicht in seinem Leiden und Sterben.88 D. Sölle Für unseren Zusammenhang der Frage nach der Struktur der Stellvertretung ist eine andere Beziehung des unersetzlichen Menschen wesentlich: sein Angewiesensein als radikaler Ausdruck des In-der-Zeit-Seins. Angewiesen kann nur sein, wer Zeit braucht, so wie nur vertreten werden kann, wer Zeit hat. Wer keine Zeit mehr hat, wird ersetzt. Jener unersetzliche Mensch, der sich unvertretbar vorkommt, ist zugleich ein Zeitloser, dem Horizont der Zeitlichkeit Entfremdeter, darin dem ersetzbaren Ding vergleichbar. Denn in der Suche nach der eigenen Identität ist Zeit nicht nur eine ärgerliche Fessel, eine krumme endliche Bedingung, sondern die Hoffnung der Nichtidentischen. Wo ich unersetzlich bin, aber vertreten werden kann, da habe ich Zeit gewonnen. Aber damit hängt zugleich zusammen, daß ich als Person nur in einer Art von Nichtperfektion unersetzlich bin, die dem verdinglichten Ersatzdenken fern ist. Denn gerade die, denen ich unersetzlich bin, nehmen meine Hilflosigkeit, meine Unmündigkeit oder zeitweilige Unfähigkeit mit an. Gerade ihnen, die mich für unersetzlich halten, werde ich wehtun – durch Verreisen, Verstummen, Kranksein und Sterben. Damit gewinnt der Gedanke der Stellvertretung gerade dort seinen Boden, wo an der Unersetzlichkeit des einzelnen festgehalten wird. Alles das, was Stellvertretung braucht, erscheint ja erst unter der Voraussetzung der Unersetzlichkeit. Wo ich unersetzlich bin, muß ich vertreten werden; weil ich unersetzlich bin, muß ich vertreten werden.89 H. Gollwitzer In dieser Situation … kann stellvertretende Identifizierung nicht den „Charakter des Zeitweiligen, Vorübergehenden“ (82) haben. Weil die Vergangenheit nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann, ist in alle Ewigkeit keine Zeit denkbar, in der der Schuldige ihrer nicht mehr bedürfte. Stellvertretung kann auch nicht darin bestehen, daß vorläufig von einem anderen das getan wird, was wir später selbst tun sollen und werden. Tritt der, der dies allein tun kann, zwischen das uns in die Hölle stürzende göttliche Nein und uns selbst, und tritt er so dazwischen, daß er an unsere Stelle, an die 88 Iwand, Gesetz, 100f. 89 Sölle, Stellvertretung, 59, s. dazu Gollwitzer, Stellvertretung; Wenz, Versöhnungslehre 2, 427ff; Menke, Stellvertretung, 19f.223ff.254ff.444f u.a.

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Stelle unserer Verdammnis tritt, dann nicht dazu, damit wir irgendwann später so weit kämen, selbst an diese Stelle zu treten, sondern damit wir nie mehr an diese Stelle geraten. Aus der Verdammnis werden wir durch seine Stellvertretung nicht gerettet, damit wir sie später selbst übernehmen, sondern damit wir ihr ein für allemal entronnen sind. Deshalb geschieht die Schuldübernahme Jesu Christi in seinem Kreuzestod, seiner Gottverlassenheit und seiner Höllenfahrt streng exklusiv: als ein Tun für uns, das wir nie und nimmer nachzumachen, selbst zu leisten haben. Sie ist nicht zeitweilige Stellvertretung auf Ablösung hin; weil wir von ihr unser neues Leben haben, haben wir es nie von anderswoher und nie aus uns selbst. Diese Stellvertretung ist kein Verhältnis auf Zeit, sondern ein Verhältnis auf Ewigkeit.90 J. Moltmann Ohne den stellvertretenden Heilssinn seines Kreuzestodes wäre der „von den Toten auferweckte“ Christus ein Mirakel oder bestenfalls ein Vorbild oder Vorläufer der Zukunft. Das aber hilft denen nichts, die unter ihrer eigenen und der Welt Ungerechtigkeit leiden und im Schatten des Todes leben. Erst sein Kreuzestod macht die Bedeutung seiner Auferweckung für sie offenbar, denn erst durch seine Stellvertretung kommt die an ihm vorweggenommene Herrlichkeit in ihr Elend hinein. Erst durch seinen Tod „für sie“ kommt jenes neue Leben ihnen zugute, in dem er kraft Auferweckung durch Gott lebt. (…) Man muß darum sagen: sein Kreuzestod ist „die Bedeutung“ seiner Auferstehung für uns. Umgekehrt wird jede Sinndeutung seines Todes ohne Voraussetzung seiner Auferweckung von den Toten eine hoffnungslose Sache, weil sie jenes Novum des Lebens und des Heils nicht mitteilen kann, das in seiner Auferweckung zum Vorschein gekommen ist. Christus ist nicht nur als jenes Sühnopfer gestorben, in dem das Gesetz wiederhergestellt oder die ursprüngliche Schöpfung aus dem Sündenfall der Menschen restituiert wurde. Er ist „für uns“ gestorben, um uns „Toten“ Anteil an seinem neuen Leben der Auferstehung und an seiner Zukunft des ewigen Lebens zu geben. Seine Auferstehung ist der Inhalt der Bedeutung seines Kreuzestodes „für uns“, weil der Auferstandene selbst der Gekreuzigte ist. In seinem Tod „für viele“ ist seine Auferweckung von den Toten zu erkennen. (…) Ist das richtig, dann kann sein Kreuzestod „für uns“ als Beweis seiner Auferweckung verstanden werden. Sofern sein Tod in seiner stellvertretenden Bedeutung begriffen wird, wird seine Auferweckung begriffen. In seinem Sterben für uns sieht uns der Auferstandene an und zieht uns in sein Leben hinein. In dem, der arm wurde um unsertwillen, öffnet sich der Reichtum Gottes für uns. In dem, der für uns zum Knecht wurde, ergreift uns Gottes Freiheit. In dem, der für uns zur Sünde gemacht wurde, werden Sünder zur Gerechtigkeit Gottes in der Welt.91 90 Gollwitzer, Stellvertretung, 43 (mit Bezug auf Sölle, Stellvertretung, 82), s. dazu Wenz, Versöhnungslehre 2, 433f. 91 Moltmann, Gott, 173f, s. dazu Menke, Stellvertretung, 250ff.

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H.U. von Balthasar Keinesfalls kann die Stellvertretung nur als ein von der Finsternis der Sünde getrenntes, durch reine Verdienstlichkeit sie überwiegendes Werk angesehen werden (der ungeschuldete, vollkommene Tod Jesu: Anselm, K. Rahner). Keinesfalls kann man sie andererseits als eine Identifikation des Gekreuzigten mit dem aktuellen Nein der Sünde selbst deuten (das nach Luther in Jesus wenigstens aufsteigt und von ihm „hinuntergewürgt“ wird). Wohl aber wird die Finsternis des Sündenzustandes von Jesus erfahren, in einer Weise, die nicht identisch sein kann mit der, die die (Gott hassenden) Sünder erfahren müßten (falls diese Erfahrung ihnen nicht hier erspart worden wäre), die aber trotzdem tiefer und finsterer ist als diese, weil sie sich innerhalb der von keinem Geschöpf erahnbaren Tiefe der Beziehung der göttlichen Hypostasen abspielt. Man kann deshalb ebensowohl vertreten, Jesu Gottverlassenheit sei das Gegenteil der Hölle, wie sie sei eben diese (Luther, Calvin), gar deren letzte Steigerung (Quenstedt). Liest man angesichts des Kreuzes das Furchtbare, das Jahwe seinem Volk androht, wenn es den Bund bricht (Lev 26; Dtn 28, 15–68) – und der Bund ist mit der Verwerfung des Messias gründlicher als je zuvor gebrochen worden –, so ahnt man, was es heißt, daß Jesus dem „Fluch“ des Gesetzes verfällt und zur „Sünde“ gemacht worden ist. Auf jeden Fall ist die Kreuzesverlassenheit ihrer Erfahrung nach zeitlos (und auch in dieser Hinsicht der Hölle analog), weshalb sie ihre Aktualität durch alle Weltzeiten hindurch behält, Jesu Agonie bis ans Ende dauert (Pascal), und eigentlich auch bis zum Weltanfang zurück, seine Todeswunden ewig offen bleiben (Bérulle). Diese Zeitlosigkeit wird uns von christlichen Mystikern, die etwas von der dunklen Nacht des Kreuzes erfahren durften, genau bestätigt.92 G. Friedrich Ist der Gedanke der Stellvertretung heute noch nachvollziehbar? Stellvertretung Christi bedeutet, daß Christus mit seinem Tod unsere Schuld und Strafe auf sich genommen und sie damit beseitigt hat. Ist so etwas für den heutigen Menschen als reales Geschehen denkbar und darum akzeptabel? (…) Den Menschen der Gegenwart ist solch ein Denken fremd. Man spricht zwar von Kollektivschuld, aber man wendet sich gegen Sippenhaft. Schon im Alten Testament lehnen die Propheten die Haftung der Schuld anderer ab. Jeder solle nur die Folgen seiner eigenen Taten tragen (Jer 31,29f; Hes 18,2–4.30). Für den Menschen der Gegenwart ist Schuld, da sie an der Person haftet, nicht übertragbar. Kant hat das klar gesehen und unmißverständlich zum Ausdruck gebracht … [s. oben 227]. Aber nicht nur Philosophen, auch Theologen betonen, daß kein Mensch dem andern seine Schuld abnehmen kann. Man kann sich zwar mit einem andern, der schuldig geworden ist, solidarisch erklären, man kann die Schuld des anderen als die eigene erleiden. Aber eine Stellvertretung gibt es bei Schuld und Strafe nicht, weil beide personbezogen sind. Die Schuld ist immer die eigene, weil sie dem Ich anhaftet und keiner dem andern sein Ich abtreten kann. Weil die Schuld mit zur Qualität 92

Von Balthasar, Theodramatik, 312f, s. dazu Menke, Stellvertretung, 266ff.

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des Ich gehört, muß jeder seine Verfehlung selbst austragen. Wie kann man da dem Menschen von heute den stellvertretenden Tod Jesu verkünden?93 K. Lehmann Eine Schwierigkeit im Verständnis des stellvertretenden „Für uns“ liegt in einem Einwand, der den Anschein erweckt, als ob Sühne und Stellvertretung dem Menschen den freien Selbstvollzug schlechthin abnehmen wollten und ihn durch eine solche Entlastung auch entpersönlichen wollten als Konzentration vieler Einwände). Die Schrift legt jedoch bei allem Realismus in den Stellvertretungsaussagen ein solches Verständnis nicht nahe. Jesus Christus muß sicher in seinem Erlösungshandeln und -leiden in die Nähe, ja geradezu an den Ort der Schuld und des Sünders (vgl. Gal 3,13 und 2 Kor 5,21), auch wenn er dabei der Heilige und Sündenlose bleibt. Der Verlorene kann sich nicht selbst helfen, und die reale Macht der Sünde muß gleichsam an Ort und Stelle gebrochen werden. Ohne Platz- und Schicksalstausch gibt es keine Erlösung. Aber auch wenn man diese Tat Jesu und eine noch viel weiterreichende Stellvertreterfunktion (vgl. Röm 5,12ff.19f; 1 Kor 15,22f.45f) ins Auge faßt, so bedeutet „Stellvertretung“ im Prinzip keine unpersonale Ausgleichsmechanik. Mit dem gültigen Erlösungsgeschehen in Kreuz und Auferweckung „für alle“ ist noch keineswegs unmittelbar schon auch das ganze Heilswerk am einzelnen verwirklicht. Biblische Leitworte wie Umkehr und Glaube (gerade in der spezifisch paulinischen Variante) zielen auf nichts anderes als diese personale Aneignung und den Entscheidungscharakter des Christwerdens, die durch die Taufe sakramental besiegelt werden. Ebenso wie die alttestamentliche Sühne nicht da etwas vergeben will, wo der Mensch selbst wiedergutmachen kann, ist auch Jesus Christus kein Ersatzmann, der all das vollzieht, was der Mensch zwar tun kann, aber nicht tut oder sogar nicht tun will. So nimmt „Stellvertretung“ dem Menschen den personalen Selbstvollzug nicht ab und übergeht auch nicht die Würde des menschlichen Partners, vielmehr schafft sie überhaupt erst einmal den Raum, d.h. eröffnet eine Stelle, wo der Mensch grundsätzlich wieder ja sagen kann zu Gott und zum Mitmenschen. In diesem Sinne ermöglicht die Stellvertretung Jesu Christi „für uns“ eine neue Freiheit, aber sie ist nicht ihr Ersatz. Die ganze klassische Theologie der Gnade will mit ihren Differenzierungen, die leider oft nur formelhaft tradiert worden sind, nichts anderes als – auf ihre Weise – eine Zuordnung und Vermittlung der Elemente „objektiver“ und „subjektiver“ Erlösung (keine ungefährliche Terminologie!).94 K. Rahner Worin aber besteht und bleibt das Wahre und Gültige, das doch offenbar mit diesem problematischen Begriff der Stellvertretung anvisiert war? Es ist im Gebiet des Heilsvollzuges eine Solidarität der Menschen untereinander und 93 Friedrich, Verkündigung, 150f, vgl. 145f, s. dazu die Kritik Fischer, Geheimnis, 165ff; Pannenberg, Theologie 2, 467f u.a. 94 Lehmann, „Er wurde für uns gekreuzigt“, 314f, s. dazu Menke, Stellvertretung, 438f.443f.

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mit dem Gottmenschen gemeint, die bis in die letzte Wurzel unserer Existenz, bis in die Dimension der Heilsentscheidung hineinreicht. (…) Im christlichen Verständnis der Welt und unserer Existenz reicht diese Solidarität bis dorthin, wo unsere letzte Heilsentscheidung fällt. Solidarisch sind wir nicht bloß in unserer greifbaren Gesellschaft und unserer profanen Geschichte, sondern auch noch dort, wo wir in einer scheinbar radikalen Einsamkeit und Vereinzelung unser letztes Verhältnis zu Gott über alle innerweltliche Wirklichkeit hinaus in Freiheit bestimmen. Jeder tätigt seine ewige Endgültigkeit in Freiheit, die unabwälzbar je seine eigene ist; aber in diese Endgültigkeit – ob sie ein letztes Ja oder ein letztes Nein bedeutet – gehen alle die Voraussetzungen einer solchen frei getätigten Endgültigkeit ein und damit auch all das, was in der Menschheitsgeschichte als ganzer an Notwendigkeit und Freiheit gegeben gewesen ist. Der christliche Glaube ist sogar davon überzeugt – gleichgültig, wie dies genauer verständlich gemacht werden kann –, daß selbst die Zukunft, die offensichtlich doch bloßes Noch-nicht-Sein bedeutet, schon in unserer eigenen Freiheitssituation mitbestimmend gegeben ist. Sonst könnte man ja z.B. nicht sinnvoll sagen, daß auch die, die vor Christus und in Freiheit ein christliches Heil sich erwirken, von Christus wesentlich tangiert sind.95 W. Breuning Diese Berufung zum Reich Gottes gibt dem einzelnen einen unvertretbaren Wert im Volk Gottes. Seine Sendung kann kein anderer übernehmen, denn sie ist nicht „funktional“ in dem Sinn, daß es nur auf eine Dienstleistung ankäme, die prinzipiell jeder tun könnte. Das Reich Gottes braucht die Einmaligkeit der Liebe von Personen, die nicht „austauschbar“ sind. Doch nun die Gegenrechnung: Dem, der versagt, kann ein anderer zu Hilfe kommen, nicht indem er bloß seine Dienstleistung ersetzt, sondern indem er durch seine Liebe, sein Tragen, sein Leiden der Liebe und Freiheit des Versagenden aufhilft. Stellvertretung in diesem Sinn heißt nicht die Funktion des Versagenden in einem Gesamtmechanismus zu übernehmen und ihn selbst liegen zu lassen, sondern den Versagenden an der Stelle aufzusuchen, wo es um ihn als ihn selbst geht, um dort für ihn zu sein und ihm durch Mitleben zu helfen, wo er am Ende ist. Diese Art des Eintretens für einen anderen entspricht der Art des Aufeinanderhingeschaffenseins, wie wir sie schon im vorhergehenden Abschnitt in den Blick bekamen: Stellvertretung nicht als Ersatz, sondern als An-die-Stelle-treten, wo der andere lebt, um ihn dort aus Einsamkeit, Verschlossenheit, Versagen herauszuziehen. Je mehr es gelingt, genau dort an die Stelle zu treten, wo der andere nicht weiter kann, um so eher kann ihm geholfen werden. All das erfordert ein wirkliches Mitgehen nicht nur in äußerer Begleitung, sondern ein Eindringenkönnen in das Herz des Versagenden, weil die Versagersituation nur von innen her überwunden werden kann. Innen, das ist auch und gerade die Situation dieses Menschen vor Gott.96 95 Rahner, Versöhnung, 262f, s. dazu Breuning, „Sühne“, 76f und Menke, Stellvertretung, 357ff. 96 Breuning, „Sühne“, 81.

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E. Jüngel Was mich bei meinen eigenen dilettantischen Nachforschungen zur Wortgeschichte am meisten überrascht hat, ist die Tatsache, daß das deutsche Abstraktum „Stellvertretung“ erst erstaunlich spät entstanden ist – vielleicht im Pietismus im Zusammenhang des Streites gegen die orthodoxe Satisfaktionstheorie. Die Geschichte vom Wort und Begriff der Stellvertretung harrt noch der Aufklärung. Luther scheint das Abstraktum jedenfalls noch nicht gebraucht zu haben. Und auch den deutschen „Stellvertreter“ als Bezeichnung einer juristischen Person kennt er wohl noch nicht. Den lateinischen „vicarius“ übersetzt er mit „Statthalter“. Aber auch im Lateinischen und im Griechischen finden wir in älteren Texten kein Äquivalent für das Abstraktum „Stellvertretung“. Auch das griechische Neue Testament kennt es nicht. In der älteren Dogmatik habe ich zwar die adjektivische Rede z.B. vom „stellvertretenden Gehorsam (vicaria oboedientia)“ und von der „stellvertretenden Genugtuung (vicaria satisfactio)“, nicht aber das Abstraktum „vicariatio“ ausmachen können. Die gemeinte Sache wird in Aussagesätzen beschrieben, z.B. von Luther in Wendungen wie: unsere Sünden seien „tam propria … Christi, quam si ea ipse fecisset“; oder: „Personam omnium peccatorum gerendam suscepit“; oder: „Jesus Christus, Gottes Sohn, / an unser Statt ist kommen“. Das Wort „Stellvertretung“ diente, als es entstand, offensichtlich der Aufgabe, zuvor anders formulierte Aussagen auf einen Begriff zu bringen. Demgemäß erschließt sich die Bedeutung des Abstraktums erst, wenn man auf die Vielfalt der Äußerungen zurückgeht, die die im Begriff gemeinte Sache ursprünglich zur Sprache brachten. Der erste Hinweis, den man dann bekommt, ist die hermeneutische Aufforderung, das Abstraktum „Stellvertretung“ als nomen actionis zu lesen. (…) Dem entspricht, daß im Neuen Testament der sogenannte Stellvertretungsgedanke mit Hilfe von präpositional näherbestimmten Verben ausgedrückt wird. Es sind vor allem Verben in Verbindung mit den Präpositonen ajntiv, periv und uJpevr. (…) Die Wendungen bringen zum Ausdruck, daß eine Person anstatt bzw. an Stelle anderer Personen etwas getan oder erlitten hat. Und da das, was an Stelle anderer getan bzw. erlitten wurde, ein negatives Ereignis ist, das den anderen damit erspart blieb, hat die Wendung anstatt, an Stelle zugleich die positive Bedeutung von für bzw. zugunsten von. Indem eine Person anstatt aller anderen Personen zum Fluch geworden und den Fluchtod gestorben ist, ist die für sie und zu ihren Gunsten zum Fluch geworden und gestorben.97 J. Fischer Genau darin hat das paulinische Evangelium von der Rechtfertigung des Menschen seine Pointe, wenn es die Wirkung des stellvertretenden Todes Christi einerseits in der Erkenntnis Gottes sieht, welche die Sünden nicht mehr zurechnet, und andererseits im Glauben des Menschen, kraft dessen dieser an Gottes Erkenntnis teilhat und eben dadurch vor Gott gerecht wird. Der Tod Christi erlöst den Menschen von seiner Schuld, indem er bei Gott und Mensch die Erkenntnis wirkt, daß in diesem Tod der schuldige 97

Jüngel, Geheimnis, 250f.

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Mensch gestorben und zugleich neu in die Gottesgemeinschaft aufgenommen ist. Mit dieser Erkenntnis ist der schuldige Mensch wirklich und wahrhaftig gestorben und neu in die Gottesgemeinschaft aufgenommen. Die eigentliche Schwierigkeit des Stellvertretungsgedankens liegt damit in der Frage, wie bloße Erkenntnis dergleichen wirken und einen anderen mir zum Stellvertreter machen kann. Man muß sich vergegenwärtigen, daß es Erkenntnis gibt, welche praktisch ist in dem Sinne, daß sie die Wirklichkeit, auf die sie sich richtet, nicht vorfindet, sondern mit sich bringt. Solche Erkenntnis ist nach den Aussagen des Neuen Testaments der rechtfertigende Glaube: Das, woran er glaubt, nämlich die Beziehung der Rechtfertigung zu Gott, ist mit ihm selbst gegeben. Und zwar muß der Glaube hier wirklich im Sinne von Erkenntnis verstanden werden, entgegen dem platten Verständnis des Glaubens, demzufolge er deren Gegenteil sein soll. Denn Glaube, der nicht Erkenntnis ist, aus Erkenntnis kommt und auf Erkenntnis beruht, ist ohne Kontakt zur Wirklichkeit. Glaube ohne Kontakt zur Wirklichkeit ändert an der Wirklichkeit des Glaubenden nichts. Er ist ohne soteriologische Kraft. Ein Glaube also, welcher aus exegetischen Gründen nur für wahr halten würde, daß Christus für uns den stellvertretenden Opfertod gestorben ist, ohne dies zu erkennen oder zu verstehen, wäre soteriologisch belanglos, und solchen Glauben in die Kirche zu tragen darum theologisch verantwortungslos. (…) Niemand ist aus sich selbst allein zu praktischer Erkenntnis fähig. Wir können nur erkennen, wie wir erkannt sind. Im alttestamentlichen Sühneopferritual war die Gegenwart des erkennenden Gegenübers mit dem Ort der Handlung gegeben. Im Neuen Testament tritt an die Stelle dieses Ortes die Präsenz im Wort und im Sakrament. Die Wirklichkeit der Stellvertretung Christi erschließt sich auf keine andere Weise als durch das in praktischer Erkenntnis ergriffene Wort von der Versöhnung, das Gott unter uns aufgerichtet hat, und als durch die in praktischer Erkenntnis vollzogene Feier des Abendmahls. Die Frage, ob die Stellvertretung Christi in seinem Tod für den heutigen Menschen noch nachvollziehbar ist, ist damit gleichbedeutend mit der Frage, ob der heutige Mensch im Bereich des Glaubens zu solch praktischer Erkenntnis noch fähig ist. Man muß hier klar sehen: Wenn man diese Frage verneint, dann ist jedes Verständnis des Todes Jesu, dann ist aller Glaube und alle Theologie soteriologisch irrelevant, weil sich dadurch an der Wirklichkeit des Menschen nichts, aber auch gar nichts änderte.98 Chr. Gestrich Einzusetzen ist bei folgender exegetischer Tatsache: Wenn in der Bibel im Zusammenhang mit der Sühne von Stellvertretung die Rede ist, dann bedeutet dies nicht, daß an Stelle des fälligen Opfers und Leidens des eigentlich Schuldigen ein anderer, dem man vielleicht einen geringeren Wert attestiert, 98 Fischer, Geheimnis, 166f, vgl. ders., Glaube, 76ff und dazu die Kritik von Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte, 274 Anm. 97.

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über die Klinge springen muß. Insbesondere geschehen die zur Sühne herangezogenen alttestamentlichen Tieropfer nicht unter der Voraussetzung, daß Gott sich schließlich auch mit billigerem Ersatz zufrieden gäbe (oder sich zufrieden geben sollte). Stellvertretung heißt in der Bibel niemals Ersatz! Sie bedeutet im Gegenteil: Ermöglichung, Befähigung dessen, der der eigentlich Betroffene ist. Der wirklich Schuldige wird dazu instandgesetzt, in eigener Person zu sühnen und hierdurch die Gotteskindschaft wiedererlangen zu können. Das dahingegebene stellvertretende Opfer – es mag ein schwächeres, ärmeres Wesen sein – soll zunächst den Durchbruch zur eigenen Schulderkenntnis und sodann Reue, Umkehr usw. ermöglichen. Im stellvertretenden Opfer sieht der Schuldige sich selbst: seine eigene Armut und Schwäche. Es führt den tatsächlich Schuldigen somit genau an die „Stellen“, die er mit seiner Person (auch wenn er sich dem in der Sünde zu entziehen trachtet) einnehmen muß: einerseits an die Stelle des von und vor Gott Verworfenen, andererseits an die Stelle des bei und mit Gott lebenden Kindes. Letzteres vor allem ist die Stelle, an welcher der homo peccator bislang nicht sein wollte, worüber er dann in Schuld geriet, Böses bewirkte. An dieser Stelle wird er nun dennoch nach Gottes Willen leben. Gott erreicht dies, indem er den homo peccator in die Identifikation mit dem Sühnopfer hineinführt. Gott besorgt ihm die Möglichkeit zur Sühne. Damit setzt Gott durch, daß der schuldige Mensch – auch er – die für ihn vorgesehene Stelle in der familia Dei, im Hause Gottes, tatsächlich einnimmt.99 W. Pannenberg In der Situation der Verurteilung und Hinrichtung Jesu, in der der später durch seine Auferweckung von Gott als schuldlos Erwiesene den Tod als Folge unserer Sünde getragen hat, vollzog sich Stellvertretung im konkreten Sinne des Platztausches zwischen dem Schuldlosen und den Schuldigen. Der Unschuldige erlitt die Strafe des Todes, der als Unheilsfolge der Sünde das Schicksal derer ist, an deren Stelle er starb. Dieses stellvertretende Strafleiden, das mit Recht als stellvertretendes Erleiden des Zornes Gottes über die Sünde beschrieben worden ist, begründet von Jesus Christus her die Gemeinschaft mit allen Menschen als Sündern und mit ihrem Schicksal, – eine Verbindung, die die Grundlage dafür bildet, daß der Tod Jesu ihnen als Sühne zugute kommen kann. Stellvertretung und Sühne haben dabei nicht die Wirkung, daß den Vertretenen das eigene Sterben überhaupt erspart bliebe. Sie bedeuten vielmehr, daß den durch Jesus Christus Vertretenen die Chance eröffnet wird, in ihrem eigenen Sterben durch dessen Verbindung mit dem Sterben Jesu die Hoffnung auf Teilhabe an dem neuen Leben der Totenauferweckung zu gewinnen, das an Jesus schon erschienen ist (Röm 6,5). Es handelt sich also um Stellvertretung und Sühne vor dem eschatologischen Gericht Gottes. Den Empfängern der Sühnewirkung des Todes Christi wird die Zuversicht zuteil, daß ihr eigener Tod nicht mehr den definitiven Ausschluß von Gott und seinem Leben bedeutet, und diese Zuversicht äußert sich schon in diesem Leben in Werken der Gerechtigkeit (Röm 99

Gestrich, Wiederkehr, 327f, vgl. 326ff.334ff.

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6,13). Mit der Hoffnung auf das neue Leben der Totenauferstehung kommt bei den Sündern die Bundesgerechtigkeit des Gottes zur Wirkung (2. Kor 5,21), der das Leben seiner Geschöpfe will. Insofern findet tatsächlich ein Platztausch statt zwischen dem unschuldigen, aber als Sünder hingerichteten Jesus und der Manifestation der Gerechtigkeit Gottes bei den von ihm vor Gott vertretenen Sündern. Zu diesem Platztausch kommt es allerdings nur, wenn die Sünder, für die Jesus gestorben ist, auch von ihrer Seite her ihr todverfallenes Leben mit dem Tode Jesu verbinden lassen (Phil 3,10f), wie es in der Taufe geschieht (Röm 6,3f, Kol 2,12). Erst damit tritt die durch den Tod Jesu Christi ermöglichte Sühne für den einzelnen tatsächlich in Kraft.100 H.-R. Reuter Der neutestamentliche Ansatzpunkt des christologischen Stellvertretungsgedankens ist in der Vielzahl jener Aussagen zu finden, in denen die Heilsbedeutung des Geschicks Jesu „mit Hilfe von präpositional näherbestimmten Verben ausgedrückt wird“. (…) Diesen Wendungen, in denen Paulus das Geschehen von Rechtfertigung und Versöhnung zur Sprache bringt, ist ein Vierfaches gemeinsam: Sie bringen erstens zum Ausdruck, daß eine Person anstelle anderer Personen etwas getan bzw. erlitten hat. Sie besagen zweitens, daß das Tun bzw. Erleiden jener einen Person wegen der Sünde bzw. Schuld anderer Personen erfolgte. Und sie drücken drittens aus, daß das Tun bzw. Erleiden jener einen Person zugunsten aller anderen Personen stattgefunden hat. Dabei ist viertens den Kurzformeln, in denen das neutestamentliche Stellvertretungsmotiv überliefert ist, keine einheitliche Antwort auf die Frage zu entnehmen, wer letztlich das Subjekt ist, welches das stellvertretende Tun bzw. Erleiden Jesu ins Werk gesetzt hat: Er selbst? Die Menschen? Gott? Wie immer man diesen Befund im Blick auf die neutestamentliche Todesparadosis Jesu im Ganzen exegetisch differenzieren und überlieferungsgeschichtlich bewerten mag – er bedarf einer theologischen Interpretation.101 W. Krötke Wenn schon die vielfältige neutestamentliche Verwendung der Opferkategorie zur Deutung des Todes Jesu auf diesen Nenner gebracht wird, dann muß klar bleiben, daß Menschen Jesus hinrichteten. Nicht mit dem mörderischen Tun der Hinrichtenden, ‚sondern mit dem Hingerichteten identifiziert sich Gott‘ und macht sich so in der Tat im Sohne Gottes selbst ‚zum Opfer‘. In diesem Sinne gibt die nachösterliche Deutekategorie ‚Opfer‘ diesem Tode eine Sprache, die er auf der Ebene menschlicher Opferpraktiken gar nicht gewinnen kann.102 100 Pannenberg, Theologie 2, 473f, vgl. ders., Grundzüge, 265ff und dazu Wenz, Versöhnungslehre 2, 434ff. 101 Reuter, Stellvertretung, 179 (mit Bezug auf Jüngel, Geheimnis, 251), vgl. Huber / Reuter, Friedensethik, 228ff.269ff.275ff.280ff. 102 Krötke, Gottes Klarheiten, 179 Anm. 49.

244 2.

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Rechtswissenschaft und Soziologie

Angestoßen durch die politischen Schriften des Juristen und Verfassungstheoretikers Abbé E.J. Sieyès (1748–1836) wurde das Wort „Stellvertretung“ aus seinem ursprünglich theologischen Kontext gelöst und im 19. Jahrhundert zu einem Begriff der juristischen, politischen und sozialen Sprache. In der Rechtswissenschaft führte die Ausdifferenzierung des lateinischen Wortes repraesentatio zu einer Unterscheidung von drei Bedeutungsebenen: „Repräsentation“ bedeutet jetzt die „nicht-juristische“ Vertretung (d.h. die rechtlich nicht geregelte Vertretung einer Gemeinschaft durch ein Individuum), „Organschaft“ eine durch Gruppenorganisation ermächtigte Vertretung und „Stellvertretung“ die juristisch geregelte Befugnis einer Person, für eine andere Person oder eine Mehrzahl von Personen rechtsverbindlich zu handeln. Dass der Stellvertretungsbegriff neuerdings auch als soziologische Kategorie ernstgenommen wird, gehört nach den frühen Ansätzen bei G. Simmel und M. Weber zur jüngsten Entwicklung in der Geschichte des Begriffs. M. Kaser Die unmittelbare (direkte) Stellvertretung, die die heutige Auffassung in einem technischen Sinn als Stellvertretung versteht, nämlich die Vornahme eines Rechtsgeschäfts im Namen einer selbständigen anderen Person mit dem Erfolg, daß die Wirkungen des Geschäfts in der Person des Vertretenen eintreten, ist verhältnismäßig jung. Der Gedanke, daß die Wirkungen eines Rechtsakts in einer anderen (unabhängigen) Person eintreten sollen als in der, die gehandelt hat, setzt ein fortgeschrittenes juristisches Abstraktionsvermögen voraus. Vermutlich hat diese echte Stellvertretung ihre heutige Gestalt erst in der Dogmatik des 19. Jh. gefunden. Ältere Rechte, auch das römische, haben sich, um ein rechtliches Handeln durch andere zu ermöglichen, anderer Denkformen bedient, besonders des Handelns durch abhängige Organe, daneben auch der mittelbaren Stellvertretung und der Treuhand. Doch lassen die Römer ein Handeln für andere in ihrem Privatrecht überhaupt nur in ziemlich engen Grenzen zu.103 G. Köbler Stellvertretung (§§ 164ff BGB) ist das rechtsgeschäftliche Handeln einer Person im Namen einer anderen Person (in fremdem Namen) für diese (für fremde Rechnung) (sog. direkte, echte, offene oder unmittelbare Stellvertretung). Nicht Stellvertretung in diesem Sinn ist das rechtsgeschäftliche Handeln im eigenen Namen für fremde Rechnung (indirekte, unechte, mittelbare Stellvertretung, z.B. des Kommissionärs). Die Stellvertretung erfordert rechtsgeschäftliches Handeln, Vertretungswillen und Vertretungsmacht sowie Zulässigkeit der Stellvertretung (ausgeschlossen z.B. bei Testamentserrichtung). Nach § 164 I, III BGB wirkt eine Willenserklärung durch den oder gegenüber dem Vertreter unmittelbar für und gegen den Vertretenen. 103

Kaser, Privatrecht, 54.

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Soweit die rechtlichen Folgen einer Willenserklärung durch Willensmängel oder durch die Kenntnis oder das Kennenmüssen gewisser Umstände beeinflußt werden, kommt nicht die Person des Vertretenen, sondern die des Vertreters in Betracht (§ 166 I BGB). Die Vertretungsmacht des Vertreters kann auf Rechtsgeschäft (Vollmacht, gewillkürte Stellvertretung) oder Gesetz (gesetzliche Stellvertretung) beruhen. Fehlt die Vertretungsmacht, so liegt Vertretung ohne Vertretungsmacht vor, die zur schwebenden Unwirksamkeit des geschlossenen Vertrages führt (§ 177 BGB). Dieser kann nur durch Genehmigung des Vertretenen wirksam werden. Wird sie verweigert, ist der Vertreter grundsätzlich zur Erfüllung oder zum Schadensersatz verpflichtet.104 E.J. Sieyès Alles ist im Gesellschaftsstande Stellvertretung. Sie findet sich überall in der privaten wie in der öffentlichen Ordnung; sie ist die Mutter der Fabrik- und Handelsindustrie so wie der Fortschritte in den freien Künsten und in der Staatskunst; ja sie vermischt sich sogar mit dem Wesen des gesellschaftlichen Lebens. (…) Ich wollte beweisen, daß für das Volk alles zu gewinnen wäre, wenn es alle Gattungen von Gewalten, aus denen die Staatseinrichtung besteht, stellvertretend mache und sich bloß die Macht vorbehalte, alljährlich vernünftige und von ihm unmittelbare gekannte Männer zu ernennen (…) Sehet, ob nicht in dem Privatleben der der freieste ist, welcher am meisten für sich arbeiten läßt; so wie auch alle Welt zugiebt, daß sich ein Mensch um so mehr in fremde Abhängigkeit setzt, je mehr Stellvertretung er einer und derselben Person überträgt, dergestalt, daß sogar eine gewisse Art von Veräusserung seiner selbst daraus entstehen würde, wenn er alle seine Gewalten in einem und demselben Individuum konzentrierte.105 M. Weber Eine soziale Beziehung kann für die Beteiligten nach traditionaler oder gesatzter Ordnung die Folge haben: daß bestimmte Arten des Handelns a) jedes an der Beziehung Beteiligten allen Beteiligten („Solidaritätsgenossen“) oder b) das Handeln bestimmter Beteiligter („Vertreter“) den anderen Beteiligten („Vertretenen“) zugerechnet wird, daß also die Chancen wie die Konsequenzen ihnen zugute kommen bzw. ihnen zur Last fallen. Die Vertretungsgewalt (Vollmacht) kann nach den geltenden Ordnungen – 1. in allen Arten und Graden appropriiert (Eigenvollmacht) oder aber – 2. nach Merkmalen dauernd oder zeitweise zugewiesen sein – oder 3. durch bestimmte Akte der Beteiligten oder Dritter, zeitweilig oder dauernd, übertragen werden (gesatzte Vollmacht). Ueber die Bedingungen, unter denen soziale Beziehungen (Gemeinschaften oder Gesellschaften) als Solidaritäts- oder als Vertretungsbeziehungen behandelt werden, läßt sich generell nur sagen, daß der Grad, in welchem ihr Handeln entweder a) auf gewaltsamen Kampf oder 104 Köbler, Wörterbuch, 260. 105 Sieyès, Schriften 2, 372.373.374, s. dazu Weiß, Stellvertretung, 44 und Menke, Stellvertretung, 61f.

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b) auf friedlichen Tausch als Zweck ausgerichtet ist, dafür in erster Linie entscheidend ist, daß aber im übrigen zahlreiche erst in der Einzelanalyse festzustellende Sonderumstände dafür maßgebend waren und sind. Am wenigsten pflegt naturgemäß diese Folge bei den rein ideele Güter mit friedlichen Mitteln verfolgenden einzutreten. Mit dem Maß der Geschlossenheit nach außen geht die Erscheinung der Solidarität oder Vertretungsmacht zwar oft, aber nicht immer, parallel.106 J. Weiß Die einfachste und allgemeinste Strukturformel für die Stellvertretungsbeziehungen lautet: „A handelt für B im Hinblick auf die Aufgabe X.“ Diese Strukturformel wäre u.a. in der folgenden Weise zu erläutern und zu präzisieren: a) Bei A (dem Vertreter) soll es sich um ein handlungsfähiges Subjekt, d.h. im Normalfall um einen einzelnen Akteur, u.U. aber auch um eine kleine Gruppe von Akteuren handeln. b) Dagegen ist das Spektrum der Möglichkeiten, die Stelle von B (dem Vertretenen) auszufüllen, sehr viel größer. Vor allem kann es sich hier auch um fiktive (etwa juristische) Personen oder Hypostasierungen von sozialen Gebilden handeln. c) Die Relation „handelt für“ (im weiteren Sinne) kann mindestens die folgenden vier „formalen“ Hauptbedeutungen haben: 1. „stellt dar“, „macht präsent“ (Repräsentation im engeren Sinne von verpflichtender Verkörperung, Personifizierung usw.); 2. „spricht anstelle von“; 3. „handelt für“ im engeren Sinne; dabei wäre unter „Handeln“ ein „zielgerichtetes Eingreifen in Wirklichkeit“ (physischer, soziopsychischer oder auch transzendenter Art) zu verstehen; 4. „entscheidet anstelle von“, d.h.: „legt Ziele, Normen oder – zumindest – Möglichkeiten des zukünftigen Handelns fest für“. d) Die Präposition „für“ im Ausdruck „handelt für“ kann sehr verschiedene Beziehungen zwischen dem Vertreter und dem Vertretenen bezeichnen; ihr Bedeutungsspektrum reicht von „anstelle von“ über „im Interesse von“ bis zu „im Auftrage von“. e) In allen Fällen gilt normalerweise, daß die Vollzüge des Vertreters direkt oder in ihren Konsequenzen dem Vertretenen zugerechnet werden; allerdings wären auch hier weitere Unterscheidungen unverzichtbar. Dabei wäre auch der Fall vorzusehen, daß zumindest gewisse, und zwar typischerweise negative Folgen des Handelns des Stellvertreters gerade nicht dem Vertretenen zugerechnet, sondern vom Vertreter getragen werden müssen. f) Wahrscheinlich sollte bereits in die allgemeine Strukturformel als weiteres Element der Adressat der Stellvertretung aufgenommen werden. In die106

Weber, Wirtschaft, 25, vgl. 171ff.174ff und dazu Weiß, Stellvertretung, 45.

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sem Fall würde die Formel also lauten: A handelt für B und auch gegenüber C im Hinblick auf die Aufgabe X. Offensichtlich kann auch diese Position C sehr verschieden ausgefüllt (und eben auch leer) sein.107

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107

Weiß, Stellvertretung, 46f.

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„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“ (Ps 51,19) Zur Transformation des Opfers in den Psalmen Die religiösen Transformationen, die sich in der Spätantike vollzogen und den Übergang von der römischen Staatsreligion zum Christentum mit herbeigeführt haben, stellen ebenso faszinierende wie komplexe Sachverhalte dar. In seinen Vorlesungen, die der Religionswissenschaftler G.G. Stroumsa 2004 unter dem Titel „La fin du sacrifice“1 am Collège de France gehalten hat, zeichnet er wichtige Etappen und Aspekte dieser Veränderungen nach – er spricht von „Mutationen“ –, die die Geschichte des Nahen Ostens und Europas nachhaltig prägen sollten. Das „Ende des Opfers“, dieser zentralen Handlung der antiken Religionen, ist ohne Zweifel ein entscheidendes Moment dieser Transformationen.2 Ich möchte die Überlegungen Stroumsas aufgreifen, darüber hinaus aber nach der Rolle fragen, die die biblischen Psalmen in diesem mehrere Jahrhunderte umfassenden Transformationsprozess gespielt haben. Diese Rolle ist Stroumsa zwar bewusst, er geht auf sie aber nur ganz am Rande ein.3 Meine These lautet dabei, dass „Transformation“ nicht Abbau, sondern Umbau, d.h. die Schaffung einer neuen Form bedeutet, bei der der ursprüngliche Sinn noch erkennbar ist, auch wenn sich die sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen geändert haben. Um diese These zu plausibilisieren, beginne ich mit einem Überblick über die Opferaussagen des Psalters (I) und konkretisiere diesen Überblick anhand ausgewählter Texte (II). Am Schluss folgen einige Bemerkungen zur theologie- und ideengeschichtlichen Position der untersuchten Texte (III). I.

Vorbemerkungen

Welche Informationen lassen sich dem Psalter zum Thema „Feste und Opfer“ entnehmen? Geht man von den Festkalendern des Pentateuchs aus und sucht im Psalter nach Texten, die konkrete Kultvollzüge im Rahmen von Festen schildern, so wird man, wie F.-L. Hossfeld dargelegt hat, „schnell enttäuscht“4. Außer Anspielungen auf das 1 S. dazu Stroumsa, Ende des Opferkults. 2 S. dazu Stroumsa, Ende des Opferkults, 21–52.86–119; Rüpke, Religion, 15–19 und zuletzt Auffarth, Religion, 46–54. 3 S. dazu Stroumsa, Ende des Opferkults, 47.48–49. 4 Hossfeld, Festtraditionen, 159, vgl. auch Seybold, Poetik, 38–39.

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„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

Herbstfest5 und vor allem die Toda-Feier6 gibt es kaum belastbare Hinweise auf Kulthandlungen und Riten in den Psalmen. Der Grund dafür dürfte der Sachverhalt sein, dass der Psalter nicht die Agende für den Kult des Zweiten Tempels war, sondern als „,geistliche Dichtung‘ im Umfeld des Tempels bzw. für den ,privaten/geistlichen‘ Tempelbesuch“7 zu verstehen ist. Man kann deshalb nicht ohne weiteres auf eine hinter den Psalmen liegende Ebene zugreifen, um einen kultischen „Sitz im Leben“ ans Licht zu fördern. Ähnliches ergibt sich im Blick auf das Thema „Opfer“ in den Psalmen. 1.

Opfer und Opferkritik in den Psalmen

Die Psalmen verfügen neben traditionellen Opfertermini und -vorstellungen8 über eine eigene Opferterminologie und -theologie, die neben Berührungen mit der prophetischen Opfer- und Kultkritik von dieser signifikant unterschieden ist.9 Die folgende Übersicht stellt die wichtigsten Aspekte zusammen und unterscheidet zwischen Dankund Gelübdeopfern, opferkritischen Aussagen und der Metaphorisierung von Opferaussagen.10 Mehrfachnennungen sind dabei beabsichtigt, weil sich die Bedeutungsaspekte z.T. überschneiden: Dank- und Gelübdeopfer – tôdåh „Dankopfer“: Ps 56,13; 116,17, ferner Ps 107,22 (?); Danklied: 26,7; 42,5; 50,14.23; 69,31; 95,2; 100,1.4;11 147,7 – nedær/nædær: Ps 22,26; 50,14; 56,13; 61,6.9; 65,2; 66,13; 116,14.18

Opferkritische Aussagen – gegen falsches Opferverständnis: Ps 40,7–9; 50,7–15; 51,18f; 69,31f – Kritik an Opfern für Fremdgötter bzw. Tote / an Kinderopfern für Dämonen // Götzen Kanaans: Ps 16,4; 106,28.37f 5 S. dazu Hossfeld, Festtraditionen, 165–168. 6 S. dazu im Folgenden. 7 Zenger / Hossfeld, Buch der Psalmen, 442. 8 S. dazu die Übersicht bei Radebach-Huonker, Opferterminologie, 33–97. 9 Zur prophetischen Kultkritik s. Janowski, Aspekte, 182–191. Stärkere Berührungen gibt es dagegen zwischen den Psalmen und der weisheitlichen Kultkritik, s. dazu Ernst, Kultkritik und die Hinweise bei Janowski, Aspekte, 191 Anm. 70. 10 Zum Begriff „Metaphorisierung“ s. unten Anm. 23. 11 Die Frage, ob sich das Verb rû˛a hif. „in Jubel ausbrechen, jauchzen“ in Ps 100,1 auf den Kontext eines Danklieds (so Hermisson, Sprache, 37 u.a.) oder eines Dankopfers (so Hossfeld / Zenger, Psalm 51–100, 710 [Zenger] u.a.) bezieht, wird kontrovers beantwortet. Mit Hermisson neige ich zur Interpretation von tôdåh in Ps 100,1.4 als „Danklied“.

