Das Geheimnis der Gegenwart Gottes: Zur Schechina-Vorstellung in Judentum und Christentum 9783161529917, 9783161529924, 316152991X

English summary: In biblical tradition we encounter different conceptions of God's presence. In this context, the c

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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Teil 1: Schechina-Vorstellungen im Judentum
BERND JANOWSKI: Die Einwohnung Gottes in Israel. Eine religions- und theologie-geschichtliche Skizze zur biblischen Schekina-Theologie
1. Schekina oder: Wie kommt Gott in die Welt?
2. Religions- und theologiegeschichtliche Aspekte der Schekina-Theologie
2.1 Gott und Bild – zur altorientalischen Idee der Einwohnung Gottes
2.2 Tempel und Volk – zur alttestamentlichen Schekina-Theologie
2.2.1 Vorexilische Zeit
2.2.2 Exilisch-nachexilische Zeit
2.2.2.1 „Ich werde inmitten der Israeliten wohnen“ (Ex 29,45)
2.2.2.2 „In Jakob nimm Wohnung!“ (Sir 24,8)
I. Selbstlob der Weisheit
II. Schlußwort des Weisen
2.3 Schekina und Inkarnation – zur johanneischen Christologie
3. Von der inhabitatio zur incarnatio – Zusammenfassung
Anhang I: Die Schekina-Texte (mit relativer Chronologie)
Altorientalische Vorläufer der biblischen Schekina-Theologie
Schekina-Theologie der vorexilischen Zeit
Schekina-Theologie der exilisch-nachexilischen Zeit
Schekina-Theologie der hellenistisch-römischen Zeit (Auswahl)
Anhang II: Quellennachweis zu den Abbildungen
RÜDIGER LUX: Jerusalem – Stadt der Treue. JHWHs Schekina in Zion nach Sacharja 1–8
1. Die mental map von Sach 1–8
1.1 Die Außenhaut der Welt
1.2 Der Binnenraum der Welt
2. Die Rückkehr JHWHs nach Jerusalem
2.1 Das neue Jerusalem (2,5–9)
2.2 JHWHs Einzug in Jerusalem (2,14–16)
3. Jerusalem – Stadt der Treue (8,1–5)
MARTIN LEUENBERGER: Die personifizierte Weisheit als Erbin der atl. „Schechina“
1. Gottes Gegenwart und die atl. Schechina-Vorstellungen
2. Die personifizierte Weisheit
2.1 Die Personifizierung der Weisheit: Datierung, Hintergründe, Ursachen
2.2 Die Weisheit in Prov 8
2.3 Das irdische (Nicht-)Wohnen der Weisheit in Sir 24 und 1Hen 42
2.3.1 Sir 24
2.3.2 1Hen 42
2.4 Ausblick auf das irdische Wohnen des inkarnierten Logos: Joh 1
3. Auswertung
ENNO EDZARD POPKES: Vorstellungen von der Einwohnung Gottes in der Tempelrolle: 11QT 29,7b–10 und die Entwicklungsgeschichte frühjüdischer Schechina-Vorstellungen
1. Thematische Hinführung
2. Das Spektrum biblisch-frühjüdischer Schechina-Vorstellungen
3. Das Spektrum schechina-theologischer Motive im überlieferten Textbestand der Tempelrolle
4. 11QT 29,7b–10 als Schlüsseltext der Eschatologie und Schechina-Vorstellung der Tempelrolle
JUTTA LEONHARDT-BALZER: Vorstellungen von der Gegenwart Gottes bei Philo von Alexandrien
1. Einleitung: Welche Gegenwart?
2. Gegenwart Gottes an Orten
3. Gegenwart Gottes in Menschen
3.1 Der Logos und der Hohepriester
3.2 Der Logos im Weisen/Volk Israel
4. Begriffe des Wohnens
5. Schlussfolgerung
PETER SCHÄFER: „Denn ich will unter ihnen wohnen“: Die Schechina der Rabbinen
1. Der Ort der Schechina
2. Gestalt und Geschlecht der Schechina
3. Personifikation der Schechina
ELKE MORLOK: Erotische Anziehung und doppelte Konstruktion der Schechina in der kabbalistischen Literatur
1. Die Erzählung von der Prinzessin und dem Taugenichts bei Rabbi Isaak von Akko
1.1 Weitere Aspekte zur Prinzessin bei Isaak von Akko
2. Das schöne Mädchen im Zohar (2,99a–99b)
3. Moshe Cordovero und die doppelte Konstruktion der Schechina
4. Nachklänge der Prinzessin im Ḥasidismus
5. Kritiker der schönen Frauen
MATTHIAS MORGENSTERN: Die Schechina zwischen Halacha und Aggada. Versuch über ein Gedicht Ch.N. Bialiks im Gespräch mit Gershom Scholem
Teil 2: Schechina-Vorstellungen im Christentum
DAVID DU TOIT: Motive der Gottesgegenwart in der Synoptischen Tradition
1. Einführung
2. Das Matthäusevangelium: Jesus als dauerhafter Haftpunkt der Gegenwart Gottes
2.1 Gottes Gegenwart im Tempel
2.2 Immanuel – Gott mit uns
2.3 Jesus und Gottes Rückzug aus dem Tempel
2.4. Jesus als dauerhafter Haftpunkt der Heilspräsenz Gottes
2.5 Die Kirche als Haftpunkt der Heilspräsenz Gottes
3. Das Markusevangelium: Die Abwesenheit Jesu und die Gegenwart Gottes
3.1 Jesu Gegenwart und das Heil Gottes
3.1.1 Die Ferne Gottes und die Gegenwart des irdischen Jesus
3.1.2 Die Gegenwart Jesu als begrenzte Heilszeit
3.1.3 Jesu Gegenwart und die Gegenwart Gottes
3.2 Die Abwesenheit Jesu und die Gegenwart Gottes
3.2.1 Die Abwesenheit Jesu als begrenzte Unheilszeit
3.2.2 Die Abwesenheit Jesu und die Gegenwart Gottes
4. Die Logienquelle
4.1 Q Lk 10,16 = Mt 10,40
4.2 Q Lk 11,20 (= Mt 12,28)
5. Diachrone Retrospektive
SAMUEL VOLLENWEIDER: Göttliche Einwohnung. Die Schechina-Motivik in der paulinischen Theologie
1. Göttliches Wohnen in der Gemeinschaft der Glaubenden
2. Geisteinwohnung
3. Christuseinwohnung
4. Bilanz und Ausblick
HERMANN LICHTENBERGER: Das Motiv der Einwohnung in der Ekklesiologie des Epheserbriefs
1. Das Weltbild des Epheserbriefes
1.1 Die Welt als Schöpfung – Gott der Schöpfer
1.2 Christus und die Glaubenden zur Rechten Gottes
1.3 Die Mächte
1.4 Raum- und Machtkategorien
2. Gott
2.1 Das πλήρωμα Gottes Eph 3,19
3. Christologie
4. Die Kirche
4.1 Christusleib und Christusherrschaft
4.2 Die Tempelmetaphorik
4.3 Die Kirche aus Juden und Heiden Eph 2,11–18
5. Die Einwohnung Gottes in der Ekklesiologie des Eph
5.1 Das πλήρωμα Christi erfüllt die Kirche und das All
5.2 Das πλήρωμα Gottes in Christus
6. Abschluss
JÖRG FREY: Joh 1,14, die Fleischwerdung des Logos und die Einwohnung Gottes in Jesus Christus. Zur Bedeutung der „Schechina-Theologie“ für die johanneische Christologie
1. Das Problem des σὰρξ ἐγένετο
2. Die Forschung zwischen σάρξ und δόξα
3. Religionsgeschichtliche Parallelen und die Semantik des σὰρξ ἐγένετο
4. Das „Zelten“ des Logos „unter uns“:Die Bedeutung von Joh 1,14aβ
4.1 Zum Johannesprolog
4.2 Der weisheitstheologische Hintergrund
4.3 Die „Schechina“ des göttlichen Logos als Schlüssel zum Verständnis des σὰρξ ἐγένετο
FRANZ TÓTH: Die Schechina-Theologie in der Johannesapokalypse
1. Einleitung
2. Schechina-Theologie als Tempeltheologie
3. Schechina-Motive in der Makrostruktur der Johannesapokalypse
4. Apk 7,9–15
5. Apk 15,1–8
6. Apk 21,1–5
7. Resümee
TOBIAS NICKLAS: Altkirchliche Diskurse um das „Wohnen Gottes“. Eine Spurensuche bis zur Zeit der Konstantinischen Wende
1. Variationen der Rede vom „Wohnen Gottes“ in antijüdischem Schrifttum
2. Variationen der Rede vom „Wohnen Gottes“ in apologetischen Diskursen
3. Variationen der Rede vom „Wohnen Gottes“ bzw. „Wohnen Christi“ in antihäretischen Schriften
4. Das paränetische Potenzial der Rede vom Wohnen Gottes in den Christen
5. Fazit
VASILE HRISTEA: Einwohnung der Herrlichkeit. Gregor von Nyssas Auffassung der Gegenwart Gottes im Menschen
1. Die Übernahme der Schekhina-Lehre in der altkirchlichen Theologie vor Gregor von Nyssa
2. Einwohnung der Herrlichkeit Gottes im Menschen bei Gregor von Nyssa
2.1 Reinigung
2.2 Die Anschauung der Gegenwart Gottes
2.3 Selbstanschauung als Anschauung Gottes
3. Konsequenzen aus der Lehre von der Gegenwart Gottes bei Gregor von Nyssa
3.1 Der Zusammenhang zwischen der Lehre von der Vergöttlichung des Menschen und der Lehre von der Gegenwart Gottes
3.2 Erst bei Gott kommt der Mensch wirklich zu sich selbst
3.3 Die Lehre vom menschlichen Bildungsprozess universalisiert die Vorstellung von der Gegenwart Gottes
3.4 Die Gegenwart Gottes im Menschen begründet das ethische Verhalten des Menschen
3.5 Die Anschauung Gottes als ästhetische Erfahrung
3.6 Die Erfahrbarkeit Gottes in der Kunst
PAUL SILAS PETERSON: Schechina-Vorstellungen in der Bibelauslegung des 17. und 18. Jahrhunderts in England und in den britischen Kolonien in Nordamerika
1. Zum allgemeinen Kontext der englischen Schechina-Theologie im 17. und 18. Jahrhundert
2. Die humanistische Ablehnung einer christologischen Auslegung des Alten Testaments – von Lelio Sozzini zu Hugo Grotius
3. Die Geburt des Neologismus „Shechinah“ im Englischen
4. Schechina-Vorstellungen in der englischen Bibelauslegung des 17. und 18. Jahrhunderts
5. Schechina-Vorstellungen in der Bibelauslegung des 17. und 18. Jahrhunderts in den britischen Kolonien in Nordamerika
6. Schluss
Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes
Stellenregister
I. Altes Testament
II. Apokryphen und Pseudepigraphen zum Alten Testament
III. Schriftfunde aus Qumran; CD
IV. Griechischsprachige jüdische Schriftsteller
V. Neues Testament
VI. Apostolische Väter, christliche Schriftsteller und Schriften und Kirchenväter
VII. Pagane griechische und römische Schriftsteller
VIII. Rabbinische und jüdische Literatur
Register der Autorinnen und Autoren
Sach- und Personenregister
Griechische und hebräische Wörter
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 9783161529917, 9783161529924, 316152991X