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

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Metaphorisierung von Opferaussagen – im Rahmen der Opferkritik: Ps 50,14.23; 51,19 – ohne opferkritischen Hintergrund: Ps 119,108; 141,2

Materielle (?) / metaphorische (?) Opfer – „Schlachtopfer der Gerechtigkeit“: Ps 4,6; 51,2112

Wenden wir uns, bevor wir kurz auf das Dankopfer/-lied (tôdåh) eingehen, zunächst den opferkritischen Aussagen und der Metaphorisierung von Opferaussagen zu. Die opferkritischen Aussagen liegen dabei auf unterschiedlichen Ebenen. Während Ps 16,4 und 106,28. 37f Kritik an Opfern für Fremdgötter bzw. Tote üben,13 kritisieren Ps 40,7–9; 50,7–15; 51,18f und 69,31f ein falsches Opferverständnis: 7 An Schlachtopfer und Speiseopfer hast du (sc. JHWH) kein Gefallen (ªåpa‚) – Ohren hast du mir gegraben, Brandopfer und Sündopfer hast du nicht verlangt. 8 Einst sprach ich: „Siehe, ich bin gekommen, in der Schriftrolle (ist) über mich geschrieben!“ 9 Am Tun nach deinem Wohlgefallen (rå‚ôn), mein Gott, habe ich Gefallen (ªåpa‚), und deine Tora (ist) inmitten meiner Eingeweide. (Ps 40,7–9) 12 S. dazu Zwickel, Opfer der Gerechtigkeit, 386–391, der unter ‚ædæq „das der jeweiligen Situation Angemessene“ versteht und das Syntagma zibªê-‚ædæq mit „angemessene Opfer“ übersetzt. Nach Michel, Gerechtigkeit, 796–797 ist ‚ædæq ein Kollektivbegriff (nomen collectivum), der im Unterschied zu ‚edåqåh (nomen unitatis: „Gerechtigkeitstat“) die Normgemäßheit meint und damit einen Zustand bezeichnet, der so ist, wie er sein soll: richtig, angemessen, ordnungsgemäß, vgl. die Wendungen „Waagschalen der Gerechtigkeit/richtige Waagschalen (mo∞znê ‚ædæq Lev 19,36; Ez 45,10; Hi 31,6), „rechtschaffene Männer“ (∞ançê ‚ædæq Sir 9,16) oder „Wagenspuren der Gerechtigkeit/rechte Bahnen“ (ma˛ggelê-‚ædæq Ps 23,3). Im Unterschied zu Mal 3,3 (minªåh bi‚dåqåh „eine Opfergabe in Gerechtigkeit“) sind die zibªê ‚ædæq in Ps 4,6 (vgl. Dtn 33,19) Opfer, die „in Gerechtigkeit bestehen sollen, d.h. ,die Mächtigen‘ sollen jene ,Schlachtopfer‘ darbringen, die wirklich zum Heil führen: Sie sollen soziale Gerechtigkeit praktizieren und aufhören mit ihrer Ausbeutung der Armen (,der Vielen‘), indem sie JHWH zum Maß und zur Mitte ihres Lebens machen. Genau dies alles heißt: ,Vertraut auf JHWH!‘“ (Hossfeld / Zenger, Psalmen 1–50, 62 [Zenger]). Zu Ps 51,21 s. unten 273, zu zibªê terû˛åh „Schlachtopfer mit/ unter Jubel“ in Ps 27,6 s. Schmid, Opfer, 48–54. 13 Zur Kritik an Trankopfern von Blut für Fremdgötter (Ps 16,4), an Opfern für Tote (Ps 106,28) sowie an Kinderopfern für die Dämonen // Götzen Kanaans (106, 37f) s. Radebach-Huonker, Opferterminologie, 224–225 mit der dort genannten Lit.

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7 8 9 10 11 12 13 14 15 15 16 17 18 19 20 21

31 32

„Höre doch, mein Volk, ich will reden, Israel, ich will über dich Zeugnis ablegen, Gott, dein Gott bin ich! Nicht wegen deiner Schlachtopfer weise ich dich zurecht, und deine Brandopfer sind ständig vor mir. Ich nehme nicht aus deinem Haus einen Stier, noch Böcke aus deinen Hürden. Denn mir gehört alles Wild des Waldes, die Tiere in den Bergen zu Tausend. Ich kenne alle Vögel der Berge, und die Insekten des Feldes sind bei mir. Hätte ich Hunger, würde ich es dir nicht sagen, denn mir gehört der Erdkreis und was ihn erfüllt. Esse ich etwa das Fleisch von Stieren und trinke ich das Blut von Böcken? Opfere (zåbaª) Gott Dank (tôdåh) und erfülle dem Höchsten deine Gelübde (nedårîm) und rufe mich an am Tag der Not – ich werde dich erretten, und du wirst mich ehren!“ (Ps 50,7–15) Ich will lehren Verbrecher deine Wege, dass Sünder zu dir zurückkehren. Errette mich aus Blutschuld, Gott, Gott meiner Rettung, dass meine Zunge juble über deine Gerechtigkeit(stat)! Herr, meine Lippen mögest du öffnen, und mein Mund soll verkündigen dein Lob (tehillåh)! Denn am Schlachtopfer hast du kein Gefallen (ªåpa‚), und gebe ich ein Brandopfer – du hast kein Wohlgefallen (rå‚åh) (daran). ‹Mein› Schlachtopfer,14 Gott, ist ein zerbrochener Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz verachtest du, Gott, nicht. Tue Zion doch Gutes in deinem Wohlgefallen (rå‚ôn), du mögest die Mauern Jerusalems wieder aufbauen! Dann wirst du Gefallen haben (ªåpa‚) an Schlachtopfern der Gerechtigkeit (zibªê-‚ædæq), an Brandopfern und Ganzopfern. Dann kann man Stiere auf deinem Altar darbringen. (Ps 51,15–19.20f) Ich will preisen (hll pi.) den Namen Gottes mit einem Lied (çîr), und ich will ihn groß machen mit einem Danklied (tôdåh), ja, das gefällt JHWH besser als ein Rind (çôr), als ein Stier mit Hörnern und gespaltenen Klauen. (Ps 69,31f)15

14 So mit Kraus, Psalmen 1, 383; Hermisson, Sprache, 47–48 u.a. 15 Mit der Gegenüberstellung von çîr und çôr dürfte ein Wortspiel beabsichtigt sein: „das ,Lied‘ entspricht dem ,Rind‘“ (Hermisson, Sprache, 39), vgl. dazu auch Radebach-Huonker, Opferterminologie, 35f mit Anm. 11.

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

257

„Opferkritik“ bedeutet nach diesen Texten nicht eine generelle Ablehnung der materiellen Opfer, sondern die Kritik an einem falschen Opferverständnis – im Kontext des Opferkults! Das unterscheidet diese Form der Kritik von der prophetischen Kultkritik.16 Mit dieser haben die opferkritischen Psalmen zwar die Anrechnungsterminologie gemeinsam (ªåpa‚ / rå‚åh in Ps 40,7; 51,18).17 Dennoch „sind Propheten und Psalmen von verschiedenen Positionen aus zu einer Kritik am Opferkultus gelangt“18. Nach den Gründen dafür wird noch zu fragen sein. 2.

Akzentverschiebungen in der Opfersemantik

Abgesehen von den bisherigen Beobachtungen ist auch auf die sprachliche Gestalt der genannten Texte zu achten, weil sich daran bemerkenswerte Akzentverschiebungen zeigen. Das belegen nicht nur die Constructus-Verbindungen zibªê ‚ædæq „Schlachtopfer der Gerechtigkeit“ (Ps 4,6; 51,21) und nidbôt pî „die Gaben meines Mundes“ (Ps 119,108), sondern auch die Wendungen „‹Mein› Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“ (Ps 51,19), und „mein Gebet als Räucheropfer“ // „das Erheben meiner Hände als Abendgabe“ (Ps 141,2):

Metaphorisierung von Opferaussagen Mit opferkritischem Hintergrund ‹Mein› Schlachtopfer, Gott, ist ein zerbrochener Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz verachtest du, Gott, nicht. (Ps 51,19) Ohne opferkritischen Hintergrund Die Gaben meines Mundes nimm doch wohlgefällig an, JHWH, und lehre mich deine Rechtsentscheide! (Ps 119,108) Mein Gebet möge als Räucheropfer dastehen vor dir, das Erheben meiner Hände als Abendgabe! (Ps 141,2)

Materielle (?) / metaphorische (?) Opfer Opfert Schlachtopfer der Gerechtigkeit und vertraut auf JHWH. (Ps 4,6) Dann wirst du Gefallen haben an Schlachtopfern der Gerechtigkeit, an Brandopfern und Ganzopfern. Dann kann man Stiere auf deinem Altar darbringen. (Ps 51,21) 16 S. dazu die Hinweise oben Anm. 9 und unten 275. 17 Zur prophetischen Anrechnungsterminologie s. Radebach-Huonker, Opferterminologie, 224 Anm. 6. 18 Hermisson, Sprache, 144, vgl. Radebach-Huonker, Opferterminologie, 228.

258

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

Wie sind diese Wendungen zu verstehen? Während die ConstructusVerbindung „Schlachtopfer der Gerechtigkeit“ (Ps 4,6; 51,21) auf eine Wertung zielt (genitivus qualitatis),19 lässt sich in Ps 51,19; 119, 108 und 141,2 eine deutliche Akzentverschiebung vom Ritus zum Gebet bzw. vom Kult zur Anthropologie greifen. Das belegen die Körperbegriffe „Geist“, „Herz“, „Mund“ und „Hände“, die das Augenmerk auf den Beter und dessen persönliche bzw. leibliche ,Hingabe‘ lenken. Nicht blutige Schlacht- und Brandopfer, sondern, wie Ps 51,19 betont, „sich selbst als den an Herz und Geist erneuerten Menschen übergibt er seinem Gott“20. Dass diese Akzentverschiebung aber, wie die Opfertermini „Schlachtopfer“, „(freiwillige) Gaben“, „Räucheropfer“ und „Abendgabe“ deutlich machen, keinen Auszug aus dem Kult und seinem Symbolsystem bedeutet21 und deshalb auch nicht als „Spiritualisierung“,22 sondern als „Metaphorisierung“23 bezeichnet werden sollte, zeigt die für die Psalmenfrömmigkeit charakteristische Form des Toda-Opfers. Bekanntlich kommen für den Begriff tôdåh, der im Psalter 12-mal belegt ist,24 die beiden Bedeutungen „Dankopfer“ und „Danklied“ in Frage. Dass eine tôdåh als „Danklied“ das „Dankopfer“ ersetzen kann, geht aus Ps 26,7; 42,5; 69,31ff und 147,7 hervor;25 auch in Ps 95,2 und 100,1.4 dürfte eher von einem „Danklied“ als von einem „Dankopfer“ die Rede sein.26 Schwieriger zu entscheiden sind dagegen die Fälle, wo der Begriff tôdåh jeweils in Verbindung mit dem Opferterminus zåbaª „schlachten“ belegt ist wie in Ps 19 S. dazu oben Anm. 12. 20 Hossfeld / Zenger, Psalmen 51–100, 55 (Zenger [Hervorhebung im Original]). 21 Wie Hermisson, Sprache, 50 im Blick auf Ps 51,19 betont, „wird hier mit dem ,Opfer‘ nicht etwas neben das bekennende Loben gestellt, denn dieses ,Opfer‘ ist … in strenger Weise dem Lob, der twdh, zugeordnet“. Und in Ps 141,2 ist die Explikation „als“ zu beachten: das Gebet // Erheben der Hände nimmt die Stelle des Opfers ein – aber unter Rekurs auf die Opferterminologie, vgl. 56. 22 Hermisson, Sprache, 27 definiert „Spiritualisierung“ folgendermaßen: „Der Vorgang der Spiritualisierung ist die Lösung kultischer Begrifflichkeit und Sprache von der damit verbundenen oder bezeichneten kultischen Erscheinung“, s. dazu die kritischen Anmerkungen von Hartenstein, „Spiritualisierung“, 53–54. 23 Nach Hossfeld, Metaphorisierung, 22–23 bezeichnet die Metaphorisierung „das Ineinanderschieben mehrerer Bedeutungsebenen und Konnotationen bei einem bestimmten Begriff. Absicht ist die Offenheit für verschiedene Formen der Bedeutungerweiterung ohne Negation des Konkreten wie beim Begriff der ,Spiritualisierung‘. Die ,Metaphorisierung muß nicht darauf festgelegt werden, dass sekundär ein Begriff von außen ausgeweitet wird, sondern kann dem Begriff von Haus aus mitschwingende Bedeutungen offenlegen bzw. explizieren“ (Hervorhebung von mir), s. zur Sache auch Janowski, Konfliktgespräche, 21–35; Liess, Weg des Lebens, 155–160 und Hartenstein, „Spiritualisierung“, 52–58. 24 Ps 26,7; 42,5; 50,14.23; 56,13; 69,31; 95,2; 100,1.4; 107,22; 116,7 und 147,7. 25 S. dazu Hermisson, Sprache, 37–41. 26 Vgl. Hermisson, Sprache, 37. Zu Ps 100,1.4 s. oben Anm. 11.

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

259

50,14.23 (+ tôdåh); 107,22 (+ zibªê tôdåh) und 116,17 (+ zæbaª tôdåh).27 Nehmen wir als Beispiel Ps 50.28 Dieser Psalm, der im Stil einer durch weisheitliche Elemente gebrochenen Gerichtsrede gehalten ist, gliedert sich in eine Theophanieschilderung (V. 1–6) und eine zweiteilige JHWH-Rede, die zum einen gegen ein falsches Opferverständnis (V. 7–15, zum Text s. oben 256) und zum anderen gegen konkrete Einzelvergehen (V. 16–21) gerichtet ist. Der Schluss V. 23, der zusammen mit V. 22 ebenfalls als JHWH-Rede stilisiert ist, fasst beide Teile zusammen, indem er in seiner ersten Hälfte V. 23aa bündelt, was in V. 7–15, und in seiner zweiten Hälfte V. 23ab.b bündelt, was in V. 16–21 gesagt wird: 22 23

„Erkennt doch dies, die ihr Gott vergesst, damit ich nicht zerreiße und niemand da ist, der rettet! Wer Dank (tôdåh) opfert (zåbaª), ehrt mich, und wer auf den Weg achtet,29 den lasse ich sehen die Rettung Gottes.“

Wie die beiden Partizipialwendungen zobeaª tôdåh „wer eine tôdåh opfert“ und ¬åm dæræk „wer auf den Weg achtet“ zeigen, sind das Opfern der tôdåh und das Achten auf den Weg Handlungskorrelate, die das Gott/Mensch- und das Mensch/Mensch-Verhältnis umfassend, nämlich bezogen auf Kult und Ethik, beschreiben. Die Opferkritik von Ps 50,7–15 hat, wenn man sie mit derjenigen von Ps 40, 7–9; 51,18f und 69,31f30 vergleicht, eine eigene Aussageintention: Schlacht- und Brandopfer sind legitim, wenn sie im richtigen, und illegitim, wenn sie im falschen Verständnis vollzogen werden. Wie in Ps 51,20f geht es auch hier nicht um generelle Opferkritik, sondern um „eine Reform des Opferkultes auf dem Zion“31. II.

Texte und Themen

Ist die beschriebene Akzentverschiebung vom Kult zur Anthropologie bzw. Ethik nur eine Besonderheit von Ps 51,19; 119,108 und 141,2 oder lässt sie sich auch in anderen opferkritischen Psalmen feststellen? Wie wir sehen werden, ist diese Frage zu bejahen. 27 S. dazu auch Hermisson, Sprache, 34–37. 28 S. dazu Hossfeld / Zenger, Psalmen 1–50, 308–316 (Hossfeld), ferner Gese, Psalm 50, 149–169; Spieckermann, Rede Gottes, 157–173; Süssenbach, Psalter, 75– 87; Radebach-Huonker, Opferterminologie, 161–175 und Janowski, Buchreligion, 247–252. 29 ¬åm dæræk ist wohl Breviloquenz für ¬åm libbô ˛al dæræk, s. dazu die Sachparallelen in Ges18 1284–1285 s.v. ¬îm/¬ûm 4. 30 Zu diesen Texten s. oben 255f. 31 Hossfeld / Zenger, Psalmen 1–50, 310 (Hossfeld).

260

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

1.

„Deine Tora ist inmitten meiner Eingeweide“

a)

Die Opferkritik von Ps 40

Beginnen wir mit Ps 40, einem Danklied des Einzelnen, das – in ungewöhnlicher Reihenfolge – aus den drei Teilen Dank (V. 2–5), Bekenntnis (V. 6–11) und Klage und Bitte (V. 12–18) besteht.32 Sein Herzstück bildet der durch die Verkündigungsteile V. 6 und V. 10f gerahmte Passus V. 7–9 mit dem singulären Motiv der von JHWH gegrabenen Ohren. Denn dieses Motiv erklärt, wie es kommt, dass die Tora, von der bereits Ps 1,2 spricht, in das Innere des Beters gelangt und sich „inmitten seiner Eingeweide“ (V. 9) bzw. „inmitten seines Herzens“ (V. 11) befindet – nämlich über die Ohren, denen die Funktion des Hörens und Vernehmens/Gehorchens zukommt: 6

Zahlreich gemacht hast du, du, JHWH, mein Gott, deine Wundertaten und deine Pläne für uns!33 Nichts ist dir gleichzustellen! Wollte ich (davon) erzählen und reden – (zu) viele sind es, um (sie) aufzuzählen.

7

7 Äußerer Kult An Schlachtopfer und Speisopfer hast du kein Gefallen (ªåpa‚) – Ohren Ohren hast du mir gegraben (kåråh), Brandopfer und Sündopfer hast du nicht verlangt Einst sprach ich: „Siehe, ich komme, in der Buchrolle ist mir vorgeschrieben!“34

8

9

10

Dein Wohlgefallen (rå‚ôn) zu tun,35 mein Gott, habe ich Gefallen (ªåpa‚), und deine Tora (ist) inmitten meiner Eingeweide (me˛îm). Ich verkündigte Gerechtigkeit in großer Versammlung.

9 Innerer Mensch Eingeweide

32 S. dazu Hossfeld / Zenger, Psalmen 1–50, 252–257 (Zenger) und zuletzt Bremer, Armentheologie, 360–363. 33 Oder „in Bezug auf uns“. 34 Möglicherweise ist mit der Präpositionalverbindung l[ btk gemeint, dass der Beter in der Buchrolle (dem Dtn?) liest und in dem Geschriebenen den geoffenbarten Gotteswillen als die für sein Leben verbindliche Norm erkennt und anerkennt (V. 9a), vgl. zur Formulierung 2 Kön 22,13 und Braulik, Psalm 40, 15–18.149–154. Anders z.B. Oeming, Psalm 1–41, 217–222, der V. 7 ungenau übersetzt („doch das Gehör hast du mir eingepflanzt“, 219) und für V. 8 annimmt, „dass der Beter eine kleine Rolle im Tempel deponiert, auf der seine eigene Biographie knapp aufgezeichnet ist“ (220) – was reine Phantasie ist. 35 Oder: „Das, was dir wohl gefällt, zu tun, mein Gott, habe ich Gefallen“.

261

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

11

Siehe, meine Lippen halte ich nicht zurück JHWH, du, du weißt es! Deine Gerechtigkeit verbarg ich nicht inmitten meines Herzens. Von deiner Beständigkeit und Rettung sprach ich, nicht verhehlte ich deine Güte und Wahrheit der großen Versammlung.

Lippen

Herz

Charakteristisch für diesen Text ist zum einen die Semantik des „Grabens“ der Ohren (Subj. Gott), des „nicht Verschließens“ der Lippen (Subj. Mensch) bzw. des Erbarmens (Subj. Gott) und des „nicht Verbergens“ der Gerechtigkeit/Güte/Wahrheit (Subj. Mensch), durch die die Unmittelbarkeit der Gott/Mensch-Beziehung zum Ausdruck gebracht wird: 7ab Ohren hast du mir gegraben 10ab Siehe, meine Lippen halte ich nicht zurück 11aa Deine Gerechtigkeit verbarg ich nicht in meinem Herzen 11b nicht verhehlte ich deine Güte und Wahrheit der großen Versammlung 12a Du, JHWH, du mögest nicht zurückhalten dein Erbarmen36 vor mir 12b deine Güte und Wahrheit mögen mich beständig bewahren

kåråh kålå∞ ksh pi. kªd pi. kålå∞ nå‚ar

Zum anderen rahmen die in V. 7 aufgezählten Opfer, die den gesamten Opferkult repräsentieren sollen, die zentrale Wendung „graben“ (kåråh) + „Ohren“ (∞åznajim V. 7),37 die sich im Alten Testament nur hier findet38 und schöpfungstheologisch zu verstehen sein dürfte:39 durch das „Graben“ der Ohren übereignet der Schöpfer dem Men36 Nach Grohmann, Fruchtbarkeit, 129–130 dürfte mit dem Verschließen seines Erbarmens (raªamîm) an einen „konkreten Körperteil Gottes“, nämlich an seinen „Mutterleib“ (ræªæm) gedacht sein, vgl. auch Ps 77,10 und dazu 125–130. 37 kåråh ist ein handwerklich konnotiertes Verb, das nicht „durchbohren“ (so viele Ausleger), sondern „graben“ bedeutet (Grube, Brunnen, Zisterne, Grab), s. dazu Schunck, kåråh, 320 und Radebach-Huonker, Opferterminologie, 101. 38 In Ps 94,9 wird JHWH als der prädiziert, „der das Ohr pflanzt (n†˛ Ptz. q. m. Sg.)“ und „der das Auge bildet (j‚r Ptz. q. m. Sg.)“, vgl. Spr 20,12. 39 Vgl. Radebach-Huonker, Opferterminologie, 101 und Kumpmann, Schöpfen, 83. Vom „Öffnen“ (wb3) der Ohren ist auch in spätägyptischen Schöpfungshymnen die Rede, s. etwa den Großen Chnum-Hymnus aus Esna, wo es vom Schöpfergott Chnum heißt: „er hat die Augen (sc. des erschaffenen Menschen) geweitet / und die Ohren geöffnet, / hat den Körper Luft atmen lassen / und den Mund zum Essen geschaffen“ (Kolumne 9–10), s. dazu Knigge, Lob der Schöpfung, 299.

262

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

schen die Fähigkeit, auf seine Tora zu hören und nach ihr zu handeln und damit seiner schöpfungsgemäßen Bestimmung zu entsprechen – oder sich zu verschließen und sie damit zu verfehlen. Das gerade tut der Beter aber nicht (V. 10f).40 Im Gegenteil: die Tora befindet sich in seinen „Eingeweiden“ (me˛îm), also dort, wo nach Jer 4,19; Ps 22,15 und Klgl 1,20 (jeweils in Verbindung mit leb „Herz“) das Zentrum der menschlichen Person lokalisiert wird: Mein Inneres (me˛îm), mein Inneres (me˛îm), ich winde mich, Wände meines Herzens! Es tobt mir mein Herz, ich kann nicht schweigen! Denn den Schall des Horns ‹hörst du›, meine næpæç, den Lärm des Krieges. (Jer 4,19)41 Wie Wasser bin ich ausgegossen, und getrennt haben sich alle meine Gebeine. Geworden ist mein Herz wie Wachs, zerfließend in meinem Inneren (me˛îm). (Ps 22,15)42 Siehe, JHWH, wie bang mir ist, meine Eingeweide (me˛îm) glühen, umgestülpt ist mein Herz in meinem Inneren (qæræb), da ich widerspenstig trotze. Draußen hat das Schwert kinderlos gemacht, im Haus gleicht es dem Tod. (Klgl 1,20)

Die alttestamentliche Zentralstelle für die Vorstellung von der Tora im Herzen ist aber der deuteronomistische Text Jer 31,31–34. Hier ist die Rede vom „neuen Bund“ (berît ªadåçåh), der nicht wie der Bund sein wird, den JHWH mit den Vätern geschlossen hat, um sie aus Ägypten herauszuführen: … sondern folgender Art wird der Bund sein, den ich mit dem Haus Israel schneiden (schließen) werde nach jenen Tagen, Spruch JHWHs: Ich werde meine Weisung (tôråh) in ihr Inneres (qæræb) geben, und auf ihr Herz werde ich sie schreiben, und ich werde ihnen Gott sein, und sie werden mir Volk sein. (Jer 31,33) 40 Da V. 10f ausführen, was in V. 9 gesagt wird, bedeutet das „Tun nach deinem Wohlgefallen“ (V. 9a), „dass der Beter Jahwe (durch ein Loblied) die Ehre gibt. Dieses Loblied wäre dann wie die Opfer lr‚wn“ (Hermisson, 45). 41 Zu diesem Text s. Janowski, Herz, 11. Zu me˛îm „Eingeweide, Inneres“ s. noch Ringgren, Art. me˛îm, 1036–1038 und Smith, Herz, 171 Anm. 1. 42 S. dazu Bester, Körperbilder, 165–201.

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

263

Dieser Text ist im Alten Testament ohne Parallele, denn der einzige, der handelt, ist JHWH, während Israel ohne Initiative ist. Der neue Bund „wird/kann überhaupt nicht mehr gebrochen werden, weder vom Volk noch von einzelnen seiner Glieder, da die Tora zwar kollektive Verpflichtung beleibt (in die Mitte Israels geben), aber individuell verinnerlicht wird (auf das Herz jedes einzelnen Mitglieds Israels geschrieben). Die Berit ist so vollständig Gnaden-Berit, dass sie sich gegen alle denkbaren Widerstände durchsetzt“43. JHWH greift also in die schöpfungsmäßige Konstitution der Israeliten ein und „behebt den Konstruktionsfehler seiner Ägypten-Berit, indem er nicht die Bedingungen, sondern den Adressaten der Berit im Herzen verändert. Deswegen ist diese Berit tatsächlich etwas völlig Neues, eine neue Berit“44.

Im Blick auf diese Änderung des Herzens spricht W. Groß im Anschluss an Th. Krüger von einer „Implantations-Perspektive“45. Ganz anders Ps 40,7–9, wonach der Beter tut, was JHWH wohlgefällt: nämlich nicht Opfer darzubringen (V. 7), sondern nach der Tora zu handeln, die in seinen Eingeweiden ist. Es ist also nicht vordergründige Opferkritik, die sich in diesem Text niederschlägt, sondern – wie der einleitende Dank für Rettung aus Todesgefahr (V. 2–5) verdeutlicht – „die auf dem Boden der tiefgründigen Dankopferfrömmigkeit gewachsene volle Einbeziehung des Menschen in das Wesen des Opfers“46. Wenn das „Wesen des Opfers“ der Glaube Israels war, dass JHWH seinem Volk nahekommt und der Kult der Ort ist, wo dies sinnfällig wird, so wird dieser Sinn durch die kultkritischen Psalmen transformiert. Angewendet auf Ps 40: Die hörende und tätige Hinwendung des Menschen zu Gott (V. 7aa.9a), dessen Tora in seinen Eingeweiden ist (V. 9b), ist als solche „die ,Opfergabe‘, mit der der Beter für seine Rettung danken will.“47

43 Groß, Zukunft, 151. 44 Groß, Zukunft, 151–152. 45 Groß, Zukunft, 151, vgl. Krüger, Herz, 128. 46 Gese, Herkunft des Herrenmahls, 121. 47 Hossfeld / Zenger, Psalm 1–50, 256 (Zenger), vgl. Braulik, Psalm 40, 136: „Vor allem wird in [Ps 40 ] V.9 der … priesterliche Anrechungsterminus rå‚ôn ganz bewusst uminterpretiert: das Danklied, nein mehr noch: das kerygmatisch ausgerichtete Bekenntnis des Psalmisten, ist anstelle der Dankopfer zum rå‚ôn geworden. So ist es nun der Sänger selbst, der rå‚ôn vollbringt (˛sh). Diese Umdeutung findet ihre Fortsetzung in der Feststellung, dass der Beter daran ,Gefallen‘ hat (ªåpa‚tî), während in der Kultsprache dies stets von Jahwe ausgesagt wird (vgl. V. 7).“

264 b)

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

Ps 1,1–3 als Bezugstext

Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Es will nämlich beachtet sein, dass bereits das Eingangsportal des Psalters (Ps 1–2) von einer vergleichbaren Hinwendung des Menschen zu Gott spricht, wenn in Ps 1, 1–3 der Gerechte glücklich gepriesen wird, der sein Gefallen (ªepæ‚) an der Tora JHWHs hat und diese bei Tag und bei Nacht rezitiert (hågåh):48 1 Glücklich der Mann, der nicht gegangen ist nach dem Rat von Frevlern und den Weg von Sündern nicht betreten hat, und am Sitz(platz) von Spöttern nicht gesessen hat, 2 sondern der an der Weisung (tôråh) JHWHs sein Gefallen (ªepæ‚) hat und seine Weisung rezitiert bei Tag und bei Nacht. 3 Er wird sein wie ein Baum, gepflanzt an Wasserkanälen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und dessen Laub nicht verwelkt. Und alles, was er tut, wird gelingen.

Das Verb hågåh „murmeln, sinnen, nachdenken“ bedeutet, dass der Gerechte die Tora halblaut liest, das Gelesene hört und sich auf diese Weise regelrecht ,einverleibt‘. Im Unterschied zum stillen, nur im Kopf stattfindenden ist das halblaute Lesen ein identifizierendes Lesen, das den ganzen Menschen mit dem Text der Weisung JHWHs durchtränkt und sättigt: „Es ist das besinnliche Lesen gemeint, das sich das Wort mit leiser Unterstützung der Stimme einprägt, das laute Nachdenken, das nichts überhören möchte; in ein einziges Wort lässt sich sein innerer Sinn wohl nur fassen mit Hilfe des mittelalterlichen meditari. Wir sind zu schnell aus auf neue Gedanken, statt dass wir uns das Wort selber halblaut lesend so vorsagen, dass wir es in unser Herz beharrlich hineinbewegen … auf solches meditierende, halblaute Lesen, das nur dem eigenen Herzen das Wort zu Gehör bringen möchte, werden wir hier verwiesen. Es scheint das regelmäßige Kennzeichen eines hungrigen, fruchtbaren Umgangs mit der Heiligen Schrift zu sein.“49

Ebenso wie der Gerechte von Ps 1,2 findet auch der Beter von Ps 40,9

48 S. dazu Hartenstein / Janowski, Psalmen, 19–40 (Janowski). 49 Wolff, Wegweisung, 143–144. Zu hågåh s. Hartenstein / Janowski, Psalmen, 10.26–27 (Janowski).

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

265

„sein Gefallen (ªp‚) im Tun dessen, was Gott selbst gefällt (r‚n). Dadurch wird der ,persönliche‘ Aspekt der Tora unterstrichen. Die Beobachtung des Gesetzes wird als eine Sache des Herzens empfunden, als Ausdruck der liebenden Beziehung zweier Personen“50.

Der Zusammenhang von Ps 1,2 und Ps 40,9 ist deshalb bedeutsam, weil damit eine Verbindung zwischen dem Proömium Ps 1–2 und dem Schluss des ersten Davidpsalters Ps 3–41 geknüpft wird.51 Zu beachten ist nämlich außer dem intertextuellen Bezug zwischen Ps 1 und Ps 37,30f52 der Sachverhalt, dass der ∞açrê-Formel in Ps 1–2 und im 1. Davidpsalter strukturelle Bedeutung zukommt53, schematisch: Proömium Ps 1–2

1. Davidpsalter Ps 3–41

Ps 1,1 Ps 2,12

Ps 40,5 Ps 41,2

Glücklich der Mann, der nicht gegangen ist nach dem Rat von Frevlern, und nicht den Weg von Sündern betreten hat, und am Sitz(platz) von Spöttern nicht gesessen hat. (Ps 1,1) Glücklich alle, die sich in ihm (sc. JHWH) bergen. (Ps 2,12) Glücklich der Mann, der auf JHWH sein Vertrauen gesetzt und sich nicht gewandt hat zu den Stolzen und treulosen Lügnern. (Ps 40,5) Glücklich, wer auf den Geringen achtet: am Tag des Unheils wird JHWH ihn retten. (Ps 41,2)

Jetzt wird klar, worin der Sinn der ,Einverleibung‘ der Tora (Ps 1,2) und ihrer ,Verinnerlichung‘ (Ps 40,9) besteht: darin, die problematischen Situationen zu bewältigen, denen der Beter auf seinem Lebensweg begegnet und die er, wie Ps 3–41 zeigt, nur im Vertrauen auf JHWHs Tora bestehen kann. Es ist diese Form des unmittelbaren, bis in die Leiblichkeit (Ohren, Eingeweide, Lippen, Herz Ps 40,7.9. 10f) reichenden Gottesbezugs, die die kultkritischen Psalmen von der 50 Barbiero, Psalmenbuch, 53. 51 S. dazu Janowski, Tempel, 289–296. 52 „Der Mund des Gerechten wird Weisheit rezitieren, und seine Zunge wird Recht/Gerechtigkeit sprechen. / Die Weisung seines Gottes ist in seinem Herzen, nicht werden wanken seine Schritte“ (Ps 37,30f, mit Hervorhebung der Ps 1 entsprechenden Lexeme und Wendungen). 53 S. dazu Hartenstein / Janowski, Psalmen, 23 (Janowski), ferner zur Verknüpfung von Ps 40 mit Ps 41 Bremer, Armentheologie, 360–367.

266

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

prophetischen Kultkritik unterscheidet und sie zu besonderen Zeugnissen einer persönlichen Frömmigkeit macht. Dieser Perspektive ist auch Ps 51, ebenfalls ein locus classicus der alttestamentlichen Opferkritik, verpflichtet. 2.

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

a)

Die Opferkritik von Ps 51

Ps 51, der zusammen mit Ps 6; 32; 37; 102; 130 und 143 zu den sieben kirchlichen Bußpsalmen gehört54 und der nach seiner berühmten Eingangsformulierung Miserere mei Deus „Erbarm dich meiner, Gott!“ (V. 3 Vulgata) als „Miserere“ bezeichnet wird, stellt ein nachexilisches Bittgebet (F. Sedlmeier: „Bußgebet“) eines einzelnen mit sekundärer biographischer Überschrift (V. 1f) und zionstheologischer Fortschreibung (V. 20f) dar.55 Im Anschluss an H. Irsigler56 lässt sich sein Aufbau wie folgt skizzieren: 1–2

Biographische Überschrift (vgl. 2 Sam 11,27b–12,15a)

3–4

Thema: Invocatio und einleitende Bitte um Reinigung

5–14 Durchführung des Themas 5–8 Erkenntnis und Bekenntnis der Sünde Persönliche Verfehlung 5–6 Reflexion über die Schuld 7–8 9–14 Bitten um Vergebung und Neuschöpfung 9–11 Entsündigung/Vergebung 12–14 Erneuerung/Neuschöpfung 54 S. dazu Zenger, Bußpsalmen, 839–840. Zu Ps 51 s. zuletzt Hartenstein, Gott, 503–509; Wagner, Psalm 51, 33–69; Sedlmeier, „Im Geheimen“, 109–138; Markter, Psalm 51, 139–148 und Neuber, „Neues Herz“, 149–158. Zu seiner Rezeption in Liturgie, Musik und Literatur s. die Beiträge in Helms / Körndle / Sedlmeier (Hg.), Miserere. 55 Zur Gattung von Ps 51 s. zuletzt Sedlmeier, „Im Geheimen“, 110–119. 56 S. dazu Irsigler, Neuer Mensch, 296–297 (mit Diskussion alternativer Gliederungsvorschläge), vgl. Hartenstein, Gott, 504–506, anders Hossfeld / Zenger, Psalmen 51–100, 45–48 (Zenger) und Sedlmeier, „Im Geheimen“, 116–119, die aufgrund der verwendeten Lexeme folgendermaßen gliedern: V. 3–11, V. 12–19 und V. 20f. Sedlmeier postuliert dabei eine Rahmung von V. 5–8 durch die Abschnitte V. 3f und V. 9–11, die außer durch das Vokabular (Sündentermini und Bitten um Reinigung) auch aufgrund der Inklusio mit dem Stichwort måªåh „abwischen“ (V. 3.11) aufeinander bezogen seien. Man kann aber in V. 9–11 auch eine Inklusio zwischen V. 9 und V. 11 mit seinen je zwei Verben für Vergebung und Reinigung sehen und diesen Passus als eigenen, V. 9–14 eröffnenden Bittteil verstehen. Dafür spricht auch der lexematische Zusammenhang von V. 10f und V. 13f (jeweils „Wonne“ und „Angesicht“).

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

15–19

Qualitäten des ,neuen Menschen‘ Gelübde zur Weitergabe der Erkenntnis 15 16–17 Bitte um Rettung und Lobgelübde 18–19 Opferkritische Begründung

20–21

Zionstheologische Fortschreibung

267

Während das Sündenbekenntnis in den Individualpsalmen auffallend zurücktritt – dominant sind hier vielmehr die (An-)Klage und die Unschuldsbeteuerung57 –, tritt es in Ps 51,3–14 beherrschend in den Vordergrund: Thema: Invocatio und einleitende Bitte um Reinigung 3 Sei mir gnädig, Gott, nach deiner Güte, nach der Fülle deiner Barmherzigkeit wisch ab meine Verbrechen! 4 Wasche mich ganz rein von meiner Verkehrtheit, und von meiner Verfehlung reinige mich!

Erkenntnis und Bekenntnis der Sünde 5 Denn meine Verbrechen – ich, ich erkenne (sie), und meine Verfehlung ist beständig vor mir. 6 An dir allein habe ich gesündigt (ªå†å∞), und das Böse in deinen Augen habe ich getan, so dass/damit58 du dich als gerecht erweist in deinem Reden, makellos in deinem Richten. 7 Siehe, in Schuld wurde ich in Wehen geboren, und in Verfehlung hat mich empfangen meine Mutter. 8 Siehe, an Wahrheit hast du Gefallen im Innersten (†uªôt), und im Geheimen (såtum) lässt du mich Weisheit erkennen.

Bitten um Vergebung und Neuschöpfung 9 10 11 12 13

Entsündige mich mit Ysop, dass ich rein werde, wasche mich, dass ich weißer werde als Schnee! Lass mich hören Wonne und Freude, es sollen jauchzen die Gebeine, die du zerschlagen hast! Verbirg dein Angesicht vor meinen Verfehlungen, und alle meine Verkehrtheiten wisch ab! Ein reines Herz erschaffe mir, Gott, und einen beständigen Geist erneuere in meinem Inneren! Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und deinen heiligen Geist nimm nicht von mir!

57 S. dazu Janowski, Konfliktgespräche, 39–46. 58 Zur konsekutiven oder finalen Auffassung s. die Hinweise bei Sedlmeier, „Im Geheimen“, 124 Anm. 68.

268

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

14

Bring mir zurück die Wonne deiner Rettung, und mit einem willigen Geist sollst du mich stützen!

Dieser erste Teil des Psalms wird in V. 3f mit einem eindringlichen Appell an den Gott eröffnet, der sich nach Ex 34,6f als barmherziger und gnädiger Gott vorgestellt hat, der Verkehrtheit, Verbrechen und Vergehen vergibt, aber den Sünder nicht aus der Haftung für sein Tun entlässt: 6 7

JHWH zog vor ihm (sc. Mose) vorüber und rief: JHWH, JHWH, ein barmherziger und gnädiger Gott, langsam zum Zorn und reich an Güte und Treue: der Güte bewahrt den Tausenden, der Verkehrtheit, Verbrechen und Verfehlung vergibt, aber (den Sünder) gewiss nicht aus der Haftung entlässt, der Rechenschaft einfordert bezüglich der Verkehrtheit der Väter an den Söhnen und Enkeln, an der dritten und vierten Generation.59

Durch die drei Verben „ab-/wegwischen“ (måªåh), „waschen“ (kbs pi.) und „reinigen“ (†hr pi.), mit denen in Ps 51,3f (vgl. V. 9–11) um die Reinigung von der Sünde gebeten wird, wird diese als ,Schmutz‘ qualifiziert, der den Menschen von innen her verunreinigt. Die Opposition von rein und unrein ist Ausdruck eines komplexen, auf die symbolische Ordnung der Wirklichkeit ausgerichteten Systems, das eine eigene Logik besitzt60 und auch im Alten Testament eine zentrale Rolle spielt. In Ps 51,9 (Ysop // Waschung) ist allerdings nicht (mehr) von einem konkreten Reinigungsritus die Rede, vielmehr wird mit Hilfe kultischer Begrifflichkeit von einer Unreinheit und ihrer Beseitigung gesprochen, die in die Tiefen menschlicher Existenz hinabreicht.61 Diese Tiefendimension ergibt sich vor allem aus V. 5–8. Denn hier hält sich der Beter – nicht aus eigener Einsicht, sondern angeleitet durch die Gabe der unverfügbaren Wahrheit und Weisheit Gottes (V. 8)62 – seine Sünde(n) vor Augen und bekennt, dass er nicht gegen dies 59 Zu diesem Text s. Janowski, Gott, 156–158. 60 S. dazu die klassische Darstellung von Douglas, Reinheit und Gefährdung. 61 S. dazu Irsigler, Neuer Mensch, 297–300.310–311. Zur Reinigung mit Ysop s. Lev 14,1–9; Num 19,14–19 u.ö. 62 Zum rätselhaften V. 8 s. die eindringlichen Analysen Sedlmeiers: „Die Gott wohlgefällige ,Wahrheit … im Verborgenen‘ und die von ihm ,im Geheimen‘ kundgetane ,Weisheit‘ bestünden demnach darin, die vom Wesen her sündige Existenz des Menschen als solche wahrzunehmen. Die Wahrheit ist die des Sünderseins, die Weisheit besteht darin, diese Einsicht als Gegebenheit zu realisieren“ (135) – und damit den entscheidenden Schritt zu einer „lebensvolle(n) Perspektive für die Zukunft“ („Im Geheimen“, 136) zu tun.

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

269

und das, sondern allein an Gott gesündigt hat (V. 6, vgl. 2 Sam 12,13). Was er dabei erkennt, nämlich seine eigene Fehlbarkeit, ist schwerwiegend. Sie kommt „aus einer rätselhaften Tiefe seiner menschlichen Existenz“63 und bestimmt diese von Anfang an. Das zeigt die Rede von Geburt und Empfängnis (V. 7), die deutlich macht, dass er Teil einer sozialen Gemeinschaft ist, in die er hineingeboren wird, in der er lebt und von der er sich als handelnde Person nicht dispensieren kann. Die menschliche Schulderfahrung gründet in Unheilszusammenhängen, die täglich aufbrechen können und die eine überindividuelle Dimension haben. Das meint das Symbol der Geburt: „Wir haben kein Recht, über das bereits vorfindliche Böse außerhalb des Bösen, das wir setzen, zu spekulieren. Hier liegt zweifellos das letzte Geheimnis der Sünde: Wir beginnen das Böse, durch uns kommt es in die Welt, aber wir beginnen es von einem bereits vorhandenen Bösen aus, wofür unsere Geburt das undurchdringliche Symbol bildet.“64

Nur eine fundamentale Neubestimmung kann dem Sünder eine neue Sicht auf sein Leben eröffnen. Diese Neubestimmung wird in V. 12– 14 mit Hilfe der Verben bårå∞ „erschaffen“ und ªdç pi. „neu machen“ als Neuschöpfung qualifiziert. Sie ist keine Wiedererlangung einer ehemals vorhandenen Reinheit, sondern eine „bleibende Verwandlung“65 des sündigen Menschen, die durch einen kreativen Akt Gottes in dessen Personzentrum, nämlich in seinem „Herzen“ (leb V. 12a.19b) und in seinem „Geist“ (rûaª V. 12b.13b.14b.19a) geschieht. Dieser Sachverhalt lässt sich durch einen Vergleich mit Ez 36,24–28 noch vertiefen. b)

Ez 36,24–28 als Vergleichstext

Während das Herz als Sitz der Gefühle, des Verstandes und des Willens das Zentralorgan des Menschen ist,66 ist der Geist, wie vor allem Ez 11,19f und 36,24–28 zeigen,67 die Quelle der von Gott geschenkten Lebenskraft: 63 Zenger, Erbsündentheologie, 16, vgl. 21. Es geht hier nicht um „Erbsünde“ im traditionellen Sinn, sondern um „eine von Anfang an gegebene Schuldverhaftung als allgemeine Sündhaftigkeit von den Anfängen menschlicher Existenz her“ (Irsigler, Neuer Mensch, 307), also um eine überindividuelle Schuldverstrickung vom Lebensbeginn an, s. dazu auch Hossfeld / Zenger, Psalmen 51–100, 51–52 (Zenger) und Sedlmeier, „Im Geheimen“, 126 Anm. 74. 64 Ricœur, Erbsünde, 161, vgl. Hartensein, Gott, 507. 65 Irsigler, Neuer Mensch, 310, vgl. Hossfeld / Zenger, Psalmen 51–100, 50. 66 S. dazu Seebass, næpæç, 531–555 und Janowski, Herz, 1–45. 67 Zu diesen beiden Texten s. Hossfeld / Zenger, Psalmen 51–100, 52–53; Krüger, Herz, 127–132; Irsigler, Neuer Mensch, 312–313; Sedlmeier, Transformationen,

270

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

Neuer Exodus 24

Ich nehme euch heraus aus den Völkern, und ich sammle euch aus allen Ländern und bringe euch in euer Land.

Anthropologische Transformationen 25 26

Und ich sprenge über euch reines Wasser und ihr werdet rein sein. Von allen euren Unreinheiten und von allen euren Götzen werde ich euch rein machen. Und ich gebe euch ein neues Herz, und einen neuen Geist gebe ich in euer Inneres (qæræb). Und ich entferne das Herz von Stein aus eurem Fleisch und gebe euch ein Herz von Fleisch.

Geistgabe Gottes und Tun Israels 27

Und meinen Geist gebe ich in euer Inneres (qæræb), und ich mache, dass ihr in meinen Satzungen wandelt und meine Rechtsentscheide bewahrt und sie tut.

Konsequenz 28

Dann werdet ihr in dem Land wohnen, das ich euren Vätern gegeben habe, und ihr werdet mir zum Volk, ich werde euch zum Gott. (Ez 36,24–28)

Es ist ein Grundzug ezechielischer Anthropologie, die Herzensverhärtung Israels mit Hilfe der Wendungen „verhärtetes Herz“ (qeçê-leb Ez 3,7, vgl. Ez 2,4) und „das Herz aus Stein“ (leb hå∞æbæn Ez 11,19; 36,26) zu beschreiben68 und darin die Abkehr von JHWH und die eigene Verlorenheit wahrzunehmen.69 Bei dieser Diagnose bleibt das Ezechielbuch aber nicht stehen. Vielmehr geht es ihm um die Überwindung dieser lebensfeindlichen Verhärtung, die „nur in der Konfrontation mit dem lebensgebenden und Leben einfordernden Gott im Gericht geschehen (kann)“70. Im göttlichen Gericht geschieht beides: die Konfrontation mit der bisherigen Existenz („Herz aus Stein“), die als „Zerbrechen“ qualifiziert wird (Ez 6,9),71 und zugleich die fundamentale Erneuerung des Menschen, wie sie in Ez 11,14–21; 16,59– 63; 20,39–44; 36,16–28 und 37,1–14.15–28 thematisiert wird. Das neue Heilshandeln Gottes, das nach Ez 36,28 sachlich in einen neuen Bund mit 219–230; ders., Ezechiel 25–48, 197–200; Markter, Transformationen, 420–523 und ders., Psalm 51, 139–148. 68 S. dazu Sedlmeier, Transformationen, 205–210 und Markter, Transformationen, 330–340. 69 S. dazu Sedlmeier, Transformationen, 230–233. 70 Sedlmeier, Transformationen, 231. 71 S. dazu Sedlmeier, Transformationen, 211–212.

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

271

Israel mündet (zweigliedrige Bundesformel),72 wird nach Ez 36,25–27 zum einen durch anthropologische Transformationen – „neues Herz“ und „neuer Geist“ vs. „Herz aus Stein“ (V. 25f) – und zum anderen durch den Geist Gottes herbeigeführt, den dieser in das „Innere“ (qæræb) des JHWH-Volkes gibt (V. 27), so dass es zu einem Leben nach der Weisung Gottes befähigt wird.73 Es ist allein Gott, der diese Transformation von Herz und Geist durch die Gabe seines Geistes bewirkt.74

Ein ähnlicher Transformationsprozess geschieht in Ps 51,9–15. Gegenüber seiner Vorlage Ez 36,25–27 geht dieser Text allerdings einen Schritt weiter, indem er nicht vom göttlichen „Geben“ (nåtan) des neuen Herzens (// des neuen Geistes) in das Innere des Menschen (Ez 36,26), sondern vom „Erschaffen“ (bårå∞) des reinen Herzens durch Gott spricht (Ps 51,12) und damit den Übergang von einer Transformations- zu einer Neuschöpfungsaussage vollzieht:75 12 13 14

Ein reines Herz (leb †åhôr) erschaffe (bårå∞) mir, Gott, und einen beständigen Geist (rûaª nåkôn) erneuere (ªdç pi.) in meinem Inneren (qæræb)! Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und deinen heiligen Geist (rûaª qådçekåh) nimm nicht von mir! Bring mir zurück die Wonne deiner Rettung, und mit einem willigen Geist (rûaª nedîbåh) sollst du mich stützen!

Beide, Herz und Geist, sollen nach Ps 51,12 „rein“ und „neu“ werden, damit der Beter das mit dem Herzen Erkannte zuverlässig („beständiger Geist“ V. 12b) und hingebungsvoll („williger Geist“ V. 14b) tun kann.76 Das ist aber nur möglich, weil und sofern Gott sein Angesicht nicht vom Beter abwendet (V. 13a) und seinen „heiligen Geist“ nicht von ihm wegnimmt (V. 13b), sondern die „Wonne“ seiner Rettung zu ihm „zurückbringt“ (çûb hif. V. 14a) – obwohl der Beter um seine 72 Begrifflich ist vom „neuen Bund“ nur in Jer 31,31 die Rede. 73 S. dazu Sedlmeier, Transformationen, 230, vgl. ders., Ezechiel 25–48, 204– 205. 74 Nach Th. Krüger, F. Sedlmeier, A. Klein und F. Markter setzt der späte Text Ez 36,24–28 die Aussagen von Ez 11,9f und Ez 18,31 sowie von Jer 32,37–41 und Jer 31,31–34 voraus (s. dazu zusammenfassend Markter, Transformationen, 506–518) und zeigt mit seiner Formulierung „Herz aus Fleisch“ (vs. „Herz aus Stein“ V. 26) an, „dass dieses Herz keinen Fremdkörper mehr darstellt, sondern den Menschen mit sich selbst eins sein lässt und ihn empfänglich macht für die Lebensweisung JHWHs“ (Sedlmeier, Ezechiel 25–48, 204), vgl. Markter, Psalm 51, 145–147. 75 Vgl. Markter Psalm 51, 142–144. Zu bårå∞ in Ps 51,19 s. noch Hartenstein, Gott, 508 und Klein, Schriftauslegung, 108–109. 76 Vgl. Hossfeld / Zenger, Psalmen 51–100, 53 und Markter, Psalm 51, 145. Zum Wortfeld „reines Herz“ s. Fabry, leb, 443–444.

272

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

Fehlbarkeit weiß.77 Das ist paradox! „Wir spüren“, kommentiert H. Irsigler treffend, „die Spannung zwischen der Vorstellung von Verlierbarkeit heilvoller Erfahrung und intentionaler Endgültigkeit der Neuschöpfung durch Gott“78. Die Dringlichkeit, mit der in V. 12 um die „Beständigkeit“ des Geistes gebeten wird, macht diese Spannung unübersehbar. Wenn man auf den Gebetsprozess des ersten Teils zurückblickt, wird deutlich, dass sich das, was Ps 51 unter Neuschöpfung versteht, nicht von selbst einstellt. Es bedarf der Erkenntnis und Anerkenntnis der eigenen Sünde. Das aber gehört zum Schwersten. Niemand ist aus sich allein zu solcher Erkenntnis fähig, sie bedarf des Anstoßes von außen, der – wie der Beter von Ps 51 weiß – von Gott kommt: „Siehe, an Wahrheit hast du Gefallen im Innersten, und im Geheimen lässt du mich Weisheit erkennen“ (V. 8). Und weil der Beter um diese Initiative Gottes weiß und sie zu erleben hofft, setzt er im zweiten Teil mit einem Gelübde (V. 15) und nochmaligen Bitten (V. 16f) ein: 15 16 17

Ich will lehren Verbrecher deine Wege, dass Sünder zu dir zurückkehren. Errette mich aus Blutschuld, Gott, Gott meiner Rettung, dass meine Zunge juble über deine Gerechtigkeit(stat)! Herr, meine Lippen sollst du öffnen, so wird mein Mund verkünden dein Lob!

Hier geht es nicht um eine äußerliche Belehrung der Sünder, sondern um eine werbende Einsicht in die „Wege“ Gottes, wie sie der Beter selbst gewinnt und die auch die Sünder zu Gott „zurückkehren“ lassen kann (çûb qal, vgl. V. 14a: çûb hif.). Solche Einsicht, die vor einer todbringenden Gefahr („Blutschuld“ V. 16a)79 warnt, macht frei und drängt zum jubelnden Gotteslob (V. 16b.17). Dieses wird in V. 18f opfertheologisch begründet. Es ist aber, wie die auf die Metaphorik der „zerschlagenen Gebeine“ (dkh nif. + ˛a‚åmôt V. 10)80 zurückgreifende Formulierung in V. 19 zeigt, ein Opfer sui generis: 77 Vgl. Hartenstein, Gott, 507. 78 Irsigler, Neuer Mensch, 314. 79 Mit dieser „Blutschuld“ ist nach Irsigler, Neuer Mensch, 315–316 die drohende Schuld am Tod des Sünders gemeint, den der Beter durch seine Lehre (lmd pi.) zu JHWH zurückführen will, s. zur Sache auch Hossfeld / Zenger, Psalmen 51–100, 41. 80 Im Hintergrund dieser Metaphorik dürfte Ezechiels Vision von den Menschengebeinen stehen, die die Ebene füllen (Ez 37,1–14) und die „die Sphäre und Macht des Todes (repräsentieren), die durch persönlich bewusste Sünde und durch menschliche Existenz von Anfang an prägende Sündigkeit und Schuldverflechtung heraufbeschworen wird“ (Irsigler, Neuer Mensch, 307), s. zur Sache auch Fuhs, dåkåh, 219–220 und vor allem Klein, Schriftauslegung, 109, derzufolge „die Position von Ps

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

18 19

273

Denn ein Schlachtopfer gefällt dir nicht (lo∞ ªåpa‚), und gebe ich ein Brandopfer – du hast kein Wohlgefallen (daran) (lo∞ rå‚åh), ‹Mein› Schlachtopfer, Gott, ist ein zerbrochener Geist (rûaª niçbåråh), ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz (leb niçbår wenidkæh), Gott, verachtest du nicht (lo∞ båzåh).81

Die vom Beter ersehnte und durch Reinigung von seiner Sünde geschenkte Neuschöpfung seiner Person – dafür stehen die anthropologischen Grundbegriffe „Herz“ und „Geist“ – kommt nur durch ein ,Zerbrechen‘ seiner bisherigen Existenz zustande. Dieses Motiv des zerbrochenen Herzens, das eine Metapher für die „Gebrochenheit“ menschlicher Existenz ist, gewinnt in nachexilischen Texten zunehmend an Bedeutung. Entscheidend ist dabei, dass Gott gegen oder für Israel handelt, dass er also zerbricht oder heilt bzw. sich zuwendet: – Gott zerbricht das Herz: Ez 6,9, vgl. Jer 23,9 (Klage Jeremias über den eigenen Zusammenbruch: „zerbrochenes Herz“ // „zitternde Gebeine“) – Gott heilt/belebt die zerbrochenen/zerschlagenen Herzen: Jes 57,15; 61,1; Ps 147,3 – Gott wendet sich den zerbrochenen Herzen wieder zu: Ps 34,19, vgl. Ps 51,19 (er verachtet nicht das zerbrochene Herz) Erhellend für das Verständnis dieses Motivs ist ein Vergleich von Ez 6,9 mit Ps 51,19. Nach Ez 6,8–1082 wird das abtrünnige Israel im Gericht mit seinem eigenen Versagen konfrontiert und dadurch bis auf den Grund erschüttert: 8

Und ich lasse einen Rest übrig: Wenn von euch dann dem Schwert Entronnene unter den Völkern sind, wenn ihr in die Länder zerstreut seid,

51,10 vor der Auslegung von Ez 36,26f in Ps 51,12–14 … es … wahrscheinlich (macht), dass in diesem Vers eine Anspielung auf Ez 37.11–14 vorliegt“. 81 Die zionstheologische Fortschreibung V. 20f spricht demgegenüber von „Schlachtopfern der Gerechtigkeit“, an denen JHWH Wohlgefallen haben wird, s. dazu Janowski, Buchreligion, 251–252 und Neuber, „Neues Herz“, 149–158. Neuber stellt im Anschluss an E. Zenger zu Recht fest, dass es zwischen der individuellen Perspektive von Ps 51,3–19 und der kollektiven Perspektive von Ps 51,20f keinen Bruch, sondern vielmehr einen Zusammenhang gibt, denn „die durch die Sündenvergebung neugeschaffenen Menschen sind … ,Idealbewohner‘ des ,neuen‘ Jerusalem. Und umgekehrt gilt: Die Erneuerung des Zion … beginnt mit der Neuschöpfung seiner Bewohner“ (Hossfeld / Zenger, Psalmen 51–100, 56 [Zenger]), vgl. RadebachHuonker, Opferterminologie, 202–203 und Neuber, „Neues Herz“, 157. 82 S. dazu Sedlmeier, Transformationen, 211–212.

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dann werden eure Entronnenen meiner gedenken unter den Völkern, wohin sie weggeführt wurden; sie, denen ich ihr hurendes Herz (leb hazzônæh) zerbrach (çåbar, s. BHS), das gewichen ist weg von mir, und ihre Augen, die hinter ihren Götzen herhurten, und sie werden sich ekeln vor sich selbst wegen all des Bösen, das sie getan haben. Dann werden sie erkennen, dass ich, JHWH, nicht umsonst geredet habe, ihnen dieses Böse zu tun.

Das Ausmaß der Erschütterung über das eigene Tun kommt in Israels Ekel vor sich selbst zum Ausdruck (qû† nif. „sich ekeln“ + bipnêhæm „in/mit eurem Angesicht“ V. 9, vgl. Ez 20,43; 36,31).83 Von einem solchen Selbstekel ist in Ps 51,19 dagegen nicht die Rede, sondern von der Wende zu einem neuen Heil, die ihre anthropologische Verankerung im „zerbrochenen und zerschlagenen Herzen“ (// „zerbrochener Geist“) hat, das JHWH nicht „verachtet“ (lo∞ båzåh)84 und damit den Beter in seinem Personsein heilt.

Wie „gebrochen“ die eigene Existenz ist, hat der sich Beter in seiner Reflexion über die fundamentale Fehlbarkeit des Menschen vergegenwärtigt (V. 7) und körperlich in der Zerschlagung seiner Gebeine (V. 10) erfahren. So entspricht nach Ps 51 der im Personzentrum (Herz und Geist) vollzogenen Selbsthingabe des Beters an Gott die radikale Neuschöpfung durch Gott, der diese Hingabe nicht verachtet (V. 19). Die Voraussetzung dafür sind die Erkenntnis und das Bekenntnis der Sünde (V. 5f), die ihm die Möglichkeit eines wahren Lebens coram Deo (vgl. V. 8) vor Augen gestellt haben. III.

Zusammenfassung

Die Transformation des Opfers, die in den opferkritischen Psalmen zu Tage tritt, ist, wie unsere Überlegungen deutlich machen wollten, von grundsätzlicher Bedeutung. Denn obwohl die relevanten Texte zahlenmäßig überschaubar sind, beziehen sie sich auf das Herzstück des altisraelitischen Kults, das tierische Opfer.85 Neben Aussagen mit genereller Opferkritik (Ps 40,7–9; 51,18; 69,31f) stehen dabei Aussagen, die – mit und ohne opferkritischen Hintergrund – ein metaphorisches Verständnis nahelegen (Ps 50,14.23; 51,19; 119,108; 141,2). 83 Nach Jenni, Präposition Beth, 255 ist das Kontaktobjekt pånîm „nicht der Körperteil ,Angesicht‘, sondern ein stark verallgemeinerter Begriff für ,Selbst‘“. Da der Körperbegriff pånîm aber immer das mimische Ausdrucks- und das soziale Kommunikationsvermögen bezeichnet (s. dazu Janowski, Herz, 4–5), dient er auch hier zum Ausdruck der (negativen) Selbstwahrnehmung, so dass zwischen Körperteil und funktionalem Bedeutungsaspekt ein enger Zusammenhang besteht. Ausgelöst wird dieser Selbstekel dadurch, dass die Davongekommenen an JHWH „denken“ (V. 9) und so die Schwere des Geschehenen „erkennen“ können (V. 10). 84 S. dazu Görg, båzåh, 585. 85 S. dazu Janowski, Aspekte, 173–203.

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

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Worin besteht deren Aussageintention, und wie ist die Gesamtentwicklung zu beschreiben? 1.

Die Transformation des Opfers

Trotz terminologischer Gemeinsamkeiten zwischen der prophetischen Kultkritik (Am 5,*21–24.27; Hos 6,6; Jes 1,10–17; Mi 6,6–8; Mal 1,6–29 u.a.) und der Opferkritik der Psalmen86 fallen die Unterschiede zwischen ihnen deutlich ins Auge. Denn während in der prophetischen Opferkritik alles Gewicht auf der Antithese von Kult und Ethik liegt,87 führt die Opferkritik der Psalmen, auch dort wo sie grundsätzlich formuliert wird, nicht zu einem Auszug aus dem Kult, sondern vielmehr zu einer Integration opferkritischer Aspekte in den Kult.88 Das veränderte offenbar auch den Kult, der „in diese neuen Welten des Menschen mit hineingenommen wird“89. Die Opferkritik der Psalmen enthält danach zwei aufeinander bezogene Aspekte: die Integration opferkritischer Aspekte in den Kult und die Veränderung des Kults durch die Anthropologie. Bezeichnend dafür ist zum einen der Topos der von JHWH gegrabenen Ohren (Ps 40,7–9), die der Tora den Weg ins Innere des Beters weisen (V. 9). Durch das „Graben“ der Ohren übereignet der Schöpfer dem Menschen die Fähigkeit, auf seine Tora zu hören und nach ihr zu handeln und damit seiner schöpfungsgemäßen Bestimmung zu entsprechen. Die hörende und tätige Hinwendung des Menschen zu Gott (Ps 40,7aa.9a), dessen Tora in seinen Eingeweiden ist, ist als solche „die ,Opfergabe‘, mit der der Beter für seine Rettung danken will.“90 Signifikant ist zum anderen das Motiv des zerbrochenen Herzens/Geistes, das in nachexilischen Texten zunehmend an Bedeutung gewinnt (Jes 57,15; 61,1; Jer 23,9; Ez 6,9; Ps 34,19; 51,19; 147,3) und eine Metapher für die „Gebrochenheit“ der menschlichen Existenz ist. Diese Gebrochenheit hat sich der Beter nach Ps 51 grundlegend vergegenwärtigt (V. 7) und körperlich in der Zerschlagung seiner Gebeine (V. 10) erfahren. Gott aber wird, so bittet er, sich in einem Akt radikaler Neuschöpfung seinem Geschöpf wieder zuwen86 Die terminologischen Gemeinsamkeiten betreffen besonders die Anrechnungstermini, s. dazu die Hinweise bei Radebach-Huonker, Opferterminologie, 224 mit Anm. 6; 225 mit Anm. 8. Zur prophetischen Kultkritik s. die Hinweise oben Anm. 9. 87 Das bedeutet allerdings nicht, dass in den opferkritischen Psalmen kein ethisches Verhalten thematisiert wird, vgl. Radebach-Huonker, Opferterminologie, 227 Anm. 12. Dagegen spricht nicht nur die Wendung zibªê ‚ædæq (s. dazu oben Anm. 12), sondern auch ein Text wie Ps 50,23. 88 Vgl. Radebach-Huonker, Opferterminologie, 228.230.233.235–236 u.ö. 89 Hermisson, Sprache, 151. 90 Hossfeld / Zenger, Psalm 1–50, 256 (Zenger).

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„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“

den, indem er ihm ein „reines Herz“ und einen „beständigen Geist“ schafft (V. 12–14) und ihn so für eine unverstellte Gottesbeziehung öffnet, die kein Opfer und kein Kult gewähren kann. 2.

Die Theologie des Herzens

Die Gründe für diesen, auf eine anthropologische Vertiefung der Gott/Mensch-Beziehung zielenden Transformationsprozess sind vielfältig. Sie dürften zum einen in der nachexilischen Toda-Frömmigkeit zu sehen sein, die die Möglichkeit einer direkten, nicht durch einen Priester vermittelten Gott/Mensch-Beziehung eröffnete (Ps 50, 14f.23). Zum anderen ist die thematische Linie zu beachten, die von Dtn 6,4f, dem Schlüsseltext für die Verinnerlichung der Gottesbeziehung – „Höre Israel, du sollst JHWH, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deinem ganzen Verlangen und mit deiner ganzen Kraft“91 –, ausgeht und über die spätprophetischen Texte Jer 32,37– 41; 31,31–34 (dtr); Ez 36,24–28; Ez 11,19f u.a. bis zu den opferkritischen Psalmen Ps 40,7–9; 51,18f führt.92 Allerdings haben diese Texte ein unterschiedliches Profil. Während Jer 31,31–34 eine „Implantations-Perspektive“ (JHWH gibt seine Tora in das Innere Israels und schreibt sie auf sein Herz)93 und Ez 36,24–28 eine „Transformations-Perspektive“ einnimmt (JHWH gibt ein „neues Herz“ und einen „neuen Geist“ in das Innere Israels),94 vertritt Ps 51,9–14 das Konzept einer radikalen Neuschöpfung, der zufolge JHWH dem Beter eine „reines Herz“ und einen „beständigen Geist“ erschafft (bårå∞).95 Die Neuschöpfung des Menschen, um die der Beter von Ps 51, 12–14 bittet, ist etwas anderes als die Transformation des Herzens, von der Ez 36,26f spricht. Denn nach Ez 36,26f überführt Gott das „Herz aus Stein“ in den Zustand eines „Herzens aus Fleisch“,96 das als „neues Herz“ (// „neuer Geist“) von nun an handlungsleitend sein wird (V. 27b). Demgegenüber „schafft“ (bårå∞) er es nach Ps 51,12 neu, womit „die Diskontinuität von JHWHs Handeln zum bisher existierenden Herzen betont (wird)“97. Das „reine Herz“ (// „beständiger 91 S. dazu Janowski, Herz, 6–9. 92 S. dazu Krüger, Herz, 127–132 und Klein, Schriftauslegung, 109–110. 93 S. dazu oben 262f. 94 S. dazu oben 269ff. 95 S. dazu oben 271f. 96 S. dazu Markter, Psalm 51, 145: „sûr (,entfernen‘) im Hifil ist in diesem Kontext (sc. von Ez 36,26b) auf die Entfernung des steinernen Herzens bezogen, welches JHWH – durch nåtan ausgedrükt – in einen fleischernen Zustand transformiert, ohne das Herz selbst auszutauschen. Es findet eine Transformation, nicht Transplantation statt“, s. dazu auch 145 Anm. 15. 97 Markter, Psalm 51, 143.

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Geist“) ist wirklich neu und nicht einfach aus dem alten Herzen hervorgegangen und darum auch dauerhaft zur unverstellten Gottesbeziehung fähig. Diese Theologie des Herzens ist ein Höhepunkt biblischer Theologie und Anthropologie, wie nicht zuletzt ihre überaus reiche Wirkungsgeschichte zeigt.98 3.

Die Lebensordnung der Tora

Der beschriebene Transformationsprozess gehört schließlich in den Kontext der werdenden Buch- oder Schriftreligion und bringt ein theologisches Sachanliegen zum Ausdruck. Was das Werden der Buch- oder Schriftreligion angeht, so ist festzuhalten, dass das alte Israel nicht mit der Exilszeit, also gleichsam ,über Nacht‘, von einer „Kultreligion“ zu einer „Buchreligion“ mutierte, sondern beide Religionsformen in unterschiedlicher Ausprägung ab dem Ende des 7. Jh.s v.Chr.99 über einen langen Zeitraum nebeneinander existierten, bis mit der Zerstörung des 2. Tempels im Jahr 70 n.Chr. „das Schriftstudium, zumindest funktional gesehen, an die Stelle des Tempelkults (trat)“100. Wie das Beispiel von Ps 1, der weit vor 70 n.Chr. entstanden ist, zeigt, ist das Lesen der Tora der Inbegriff einer Lebensform, bei der die Schrift an die Stelle des Kults tritt und den so existierenden Menschen von innen her bestimmt (Ps 40,9). Aufgrund seiner Spitzenstellung am Beginn des 1. Davidpsalters gibt Ps 1 zusammen mit Ps 2 darüber hinaus einen programmatischen Hinweis, der in Ps 40 und 41 konkretisiert und in den Feindschilderungen des 1. Davidpsalters (Ps 3–41) detailliert ausgestaltet wird. So bekommt man den „Eindruck, daß zwischen Anfang und Ende des 1. Psalmenbuches ein theologisches Itinerar dargestellt wird“101, zu dem Ps 1 die Tür aufstößt. Alles Weitere ist in diesem Licht zu lesen. Anders gesagt: Innerhalb des Rahmens von Ps 1–2 und 40–41 spielt das 1. Psalmenbuch „verschiedene typische und theologisch ,problematische‘ Lebenslagen durch und führt … den Leser ein in die conditio humana in mundo coram deo in stereotypen Wechselfällen (,Grundsituationen‘) des Lebens“102. Es 98 S. dazu die Beiträge in Helms / Körndle / Sedlmeier (Hg.), Miserere. 99 D.h. mit dem Deuteronomium in der Rezeption der Buchauffindungslegende in 2 Kön 22f. Zu Recht betont Schmid, Kanon, 526–527, dass man „im 7. Jh. v. Chr. noch keineswegs von einer Schriftreligion im antiken Israel sprechen (kann), sondern erst von Ansätzen dazu. Das Deuteronomium ist eine Urkunde, die den Kult nicht ersetzen, sondern reformieren, nämlich monopolisieren und zentralisieren will“ (Hervorhebung im Original). 100 Ders., Literaturgeschichte, 218. 101 Barbiero, Psalmenbuch, 62 102 Leuenberger, Konzeptionen, 102, vgl. Hossfeld / Zenger, Psalm 1–50, 12–14.

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war diese für den Psalter charakteristische „Triebfeder der Innerlichkeit“103, die den Prozess der Transformation des Opfers vorantrieb und entscheidend zu einem neuen, die zukünftige Entwicklung prägenden Lebensgefühl beitrug. Literatur Auffarth, Chr., Religion nach dem Opfer. Stolperstein der europäischen Religionsgeschichte, BThZ 33 (2016) 39–54 Barbiero, G., Das erste Psalmenbuch. Eine synchrone Analyse von Psalm 1–41 (ÖBS 1), Frankfurt a.M. 1999 Bester, D., Körperbilder in den Psalmen. Studien zu Ps 22 und verwandten Texten (FAT II/24), Tübingen 2007 Braulik, G., Psalm 40 und der Gottesknecht (fzb 18), Würzburg 1975 Bremer, J., Wo Gott sich auf die Armen einlässt. Der sozio-ökonomische Hintergrund der achämenidischen Provinz Yehûd und seine Implikationen für die Armentheologie des Psalters (BBB 174), Göttingen 2016 Douglas, M., Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Berlin 1985 Ernst, A.B., Weisheitliche Kultkritik. Zu Theologie und Ethik des Sprüchebuchs und der Prophetie des 8. Jahrhunderts (BThSt 23), NeukirchenVluyn 1994 Fabry, H.-J., Art. leb/lebåb, ThWAT 4 (1984) 413–451 Fuhs, H.F., Art. dåkåh usw., ThWAT 2 (1977) 207–221 Gese, H., Die Herkunft des Herrenmahls, in: ders., Zur biblischen Theologie. Alttestamentliche Vorträge, Tübingen 1983, 107–127 –, Psalm 50 und das alttestamentliche Gesetzesverständnis, in: ders., Alttestamentliche Studien, Tübingen 1991, 149–169 Görg, M., Art. båzåh usw., ThWAT 1 (1973) 580–585 Groß, W., Zukunft für Israel. Alttestamentliche Bundeskonzepte und die aktuelle Debatte um den Neuen Bund (SBS 176), Stuttgart 1998 Hartenstein, F., Gott als Horizont des Menschen. Nachprophetische Anthropologie in Psalm 51 und 139, in: Die unwiderstehliche Wahrheit. Studien zur alttestamentlichen Prophetie, FS A. Meinhold (ABG 23), hg. von R.Lux / E.-J. Waschke, Leipzig 2006, 491–512 –, „Spiritualisierung“ oder „Metaphorisierung“? Zur Erforschung der Transformation von Kultbegriffen in den Psalmen, VF 56 (2011) 52–58 – / Janowski, B., Psalmen, (BK XV/1,1), Neukirchen-Vluyn 2012 Helms, D. / Körndle, F. / Sedlmeier, F. (Hg.), Miserere mei, Deus. Psalm 51 in Bibel und Liturgie, in Musik und Literatur, Würzburg 2015 Hermisson, H.-J., Sprache und Ritus im altisraelitischen Kult. Zur „Spiritualisierung“ der Kultbegriffe im Alten Testament (WMANT 19), Neukirchen-Vluyn 1965 103 Stroumsa, Ende des Opferkults, 24, s. zur Sache auch die Hinweise oben Anm. 2.

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V Gottesbild und Lebenswelt

Die „Übernachtung“ der Gerechtigkeit Zum Gottes- und Menschenbild von Jes 1,21–26 O. Keel zum 80. Geburtstag Es ist eine bekannte, aber nicht immer hinreichend beachtete Tatsache, dass die prophetischen Überlieferungen des Alten Testaments voll von Vergleichen und Metaphern sind.1 Das gilt nicht nur für die Visionsberichte, sondern auch für die Gerichtsworte und andere prophetische Redeformen.2 Eine besondere Metaphorik, die aufschlussreich für das jesajanische Gottes- und Menschenbild ist, liegt in dem Gerichtswort Jes 1,21–26 vor. Es enthält in V. 21 ein ebenso eindrückliches wie singuläres Sprachbild, dem im Folgenden unsere Aufmerksamkeit gilt. I.

Zur Komposition von Jes 1,21–26

Das Jesajabuch beginnt in Jes 1,2–2,5 mit einer Ouvertüre, die zusammen mit einer zweiten Ouvertüre in Jes 2,6–4,6 offenbar auf eine nachexilische Redaktion zurückgeht.3 Beide Ouvertüren enthalten eine explizite „Zion-Zentrierung“4, die im weiteren Buchverlauf nicht nur immer dominanter wird, sondern die auch der ursprünglichen Vi1 Die folgenden Überlegungen, die mündlich in Umrissen erstmals im Jahr 2000 auf einer Tagung der „Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger katholischer AlttestamentlerInnen“ (AGAT) in St. Gabriel/Mödling vorgetragen wurden, sind vom Jubilar inzwischen zustimmend rezipiert worden, s. O. Keel, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus, Teil 1–2, Göttingen 2007, 279. Ich freue mich, sie nun endlich publizieren und ihm als Geburtstagsgeschenk überreichen zu können. Ich verbinde meine Gabe mit herzlichen Geburtstagsgrüßen und vor allem mit einem großen Dank für alles, was O. Keel der Alttestamentlichen Wissenschaft mit seinen überragenden Arbeiten geschenkt hat. 2 S. dazu C. Westermann, Vergleiche und Gleichnis im Alten und Neuen Testament, Stuttgart 1984, 25ff; H. Weippert / K. Seybold / M. Weippert, Beiträge zur prophetischen Bildsprache in Israel und Assyrien (OBO 64), Freiburg, Schweiz / Göttingen 1985; B. Seifert, Metaphorisches Reden von Gott im Hoseabuch (FRLANT 166), Göttingen 1996; P. van Hecke (ed.), Metaphor in the Hebrew Bible (BEThL 187), Leuven / Paris / Dudley, MA 2005 u.a. 3 S. dazu W.A.M. Beuken, Jesaja 1–12 (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien 2003, 30ff und U. Berges / W. Beuken, Das Buch Jesaja. Eine Einführung (UTB), Göttingen 2016, 50ff. Anders E. Blum, Jesajas prophetisches Testament. Beobachtungen zu Jes 1–11, ZAW 108 (1996) 547–568 (Teil I); ZAW 109 (1997) 12–29 (Teil II), demzufolge der historische Jesaja sein „prophetisches Vermächtnis“ Jes *1,21–11,5 selbst zusammengestellt hat. 4 Beuken, Jesaja 1–12 (s. Anm. 3), 36.

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sion der sog. „Denkschrift Jesajas“ (Jes *6,1–8,18) entspricht. Im Kontext der ersten Ouvertüre Jes 1,2–2,5 wird in Jes 1,21–26 das Thema eingeführt, das „die ethische Botschaft des gesamten Buches auf einen Nenner bringt: ,Recht und Gerechtigkeit‘ (mçp† / ‚dq[h])“5 und anhand einer kunstvollen Ringkomposition entfaltet: Schuldaufweis 21 22 23

Wie ist zur Dirne geworden die treue Stadt, erfüllt mit Recht, Gerechtigkeit übernachtete6 in ihr – jetzt aber Mörder! Dein Silber wurde zur Bleiglätte, dein Wein7 ist gepantscht mit Wasser! Deine Führer sind Aufrührer und Kumpane von Dieben, jeder liebt Bestechung und jagt Geschenken nach. Der Waise verhelfen sie nicht zum Recht, und der Rechtsstreit der Witwe gelangt nicht zu ihnen.

JHWH-Spruchformel 24a Darum – Spruch des Herrn JHWH Zebaoth, des Starken Israels:

Gerichtsankündigung 24b „Wehe, ich werde mich letzen an meinen Widersachern und mich rächen an meinen Feinden! 25 Und werde meine Hand gegen dich kehren, und ich werde mit Pottasche deine Bleiglätte läutern und entfernen alle deine Schlacken. 26 Ich werde deine Richter machen wie zur ersten Zeit und deine Ratgeber wie zu Anbeginn. Danach wird man dich nennen ,Stadt des Rechts, treue Stadt‘.“8

Wie vielfach gesehen worden ist, sind der Schuldaufweis V. 21–23 und die Gerichtsankündigung V. 24b–26 chiastisch in dreifacher Ent5 Beuken, Jesaja 1–12 (s. Anm. 3), 82, dort auch die weiteren Belege für miçpå† und ‚ædæq/‚edåqåh im Jesajabuch, s. zur Sache auch J. Jeremias, Theologie des Alten Testaments (GAT 6), Göttingen 2015, 154ff. 6 Das Imperfekt jålîn bezeichnet eine wiederholte oder andauernde Handlung der Vergangenheit, s. dazu auch H.G.M. Williamson, Isaiah 1–27, Vol. 1 (ICC), London / New York 2006, 121 (mit weiteren Hinweisen). 7 Oder: „Weizenbier“ (?), s. dazu D. Kellermann, Art. Bier, BRL2, 48f und Williamson, Isaiah 1–27 (s. Anm. 6), 121. 8 Zur Textkritik s. bes. Williamson, Isaiah 1–27 (s. Anm. 6), 120ff, ferner J. Eck, Jesaja 1 – eine Exegese der Eröffnung des Jesaja-Buches (BZAW 473), Berlin / Boston 2015, 24f.

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sprechung (A / B / C // C’ / B’ / A’) mit der JHWH-Spruchformel in V. 24a als Spiegelachse aufeinander bezogen:9 21–23 A 21 B 22 C 23 24a

Schuldaufweis (Prophetenrede) Korruption der früher „treuen Stadt“ (qîr næ∞æmånåh) Metaphorik: unreines Metall / gepanschter Wein Korrupte Beamte und ihr Tun JHWH-Spruchformel als Spiegelachse (eingeleitet durch låken)

24b–26 Gerichtsankündigung (Gottesrede) C’ 24b Heimsuchung der Widersacher und Feinde JHWHs B’ 25 Metaphorik: reinigendes Ausschmelzen des Metalls A’ 26 Restitution Jerusalems zur „treuen Stadt“ (qîr næ∞æmånåh)

Der Tenor dieses chiastisch-konzentrisch aufgebauten Gerichtsworts10 ist eindeutig: Thema ist eine – ehemals treue – Frau / Stadt (Jerusalem),11 die aufgrund der Korruptheit ihrer Beamtenschaft zur „Dirne“ geworden ist (V. 21–23) und die durch ein Läuterungsgericht JHWHs wieder zu einer treuen Stadt werden soll (V. 24b–26). Der Text lebt nicht nur von der Metaphorik des wertlos gewordenen Metalls bzw. Weins (V. 22), das gereinigt werden soll (V. 25ab.b), sondern auch von der Gegenüberstellung von Einst und Jetzt, wie sie in V. 21 anklingt und in V. 26 konkretisiert wird.12 Die Frage ist allerdings, was in diesem Zusammenhang das prägnante Verb lîn (V. 21) bedeuten soll: „übernachten, die Nacht verbringen, nächtigen“ oder „wohnen, weilen, bleiben“? Für die Beantwortung dieser Frage ist, wie wir sehen werden, nicht zuletzt der Kontext von Jes 1,21–26 zu beachten. 9 S. dazu außer den Kommentaren besonders W. Dietrich, Jesaja und die Politik (BEvTh 74), München 1976, 40ff u.ö.; Chr. Hardmeier, Texttheorie und biblische Exegese. Zur rhetorischen Funktion der Trauermetaphorik in der Prophetie (BEvTh 79), München 1978, 348ff; Blum, Testament I (s. Anm. 3), 563 Anm. 74; U. Berges, Das Buch Jesaja. Komposition und Endgestalt (HBS 16), Freiburg / Basel / Wien 1998, 68ff; O.H. Steck, Zur konzentrischen Anlage von Jes 1,21–26, in: Auf den Spuren der schriftgelehrten Weisen (FS J. Marböck) (BZAW 331), hg. von I. Fischer u.a., Berlin / New York 2003, 97–103; Beuken, Jesaja 1–12 (s. Anm. 3), 81; K. Schmid, Jesaja 1–23 (ZBK.AT 19/1), Zürich 2011, 57f u.a. 10 Zur Frage der Gattung s. Hardmeier, Texttheorie (s. Anm. 9), 350ff. 11 Zur Personifikation Jerusalems als Frau s. den Überblick bei Chr. Maier, Die Biographie der heiligen Stadt. Jerusalem im Wandel der alttestamentlichen Überlieferungen, EvTh 70 (2010) 165–179 und M. Wischnowsky, Die Tochter Zion. Aufnahme und Überwindung des Stadtklage in den Prophetenschriften des Alten Testaments (WMANT 89), Neukirchen-Vluyn 2001. 12 Vgl. Beuken, Jesaja 1–12 (s. Anm. 3), 82. Anders, jedoch nicht überzeugend, Steck, Anlage (s. Anm. 9), 98.

288

Die „Übernachtung“ der Gerechtigkeit

II.

Zur Bedeutung von lîn in Jes 1,21

1.

„Wohnen“ oder „übernachten“?

Wenn man von der hebräischen Lexikographie ausgeht, wie sie in den großen Wörterbüchern DCH, Ges18 und HAL dokumentiert ist, so ist für das Verb lîn die Bedeutung „übernachten, die Nacht verbringen, nächtigen“ anzusetzen.13 Bei Jes 1,21 entscheiden sich viele Ausleger offenbar aufgrund des unpersönlichen Subjekts „Gerechtigkeit“ (‚ædæq)14 allerdings für die Übersetzung „wohnen, weilen, bleiben“. Hier eine kleine Auswahl: – – – – –

„darin Gerechtigkeit weilte“15 „wo Gerechtigkeit wohnte“16 „wherein righteousness abode“17 „Righteousness lodged in her“18 „die Gerechtigkeit war dort zu Hause“19

Obwohl lîn mit „wohnen“ übersetzt wird, kann es auch im Sinn von „nächtigen“ verstanden werden, so etwa bei O. Procksch20. Für die Übersetzung „übernachten, die Nacht verbringen, nächtigen“ entscheiden sich dagegen folgende Ausleger: 13 S. dazu DCH 4 (1998) 543f; Ges18 608f und HAL 502f jeweils s.v. lîn, ferner E.B. Oikonomou, Art. lîn usw., ThWAT 4 (1984) 562–567. Allerdings entscheiden sich DCH 543 sv. lîn qal 3; Ges18 608 s.v. lîn qal 3b und HAL 503 s.v. lîn qal 3 im Blick auf Jes 1,21 für die Übersetzung „wohnen, bleiben“. 14 Im Unterschied zu ‚edåqåh „Gerechtigkeit(stat)“ (nomen unitatis) bezeichnet ‚ædæq „Gerechtigkeit“ die Gerechtigkeitsnorm (nomen collectivum), s. dazu D. Michel, Art. Gerechtigkeit I, NBL 1 (1995) 795–798.801, hier: 796 und Jeremias, Theologie (s. Anm. 5), 155f. 15 A. Dillmann, Der Prophet Jesaja (KEH V), Leipzig 51898, 14, vgl. B. Duhm, Das Buch Jesaja (HK III/1), Göttingen 1892 / 51968, 33. 16 K. Marti, Das Buch Jesaja (KHC X), Tübingen 1900, 17 mit dem Kommentar: „und die Gerechtigkeit in ihr eine Heimat habe; jålîn ist das sog. durative Imperf. = wo Gerechtigkeit zu wohnen pflegte, wo sie eine Heimat hatte, Tag und Nacht wohnte“, vgl. O. Kaiser, Der Prophet Jesaja. Kapitel 1–12 (ATD 17), Göttingen 51981, 52; Beuken, Jesaja 1–12 (s. Anm. 3), 64; H. Wildberger, Jesaja 1–12 (BK X/1), Neukirchen-Vluyn 1972, 55 und Hardmeier, Texttheorie (s. Anm. 9), 349. 17 G.B. Gray, The Book of Isaiah, Vol. I (ICC), Edinburg 1928, 31 mit dem Kommentar: „Sion, once the home of righteousness“. 18 R.E. Clements, Isaiah 1–39 (NCBC), Grand Rapids / MI 1980, 35f, vgl. J.D.W. Watts, Isaiah 1–33 (WBC 24), Waco, TX 1985, 13 und Williamson, Isaiah 1–27 (s. Anm. 6), 120.136. 19 R. Kilian, Jesaja 1–12 (NEB 17), Würzburg 1986, 26. 20 O. Procksch, Jesaja, Bd. 1 (KAT IX/1), Leipzig 1930, 44 („wo Gerechtigkeit wohnte“) mit dem Kommentar: „Daß Gerechtigkeit in Zion nächtigte – lîn ist aus ljl differenziert –, deutet auf ihre bleibende Wohnung (cf. Impf. jljn), aus der sie nachts nicht flüchtig weiter zog.“

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– – – – –

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„in welcher Gerechtigkeit übernachtet“21 „in der die Gerechtigkeit nächtigte“22 „‚dq nächtigt in ihr“23 „Gerechtigkeit übernachtete in ihr“24 „in der Gerechtigkeit nächtigte“25

Es gibt m.E. keinen Grund, für lîn in Jes 1,21 die konkrete Bedeutung „übernachten, die Nacht verbringen, nächtigen“ zu umgehen und stattdessen auf die Übersetzung „wohnen, weilen, bleiben“ auszuweichen. Dass man auch anders, nämlich mit çåkan („sich niederlassen, wohnen“) oder jåçab („sich setzen/sitzen, bleiben, wohnen“) hätte formulieren können, zeigt Jes 32,16: Das Recht sich wird in der Wüste niederlassen (çåkan), und die Gerechtigkeit wird im Baumgarten wohnen (jåçab).

So wird in Jes 1,21 aber nicht formuliert. Es ist allerdings die Frage, was die „Übernachtung“ der Gerechtigkeit bedeuten soll und vor allem, ob sich diese Übersetzung plausibel machen lässt. Dazu zwei Hinweise: ein grammatischer (2a) und ein motivlicher (2b–c). 2.

Zum Hintergrund des Übernachtungsmotivs

a)

Das Syntagma lîn + Subj. ‚ædæq „Gerechtigkeit“

Zunächst einmal ist es nicht ungewöhnlich, dass, wie in Jes 1,21, ein Sachbegriff wie „Gerechtigkeit“ (‚ædæq) als Subjekt eines Verbs mit einer konkreten Bedeutung („übernachten“) fungiert. In der Regel 21 F. Delitzsch, Jesaja (BC), Gießen / Basel 51984, 26. 22 G. Fohrer, Das Buch Jesaja 1–23 (ZBK 19/1), Zürich / Stuttgart 1966, 41, vgl. P. Höffken, Das Buch Jesaja 1–39 (NSKAT 18/1), Stuttgart 1993, 43 mit dem Kommentar: „Die Stadt war durch das Erfülltsein mit ,Recht‘ im Sinne von Rechtsentscheid / Gerichtswesen bestimmt gewesen, so dass fast mythisch vom Nächtigen der ,Gerechtigkeit‘ (bzw. ursprünglich vielleicht des Gottes ,Gerechtigkeit‘) in ihr gesprochen werden kann.“ 23 Steck, Jes 1,21–26 (s. Anm. 9), 101 mit dem Kommentar: „Die Aussage könnte mit einer sexuell konnotierten Nächtigung von ‚dq (als Person) bei der Stadt zusammenhängen; er schenkt ihr Leben (Recht), die korrupten Beamten mit ihrem rechtvernichtenden Treiben V.23 aber nehmen es ihr und heißen deshalb Mörder. Oder man könnte in Betracht ziehen, dass die Behandlung der Stadt durch ihre Beamten (V.21.23) als Vergewaltigung der Stadt/Frau verstanden wird, weswegen die Täter mit r‚ª bezeichnet werden. Schließlich könnte man auch Einfluss der traditionellen Freveltrias ,stehlen – ehebrechen – töten‘ in Betracht ziehen, die durch die Aussage in V.21 (ehebrechen, Stadt als Dirne, Stadt und ‚dq) zusammen mit V.23 erreicht wird. Wie auch immer …“ – ja, wie auch immer! Überzeugend ist das leider nicht. 24 Schmid, Jesaja 1–23 (s. Anm. 9), 56, s. dazu auch im Folgenden. 25 Jeremias, Theologie (s. Anm. 5), 156.

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wird vom „Übernachten“ von Menschen und Tieren,26 nicht aber von Sachen gesprochen. Doch kann auch ein Sachbegriff Subjekt eines Verbs sein, das sonst in Verbindung mit Menschen und Tieren verwendet wird. In der Stilistik wird dieser Sachverhalt als „Personifikation“ bezeichnet, durch die Sachen / abstrakte Begriffe als lebende bzw. handelnde Personen dargestellt werden.27 Ein einschlägiges Beispiel ist Ps 85,11–14,28 wo die Verschränkung der beiden Dimensionen Gerechtigkeit und Segen anhand von vier personifizierten Heilsgrößen deutlich gemacht wird: 11 12 13 14

Güte (ªæsæd) und Wahrheit (∞æmæt) sind sich begegnet, Gerechtigkeit (‚ædæq) und Heil (çålôm) haben sich geküsst. Wahrheit (∞æmæt) sprosst aus der Erde hervor, und Gerechtigkeit (‚ædæq) blickt vom Himmel herab. Auch wird JHWH das Gute geben, und unser Land gibt seinen Ertrag. Gerechtigkeit (‚ædæq) geht vor ihm her, und folgt (?)29 der Spur seiner Schritte.

Das Thema dieses Passus ist das „geradezu gestalthafte ... Kommen Gottes“30. Es wird in das komplexe Bild eines ,Treffpunkts‘ von vier personifizierten Heilsgrößen gefasst, für den die Verschränkung einer vertikalen und einer horizontalen Dimension kennzeichnend ist. Nach der horizontalen Bewegung in V. 11 („sich begegnen“ // „sich küssen“) folgt in V. 12 eine vertikale Bewegung, wobei (menschliche) Wahrheit wie eine Pflanze aus der Erde emporsprosst und (göttliche) Gerechtigkeit wie die Sonne vom Himmel herabblickt. V. 13 legt demgegenüber die Metaphorik dieses umfassenden Heils auf den Ernteertrag aus (V. 13b), den JHWH als „das Gute“ gibt (V. 13a). Mit V. 14 kehrt der Text zur horizontalen, alle Bereiche der Wirklichkeit durchwaltenden Präsenz der Gerechtigkeit Gottes zurück, die vor ihm einhergeht und der Spur seiner Schritte folgt. Das Ziel der Aussage ist also „der doppelte Treffpunkt in der Präsenz Gottes“31. Doppelt ist 26 Zu den Belegen s. Ges18 608 s.v. lîn 1a–b. 27 S. dazu mit zahlreichen Beispielen E. König, Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die Biblische Litteratur (sic!), Leipzig 1900, 105ff, ferner W. Bühlmann / K. Scherer, Sprachliche Stilfiguren der Bibel, Gießen 21994, 75. 28 S. dazu auch B. Janowski, Die Frucht der Gerechtigkeit. Psalm 72 und die judäische Königsideologie, in: ders., Der Gott des Lebens. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 3, Neukirchen-Vluyn 2003, 157–197, hier: 190f. Weitere bekannte Beispiele sind Jes 5,14 („Die Scheol hat ihre Kehle weit geöffnet …“) oder Ps 96,11f („Der Himmel freue sich …“). 29 Zum Textproblem s. Janowski, Frucht (s. Anm. 28), 191 Anm. 172. 30 F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalmen 51–100 (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien 2000, 533 (Zenger). 31 K. Seybold, Psalmen (HAT I/15), Tübingen 1996, 336.