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) James A. Kelhoffer (Uppsala) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL) Tobias Nicklas (Regensburg)

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Das Geheimnis der Gegenwart Gottes Zur Schechina-Vorstellung in Judentum und Christentum

herausgegeben von

Bernd Janowski und Enno Edzard Popkes unter Mitarbeit von Stefanie Christine Hertel und Cordula Wiest

Mohr Siebeck

Bernd Janowski, geboren 1943; Studium der Ev. Theologie, Altorientalistik und Ägyptologie; 1980 Promotion; seit 1995 Professor für Altes Testament an der Ev.-theol. Fakultät Tübingen; seit 1996 Ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften; seit 2011 emeritiert. Enno Edzard Popkes, geboren 1969; Studium der Theologie und Philosophie; 2004 Promotion; 2007 Habilitation; seit 2010 Professor für Geschichte und Archäologie des frühen Christentums und seiner Umwelt am Institut für Neues Testament und Judaistik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

e-ISBN PDF 978-3-16-152992-4 ISSN 978-3-16-152991-7 ISSN 0512-1604 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio­ nal­bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb. de abrufbar. © 2014 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Sys­temen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­­ papier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Vorwort Der vorliegende Sammelband ist aus einem internationalen und interdisziplinären Symposion hervorgegangen, das vom 26. bis zum 28. März 2010 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen stattfand. Es widmete sich einer Thematik, die sowohl auf der Ebene der religionshistorischen Deskription, als auch auf der Ebene der theologischen Reflexion von besonderer Bedeutung ist. Es geht bei der Schechina-Vorstellung um etwas Einfaches und Schwieriges zugleich, nämlich um die Frage nach dem „Geheimnis der Gegenwart Gottes“. Der christliche Glaube sieht dieses Geheimnis in der Menschwerdung Gottes beschlossen und unternimmt seit nunmehr zweitausend Jahren den Versuch, diesem Geheimnis nahe zu kommen. Wenn man einmal den eigenen Standort verläßt und vom Judentum her auf diese Frage blickt, könnte man es vielleicht so sehen wie E. Lévinas, der sich im April 1968 in einem Vortrag bei der „Woche der katholischen Intellektuellen“ in Paris wie folgt zum Thema „Menschwerdung Gottes“ geäußert hat: „Das Problem des Gott-Menschen enthält ... den Gedanken einer Erniedrigung, die sich das höchste Wesen auferlegt, eines Abstiegs des Schöpfers auf die Ebene der Geschöpfe, das heißt eines Aufgehens der aktivsten Aktivität in der passivsten Passivität.“ (Menschwerdung Gottes?, in: DERS., Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München 1995, 73)