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er deswegen, weil es um die Präsenz Gottes im Himmel wie auf Erden geht und weil seine Gerechtigkeit die Natur und Gesellschaft durchwaltende und belebende Gestalt dieser Präsenz ist. Es ist also nichts Ungewöhnliches, dass die Gerechtigkeit nach Jes 1,21b in der treuen Stadt wie eine handelnde Person „übernachtete“. Eine Personifizierung liegt auch in Jes 1,21a vor, wenn es heißt, dass die treue Stadt zur „Dirne“ geworden ist.32 So ist der Vers von einer doppelten Personifikation geprägt: Personifikation I:

Treue Stadt = Dirne

a Wie ist zur Dirne (P) geworden die treue Stadt (S)

Personifikation II: „Übernachtung“ der Gerechtigkeit b erfüllt mit Recht (S), Gerechtigkeit (S) übernachtete (P) in ihr – jetzt aber Mörder (P)! Legende: P = Personbegriff bzw. auf Person bezogenes Verb, S = Sachbegriff

Aber warum wird die Präsenz der Gerechtigkeit in Jerusalem auf diese Weise, d.h. mit dem Verb lîn „übernachten“ ausgedrückt? b)

Das Gottesgericht über Sodom

Einen weiterführenden Hinweis geben sowohl die Konkordanz als auch der Kontext von Jes 1,21–26. Nach Auskunft der Konkordanz begegnet das Verb lîn „übernachten“ auch in Gen 19,2 (bis),33 d.h. zu Beginn der Erzählung von der Zerstörung Sodoms (Gen 19,*1–29).34 Diese Geschichte ist für unseren Zusammenhang deshalb von besonderem Interesse, weil es in ihr – in Fortsetzung des Zwiegesprächs Abrahams mit Gott in Gen 18,22–33!35 – ebenfalls um das Thema „Gerechtigkeit“ (vs. Ungerechtigkeit Gen 18,20; 19,7.15) geht. Zunächst setzt Gen 19 mit einem eindrücklichen Bild ein, das an die Eingangsszene von Gen 18,1–8 erinnert.36 Aber im Unterschied dazu 32 S. dazu Wischnowsky, Tochter Zion (s. Anm. 11), 146f; Beuken, Jesaja 1–12 (s. Anm. 3), 82 u.a. 33 Vgl. Ges18 608 s.v. lîn 1a. 34 S. dazu M. Köckert, Abraham. Ahnvater – Vorbild – Kultstifter (Biblische Gestalten 31), Leipzig 2017, 152ff. Zu den historisch-geographischen Aspekten s. O. Keel / M. Küchler, Orte und Landschaften der Bibel, Bd. 2, Zürich u.a. / Göttingen 1982, 247ff. 35 S. dazu Köckert, Abraham (s. Anm. 34), 144ff. 36 Zum Vergleich der beiden Texte s. E. Blum, Die Komposition der Vätergeschichte (WMANT 57), Neukirchen-Vluyn 1984, 280ff.

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spielt sie hier nicht zur Mittagszeit, sondern am Abend, so dass Lot seine beiden Gäste nötigt, mit ihm in sein Haus zu kommen, damit sie dort unter dem Schutz seines Daches die Nacht verbringen können (lîn V. 2, vgl. çåkab V. 4): (1) Und es kamen die zwei Boten am Abend nach Sodom, als Lot im Tor(raum) von Sodom saß. Als Lot (sie) sah, erhob er sich ihnen entgegen und verneigte sich mit seiner Nase bis zur Erde (2) und sagte: „Seht doch, meine Herren, biegt doch ab zum Haus eures Knechts und bleibt über Nacht (lîn) und wascht eure Füße und brecht am Morgen auf und geht (dann) eures Weges!“ Sie aber sagten: „Nein, sondern wir übernachten (lîn) auf dem Platz (sc. innen vor dem Tor).“ (3) Da drang er sehr in sie, und so bogen sie ab zu ihm und gingen in sein Haus. Er aber bereitete ihnen ein Gastmahl und buk Mazzen, und sie aßen. (4) Sie waren noch nicht schlafen gegangen (çåkab), da umstellten die Einwohner der Stadt das Haus, die Männer von Sodom, jung und alt, alles Volk von weit und breit. (5) Sie riefen nach Lot und fragten ihn: „Wo sind die Männer, die heute Abend zu dir gekommen sind? Heraus mit ihnen, wir wollen mit ihnen verkehren!“

Der Fortgang der Geschichte mit dem brutalen Missbrauch des Gastrechts durch die Bewohner von Sodom ist bekannt. Gastfreundschaft ist praktizierte Nächsten- und Fremdenliebe und deshalb eine elementare Form des Sozialen. Diese wird hier ad absurdum geführt und das Verbrechen von JHWH entsprechend geahndet. Das Gottesgericht, das bei Sonnenaufgang über Sodom hereinbricht, ist dabei von kosmischen Ausmaßen: (23) Als die Sonne (çæmæç) über dem Land aufgegangen und Lot nach Zoar gekommen war, (24) ließ JHWH es regnen über Sodom und Gomorrha: Schwefel und Feuer von JHWH, vom Himmel her. (25) Und er stürzte diese Städte und den ganzen Umkreis um und alle Bewohner der Städte und das Gewächs des Ackerlandes. (26) Als seine Frau hinter ihn blickte, wurde sie zu einer Salzsäule. (Gen 19,23–26)

Die Flucht Lots, seiner Frau und seiner beiden Töchter aus Sodom (Gen 19,15–22) beginnt aber früher, nämlich mit dem Heraufziehen der Morgenröte, was die beiden Gottesboten zur Eile veranlasst: (15) Sobald die Morgenröte (çaªar) heraufzog, drängten die Boten Lot zur Eile an und sagten: „Auf, nimm deine Frau und deine beiden Töchter, die hier sind, damit du nicht durch die Schuld der Stadt hinweggerafft wirst.“ (16) Da er zögerte, fassten die Männer seine Hand, die seiner Frau und seiner beiden Töchter, weil JHWH Mitleid mit ihm hatte, führten ihn hinaus und ließen ihn erst außerhalb der Stadt los. (Gen 19,15f)

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Wie O. Keel überzeugend gezeigt hat, wird das Vernichtungsgericht über Sodom von JHWH in der Rolle einer richtenden Sonnengottheit herbeigeführt.37 „JHWH ist in dieser Geschichte eindeutig sekundär an die Stelle des Sonnengottes getreten“38 und hat dessen Kompetenzen des Richtens und Rettens übernommen. Während mit dem Heraufziehen der Morgenröte die Eile verbunden ist, zu der die Boten Lot und die Seinen drängen, setzt das Vernichtungsgericht mit dem Aufgehen des Tagesgestirns ein. In diesem dramatischen Moment lässt JHWH Schwefel und Feuer vom Himmel regnen (vgl. Ps 11,6),39 denn „der Sonnengott straft … bei seinem Eintritt in die Welt die Verbrechen, die während der Nacht, während seiner Abwesenheit, begangen worden sind“40. Dieser Zusammenhang von göttlichem Rechtshandeln (Überwindung des Unrechts) und kosmischer Bedeutung des Lichts (Überwindung der chaotischen Finsternis)41 ist auch in der altorientalischen und ägyptischen Gebetsliteratur und Ikonographie verbreitet.42 Ein berühmtes Beispiel aus Mesopotamien ist das Rollsiegel aus der Akkadzeit (2370–2190 v.Chr., Abb. 1), das zeigt, wie der Sonnengott Utu/Çamaç (kenntlich an den Strahlen auf seiner Schulter und seinem Attribut, der „Säge“) zwischen den östlichen Horizontbergen aus der Tiefe emporsteigt und die von zwei untergeordneten Göttern 37 S. dazu O. Keel, Wer zerstörte Sodom?, ThZ 35 (1979) 10–17 und ders., Geschichte Jerusalems (s. Anm. 1), 278f.375f.727f. 38 Keel, Geschichte Jerusalems (s. Anm. 1), 279, vgl. ders., Sodom (s. Anm. 37), 17. 39 S. dazu F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Die Psalmen I: Psalm 1–50 (NEB.AT 29), Würzburg 1993, 91f (Zenger). Zu den (naturwissenschaftlichen) Thesen über die Katastrophe s. Keel / Küchler, Orte (s. Anm. 34), 252f. 40 Keel, Sodom (s. Anm. 37), 13. 41 Zur Korrelation von Recht und (Morgen-)Licht s. noch Jes 51,4; Hos 6,5; Mi 7,9; Ps 37,6 u.ö. und dazu B. Janowski, Das Licht des Lebens. Zur Lichtmetaphorik in den Psalmen, in: ders., Die Welt als Schöpfung. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 4, Neukirchen-Vluyn 2008, 221–248, hier: 233ff. 42 Zur altorientalischen und ägyptischen Vorstellung vom Sonnengott als Richter und Retter s. Keel, Sodom (s. Anm. 37), 10ff; ders., Geschichte Jerusalems (s. Anm. 1), 273ff u.ö.; O. Keel / S. Schroer, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Göttingen / Fribourg 22002, 77ff; O. Keel / Chr. Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen. Mit einem Nachwort von F. Lippke, Freiburg, Schweiz 62010, 282ff.392ff; B. Janowski, Rettungsgewissheit und Epiphanie des Heils. Das Motiv der Hilfe Gottes „am Morgen“ im Alten Orient und im Alten Testament, Bd. I: Alter Orient (WMANT 59), Neukirchen-Vluyn 1989, 30ff.98ff.112ff.174ff; B. Janowski, JHWH und der Sonnengott. Aspekte der Solarisierung JHWHs in vorexilischer Zeit, in: ders., Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, NeukirchenVluyn 1999, 192–219; B. Janowski, Ein Gott, der straft und tötet? Zwölf Fragen zum Gottesbild des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 42020, 40ff; S. Schroer / O. Keel, Die Ikonographie Palästinas/Israels und der Alte Orient. Eine Religionsgeschichte in Bildern, Bd. 1, Fribourg 2005, 348ff u.a.

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geöffneten Tore durchschreitet, um seinen Weg zum himmlischen Gericht anzutreten.

Abb. 1: Çamaç erscheint im Himmelstor (Rollsiegel, Ende 3. Jt. v.Chr.) Dieses Gericht vollzieht sich, wie das ebenfalls akkadzeitliche Rollsiegel Abb. 2 zeigt, als prozessuale Vorführung eines gefangenen löwenköpfigen Dämons vor Utu/Çamaç, der als himmlischer Richter auf seinem Bergthron sitzt und das Urteil fällt.

Abb. 2: Çamaç verurteilt einen löwenköpfigen Dämon (Rollsiegel, Ende 3. Jt. v.Chr.) Literarisch ist dieses Morgenmotiv vor allem in akkadischen Gebetsbeschwörungen des 2./1. Jt.s v.Chr. und in ägyptischen Sonnenhymnen der Ramessidenzeit (20./19. Dynastie) belegt.43 Aufgrund ihrer funktionalen Einbindung in ein Ritualgeschehen sind die akkadischen Gebetsbeschwörungen als rituelle Bittgebete des Einzelnen zu verstehen, der unter Krankheit, dämonischer Gewalt oder Rechtsnot leidet und für dessen physische Restitution / soziale Reintegration ein Beschwörungsritual durchgeführt wird. Als Beispiel kann die zweisprachige Gebetsbeschwörung an Utu/Çamaç JCS 21, 2f,1–9 dienen, die ihren rituellen Ort im königlichen b⁄t rimki („Haus der Waschung“)-Ritual hatte: 1 Beschwörung: Çamaç, wenn du aus dem großen Berg heraustrittst, 2 wenn du aus dem großen Berg, dem Berg der Quelltiefe heraustrittst, 3 wenn du aus dem Duku (sc. heiliger Hügel), wo die Geschicke bestimmt werden, heraustrittst, 43

S. dazu Janowski, Rettungsgewissheit (s. Anm. 42), 68ff.154ff.176ff.

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4 wenn du zu der Stelle, wo Himmel und Erde zusammentreffen, aus des Himmels Grund heraustrittst, 5 dann treten die großen Götter zum Gericht zu dir hin, 6 treten die Anunnaki zum Fällen der Entscheidung zu dir hin. 7 Die Menschen, die Leute insgesamt harren auf dich, 8 das Getier, das sich regt, das vierfüßige, 9 hält auf dein großes Licht seine Augen gerichtet.44 Wir begegnen in dieser Text- und Bildtradition einem kohärenten Motivzusammenhang: Der himmlische Richter, der als souveräner Sonnengott alles sieht und ‚durchschaut‘, tritt am Morgen in die Welt der Menschen und der Tiere ein, um den Bedrängten zu retten und den „Faden des Bösen“ zu durchtrennen: „Die Zuverlässigkeit seines täglichen Erscheinens, die Stetigkeit seiner Bahn sowie sein Licht, das die Dunkelheit erhellt und Verborgenes sichtbar macht, dürften die Grundlage dafür gewesen sein, dass man im Sonnengott den obersten Richter und Garanten von Recht und Ordnung sah, wodurch ihm eine besondere moralische und menschenfreundliche Qualität zukam.“45 Dass diese Motivtradition in Jerusalem bekannt gewesen ist, belegt das akkadzeitliche Rollsiegel aus Jerusalem (Abb. 3), das in einem Grab des 7. Jh.s v.Chr. an der Mamillastraße gefunden wurde. Es zeigt den Sonnengott, der am Morgen auf seinem himmlischen Thron zu Gericht sitzt und dabei von zwei Dienern flankiert wird. Es ist das einzige akkadzeitliche Rollsiegel, das bisher in Palästina/Israel entdeckt wurde.46

Abb. 3: Der Sonnengott hält Gericht (Rollsiegel, um 2250 v.Chr.) 44 Zu diesem Text s. Janowski, Rettungsgewissheit (s. Anm. 42), 41f (Lit.), vgl. 83f. 45 M. Krebernik, Art. Sonnengott, RLA 12 (2009–2011) 599–611, hier: 605. In Ägypten hat sich das Morgenmotiv dagegen in den von der Persönlichen Frömmigkeit geprägten ramessidischen Hymnen an Amun-Re (19.–20. Dyn.) entwickelt, s. dazu Janowski, Rettungsgewissheit (s. Anm. 42), 163f (Lit.). 46 Vgl. Keel, Geschichte Jerusalems (s. Anm. 1), 277.

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Wie der Überlieferungsweg dieses Imports verlief, ist wohl nicht mehr aufzuklären. Deutlich aber ist, dass die sog. Solarisierung JHWHs, d.h. die Rezeption solarer, auf die Aspekte „Gerechtigkeit“ und „Leben“ bezogener Vorstellungselemente in den JHWH-Glauben, älter ist als die mittlere und späte Königszeit. Der Boden dafür ist offenbar durch mehrere Faktoren bereitet worden:47 zum einen (a) durch vorisraelitisch-kanaanäische çæmæçTraditionen, die an Ortsnamen wie Beth-Çæmæç (Jos 15,10; 21,16; 1 Sam 6,9ff u.a.), ˛En-Çæmæç (Jos 15,7; 18,17), Timnat-Óæræs (Jos 24,30; Ri 2,9) u.a. und an Ortssagen wie Gen 19,*1–29 (Sodom), Gen 32,*23–33 (Jabboq), Jos 10,12f (Gibeon) u.a. erkennbar sind,48 und zum anderen (b) durch frühe (?) Theophanietraditionen, die das „Kommen“ JHWHs als Epiphaniegeschehen darstellen und dafür die Lichtverben zåraª „aufstrahlen“ und jp˛ hif. „aufstrahlen, glänzend erscheinen“ verwenden (Dtn 33,2, vgl. nachexilisch Jes 60,2 u.a.). Beide Stränge – der solare und der theophane Traditionsstrang – haben sich im Prozess der Überlieferungsbildung vielfach überlagert und z.T. gegenseitig beeinflusst. Hinzu kam in der mittleren und späten Königszeit schließlich (c) die Jerusalemer ‚ædæq/‚edåqåh-Tradition, die im Kontext prophetischer Gesellschafts- und Normenkritik JHWH als Spender von Recht und Gerechtigkeit proklamierte (vgl. Jes 1,21–26) und dafür solare Sprachbilder schuf (Hos 6,3.5; Zeph 3,5). Ihre Heimat war die „Gottesstadt“ bzw. Jerusalem (Jes 1,21ff; Zeph 3,1ff) und ihr Grundthema die Gegenwart des dort – „in ihrer Mitte“ – rettend eingreifenden Zionsgottes (vgl. Ps 46,6 u.a.).

c)

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Über die bisherigen Beobachtungen hinaus gibt es noch einen weiteren Aspekt, der für den Bezug von Jes 1,21–26 auf die Sodomgeschichte spricht, nämlich der Sachverhalt, dass die erste Ouvertüre des Jesajabuchs (Jes 1,2–2,5) zweimal auf die Sodom-Tradition Bezug nimmt (Jes 1,9.10) – „und zwar als auf etwas selbstverständlich Bekanntes“49. So sind mit den „Anführern von Sodom“ und dem „Volk von Gomorrha“ in dem kult- und sozialkritischen Passus Jes 1,10–17. 18–20 die korrupten Beamten Jerusalems und Judas gemeint: Hört das Wort JHWHs, Anführer von Sodom! Horcht auf die Tora unseres Gottes, Volk von Gomorrha! (Jes 1,10)

Unmittelbar davor endet der Abschnitt Jes 1,2–9, der in V. 7 das Sodom/Gomorrha-Thema durch verschiedene Begriffe („Einöde“, „feu47 S. dazu Janowski, Sonnengott (s. Anm. 42), 199ff und Keel, Geschichte Jerusalems (s. Anm. 1), 273ff. 48 Da das Alter der lokalen çæmæç-Traditionen in Gen 19,*1–29; 32,*23–33; Jos 10,12f und Ri 19,*14–26 nicht genau zu ermitteln ist, ist die Frühgeschichte der Solarisierung JHWHs allerdings mit mancherlei Fragezeichen behaftet. 49 Keel, Geschichte Jerusalems (s. Anm. 1), 375.

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erverbrannt“, „Umsturz“, im Folgenden kursiv) vorbereitet, mit dem Hinweis auf den „kleinen Rest“, den JHWH übrig gelassen hat, um Jerusalem und Juda nicht wie Sodom und Gomorrha werden zu lassen: 7 Euer Land – eine Einöde, eure Städte – feuerverbrannt. Euer Ackerland vor euren Augen – Fremde verzehren es. vgl. Gen 19,21.25.29 (jeweils Einöde, wie bei einem Umsturz håpak); 19,29 (hapekåh) (mahpekåh), der Fremde betrifft. 8 Übrig gelassen ist die Tochter Zion wie ein Laubdach im Weinberg, wie eine Nachthütte im Gurkenfeld, wie eine belagerte Stadt. 9 Hätte JHWH Zebaoth nicht einen kleinen Rest für uns übrig gelassen, wie Sodom wären wir geworden, Gomorrha wären wir gleich. (Jes 1,7–9)50

Es kommt hinzu, dass Jerusalem und Juda auch in Jes 3,8f mit Sodom verglichen werden: 8 Ja, Jerusalem stürzt, und Juda fällt, Ja, ihre Zunge und ihre Taten richten sich gegen JHWH, seiner Herrlichkeit ins Auge zu trotzen. 9 Das Aussehen ihrer Gesichter zeugt wider sie. Ihre Sünde tun sie kund, wie Sodom, sie verbergen sie nicht. Weh ihnen! Ja, sie erweisen sich selber Böses.51

Vor diesem Hintergrund gewinnt die Aussage von der „Übernachtung“ der Gerechtigkeit in Jes 1,21 ihr theologisches und religionsgeschichtliches Profil. „Die Gegenwart der Gerechtigkeit wird explizit auf den Abschnitt eines Tages – nämlich die Nacht – ausgedehnt, der in mythisch-traditioneller Hinsicht keine Verbindung mit der Gerechtigkeit hat“52 – der diese Verbindung aber in der Vergangenheit hatte (V. 21) und aufgrund eines Läuterungsgerichts in Zukunft wieder haben soll (V. 26). So wird das Bildwort von der „Übernachtung“ der Gerechtigkeit zu einem vielsagenden Kontrastmotiv, durch das 50 S. dazu Beuken, Jesaja 1–12 (s. Anm. 3), 73ff und zu håpak „(auf den Kopf stellen >) umstürzen“ K. Seybold, Art. håpak usw., ThWAT 2 (1977) 454–459. 51 S. dazu Beuken, Jesaja 1–12 (s. Anm. 3), 112f. In der Gerichtsankündigung gegen Babel Jes 13,19 spielt der Vergleich mit Sodom und Gomorrha ebenfalls eine Rolle. 52 Schmid, Jesaja 1–23 (s. Anm. 9), 57.

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die göttliche und die menschliche Gerechtigkeit einander zugeordnet werden und zwar so, dass die Gerechtigkeit Gottes die menschliche Gerechtigkeit garantiert und restituiert53 – nicht nur am helllichten Tag, sondern auch in der dunklen Nacht. III.

Jes 1,21–26 und die Sprache der Bilder

Die „Gerechtigkeit übernachtete“ in der treuen Stadt (Jes 1,21), das Recht JHWHs „bricht auf wie das Licht“ (Hos 6,5), Recht und Gerechtigkeit „strömen wie ein reißender Bach“ (Am 5,24) – diese und viele andere Texte der Prophetenbücher bezeugen ein Denken in Bildern.54 In Bildern zu denken ist etwas anderes, als Begriffe zu verwenden. Verglichen mit der Begriffssprache ist die Bildsprache zwar eigentümlich unscharf und hintergründig. Man darf sich dadurch aber nicht zu dem Urteil verleiten lassen, es mangele ihr an Prägnanz und Deutlichkeit – sie liegen nur auf einer anderen Ebene. Metaphern sind „Sinnexperimente mit offenem Ausgang. Sie spielen sich in der Sprache ab, und sie spielen mit den semantischen Möglichkeiten der Sprache, indem sie im Rückgriff auf sprachlich Vertrautes Unerwartetes zusammenstellen. Das kann erhellend, es kann aber auch bloß absurd sein, und beides entscheidet sich daran, wie sich die semantische Spannung zwischen den Sinnmomenten einer Metapher im Kontext ihres konkreten Gebrauchs auswirkt“55.

Im Fall von Jes 1,21–26 besteht das „sprachlich Vertraute“ in mehreren Aspekten: – in der traditionellen Gerichtsterminologie (Recht, Gerechtigkeit, zum Recht verhelfen, Rechtsstreit, Richter), – in den bekannten Frevler-/Freveltatbezeichnungen (Mörder, Aufrührer, Diebe, Widersacher, Feinde, Bestechung, Geschenke), – im technischen Vokabular der Metallverarbeitung (Silber, Bleiglätte, Pottasche, Schlacken), – in den Verben, die weder ungewöhnlich noch unverständlich sind. 53 Vgl. Schmid, Jesaja 1–23 (s. Anm. 9), 58. 54 Zur prophetischen Bildsprache s. die Hinweise oben Anm. 2. Zu Hos 6,5 und Am 5,24 s. Janowski, Sonnengott (s. Anm. 42), 209f.217 und B. Janowski, „Womit soll ich JHWH entgegentreten?“ (Mi 6,6). Gabetheologische Aspekte der alttestamentlichen Kultkritik, in: ders., Der nahe und der ferne Gott. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 5, Neukirchen-Vluyn 2014, 173–203, hier: 183f. 55 I.U. Dalferth, In Bildern denken. Die Sprache der Glaubenserfahrung, EK 30 (1997) 165–167, hier: 166 (Hervorhebung von mir), s. dazu auch J. Anderegg, Sprache und Verwandlung. Zur literarischen Ästhetik, Göttingen 1985, 33.61 u.ö.

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Ungewöhnlich, ja unerwartet aber ist die Zusammenstellung des jesajanischen Leitbegriffs „Gerechtigkeit“ (‚ædæq)56 mit dem auf Menschen oder Tiere bezogenen Verb „übernachten“ (lîn), durch die die Gerechtigkeit als handelnde Person qualifiziert wird (Personifikation).57 In Verbindung mit der Sodom-/Gomorrha-Adressierung der Gerichtsworte Jes 1,2–9 und 1,10–17 ruft diese Zusammenstellung aufgrund ihrer Metaphorik die traumatische Erinnerung an das Gericht über Sodom (Gen 19) wach und überwindet zugleich den damit verbundenen Schock durch den Hinweis auf die frühere wie die künftige „Übernachtung“ der Gerechtigkeit in Jerusalem. So wird die „treue Stadt“ zum Symbol der Gottespräsenz und zum Gegenbild von Sodom, dessen Geschick das kollektive Gedächtnis Israels immer wieder beschäftigt hat.58 Abbildungsnachweis 1 Keel, Geschichte Jerusalems (s. Anm. 1), 280 Abb. 157 2 Keel, Geschichte Jerusalems (s. Anm. 1), 279 Abb. 156 3 Keel, Geschichte Jerusalems (s. Anm. 1), 278 Abb. 154

56 57 58

S. dazu oben Anm. 14. S. dazu oben 289ff. S. dazu etwa St. Beyerle, Art. Sodom, NBL 3 (2001) 622f.

„Bis an den Himmel reicht deine Güte“ (Ps 36,6) Zum Thema „Gott und Raum“ in den Psalmen (Mit einem Anhang zu den Raumkonzepten im Psalter) I. Vorbemerkungen Gibt es eine Theologie des Psalters und was ist ihr Zentrum: David, Zion / der Tempel, der Beter / der Arme und seine Feinde, Israel und die Völker oder die Schöpfung und was sie erfüllt? „Eine Theologie der Psalmen, die der rekonstruierten Entwicklung zum vollendeten Psalter entspricht, dürfte“, wie F.-L. Hossfeld 1999 schrieb, „am ehesten aus den Teil-Sammlungen und Teilpsaltern zu erheben sein“. Sie ist aber, wie er fortsetzte, „derzeit … weitgehend noch Desiderat“1. Das von ihm zehn Jahre später beantragte DFG-Projekt „Theologie des Psalters“ sollte hier Abhilfe schaffen, blieb aufgrund seines viel zu frühen Todes aber leider ein Torso. Hossfeld hatte in dem besagten Projektantrag sechs Themenlinien skizziert, die das theologische Profil des Psalters geformt haben. Eine dieser Themenlinien ist die „Präsenz Gottes in Raum und Zeit“2 . Ich greife diese Anregung – unter Beschränkung auf das Raumthema3 – auf und folge dabei einem Hinweis von K. Seybold, der in seiner Poetik der Psalmen die architektonische Grundidee des Psalters anhand von vier Raumdimensionen umrissen hat: „Es ist die Dimension der Nähe, der intimsten Nähe zur Realität der praesentia Dei, die sich im Gebet, im nachgesprochenen Gebet, bei der Lektüre und durch die Lektüre (Ps 1), beim Gesang ereignet. Es ist die Dimension der Weite, die als Wortzeugnis prinzipiell alles mit einbeziehen möchte, ,was Odem hat‘ (Ps 150), und damit die Sammlung offen hält. Es ist die Dimension der Höhe, indem die Editoren die gewaltigsten Äußerungen über Gott und die Welt fanden, zu welchen die menschliche Sprache und Poesie fähig ist. Es ist die Dimension der Tiefe, indem viele Glaubenszeugnisse aus der sozialen Problemwelt eines grausamen Alltags stammen, in dem das Leben ständig von Mitmenschen bedroht erschien und das Tor der Unterwelt offenstand. Diese Dimensionen umfas1 F.-L. Hossfeld, Art. Psalmen, 691. 2 Das komplexe Verhältnis von Gott und Raum ist seit einigen Jahren – nicht zuletzt in Reaktion auf den spatial turn in Philosophie, Soziologie und Kulturwissenschaft – auch in der Systematischen Theologie zum Thema geworden, s. dazu E. Jooß, Raum, 121ff u.a. 3 Zum Thema „Gott und Zeit“ in den Psalmen s. die Bemerkungen unten Anm. 122.

302

„Bis an den Himmel reicht deine Güte“

sen einen unendlichen Raum, der einen Aspekt der Wirklichkeit darstellt. Eine Welt für sich!“4

Mein Beitrag knüpft an diese Skizze an und führt sie weiter, indem er zunächst einen Überblick über die Raumkonzepte in den Psalmen gibt (II) und diesen Überblick anhand einer Analyse von Ps 36 konkretisiert (III). Am Schluss werden die Hauptergebnisse für die Frage nach der Theologie des Psalters fruchtbar gemacht (IV) und durch eine detaillierte Übersicht ergänzt (V). II.

Raumkonzepte in den Psalmen

Der traditionsgeschichtliche Rahmen für die Frage nach dem Verhältnis von Gott und Raum in den Psalmen ist zum einen die Jerusalemer Tempeltheologie und zum anderen die Schöpfungsvorstellung. In späten Psalmen treten anthropologische und ethische Aspekte hinzu. Alle drei Themenaspekte können miteinander kombiniert werden.5 Da das Raumthema sein Gravitationszentrum in der Vorstellung von der Präsenz JHWHs in Zion/Jerusalem/im Tempel hat, gehe ich im Folgenden von ihr aus. 1.

Zions- und tempeltheologische Aspekte

Nach S. Gillingham enthalten über 70 Psalmen explizite, d.h. linguistisch identifizierbare Zion markers, die unterschiedliche Aspekte der Jerusalemer Tempeltheologie6 zur Geltung bringen und dabei die – z.T. synonymen – Begriffe Zion, Jerusalem, Tempel, (heiliger) Berg, Thron Gottes, Vorhöfe, Tore u.a. verwenden.7 Dazu gehören so einschlägige Texte wie Ps 11; 15; 17; 23; 24; 27; 42/43; 46–48; 50; 63; 68; 74; 76; 78; 84; 87; 93; 100; 102; 110; 135 und 150. Sie alle sind Varianten der Grundvorstellung von der Präsenz JHWHs auf dem Zion / in Jerusalem und / oder in seinem Tempel. Dort begegnet der Beter / das Gottesvolk dem „Angesicht JHWHs“, dort findet er / es Zuflucht „im Schatten seiner Flügel“ und von dort greift JHWH ein, um den Bedrängten aus der Unterwelt „herauszuziehen“. Das Ziel ist die Wiedergewinnung der heilvollen Nähe des Zions-/Tempelgottes. 4 K. Seybold, Poetik I, 373 (Hervorhebungen von mir). Zu den Konturen einer religiösen Topographie im Psalter s. auch B. Weber, Werkbuch III, 87ff. 5 Siehe dazu unten Anhang I. 6 Zur Jerusalemer Tempeltheologie s. B. Janowski, Wohnung, 27ff; ders., Ort, 207ff; ders., Buchreligion, 227ff; O. Keel, Geschichte Jerusalems, 375ff.733ff u.ö.; M. Leuenberger, Art. Königsherrschaft Gottes (Ziffer 3.2); M. Leuenberger, Jhwh, 245ff u.a. 7 Siehe dazu S. Gillingham, Zion Tradition, 313ff und unten Anhang I 1a–b.

„Bis an den Himmel reicht deine Güte“

a)

303

Die irdische Wohnstatt JHWHs

Die kosmische Dimension der Jerusalemer Tempeltheologie hat in den Zionspsalmen (Ps 46; 48, vgl. Ps 76; 84; 87 u.a.)8 einen nachgerade klassischen Ausdruck gefunden. Nehmen wir als Beispiel Ps 46,9 der die Gottesstadt als sichtbare Manifestation der schützenden Macht des dort präsenten Gottes preist – nach innen (Wir-Gruppe) wie nach außen (Völkerwelt): 1

Für den Chormeister. Von den Korachiten. Nach der Weise ˛alåmôt. Ein Lied

2

Gott ist uns Zuflucht und Stärke, als Hilfe in Nöten sehr gefunden. Darum fürchten wir uns nicht beim Tauschen der Erde10 und beim Wanken von Bergen mitten in Meere, mögen tosen, mögen schäumen seine Wasser, mögen Berge durch seine (sc. Gottes) Erhabenheit erbeben. – Sela

3 4 5 6 7 8

Ein Strom – seine Kanäle erfreuen die Stadt Gottes, die heiligste der Wohnungen des Höchsten. Gott ist in ihrer Mitte, sie wankt nicht, Gott hilft ihr beim Anbrechen des Morgens. Völker tosten, Königreiche wankten – er hat seine Stimme erhoben, so dass die Erde schwankt. JHWH Zebaoth ist mit uns, eine Burg ist uns der Gott Jakobs. – Sela

9

Geht, schaut die Taten JHWHs, der Erstarren bereitet hat auf der Erde, 10 der Kriege zum Aufhören bringt bis ans Ende der Erde, den Bogen zerbricht er und die Lanze zerschlägt er, Kriegswagen verbrennt er im Feuer!11 11 Lasst ab und erkennt, dass ich Gott bin: erhaben über die Völker, erhaben auf der Erde! 12 JHWH Zebaoth ist mit uns, eine Burg ist uns der Gott Jakobs. – Sela 8 Zu den Zionspsalmen s. zusammenfassend C. Körting, Lieder, 37ff; J. Jeremias, Theologie, 33ff u.a. 9 Zu Ps 46 s. außer den Kommentaren besonders H. Spieckermann, Stadtgott, 23ff; B. Janowski, Wohnung, 45ff; Chr. Uehlinger / A. Grandy, Toben, 372ff; C. Körting, Zion, 179ff; M. Lichtenstein, Mitte; A. Grund, „Festung“, 57ff; T.M. Steiner, God, 95ff u.a. 10 Die Wendung „beim Tauschen (hif. inf. cstr. von mûr I) der Erde“ dürfte der alttestamentlichen Chaostopik angehören und als „beim Tauschen der Erde (sc. ihre Stätte o.ä.)“ zu verstehen sein, s. dazu B. Janowski, Wohnung, 46; M. Lichtenstein, Mitte, 29f; T.M. Steiner, God, 106 u.a. 11 V. 10 ist möglicherweise eine sekundäre Fortschreibung, s. dazu die Diskussion bei T.M. Steiner, God, 113f.

304

„Bis an den Himmel reicht deine Güte“

Der erste Teil des Psalms (V. 2–8), der im Folgenden im Vordergrund steht, wird durch das Vertrauensbekenntnis in V. 2 und dessen modifizierte Wiederaufnahme („Kehrvers“) in V. 8 gerahmt. Beide Verse enthalten die auf Gott bezogenen Raummetaphern „Zuflucht“ (maªasæh V. 2a), „Stärke“ (˛oz V. 2a) und „Burg“ (mi¬gåb V. 8b, vgl. V. 12b),12 die für die Wir-Gruppe jeweils ein Realsymbol der Gottespräsenz darstellen. Innerhalb dieses Rahmens entsprechen sich V. 3f und V. 7, die zwei typische Aspekte altisraelitischer Chaoserfahrung thematisieren: die hereinbrechenden Chaoswasser (V. 3f) und das vordringende Völkerchaos (V. 7). Die inhaltliche Parallelität beider Vorgänge wird durch die gleiche Semantik – „wanken“ (V. 3b.7a vs. „nicht wanken“ V. 6a) und „tosen“ (V. 4a.7a) – unterstrichen. Im Zentrum dieses ersten Teils steht das ruhige Bild der durch die Hilfe Gottes geschützten Gottesstadt inmitten einer vom Chaos (V. 3f // V. 7) bedrohten Welt (V. 5f). Da dieser Abschnitt, der durch eine casus pendens-Konstruktion (V. 5aa) eingeleitet wird, mit einem kontrastiven Wasserbild (V. 5a) von V. 3f und seiner ChaoswasserMotivik abgesetzt ist, ergibt sich eine konzentrische Struktur von V. 2–8 mit V. 5f als Zentrum:13 2

Gott als Zuflucht // Stärke (a) und Hilfe (b)

Themasatz

3f Erhabenheit JHWHs über das Naturchaos

Peripherie/Außen

5f Die schützende Präsenz Gottes in der Gottesstadt, der heiligsten Wohnung des Höchsten

Zentrum/Innen

7

Erhabenheit JHWHs über das Geschichtschaos

Peripherie/Außen

8

Gottes Mitsein (a) und Gott als Burg (b)

Kehrvers

Die in Ps 46,2–8 entworfene Theologie Jerusalems basiert auf der Symbolik des Zentrums: In der „Mitte“ (qæræb V. 6a) der Gottesstadt, „der heiligsten Wohnung des Höchsten“ (V. 5),14 ist JHWH 12 Siehe dazu T.M. Steiner, God, 118f. Zu vergleichbaren Prädizierungen Gottes s. unten Anhang I 1a. 13 Zu dieser Gliederung s. auch T.M. Steiner, God, 114ff. 14 In dieser Wendung kommt ein Tempelbezug zum Ausdruck, anders H. Spieckermann, Stadtgott, 27, demzufolge es „den Anschein (hat), daß aus der Zionstheologie ein Nebenzweig herausgewachsen ist, der die Gegenwart Gottes nicht tempelorientiert, sondern ganz stadtorientiert zu denken versucht, ohne JHWH zu einem Stadtgott mit nur lokaler Zuständigkeit und Bedeutung werden zu lassen“, vgl. C. Körting, Zion, 183.185. M.E. ist Ps 46,2–8 nicht nur stadtorientiert (so natürlich V. 5a), sondern, wie die Semantik von V. 5b belegt, auch tempelorientiert, s. dazu auch T.M. Steiner, God, 95ff, demzufolge Ps 46 „represents a temple-oriented Theology of the City“ (96), vgl. F.-L. Hossfeld / T.M. Steiner, Problems, 354 und als Paralle-

„Bis an den Himmel reicht deine Güte“

305

als am Morgen rettender Gott gegenwärtig (V. 6),15 während an der Peripherie die natürlichen und geschichtlichen Repräsentanten des Chaos tosen und lärmen (V. 3f // V. 7), aber durch den souveränen Königsgott16 niedergehalten werden. Das darin zum Ausdruck kommende Weltbild hat eine horizontale, den Gegensatz von Zentrum (Tempel, Stadt) und Peripherie (Umland, Steppe) betonende Raumachse, wonach die Gottesstadt mit dem Tempel den Ort des Lebens und die Peripherie den Bereich des Todes und des Chaos symbolisieren.17 Ein relativ früher außerbiblischer Beleg für das horizontale Weltbild der Jerusalemer Tempeltheologie findet sich in der Inschrift A aus ˆirbet B™t Layy (ca. 8 km östlich von Lachisch, ausgehendes 8. Jh. v.Chr.). Der zweizeilige Text lautet folgendermaßen: 1 JHWH (ist) der Gott der ganzen Erde, 2 die Berge Judas (gehören) dem Gott Jerusalems.18 Religionsgeographisch wird hier „eine horizontale Kosmologie angedeutet, die aus drei Kreisen besteht und die in einer Konzentrationsbewegung von der ganzen Erde über das Bergland Judas auf die Stadt Jerusalem durchmessen wird …“19.

Ps 46 gehört zusammen mit Ps 48 und Ps 93 zu den ältesten Psalmen mit einen expliziten Zion-/Jerusalem-/Tempelbezug.20 Ihr Basisaxiom ist der Kosmos/Chaos-Gegensatz, der nach der vertikalen (Höhe/Tiefe) und der horizontalen Dimension (Peripherie/Zentrum) entfaltet len Ps 26,8; 43,3; 74,7; 84,2 und 132,5.7, ferner Ez 37,27; 2 Chr 29,6. Wie besonders Ps 84,2 („Wie lieblich sind deine Wohnungen, JHWH Zebaoth!“) im Kontext von Ps 84,2–5 zeigt, ist miçkån „Wohnung“ ein Terminus der Tempeltheologie, s. dazu F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalmen 51–100, 517f (E. Zenger) und T.M. Steiner, God, 97ff. 15 Zum Morgenmotiv s. B. Janowski, Wohnung, 52f. 16 Im Unterschied zu Ps 48,3 („Stadt eines großen Königs“) wird Gott in Ps 46 nicht als „König“ (mælæk) bezeichnet. Dennoch spricht V. 11 von seiner Souveränität (rûm „erhaben sein“) über die Völker // die Erde, die etwa nach Ps 99,2.5.9 dem Königsgott zukommt, s. dazu auch F.-L. Hossfeld / T.M. Steiner, Problems, 252. 17 Vgl. F.-L. Hossfeld / T.M. Steiner, Problems, 254: „With is horizontal view of the world, Psalm 46 reflects a clearly priestly distinction between the chaos outside the city and the holy area of the city, which may be in itself distinguished into different areas of holiness.“ 18 J. Renz / W. Röllig, Handbuch 1, 245f (mit Kommentar), s. dazu J. Renz, „Jahwe“, 310f; F. Hartenstein, „Wehe“, 127ff und M. Leuenberger, Jhwh, 252ff. 19 M. Leuenberger, Jhwh, 254, vgl. 257. 20 Zur Datierung von Ps 46 und 48 in die Zeit um bzw. nach 701 v.Chr. s. F. Hartenstein, „Wehe“, 131ff.135ff; M. Leuenberger, Großkönig, 142ff; M. Leuenberger, Jhwh, 247 und F.-L. Hossfeld / T.M. Steiner, Problems, 250f.

306

„Bis an den Himmel reicht deine Güte“

wird.21 In der vertikalen Achse überragt der Thron JHWHs den Tempel (Ps 93), während die horizontale Ebene den Herrschaftsbereich des Jerusalemer Stadtgottes markiert, dessen Erhabenheit sich über die ganze Erde / die Völkerwelt auswirkt (Ps 46; 48). b)

Zwischen Scheol und Tempel

In exilisch-nachexilischer Zeit wird die spätvorexilische Tempeltheologie transformiert und um neue Raumaspekte erweitert. Diese Erweiterung zeigt sich vor allem in den Individualpsalmen und der in ihnen formulierten Hoffnung des Bedrängten auf Errettung vom Tod / aus der Unterwelt (Ps 11; 17; 27 u.a.).22 Charakteristisch dafür ist die Grenze zwischen Leben und Tod. Die Todesbilder der Individualpsalmen stammen allesamt aus Räumen der Lebenswelt, also aus der dem Beter vertrauten Natur-, Kultur-, Tier- und Pflanzenwelt. Das Jenseits ist dabei offenbar ein Bereich, der geradezu räumlich ins Diesseits hineinragt und dieses zu einem Todesraum, zu einem jenseitigen Bereich in der diesseitigen Welt gestaltet (s. Abb. 1). Im Unterschied aber etwa zu Ägypten mit seinem Motiv von der ,Rückkehr des Toten ins Diesseits‘23 kehrt in Israel nicht der Verstorbene (und dann der verklärte Totengeist), sondern der von JHWH errettete Beter ins Diesseits zurück. In seinem diesseitigen Leben – und nicht erst nach dem Tod – erfährt der Gerettete das, was die Psalmen als Errettung vom Tod qualifizieren.24 Die Bereiche, die dabei Jenseitsfunktionen übernehmen, sind das Grab, das Gefängnis, die Zisterne, die Grube, die Wasserflut, das Meer, die Wüste/Steppe, der Rand des Gebirges und – als zeitlicher Bereich – die finstere Nacht. Sie bilden die schmale und gefährliche Grenze zwischen Leben und Tod, auf der sich der bedrängte Beter befindet:

21 Siehe dazu B. Janowski, Wohnung, 35ff; M. Leuenberger, Jhwh, 246ff und A. Berlejung, Art. Weltbild/Kosmologie, 67ff. Wichtig ist dabei der Sachverhalt, dass es sich bei diesen beiden Dimensionen um Varianten einer Grundvorstellung handelt, die jeweils einen Aspekt – den vertikalen oder den horizontalen – in den Vordergrund rücken, ohne den jeweils anderen einfach auszuschließen, s. dazu auch B. Janowski, Wohnung, 61 mit Anm. 136. 22 Siehe dazu Chr. Barth, Errettung, 72ff.98ff; W.P. Brown, Seeing, 44f; B. Janowski, Die Toten, 208ff und die Belege unten Anhang I 1b. Theologiegeschichtlich kommt das Thema „JHWH und die Toten / die Unterwelt“ erst in spätvorexilischer Zeit auf und gewinnt in der exilisch-nachexilischen Epoche an Profil, s. dazu B. Janowski, Gott Israels, 266ff; G.D. Eberhardt, JHWH und M. Leuenberger, Gott, 76ff. 23 S. dazu J. Assmann, Tod, 285ff und B. Janowski, Konfliktgespräche, 260ff. 24 S. dazu Chr. Barth, Errettung, 98ff.

307

„Bis an den Himmel reicht deine Güte“

Diesseits

Diesseitsbereiche mit Jenseitsfunktion

Jenseits

Welt der Lebenden

‚Unterwelt der Lebenden‘ (Situation des Bedrängten)

Welt der Toten

Haus Stadt Tempel Kulturland Gemeinschaft Kommunikation Reinheit

Grab, Gefängnis, Grube, Zisterne, Wasserflut, Meer, Wüste/Steppe, Bergland, Finsternis, Nacht, ‚die Tiefen‘

Unterwelt Scheol Abaddon Land ohne Wiederkehr Einsamkeit Schweigen Unreinheit

Abb. 1: Die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits nach den Psalmen

In den Dankliedern des Einzelnen bekommt die Hoffnung auf Errettung vom Tod eine explizit räumliche Dimension (Ps 18,4–7; 30,2–4; 116,3–9, vgl. Jon 2,2–1025 u.a.). Ein prominentes Beispiel dafür ist das individuelle Danklied Ps 116,26 das seinen Ort im Tempelkult hat und dort vom Geretteten „vor seinem (sc. JHWHs) ganzen Volk“ (V. 14b.18b) im Rahmen einer Toda-Feier vorgetragen wurde:27 I

Danksagung

Eröffnendes Bekenntnis 1 Ich liebe, denn JHWH hört meine Stimme, mein Gnadengesuch, 2 ja, er hat mir sein Ohr zugeneigt und in meinen Tagen will ich rufen. 3 Umgeben haben mich Schlingen des Todes, und Bedrängnisse der Unterwelt haben mich angetroffen, Bedrängnis und Kummer traf ich (immer wieder) an. 4 Und ich rief den Namen JHWHs (unentwegt) an: „Ach JHWH, lass mein Leben entkommen!“ 5 Gnädig ist JHWH und gerecht und unser Gott ist ein Erbarmer, 6 ein Hüter von Einfältigen ist JHWH; ich war niedrig, und mich rettete er. 7 Kehre zurück mein Leben zu deiner Ruhe, denn JHWH hat an dir gehandelt. 25 Zu Jon 2,2–10 s. P. Weimar, Jona, 233ff. 26 Zu Ps 116 s. außer den Kommentaren besonders H. Spieckermann, Lieben, 286ff; B. Janowski, Dankbarkeit, 275ff und J. Gärtner, Tod, 1211ff. 27 Zum Danklied/Dankopfer (tôdåh) s. zuletzt J. Gärtner, Tod, 1211ff.

308

„Bis an den Himmel reicht deine Güte“

8 9

Ja, du hast (herausgezogen =) befreit mein Leben vom Tod, meine Augen von Tränen, meinen Fuß vom Sturz. Ich werde umhergehen vor JHWH in den Ländern der Lebenden.

Abschließendes Bekenntnis 10 11

Ich glaube, ja, ich sage: „Ich bin/war tief gebeugt“. Ich sprach/spreche hiermit in meinem Zittern: „Alle Menschen sind Lügner“.

II Dankopfer Eingangsfrage 12 Wie kann ich JHWH vergelten für alle seine Wohltaten an mir?

Kultische Antwort des Geretteten I: Becherritus 13 14

Den Becher der Rettungstaten will ich erheben und den Namen JHWHs will ich an-/ausrufen. Meine Gelübde will ich JHWH erfüllen, ja, vor seinem ganzen Volk.

Grund: Kostbarkeit des Lebens 15 16

Kostbar/kostspielig in den Augen JHWHs ist der Tod seiner Frommen. Ach JHWH, ich bin dein Knecht, ich bin dein Knecht, der Sohn deiner Magd, du hast geöffnet meine Fesseln!

Kultische Antwort des Geretteten II: Toda-Opfer 17 18 19

Dir will ich ein Toda-Opfer schlachten, und den Namen JHWHs will ich an-/ausrufen. Meine Gelübde will ich JHWH erfüllen, ja, vor seinem ganzen Volk, in den Vorhöfen des Hauses JHWHs, in deiner Mitte, Jerusalem! Hallelujah!

Gehen wir zunächst vom zweiten Teil des Psalms aus, der in V. 12 mit der Frage nach dem angemessenen Dank für die erfahrene Rettung eröffnet wird. V. 13–19 fungieren als Antwort auf diese Frage, wobei V. 13f und V. 17–19 Rahmenfunktion haben, während V. 15f als Grund für die Errettung vom Tod die Kostbarkeit des Lebens der

„Bis an den Himmel reicht deine Güte“

309

„Frommen“ // des „Knechts JHWHs“ angibt. Die Rahmenabschnitte V. 13f und V. 17f weisen z.T. wörtliche Entsprechungen auf und lassen die Grundelemente des Toda-Opfers: das Erheben des „Bechers der Rettungstaten“ (V. 13a) und das Schlachten des Toda-Opfertiers (V. 17a) in Erscheinung treten. Der zweite Teil (V. 12–19) enthält noch zwei weitere Aspekte. Zum einen den Hinweis auf den Jerusalemer Tempel, konkret die „Vorhöfe des Hauses JHWHs“ // „deine Mitte, Jerusalem“ (V. 19) als den Ort der Darbringung des Dankopfers, wo „die Bewegung, in der JHWH und die Person des Psalms einander nahekommen, … in eine innige Gemeinschaft ein(mündet)“28. Der andere Aspekt ist das Bekenntnis von V. 15f, wonach JHWH den Tod seiner Frommen // seines Knechts nicht billigend in Kauf nimmt, sondern diese/diesen, wie die Rettungserzählung V. 8 berichtet, vom Tod errettet (vgl. V. 16b: Öffnen der Fesseln). Damit ist der innere Grund der Danksagung benannt. Der Dank für die erfahrene Rettung, dessen kultischen Vollzug V. 12–19 beschreiben, ist das Thema des ersten Teils V. 1–11. Im Blick auf dessen sprachliche Gestalt ist von einer „religiösen Topographie“ zu sprechen, weil der Psalm eine Gesamtbewegung von der Scheol (V. 3) über die Länder der Lebenden (V. 9) bis zu den Vorhöfen des Hauses JHWHs (V. 19) nachzeichnet und damit den Beter schrittweise den dramatischen Weg vom Unheil zum Heil zurücklegen lässt. V. 3–9 konstruieren dabei eine Bewegungslinie, die tief unten im (Gefängnis-)Bereich der Scheol (V. 3f) ansetzt, in die Nähe des barmherzigen Gottes (V. 5) führt, der die Distanz zum „niedrigen“ Beter (V. 6ba) durch sein rettendes Eingreifen von oben (= Tempel) her überwindet (V. 6bb, vgl. V. 8) und der diesem ermöglicht, vor ihm in den Ländern der Lebenden (V. 9)29 zu wandeln. Die Rettungserzählung V. 3–6 versprachlicht diese Bewegung als vertikalen Vorgang30 mit der doppelten Richtung von unten (Scheol) nach oben (V. 3f) und von oben (Tempel) nach unten (V. 5f): 28 H. Tita, Gelübde, 122. 29 Zum tempeltheologischen Ausdruck „Land/Länder der Lebenden“ (Jes 38,11; 53,8; Jer 11,19; Ez 26,20; 32,23.24.25.27.32; Ps 52,7; 116,9; 142,6; Hi 28,13) s. F. Hartenstein, Angesicht JHWHs, 80ff: „Fast immer scheint es sich um einen sowohl räumlich als auch qualitativ positiv bestimmten Bereich, eine ,Sphäre‘, zu handeln, die im Gegensatz steht zu entsprechend negativ konnotierten Aussagen über das Ausgeliefertsein an die Unterwelt und ihre Todesmächte (vgl. bes. Ez 26,20 und Ez 32 passim)“ (80). 30 Ein an der Vertikalen orientiertes Raumkonzept begegnet auch in den Klageliedern Ps 9,14f; 40,2f, in den Dankliedern Ps 18,4–7.17 und Ps 30,2–4 sowie in Jon 2,4–8, zum Raumkonzept von Ps 18,4–7 und 30,2–4 s. B. Janowski, Dankbarkeit, 287ff. Wie in Ps 116,3–9.19 ist auch in Jon 2,3–10 das Ziel des im „Bauch der

310

„Bis an den Himmel reicht deine Güte“

JHWH ↑ Klage des Beters

4 3

5 Erhörung JHWHs ↓ 6 Beter

Tempel Scheol

Nach der erfolgten Rettung (V. 7f) verläuft der Weg des Beters in horizontaler Richtung vom Ort der „Ruhe“ (V. 7) / von den „Ländern der Lebenden“ (V. 9) zu den „Vorhöfen des Hauses JHWHs“ (V. 19), wobei drei konzentrische Kreise: Länder der Lebenden → Jerusalem → Vorhöfe des Tempels die schrittweise Rückkehr des Geretteten in die Gemeinschaft mit JHWH räumlich abbilden. Das Ziel ist das Dankopfermahl des Geretteten in der Gegenwart JHWHs und vor seinem ganzen Volk, wie es der zweite Teil V. 13–19 beschreibt. Wie Ps 116 zeigt, blickt der Beter auf seine vielschichtigen Erfahrungen mit der Scheol einerseits und mit JHWH andererseits zurück und vergegenwärtigt sich auf diese Weise den dramatischen Weg vom Tod zum Leben. Konstitutiv dafür ist die Verschränkung mehrerer Raum- und Zeitebenen, der zufolge der Beter an zwei Orten und in zwei Zeiten zugleich lebt: in der Vergangenheit seiner jetzt überstandenen, aber im Vollzug des Gebets erinnerten Todesnot und in der auf die heilvolle Zukunft ausgerichteten Gegenwart. Diese Erfahrung einer Wende vom Unheil zum Heil wird vom Text in räumlicher Hinsicht als Weg des Beters von der Scheol zum Tempel dargestellt. Damit wird sprachlich inszeniert, was für die Durchführung der Toda konstitutiv ist: die Perspektive der überstandenen Todesnot. Akut wird eine solche Verschränkung zweier konträrer Zeit- (Vergangenheit/Gegenwart) und Raumerfahrungen (Scheol/Tempel) an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Situation. Es sind die Vorhöfe des Jerusalemer Tempels (V. 19), wo jene dramatische Tod/LebenErfahrung zur Sprache kommen und im Rahmen einer Toda-Feier öffentlich gemacht werden kann. Für den vom Tod Erretteten ist der Tempel der Sehnsuchtsort schlechthin. 2.

Schöpfungstheologische / kosmologische Aspekte

Einen zweiten Schwerpunkt hat das Thema „Gott und Raum“ im Kontext schöpfungstheologischer / kosmologischer Vorstellungen. 31 Scheol“ (V. 3) gesprochenen Dankgebets das Jerusalemer Heiligtum (V. 5.8), s. dazu die Hinweise bei B. Janowski, Dankbarkeit, 283 Anm. 73. 31 Zur Frage der (Spät-)Datierung der alttestamentlichen Schöpfungsaussagen s. R. Kratz / H. Spieckermann, Art. Schöpfung, 258ff und K. Schmid, Schöpfung, 72ff. Diese Frage ist, wie etwa Ps 24,1f; 93,1f zeigen und selbst H. Spieckermann, Heilsgegenwart, 74 Anm. 3 einräumt, m.E. noch nicht abschließend beantwortet, s. dazu B. Janowski, Königtum Gottes, 205ff; M. Albani, Gott, 123f.248f und J. Jeremias, Theologie, 325f.

„Bis an den Himmel reicht deine Güte“

311

Diese sind nicht auf die Schöpfungspsalmen (Ps 8; 19; 104; 148)32 beschränkt, sondern sie begegnen auch in anderen Psalmengattungen (Ps 24; 29; 50; 74; 78; 89 u.a.).33 In ihnen kommen alle Bereich der geschaffenen Welt (Himmel / Wolken / Gestirne, Erde / Berge / Felsen, Meer / Flüsse / Wasser, Erdentiefen, Tier-/Pflanzenwelt) zur Sprache, dazu das richtende und rettende Eingreifen des Schöpfers und Erhalters sowie die Fülle der ihn preisenden Schöpfungswelt. Mit dem Thema „Schöpfung“ verbindet sich, wie bereits Gen 1,1–2,3 zeigt, der Blick auf das Ganze von Gott, Welt und Mensch(en) und – damit verbunden – der Aspekt der schöpferischen Zugewandtheit Gottes. a)

Das kosmische Lebenshaus

Gen 1,1–2,3 beschreibt Gottes Schöpfungshandeln als Ermöglichung von Leben „in einem allen Lebewesen gemeinsam zugewiesenen Lebensraum“34, wobei den Ordnungskategorien Raum und Zeit eine fundamentale Bedeutung zukommt. Das äußert sich nicht nur in der Scheidung von Licht und Finsternis als des von Gott gesetzten Wechsels der Zeiträume „Tag“ und „Nacht“ (V. 3–5) sowie in der Erschaffung der beiden „Leuchten“ Sonne und Mond (V. 14–19), sondern auch in der Abfolge von sechs Arbeitstagen und einem abschließenden siebten Ruhetag. Die Schöpfung ist damit als Sieben Tage-Einheit gestaltet, innerhalb deren die Tage I–IV (V. 3–19) einen thematisch selbständigen Textabschnitt bilden, von dem die Tage V–VI (V. 20–31) als ein zweiter, durch eine Reihe von Besonderheiten (Verben bårå∞ „schaffen, hervorbringen“ und brk pi. „segnen“) ausgezeichneter Abschnitt abgesetzt sind.35 Den Abschluss bildet die Schilderung des Endes des göttlichen Schöpfungshandelns mit der „Segnung“ und der „Heiligung“ des 7. Tages (2,3a) und dem „Ruhen“ Gottes an eben diesem Tag (2,2b.3b). Innerhalb dieses Sechstage- und Achtwerke-Schemas geht es um die raumzeitliche Ordnung der Welt (Tage I–III) und die in ihr exis32 Zu den Schöpfungspsalmen s. H. Spieckermann, Heilsgegenwart, 21ff; R. Kratz / H. Spieckermann, Art. Schöpfer/Schöpfung, 264ff; B. Janowski, Art. Schöpfung, 971; K. Schmid, Schöpfung, 99ff; J. Schnocks, Psalmen, 131ff und J. Jeremias, Theologie, 331ff. 33 Siehe dazu die Belege unten Anhang I 2a–b. 34 E. Zenger, Gottes Bogen, 78, vgl. 58.65.81f u.ö., zum Folgenden s. auch B. Janowski, Welt, 3ff. 35 Zum thematischen Einschnitt nach Tag IV (Gen 1,14–19) und zu den Besonderheiten in der Darstellung der Tage V–VI s. die Hinweise bei B. Janowski, Welt, 9ff. Dort noch nicht berücksichtigt ist W. Bührer, Anfang, 131ff, der zu einer etwas anderen Gliederung kommt.

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„Bis an den Himmel reicht deine Güte“

tierenden Lebewesen (Tage IV–VI). So erscheint am zweiten Tag das in das uranfängliche Chaoswasser „hineingestemmte Himmelsgewölbe“36, unter dessen Schutz am dritten Tag das „Trockene“, also die Erde, sichtbar wird, aus der dann die Vegetation hervorgeht. Am vierten Tag wird der so entstandene ‚Weltinnenraum‘ durch das lebensförderliche Licht der Sonne und den Rhythmus der Gezeiten belebt. Am 5. Tag kommen schließlich die Wasser- und Flugtiere und am 6. Tag die Landtiere und die Menschen hinzu, die sich zusammen den gemeinsamen Lebensraum Erde teilen. Schematisch lässt sich diese Struktur wie folgt darstellen: 1,1f

Anfang der Schöpfung

1,3–31 Schöpfungswerke und Schöpfungstage Lebensräume 1. Tag: Licht und Finsternis (3–5) 2. Tag: Himmelsfeste (6–8) 3. Tag: Erde, Meer, Pflanzen (9–13) • vom Meer getrennte Erde (9f) • Pflanzen tragende Erde (11–13) 4. Tag: Gestirne (14–19)

ZEIT: Stiftung Raum: Himmel Raum: Erde/Meer

ZEIT: Rhythmisierung

Lebewesen 5. Tag: Wasser- und Flugtiere (20–23) 6. Tag: Landtiere und Menschen (24–31) • Landtiere (24f) • Menschen (26–31)

Raum: Meer/Himmel

2,2f

ZEIT: 7-Tage-Einheit

Abschluss der Schöpfung am 7. Tag

Raum: Erde

Gen 1,1–2,3 entwirft das Bild eines kosmischen Lebenshauses,37 das vom Schöpfer in das uranfängliche Chaoswasser hineingestemmt wird (V. 1f.3–5) und dessen ‚Dach‘ die Himmelsfeste mit den großen Leuchten (V. 6–8.14–19) und dessen ‚Fußboden‘ die Erde ist, auf der die Pflanzen für die Tiere und die Menschen wachsen (V. 9–13.29f). Es wird also erzählerisch dargestellt, wie die Welt entstand und zwar 36 N. Lohfink, Gottesstatue, 32. 37 Zum Ausdruck „kosmisches Haus“ oder „Lebenshaus“ s. auch E. Zenger, Gottes Bogen, 98.101 u.ö.

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in „eine(r) von keiner andern Schöpfungs- und Schöpferdarstellung mehr erreichte(n) Tiefe und Weite“38. b)

Chaosbegrenzung durch den Schöpfergott

Der priesterliche Schöpfungsbericht ist die Basis und der Maßstab der kosmologischen Aussagen der Schöpfungspsalmen,39 auch wenn diese eigene Akzente setzen. Gen 1,1–2,3 formuliert die raumzeitlichen Rahmenbedingungen, die das Leben aller Geschöpfe auf dem gemeinsamen Lebensraum „Erde“ bestimmen. Charakteristisch dafür ist der göttliche Akt des Scheidens, wonach die Schöpfung als eine „Folge fortschreitender Grenzziehungen“40 stilisiert ist: Gott „schied“ (bdl hif.) zwischen Licht und Finsternis (V. 4), zwischen den Wassern unterhalb und oberhalb der „Feste“ (V. 6f), und mittels der „Leuchtkörper an der Feste des Himmels“ zwischen Tag und Nacht (V. 14) bzw. zwischen Licht und Finsternis (V. 18): „Erschaffen heißt in Gen 1 geradezu … Grenzen setzen und dadurch definierte Verhältnisse und Beziehungen stiften, die … der Grund dafür sind, daß sich das Leben durch Auswahl und Entscheidung von Möglichkeiten entwickelt.“41

In dieses Gefüge voneinander abgegrenzter und aufeinander bezogener Lebensräume samt der ihnen zugeordneten Lebewesen wird der Mensch am 6. Tag gleichsam als ,Spitze einer umgekehrten Pyramide‘ eingebunden und damit gebunden an alles, was vor ihm geschaffen ist – und doch unübersehbar herausgehoben durch seine Bestimmung zum „Bild Gottes“ (imago Dei) und zur „Herrschaft über die Erde und die Tiere“ (dominium terrae et animalium).42 Die durch den Akt des göttlichen Scheidens (bdl hif. V. 4.6f.14.18) gesetzten Grenzen sind Unterscheidungen, die der Mensch braucht, um in eine Beziehung zur geschaffenen Welt zu treten. Das verdeutlicht auch das Thema „Konfrontation von Schöpfung und Chaos“, das besonders in den Psalmen begegnet und hier in dreifacher Weise stilisiert wird:

38 K. Seybold, Poetik II, 301. Ähnliche Bilder vom kosmischen Lebenshaus gibt es in Jes 45,18; Hi 26,7 u.a. 39 Siehe dazu die Hinweise oben Anm. 32. 40 Chr. Link, Mensch, 20. 41 Chr. Link, Mensch, 20 (Hervorhebung im Original). 42 Was das heißt, habe ich andernorts zu zeigen versucht, s. dazu B. Janowski, Statue Gottes, 140ff.

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– als Kampf JHWHs gegen das Chaos (und seine mythischen Repräsentanten), das die bereits geschaffene Welt bedroht (Ps 74,13f; 89,10f, vgl. Jes 51,9f; Hi 26,12; 40f); – als Triumph JHWHs, der den siegreich überstandenen Kampf gegen das Chaos zur Voraussetzung hat, aber nicht mehr darstellt (Ps 93,3f, vgl. Ps 46,3f.5–7 [?]); – als Setzungsakt JHWHs, durch den das Chaos am Anfang der Welt definitiv begrenzt wurde (Ps 65,8; 104,5.9, vgl. Jer 5,22; Hi 38,8–11; Spr 8,29 u.ö.)43.

Die verschiedenen Darstellungsformen der Schöpfung/Chaos-Thematik sind jeweils durch bestimmte Topoi und Formulierungsmuster geprägt. Obwohl sie keine Beschreibungen historischer Zustände sind, haben sie doch eine geschichtliche Dimension, da sie einer bestimmten historischen / kulturellen / sozialen Situation (Ps 93: vorexilische Jerusalemer Tempeltheologie, Ps 74; 89: exilische Volksklagelieder; Ps 104: spätweisheitliche Welterkenntis) entstammen. Wie differenziert dieses Thema ausgearbeitet wird, zeigt beispielhaft Ps 104,44 der im Vergleich zu Gen 1,1–31 eine andere Abfolge der Schöpfungswerke (s. Abb. 2) und auch eine andere Gesamtperspektive (s. Abb. 3)45 aufweist: Ps 104 1ab–2a Lichtkleid JHWHs 2b–4 JHWHs Wirken im Himmel 5–9 Trennung von Erde und Meer 10–18 Erde als 19–24 Lebensraum (Gestirne: 19ff) 10–18. Quellen, Bäche, Regen, 25f Meer (Fische, Schiffe, Leviathan)

10–18 Lebensraum der Landtiere 14f.23 Mensch (Arbeit) 14f.21 Menschen/Tiere (Nahrung)

Gen 1 3–5 6–8

Licht / Finsternis Himmelsfeste

9–10 vom Meer getrennte Erde 11–13 Pflanzen tragende Erde 14–19 Gestirne 20–23 Wasser- und Flugtiere (Seeungeheuer, Fische, Vögel)

24f Landtiere 26–28 Mensch (Bild Gottes) 29f Menschen/Tiere (Nahrung)

Abb. 2: Vergleich zwischen Ps 104 und Gen 1 (Endtext) 43 Siehe dazu C. Petersen, Mythos, 110f; B. Janowski, Königtum Gottes, 170f und A. Krüger, Lob, 156ff. 44 Zu Ps 104 s. außer den Kommentaren besonders Th. Krüger, „Kosmo-theologie“, 91ff; M. Köckert, Beobachtungen, 259ff; A. Berlin, Wisdom, 71ff; O. Keel / S. Schroer, Schöpfung, 163ff; A. Krüger, Lob und J. Schnocks, Psalmen, 131ff. 45 Zu den Gemeinsamkeiten und (vor allem) Unterschieden zwischen Ps 104 und Gen 1 s. Th. Krüger, „Kosmo-theologie“, 117f und A. Berlin, Wisdom, 75f.

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1aa

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Aufgesang: „Lobe, meine næpæç, JHWH! “

1ab–2a

Majestätsprädikation: Das Lichtkleid JHWHs

2b–4 Wirken des Königsgottes im Himmel 5–30 Erde und Meer als „Werke“ JHWHs 5–9 Trennung von Erde und Meer 10–24 Erde als Lebensraum 10–18 Versorgung mit Wasser: Quellen, Bäche, Regen 19–23 Versorgung mit Zeit: Nacht/Tag-Wechsel 24 Bewunderungsruf: JHWHs „Werke“ auf der Erde 25–26 Meer als Lebensraum 27–30 Lebensversorgung aller Geschöpfe auf der Erde

24

31–32 33–35

Majestätsprädikation: Die Herrlichkeit JHWHs

Abgesang: „Lobe, meine næpæç, JHWH! “ Abb. 3: Zur Komposition von Ps 104 (Endtext)

Ps 104 setzt nach der hymnischen Majestätsprädikation von V. 1ab– 2a mit einer Beschreibung der himmlischen Wohnstatt JHWHs und der als seine „Diener“ fungierenden Wolken, Winde und Feuer ein (V. 2b–4) und qualifiziert sodann die Trennung von Erde und Meer als einen kreativen Setzungsakt des Königs- und Schöpfergottes (V. 5–9)46: Majestätsprädikation: Das Lichtkleid JHWHs 1* JHWH, mein Gott, du bist sehr groß! Mit Hoheit und Pracht bist du bekleidet, 2 sich hüllend in Licht wie in den Mantel!

Wirken des Königsgottes im Himmel Der ausspannt (den) Himmel wie die Zeltdecke, 3 der zimmert im Wasser seine Obergemächer, der bestimmt Wolken zu seinem Wagen, der einherfährt auf den Flügeln des Windes, 4 der macht zu seinen Boten Winde, zu seinen Dienern flammendes Feuer.

Trennung der Erde vom Meer 5 Er hat gegründet (die) Erde auf ihren Fundamente – sie wankt nicht auf immer und ewig. 46 Zu der (m.E. immer noch offenen) Frage, ob V. 5–9 eine Fortschreibung darstellen, s. zuletzt F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalmen 101–150, 73 (Hossfeld); J. Schnocks, Psalmen, 135ff und J. Jeremias, Theologie, 332ff.

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6 Urflut – wie das Kleid ‹hatte sie sie bedeckt›, über (den) Bergen standen (die) Wasser. 7 Vor deinem Schelten flohen sie, vor der Stimme deines Donners eilten sie davon. 8 Sie stiegen (auf) Berge hinauf, stiegen (in) Täler hinab,47 zu dem Ort, den du ihnen gegründet hast. 9 Eine Grenze hast du gesetzt, sie überschreiten sie nicht, sie kehren nicht (mehr) zurück, um die Erde zu bedecken.

Die Komposition von V. 5–9 lässt sich folgendermaßen darstellen: 5 Thema: „Gründung“ (jåsad) der Erde auf stabilen Fundamenten 6 Ausgangspunkt: Tehom „bedeckte“ (kåsåh) die Erde // über den Bergen standen die Wasser 7 Aktion des Königsgottes: „Schelten“ (gå˛ar) und Reaktion der Wasser: Flucht 8 Verlauf: Hinaufsteigen/Hinabsteigen der Wasser und Zielpunkt der Flucht: von JHWH „gegründeter“ (jåsad) Ort 9 Fazit: Definitive Grenzsetzung und Resultat: kein „Bedecken“ (kåsåh) der Erde mehr mit Wasser

Im Unterschied zu Gen 1,2, wo die „Urflut“ (tehôm) zusammen mit der Tohuwabohu-Erde und der Finsternis zu den Elementen der ,Welt vor der Schöpfung‘ gehört,48 geht es in Ps 104,5–9 nicht um die Erschaffung von Erde und Meer, sondern um die Gründung der Erde auf stabilen Fundamenten (V. 5) und die definitive Begrenzung der Urflut / der Wasser durch einen kreativen Setzungsakt JHWHs (V. 9). Dennoch erinnert die Beschreibung der Depotenzierung der Urflut / der uranfänglichen Wasser „sowohl an die erste Schöpfungserzählung in Gen 1, wo das Wasser unterhalb des Himmels alles bedeckte und erst durch seine Sammlung im Meer das Land erscheint (Gen 1,9) als auch an die Schilderung der Sintflut (Gen 7,19), die bis über die hohen Berge ansteigt“49.

Danach werden in überaus eindrücklichen Bildern und in einer von oben (Obergemächer, Himmel, Berge) nach unten (Bachtäler, Erde, 47 Subjekt der Verben in V. 8a sind die „Wasser“ (Rückbezug auf V. 6f), s. dazu auch H. Spieckermann, Heilsgegenwart, 22 mit Anm. 5; Th. Krüger, „Kosmo-theologie“, 96 Anm. 28 u.a. So wird das ,Fliehen‘ der auf- und absteigenden Wasser durch Verben der Bewegung gleichsam als Wellenbewegung räumlich zur Anschauung gebracht und für den Leser damit nachvollziehbar gemacht. Zur Frage der Anschaulichkeit der Raumbilder im Psalter s. unten 333f. 48 Siehe dazu B. Janowski, Welt, 5ff. 49 J. Schnocks, Psalmen, 136.

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Felder) und wieder nach oben (Libanongebirge, hohe Berge, Felsen) führenden Bewegung die verschiedenen Lebensräume (Biotope) von Pflanzen, Tieren und Menschen in den Blick genommen (V. 10–18) und in ihrer gegenseitigen Beziehung dargestellt (vgl. Spr 3,19).50 Es ist eine Welt, die im Ganzen wie im Einzelnen von Gottes Weisheit gestaltet ist und der der Mensch, wie der Bewunderungsruf von V. 24 unterstreicht, trotz aller Ambivalenzerfahrungen (vgl. V. 21.29.32. 35)51 nur mit ehrfürchtigem Staunen gegenüber treten kann: Wie zahlreich sind deine Werke, JHWH, sie alle hast du in Weisheit gemacht, Voll (ist) die Erde von deinem Eigentum!

Im Unterschied zur Jerusalemer Tempeltheologie mit ihrem expliziten wie impliziten Tempelbezug52 ist die Hinwendung Gottes zur Welt nach Ps 104 „auch ohne Tempel jederzeit erfahrbar“53. JHWH residiert in seinem himmlischen Bereich (V. 1ab–4) und wirkt von dort aus auf die Erde und ihren Lebensräume ein (V. 13.20.22.29f. 32). „In dieser ,immanenten Transzendenz‘“, so Th. Krüger, „ermöglicht Jahwe Leben und gewährt ihm zugleich einen – relativen – Freiraum, der insbesondere vom Menschen auch zum Widerspruch gegen Jahwe mißbraucht werden kann – ohne daß dadurch der Bestand des Kosmos im Ganzen in Gefahr geraten könnte (V. 34f).“54 3.

Anthropologische und ethische Aspekte

Der dritte Schwerpunkt des Themas „Gott und Raum“ findet sich schließlich in Psalmen, die einen anthropologischen und / oder ethischen Fokus haben.55 So wird in späten Psalmen der menschliche Körper zum Ort des Einwirkens Gottes auf den Menschen, sei es, dass er den Beter im Leib seiner Mutter „gewoben“ und von dort „herausgezogen“ hat (Ps 22,10f; 139,13–16), sei es, dass seine Tora 50 Dabei blickt, wie A. Berlin, Wisdom, 76 zu Recht schreibt, Ps 104 mit den Augen eines Menschen und nicht mit den Augen Gottes auf die Schöpfungswelt. 51 Siehe dazu besonders Th. Krüger, „Kosmo-theologie“, 103f. 52 Siehe dazu oben 303ff. 53 Th. Krüger, „Kosmo-theologie“, 117. Genauer müsste man wohl sagen, dass in Ps 104 Himmel und Erde insgesamt als „Weltenbau JHWHs“ erscheinen, s. dazu F. Hartenstein, Unzugänglichkeit, 224f und M. Albani, Schöpfung, 53f mit Anm. 55. Einen expliziten Tempelbezug nimmt demgegenüber A. Berlin, Wisdom, 77 mit Anm. 19 ausgehend von dem Terminus jerî˛åh „Zelttuch, Zeltbahn“ (Ps 104, 2b) an; zum Motiv des „Himmelausspannens/-breitens“ s. aber A. Krüger, Lob, 107ff.123. 54 Th. Krüger, „Kosmo-theologie“, 104 (Hervorhebung im Original). 55 Zu den Belegen s. unten Anhang I 3a–c.

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bis ins Innere des Menschen vordringt (Herz: Ps 37,30f, Eingeweide: Ps 40,7–9) oder dass das Herz / der Geist des Menschen von Gott „fest“ und „beständig“ gemacht wird (Ps 10,17;51,12; 57,8).56 Auch die Metaphorik des „weiten Raums“, den JHWH dem Beter gegen alle Erfahrungen der Bedrängnis und Enge schafft, begegnet in späten, z.T. weisheitlich geprägten Psalmen (Ps 4,2; 18,20; 37; 31,9; 118,5; 119,45 u.ö.). Auf zwei dieser Texte – Ps 139 und 31 – soll abschließend eingegangen werden. a)

Der Körper als Ort der Gottespräsenz

Ps 13957 beschreibt den dichten Reflexionsprozess eines Beters, der von der Erfahrung seiner umfassenden Erforschung durch Gott (V. 1b–6) über die Erwägungen zur irrealen Flucht vor ihm (V. 7–12) bis zur emphatischen Bejahung der Verbindung von Schöpfer / Geschöpf (V. 13–18) und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für sein zukünftiges Verhalten (V. 19–24) reicht. Dieser Text ist voll von Raummetaphern und Bildern der Gottesnähe / Gottesferne: 1a

Für den Chormeister. Von David. Ein Psalm.

Erforschung durch den allgegenwärtigen Gott 1b JHWH, du hast mich erforscht und erkannt. 2 Du kennst mein Sitzen und mein Aufstehen, du durchschaust meine Absicht von ferne. 3 Mein Gehen und Lagern hast du abgemessen und mit allen meinen Wegen bist du vertraut. 4 Ja, kein Wort war auf meiner Zunge – siehe, JHWH, du hast es gänzlich erkannt. 5 Von hinten und von vorn hast du mich eingeschlossen und auf mich deine Handfläche gelegt. 6 Zu wunderbar ist diese Erkenntnis für mich, zu hoch – ich vermag sie nicht zu fassen!

Erwägungen zur Flucht vor Gott 7 8

Wohin kann ich gehen vor deinem Geist, und wohin kann ich fliehen vor deinem Angesicht? Wenn ich hinaufstiege in den Himmel – dort bist du, und wollte ich mich mein Lager aufschlagen in der Unterwelt – siehe (, da bist) du!

56 Siehe dazu H. Spieckermann, Kosmos, 210ff und R. Müller, Herz, 59ff. 57 Zu Ps 139 s. außer den Kommentaren besonders H. Irsigler, Flucht, 216ff; G.D. Eberhardt, JHWH, 103ff; M. Grohmann, Fruchtbarkeit, 27ff; F. Hartenstein, Horizont, 494ff; M. Köckert, Ausgespäht, 415ff; G. Hakizimana, Mensch u.a.

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9 10 11 12

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Erhöbe ich die Flügel der Morgenröte, (und) ließe ich mich nieder am Ende des Meeres, auch dort würde mich deine Hand leiten und mich deine Rechte ergreifen. Da sprach ich: „Nur Finsternis möge mich angreifen, und Nacht sei das Licht um mich her!“ Auch Finsternis verdunkelt nichts vor dir,58 und die Nacht leuchtet wie der Tag! Wie die Finsternis so das Licht!

Rückblick auf die Erschaffung durch Gott 13 14 15 16 17 18

Fürwahr, du selbst hast meine Nieren geschaffen, hast mich gewoben im Leib meiner Mutter. Ich preise dich, dass ich erschreckend wunderbar bin, wunderbar sind deine Werke, und meine næpæç (= mein Leben/ich) weiß das wohl. Nicht war verborgen mein Gebein vor dir, als ich gemacht wurde im Verborgenen, kunstvoll gewirkt in den Tiefen der Erde. Mein Ungeformtes/Embryo sahen deine Augen, und in dein Buch werden sie allesamt geschrieben werden: die Tage, die geformt wurden, als (noch) nicht einer von ihnen war. Mir aber – wie kostbar sind mir deine Absichten, Gott, wie gewaltig sind ihre Summen! Wollte ich sie zählen – zahlreicher als Sand sind sie, ich bin erwacht, und noch bin ich bei dir.

Konsequenzen für das Verhalten 19 20 21 22 23 24

Wenn du (doch) tötetest, Gott, den Frevler, und ihr Blutmänner, weicht von mir, die von dir sprechen zur Heimtücke, die (ihre Stimme) zum Nichtigen erhoben haben, deine Feinde! Hasse ich etwa nicht, JHWH, die dich hassen, und ekle ich mich etwa nicht vor denen, die sich gegen dich auflehnen? Mit äußerstem Hass hasse ich sie, zu Feinden sind sie mir geworden. Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne meine Gedanken! Und sieh, ob ein Weg von Pein bei mir ist, und leite mich auf ewigem Weg!

Dem Beter von Ps 139 geht es nicht um seine öffentliche Rehabilitierung, sondern um die Trennung von seinen und JHWHs Feinden. „Zu 58

Oder intransitiv: „ist nicht dunkel vor dir“.

320

„Bis an den Himmel reicht deine Güte“

diesem Zweck zieht er eine klare Grenze und bittet JHWH um Achtsamkeit, Prüfung und Unterstützung, daß er diesen ,Kurs‘ durchhält“59. Mit dem Motiv der durchdringenden Menschenkenntnis Gottes, mit dem der Text endet (V. 23f), beginnt er auch in der ersten Strophe und nennt diese göttliche Erkenntnis „zu wunderbar“ // „zu hoch“, ja unfassbar (V. 6). Plastisch wird diese Allgegenwart JHWHs auf die äußeren Bewegungen des Beters (Sitzen / Aufstehen V. 2a, Gehen / Sich Niederlegen V. 3a) und auf sein inneres Verhalten (Absicht V. 2b / „Wege“ = Lebenswandel V. 3b) bezogen, die damit eine immer bedrohlichere Färbung annimmt. V. 5 zeichnet dann das Bild einer totalen Einschließung, die den Beter jeder Fluchtmöglichkeit beraubt. Am Ende bleibt ein großes Rätsel, das irritierend und schier unerträglich ist (V. 6).60 Die zweite Strophe (V. 7–12) konkretisiert das Gefühl des Beters, der allumfassenden Erkenntnis JHWHs ausgesetzt zu sein, durch den Blick in die kosmische Weite der Welt mit ihrer vertikalen (Himmel / Unterwelt) und horizontalen Achse (Osten: Flügel der Morgenröte / Westen: Ende des Meeres, s. Abb. 4). Himmel Tag/Licht Ende des Meeres W

Beter

Flügel der Morgenröte O

Nacht/Finsternis Unterwelt / Tiefen der Erde

Abb. 4: Zur Raumsymbolik von Ps 139,7–12

Der Kommentar V. 11f zieht daraus einen Schluss, der die Kosmologie von Gen 1,3–5 voraussetzt, diese aber überbietet: Der Schöpfer scheidet nicht nur zwischen Licht/Tag und Finsternis/Nacht, sondern die Finsternis ist für ihn „wie das Licht“ (V. 12). Die alles durchdringende Lichthaftigkeit Gottes transzendiert die empirische Realität von Licht und Finsternis.61 Zur Raumsymbolik von V. 7–12 gibt es eine Sachparallele in dem Brief EA 264 aus dem mittelägyptischen Tell el-Amarna. Es handelt sich um die Er59 F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalm 100–150, 720 (Hossfeld), vgl. M. Köckert, Ausgespäht, 425. 60 Vgl. F. Hartenstein, Horizont, 498f. 61 Vgl. H. Irsigler, Flucht, 184ff.

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321

gebenheitsaussage Tagis, des Königs von Ginti-Kirmil, an den Pharao Amenophis IV. / Echnaton (1351–1335 v.Chr.), die aufschlussreich für die spätbronzezeitlich-kanaanäische Königsideologie ist. Der entscheidende Passus lautet folgendermaßen: (13) Ferner: (14) Siehe, (was) uns (betrifft): Auf dich (15) sind meine Augen (gerichtet). Wenn wir (16) zum Himmel hinaufsteigen und wenn (17) wir in die Unterwelt hinabgehen, (18) ist unser Haupt (19) in deiner Hand. (EA 264,13–18)62 Zu vergleichen sind auch die zwei-, drei- und viergliedrigen Allformeln in Jes 7,11; 14,13–15; Am 9,2–4; Hi 11,8f und Sir 1,3:63 10 11

JHWH sprach weiter zu Ahas und sagte: „Erbitte dir ein Zeichen von JHWH, deinem Gott, mach es tief nach der Unterwelt oder hoch nach oben hin!“ (Jes 7,10f)

13

Du (sc. König von Babel) aber hattest gesagt in deinem Herzen: „Zum Himmel will ich emporsteigen, hoch über den Sternen Gottes meinen Thron aufrichten. Ich will mich niedersetzen auf den Versammlungsberg, im äußersten Bereich des Nordbergs. Ich will emporsteigen auf dem Rücken der Wolken, dem Höchsten will ich mich gleichstellen.“ Jedoch in die Unterwelt wirst du hinabgestürzt, in den tiefsten Bereich der Grube. (Jes 14,13–15)

14 15 2

3

4

7

Sollten sie (sc. die Israeliten) in die Unterwelt durchbrechen, würde meine Hand sie von dort ergreifen; sollten sie in den Himmel hinaufsteigen, würde ich (sc. JHWH) sie von dort herunterholen. Sollten sie sich verbergen auf dem Gipfel des Karmel, würde ich sie dort aufspüren und ergreifen; sollten sie sich vor meinen Augen auf dem Grund des Meeres verstecken, würde ich dort der Schlange befehlen, dass sie sie beißt. Sollten sie in Gefangenschaft ziehen vor ihren Feinden, würde dort dem Schwert befehlen, dass es sie tötet. Ich richte mein Auge auf sie zum Bösen und nicht zum Guten. (Am 9,2–4) Willst du (sc. Hiob) den Urgrund Gottes aufspüren oder bis zur Höhe des Allmächtigen finden?

62 Übersetzung M. Weippert, Textbuch, 131. 63 Siehe dazu im Einzelnen H. Irsigler, Flucht, 222.223f; F. Hartenstein, Horizont, 500; W.A.M. Beuken, Jesaja 13–27, 92ff; G.D. Eberhardt, JHWH, 75ff; J. Jeremias, Amos, 125ff und G. Hakizimana, Mensch, 191ff.

322

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8 9

Die Höhe des Himmels – was willst du da ausrichten, tiefer als die Unterwelt – was weißt du davon? Länger als die Erde an Maß und breiter als das Meer! (Hi 11,7–9)

Die Höhe des Himmels und die Breite der Erde und die Abgründe der Weisheit – wer wird sie erforschen? (Sir 1,3)

Auf dem Hintergrund der kosmologischen Reflexionen von Ps 139, 7–12 gelangt der Beter in der dritten Strophe (V. 13–18) zur Frage nach seiner Entstehung, der er bei allen Fluchtgedanken nicht mehr ausweichen kann. Nach dem Weg nach außen in die Weite des Kosmos wird jetzt der Weg nach innen zum Geheimnis der Geburt beschrieben. Dabei bezeichnet das Innere – dafür stehen die „Nieren“ (V. 13a) – dasjenige am Menschen, was neben dem „Herz“ (V. 23a) der Prüfung durch JHWH unterliegt (vgl. Ps 33,15). Der Mensch, so weiß der Beter, ist von Gott „geschaffen“ // „gewoben im Leib meiner Mutter“ (V. 13). Und dieses Wissen wird für ihn zum Gegenstand der rückblickenden Dankbarkeit (V. 14). Das Geheimnis der Geburt wird in V. 15 mit singulären Ausdrücken umschrieben, wobei der Terminus „Knochen, Gebein“ (˛o‚æm) den somatischen Aspekt der Person in den Vordergrund rückt und die Passivformulierung „ich wurde gemacht“ (V. 15b) die Schöpfungsaussagen von V. 13–14a aufnimmt. Die Angabe „im Verborgenen“ kann sich dabei auf die Erschaffung im Mutterschoß zurückbeziehen (V. 13b), aber auch auf V. 15b („kunstvoll gewirkt in den Tiefen der Erde“) vorausgreifen.64 Damit ist der Text bei dem Motivzusammenhang von Mutterleib und Erde (vgl. Hi 1,21; Sir 40,1), der die Besonderheit des göttlichen Zugriffs auf diesen „unzugänglichen ,gottfernen‘ Bereich und damit das Geheimnisvolle der Entstehung des Menschen“65 betont. Diese Dimension bringt auch der Terminus „Ungeformtes“ (golem)66 zum Ausdruck, bei dem es nicht um Details der Menschwerdung, sondern um den Rückgriff auf deren zeitlichen Anfang geht. Dabei wird die Aussage über das „Ungeformte“ (V. 16a) durch den Gedanken der noch ungeformten Lebenstage fortgeführt, die im göttlichen Buch verzeichnet sind und das Leben des Menschen vorausbestimmen (V. 16b). Das aber heißt: Gott ist nicht nur der Schöpfer des menschlichen Lebens, sondern auch der Souverän der Zeit (vgl. Ps 90,2–4). Der Text stellt den Beter damit abermals vor das Wunder 64 Zur Metaphorik des „Webens“ s. M. Grohmann, Anfang, 368f und M. Köckert, Ausgespäht, 433f.435. 65 Chr. Frevel / O. Wischmeyer, Menschsein, 17 (Frevel). 66 Siehe dazu M. Grohmann, Anfang, 368f u.a.

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der kostbaren Absichten Gottes (V. 17f). So verläuft der gedankliche Weg des Beters von innen wieder nach außen zur Gewissheit der dauernden Gottesgemeinschaft. Aber diese Gemeinschaft mit Gott ist, wie die vierte Strophe (V. 19–24) unterstreicht, durch Frevler // Blutmänner gefährdet, wenn der Beter den rechten Weg verlässt, um mit ihnen gemeinsame Sache zu machen (V. 19–22). Das tut er aber nicht. Vielmehr bittet er – trotz der in V. 1b–6 geschilderten Erfahrung! – um eine erneute Erforschung seines Herzens und seiner Gedanken durch Gott (V. 23f). b)

JHWH und der Lebensweg

Am Ende von Ps 139 steht die Bitte, dass JHWH den Beter erforschen und auf seinem Lebensweg (dæræk V. 24, vgl. V. 3b) leiten möge. Das Lexem dæræk, das eine nicht-metaphorische („[räumlicher] Weg“) und eine metaphorische Bedeutung („Lebensweg/-wandel“) hat, ist ein Nomen mit zahlreichen Bedeutungsfärbungen, die sich in vier Hauptklassen gliedern lassen: die räumliche, die räumlich-dynamische, die „aktions-bezogene“, d.h. das Handeln betonende, und die „passions-bezogene“, d.h. das Ergehen betonende Verwendungsweise; dazwischen gibt es mannigfache Übergänge.67 Nimmt man das sachlich verwandte Lexem ∞oraª „Weg, Pfad“ hinzu, erweitert sich das Spektrum der alttestamentlichen Wegmetaphorik noch.68 Für die Anthropologie und Ethik der Psalmen ist die Wegmetaphorik von zentraler Bedeutung. Dabei ist, so M. Zehnder, „der Übergang von wörtlichen zu metaphorischen Verwendungen der Weg-Substantive konzeptionell folgendermaßen nachvollziehbar: Von der räumlichen Grundbedeutung ,Weg‘ verlagert sich der Fokus zunächst auf die Bewegung, die auf einem Weg stattfindet – und von der Bewegung dann weiter auf den Aspekt der Handlung, der mit einer Bewegung verbunden sein kann. In einigen Fällen verschiebt sich der Fokus noch weiter, indem das Resultat der Handlung in den Blick kommt und ,Weg‘ das bezeichnet, was aus der Handlung folgt, das Ergehen des Menschen“69.

67 Siehe dazu M. Zehnder, Wegmetaphorik, 326ff.373ff; M. Zehnder, Weg-Lexeme, 155ff und M. Zehnder, Art. Weg, 438ff. 68 Siehe dazu K. Liess, Weg, 237ff. Aufschlussreich für die alttestamentlichen Wegmetaphorik ist auch die ägyptische Wegmetaphorik, wie sie besonders in den Lebenslehren zum Ausdruck kommt. Auch hier bezeichnet der „Weg“ (w˚t) bzw. der „Weg des Lebens“ (w˚t n ˛nΔ) die rechte Lebensweise, die in der Befolgung der göttlichen Lebensmaximen besteht, s. dazu K. Liess, Weg, 223ff mit ausführlichen Literaturhinweisen. 69 M. Zehnder, Art. Weg, 438.