Das ist natürlich diskussionswürdig, zumindest aber erklärungsbedürftig. In den biblischen Traditionen begegnen verschiedene Vorstellungen von der Gegenwart Gottes. Eine bedeutende Stellung nehmen dabei SchechinaVorstellungen ein, die von der Einwohnung/dem Wohnen Gottes in einem Kultheiligtum bzw. einer menschlichen Gemeinschaft sprechen. An der Entwicklungsgeschichte der Schechina-Vorstellungen lässt sich ablesen, wie alttestamentlich-frühjüdische Traditionsbildungen vor allem infolge der Zerstörung des ersten und zweiten Tempels fähig waren, geschichtliche Ereignisse zu verarbeiten und traditionelle Glaubensvorstellungen zu modifizieren. Auch eine Beschreibung der frühchristlichen Theologiegeschichte entbehrt wesentlicher Aspekte, wenn man die Aneignung dieses Erbes alttestamentlich-frühjüdischen Denkens nicht angemessen zur Geltung bringt. Gleichwohl erfahren Schechina-Vorstellungen in der biblischen Exegese wie in der Systematischen Theologie nur eine verhältnismäßig geringe Aufmerksamkeit. Das ist bemerkenswert, aber auch ein we-

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Vorwort

nig irritierend, wenn man bedenkt, wie zentral dieses Thema ist. Der vorliegende Sammelband versucht, dem entgegenzusteuern, indem er die biblisch-theologischen Dimensionen der Schechina-Vorstellungen herausarbeitet und ihr Potential für gegenwärtige Reflexionsprozesse christlicher und jüdischer Glaubensvorstellungen veranschaulicht. Die Durchführung des Symposions wurde durch eine großzügige finanzielle Unterstützung seitens der Fritz-Thyssen-Stiftung für Wissenschaftsförderung ermöglicht. Deren Mitarbeitern danken wir für eine ebenso professionelle wie menschlich angenehme Beratung. Im besonderen Maße möchten wir ferner den Herausgebern der Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament dafür danken, dass sie diesen Band in ihre Reihe aufgenommen haben. Die Mitarbeiter des Verlags Mohr Siebeck begleiteten durch eine professionelle und freundliche Betreuung die Veröffentlichung (diesbezüglich seien besonders Frau Ilse König und Frau Kendra Sopper erwähnt). Gleiches gilt für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die an der Edition des Sammelbandes beteiligt waren, nämlich die Assistenten Felix John und Sarah Bargholz sowie die wiss. Hilfskräfte Frau Stefanie Christine Hertel und Frau Cordula Wiest. Ihnen danken wir herzlich für ihre Umsicht und Sorgfalt bei der Formatiertung der Texte und der Erstellung der Register. Tübingen und Kiel, im September 2013

B. Janowski und E.E. Popkes

Inhaltsverzeichnis Teil 1

Schechina-Vorstellungen im Judentum BERND JANOWSKI Die Einwohnung Gottes in Israel. Eine religions- und theologiegeschichtliche Skizze zur biblischen Schekina-Theologie .......................... 3 RÜDIGER LUX Jerusalem – Stadt der Treue. JHWHs Schekina in Zion nach Sacharja 1–8 ............................................ 41 MARTIN LEUENBERGER Die personifizierte Weisheit als Erbin der atl. „Schechina“ ...................... 65 ENNO EDZARD POPKES Vorstellungen von der Einwohnung Gottes in der Tempelrolle: 11QT 29,7b–10 und die Entwicklungsgeschichte frühjüdischer Schechina-Vorstellungen .......................................................................... 85 JUTTA LEONHARDT-BALZER Vorstellungen von der Gegenwart Gottes bei Philo von Alexandrien ..... 103 PETER SCHÄFER „Denn ich will unter ihnen wohnen“: Die Schechina der Rabbinen ........ 119 ELKE MORLOK Erotische Anziehung und doppelte Konstruktion der Schechina in der kabbalistischen Literatur ............................................................... 139 MATTHIAS MORGENSTERN Die Schechina zwischen Halacha und Aggada. Versuch über ein Gedicht Ch.N. Bialiks im Gespräch mit Gershom Scholem .............. 157

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Inhaltsverzeichnis

Teil 2

Schechina-Vorstellungen im Christentum DAVID DU TOIT Motive der Gottesgegenwart in der Synoptischen Tradition ................... 177 SAMUEL VOLLENWEIDER Göttliche Einwohnung. Die Schechina-Motivik in der paulinischen Theologie ................................................................. 203 HERMANN LICHTENBERGER Das Motiv der Einwohnung in der Ekklesiologie des Epheserbriefs ....... 219 JÖRG FREY Joh 1,14, die Fleischwerdung des Logos und die Einwohnung Gottes in Jesus Christus. Zur Bedeutung der „Schechina-Theologie“ für die johanneische Christologie ........................................................... 231 FRANZ TÓTH Die Schechina-Theologie in der Johannesapokalypse ............................. 257 TOBIAS NICKLAS Altkirchliche Diskurse um das „Wohnen Gottes“. Eine Spurensuche bis zur Zeit der Konstantinischen Wende .................. 305 VASILE HRISTEA Einwohnung der Herrlichkeit. Gregor von Nyssas Auffassung der Gegenwart Gottes im Menschen ....................................................... 325 PAUL SILAS PETERSON Schechina-Vorstellungen in der Bibelauslegung des 17. und 18. Jahrhunderts in England und in den britischen Kolonien in Nordamerika ....................................................................................... 341

Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes............................................ 361 Stellenregister ......................................................................................... 363 Register der Autorinnen und Autoren ..................................................... 389 Sach- und Personenregister ..................................................................... 397

Teil 1 Schechina-Vorstellungen im Judentum

Die Einwohnung Gottes in Israel Eine religions- und theologiegeschichtliche Skizze zur biblischen Schekina-Theologie BERND JANOWSKI 1. Schekina oder: Wie kommt Gott in die Welt? „Die Schechina, die Niederlassung Gottes auf den Menschen und sein Wohnen unter ihnen, wird vorgestellt als eine Scheidung, die in Gott selbst vorgeht. Gott selbst scheidet sich von sich, er gibt sich weg an sein Volk, er leidet mit, er zieht mit ihm in das Elend der Fremde, er wandert mit seinen Wanderungen“1 – diese Sätze stammen nicht aus einem rabbinischen Traktat, sondern von Franz Rosenzweig, der in seinem Buch Der Stern der Erlösung von 1921 der „Lehre von der Schechina“2 zwei dicht formulierte Seiten gewidmet hat. Und dennoch kann man ähnliche Sätze bei den Rabbinen (in der Mischna, in den beiden Talmudim, in den Midraschim und in den Targumim) lesen, die darüber hinaus mit dem Terminus Schekina einen eindeutig weiblichen Begriff gewählt haben, ohne allerdings das weibliche Geschlecht des Begriffs ernst zu nehmen.3 Dieser Schritt wird dann im Buch Bahir (Ende 12. Jh. n.Chr.) getan.4 1