324

„Bis an den Himmel reicht deine Güte“

Eine besondere Variante des Weg-Motivs liegt dort vor, wo die Errettung vom Tod, die nach Ps 18,4–7; 30,2–4; 116,3–9 u.a. von der Scheol zum Tempel führt,70 als elementare Bewegungsfreiheit, als „Weite“ bzw. „weiter Raum“ beschrieben wird,71 die dem Beter in seiner lebensbedrohlichen „Enge“ von JHWH zurückgegeben wurde: Auf mein Rufen antworte mir, Gott meiner Gerechtigkeit! In der Enge/Bedrängnis (‚ar) hast du mir Raum geschaffen (rªb hif.). Sei mir gnädig, und höre auf mein Gebet! (Ps 4,2) 19 20 37 15 17

Sie (sc. die Feinde) näherten sich mir am Tag meines Unheils, doch wurde JHWH mir zur Stütze. Er führte mich hinaus ins Weite (mœrªåb), er riss mich heraus, denn er hatte Gefallen an mir. Du wirst weit machen (rªb hif.) meine Schritte unter mir, und meine Knöchel wanken nicht. (Ps 18,19f.37) Meine Augen sind ständig auf JHWH gerichtet, denn er zieht (y‚∞ hif.) aus dem Netz meine Füße. Aus den Bedrängnissen (‚årôt) meines Herzens schaffe mir Raum (rªb hif.), und aus meinen Beklemmungen führe mich hinaus (y‚∞ hif.)! (Ps 25,15.17)72

Aus der Bedrängnis (me‚ar) rief ich JH, mich erhörte in der Weite (mœrªåb) JH. (Ps 118,5) Und ich werde wandeln in die Weite (reªåbåh), denn deine Anordnungen habe ich gesucht. (Ps 119,45)

Ein Schlüsseltext für diese Thematik ist das individuelle Danklied Ps 31, das am Ende seines ersten, von Bitten und Vertrauensaussagen geprägten Teils (V. 2–9) auf die Antithetik von „Enge, Bedrängnis“ und „Weite“ rekurriert: Ich hasse die, die nichtige Wahngebilde verehren (< bewahren),73 ich selbst aber habe auf JHWH vertraut. Ich will jubeln und mich freuen über deinen Gunsterweis, der du gesehen hast mein Elend, 70 Siehe dazu oben 306ff. 71 Zur Semantik der „Weite“ s. R. Bartelmus, Art. råªab, 449ff; M. Mark, Meine Stärke, 380ff und W.P. Brown, Seeing, 31ff, bes. 42ff. 72 Zu V. 17 s. R. Bartelmus, Art. råªab, 454: „Der Beter, dessen Herz ,beengt‘ ist (was durchaus konkret im Sinne einer Art ,angina pectoris‘ verstanden werden kann), bittet JHWH, seinem Herzen Raum zu schaffen, d.h. ihm in physiologischem wie in psychologischem Sinne ,Luft‘ zu schaffen; der elementare Zusammenhang von konkret-räumlicher und abstrakter Bedeutung ist sinnenfällig artikuliert.“ 73 Zur Formulierung vgl. Jon 2,9 und dazu P. Weimar, Jona, 209.267ff.

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du hast dich gekümmert um die Bedrängnisse (‚årôt) meines Lebens! Und nicht hast du mich preisgegeben in die Hand des Feindes, du hast gestellt meine Füße auf weiten Raum (mœrªåb).

Anschaulich wird hier die Lebenssituation des Beters mit Hilfe des Gegensatzes „Hand des Feindes“ (V. 9a) vs. „Füße des Beters“ (V. 9b) geschildert, wodurch die ungehinderte Bewegungsfreiheit plastisch zum Ausdruck kommt.74 Möglicherweise ist der Beter sogar mit seinen Füßen in ein von den Feinden über einer Grube gespanntes Netz geraten (vgl. V. 5a),75 aus dem ihn JHWH befreit hat. Auf jeden Fall ist mit den „Füßen“ das Gehen-Können, also die elementare Bewegungsfreiheit gemeint. Wenn man die Wendung von den „Bedrängnissen meines Lebens“ (V. 8b) aufgrund der Netzaussage von V. 5a wörtlich nimmt, so wird auch die Wendung vom „(Hin-)Stellen“ (˛md hif.) der Füße „auf weiten Raum“ verständlich: als figurative Aussage für das Rettungshandeln JHWHs (vgl. Ps 30,8a). Menschliches Leben, so konstatieren diese Texte, ist angewiesen auf Bewegungsfreiheit (vs. Enge/Bedrängnis, vgl. Ps 31,8b) und auf Standfestigkeit (vs. Preisgabe an den Feind, vgl. Ps 31,9a), also auf Eigenschaften, die die Welt im wörtlichen Sinn ,begehbar‘ machen. Dass diese Begehbarkeit der Welt76 für den Menschen lebensnotwendig ist, zeigt auf eindrückliche Weise Ps 104,19–23, wo sich mit dem morgendlichen Aufgang der Sonne, deren von Gott geschaffenes Licht die Welt erschließt, die wilden Tiere in ihre Verstecke zurückziehen (V. 22) und der Mensch „heraustritt“ zu seinem Tun bis zum Abend (V. 23): 19 20 21 22

Er (sc. JHWH) hat gemacht (den) Mond für die (festgesetzten) Zeiten, die Sonne hat kennengelernt ihren Untergang. Du bestimmst Finsternis, und es wird Nacht, in ihr wimmeln alle Tiere des Waldes. Die Junglöwen brüllen nach Beute, um von Gott ihre Nahrung zu fordern. Geht die Sonne auf, ziehen sie sich zurück, und zu ihren Verstecken lagern sie sich.

74 S. dazu E. Bons, Psalm 31, 55f.199f. Für ägyptische Parallelen s. R.J. Williams, Egyptianisms, 96f. 75 S. dazu E. Bons, Psalm 31, 39f.190f, vgl. P. Riede, Netz, 350f und zum Vorgang Hi 18,7–10, wo der Frevler, dessen kräftige Schritte kurz werden (V. 7), von den eigenen Füßen ins Netz getrieben wird (V. 8) und die Falle ihn an der Ferse packt (V. 9): „Versteckt liegt sein Fallstrick am Boden und die Falle für ihn auf dem Pfad“ (V. 10). 76 Zu diesem für die ägyptischen Sonnenhymnen charakteristischen Topos s. J. Assmann, Re, 108ff.

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Da geht hinaus der Mensch zu seinem Tun und zu seiner Arbeit bis zum Abend.77

Der Topos der ,Begehbarkeit der Welt‘ begegnet sehr häufig in der ägyptischen Sonnentheologie des Neuen Reichs und ist „nichts anderes als die theologische Ausdeutung des kosmischen Phänomens der Allgegenwart des Lichts. (…) Das Licht erschafft die begehbare Welt, die distinkten Konturen der Dinge, die geordnete Wirklichkeit, in der der Mensch sich orientieren kann“78. Hier eine kleine Textauswahl: Jeder Weg ist voll deines Lichts. Der die Millionen aufdeckt mit seinem schönen Gesicht, kein Weg ist frei von ihm (wenn er strahlt) auf die Erde. Kein Land entbehrt seines Anblicks, der das Kommen und Gehen bewirkt auf allen Wegen, der die Grenzen der Erde erreicht an einem Tage. Deine Strahlen dringen in die Grüfte, kein Platz ist frei von deiner Schönheit. Er hat seine Strahlen gegeben, sein Uräus hat den Erdkreis erleuchtet, alle Lande sind voll mit der Liebe zu ihm.79

Das Licht der Sonnengottheit erschließt die Welt und „macht sie begehbar: das ist mit der Metapher des Wegs gemeint“80. Die Gotterfülltheit der Welt ist auch das Thema von Ps 36, dem wir uns abschließend zuwenden wollen. III.

Psalm 36 und die Gotterfülltheit der Welt

Ps 3681 gehört zu den Psalmen, in denen wie in Ps 18; 57; 78; 102; 107; 119 und 146 alle drei Aspekte – Zion/Tempel, Schöpfung und 77 Siehe dazu B. Janowski, Licht, 225f. Dieser Text ist für unser Thema auch wegen der Verschränkung des Raumthemas mit dem Zeitthema wichtig. Denn nach der Themenangabe von V. 19 (Mond/Sonne verantwortlich für die Rhythmisierung der Zeit) setzt V. 20f mit der Schilderung der Nacht (wilde Tiere) ein, der in V. 22.23a die Darstellung des Sonnenaufgangs/Morgens (Rückzug der Tiere, Auftreten des arbeitenden Menschen) und in V. 23b diejenige des Tagesverlauf bis zum Abend folgen. Es wird in V. 20–23 somit 1 ganzer Tag geschildert, der am Abend beginnt und am nächsten Abend endet. 78 J. Assmann, Re, 110f. 79 Alle Textzitate nach J. Assmann, Re, 108f, s. zur Sache auch B. Janowski, Rettungsgewissheit, 28.173f. 80 J. Assmann, Re, 110. 81 Zu Ps 36 s. außer den Kommentaren besonders N. Lohfink, Innenschau, 172ff; C. Sticher, Rettung, 123ff; B. Janowski, Ort, 221ff; B. Janowski, Gott, 239ff und T. Yamayoshi, Raunen, 69ff.

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Anthropologie/Ethik – begegnen und eng aufeinander abgestimmt sind. Diese weisheitlich geprägte Reflexion über die welterfüllende Gerechtigkeit Gottes beginnt nach der Überschrift (V. 1) mit einer Beschreibung des Frevlers (V. 2–5), der ein Hymnus auf die Güte Gottes gegenübergestellt wird (V. 6f.8–10). Der Text schließt mit Bitten um das Ende der Frevler (V. 11–13) und lautet wie folgt: 1 Für den Chormeister. Vom Knecht JHWHs. Von David.

Beschreibung des Frevlers 2 3 4 5

Raunen des Verbrechens zum Frevler inmitten meines Herzens, kein Gottesschrecken (ist) vor seinen Augen.82 Denn es schmeichelte ihm in seinen Augen83 hinsichtlich des Findens seiner Verkehrtheit, um (sie) zu hassen. Die Worte seines Mundes sind Unheil und Trug, er hat aufgehört, klug zu handeln, Gutes zu tun. Unheil ersinnt er auf seinem Lager, er stellt sich auf einen Weg, der nicht gut ist, Böses verabscheut er nicht.

Hymnus auf Gottes Güte 6 7

8 9 10

JHWH, bis an den Himmel (reicht) deine Güte, deine Treue bis zu den Wolken! Deine Gerechtigkeit ist den Gottesbergen gleich, dein Recht der großen Urflut, Mensch und Tier rettest du, JHWH! Wie kostbar ist deine Güte, Gott, und Menschenkinder – im Schatten deiner Flügel bergen sie sich! Sie laben sich am Fett deines Hauses, und mit dem Bach deiner Wonnen tränkst du sie. Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, in deinem Licht sehen wir Licht!

Bitten um das Ende der Frevler 11 12

Lass andauern deine Güte denen, die dich kennen, und deine Gerechtigkeit denen, die geraden Herzens sind! Nicht erreiche mich der Fuß des Hochmuts, und die Hand der Frevler soll mich nicht verjagen!

82 Die Numerusdifferenz der beiden Suffixe „mein Herz“ / „seine Augen“ ist beabsichtigt und nicht zu korrigieren, d.h. der Beter „rechnet mit der Möglichkeit, den Einflüsterungen der Sünde zu erliegen“ (F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalm 1–50, 225 [Hossfeld]), vgl. N. Lohfink, Innenschau, 174.177f; C. Sticher, Rettung, 128 u.a. 83 Wörtlich: „denn es (sc. das Verbrechen) glättete ihm (seine Zunge/Worte) in seinen Augen / umschmeichelte ihn in seinen Augen“.

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„Bis an den Himmel reicht deine Güte“

Dort sind hingefallen die Übeltäter, sie wurden umgestoßen und können nicht mehr aufstehen.

Für die Gliederung des Texts ist zu beachten, dass der die Themazeile V. 2 begründende Abschnitt V. 3–5 vier verschiedene Termini für „Sünde“ – Verkehrtheit, Unheil (2-mal), Trug, Böses – enthält, denen in V. 6f vier Termini für Gottes Zuwendung – Güte, Treue, Gerechtigkeit und Recht – gegenüberstehen.84 Darüber hinaus bildet der JHWH-Name in V. 6f eine Inclusio, und schließlich besitzt das Motivwort „Güte“ (ªæsæd V. 6a.8a.11a) eine abschnittsgliedernde Funktion.85 Daraus ergibt sich eine Abfolge von drei großen Einzelbildern, die in V. 11–13 in die Bitten um das Ende der Frevler münden: 2–5

Porträt des Frevlers (anthropologische und ethische Aspekte) 6–7

Kosmosmetapher (kosmologische Aspekte)

8–10 Tempelmetapher (tempeltheologische Aspekte) 11–13

Ende der Frevler (anthropologische und ethische Aspekte)

Den Auftakt des Ganzen bildet der Abschnitt V. 2–5 mit einer phänomenologisch hellsichtigen Beschreibung des Frevlers. Der Frevler ist danach ein Mensch, der in sich hinein hört und dabei das „Raunen des Verbrechens“ (V. 2a) vernimmt, das ihn zum Frevler machen will. Die Sünde, so konstatiert der Text, ist eine Kraft, die im Inneren des – oder genauer: jedes – Menschen, nämlich in seinem „Herz“ (leb V. 2a) lokalisiert ist und die über die Augen (V. 2b.3a) – weder mit Gottes Wirklichkeit („Gottesschrecken“) noch mit der Außenwelt, sondern – allein mit sich selbst kommuniziert und die deshalb jedes Maß des Menschlichen verliert: „Die Stelle des Leibes, wo der Sünder das Maß des Menschlichen verliert, sind seine Augen. Das Wort ,Auge‘ wird wiederholt (2b.3a) und beherrscht dadurch den Anfang der Beschreibung. Die Fenster des Menschen zur Welt sind keine Fenster mehr. Das Instrument, mit dem Wirklichkeit wahrgenommen und akzeptiert werden sollte, funktioniert nicht mehr. Denn vor den Augen müsste, wenn ein Mensch schon in die Sünde hineingeraten ist, Gottes Schrecken ansichtig werden: Gottes Reaktion auf das wirklichkeitszerstörende Sündigen, und nochmals dahinter ein84 Siehe dazu auch N. Lohfink, Innenschau, 178f.180. 85 Zur poetischen Struktur s. noch die Hinweise bei B. Weber, Werkbuch I, 174f (der allerdings V. 10 mit V. 11–13 zusammennimmt) und C. Sticher, Rettung, 124ff.

„Bis an den Himmel reicht deine Güte“

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fach seine absolute Andersheit, sein Gottsein. Das können diese Augen nicht mehr wahrnehmen.“86

Warum? Weil der Frevler, wie die V. 3–5 ausführen, ein in sich verkrümmter Mensch (homo incurvatus in seipsum) ist: Er hat Augen, die nicht fähig/willens sind, die eigene Verkehrtheit aufzudecken und entsprechend zu hassen (V. 3), und einen trügerischen Mund, der aufgehört hat, aus Einsicht Gutes zu tun (V. 4). Darum ersinnt er nachts Unheil „auf seinem Lager“ (V. 5aa)87 und führt es am Morgen auch aus, indem er – wie bereits die klassische Prophetie und die alte Weisheit wussten – einen „Weg“ (dæræk) betritt, der nicht gut ist, und das Böse nicht verabscheut (V. 5ab).88 So demonstriert der erste Abschnitt des Psalms nicht nur den gottfreien Innenraum des Sünders – „kein Gottesschrecken (ist) vor seinen Augen“ (V. 2b) –, sondern auch den engen Zusammenhang von Anthropologie und Ethik, wie er in den Körperbegriffen „Herz“ (V. 2a), „Augen“ (V. 2b.3a), „Mund“ (V. 4a) und dem ethischen Grundbegriff „(Lebens-)Weg“ (V. 5ab) zum Ausdruck kommt. Dem nächtlichen Planen folgt die böse Tat buchstäblich auf dem Fuß. Während in V. 2–5 der Blick nach innen auf das in sich selbst verkrümmte Ich des Frevlers gerichtet ist, wird er in V. 6–7 nach außen auf die Schöpfung Gottes gelenkt. Dieser Wechsel der Blickrichtung geschieht im Text abrupt und geht mit einem Wechsel der Sprechrichtung (hin zur Anrede JHWHs) einher. Dabei nimmt der Beter nach V. 6f zunächst die Welt in ihrer räumlichen Ausdehnung vom Himmel // den Wolken (Vertikale: oben) über die Gottesberge (Horizontale) bis zur großen Urflut (Vertikale: unten) wahr und sieht in diesen Erscheinungen der Schöpfungswelt Zeichen der „Güte“, der „Treue“, der „Gerechtigkeit“ und des „Rechts“ Gottes, die sich rettend (jç˛ „retten“ hif.) an Mensch und Tier auswirken und insofern eine soziale Komponente haben. Mit N. Lohfink kann man hier von einer „Kosmosmetapher“ (s. Abb. 5) sprechen: 86 N. Lohfink, Innenschau, 178. 87 Vgl. das Wehewort Mi 2,1: „Wehe denen, die Unrecht (∞åwæn) planen / und Böses (ra˛) tun auf ihren Lagern: beim Morgenlicht führen sie es aus, / denn es steht in der Macht ihrer Hände“, s. dazu R. Kessler, Micha 114f: die sprachliche Nähe von Ps 36,5 zu Mi 2,1 „zeigt, dass in der prophetischen Sozialkritik häufig von außen eben die Zustände kritisiert werden, die in den Klagen des Einzelnen der Betende als Betroffener beklagt“. Ps 36,5 beschreibt also die Innensicht der Vorgänge, deren Außenwirkung Mi 2,1–3 demonstriert. Dazu passt auch die Beobachtung von N. Lohfink, Innenschau, 178f, dass die Wörter für „Sünde“ in V. 3–5 allesamt eine soziale Dimension haben, der Frevler also „durch sein Handeln, vor allem aber durch seine Rede, die menschliche Gesellschaft durcheinander(bringt)“ (179). 88 Vgl. Jes 1,16f; Am 5,14f u.ö., s. dazu J. Jeremias, Amos, 71f. Zum Thema „Gott und der Lebensweg“ s. oben 323ff.

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„Bis an den Himmel reicht deine Güte“

„Der riesenhafte Raum der gesamten Schöpfung ist … von Gottes Güte angefüllt. Die Welt in ihrer Weite ist der Raum der Gottesgegenwart und damit auch der möglichen Gottesbegegnung. Alle lebendigen Bewohner dieser Schöpfung begegnen hier dem Gott Israels, JHWH: nicht nur die Israeliten, auch nicht nur alle Menschen, sondern ,Mensch und Tier‘ (V. 7). Sie begegnen ihm, indem er sie ,rettet‘ (V. 7). Das Thema der Sünde ist also – so plötzlich und so deutlich markiert auch der Umschwung bei Vers 6 war – immer noch heimlich andrängend da. Gottes Gegenwart ist nicht friedlich-selbstverständlich. Seine Geschöpfe sind gefährdet. Die Bewohner des Weltenraumes müssen beständig vor dem in der Sünde andringenden Chaos ,gerettet‘ werden. Gott ist ihnen nah, insofern er sie rettet.“89 Himmel / Wolken (Güte/Treue)

Gottesberge

Gottesberge

(Gerechtigkeit)

(Gerechtigkeit)

Große Urflut (Recht) Abb. 5: Die Kosmosmetapher von Ps 36,6f Ohne dass terminologisch vom Licht der Sonne gesprochen würde, steht im Hintergrund der Kosmosmetapher von V. 6f das Bild des welterfüllenden Sonnenlichts: „Denn was erfüllt den Raum zwischen Himmel und Erde, von einem Horizont zum andern? Allein das köstliche und alles klärende Licht der Sonne.“90 Der Topos der Gotterfülltheit der Welt begegnet nicht nur in Ps 33,5; 57,6.11f = 108,5f; 71,19; 103,11f; 113,46; 119,64.96; 139,7–12;91 148,13 oder im Ruf der Seraphen von Jes 6,3 Und einer rief dem anderen zu und sprach: „Heilig, heilig, heilig ist JHWH Zebaoth, die Fülle der ganzen Erde ist seine Herrlichkeit!“,92

89 N. Lohfink, Innenschau, 180. 90 N. Lohfink, Innenschau, 181. 91 Siehe dazu oben 320ff. Zu den Psalmen-Belegen s. auch unten Anhang I 2. 92 H. Irsigler, Gott, 49 hat zutreffend bemerkt, das sich „heilig“ und „Herrlichkeit“ in Jes 6,3 „wie ein Innen zum Außen (verhalten): qådôç ,heilig‘ ist die Eigenschaft, die im erscheinenden kåbôd Jahwe Zebaots die ganze Erde durchdringt“, s. dazu auch F. Hartenstein, Unzugänglichkeit, 78ff.99ff.101ff und O. Keel, Geschichte Jerusalems, 392f. Beide Lexeme begegnen auch in Ps 29,1f und 96,7–9.

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sondern auch in der ägyptischen Sonnentheologie des Neuen Reichs, worauf bereits im Zusammenhang mit dem Topos der ,Begehbarkeit der Welt‘ hingewiesen wurde. Die Sonne, deren Licht die gesamte Welt vom Himmel mit seinen beiden Horizonten bis zu den Enden der Erde erfüllt (Text 2), spendet dieses Licht allen Geschöpfen, die davon leben und mit ihm ihr Leben gestalten (Text 1): Text 1 10

15

Du bist das Licht, das für die Menschheit aufgeht, die Sonne, die die Helligkeit gibt, um erkennen und unterscheiden zu lassen Götter und Menschen, wenn du dich zeigst. Jedes Gesicht lebt vom Anblick deiner Schönheit, aller Same entsteht, wenn du sie bestrahlst. Keiner ist, der ohne dich leben kann! Du leitest jedermann, indem sie zu ihrer Arbeit verpflichtet sind, du hast die Form ihres Lebens gebildet, nachdem du sichtbar wurdest.

Text 2 Du hast den Himmel in Besitz genommen mit seinen beiden Horizonten indem du erglänzt über dem Luftraum. Die Erde ist unter dir bis an ihr Ende, du hast sie ergriffen.93

Die ganze Schöpfung ist nach Ps 36,6f von der Gegenwart JHWHs erfüllt (vgl. Jes 6,3; Ps 72,19), deren ,Ausstrahlungen‘ (Güte, Treue, Gerechtigkeit, Recht) sich heilvoll in alle Welt bis hin zu den Menschen und Tiere auswirken. Mit der Rettungsaussage von V. 7b94 erreicht der erste Teil (V. 6f) des Hymnus V. 6–10 das Thema des zweiten Teils (V. 8–10), der die Partizipation der Menschen an Gottes Gegenwart und Gottes Gaben preist. Das Motivwort „Güte“ (ªæsæd), das in V. 6 die „Kosmosmetapher“ einleitet, wird hier hinsichtlich seiner Bedeutung für die Menschenwelt entfaltet und in V. 11f auf die JHWH-Treuen und die Frevler ausgedehnt. Im Blick auf unser Thema sind dabei die beiden Lebensbilder – das Einzelbild „Im Schatten deiner Flügel“95 und das Doppelbild „Fett deines Hauses“ // „Bach 93 Die Textzitate nach J. Assmann, Re, 110f. Zur ,Begehbarkeit der Welt‘ s. oben 325f. 94 Zu diesem Rettungshandeln JHWHs gibt es eine interessante Sachparallele in einem spätbabylonischen Hymnus auf den Gott Ninurta, der nicht nur den Schwachen und Demütigen, sondern den (Wild-)Tieren in der Not hilft, s. dazu ausführlicher B. Janowski, Tiere, 53 mit Anm. 85 (dort auch der Textnachweis). 95 Siehe dazu die Belege unten Anhang I 1a.

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„Bis an den Himmel reicht deine Güte“

deiner Wonnen“ – wichtig, die in V. 10 gebündelt und mit einem rätselhaften und schönen Satz ins Grundsätzliche gewendet werden: Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, in deinem Licht sehen wir Licht.

Mit der Ortsbestimmung „bei dir“ (˛im + suff. 2. m. Sg.), d.h. in der Nähe des Tempelgottes, wird die Lebensmetaphorik von V. 8f – Kostbarkeit, Schutz, Sättigung und Durststillung – aufgenommen und räumlich „verortet“. Das begründende Bekenntnis von V. 10 entfaltet diese Aussage durch die auf V. 9 zurückgreifende Wendung „Quelle des Lebens“ und vor allem durch eine doppelte Lichtmetapher. Das erste „Licht“ dürfte „… das ‚Licht seines (d.h. Gottes) Angesichts‘ (vgl. [Ps] 4,7; 44,4; 89,16) sein. Dabei ist ‚seines Angesichts‘ (d.h. seiner Zuwendung; pnjm ‚Zugewandtes, Gesicht‘) ein erklärender Genitiv. Er setzt ‚Licht‘ mit ‚Zuwendung‘ Gottes gleich. Das zweite Licht bedeutet nichts anderes als ‚Leben‘, wie der Ausdruck ‚Licht des Lebens‘ ([Ps] 56,14), nahegelegt. ‚Des Lebens‘ ist ebenso wie ‚seines Angesichts‘ ein erklärender Genitiv, der das Licht mit dem Leben identifiziert. (…) Der Sinn von (Ps) 36,10b ist also: ‚Durch deine Freundlichkeit leben wir!‘ und diese Bedeutung paßt ausgezeichnet zur ersten Hälfte des Verses: ‚Bei dir ist der Quell des Lebens‘ ([Ps] 36,10a)“96.

Im Bereich des Tempels, so konstatiert Ps 36,8–10, erfährt der Mensch die intensivste Form der Gottesnähe. Während in V. 8 das Bild eines schützenden Baldachins („Flügel“) evoziert wird, in dessen „Schatten“ sich die „Menschenkinder“ bergen, zeichnet V. 9 das Bild eines köstlichen Mahls, das von JHWH als Gastgeber an heiliger Stätte bereitet wird.97 Besonders aussagekräftig ist dabei die Wendung „Bach deiner Wonnen“, die mit dem Steigerungsplural „Wonnen, Labungen“ (˛adånîm, Pl. von ˛edæn „Wonne[land]“) den Umriss der auf den Jerusalemer Tempel übertragenen Paradiesvorstellung zu erkennen gibt. Mit der Lichtaussage von V. 10 schließt sich dann der Kreis, der mit der Schilderung der welterfüllenden Gerechtigkeit Gottes in V. 6f eröffnet wird und zugleich einen Kontrapunkt zur verschlossenen und düsteren Welt des Frevlers (V. 5aα) setzt. Jetzt tritt auch der Mensch wieder hervor, aber nicht in seiner gottfernen Vereinzelung wie am Anfang (V. 2–5), sondern als ein „Wir“, d.h. in der Gemeinschaft derer, „die dich (sc. JHWH) kennen“ und „die geraden Herzens sind“ (V. 11). Anders, so resümiert V. 13, die Übeltäter, die „dort“, am hei96 O. Keel, Bildsymbolik, 166, vgl. F. Hartenstein, Angesicht JHWHs, 179ff. 97 Siehe dazu B. Janowski, Konfliktgespräche, 332f; N. Lohfink, Innenschau, 182ff und F. Hartenstein, Angesicht JHWHs, 146ff.181f u.ö.

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ligen Ort des Tempels,98 hingefallen sind: „sie wurden umgestoßen und können nicht mehr aufstehen“. IV.

Zusammenfassung und Ausblick

Wie unser Durchgang gezeigt hat, ist das Thema „Gott und Raum“ für die Theologie der Psalmen / des Psalters von zentraler Bedeutung. Worin sie genauer besteht, sei abschließend noch einmal im Zusammenhang und anhand von drei Ebenen dargelegt. 1.

Zusammenfassung

a)

Biblisch-theologische Aspekte (Ebene 1)

Grundlegend ist zunächst der Sachverhalt, dass die Gott/Raum-Beziehung ein besonderer Ausdruck der Weltzugewandtheit Gottes ist. „Weltzugewandtheit Gottes“ bedeutet, dass der biblische Gottesgedanke keine abstrakte Idee ist, sondern – bei aller Transzendenz Gottes – an konkrete Räume gebunden wird. Es ist die Rede von der Gegenwart Gottes in Zion/Jerusalem und in seinem Tempel, von seinem Wirken in der Schöpfung und in ihren Bereichen Himmel, Erde, Unterwelt und vom Körper (Augen, Ohren, Herz, Geist, Eingeweide, Mutterleib) und Lebensweg des Menschen als besonderen Orten der Gottespräsenz. In allen diesen Orten und Räumen, die „Gottesnähe oder -ferne, Heil oder Unheil, Leben oder Tod(esnähe)“99 vermitteln, wirkt Gott, wie die Texte eindrücklich zeigen,100 auf eine spezifische Weise: als bergende Zuflucht (Audienzvorstellung) oder Retter aus der Unterwelt (Kompetenzausweitung JHWHs), als Schöpfer oder Welterhalter, als Geburtshelfer, Toralehrer oder Wegbegleiter (Wegmetaphorik). Alle diese Eigenschaften und Wirkweisen Gottes haben eine räumliche Komponente und machen den theologischen Bauplan des Psalters101 anhand seiner Raumdimensionen der Nähe, der Weite, der Höhe und der Tiefe102 anschaulich und konkret. Die Anschaulichkeit der Raumbilder des Psalters hängt allerdings nicht an der Farbigkeit und Detailliertheit ihrer Ausführung, sondern an den Verben 98 Vgl. F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalm 1–50, 223.228 (Hossfeld). 99 B. Weber, Werkbuch III, 87. 100 S. dazu die Übersicht unten Anhang I. 101 Den theologischen Bauplan des Psalters verdeutlicht H. Spieckermann, Kosmos, 197ff anhand der Begriffe des „Bauens“ und „Gründens“ sowie der Beispieltexte Ps 93 („Die Welt als Tempel“), Ps 84 („Der Tempel als Welt des Beters“) und Ps 9f; 51; 57 („Das Herz als Thron Gottes“). 102 Vgl. K. Seybold, Poetik I, 373.

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der zielgerichteten Bewegung, mit denen das königliche, schöpferische oder rettende Handeln Gottes in Szene gesetzt wird. Dazu zwei Beispiele. In Ps 30,2–4 wird die Errettung vom Tod als räumlicher Vorgang dargestellt, durch den JHWH den Beter wie einen ledernen Schöpfeimer (delî, vgl. Num 24,7) aus der Tiefe der Zisterne „heraufgezogen“ (dlh pi. V. 2)103 bzw. aus der Scheol „heraufgeholt“ hat (˛lh hif. V. 4, vgl. Jon 2,7): 2 4

Ich will dich erheben, JHWH, denn du hast mich heraufgezogen und hast nicht jubeln lassen meine Feinde über mich. (…) JHWH, du hast heraufgeholt aus der Unterwelt mein Leben (næpæç), du hast mich zum Leben gebracht aus ‹denen, die› in die Zistene ‹hinabsteigen›.

Auch in Ps 18,8–16 wird die Theophanie des Königsgottes vom Zion mittels Verben der Bewegung als kosmischer Vorgang von ungeheueren Ausmaßen veranschaulicht: 10 11

Und er neigte den Himmel und stieg herab und Wolkendunkel war unter seinen Füßen. Er fuhr einher und flog, und er schwebte auf den Flügeln des Windes.

Diese Beispiele ließen sich vermehren. Es geht bei den Raumbildern der Psalmen nie um eine photographische Wiedergabe des Wahrgenommenen, sondern immer um handlungsrelevante Aspekte und zielgerichtete Bewegungen, die die Anschaulichkeit des dargestellten Vorgangs hervorrufen und diesen damit für den Leser nachvollziehbar machen. b)

Literatur- und theologiegeschichtliche Aspekte (Ebene 2)

Die für die Gott/Raum-Thematik relevanten Aspekte Zion/Jerusalem/ Tempel, Schöpfung und Anthropologie/Ethik sind zwar über den gesamten Psalter verteilt, haben aber einen jeweils spezifischen Ort. Am Anfang stehen die der mittleren Königszeit (spätes 8. Jh. v.Chr.) angehörenden Psalmen Ps 46; 48 und 93 mit ihren Aussagen zum horizontalen und vertikalen Weltbild der Jerusalemer Tempeltheologie. Das dürfte das Gravitationszentrum der Gott/Raum-Thematik der Psalmen und vielleicht der Kern der Psaltertheologie sein,104 weil der 103 Zum Vorgang s. Ex 2,16.19 und K. Seybold, Poetik I, 206. 104 Vgl. H. Spieckermann, Heilsgegenwart, 165: „Hier stößt man zu dem Kern der Psalmtheologie vor, an dem sich alle weiteren theologischen Stoffe ankristallisiert haben, der aber auch selbst im Verlaufe der Geschichte wahrnehmbare Transformationen erlebt hat.“

„Bis an den Himmel reicht deine Güte“

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Tempel der Ort des Lebens ist.105 Von ihm lassen sich mit S. Gillingham gut 70 Psalmen mit expliziten, d.h. linguistisch identifizierbaren Zion markers herleiten.106 Erst in exilischer Zeit kommt mit dem Schöpfungsthema ein zweiter Aspekt hinzu. Dabei ist möglicherweise davon auszugehen, dass die Vorstellung der creatio continua (Welterhaltung) der vorexilischen Psalmentheologie „im Gefolge exilischer Krisenerfahrung zur Vorstellung der prima creatio ausgeweitet worden (ist)“107. In exilisch-nachexilischen Psalmen kommt dann als dritter Impuls der Aspekt der Anthropologie/Ethik hinzu, der den Menschen und sein Ergehen/Handeln ins Zentrum rückt (Körperbilder, Wegmetaphorik). Alle drei Aspekte können in unterschiedlicher Zusammensetzung miteinander kombiniert werden. Die Vermutung, dass die Zionstheologie / Jerusalemer Tempeltheologie das Gravitationszentrum der Gott/Raum-Thematik der Psalmen und vielleicht sogar der Kern der Psaltertheologie ist, hat einiges für sich. Möglicherweise setzen dabei die vorexilischen Zionspsalmen (Ps 46; 48, vgl. für die nachexilische Zeit Ps 76; 84; 87 u.a.)108 die Vorstellung vom Königtum Gottes voraus, „legen nun aber allen Ton auf den Ort, an dem es sich zeigt und erweist“109 . Die Königtum Gottes-Vorstellung, für die es mit Ps 93,1–4(.5) und Jes 6,1–5 vorexilische Belege gibt (mittlere Königszeit, spätes 8. Jh. v.Chr.), ist offenbar „die zentrale Vorstellung der Jerusalemer Tempeltheologie / Zionstheologie, von der alle anderen Vorstellungen – z.B. die von der Uneinnehmbarkeit Jerusalems – abgeleitet sind“110 und die auch Verbindungen mit weiteren Themen wie der Schöpfungstradition bzw. der Kosmos/ChaosMatrix eingehen kann.

c)

Psaltertheologische Aspekte (Ebene 3)

Eine offene Frage ist schließlich diejenige nach der psaltertheologischen Relevanz der Gott/Raum-Thematik. Wie sie zu beantworten ist, hatte bereits F.-L. Hossfeld unter Hinweis auf die in den „Teil-Sammlungen und Teilpsaltern“ enthaltene Psalmentheologie111 angedeutet. 105 Siehe dazu B. Janowski, Ort, 207ff. 106 Siehe dazu oben 302. 107 R. Kratz / H. Spieckermann, Art. Schöpfung, 266, s. dazu ausführlich H. Spieckermann, Heilsgegenwart, 73ff, aber auch die Hinweise oben Anm. 31. 108 Siehe dazu die Hinweise oben 303ff. 109 J. Jeremias, Theologie, 33 (Hervorhebung von mir). 110 M. Leuenberger, Art. Königsherrschaft Gottes, 1 (Hervorhebung im Original), s. dazu auch B. Janowski, Wohnung, 35ff; B. Janowski, Ort, 217ff; K. Schmid, Literaturgeschichte, 63ff und J. Jeremias, Theologie, 30ff. Anders M. Oeming, Königsherrschaft Gottes, 83ff, der die Königtum Gottes-Vorstellung zwar ebenfalls für zentral hält, diese aber extrem spät datiert (für Ps 93 plädiert er für ein Datierung um 100 v.Chr.). Überzeugend ist das nicht. 111 Siehe dazu oben 301.

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Dieser Hinweis, der leider unausgeführt bleiben musste, ist m.E. zutreffend. So lässt sich etwa mit B. Weber im Blick auf die „Streuung und Platzierung des Wortfeldes ,Zuflucht‘ … erwägen, dass diese Motivkonstellation bei der Gestaltung des Psalters, insbesondere von Teilbuch I (Ps 1/3–41), eine bedeutsame Rolle spielte“112. Es begegnet hier in 16 Psalmen. Nimmt man noch das Angesicht JHWHs-Motiv und das Im Schatten deiner Flügel-Motiv hinzu, so erhöht sich die Zahl der in Frage kommenden Texte auf 25 – allein in Ps 1–41!113 Die theologische Bedeutung dieses Gottesschutz-/Rettungsmmotivs, das häufig einen expliziten Zion-/Tempelbezug hat und das immer wieder anthropologisch und ethisch durchbuchstabiert wird,114 ist nicht zu überschätzen. Es bestimmt das Proömium (Ps 1–2) und das erste Buch des Psalters (Ps 3–41) und setzt damit einen Kontrapunkt zur Allgegenwart der Feinde des Beters. Weitere Beispiele wie die Korachpsalmen, der Zweite Davidpsalter, die Asaphpsalmen, die JHWH König-Psalmen, die Wallfahrtspsalmen, der Fünfte Davidpsalter und das Schlusshallel ließen sich anschließen.115 Die Bedeutung von Ps 1–2.3–41 für die Gott/Raum-Thematik ist nicht zu übersehen. Denn ein expliziter Zion marker („heiliger Berg“ ) begegnet gleich in dem individuellen Klagelied Ps 3, und zwar im Bericht über die Gebetserhörung V. 5–7: 5 Meine Stimme – ich rief (immer wieder) zu JHWH, da antwortete er mir von seinem heiligen Berg her. – Sela 6 Ich, ich legte mich nieder und schlief (ein). Ich erwachte, denn JHWH stützte mich. 7 Nicht fürchte ich mich vor Zehntausenden an (Kriegs-)Volk, die ringsum Stellung bezogen haben gegen mich. Wo immer die Szene von V. 6 zu lokalisieren ist, sie spielt nicht im Tempel, sondern, wie die Wendung „von seinem heiligen Berg“ zeigt, außerhalb desselben.116 Dieser Berg, von dem der Beter die rettende Antwort JHWHs erwartet und erhält, ist der Zion, von dem zum ersten Mal in Ps 2,6 die Rede ist: Ich (sc. JHWH) habe meinen König eingesetzt auf Zion, meinem heiligen Berg. 112 B. Weber, Werkbuch III, 141. 113 Zu den Belegen s. unten Anhang I 1a. 114 Zu den Belegen s. unten Anhang I 3. 115 Zu den Belegen s. unten Anhang II. 116 Siehe dazu F. Hartenstein / B. Janowski, Psalmen, 149ff (Janowski). Die Metapher „heiliger Berg“ oder „Berg seines Heiligtums“ gehört zum Inventar der Jerusalemer Tempeltheologie und ihres religiösen Symbolsystems, s. dazu B. Janowski, Ort, 207ff.

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337

Der Gottesberg Zion und „die mit ihm verbundenen Vorstellung vom kosmisch dimensionierten Thron JHWHs in der Weltmitte (Ps 93) und der Gottesstadt (Ps 48: Zaphon, vgl. Jes 14,13) ist ein sicherer Rückbezug auf genuine Vorstellungen Jerusalems, die ihrerseits ein altes syrisch-kanaanäisches Erbe bilden“117 – und zum Urgestein der Psaltertheologie zählen.

2.

Ausblick

Es gehört zur bleibenden Stärke des Psalters, dass seine einzigartigen Raumbilder die Gegenwart Gottes ,anschaulich‘ machen und seiner theologischen Grundidee damit eine konkrete, geradezu architektonische Gestalt geben.118 Das zeigt sich auch in der Rezeptions- und Frömmigkeitsgeschichte. Seit den Anfängen des Christentums ist der Psalter charakterisiert worden, die seine besondere spirituelle Qualität mit einem „großen Haus“ verglichen haben.119 Die Hausmetapher begegnet schon früh, nämlich bei Hieronymus (ca. 347–419/420), der in der Einleitung zu seinem Psalmenkommentar Ps 1 die „Haupttür“ (grandis porta) nennt, die in das „große Haus“ (magna domus) des Psalters hineinführt: „Der Psalter ist gewissermaßen ein großes Haus, das zwar einen Schlüssel für die Außentür hat, aber eigene Schlüssel für die verschiedenen inneren Räume. Mag auch der Schlüssel der Haupttür, der Heilige Geist, größer sein, so hat doch auch jeder Raum sein eigenes Schlüsselchen. Wenn also jemand die Schlüssel des Hauses immer wieder durch Metaphern durcheinander wirft, so kann er, wenn er einen Raum öffnen will, es nicht tun, außer er findet den Schlüssel. So sind die einzelnen Psalmen gewissermaßen einzelne Räume, die ihre eigenen Schlüssel haben. Die Haupttür dieses Hauses ist der erste Psalm.“120

Der Psalter ist aber kein Haus oder Tempel aus Steinen, sondern aus Worten (templum spirituale), mit Ps 1–2 als weitem „Eingangsportal“ (Hieronymus: grandis porta) und mit Ps 146–150 als klangvollem „Schlussstein“. Wer diesen „sprachlichen Tempel“121 betritt und – um bei diesem Bild zu bleiben – in seinen Räumen, in seinen Gängen und auf seinen Treppen umhergeht, legt die 150 Einzelpsalmen und die in ihnen aufgereihten Stationen der Geschichte Israels meditierend den 117 F. Hartensein / B. Janowski, Psalmen, 96 (Hartenstein). 118 Zur architektonischen Grundidee des Psalters s. K. Seybold, Poetik I, 373, vgl. oben 301f. 119 Es gibt in der Geschichte des Christentums auch andere Psalter-Metaphern wie die „Spiegel“- und die „Fruchtgarten“-Metapher, s. dazu die Hinweise bei B. Janowski, Tempel, 287ff. 120 Vgl. F.-L. Hossfeld / T.M. Steiner, Problems, 241ff u.a. 121 Zu diesem Ausdruck s. B. Janowski, Tempel, 313.

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langen und beschwerlichen Weg von der Klage zum Lob zurück und begegnet auf ihm dem Königs- und Rettergott vom Zion, der sein Heil für den Einzelnen, für Israel und die Völker, ja für die ganze Schöpfung wirkt. Der Gott der Psalmen ist keine abstrakte Idee, kein „Gott der Philosophen“ (B. Pascal), sondern ein Gott, der die ganze Welt und alles, was Atem hat (vgl. Ps 150,6), in seine schöpferische Gegenwart einbezieht und dem darum auch der universale Lobpreis gilt – im Himmel, auf Erden und in den abgründigen Tiefen des Meeres (Ps 148). *** Anhang: Raumkonzepte in den Psalmen Im Folgenden wird zunächst eine Synopse der Themenaspekte gegeben.122 Die Psalmen mit zwei oder drei Aspekten werden dabei fett hervorgehoben (I). Am Schluss folgt eine Übersicht über die psaltertheologischen Schwerpunkte der Gott/Raum-Thematik (II). I.

Synoptischer Überblick

1.

Zions- und tempeltheologische Aspekte

a)

Gott und Zion / Jerusalem / Tempel

Proömium: 2,6 Buch I: 3,5; 5,8; 7,8; 9,5.8.12; 11,4; 14,2.7; 15,1; 18,7.12; 20,3; 23,6; 24,3. 7.9; 26,6f; 27,4–6; 28,2; 29,9; 31,21; 33,14f; 36,9 Buch II: 42,5; 43,3f; 46,5f; 47,9; 48,2f; 50,2; 51,20; 52,10; 53,7; 55,15.20; 60,8; 61,5; 63,3; 65,2.5; 66,13–15; 68,6.16–19.25.29f.36; 69,10 Buch III: 73,17; 74,2f.4.7; 76,3; 78,54.68f; 79,1; 80,2; 83,13; 84,2–5.8.11; 87,1–3.5 Buch IV: 91,1; 92,13f; 93,2.4f; 96,6.8; 99,1f.5.9; 100,4; 101,8; 102,13f.17. 20.22 Buch V: 108,8; 110,2; 116,18f; 118,26f; 122,1–4.9; 125,1f; 128,5; 129,5; 132,5.7. 13–18; 134,1; 135,2; 137,1.5f; 138,2; 146,10; 147,2f.12–14; 149,2; 150,1–6123 122 Das Kriterium für die Textauswahl ist ein sprachliches, d.h. ausschlaggebend sind die für das Thema „Gott und Raum“ relevanten tempeltheologischen, schöpfungstheologischen und anthropologischen/ethischen Termini (Nomina und Verben), nicht aber motivliche oder vorstellungsmäßige Anspielungen. Selbstverständlich gibt es zahlreiche Berührungen mit dem Thema „Mensch und Raum“, das einer eigenen Untersuchung bedürfte. Ähnliches gilt auch für das Thema „Gott/Mensch und Zeit“ in den Psalmen, s. dazu vorläufig B. Weber, Werkbuch III, 79ff. 123 Siehe dazu O. Keel, Bildsymbolik, 157ff; H. Spieckermann, Heilsgegenwart, 87ff; S. Gillingham, Zion Tradition, 313ff und B. Weber, Werkbuch III, 88ff, vgl. oben Anm. 6.

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Spezielle Aspekte – Das Angesicht JHWHs (Audienzvorstellung) Buch I: 4,7; 9,4.20; 10,11; 11,7; 13,2; 16,11; 17,2.15; 18,7; 19,15; 21,7. 10; 22,25.28.30; 24,6; 27,8f; 30,8; 31,17.21; 34,17; 41,13 (weitere Belege in den Büchern II–V)124 – Gott als Zuflucht / Schutz / Burg / Hütte / Versteck / Fels / Schild 2,12; 3,4; 5,12f; 7,2.11; 9,10; 11,1; 14,6; 16,1.5f; 17,7; 18,3.31.36.47; 19,15; 27,1.5; 28,1.7f; 31,3–5.21; 32,7; 33,20; 46,2.8.12; 59,10.12.17f; 61,4f; 62,3.7–9; 71,3; 78,35; 84,6.12; 91,1f.4.9; 92,16; 94,22; 95,1; 115,9–11; 118,8f; 119,114; 140,8; 144,1f125 – „Im Schatten deiner Flügel “ 17,8f; 36,8; 57,2; 61,5; 63,8; 91,1.4126

b)

Der Tempelgott und die Unterwelt (Kompetenzausweitung JHWHs) 9,14f.18; 18,4–7.17; 30,2–4; 40,2f; 116,3–9.19; 144,7f, vgl. 49,16; 69, 15f; 71,20; 86,13; 103,4; 107,17–22127

Spezielle Aspekte – Der Bedrängte im Totenreich (Ort der Gottesferne) 16,10 (negiert); 18,5; 22,16; 28,1; 69,2f; 88,4–10aa; 107,18; 143,3.7128 – „Die Toten loben JHWH nicht“ 6,6; 30,10; 88,11–13; 115,17f129

2.