F. ROSENZWEIG, Der Stern der Erlösung. Mit einer Einführung von R. Mayer und einer Gedenkrede von G. Scholem, Frankfurt a.M. 1988, 455. 2 Ebd. 3 Zur rabbinischen Schekina-Theologie vgl. die klassische Darstellung von A. GOLDBERG, Untersuchungen über die Vorstellung von der Schekhinah in der frühen rabbinischen Literatur. Talmud und Midrasch (SJ 5), Berlin 1969; ferner P. KUHN, Gottes Selbsterniedrigung in der Theologie der Rabbinen (StANT 17), München 1968; P. SCHÄFER, Die Vorstellung vom Heiligen Geist in der rabbinischen Literatur, München 1972; DERS., Der verborgene und offenbare Gott. Hauptthemen der frühen jüdischen Mystik, Tübingen 1991, 84f.110f.117ff; DERS., Weibliche Gottesbilder im Judentum und Christentum, Frankfurt a.M./Leipzig 2008, 110ff; C. T HOMA, Art. Schekhina, in: DERS./ J.J. Petuchowski, Lexikon der jüdisch-christlichen Begegnung, Freiburg u.a. 1989, 352– 356: 352; DERS., Geborgen unter den Fittichen der Schekhina, FrRu (2004/3) 162–170; DERS., Gott wohnt mitten unter uns. Die Schekhina als zentraler jüdischer Glaubensinhalt, FrRu (2007/2) 82–85; H. ERNST, Die Schekvna in rabbinischen Gleichnissen (JudChr 14), Bern u.a. 1994; J. SIEVERS, „Wo zwei oder drei ...“. Der rabbinische Begriff der Schechina und Matthäus 18,20, Das Prisma. Beiträge zu Pastoral, Katechese und Theolo-

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Bernd Janowski

Der Begriff Schekina, der erst 70 n. Chr. bei den Rabbinen auftaucht,5 leitet sich von der Wurzel ØJU „sich niederlassen, wohnen“6 ab und bedeutet „Einwohnung“ oder „Gegenwart“ Gottes, nämlich im Volk Israel oder an einem bestimmten Ort, insbesondere im Tempel. Wichtig für die Geschichte des Begriffs ist die Bedeutungsdifferenz zwischen inhabitatio und incarnatio, also zwischen „Einwohnung“ und „Fleischwerdung“, was für die Rezeption der alttestamentlich-jüdischen Schekina-Theologie in Joh 1,14, aber auch für das semantische Eigenprofil der johanneischen Inkarnationschristologie7 zu beachten ist. Überblickt man die komplexe Geschichte der rabbinischen SchekinaVorstellungen,8 so stellen diese den Versuch dar, Gottes Gegenwart in der Welt und in seinem Volk Israel in einem spezifischen Sinn zum Ausdruck zu bringen: „Ursprünglich wurde die Identität von ‚Gott‘ und ‚Schechina‘ aufrechterhalten: Gott ist seine Schechina, und die Schechina ist Gott. Doch finden wir im rabbinischen Judentum eine eindeutige Tendenz hin zu einer Personifizierung der Schechina, zuerst in Form einer poetischen Dramatisierung ohne besondere theologische Folgen, später jedoch in Gestalt einer eigenständigen Wesenheit neben Gott. Der Prozeß der Unterscheidung setzt innerhalb der rabbinischen Literatur ein, wenn auch auf spielerische und zwiespältige Weise, und gewinnt sein volles Gewicht in der späten rabbinischen und nachrabbinischen Zeit.“9

Hier, in der Schekina-Theologie der nachrabbinischen Zeit, konkret in der Kabbala, geschieht denn auch der entscheidende Schritt hin zum weiblichen Gottesbild im Judentum. Jetzt ist die Schekina „Gottes Verkörperung in der Welt“: „Durch sie tritt Gott in die Welt ein, und ihre einzige Aufgabe ist es, Israel mit Gott zu vereinigen. Wenn ihr dies gelingt, wird sie nicht nur Israel zu Gott führen, sondern selbst zu ihrem Ursprung zurückkehren. Indem sie unter Israel Wohnung genommen hat, hat sie Israels Schicksal zu ihrem eigenen Schicksal gemacht: Sie ist verantwortlich für Israel und Israel für sie. Nur durch sie hat Israel Zugang zu Gott, so wie ihre (Wieder-) gie 17 (2005/1) 18–29 und B.D. SOMMER, The Bodies of God and the World of Ancient Israel, Cambridge 2009, 126ff. 4 Vgl. dazu SCHÄFER, Weibliche Gottesbilder, 160ff. 5 Ob der Terminus Schekina älter ist und das Syntagma M@NIÉSGIÉRGIÉRJGMV RDVI „ein Tempel, in dem du wohnst“ bzw. „ein Tempel deines Wohnens“ von 2Makk 14,35 seinen Ursprung bildet, ist strittig, wenn auch nicht ganz unwahrscheinlich, vgl. sachlich Ez 37,27 LXX; SapSal 9,8 u.a. und dazu SIEVERS, Schechina, 19; GOLDBERG, Schekhinah, 440ff u.a. 6 Vgl. dazu die Hinweise unten Anm. 35. 7 Vgl. dazu die Hinweise bei B. J ANOWSKI, Gottes Weisheit in Jerusalem. Sirach 24 und die biblische Schekina-Theologie, in: H. Lichtenberger u.a. (Hg.), Biblical Figures in Deuterocanonical and Cognate Literature, Berlin/New York 2009, 1–30: 21ff. 8 Vgl. SCHÄFER, Weibliche Gottesbilder, 110ff. 9 A.a.O. 138f.

Einwohnung Gottes in Israel

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Vereinigung mit ihrem göttlichen Gemahl letztlich von Israel abhängt. Da sie allein zu beiden Welten gehört, kann die irdische Welt nur durch sie mit der himmlischen versöhnt werden, kann der Mensch nur durch sie seinen Weg zu Gott finden. Die weibliche Kraft ist der Schlüssel zu beiden Welten.“10

In der langen Geschichte der Vorstellung von der „Einwohnung Gottes in Israel“ geschieht diese Qualifizierung der Schekina als mediatrix Dei nicht zum ersten Mal. Sie begegnet innerhalb der spätalttestamentlichen Weisheitstheologie implizit bereits in Prov 8,22–31 und dann unter Rekurs auf die Begriffe RJGMG „Zelt“ und J@S@RJGMNTM„Wohnung nehmen“ explizit in Sir 24,8.11 Von Sir 24,1–12 aus führt der traditionsgeschichtliche Weg zurück zur Schekina-Theologie der Exilszeit (II/2b) und von dieser zur Schekina-Theologie der vorexilischen Zeit (II/2a). Diesen beiden formativen Stufen12 auf dem langen Weg der alttestamentlichen Schekina-Theologie wende ich mich im Folgenden ausführlicher zu.13 Beginnen will ich aber mit den religionsgeschichtlichen Aspekten des Themas, d.h. mit Überlegungen zur Idee der Einwohnung im alten Ägypten.

2. Religions- und theologiegeschichtliche Aspekte der Schekina-Theologie Der Ausdruck „Einwohnung Gottes“ umschreibt einen Sachverhalt, der nicht auf die alttestamentlich-jüdische Gottesvorstellung beschränkt ist, sondern bereits die Gottesvorstellung Ägyptens und Mesopotamiens14 geprägt hat. In die Ägyptologie wurde er offenbar von Hermann Junker eingeführt,15 wo er sich inzwischen fest eingebürgert hat.16 Es geht dabei we10

SCHÄFER, Weibliche Gottesbilder, 179f. Vgl. J ANOWSKI, Gottes Weisheit, 10ff. 12 Vgl. dazu den Überblick unten 37f. 13 Zur Schekina-Theologie der persischen und der hellenistisch-römischen Zeit vgl. die Beiträge von R. Lux und M. Leuenberger in diesem Band. 14 Für Mesopotamien vgl. M. D IETRICH, Das Kultbild in Mesopotamien, in: DERS./O. Loretz (Hg.), „Jahwe und seine Aschera“. Anthropomorphes Kultbild in Mesopotamien, Ugarit und Israel (UBL 9), Münster 1992, 7–38: 35ff und A. BERLEJUNG, Die Theologie der Bilder. Herstellung und Einweihung von Kultbildern in Mesopotamien und die alttestamentliche Bilderpolemik (OBO 162), Freiburg (CH)/Göttingen 1998, 281ff. 15 Vgl. H. J UNKER, Die Stundenwachen in den Osirismysterien nach den Inschriften von Dendera, Edfu und Philae, Wien 1910, s. dazu P. ESCHWEILER, Bildzauber im alten Ägypten. Die Verwendung von Bildern und Gegenständen in magischen Handlungen nach den Texten des Mittleren und Neuen Reiches (OBO 137), Freiburg (CH)/Göttingen 1994, 287ff. 16 Vgl. dazu S. MORENZ, Ägyptische Religion (RM 8), Stuttgart u.a. 1960, 157ff; J. ASSMANN, Ägypten. Theologie und Frömmigkeit einer frühen Hochkultur (UB 366), Stuttgart 1984, 50ff; DERS., Einwohnung. Die Gegenwart der Gottheit im Bild, in: DERS., 11

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Bernd Janowski

sentlich um den „Ort der Gottheit“17 in der Spannung von himmlischer „Herkunft“ und irdischer „Ankunft“. 2.1 Gott und Bild – zur altorientalischen Idee der Einwohnung Gottes Mit der Vorstellung der „Einwohnung der Gottheit“ wurde in Ägypten die Beziehung der Götter/Göttinnen zur Welt der Menschen thematisiert, zunächst im Opferritual und im königlichen Totenkult des Neuen Reichs (18.–20. Dynastie) und dann besonders in der späten Bildtheologie der griechisch-römischen Zeit (ab 332 v.Chr.). Die ägyptische Idee der „Einwohnung“18 läßt sich am besten durch den Begriff der descensio, d.h. der „Herabkunft“ der Gottheit auf ihr Kultbild, fassen: Die Gottheit steigt als „Ba“ (Verkörperung der vitalen Lebensenergie) vom Himmel, ihrer ältesten Heimat, herab, um in Gestalt ihrer Bilder am Kult teilzunehmen. Dabei wird die Unterschiedenheit von Gott und Bild gewahrt: Die Götter/Göttinnen sind als „Ba“ im Himmel und ihre Bilder auf der Erde, aber im Kult ereignet sich täglich ihre „Einwohnung“ oder „Einkörperung“, schematisch dargestellt: Himmel

Tempel/Kult

Erde

„Ba“ (Verkörperung der vitalen Lebensenergie) der Gottheit Vorgang der „Herabkunft“ (descensio, äg. h3j „herabsteigen“ u.a.) in Gestalt eines Vogels (Horusfalke, Sperber u.a.) Kultbild (VKoP„Verfügungs- oder Machtbild“) der Gottheit, Wandrelief (Ʀ˛PZ u.a.) Abb. 1: Horusfalke

Die zentrale Bedeutung dieser „Herabkunft“ des Horusfalken bzw. des Phönix auf das Tempelgebäude von Edfu und dann auf die Kultbilder beschreibt D. Kurth folgendermaßen: „Auf den nördlichen Flächen der beiden Pylontürme (sc. des Tempels von Edfu), hoch oben und unmittelbar unter dem Dach, befinden sich sechzehn kurze Inschriften, jeweils acht auf einem Turm. Es sind Beischriften zu acht Falken und acht Phönixen, die dort

Ägyptische Geheimnisse, München 2004, 123–134 und D ERS., Altägyptische Bildpraxen und ihre impliziten Theorien, in: K. Sachs-Hombach (Hg.), Bildtheorien. Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn, Frankfurt a.M. 2009, 74– 103:79ff.83ff. 17 Vgl. E. HORNUNG, Der Eine und die Vielen. Ägyptische Götterwelt, Darmstadt 6 2005, 242ff; ASSMANN, Ägypten, 25ff und DERS., Altägyptische Bildpraxen, 83ff. 18 Der ägyptische Ausdruck für „einwohnen“ heißt VhoP m ʻt „sich des Kultleibs bemächtigen“, vgl. ASSMANN, Altägyptische Bildpraxen, 83.87f.

Einwohnung Gottes in Israel

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oben dargestellt wurden. Der Falke, das heilige Tier des Horus von Edfu, und der Phönix, das heilige Tier des Sonnengottes von Heliopolis, wechseln einander ab; beide galten ja in Edfu als Erscheinungsformen des Horus Behedeti, der hier als lokaler Hauptgott die Wesenszüge aller Götter Ägyptens in sich vereinte, vor allem den eines Sonnengottes. Als Falke und Phönix kommt Horis Behedeti aus dem Himmel herab, um sich in Edfu niederzulassen, zunächst auf dem Dach des Pylons, dem höchsten Punkt des ganzen Tempelgebäudes. Es wird deutlich, daß Inhalt und Ort der Inschrift (sc. Text Nr.45) bestens zueinander passen. Um die Zentralidee der Inbesitznahme des Tempels nach der Landung auf dem Pylon ranken sich weitere Vorstellungen: Die Gegenwart des Gottes im Tempel ist die Garantie für das Wohlergehen Ägyptens; das Tempeltor ist ein Ort der Rechtsprechung; der Pylon ist der Sitz des Falken auf der Palastfassade, also des regierenden Horus-Königs.“19

Abb. 2: Hauptfassade des Horus-Tempel von Edfu mit den beiden Pylonen

Um den dramatischen Vorgang der Landung des Horusfalken auf den Pylonen des Tempels von Edfu zu veranschaulichen, sei die Beischrift zum 3.Falken auf dem Westturm des Pylons zitiert: „Der göttliche Sia-Falke erreicht den Sitz-des-Re (Edfu), und er begibt sich in das Erscheinungsfenster (= Brücke zwischen den beiden Pylontürmen) als Herr der Palastfassade. Er nimmt seine weitere Gestalt als das prächtige Falkenbild an, als der große Horus, der Buntgefiederte. Er ist aus Punt gekommen, und er drängt sich mächtig heran, um seinen Thron einzunehmen. Er nimmt sein Königtum in Thronsitz-des-Horus (Horus) entgegen, ernannt zum Herrscher der Ewigkeit. Thot ist hinter ihm und besorgt den Schutz seines Leibes, Morgen für Morgen, ohne Unterlass.“20

Ausschlaggebend für das Verständnis dieses Zusammenhangs sind zwei Sachverhalte: zum einen die Konzeption des Tempels als „Himmel auf Erden“ und zum anderen die Äquivalenz von Bild und Körper. Während ein Tempelname wie „Der Himmel auf Erden“ (so der Name des Tempels von 19

D. KURTH, Treffpunkt der Götter. Inschriften aus dem Tempel des Horus von Edfu, Zürich/München 1994, 276f. 20 A.a.O. 278, s. dazu auch den Kommentar a.a.O. 387.