Schöpfungstheologische / kosmologische Aspekte

a)

Schöpfer des Himmels und der Erde (/des Meeres)

8,4; 24,1f; 33,6–8; 96,5; 115,15; 119,90; 120,26; 121,2; 124,8; 134,3; 136, 5–9; 146,6; 148,5f130

b)

Gottes Gegenwart / Wirken in Schöpfung (und Geschichte)

2,4; 8,2.4; 18,8–16; 19,2–7; 29,3.5–9a.10; 47,3.8; 50,1–6; 59,14; 65,6–9.10– 14; 68,8f; 74,13–15; 75,4; 77,17–20; 78,23f; 89,3.10–13; 93,3f; 99,1; 102,

124 Siehe dazu F. Hartenstein, Angesicht JHWHs, 231ff.244ff und B. Janowski, Buchreligion, 233ff. Insgesamt zählt Hartenstein 86 tempelorientierte Belege für das „Angesicht JHWHs“ im Psalter, vgl. auch B. Janowski, Buchreligion, 237f. 125 Siehe dazu O. Keel, Bildsymbolik, 158ff; J. Creach, Yahweh; W.P. Brown, Seeing, 15ff.197ff; K. Liess, Weg, 155ff; F. Hartenstein, Angesicht JHWHs, 172ff u.a. 126 Siehe dazu O. Keel, Bildsymbolik, 170ff; W.P. Brown, Seeing, 20ff und F. Hartenstein, Angesicht JHWHs, 146ff. 127 Siehe dazu oben 306ff. 128 Siehe dazu die Hinweise oben Anm. 19. 129 Siehe dazu B. Janowski, Die Toten, 218ff. 130 Siehe dazu H. Spieckermann, Heilsgegenwart, 21ff.76f; B. Weber, Werkbuch III, 96f und O. Keel / S. Schroer, Schöpfung, 38.89.134.177 u.ö.

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20.26; 104,2–4.10–18.24.25f.32; 107,3.4–9.23–32.33–35; 113,4; 135,6f; 144,5–8; 147,4.8f131 Spezielle Aspekte – Himmel / Erde / Meer als Eigentum Gottes (Eigentumsdeklaration) 24,1; 50,12; 89,12; 95,4f; 115,16132 – Konfrontation von Schöpfung und Chaos 74,13f.17; 89,10f; 93,3f; 104,5.9133 – Gottes Gericht / Gerechtigkeit / Rettung vom Himmel (/Zion) her 11,4; 14,2 // 53,3; 20,7; 33,13–19; 36,7; 50,4.6; 57,4; 58,12; 76,9f; 80,15f; 85,12; 96,13; 98,9; 102,3.19–21; 110,2; 113,4–9; 144,7f134 – Die Gotterfülltheit der Welt 33,5; 36,6f; 57,6.11f = 108,5f; 71,19; 72,19; 103,11f; 113,4–6; 119, 64.96; 139,7–12; 148,13135 – Universales Gotteslob / universale Freude über Gott 19,2–4; 29,1f.9b; 48,11; 50,6; 69,35; 89,6–9; 96,11–13; 97,1.6; 98,4–9; 100,1f.4f; 113,3; 148,1–14; 150,1–6136

3.

Anthropologische und ethische Aspekte

a)

Rettung aus der Unterwelt (Grab, Grube, Wasser, Schlamm)

S. unter 1b

b)

Der Körper als Ort der Gottespräsenz (Körperbilder)

10,17 (Herz); 22,10f (Mutterleib); 25,17 (Herz); 36,2 (Augen); 37,30f (Herz); 40,7–9 (Eingeweide); 51,12–14 (Herz, Geist); 57,8 (Herz); 78,1 (Ohr); 139, 13–16 (Mutterleib)137

c)

JHWH und der Lebensweg (Wegmetaphorik)

1,1.6; 5,9; 16,11; 17,5; 18,22.33; 23,3f; 25,4.12; 26,12; 27,11; 32,8; 35,6; 37,5.14f.23f.31.34; 40,3; 44,18; 56,14; 78,10; 86,11; 91,11f; 102,24; 107,6f. 40; 116,8f; 119,2f.5f.9.14f.26f.29f.32.33.35.37.59.101.104.105.168; 121,3; 139,3.24; 142,4f; 146,9138

131 Siehe dazu O. Keel, Bildsymbolik, 181ff und H. Spieckermann, Heilsgegenwart, 87ff. 132 Siehe dazu M. Metzger, Eigentumsdeklaration, 76ff, vgl. H. Spieckermann, Heilsgegenwart, 82f. 133 Siehe dazu oben 313f. 134 Siehe dazu O. Keel, Bildsymbolik, 162ff.187ff. 135 Siehe dazu oben 326ff. 136 Siehe dazu O. Keel / S. Schroer, Schöpfung, 167ff. 137 Siehe dazu oben 318ff. 138 Siehe dazu O. Keel, Bildsymbolik, 204ff; W.P. Brown, Seeing, 31ff; K. Liess, Weg, 223ff.242ff; F. Hartenstein / B. Janowski, Psalmen, 24ff.42ff (Janowski).

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Spezielle Aspekte – Der „weite Raum“ (vs. Bedrängnis/Enge) 4,2; 18,20.37; 25,15.17; 31,9; 118,5; 119,45139

II.

Psaltertheologische Schwerpunkte

1. Proömium (Ps 1–2) und Erster Davidpsalter (Ps 3–41) – Zions- und tempeltheologische Aspekte: 2 / 4; 5; 6; 10; 13; 14 / 15; 16; 17; 18; 19; 20; 22; 23; 24 / 26; 27; 29; 30; 31; 33; 34 / 36; 37; 40; 41 – Schöpfungstheologische / kosmologische Aspekte: 2 / 8; 11; 14 / 18; 19; 20; 24 / 29; 33 / 36 – Anthropologische und ethische Aspekte: 1 / 4; 5 / 16; 17; 18; 22; 23 / 25; 26; 27; 31; 32 / 35; 36; 37; 40

2. Korachpsalmen I (Ps 42–49) und II (Ps 84–85.87–88) – Zions- und tempeltheologische Aspekte: 42/43; 44; 46–48; 49 / 84; 85; 87; 88 – Schöpfungstheologische / kosmologische Aspekte: 47 – Anthropologische und ethische Aspekte: 48

3. Zweiter Davidpsaler (Ps 51–72) – Zions- und tempeltheologische Aspekte: 51; 52; 55; 59; 60; 65; 66; 68; 69; 71 – Schöpfungstheologische / kosmologische Aspekte: 57; 58; 59; 65; 68; 69; 71; 72 – Anthropologische und ethische Aspekte: 56

4. Asaphpsalmen (Ps 73–83) – Zions- und tempeltheologische Aspekte: 73; 74; 76; 78; 79; 80; 83 – Schöpfungstheologische / kosmologische Aspekte: 74; 75; 76; 77; 78; 80 – Anthropologische und ethische Aspekte: 78

5. JHWH König-Psalmen (Ps 93–100) – Zions- und tempeltheologische Aspekte: 93; 94; 95; 96; 99; 100 – Schöpfungstheologische / kosmologische Aspekte: 93; 95; 96; 97; 99 – Anthropologische und ethische Aspekte: 100

6. Wallfahrtspsalmen (Ps 120–134) – Zions- und tempeltheologische Aspekte: 122; 125; 128; 129; 132; 134 – Schöpfungstheologische / kosmologische Aspekte: 124; 134 – Anthropologische und ethische Aspekte: 121 139

Siehe dazu oben 323ff.

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7. Fünfter Davidpsalter (Ps 138–145) – Zions- und tempeltheologische Aspekte: 138; 140; 143; 144 – Schöpfungstheologische / kosmologische Aspekte: 139 – Anthropologische und ethische Aspekte: 139; 142 8. Schlusshallel (Ps 146–150) – Zions- und tempeltheologische Aspekte: 146; 147; 149; 150 – Schöpfungstheologische / kosmologische Aspekte: 146; 147; 148 – Anthropologische und ethische Aspekte: 146; 150 In folgenden Einzelpsalmen, Kompositionen und Telsammlungen begegnet die Gott/Raum-Thematik dagegen nur sporadisch, und zwar: – in der Komposition Ps 90–92 (zwei Themenaspekte in Ps 91) – im Dritten Davidpsalter Ps 101–103 (drei Themenaspekte in Ps 101; 102; 103) – in der Ersten Hallelujatriade Ps 104–106 (ein Themenaspekt in Ps 104) – im Lobpsalm 107 (drei Themenaspekte) – im Vierten Davidpsalter Ps 108–110 (zwei Themenaspekte in Ps 108; 110) – in der Dritten Hallelujatriade Ps 115–117 (drei Themenaspekte in Ps 115; 116) – im Dankpsalm 118 (zwei Themenaspekte) – im Alphabetischen Torapsalm 119 (drei Themenaspekte) – in den Geschichtspsalmen 135–136 (zwei Themenaspekte in Ps 135; 136) – im Zionspsalm 137 (ein Themenaspekt)

Literatur Albani, M., Der eine Gott und die himmlischen Heerscharen. Zur Begründung des Monotheismus bei Deuterojesaja im Horizont der Astralisierung des Gottesverständnisses im Alten Orient (ABG 1), Leipzig 2000 Assmann, J., Re und Amun. Die Krise des polytheistischen Weltbilds im Ägypten der 18.–20. Dynastie (OBO 51), Fribourg / Göttingen 1983 –, Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München 2001 Bartelmus, R., Art. råªab usw., ThWAT 7 (1993) 449–460 Barth, Chr., Die Errettung vom Tode. Leben und Tod in den Klage- und Dankliedern des Alten Testaments. Neu herausgegeben von B. Janowski, Stuttgart / Berlin / Köln 31997 Berlejung, A., Art. Weltbild/Kosmologie, in: dies. / Chr. Frevel (Hg.), Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 52016, 67–75 Berlin, A., The Wisdom of Creation in Ps 104, in: Seeking Out the Wisdom of the Ancients (FS M.V. Fox), ed. by R. Troxel et al., Winona Lake 2005, 71–83

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„Bis an den Himmel reicht deine Güte“

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–, Ein Tempel aus Worten. Zur theologischen Architektur des Psalters, in: ders., Der nahe und der ferne Gott, 287–314 –, Der ganze Mensch. Zu den Koordinaten der alttestamentlichen Anthropologie, in: ders., Das hörende Herz. Beiträge zur Theologie und Anthropologie des Alten Testaments 6, Göttingen 2018, 3–30 –, Auf dem Weg zur Buchreligion. Transformationen des Kultischen im Psalter, in: ders., Das hörende Herz, 345–384 Jeremias, J., Der Prophet Amos (ATD 24/2), Göttingen 32013 –, Theologie des Alten Testaments (GAT 6), Göttingen 2015 Jooß, E., Raum. Eine theologische Interpretation (BEvTh 122), Gütersloh 2005 Keel, O., Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Göttingen 51996 –, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus, Teil 1–2. Göttingen 2007 – / Schroer, S., Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Göttingen / Fribourg 22008 Kessler, R., Micha (HThK.AT), Freiburg / Basel / Wien 1999 Köckert, M., Literargeschichtliche und religionsgeschichtliche Beobachtungen zu Ps 104, in: Schriftauslegung in der Schrift (FS O.H. Steck) (BZAW 300), hg. von R.G. Kratz u.a., Berlin / New York, NY 2000, 259–279 –, Ausgespäht und überwacht, erschreckend wunderbar geschaffen. Gott und Mensch in Psalm 139, ZThK 107 (2010) 415–447 Körting, C., Zion in den Psalmen FAT I/48), Tübingen 2006 –, Zion, deine Lieder, in: M. Saur (Hg.), Die Kleine Biblia. Beiträge zur Theologie der Psalmen und des Psalters (BThSt 148), Neukirchen-Vluyn 2014, 37–58 Kratz, R.G. / Spieckermann, H., Art. Schöpfung II, TRE 30 (1999) 258–283 Krüger, A., Das Lob des Schöpfers. Studien zu Sprache, Motivik und Theologie von Psalm 104 (WMANT 124). Neukirchen-Vluyn 2010 Krüger, Th., „Kosmo-theologie“ zwischen Mythos und Erfahrung. Psalm 104 im Horizont altorientalischer und alttestamentlicher „Schöpfungs“Konzepte, in: ders., Kritische Weisheit. Studien zur weisheitlichen Traditionskritik im Alten Testament, Zürich 1997, 91–120 Leuenberger, M., Gott in Bewegung. Religions- und theologiegeschichtliche Beiträge zu Gottesvorstellungen im alten Israel (FAT 76), Tübingen 2011 –, Großkönig und Völkerkampf in Psalm 48. Zur historischen, religionsund theologiegeschichtlichen Verortung zweier zionstheologischer Motive, in: A. Grund / A. Krüger / F. Lippke (Hg.), Ich will dir danken unter den Völkern (FS B. Janowski), Gütersloh 2013, 142–156 –, Jhwh, „der Gott Jerusalems“ (Inschrift aus ˆirbet Bet Layy 1,2). Konturen der Jerusalemer Tempeltheologie aus religions- und theologiegeschichtlicher Perspektive, EvTh 74 (2014) 245–260 –, Art. Königsherrschaft Gottes (wibilex, Zugriff am 15.12.2017) Lichtenstein, M., Von der Mitte der Gottesstadt bis an Ende der Welt. Psalm 46 und die Kosmologie der Zionstradition (WMANT 139), NeukirchenVluyn 2014

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„Bis an den Himmel reicht deine Güte“

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Hymnen und Gebete in Israel und in seiner Umwelt Komparatistische Aspekte (Mit einem bibliographischen Anhang) Seit den archäologischen Entdeckungen im Vorderen Orient und in Ägypten kam eine Fülle von Texten zu Tage, die unser Bild der vorhellenistischen Antike nachhaltig verändert haben.1 Dazu gehören neben Historischen Dokumenten, Rechts- und Wirtschaftsurkunden, Briefen, Ritualtexten, Texten zur Heilkunde, Grab- und Votivinschriften sowie Mythen und Epen auch Hymnen und Gebete, die einzigartige Zeugnisse menschlicher Selbst- und Welterfahrung darstellen. Wer die um Jahrhunderte jüngeren Psalmen Israels liest, stößt immer wieder auf ähnliche Vorstellungen und Motive, so dass sich die Frage nach einem Vergleich mit den Hymnen und Gebeten seiner altorientalischen „Umwelt“ – ein nicht unproblematischer Ausdruck2 – von selbst aufdrängt. Die Frage ist allerdings, wie und woraufhin man Texte unterschiedlicher Kulturen, Sprachen und Zeiten miteinander vergleichen soll. Dem wenden wir uns zunächst zu (I). Danach sollen die Chancen und Grenzen eines solchen Vergleichs anhand ausgewählter Beispiele präzisiert werden (II). Am Schluss werden, ergänzt um einen Bibliographischen Anhang (IV), die Hauptergebnisse resümiert und einige Grundregeln des religionsgeschichtlichen Vergleichs formuliert (III). I.

Methodologische Vorbemerkungen

Der religionsgeschichtliche Vergleich zwischen dem Alten Testament und dem Alten Orient und Ägypten ist ein integraler Methodenschritt der historisch-kritischen Bibelauslegung.3 Gefragt wird dabei nach der 1 S. dazu den Überblick bei Hays, Hidden Riches (s. Anhang 2a), 15–38. 2 Der Ausdruck „Umwelt“, der dem Modell von Zentrum und Peripherie verpflichtet ist, steht in der Gefahr, einem bestimmten Vorurteil Vorschub zu leisten, so als seien Mesopotamien, Ägypten, Kleinasien, Altsyrien und Altiran Kulturen minderen Rangs. Gemeint ist aber die Standortbindung der geschichtlichen Betrachtung, die bei der Beschreibung kultur- und religionsgeschichtlicher Zusammenhänge in der Regel von einem „Zentrum“ ausgeht und in Relation dazu von der „Peripherie“ spricht, vgl. B. Janowski / G. Wilhelm, Vorwort, in: dies. (Hg.), Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Neue Folge 1, Gütersloh 2004, VII–IX. 3 S. dazu Sh. Talmon, Die „vergleichende Methode“ in der Bibelexegese, in: ders., Israels Gedankenwelt in der Hebräischen Bibel, Neukirchen-Vluyn 1995, 1–37; M.

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Hymnen und Gebete in Israel und in seiner Umwelt

Ähnlichkeit von Wörtern, Motiven, Themen, literarischen Gattungen und (religions-)historischen Kontexten, um das Eigenprofil des jeweils untersuchten Textes klarer zu bestimmen. Neben den Ähnlichkeiten sind auch die Unterschiede zu beachten, die zwischen den biblischen und den altorientalischen/ägyptischen Texten aufgrund der jeweiligen Sprache, des zeitlichen Abstands und der kulturellen Milieus bestehen. Wie wir sehen werden, sind Unterschiede für das Verständnis der miteinander verglichenen Texte genauso wichtig wie Ähnlichkeiten oder Gemeinsamkeiten. In der Literaturwissenschaft wird mit dem Vergleich ein Verfahren bezeichnet, das darauf abzielt, „zwischen zwei Gegenständen Ähnlichkeiten und Unterschiede festzustellen, die als tertium comparationis das jeweils Dritte des dreigliedrigen Denkschritts bzw. Bezeichnungsvorgangs ausmachen. Die Identifizierung unterscheidender Merkmale verhilft dazu, den – konkreten oder abstrakten – Gegenständen eine wiedererkennbare Identität zu verleihen, während Ähnlichkeiten zwischen denselben eine analogisierende Übertragung von Eigenschaften des einen auf den anderen veranlassen können“4.

„In zahlreichen Fällen“, so umreißt der Sprachwissenschaftler P.V. Zima das Problem der Komparatistik, „stößt man auf sprachliche, literarische oder verfassungsrechtliche Ähnlichkeiten, die nicht aus direkten oder indirekten Einflüssen ableitbar sind, sondern dadurch zustande kommen, dass sich aufgrund von ähnlichen Ausgangssituationen, die geographisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich bedingt sein können, ähnliche Typen entwickeln“5.

Bei Ähnlichkeiten auf typologischer Ebene ist also nicht sofort auf (literarische) Abhängigkeit oder direkte Beeinflussung zu schließen. Möglich ist auch die Annahme ähnlicher Ausgangssituationen, die zu anderen Ergebnissen führen (können). Anders gesagt: ein ähnliches oder gleiches Motiv kann in einem anderen sozialen, (religions-)historischen oder politischen Kontext eine andere Bedeutung haben. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die Frage, ob Ps 104 vom Großen Amarnahymnus, der von Amenophis IV. / Echnaton (1351–1335 v.Chr.) verfasst wurde, literarisch abhängig ist oder ob es sich eher um StrukBauks, Art. Religionsgeschichtliche Methode (www.wibilex.de, Zugriff am 31.07. 2017); Hays, Hidden Riches (s. Anhang 2a), 4f.15–38. 4 M. Eggers, Art. Vergleich, in: R. Borgards u.a. (Hg.), Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart / Weimar 2013, 265–270, hier: 265. 5 P.V. Zima, Art. Komparatistik, in: A. Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie, Stuttgart / Weimar 42008, 372–374, hier: 372.

Hymnen und Gebete in Israel und in seiner Umwelt

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turparallelen handelt, die auf ein ähnliches Motivinventar bei unterschiedlicher religiöser Ausrichtung schließen lassen. Ps 104 ist ein nachexilischer Schöpfungspsalm, der aus einem Auf- und einem Abgesang (V. 1*.33–35) sowie einem ausführlichen Korpus besteht (V. 1*–32). Unmittelbar vor dem Bewunderungsruf von V. 24, der sich in vergleichbarer Weise auch im Großen Amarnahymnus findet (Z. 76–78), steht ein Passus, der die Erschaffung von Mond und Sonne (V. 19) und damit die Rhythmisierung der Zeit preist: 19 20 21 22 23 24

Er hat gemacht den Mond für Festzeiten, die Sonne kennt ihren Untergang. Du bereitest Finsternis und es wird Nacht, in ihr wimmelt alles Getier des Waldes. Die Junglöwen brüllen nach Beute, um von Gott ihre Speise zu fordern. Strahlt die Sonne auf, ziehen sie sich zurück, und in ihren Verstecken lagern sie sich. Es geht hinaus der Mensch zu seinem Tun, und zu seiner Arbeit bis zum Abend. Wie zahlreich sind deine Werke, JHWH, sie alle hast du in Weisheit gemacht, voll ist die Erde von deinen Geschöpfen!

Dieser Text hat immer wieder Anlass zum Vergleich mit dem Großen Amarnahymnus6 gegeben und zu der These geführt, dass Ps 104,20– 30 literarisch von der ägyptischen ,Vorlage‘ abhängig sei.7 Entscheidend ist etwa für J. Assmann „die Wertung der Nacht als Gottesferne“8, wie sie eindrücklich in Z. 27–37 geschildert wird:

30

Gehst du unter im westlichen Lichtland (= Westhorizont), ist die Erde in Finsternis, in der Verfassung des Todes. Die Schläfer (oder: sie schlafen) in der Kammer, verhüllt sind ihre Köpfe, kein Auge sieht das andere. Ihre Habe wird ihnen unter den Köpfen weg gestohlen, und sie merken es nicht. Jedes Raubtier ist aus seiner Höhle herausgekommen, alle Schlangen beißen.

6 Text bei Assmann, Hymnen und Gebete (s. Anhang 1b), 217–223, s. dazu auch Bayer, Echnaton (s. Anhang 1b), 9–23. 7 Zu den Analogien zwischen Ps 104,20–30 und dem Großen Amarnahymnus s. Reichmann, Übernahme (s. Anhang 2b), 133f.135–172. Zu ihrer Position s. aber unten Anm. 11. 8 J. Assmann, Ägypten. Theologie und Frömmigkeit einer frühen Hochkultur, Stuttgart 1984, 247.

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Hymnen und Gebete in Israel und in seiner Umwelt

Dunkel ist das Herdfeuer (oder: die Finsternis ist ein Grab), die Erde liegt in Schweigen: ihr Schöpfer ist untergegangen in seinem Lichtland.9

Der These J. Assmanns ist allerdings zu widersprechen, weil der Differenzpunkt das unterschiedliche Gottesbild und die damit zusammenhängende Wertung der Nacht ist: Während JHWH auch nachts in seiner Schöpfung anwesend ist und den Junglöwen Nahrung gibt (das in Ps 104,21 stehende Verb biqqeç „fordern“ impliziert eine aktive Beziehung zwischen Gott und seinen tierischen Geschöpfen!), ist Aton, der Lichtgott von Amarna, in der Nacht abwesend, weil er „in seinem Lichtland untergegangen“ (Z. 37) ist. Im Unterschied zur traditionellem Sonnentheologie mit ihrem Tag und Nacht umfassenden Sonnenlauf (vgl. Abb. 1) gibt es für die Amarna-Religion keine Gottesnähe außerhalb des Lichts, und ist deshalb die Welt während der Nacht „in der Verfassung des Todes“ (Z. 29).

Abb. 1: Traditionelles Schema des Sonnenlaufs

Trotz zahlreicher Ähnlichkeiten in der Naturauffassung steht der raumzeitlich eingeschränkten Wirksamkeit Atons die Allwirksamkeit JHWHs gegenüber.10 Damit zeigt der Fall Ps 104 / Großer Amarna9 Übersetzung Assmann, Hymnen und Gebete (s. Anhang 1b), 218, vgl. auch Bayer, Echnaton (s. Anhang 1b), 11f (mit anderer Zählung: Z. 44–58, s. den Kommentar 49f). 10 S. dazu H. Spieckermann, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen (FRLANT 148), Göttingen 1989, 38–40; R. Müller, Jahwe als Wettergott (BZAW 387), Berlin / New York 2008, 228–231; A. Krüger, Das Lob des Schöpfers. Studien zu Sprache, Motivik und Theologie von Psalm 104 (WMANT 124), NeukirchenVluyn 2010, 403–409 und bes. Schipper, Egyptian Parallels (s. Anhang 2b), 57–75.

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hymnus, wie vorsichtig man bei der Beurteilung von Motivähnlichkeiten zwischen alttestamentlichen und altorientalischen bzw. ägyptischen Texten sein muss, um nicht waghalsigen Beeinflussungs- oder Rezeptionshypothesen Vorschub zu leisten.11 Das bedeutet aber nicht, dass der religionsgeschichtliche Vergleich obsolet ist. Im Gegenteil, er ist, wie die folgenden Beispiele zeigen, unverzichtbar und weiterführend. II.

Ausgewählte Beispiele

Es gibt leider kein Kompendium, das die – behaupteten oder tatsächlichen – sprachlichen, motivlichen und/oder thematischen Parallelen zwischen alttestamentlichen und altorientalischen/ägyptischen Texten zusammenstellen und kritisch evaluieren würde. Überaus nützlich ist aber das Sourcebook for the Comparative Study of the Hebrew Bible and Ancient Near East von Chr.B. Hays,12 in dem 27 alttestamentliche Textbeispiele umsichtig mit altorientalischen und ägyptischen Texten verglichen werden. Ähnliches gilt für den ägyptisch-alttestamentlichen Motivkatalog, den B.U. Schipper13 zusammengestellt hat. Unentbehrlich ist schließlich das Standardwerk Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament von O. Keel,14 das neuerdings durch den Sammelband Iconographic Exegesis of the Hebrew Bible / Old Testament von I.J. de Hulster u.a.15 ergänzt wird. An diese Ansätze lässt sich anknüpfen. Methodisch ist dabei zu beachten, was F. Hartenstein im Blick auf den Vergleich zwischen der Bildsprache alttestamentlicher Texte (Vergleiche, Metaphern) und der altorientalischen Ikonographie formuliert hat, dass nämlich die altorientalischen Bilder die alttestamentlichen Texte nicht illustrieren, sondern dass „in beiden Medien u.U. gleichartige oder identische kulturelle Bedeutungen und Vorstellungszusammenhänge aus11 Zur Frage möglicher Überlieferungswege des Großen Amarnahymnus nach Palästina/Israel s. Reichmann, Übernahme (s. Anhang 2b), 172–187. Reichmann rechnet mit einer „Teilübersetzung“ des GAH ins Hebräische, kann aber die besagte Überlieferungsfrage nur durch waghalsige Vermutungen ,beantworten‘ (s. bes. 183f). Wesentlich zurückhaltender ist Schipper, Egyptian Parallels (s. Anhang 2b), 57–75, 68–72, der darüber hinaus vorschlägt, das Vorkommen von Motiven, wie sie aus Ps 104 bekannt sind, in ägyptischen Hymnen des 1. Jt.s v.Chr. (!) zu beachten, s. zusammenfassend Schipper, Egyptian Parallels (s. Anhang 2b), 72f. 12 Hays, Hidden Riches (s. Anhang 2a). 13 Schipper, Egyptian Parallels (s. Anhang 2b), 61–67. 14 Keel, Bildsymbolik (s. Anhang 2a), s. ferner ders. / Chr. Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole, Freiburg, Schweiz 62010. 15 I.J. de Hulster u.a. (ed.), Iconographic Exegesis of the Hebrew Bible / Old Testament. An Introduction to Its Method and Practice, Göttingen 2015.

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gedrückt (werden)“16 – und zwar unabhängig von der Frage einer möglichen Beeinflussung. Mutatis mutandis gilt das auch für den Vergleich zwischen Texten des Alten Testaments und des Alten Orients / Ägyptens. In diesem Sinn einer reflektierten Komparatistik sind die folgenden Beispiele zu verstehen. Das erste kommt aus dem Bereich der Hymnen (1), das zweite aus dem Bereich der Klagelieder und Gebete (2). 1.

Die Gotterfülltheit der Welt

Verkünden und Verklären – dies sind J. Assmann zufolge die beiden Grundformen hymnischer Rede im alten Ägypten.17 Und zwar deswegen, weil sie auf grundsätzliche Weise von Gott bzw. vom Göttlichen reden, weil sie dieses Reden poetisch entfalten und weil sie sich dabei auf kosmologische Gegebenheiten (Ordnungsstrukturen) beziehen.18 Auch die alttestamentlichen Hymnen sind mit ihrem Gotteslob eine „fundamentale Verstehenskategorie für die Gott-Mensch-WeltRelation“19. Nehmen wir als Beispiel Ps 36.20 Diese weisheitlich geprägte Reflexion über die welterfüllende Gerechtigkeit Gottes beginnt nach der Überschrift (V. 1) mit einer Beschreibung des Frevlers (V. 2–5), der ein Hymnus auf die Güte Gottes gegenübergestellt wird (V. 6f.8–10). Der Text schließt mit Bitten um das Ende der Frevler (V. 11–13) und lautet wie folgt: 1

Für den Chormeister. Vom Knecht JHWHs. Von David.

Beschreibung des Frevlers 2

Raunen des Verbrechens zum Frevler inmitten meines Herzens, kein Gottesschrecken (ist) vor seinen Augen.

16 F. Hartenstein, Altorientalische Ikonographie und Exegese des Alten Testaments, in: S. Kreuzer u.a., Proseminar I, Stuttgart 22005, 173–186, hier: 182, s. ferner ders., Der Beitrag der Ikonographie zu einer Religionsgeschichte Kanaans und Israels, in: VF 40 (1995) 74–85. 17 J. Assmann, Verkünden und Verklären – Grundformen hymnischer Rede im Alten Ägypten, in: Burkert / Stolz (Hg.), Hymnen (s. Anhang 2a), 33–58. 18 Vgl. Assmann, Verkünden (s. Anm. 17), 50ff. 19 H. Spieckermann, Alttestamentliche „Hymnen“, in: Burkert / Stolz (Hg.), Hymnen (s. Anhang 2a), 97–108. 20 Zu Ps 36 s. außer den Kommentaren besonders N. Lohfink, Innenschau und Kosmosmystik, in: ders., Im Schatten deiner Flügel. Große Bibeltexte neu erschlossen, Freiburg / Basel / Wien 1999, 172–187; B. Janowski, Der Ort des Lebens. Zur Kultsymbolik des Jerusalemer Tempels, in: ders., Der nahe und der ferne Gott, Neukirchen-Vluyn 2014, 207–243, hier: 221–226 u.a.

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3 4 5

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Denn es schmeichelte ihm in seinen Augen 21 hinsichtlich des Findens seiner Verkehrtheit, um (sie) zu hassen. Die Worte seines Mundes sind Unheil und Trug, er hat aufgehört, klug zu handeln, Gutes zu tun. Unheil ersinnt er auf seinem Lager, er stellt sich auf einen Weg, der nicht gut ist, Böses verabscheut er nicht.

Hymnus auf Gottes Güte 6 7

8 9 10

JHWH, bis an den Himmel (reicht) deine Güte, deine Treue bis zu den Wolken! Deine Gerechtigkeit ist den Gottesbergen gleich, dein Recht der großen Urflut, Mensch und Tier rettest du, JHWH! Wie kostbar ist deine Güte, Gott, und Menschenkinder – im Schatten deiner Flügel bergen sie sich! Sie laben sich am Fett deines Hauses, und mit dem Bach deiner Wonnen tränkst du sie. Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, in deinem Licht sehen wir Licht!

Bitten um das Ende der Frevler 11 12 13

Lass andauern deine Güte denen, die dich kennen, und deine Gerechtigkeit denen, die geraden Herzens sind! Nicht erreiche mich der Fuß des Hochmuts, und die Hand der Frevler soll mich nicht verjagen! Dort sind hingefallen die Übeltäter, sie wurden umgestoßen und können nicht mehr aufstehen.

Für die Gliederung des Texts ist zu beachten, dass der die Themazeile V. 2 begründende Abschnitt V. 3–5 vier verschiedene Termini für „Sünde“ – Verkehrtheit, Unheil (2mal), Trug, Böses – enthält, denen in V. 6f vier Termini für Gottes Zuwendung – Güte, Treue, Gerechtigkeit, Recht – gegenüberstehen. Darüber hinaus bildet der JHWHName in V. 6f eine Inclusio, und schließlich besitzt das Motivwort „Güte“ (ªæsæd V. 6a.8a.11a) eine abschnittsgliedernde Funktion.22 Daraus ergibt sich eine Abfolge von drei großen Einzelbildern, die in V. 11–13 in die Bitten um das Ende der Frevler münden: 21 Wörtlich: „denn es (sc. das Verbrechen) glättete ihm (seine Zunge/Worte) in seinen Augen“. 22 Zur poetischen Struktur s. noch B. Weber, Werkbuch Psalmen I, Stuttgart / Berlin / Köln 2001, 174f (der allerdings V. 10 mit V. 11–13 zusammennimmt).

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Porträt des Frevlers (anthropologische und ethische Aspekte) Kosmosmetapher (kosmologische Aspekte) Tempelmetapher (tempeltheologische Aspekte) Ende der Frevler (anthropologische und ethische Aspekte)

Den Auftakt des Ganzen bildet der Abschnitt V. 2–5 mit einer phänomenologisch hellsichtigen Beschreibung des Frevlers. Der Frevler ist danach ein Mensch, der in sich hinein hört und dabei das „Raunen des Verbrechens“ (V. 2a) vernimmt, das ihn zum Frevler machen will. Die Sünde, so konstatiert der Text, ist eine Kraft, die im Inneren des Menschen, nämlich in seinem „Herzen“ (V. 2a)23 lokalisiert ist und die über die Augen (V. 2b.3a) – weder mit Gottes Wirklichkeit („Gottesschrecken“) noch mit der Außenwelt, sondern – allein mit sich selbst kommuniziert und die deshalb jedes Maß des Menschlichen unterminiert: „Die Stelle des Leibes, wo der Sünder das Maß des Menschlichen verliert, sind seine Augen. Das Wort ,Auge‘ wird wiederholt (2b.3a) und beherrscht dadurch den Anfang der Beschreibung. Die Fenster des Menschen zur Welt sind keine Fenster mehr. Das Instrument, mit dem Wirklichkeit wahrgenommen und akzeptiert werden sollte, funktioniert nicht mehr. Denn vor den Augen müsste, wenn ein Mensch schon in die Sünde hineingeraten ist, Gottes Schrecken ansichtig werden: Gottes Reaktion auf das wirklichkeitszerstörende Sündigen, und nochmals dahinter einfach seine absolute Andersheit, sein Gottsein. Das können diese Augen nicht mehr wahrnehmen.“24

Warum? Weil der Frevler, wie V. 3–5 ausführen, ein in sich verkrümmter Mensch (homo incurvatus in seipsum) ist: Er hat Augen, die nicht fähig/willens sind, die eigene Verkehrtheit aufzudecken und entsprechend zu hassen (V. 3), und einen trügerischen Mund, der aufgehört hat, aus Einsicht Gutes zu tun (V. 4). Darum ersinnt er Unheil „auf seinem Lager“ (V. 5aa) und führt es auch aus, indem er – wie bereits die klassische Prophetie und die alte Weisheit wussten – einen „Weg“ betritt, der nicht gut ist, und das Böse nicht verabscheut (V. 5ab).25 So demonstriert der erste Abschnitt des Psalms nicht nur den gottfreien Innenraum des Sünders – „kein Gottesschrecken (ist) vor seinen Augen“ (V.2b) –, sondern auch den engen Zusammenhang von Anthropologie und Ethik, wie er in den Körperbegriffen „Herz“ (V. 23 Zum Herzen als Beziehungsorgan s. B. Janowski, Das Herz – ein Beziehungsorgan, in: ders. / Chr. Schwöbel (Hg.), Dimensionen der Leiblichkeit, NeukirchenVluyn 2015, 1–45. 24 Lohfink, Innenschau (s. Anm. 20), 178. 25 Vgl. Jes 1,16f; Am 5,14f u.ö., s. dazu J. Jeremias, Der Prophet Amos (ATD 24/ 2), Göttingen 32013, 71f.

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2a), „Augen“ (V. 2b.3a), „Mund“ (V. 4a) und dem ethischen Grundbegriff „(Lebens-)Weg“ (V. 5ab) zum Ausdruck kommt. Während in V. 2–5 der Blick nach innen auf das in sich selbst verkrümmte Ich des Frevlers gerichtet ist, wird er in V. 6–7 nach außen auf die Schöpfung Gottes gelenkt. Dieser Wechsel der Blickrichtung geschieht im Text abrupt und geht mit einem Wechsel der Sprechrichtung (hin zur Anrede JHWHs) einher. Dabei nimmt der Beter nach V. 6f zunächst die Welt in ihrer räumlichen Ausdehnung vom Himmel // den Wolken (Vertikale: oben) über die Gottesberge (Horizontale) bis zur großen Urflut (Vertikale: unten) wahr und sieht in diesen Erscheinungen der Schöpfungswelt Zeichen der „Güte“, der „Treue“, der „Gerechtigkeit“ und des „Rechts“ Gottes, die sich rettend (jç˛ „retten“ hif.) an Mensch und Tier auswirken und insofern eine soziale Komponente haben. Mit N. Lohfink kann man hier von einer „Kosmosmetapher“ (s. Abb. 2) sprechen: Himmel / Wolken (Güte/Treue)

Gottesberge (Gerechtigkeit)

Gottesberge (Gerechtigkeit)

Große Urflut (Recht) Abb. 2: Die Kosmosmetapher von Ps 36,6f „Der riesenhafte Raum der gesamten Schöpfung ist … von Gottes Güte angefüllt. Die Welt in ihrer Weite ist der Raum der Gottesgegenwart und damit auch der möglichen Gottesbegegnung. Alle lebendigen Bewohner dieser Schöpfung begegnen hier dem Gott Israels, JHWH: nicht nur die Israeliten, auch nicht nur alle Menschen, sondern ,Mensch und Tier‘ (V. 7). Sie begegnen ihm, indem er sie ,rettet‘ (V. 7). Das Thema der Sünde ist also – so plötzlich und so deutlich markiert auch der Umschwung bei Vers 6 war – immer noch heimlich andrängend da. Gottes Gegenwart ist nicht friedlich-selbstverständlich. Seine Geschöpfe sind gefährdet. Die Bewohner des Weltenraumes müssen beständig vor dem in der Sünde andringenden Chaos ,gerettet‘ werden. Gott ist ihnen nah, insofern er sie rettet.“26 26

Lohfink, Innenschau (s. Anm. 20), 180.

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Ohne dass terminologisch vom Licht der Sonne gesprochen wird, steht im Hintergrund von V. 6f das Bild des welterfüllenden Sonnenlichts: „Denn was erfüllt den Raum zwischen Himmel und Erde, von einem Horizont zum andern? Allein das köstliche und alles klärende Licht der Sonne.“27 Der Topos der Gotterfülltheit der Welt begegnet nicht nur in Ps 33,5; 57,6.11f = 108,5f; 71,19; 103,11f; 113,4; 119, 64.96; 139,8–12; 148,13 oder im Ruf der Seraphen von Jes 6,3: Und einer rief dem anderen zu und sprach: „Heilig, heilig, heilig ist JHWH Zebaoth, die Fülle der ganzen Erde ist seine Herrlichkeit!“28,

sondern auch in der ägyptischen Sonnentheologie des Neuen Reichs (18.–21. Dynastie, 1540–945 v.Chr.). Die Sonne, deren Licht die gesamte Welt vom Himmel mit seinen beiden Horizonten bis zu den Enden der Erde erfüllt (Text 2), spendet dieses Licht allen Geschöpfen, die davon leben und mit ihm ihr Leben gestalten (Text 1): Text 1 10

15

Du bist das Licht, das für die Menschheit aufgeht, die Sonne, die die Helligkeit gibt, um erkennen und unterscheiden zu lassen Götter und Menschen, wenn du dich zeigst. Jedes Gesicht lebt vom Anblick deiner Schönheit, aller Same entsteht, wenn du sie bestrahlst. Keiner ist, der ohne dich leben kann! Du leitest jedermann, indem sie zu ihrer Arbeit verpflichtet sind, du hast die Form ihres Lebens gebildet, nachdem du sichtbar wurdest.

Text 2 Du hast den Himmel in Besitz genommen mit seinen beiden Horizonten indem du erglänzt über dem Luftraum. Die Erde ist unter dir bis an ihr Ende, du hast sie ergriffen.29

27 Lohfink, Innenschau (s. Anm. 20), 181. 28 H. Irsigler, Gott als König in Berufung und Verkündigung Jesajas, in: ders., „Denk an deinen Schöpfer“ (SBAB 60), Stuttgart 2015, 31–57, hier: 49 hat zutreffend bemerkt, das sich „heilig“ und „Herrlichkeit“ in Jes 6,3 „wie ein Innen zum Außen (verhalten): qådôç ,heilig‘ ist die Eigenschaft, die im erscheinenden kåbôd Jahwe Zebaots die ganze Erde durchdringt“, s. dazu auch F. Hartenstein, Die Unzugänglichkeit Gottes im Heiligtum (WMANT 75), Neukirchen-Vluyn 1997, 78– 109.

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Auch nach Ps 36,f ist die Schöpfung von der Gegenwart JHWHs erfüllt, deren ,Ausstrahlungen‘ (Güte, Treue, Gerechtigkeit, Recht) sich heilvoll in die ganze Welt bis hin zu den Menschen und Tiere auswirken. Mit der Rettungsaussage von V. 7b erreicht der erste Teil (V. 6f) des Hymnus V. 6–10 das Thema des zweiten Teils (V. 8–10), der die Partizipation der Menschen an Gottes Gegenwart und Gottes Gaben preist. Zum Rettungshandeln JHWHs in V. 7b gibt es eine interessante Sachparallele in einem spätbabylonischen Hymnus auf den Gott Ninurta, der nicht nur den Schwachen und Demütigen, sondern den (Wild-)Tieren in der Not hilft: 21 22 23 24 25 26

Der …-Vogel, den der Fänger gefesselt (und) dem er die Flügel gebunden hat: o Herr, der den Göttern hilft, ihn setzt du noch aus dem Käfig in Freiheit. Die Gazelle, die das Fangnetz bedeckt hat und die in der Falle niedergeschlagen ist: o allerhöchster Vater, der die Anrufungen hört, auf deinen Befehl schlüpft sie aus dem engen Maschenwerk heraus (und) läuft davon. Der an der Peripetie (lebende) Wildesel, den man eingekreist hat und dem der Fluchtweg versperrt ist: o Herrscher seiner Erzeuger, ihm schaffst du weiten Raum, so dass er davonlaufen und (einen) Weg einschlagen kann.30

Das Motivwort „Güte“ (ªæsæd), das in Ps 36,6 die „Kosmosmetapher“ einleitet, wird hier hinsichtlich seiner Bedeutung für die Menschenwelt entfaltet und in V. 11f auf die JHWH-Treuen und die Frevler ausgedehnt. Im Blick auf unser Thema sind dabei die beiden Lebensbilder – das Einzelbild „Im Schatten deiner Flügel“ und das Doppelbild „Fett deines Hauses“ // „Bach deiner Wonnen“ – wichtig, 29 Die Textzitate nach J. Assmann, Re und Amun. Die Krise des polytheistischen Weltbilds im Ägypten der 18.–20. Dynastie (OBO 51), Freiburg, Schweiz / Göttingen 1983, 110f. 30 Übersetzung W. Mayer, Ein Hymnus auf Ninurta als Helfer in der Not, Or. 61 (1992) 17–57, hier: 30 (mit dem Kommentar 36f). Mayer, der zum Vergleich auf Hi 39,5 hinweist (18 Anm. 3), kommentiert den Passus Z. 21–26 folgendermaßen: „Es findet sich hier nicht einfach der – im Alten Orient verbreitet – Gedanke, dass die Gottheit auch die wild, d.h. ohne Beziehung zum Menschen lebenden Tiere beherrscht und versorgt, sondern es geht um Wildtiere, die der Mensch gefangen hat und nun für seine Zwecke verwenden will: selbst in diesem Fall, so der Dichter, steht dem Tier ein – modern gesprochen – Recht auf Leben in Freiheit zu, zu dem ihm der Gott, auch auf Kosten des Menschen, verhilft. Wenn ich recht sehe, ist dieser Gedanke im Alten Orient einmalig“ (18).

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die in V. 10 gebündelt und mit einem rätselhaften und schönen Satz ins Grundsätzliche gewendet werden: Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, in deinem Licht sehen wir Licht.

Mit der Ortsbestimmung „bei dir“, d.h. in der Nähe des Tempelgottes, wird die Lebensmetaphorik von V. 8f – Kostbarkeit, Schutz, Sättigung und Durststillung – aufgenommen und räumlich „verortet“. Das begründende Bekenntnis von V. 10 entfaltet diese Aussage durch die auf V. 9 zurückgreifende Wendung „Quelle des Lebens“ und vor allem durch eine doppelte Lichtmetapher.31 Im Bereich des Tempels, so konstatiert Ps 36,8–10, erfährt der Mensch die intensivste Form der Gottesnähe. Während in V. 8 das Bild eines schützenden Baldachins („Flügel“) evoziert wird, in dessen „Schatten“ sich die „Menschenkinder“ bergen, zeichnet V. 9 das Bild eines köstlichen Mahls, das von JHWH als Gastgeber an heiliger Stätte bereitet wird.32 Besonders aussagekräftig ist dabei die Wendung „Bach deiner Wonnen“, die mit dem Steigerungsplural „Wonnen, Labungen“ (˛adånîm, Pl. von ˛edæn „Wonne[land]“) den Umriss der auf den Jerusalemer Tempel übertragenen Paradiesvorstellung zu erkennen gibt. Mit der Lichtaussage von V. 10 schließt sich dann der Kreis, der mit der Schilderung der welterfüllenden Gerechtigkeit Gottes in V. 6f eröffnet wird und zugleich einen Kontrapunkt zur verschlossenen und düsteren Welt des Frevlers (V. 5aα) setzt. Jetzt tritt auch der Mensch wieder hervor, aber nicht in seiner gottfernen Vereinzelung wie am Anfang (V. 2–5), sondern als ein „Wir“, d.h. in der Gemeinschaft derer, „die dich (sc. JHWH) kennen“ und „die geraden Herzens sind“ (V. 11). Anders, so resümiert V. 13, die Übeltäter, die „dort“, am heiligen Ort des Tempels,33 hingefallen sind: „sie wurden umgestoßen und können nicht mehr aufstehen“. Im Blick auf unsere Fragestellung ist festzuhalten, dass Ps 36 weder von ägyptischen noch von mesopotamischen Hymnen abhängig ist. Er ist vielmehr ein Text sui generis, der aber im Blick auf das Motiv der Gotterfülltheit der Welt (V. 6f) und das Motiv des die Tiere rettenden Gottes (V. 7b) strukturelle Ähnlichkeiten mit ägyptischen 31 S. dazu Keel, Bildsymbolik (s. Anhang 2a), 166, vgl. F. Hartenstein, Das Angesicht JHWHs. Studien zu seinem höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Exodus 32–34 (FAT 55), Tübingen 2008, 179–182. 32 S. dazu B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 42013, 332f; Lohfink, Innenschau (s. Anm. 20), 182–184 und Hartenstein, Angesicht JHWHs (s. Anm. 31), 146–149.181f u.ö. 33 Vgl. F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalm 1–50 (NEB.AT 29), Würzburg 1993, 223.228.