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Karnak) besagt, dass Tempel und Himmel nicht einfach ineinanderfließen, sondern der irdische Tempel mit seinem das Götterbild umschließenden Naos zu einem „Gleichnis des Himmels“21, zu einer „Schnittstelle“ zwischen Himmel und Erde22 wird, wird das Götter- oder Kultbild in Ägypten „nicht als Bild eines Körpers, sondern selbst als Körper angesehen“23: es ist ein Leib, gleichsam ein „Gefäß“, dem die Gottheit oder auch ein verklärter Toter temporär einwohnt.24 Die in den spätägyptischen Tempeln von Dendera, Edfu, Esna u.a. vollzogenen Kultbildriten der Salbung, Einkleidung und Versorgung sorgen demnach dafür, „daß die himmlischen Götter auf die Erde hinuntersteigen und ihre Bilder beseelen, so daß, im Falle eines unablässig vollzogenen Kults, die Götter in Ägypten eine Art ständigen Wohnsitz nehmen und Ägypten auf diese Weise zum ‚Tempel der ganzen Welt‘ (templum totius mundi) machen“25..So heißt es in einem Morgenlied aus Edfu von Horus: „Er kommt vom Himmel Tag für Tag, um sein Bild zu sehen auf seinem großen Thron. Er steigt herab (KM) auf sein Bild (Vh oP) und gesellt sich zu seinen Kultbildern (Ʀ˛PZ).“26

Und ein entsprechender Text in Dendera sagt von Hathor: „Sie fliegt vom Himmel herab (ƦSM) ..., um einzutreten in die Achet ihres Ka auf Erden, sie fliegt herab auf ihren Leib, sie vereinigt sich mit ihrer Gestalt.“27

Die „Herabkunft“ der Gottheit gilt aber nicht nur dem Kultbild, sondern auch den Wandreliefs: „Sie vereinigt sich mit ihren Gestalten, die eingemeißelt sind in ihrem Heiligtum.

21 Vgl. dazu H. GRAPOW, Die bildlichen Ausdrücke des Ägyptischen. Vom Denken und Dichten einer altorientalischen Sprache, Darmstadt 1983 (= Leipzig 1924), 27 mit den entsprechenden Textnachweisen, ferner B. J ANOWSKI, Der Himmel auf Erden. Zur kosmologischen Bedeutung des Tempels in der Umwelt Israels, in: D ERS./B. Ego (Hg.), Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte (FAT I/32), Tübingen 2001, 229–260: 242ff. 22 Vgl. ASSMANN, Alägyptische Bildpraxen, 85. 23 A.a.O. 80. 24 Vgl. a.a.O. 83. 25 DERS., Einwohnung, 124. Zu dieser spätägyptischen „Theologie der Einwohnung“ s. umfassend KURTH, Treffpunkt der Götter. 26 ASSMANN, Ägypten, 52. Zur ägyptischen Terminologie der „Herabkunft“ (KM„herabkommen“, ˛QP „sich vereinigen“, ˛QM „herabkommen auf“, VP „vereinigen“, VQVQ „sich gesellen zu“ und ƦT„eintreten“); vgl. ESCHWEILER, Bildzauber, 288f. 27 ASSMANN, Ägypten, 52 und vgl. MORENZ, Ägyptische Religion, 160.

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Sie lässt sich nieder auf ihre Gestalt, die auf der Wand eingemeißelt ist.“28

Besonders eindrücklich ist wieder ein spätägyptischer Text aus Dendera, der die Vereinigung des Gottes Osiris mit seinen Darstellungen in den Osiris-Kammern beschreibt: „Osiris ... kommt als Geist (3ho , um sich mit seiner Gestalt in seinem Heiligtum zu vereinigen. Er kommt vom Himmel geflogen als Sperber mit glänzendem Gefieder, und die Ba‘s der Götter mit ihm. Er schwebt als Falke herab auf sein Gemach in Dendera ... Er erblickt sein Heiligtum ... in Frieden zieht er ein in sein herrliches Gemach mit den Ba‘s der Götter, die um ihn sind. Er sieht seine geheime Gestalt an ihren Platz gemalt, seine Figur auf die Mauer graviert; da tritt er ein in seine geheime Gestalt, lässt sich nieder auf seinem Bild (VhoP) ..., und die Ba‘s der Götter nehmen Platz an seiner Seite.“29

Charakteristisch für die ägyptische Idee der „Einwohnung“ sind nach diesen Texten drei Aspekte: Zum einen das Moment der „Herabkunft“ (descensio), die Gott und Bild in eine vertikale Beziehung zueinander setzt, sodann eine Art „Zwei-Naturen-Lehre“, die zwischen dem „Ba“ der Gottheit (im Himmel) und ihrem Bild (im Tempel/auf Erden) unterscheidet, und schließlich die Terminologie der „Vereinigung“,30 die den „Ba“ der Gottheit (= Verkörperung ihrer vitalen Lebensenergie) und ihr Kultbild in eine innere, gleichsam physische Beziehung zueinander bringt. Das Kultbild ist der Leib der Gottheit, das seine Gestalt nicht abbildet, sondern diesem Gestalt gibt.31 Kennzeichnend für diese Art der Gottesgegenwart ist das Moment des Prozess- bzw. Ereignishaften, das der lokalen Dimension der göttlichen Zuwendung den Aspekt des Statischen nimmt: „Die Götter ‚wohnen‘ nicht auf Erden, was ein Zustand wäre, sondern sie ‚wohnen ein‘, und zwar in ihren Bildern: Das ist ein Vorgang, der sich zwar regelmäßig und immer wieder ereignet, dessen Realisierung aber von der Mitwirkung der Menschen, dem Kult abhängig ist.“32

Nach der ägyptischen Idee der Einwohnung läßt sich das Göttliche sehr weit in die Menschenwelt ein, allerdings nicht wie im Alten Testament und 28

ASSMANN, Ägypten, 52, vgl. MORENZ, 160. ASSMANN, Ägypten, 52, vgl. DERS., Einwohnung, 126 und M ORENZ, Ägyptische Religion, 159. 30 Vgl. dazu die Hinweise oben Anm. 26. 31 Vgl. ASSMANN, Ägypten, 57. 32 Ebd. 29