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Sonnenhymnen des Neuen Reichs und einem spätbabylonischen Hymnus auf Ninurta aufweist. Insofern bestätigt er die These, dass es beim Religionsgeschichtlichen Vergleich nicht um die Suche nach literarischen und/oder thematischen Abhängigkeiten geht, sondern um ein genaueres Verständnis von Vorstellungszusammenhängen, die den Kulturen der vorhellenistischen Antike bei aller Unterschiedlichkeit gemeinsam sind.34 2.

Der klagende und bittende Mensch

Die biblischen und mesopotamischen Klagepsalmen waren von jeher eine Fundgrube für den Religionsgeschichtlichen Vergleich – allerdings, um im Bild zu bleiben, eine Fundgrube mit zahlreichen Untiefen. Denn „bei der Suche nach dem, was die Religion Israels im Verhältnis zu seinen Nachbarn auszeichnete (,proprium Israels‘) ging es primär um die Unterschiede, die Gemeinsamkeiten wurden häufig entweder nicht betont oder andererseits völlig überbewertet“35.

Im Unterschied zu den Anfängen, wie sie etwa durch G.R. Drivers Aufsatz Die Psalmen im Lichte babylonischer Forschung von 192636 repräsentiert werden, hat sich die Situation allerdings grundlegend verändert. Es geht nun nicht mehr darum, die Einzigartigkeit des „Monotheismus des hebräischen Dichters“37 gegenüber der babylonisch-assyrischen Kultur zu erweisen, sondern darum, die ,Eigensprachlichkeit‘ (B. Landsberger) der altorientalischen, ägyptischen und alttestamentlichen Klagetraditionen, ihre spezifischen Formen, ihr jeweiliges Motivinventar und ihre rituellen Funktionen herauszuarbeiten.38 Als Beispiel dafür sei mit Ps 3839 die Klage eines leidenden Beters gewählt, für dessen Elendsschilderung (V. 4–9) es zahlreiche Strukturparallelen in mesopotamischen Klagegebeten gibt: 34 Vgl. dazu auch oben 349ff. 35 Zernecke, Gott (s. Anhang 2c), 17. 36 Driver, Psalmen (s. Anhang 2c), 62–133. 37 Driver, Psalmen (s. Anhang 2c), 130. 38 S. dazu auch unten 366. Zur Methodik des Vergleichs von alttestamentlichen und mesopotamischen Gebetstexten s. Zernecke, Gott (s. Anhang 2c), 17–24; dies., The Use of Akkadian Prayers in the Study of the Hebrew Bible, in: Lenzi (ed.), Akkadian Prayers (s. Anhang 1c), 61–68 und dies., Mesopotamian Parallels (s. Anhang 2c), 27–42 mit der dort jeweils genannten Lit. 39 Zum Folgenden s. ausführlich B. Janowski, Das erschöpfte Selbst. Zur Semantik der Depression in den Psalmen und im Ijobbuch, in: J. Schnocks (Hg.), „Wer lässt uns Gutes sehen?“ (Ps 4,7). Internationale Studien zu Klagen in den Psalmen (HBS 85), Freiburg / Basel / Wien 2016, 95–143, hier: 105–117.

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Überschrift 1 Ein Psalm Davids. Zum Gedenken(lassen). Eingangsbitten mit Gottklage 2 JHWH, in deinem Zorn weise mich nicht zurecht, und nicht in deinem Grimm züchtige mich! 3 Denn deine Pfeile sind eingedrungen in mich, und es fuhr herab auf mich deine Hand. Elendsschilderung 4 Keine heile Stelle ist an meinem Fleisch wegen deines Zorns, nichts Heiles ist an meinen Gebeinen wegen meiner Sünde. 5 Fürwahr, meine Vergehen sind mir über den Kopf gewachsen, wie eine schwere Last sind sie zu schwer für mich. 6 Gestunken, geeitert haben meine Wunden wegen meiner Torheit. 7 Ich war gekrümmt, niedergebeugt gar sehr, den ganzen Tag ging ich niedergedrückt umher. 8 Denn meine Lenden waren voller Brand, und keine heile Stelle war an meinem Fleisch. 9 Ich war erstarrt und zerschlagen gar sehr, ich brüllte (auf) wegen des Gestöhns meines Herzens.

Die Eingangsbitte V. 2f gibt das Thema des Psalms an. Dieses besteht in der zürnenden Zurechtweisung Gottes, um deren Nicht-Ergehen der Beter bittet und deren Auswirkung er mit traditionellen Sprachbildern (Pfeile // Hand) beschwört. Die zwischen Zorn und Zurechtweisung geknüpfte Verbindung ist auch für den ersten Teil (V. 4–6) der Elendsschilderung V. 4–9 leitend, wenn der Zorn JHWHs als Reaktion auf die Sünde des Beters in Kraft gesetzt wird. Mit dem Hinweis auf die schweren körperlichen Schädigungen in V. 4 und V. 6 wird dann das Thema angeschlagen, das im zweiten Teil der Elendsschilderung (V. 7–9) in den Vordergrund tritt und in V. 8b die Formulierung von V. 4a aufnimmt. Eine medizinisch korrekte Diagnose ist mit dieser Elendsschilderung nicht beabsichtigt, vielmehr machen die fünf verba depressionis (in der Übersetzung unterstrichen) das Ausmaß der physischen und psychischen Niedergeschlagenheit des Beters deutlich, zu der erst mit dem Bekenntnis der Zuversicht (V. 16–21) und den Schlussbitten (V. 22f) ein Kontrapunkt gesetzt wird. Eine Sachparallele zu Ps 38 liegt in dem Handerhebungsgebet Içtar 2 aus der 1. Hälfte des 1. Jt.s v.Chr. vor, das sich in eine Invokation (Z. 1–41), ein dreiteiliges Bittgebet (Z. 42–55.56–92.93–

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100)40 und eine Benediktion (Z. 101–105) gliedert. Für unsere Fragestellung ist nicht nur der Abschluss der Invokation in Z. 40f zentral, wo vom lebendig machenden Blick der Göttin Içtar die Rede ist: 40 41

Wo du hinblickst, wird lebendig der Tote, erhebt sich der Kranke. Es wird gerade der Ungerade, wenn er dein Antlitz sieht.41

Aussagerelevant ist auch die Selbstvorstellung des Beters, die in Z. 42 mit betontem „ich“ einsetzt und in Z. 42–44 (vgl. Z. 53–55) an die Invokation anknüpft: 42 43 44

Ich rufe dich an, dein ermüdeter, völlig ermatteter, schwerkranker Knecht! Sieh mich an, meine Herrin, und nimm an mein Flehen! Fest schaue auf mich und höre mein Gebet!42

Dieses Flehen des Kranken („dein Knecht“) nach Zuwendung der Göttin („meine Herrin“), die ihn ansehen und erhören möge, umrahmt die Bitten um das Erlösungswort „Genug!“ in Z. 45–50 und die Bitte um die Beruhigung von Içtars Zorn (Z. 51f). Hier finden sich mit den körperbezogenen Wendungen „mein kläglicher Leib, der voll ist von Verwirrungen und Trübungen“ (Z. 46), „mein schwerkrankes Herz, das voll ist von Tränen und Seufzen“ (Z. 47), „mein Gemüt, das ausharrt unter Tränen und Seufzen“ (Z. 50) explizite Hinweise auf das physische und psychische Leiden des Beters, die im zweiten Teil des Bittgebets (mit den beiden Hälften Z. 56–80 und 81–92) durch die sozialen Aspekte seiner Not (Z. 77f) noch gesteigert werden. So heißt es in der ersten Hälfte (Z. 56–80): 62 63 64

Ich schwanke wie eine Woge, die ein böser Wind aufpeitscht. Es flattert mein Herz, fliegt hin und her wie ein Vogel des Himmels. Klagelaute stoße ich aus wie eine Taube nachts und am Tage.43

40 In Z. 56.59.93f findet sich die gattungstypische Frage „Wie lange?“, die auch in Ps 6,4; 13,12f; 74,10 u.ö. begegnet, s. dazu Zernecke, Mesopotamian Parallels (s. Anhang 2c), 36. 41 Übersetzung A. Zgoll, Die Kunst des Betens. Form und Funktion, Theologie und Psychagogik in babylonisch-assyrischen Handerhebungsgebeten an Içtar (AOAT 308), Münster 2003, 51, zur Interpretation s. 72–75 und Zernecke, Gott (s. Anhang 2c), 175.187–189. Zu vergleichen ist auch die Übersetzung in Janowski / Schwemer (Hg.), Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. Neue Folge 7 (s. Anhang 1a), 85–90 (K. Hecker). 42 Übersetzung Zgoll, Kunst des Betens (s. Anm. 41), 51. 43 Zum Taubenvergleich, der sich auch in Jes 38,14; Nah 2,8 u.ö. findet, s. Zernecke, Mesopotamian Parallels (s. Anhang 2c), 36 und Janowski, Selbst (s. Anm. 39), 113.

364

Hymnen und Gebete in Israel und in seiner Umwelt

65 66

,Glühend‘ bin ich und weine laut. Unter Weh und Ach ist schwerkrank mein Gemüt.

72

Ich habe gesehen, meine Herrin, verfinsterte Tage, verdunkelte Monate Jahre des Kummers. Ich habe gesehen, meine Herrin, (Straf-)Gericht, Verwirrung und Aufruhr. Es hält mich fest Tod und äußerste Pein. Totenstarr ist mein Schrein, totenstarr ist mein Heiligtum. Über (meinem) Haus, Tor und Flur lastet Totenstille. Mein Gott – zu einem anderen Ort ist gewandt sein Gesicht. Zerstreut ist meine Sippe, mein Obdach aufgelöst.44

73 74 75 76 77 78

Die Abwendung des göttlichen Gesichts, so zeigt dieser Text, beschwört die ,unheile Welt‘ der Finsternis und des Todes herauf.45 Typisch für depressives Verhalten sind dabei Wendungen und Bilder von Ruhelosigkeit und Jammer (Z. 62f.64–66), von Dunkelheit und Kummer (Z. 72), von Verwirrung und Aufruhr (Z. 73), von Bewegungsunfreiheit (Z. 74) und Totenstille (Z. 75f). Besonders plastisch bringen die drei Vergleiche in Z. 62–64 die Notlage des Beters zum Ausdruck: – er schwankt wie eine Woge, die ein böser Wind aufpeitscht – sein Herz flattert und fliegt hin und her wie ein Vogel des Himmels – er klagt wie eine Taube nachts und am Tage

Dann heißt es, dass er (vor Fieber) glüht, laut weint und unter Weh und Ach klagt (Z. 65f). Zu Beginn der zweiten Hälfte des mittleren Bittgebets (Z. 81–92) kommt es schließlich zum Doppelwunsch nach einer „Lösung“ der Sünde und der Annahme des Flehens (Z. 81f) sowie zu drei Bitten um die Rückkehr ins Leben (Z. 83f): 81 82 83 84

Löse meine Schuld, meine Untat, meine Sünde, mein Vergehen! Achte für nichts meine Sünden, nimm an mein Flehen! Lockere mir meine Fesseln, meine Lastenbefreiung setze fest! Leite gerade (eç™ru Çt) meinen Schritt, strahlend (namriç), fürstlich (etelliç) mit den Lebenden will ich gehen die Straße!46

44 Übersetzung Zgoll, Kunst des Betens (s. Anm. 41), 52, zur Interpretation s. 89– 91 und Zernecke, Gott (Anhang 2c), 157f.181f. 45 Zu den für die Mentalität Mesopotamiens charakteristischen Oppositionen Kosmos/Chaos, Licht/Finsternis, Leben/Tod s. E. Cassin, La splendeur divine. Introduction à l’étude de la mentalité mésopotamienne, Paris 1968, 27–52. 46 Übersetzung Zgoll, Kunst des Betens (s. Anm. 41), 52, zur Interpretation s. dies., aaO 92f und Zernecke, Gott (s. Anhang 2c) 159.182.

Hymnen und Gebete in Israel und in seiner Umwelt

365

Mit diesen drei Bitten wird die erhoffte Rückkehr in die Gemeinschaft der „Lebenden“ (Z. 84) eindrücklich ins Bild gesetzt und gleichzeitig den Todesbildern von Z. 74–76 gegenübergestellt. Dabei konkretisieren die beiden Adverben „strahlend“ (namriç) und „fürstlich“ (etelliç) diese Rückkehr im Blick auf die psychosomatische und die soziale Situation des Beters und bilden damit eine Brücke zu den Aussagen von Ps 38,7–9.10–15. Während mit dem Adverb „fürstlich“ das soziale Ansehen gemeint ist, das dem Beter durch die Zuwendung des göttlichen Angesichts zuteil werden möge, wird mit dem Adverb „strahlend“ auf das Wortfeld zurückgegriffen, das für das Wirken Içtars charakteristisch ist (vgl. Z. 35.54f) und mit dem das wiedererlangte Leben des Beters qualifiziert wird.47 Beide Qualifikationen – das „strahlende“ und „fürstliche“ Gehen des Beters „mit den Lebenden“ – sind nach Z. 84 die Folge eines Handelns der Göttin, nämlich ihrer geraden Leitung, das bereits in der Invokation gepriesen wird: 25 26

Den Rechtsspruch über die Beherrschten in Recht und Gerechtigkeit fällst du, (ja) du, Du blickst auf den Leidenden und Misshandelten, du leitest ihn gerade (eç™ru Çt) Tag für Tag.48

Entsprechend der mit eç™ru(m) „gerade sein, geradeaus gehen“ zum Ausdruck gebrachten Bewegung, wonach „man nicht vom Weg abweicht, keine Umwege macht und auf dem richtigen Weg zum Ziel ist“49, wird die Göttin dem Beter, wie er hofft, Recht schaffen und sein Leiden beenden oder, wie Z. 41 gleichsam definitorisch formuliert: „Es wird gerade der Ungerade, wenn er dein Antlitz sieht“. Kehren wir zu Ps 38,4–9 und seinen drastischen Körperbildern zurück. Nach V. 7–9 ist der Beter an einem Tiefpunkt angelangt, an dem seine physische und psychische Erschöpfung kaum mehr zu steigern ist. An diesem Punkt wird mit dem Vertrauensbekenntnis V. 10 der erste Schritt zu einer Wende getan – der zweite folgt mit V. 16 –, auch wenn der Beter in V. 11–15 wieder in die Klage zurückfällt und seine physische und soziale Ohnmacht eingesteht. Während V. 12f die soziale Dimension der Not durch das teilnahmslose und aggressive Verhalten der Freunde, Gefährten und Verwandten des Beters ausmalt (vgl. Ps 41,6–10; Hi 19,13–19 u.a.), nennt V. 11 mit dem heftig pochenden Herzen (Rückgriff auf V. 9b: ,stöhnendes Herz‘) 47 Zu den auf Licht und Helligkeit bezogenen Epitheta Içtars s. Zernecke, Gott (s. Anhang 2c), 172f. 48 Übersetzung Zgoll, Kunst des Betens (s. Anm. 41), 50. 49 K. Lämmerhirt, Wahrheit und Trug (AOAT 348), Münster 2010, 337. Zur Bedeutung von m⁄çaru „Gerechtigkeit“ und von eç™ru „gerade sein, geradeaus gehen“ / eç™ru Çt „veranlassen, dass sich etwas in rechter Bahn / in rechter Weise bewegt, in Ordnung bringen“ s. 337–339.397f.

366

Hymnen und Gebete in Israel und in seiner Umwelt

und dem schwindenden Licht der Augen diejenigen Körperorgane, die als Zentralinstanz im Inneren des Menschen gelten (Herz)50 und für die Kommunikation mit der Außenwelt sorgen (Augen).51 Beide haben hier ihre Funktion verloren. Aber nicht nur das, auch die Ohren und der Mund versagen ihren Dienst, so dass sich der Beter am Ende als „taub“ und „stumm“ bezeichnet (V. 14f). Nach dem Bekenntnis der Zuversicht angesichts fortbestehender Anfeindungen (V. 16–21) endet der Text in V. 22f mit Bitten um Nähe, Hilfe und Rettung, die an Dringlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Wie die dreifache Invokation JHWH, „mein Gott“, Adonaj (vgl. V. 16–21) zeigt, geht es dem Beter – so sehr er diese erfleht! – nicht allein um die Beseitigung seines körperlichen und sozialen Elends, sondern in ihr um die Wiedergewinnung der Gottesnähe. Die Dringlichkeit, mit der diese herbeigesehnt wird – „Eile mir doch zu Hilfe, Herr, meine Rettung!“ (V. 23) –, spricht für sich selbst. Der religionsgeschichtliche Vergleich, so können wir resümieren, ist nur sinnvoll, „wenn es grundsätzliche Gemeinsamkeiten zwischen den zu vergleichenden Elementen gibt“52. Das ist bei Ps 38 und dem Handerhebungsgebet Içtar 2 der Fall. Gleichzeitig treten aber auch die Unterschiede deutlich hervor. Dazu zählen die unterschiedliche Adressierung an JHWH bzw. an Içtar53 und der unterschiedliche ,Sitz im Leben‘, der nur unzureichend mit den Begriffen „Literatur“ (Israel) und „Ritual“ (Mesopotamien) bezeichnet ist.54 Das Gemeinsame beider Texte liegt aber in ihrer Gebetsstrategie, nämlich darin, dass sich ein Beter („Ich“) an seinen persönlichen Schutzgott JHWH bzw. an die Göttin Içtar wendet, um ihn/sie in seiner Not um Rettung und neue Gottesnähe zu bitten. III.

Zusammenfassung und Ausblick

Wie alle großen Zeugnisse der Vergangenheit gehören auch die Hymnen und Gebete aus der Umwelt Israels zum kulturellen Erbe der Menschheit. Ihre Heimat – der „Fruchtbare Halbmond“ und das Niltal – ist das kulturelle Milieu, in dem auch die Psalmen Israels zu 50 S. dazu Janowski, Herz (s. Anm. 23), 1–45. 51 Zur kommunikativen Funktion der Augen s. etwa Ps 36,2f und dazu oben •••. 52 Zernecke, Gott (s. Anhang 2c), 17. 53 S. dazu Zernecke, Gott (s. Anhang 2c), 350–363. 54 S. dazu Zernecke, Gott (s. Anhang 2c), 296–349 mit der Zusammenfassung 348f. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die beklagte Not und die erhoffte Rettung des Beters im Handerhebungsgebet Içtar 2 auf verschiedene Gottheiten verteilt wird (auf der einen Seite die zornig abgewandten Gottheiten in Z. 31.67f.71.85f, auf der anderen Seite Içtar), während es in Ps 38 um das zornige und rettende Handeln des einen Gottes JHWH geht, s. dazu auch J. Wöhrle, Der verborgene und der rettende Gott, BZ 55 (2011) 223–241, hier: 240f.

Hymnen und Gebete in Israel und in seiner Umwelt

367

Hause sind. Wer dieses Milieu, seine religiösen Vorstellungen und sozioökonomischen Gegebenheiten kennt, wird die alttestamentlichen Psalmen besser verstehen. Dafür bedarf es aber eines Verfahrens, das methodisch reflektiert vorgeht und die Fehler der älteren „Parallelomanie“ mit ihren teils apologetischen, teils vereinnahmenden Interessen vermeidet.55 Dazu einige Grundregeln: – Die erste Grundregel sollte sein, dass es eine grundsätzliche Ähnlichkeit der literarischen Gattungen, Motive, Vorstellungen und Denkformen sowie der zeitlichen und geographischen Nähe zwischen den Vergleichstexten gibt. Auf diesem Feld der Textprägung ergeben sich die besten Vergleichsmöglichkeiten.56 – Die sprachliche Verwandtschaft (Akkadisch, Ugaritisch, Hebräisch, Aramäisch vs. Ägyptisch, Hethitisch, Altpersisch, Griechisch u.a.) kann den Religionsgeschichtlichen Vergleich begünstigen. Es ist aber zu bedenken, „dass die sprachlichen Unterschiede, insbesondere die Unterschiede der Schriftsysteme, einen ungehinderten Austausch oder Zufluß nicht zuließen“57. – Erst auf dem Hintergrund von Ähnlichkeiten bzw. Gemeinsamkeiten werden Unterschiede auch als Unterschiede sichtbar. Für das Verständnis der miteinander verglichenen Texte sind die Unterschiede genauso wichtig wie die Ähnlichkeiten bzw. Gemeinsamkeiten. – Es sollten „nicht nur vereinzelte religiöse Aussagen, sondern ähnliche gesellschaftlich-religiöse Komplexe miteinander verglichen“ und „dieser Vergleich fair, d.h. ohne apologetisches Interesse“58 geführt werden. Im Vordergrund steht die Eigenart des jeweiligen Textes bzw. Themenkomplexes. – Schließlich ist danach zu fragen, „ob das außerbiblische Element denselben Stellenwert, dieselbe Funktion im Kontext der je eigenen Kultur hat“59. Es geht also immer auch um die Frage nach dem jeweiligen Verwendungszusammenhang (Textserien, Texttypen u.a.).

Die religiöse Entwicklung Israels vollzog sich nicht im luftleeren Raum, sondern „in seiner mehr oder weniger offenen vorderorientalischen Umwelt, unter fortwährender Aufnahme, Abwandlung und Abstoßung dort schon längst geprägter religiöser Deutungs- und Verhaltensmuster“60. Diese zu kennen und umsichtig zu evaluieren, ist die unabdingbare Voraussetzung und die Aufgabe des religionsgeschichtlichen Vergleichs. 55 S. dazu Albertz, Religionsgeschichte Israels (s. Anhang 2a), 28f.31f. 56 Vgl. Seybold, Psalmen (s. Anhang 2a), 155. 57 Seybold, Psalmen (s. Anhang 2a), 155 58 Albertz, Religionsgeschichte Israels (s. Anhang 2a), 32. 59 Talmon, „Vergleichende Methode“ (s. Anm. 3), 23. 60 Albertz, Religionsgeschichte Israels (s. Anhang 2a), 31f, s. dazu auch Janowski, Theologie des Alten Testaments (s. Anhang 2a), 323–329.

368 IV.

Hymnen und Gebete in Israel und in seiner Umwelt

Bibliographischer Anhang61

1.

Textsammlungen und Einzelausgaben

a)

Übergreifendes

W. Beyerlin, Religionsgeschichtliches Textbuch zum AT (GAT 1), Göttingen 21985; W.W. Hallo, The Context of Scripture, Vol. 1–3, Leiden 1997– 2003; B. Janowski u.a. (Hg.), Texte aus der Umwelt des AT. NF, Bd. 1–8, Gütersloh 2004–2016; O. Kaiser (Hg.), Texte aus der Umwelt des AT, Bd. 1–3, Gütersloh 1982–1997; Ergänzungslieferung, Gütersloh 2001; R. Labat et alii, Les religions du Proche-Orient asiatique, Paris 1970; Th.J. Lewis (ed.), Writings from the Ancient World, Vol. 1–38, Atlanta/GA 1990–2015; J.B. Pritchard, Ancient Near Eastern Texts Relating to the OT, Princeton/NJ 31966; Supplementary Texts and Pictures, Princeton/NJ 1969; M. Weippert, Historisches Textbuch zum AT (GAT 10), Göttingen 2010. b)

Ägypten

J. Assmann, Ägyptische Hymnen und Gebete (OBO Sonderband), Freiburg, Schweiz / Göttingen 21999; A. Barucq / F. Daumas, Hymnes et prières de l’Égypte ancienne (LAPO 10), Paris 1980; Chr. Bayer (Hg.), Echnaton – Sonnenhymnen (RUB 18492), Stuttgart 2007; H. Brunner, Altägyptische Weisheit, Zürich/München 1988; E. Brunner-Traut, Altägyptische Märchen, München 91990; E. Hornung, Gesänge vom Nil, Zürich / München 1990; D. Kurth, Treffpunkt der Götter. Inschriften aus dem Tempel des Horus von Edfu, Zürich / München 1994; M. Lichtheim, Ancient Egyptian Literature Vol. 1–3, Berkeley u.a. 1975–1980; S. Schott, Altägyptische Liebeslieder, Zürich 21950. c)

Mesopotamien

J. Bottéro / S.N. Kramer, Lorsque les dieux faisaient l’homme. Mythologie mésopotamienne, Paris 1989; St. Dalley, Myths from Mesopotamia, Oxford 22000; A. Falkenstein / W. von Soden, Sumerische und akkadische Hymnen und Gebete, Zürich/Stuttgart 1953; B. Foster, Before the Muses. An Anthology of Akkadian Literature, Bethesda/MD 32005; W.G. Lambert, Babylonian Creation Myths, Winona Lake/IN 2013; A. Lenzi (ed.), Reading Akkadian Prayers and Hymns, Atlanta/GA 2011; St.M. Maul, Das Gilgamesch-Epos, München 52012; S. Parpola et alii (ed.), State Archives of Assyria, Vol. 1– 18, Helsinki 1987–2003; J.-M. Seux, Hymnes et prières aux dieux de Bab61 Im Folgenden werden die Abkürzungen AT = Altes Testament, NF = Neue Folge und OT = Old Testament verwendet. Weitere bibliographische Hinweise finden sich bei M. Oeming, Erst der Kontext verleiht einem Text seinen Sinn. Die Bedeutung von religions- und kulturgeschichtlichen Vergleichen für das theologische Verstehen des Alten Testaments, in: ders (Hg.), Das Alte Testament im Rahmen der antiken Religionen und Kulturen (BVB 39), Münster 2019, 8–19, hier: 10ff.

Hymnen und Gebete in Israel und in seiner Umwelt

369

ylonie et d’Assyrie (LAPO 8), Paris 1967; K. Volk (Hg.), Erzählungen aus dem Land Sumer, Wiesbaden 2015. d)

Syrien/Palästina (und Elephantine)

A. Caquot et alii, Textes Ougaritiques, t. 1 (LAPO 7), Paris 1974; A. Caquot et alii, Textes Ougaritiques, t. 2 (LAPO 14), Paris 1989; H. Donner / W. Röllig, Kanaanäische und aramäische Inschriften, Bd. 1–2, Wiesbaden 1966/ 21968; P. Grelot, Documents araméens d’Égypte (LAPO 5), Paris 1972; K. Jaroç, Zeugen auf Stein und Ton, Wiesbaden 2014; J.C. de Moor, An Anthology of Religious Texts from Ugarit, Leiden u.a. 1987; J. Renz / W. Röllig, Handbuch der althebräischen Epigraphik, Bd. 1–3, Darmstadt 1995– 2001; D. Schwiderski (Hg.), Die alt- und reichsaramäischen Inschriften, Bd. 2, Berlin / New York 2004; K.A.D. Smelik, Historische Dokumente aus dem alten Israel (KVR 1528), Göttingen 1987. e)

Griechenland

H.-J. Gehrke, / H. Schneider (Hg.), Geschichte der Antike. Quellenband, Stuttgart 2007; G.S. Kirk u.a., Die vorsokratischen Philosophen. Einführungen, Texte und Kommentare, Stuttgart / Weimar 1994.

2.

Forschungsbeiträge

a)

Übergreifendes

R. Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit (GAT 8), Göttingen 1992; A. Berlejung, Bibel und Orient, in: W. Dietrich (Hg.), Die Welt der Hebräischen Bibel, Stuttgart 2017, 17–30; W. Burkert / F. Stolz (Hg.), Hymnen der Alten Welt im Kulturvergleich (OBO 131), Freiburg, Schweiz / Göttingen 1994; R.J. Clifford, Creation Accounts in the Ancient Near East and the Bible (CBQ.MS 26), Washington/DC 1994; F. Hartenstein, Religionsgeschichte Israels – ein Überblick über die Forschung seit 1990, in: VF 48 (2003) 2–28; Chr.B. Hays, Hidden Riches. A Sourcebook for the Comparative Study of the Hebrew Bible and Ancient Near East, Louisville/KE 2014; M. Hutter, Religionen in der Umwelt des AT I (KStTh 4/1), Stuttgart 1996, 111f.180–182; B. Janowski, Theologie des AT, in: ders., Der Gott des Lebens, Neukirchen-Vluyn 2003, 315–350; ders., Rettungsgewissheit und Epiphanie des Heils. Das Motiv der Hilfe Gottes „am Morgen“ im Alten Orient und im AT, Bd. 1 (WMANT 59), Neukirchen-Vluyn 1989; M. Jaques (Hg.), Klagetraditionen. Form- und Funktion der Klage in den Kulturen der Antike (OBO 251), Freiburg, Schweiz / Göttingen 2011; O. Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das AT, Göttingen 51996; O. Keel / S. Schroer, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Göttingen / Freiburg, Schweiz 22008; U. Manthe (Hg.), Die Rechtskulturen der Antike, München 2003; E.A. Knauf, Die Umwelt des AT (NSK.AT), Stuttgart 1994; H. Niehr, Religionen in der Umwelt Israels (NEB.Erg 5), Würzburg 1998; M. Saur, Einführung in die alt-

370

Hymnen und Gebete in Israel und in seiner Umwelt

testamentliche Weisheitsliteratur, Darmstadt 2012, 9–42; K. Seybold, Die Psalmen (UT 382), Stuttgart u.a. 21991, 154–173. b)

Ägypten und Altes Testament

A.M. Blackman, Die Psalmen in ägyptologischer Sicht, in: P.H.A. Neumann (Hg.), Zur neueren Psalmenforschung (WdF 192), Darmstadt 1976, 134–155; M.V. Fox, The Song of Songs and the Ancient Egyptian Love Songs, Wisconsin 2005; M. Görg, Die Beziehungen zwischen dem Alten Israel und Ägypten (EdF 290), Darmstadt 1997; S. Reichmann, Bei Übernahme Korrektur? Aufnahme und Wandlung ägyptischer Tradition im AT anhand der Beispiele Proverbia 22–24 und Psalm 104 (AOAT 428), Münster 2016; B.U. Schipper, Israel und Ägypten, in: ThLZ 134 (2009) 1153–1164; ders., Egyptian Parallels to the Psalms, in: W.P. Brown (ed.), The Oxford Handbook of the Psalms, Oxford 2014, 57–75; Th. Seidl, Ägyptologie und AT, in: „Vom Leben umfangen“. Ägypten, das AT und das Gespräch der Religionen (ÄAT 80), Münster 2014, 163–172; R.J. Williams, „A People Come out of Egypt“. An Egyptologist looks at the Old Testament, in: Congress Volume Edinburgh 1974 (VT.S 28), Leiden 1975, 231–252. c)

Mesopotamien und Altes Testament

R. Achenbach, Zum Sitz im Leben mesopotamischer und altisraelitischer Klagegebete II, in: ZAW 116 (2004) 364–378.581–594; W.W. Chavalas / K.L. Younger (ed.), Mesopotamia and the Bible (JSOT.S 341), London / New York 2002; St. Dalley,The Influence of Mesopotamia upon Israel and the Bible, in: dies. (ed.), The Legacy of Mesopotamia, Oxford 1998, 57–83; G.R. Driver, Die Psalmen im Lichte babylonischer Forschung, in: P.H.A. Neumann (Hg.), Zur neueren Psalmenforschung (WdF 192), Darmstadt 1976, 62–133; E. Frahm, Geschichte des alten Mesopotamien (RUB 19108), Stuttgart 2013, 254–272; E.S. Gerstenberger, Der bittende Mensch. Bittritual und Klagelied des Einzelnen im AT (WMANT 51), Neukirchen-Vluyn 1980; M. Malul, The Comparative Method in Ancient Near Eastern and Biblical Legal Studies (AOAT 227), Neukirchen-Vluyn 1990; W.R. Mayer, Untersuchungen zur Formensprache der babylonischen „Gebetsbeschwörungen“ (StP.SM 5), Rome 1976; H.-P. Müller (Hg.), Babylonien und Israel (WdF 663), Darmstadt 1991; ders., Das Hiobproblem (EdF 84), Darmstadt 1995; A.E. Zernecke, Gott und Mensch in Klagegebeten aus Israel und Mesopotamien (AOAT 387), Münster 2011; dies., Mesopotamian Parallels to the Psalms, in: W.P. Brown (ed.), The Oxford Handbook of the Psalms, Oxford 2014, 27–42. d)

Kleinasien und Altes Testament

V. Haas, Betrachtungen zur Traditionsgeschichte hethitischer Rituale am Beispiel des „Sündenbock“-Motivs, in: Hittite Studies in Honor of H.A. Hoffner Jr., Winona Lake/IN 2003, 131–141; ders., Hethiter, in: ders. / H. Koch, Religionen des Alten Orients (GAT 1/1), Göttingen 2011, 147–291,

Hymnen und Gebete in Israel und in seiner Umwelt

371

285ff; H.A. Hoffner, Some Contributions of Hittitology to OT Study, in: TynB 20 (1969) 27–55; B. Janowski / G. Wilhelm, Der Bock, der die Sünden hinausträgt. Zur Religionsgeschichte von Lev 16,10.21f, in: B. Janowski u.a. (Hg.), Religionsgeschichtliche Beziehungen zwischen Kleinasien, Nordsyrien und dem AT (OBO 129), Freiburg, Schweiz / Göttingen 1993, 109–169; G. Wilhelm, Grundzüge der Geschichte und Kultur der Hurriter, Darmstadt 1982, 103ff. e)

Ugarit, Syrien/Palästina und Altes Testament

C. Bonnet / H. Niehr, Religionen in der Umwelt des AT II (KStTh 4/2), Stuttgart 2010, 24f.158–166.320–324; O. Loretz, Ugarit und die Bibel, Darmstadt 21996; G. del Olmo Lete, Canaanite Religion according to the Liturgical Texts of Ugarit, Bethesda/MD 1999; M.S. Smith, Biblical Narrative between Ugaritic and Akkadian Literature, Part I–II, in: RB 114 (2007) 5– 29.189–207; ders., Ugaritic Studies and the Hebrew Bible, 1968–1998, in: Congress Volume Oslo 1998 (VT.S 80), Leiden u.a. 2000, 327–352; ders., Canaanite Backgrounds to the Psalms, in: W.P. Brown (ed.), The Oxford Handbook of the Psalms, Oxford 2014, 43–56. f)

Griechenland und Alter Orient / Ägypten / Altes Testament

W. Burkert, Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur (SHAW.PH 1984/1), Heidelberg 1984; ders., Die Griechen und der Orient, München 2003; H.-P. Müller, Psalmen und frühgriechische Lyrik, in: BZ 47 (2003) 23–42; K. Seybold / J. von Ungern-Sternberg, Amos und Hesiod, in: K. Raaflaub (Hg.), Anfänge des politischen Denkens in der Antike, München 1983, 215–239; J. Renger, Griechenland und der Orient – der Orient und Griechenland, in: M. Bernett u.a. (Hg.), Christian Meier zur Diskussion, Stuttgart 2008, 1–32; M.L. West, The East Face of Helicon. West Asiatic Elements in Greek Poetry and Myth, Oxford 22003.

Abbildungsnachweis 1 F. Junge, „Unser Land ist der Tempel der ganzen Welt“. Über die Religion der Ägypter und ihre Struktur, in: R.G. Kratz / H. Spieckermann (Hg.), Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder, Bd. 1 (FAT II/17), Tübingen 2006, 3–44, hier 29. 2 B. Janowski.

Stellenregister (Auswahl)

Altes Testament

18,4 24,5–7

Genesis 1,1–2,3 1 1,3–5 1,16–19 1,26.28 2,19f 2,23f 6,5–8 8,20–22 16,15f 18,1–8 19 19,1–3 33,1–4 35,16–20 38,8 38,25f 44,1–13 50 50,15–17 50,18–21

11–313 314 43f 24 24.26.55 44 99f 118–122 121–123 45 107f 292f 108 204 46 56 104 205 205 205 206

Exodus 20,12 22,20–26 25,17–22 34,6f

83 51f.80 218 208.268

Leviticus 16 16,11–17 16,20–22 17,11 Deuteronomium 15,11 25,5–10 1 Samuel 15,27f

215ff 217.224 219ff 219 85 56f.58f 49f

49 49f

1 Könige 5,9–14

27

Jesaja 1,7–9 1,10 1,21–26 1,21 3,8f 6,3 7,10f 14,13–15 14,32 28,16 53,2–6 53,7–10 53,8 54,6 63,10

297 296 285–299 288f.291 297 330.358 321 321 14 14 212 211.213 220 122 122

Jeremia 4,19 8,23 9,6–10 14,13–18 31,33

262 127 125–128.130 125–128.130 262

Ezechiel 6,8–10 11,19f 36,24–28 36,25–27

273f 209 269f 209

Hosea 4,1 11,7–11

82 123f

Amos 2,6–16 8,9f

53 197f

374 9,2–4 Micha 6,8 7,1–7 Psalmen 1–41 1–2 1 1,1–3 1,6 2,6 2,12 3–41 3–14 3,2f 3,4 3,5–7 4,2 4,3 5,8 5,9–11 7,4–6 7,6 7,10–12 7,18 8 8,1–4 8,2a.10 8,2b–3 8,3 8,4–9 8,4–6 8,5–10 8,5 8,6–9 8,6 9,2–4 9,13 10,7 10,11 11,4f 12,5 13

Stellenregister (Auswahl)

321 82.102f 87f 69 68.265.277 69f.73f 264f 65 336 265 68.265 10.12.15.28f. 95 15.83 85.96 336 324 96 82 12f.85f 83 96 84f 10.29 3–32 3 8f.19.25.29.31 5–8.10ff.15 12f.14 5–8.10.15 95 4 16.18ff.25.29. 31.76.84 5ff.10.21.23ff. 26f 83 10.29 17.76 13 17 77 14 145f

13,2f 13,4f 15–24 18,10f 18,19f.37 21,2–7 22 22,1–22 22,1–12 22,2f.7–9 22,2 22,4–6.10–12 22,13–25 22,13–19 22,15 22,20–22 22,23–27 22,26–32 23,1b–3 25,15.17 30,2–4 30,7f 30,12f 31,7–9 36 38 38,4–9 40 40,5 40,7–9 40,9 41,2–4 41,2 41,5–11 42 42,2–6 42,6 42,7–12 43,5 45,5–11 46 50 50,22f 51 51,12–14 51,15–21

17 77 10 334 324 21f 141–164.188. 190.199 191–196 142.150 149f 195f.199f 155ff.163 143f 152 262 153f.163 160f.164.188 144 10 324 334 17 83 324f 326–332.354–360 365 361f.365 260f 68.265 255 265 74 69.75.79.265 74f.174 179f 158.178ff 177.182 179 179.182 47 303ff 259 259 206ff.210f.266ff. 274ff 271 256

375

Stellenregister (Auswahl)

51,15–17 51,18f 55 63,6–9 69,6–14 69,23–26 69,31f 71,5f 73,7–12 77,11–13 82,1–4 85,11–14 86,5 88,4–6 104 104,10–24 104,19–24 104,19–23 116 118,5 119,45 123,3f 139 143,3–6 144,3f Hiob 7,17–21 11,7–9 19,8–10 38,1ff Sprüche 6,16–19 10,7 14,20f 15,13 16,20 19,17 22,9 24,23b–25 28,5 29,7 Klagelieder 1,20 Ruth

210.272 211.273 183ff 159 92f 94 256 157 71 159 85 290 82 220 314–317.350ff 9 351 325f 307–310 324 324 86 318–323 160 19 19ff 321f 23 10 89 48 80 122 79 81 78 105 76 76.78

1,8 1,16f 1,21 2 2,2 2,10 2,11–13 2,11 2,14 3,6–8 3,7–10 3,14 4,1–12 4,1–5 4,6–8 4,9–12 4,18–22

102f.113 98f.113 100 103.106.113 81.113 103.113 106f 100 107 58 109 105 57.59 110f 111 112 97

1 Chronik 19,3–4

51

2 Chronik 26,21

220

Apokryphen Jesus Sirach 1,3

322

4 Makkabäer 17,21f

223

Neues Testament Markus 14,17–25 14,32–42 14,33f 15,20–41 15,33–39

172f.186 176f.183 177f.182 186ff.189f.195f 197ff

Lukas 19,41f

125

Römer 3,25f

221–225

262

376

Stellenregister (Auswahl)

Texte aus Palästina/Israel Inschrift A ˆirbet Bēt Layy Ostrakon von Me‚ad Óaçavyåh¨

305 60f

Altorientalische und ägyptische Texte Counsels of Wisdom En¨ma Eliç I 1–4

91 44

Gebetsbeschwörung Handerhebungsgebet Ištar 2 Hymnus auf Ninurta Klage über den Untergang von Ur Großer Amarnahymnus Lehre des Amenemope 479–485 Lehre für Merikare 312–335 EA 264,13–18

294f 363ff 359 129f 350ff 73 71f 321

Nachweis der Erstveröffentlichungen „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ Psalm 8 und seine intertextuellen Bezüge A. Brodersen / F. Neumann / D. Willgren (Hg.), Intertextualität und die Entstehung des Psalters. Methodische Reflexionen – Theologische Perspektiven (FAT II/114), Tübingen 2020, 155–183 (für den vorliegenden Band überarbeitet)

Persönlichkeitszeichen Ein Beitrag zum Personverständnis des Alten Testaments J. van Oorschot / A. Wagner (Hg.), Individualität und Selbstreflexion in den Literaturen des Alten Testaments (VWGTh 48), Leipzig 2017, 315–340 (für den vorliegenden Band überarbeitet)

„JHWH kennt den Weg von Gerechten“ (Ps 1,6) Der Psalter und das Ethos der Anerkennung Biblische Zeitschrift 64 (2020) 209–243 (für den vorliegenden Band überarbeitet)

„JHWH tue an euch Güte, wie ihr sie an den Toten und an mir getan habt“ (Ruth 1,8) Zum Ethos der Hingabe im Buch Ruth J.J. Krause / W. Oswald / K. Weingart (Hg.), Eigensinn und Entstehung der Hebräischen Bibel (FS E. Blum), Tübingen 2020, 441–456 (für den vorliegenden Band überarbeitet)

Der Schmerz Gottes Zu einem wichtigen Zug im biblischen Gottesbild M. Bauks / S. Olyan (ed.), Pain and Its Representation in Biblical, Post-Biblical, and Other Texts of the Ancient Eastern Mediterranean, Tübingen 2020, 115–136 (für den vorliegenden Band überarbeitet)

Der Angst widerstehen Psalm 22 und der Resilienzbegriff Originalbeitrag

„Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“ Zur Rezeption der Psalmen in der Markuspassion Zeitschrift für Theologie und Kirche 116 (2019) 371–401 (für den vorliegenden Band überarbeitet)

378

Nachweis der Erstveröffentlichungen

Schuld, Versöhnung, Stellvertretung Drei biblische Grundbegriffe (Mit einem Anhang zur Begriffsgeschichte) Originalbeitrag

„Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“ (Ps 51,19) Zur Transformation des Opfers in den Psalmen R. Ebach / M. Leuenberger (Hg.), Tradition(en) im alten Israel. Konstruktion, Transmission und Transformation (FAT 127), Tübingen 2019, 207– 232 (für den vorliegenden Band überarbeitet)

Die „Übernachtung“ der Gerechtigkeit Zum Gottes- und Menschenbild in Jes 1,21–26 J. van Oorschot / A. Wagner (Hg.), Gott und Mensch im Alten Testament. Zum Verhältnis von Gottes- und Menschenbild (VWGTh 52), Leipzig 2018, 163–177 (für den vorliegenden Band überarbeitet)

„Bis an den Himmel reicht deine Güte“ (Ps 36,6) Zum Thema „Gott und Raum“ in den Psalmen (Mit einem Anhang zu den Raumkonzepten im Psalter) U. Berges / J. Bremer / T.M. Steiner (Hg.), Zur Theologie des Psalters und der Psalmen. Beiträge in memoriam Frank-Lothar Hossfeld (BBB 189), Göttingen 2019, 175–220 (für den vorliegenden Band überarbeitet)

Hymnen und Gebete in Israel und in seiner Umwelt Komparatistische Aspekte (Mit einem bibliographischen Anhang) Biblische Zeitschrift 62 (2018) 197–221 (für den vorliegenden Band überarbeitet)

Bislang erschienen von Bernd Janowski folgende Beiträge zur Theologie (und Anthropologie) des Alten Testaments

Bernd Janowski Gottes Gegenwart in Israel Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 1 1993 – 2. Auflage 2004, 358 Seiten ISBN 978–3–7887–1464–6 Bernd Janowski Die rettende Gerechtigkeit Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2 1999, 334 Seiten ISBN 978–3–7887–1752–1 Bernd Janowski Der Gott des Lebens Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 3 2003, 408 Seiten ISBN 978–3–7887–1940–0 Bernd Janowski Die Welt als Schöpfung Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 4 2008, 356 Seiten ISBN 978–3–7887–2239–5 Bernd Janowski Der nahe und der ferne Gott Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 5 2014, 334 Seiten ISBN 978–3–7887–2797–0 Bernd Janowski Das hörende Herz Beiträge zur Theologie und Anthropologie des Alten Testaments 6 2018, 424 Seiten ISBN 978–3–7887–3117–5

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DAS ALTE TESTAMENT SPRICHT VON EINEM GOTT, DER STRAFT UND TÖTET. IST ES DESWEGEN VERZICHTBAR?

Bernd Janowski Ein Gott, der straft und tötet?

Zwölf Fragen zum Gottesbild des Alten Testaments YHU¦QGHUWH$XíDJH6HLWHQPLW$EE kartoniert å'_å$ ,6%1 E-Bookå'_å$

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