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im antiken Judentum, um in seinem Tempel oder unter seinem Volk zu „wohnen“, sondern einzig und allein, um die Welt mit seiner Gegenwart in Gang zu halten: „Der Einstrom göttlicher Gegenwart erscheint als eine Energie, die die Statuen belebt und im Falken (sowie im König) Fleisch wird.“33 Wollte man für diesen „Einstrom göttlicher Gegenwart“ einen lateinischen Begriff wählen, so könnte man von incarnatio34 oder eher von incorporatio sprechen. Der Unterschied zu den alttestamentlichen Schekina-Aussagen, die allesamt von einer inhabitatio, nicht aber von einer „Fleischwerdung“ oder „Einkörperung“ Gottes sprechen, ist dabei mit Händen zu greifen. 2.2 Tempel und Volk – zur alttestamentlichen Schekina-Theologie 2.2.1 Vorexilische Zeit Im Unterschied zu Ägypten und Mesopotamien hat sich die Vorstellung von der „Einwohnung Gottes“ im Alten Testament nicht im Umkreis des Totenkults und der (Kult-)Bildtheologie, sondern der Tempeltheologie entwickelt.35 Am Anfang steht dabei – den ägyptischen Texten und ihrer Terminologie der „Herabkunft“36 vergleichbar – die vertikale Sinndimension: JHWH „wohnt“ (ØJU) als Königsgott im Tempel/auf dem Zion (1Kön 8,12f; Jes 8,18)37, der durch seine vertikale, an der Gottesthronmotivik orientierten Achse als kosmischer Ort („Weltberg“) qualifiziert ist. Als Stätte der kultisch repräsentierten Gottesgegenwart ist der Tempel – so die 33

ASSMANN, Altägyptische Bildpraxen, 86; vgl. DERS., Ägypten, 57. Assmann spricht in diesem Zusammenhang von „Inkarnation“, s. DERS., Altägyptische Bildpraxen, 79ff und zur Sache auch F. J UNGE, Art. Inkarnation, LÄ III (1980) 158– 163. 35 Zur alttestamentlichen Schekina-Theologie vgl. H. GESE, Der Johannesprolog, in: DERS., Zur biblischen Theologie, Tübingen 31989, 152–201: 190ff; DERS., Die Weisheit, der Menschensohn und die Ursprünge der Christologie als konsequente Entfaltung der biblischen Theologie, in: DERS., Alttestamentliche Studien, Tübingen 1991, 218–248: 226ff; B. J ANOWSKI, „Ich will in eurer Mitte wohnen“. Zur Geschichte und Struktur der exilischen Schekina-Theologie, in: DERS., Gottes Gegenwart in Israel. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 1, Neukirchen-Vluyn 22004, 119–147; DERS., Der eine Gott der beiden Testamente. Grundfragen einer Biblischer Theologie, in: DERS., Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn 1999, 249–284: 265ff; DERS., Art. Shekhina I, RGG4 7 (2004) 1274f; M. GÖRG, Art. ØJU usw., ThWAT 7 (1993) 1337–1348: 1344ff; A.R. HULST, Art: ØJU, THAT 2 (51995) 904–909; K. SCHOLTISSEK, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften (HBS 21), Freiburg u.a. 2000, 88ff; J. SCHREINER, Wohnen der Weisung Gottes in Israel, in: F. Sedlmeier (Hg.), Gottes Wege suchend. Beiträge zum Verständnis der Bibel und ihrer Botschaft (FS R. Mosis), Würzburg 2003, 15–29 und F. SEDLMEIER, „Ich werde in ihrer Mitte wohnen ...“. Gottes Gegenwart in seinem Volk, Das Prisma. Beiträge zu Pastoral, Katechese und Theologie 17 (2005/1) 10–17. 36 Vgl. dazu die Hinweise oben Anm. 26. 37 Vgl. sachlich Jl 4,17.21; Ps 135,21, ferner Jes 33,5 und Jes 57,15. 34

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Grundkonzeption der Jerusalemer Kulttradition – der Ort, an dem himmlischer und irdischer Bereich ineinander übergehen, und die Kultordnung mit ihrer komplexen Symbolik in Relation zum Weltganzen steht.38 Hier, auf dem kosmisch dimensionierten Gottesberg Zion, hatte Jahwe als Weltkönig Wohnung genommen und hier wird er bei der erhofften Heilswende wieder gegenwärtig sein. Der Text, der dies in geradezu klassischer Weise zum Ausdruck bringt, ist der Rahmen der „Denkschrift Jesajas“ (Jes *6,1– 8,18), der in Jes 8,16–18 unter Rückgriff auf Jes 6,1–5 die Vorstellung von der Einwohnung JHWHs auf dem Zion tradiert:39 1

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3

4 5

Im Todesjahr des Königs Ussia sah ich den Herrn, sitzend (AUX) auf einem hohen und aufragenden Thron, wobei seine Gewandsäume den Tempelraum ausfüllten. Seraphen standen über ihm: Je sechs Flügel hatte einer: mit zweien bedeckte er sein Gesicht und mit zweien bedeckte er seine Füße und mit zweien flog er (ständig). Und einer rief dem anderen zu und sprach: „Heilig, heilig, heilig ist JHWH Zebaoth, die Fülle der ganzen Erde ist seine Herrlichkeit!“ Da bebten die Zapfen der Schwellen vor der Stimme des Rufers, und das Tempelhaus füllte sich mit Rauch. Da sagte ich: „Weh mir, denn ich bin vernichtet/verloren! Denn ein Mann unreiner Lippen bin ich und inmitten eines Volkes unreiner Lippen wohne ich; denn den König JHWH Zebaoth haben meine Augen gesehen!“

38 Vgl. M. METZGER, Himmlische und irdische Wohnstatt Jahwes, in: DERS., Schöpfung, Thron und Heiligtum. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments (BThSt 57), Neukirchen-Vluyn 2003, 1–38; F. HARTENSTEIN, Die Unzugänglichkeit Gottes im Heiligtum. Jesaja 6 und der Wohnort JHWHs in der Jerusalemer Kulttradition (WMANT 75), Neukirchen-Vluyn 1997, 30ff.41ff.109ff; B. J ANOWSKI, Die heilige Wohnung des Höchsten. Kosmologische Implikationen der Jerusalemer Tempeltheologie, in: DERS., Der Gott des Lebens. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 3, Neukirchen-Vluyn 2003, 27–71: 35ff und O. KEEL, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus, Teil 1–2, Orte und Landschaften der Bibel 4/1–2, Göttingen 2007, 264ff. 39 Vgl. dazu J. B ARTHEL, Prophetenwort und Geschichte. Die Jesajaüberlieferung in Jes 6–8 und 28–31 (FAT 1/19), Tübingen 1997, 228ff, bes. 239ff.

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Wie sehr Jes 6,1–5 der religiösen „Symbolik des Zentrums“40 verpflichtet ist, ergibt sich aufgrund des vertikalen Gefälles, das im Motiv des „hohen und aufragenden Throns“ (V.1a) sowie im Motiv der (Tür-)Zapfen/Schwellen (V.4a) zum Ausdruck kommt, die vor der Stimme der Seraphen erbeben. Da dieses „Beben“ der (unten befindlichen) Tempelschwellen eine Reaktion auf die Präsenz des (in der Höhe) thronenden Königsgottes sowie auf das Trishagion („Heilig, heilig, heilig ...“) der Seraphen ist, ergibt sich für das Weltbild der Jerusalemer Tempeltheologie der (mittleren/späten) Königszeit eine dominante vertikale Achse, die um eine horizontale, auf die „ganze Erde“ (V.3b) bezogene Dimension ergänzt wird: In der räumlichen Achse der Vertikalen überragt der Gottesthron den Tempel so hoch wie ein Berg („Gottesbergvorstellung“), während die davon abhängige horizontale Achse den Herrschaftsbereich dieses Königsgottes darstellt, nämlich die ganze Erde, in der sich seine verzehrende Heiligkeit Ehrfurcht gebietend äußert und auswirkt (V.3b). Der von Jesaja im Jerusalemer Tempel visionär geschauten Gegenwart JHWHs auf einem „hohen und aufragenden Thron“ (V.1a) entspricht damit die „Ausstrahlung“ der wirkmächtigen Präsenz des Königsgottes in die „ganze Erde“ (V.3b), d.h. bis an die Peripherie des von der Herrlichkeit des Königsgottes erfüllten und belebten Weltganzen. Schematisch lassen sich diese Relationen folgendermaßen darstellen: HÖHE Gottesthron

Land PERIPHERIE Randgebirge/Meer

Land ZENTRUM Tempel/Stadt

PERIPHERIE Randgebirge/Meer

TIEFE Tempelschwellen

Am Ende der „Denkschrift Jesajas“ (Jes 6,1–8,18) findet sich in Jes 8,16– 18 ein Text, der in Form einer semantisch-thematischen inclusio explizit auf deren Anfang in Jes 6,1–5 Bezug nimmt:

40

Vgl. dazu HARTENSTEIN, Die Unzugänglichkeit Gottes im Heiligtum, 30ff.41ff. 109ff und J ANOWSKI, Die heilige Wohnung des Höchsten. Kosmologische Implikationen der Jerusalemer Tempeltheologie, 35ff.

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Einwickeln will ich die Bezeugung, versiegeln die Weisung unter denen, die ich belehrt habe, und warten auf JHWH, der sein Angesicht verbirgt vor dem Haus Jakobs, und auf ihn hoffen. Siehe, ich und die Kinder, die mir JHWH gegeben hat, wir sind Zeichen und Vorbedeutungen in Israel von JHWH Zebaoth, der auf dem Berg Zion wohnt (Ø 8BH QG! ØJD5NG).41

Diese kosmisch dimensionierte Schekina-Vorstellung der Jerusalemer Theologie der mittleren Königszeit, in deren Umkreis nicht nur Ps 68,16f u.a.,42 sondern auch die „Mitte“-Aussage von Ps 46,5f gehören dürfte, hat bei den klassischen Propheten ein kritisches Echo gefunden und, wie Mi 3,11 zeigt, ihre Gerichtstheologie mitinspiriert: 16 17

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Du Gottesberg, Baschanberg, du Gebirge mit Gipfeln, Baschanberg. Warum blickt ihr neidisch, ihr Berge, ihr Gipfel, auf den Berg, den Gott zum Thronen begehrte, ja, JHWH wohnt ( ØJU) dort für immer. (Ps 68,16f) Ein Strom – seine Kanäle erfreuen die Gottesstadt, die heiligste der Wohnungen des Höchsten (Ø XK : ÔXMD* U LHÔUCNP ). Gott ist in ihrer Mitte, so dass sie nicht wankt, Gott hilft ihr beim Anbrechen des Morgens. Völker tosten, Königreiche wankten – er hat seine (Donner-)Stimme erhoben, so dass die Erde schwankt. JHWH Zebaoth ist mit uns, eine Burg für uns ist der Gott Jakobs. – Sela (Ps 46,5–8)43 Seine (sc. Jerusalems) Häupter richten um Bestechung und seine Priester geben Weisung um Bezahlung und seine Propheten wahrsagen um Geld; Und auf JHWH stützen sie sich, indem sie sagen: „Ist JHWH nicht in unserer Mitte (6M!DQ PH! )? Es wird über uns kein Unheil kommen.“ (Mi 3,11)44

41 Zum Verständnis dieses ,Schlusssteins‘ der Denkschrift Jesajas s. B ARTHEL, Prophetenwort, 228ff. 42 Vgl. auch das spätnachexilische (Anfang 4. Jh. v.Chr.) Gerichtswort vom „Tag JHWHs“ in Jl 4,17 (innerhalb von 4,9–17) und in 4,21 (innerhalb der Fortschreibung 4,18–21): „Und ihr werdet erkennen,/dass ich JHWH, euer Gott, bin,/der ich auf dem Zion, meinem heiligen Berg, wohne (ØJ$UN)./Dann wird Jerusalem ein Heiligtum sein,/Fremde werden nicht mehr durch es hindurch ziehen. (4,17); „(20) Juda aber wird für immer wohnen bleiben (AUX)/und Jerusalem für Geschlecht um Geschlecht, (21) („aber ganz und gar ungestraft kann ich ihr Blut nicht lassen),/weil JHWH auf dem Zion wohnt ( ØJDUN).“ (4,21), s. dazu J. J EREMIAS, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha (ATD 24/3), Göttingen 2007, 53f.55, sowie den ebenfalls spätnachexilischen (4. Jh. v.Chr.) Geschichtshymnus Ps 135,19–21: „(19) Haus Israel, segnet JHWH,/Haus Aaron, segnet JHWH,/(20) Haus Levi, segnet JHWH,/JHWH-Fürchtige, segnet JHWH!/(21) Gesegnet sei JHWH von Zion her,/er, der wohnt (ØJDUN) in Jerusalem“, s. dazu F.-L. HOSSFELD/E. ZENGER, Psalmen 101–150 (HThK.AT), Freiburg u.a. 2008, 670 (E. Zenger). 43 Vgl. J ANOWSKI, Wohnung des Höchsten, 45ff.

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Erst das Deuteronomium favorisiert wieder die Vorstellung von der „Einwohnung Gottes“, indem es in seiner Zentralisationsformel von dem „Ort“ spricht, den „JHWH erwählt, um dort seinen Namen wohnen zu lassen (Ø*DUK ) /zu deponieren (]6EK)“:45 „... dann sollt ihr alles, wozu ich euch verpflichte, zu der Stätte bringen, die JHWH, euer Gott, erwählt, indem er dort seinen Namen wohnen lässt (Ø*DUK ): eure Brandopfer und eure Schlachtopfer, eure Zehnten und Handerhebungsopfer, und alle eure auserlesenen Gaben, die ihr JHWH gelobt habt.“ (Dtn 12,11)

Auffällig ist dabei der Unterschied, den die Zentralisationsformel zwischen JHWH und seinem „Namen“ (]UD) macht. Die Vorstellung von der kultischen Präsenz JHWHs in seinem „Namen“ ist aber nicht als eine Einschränkung oder Sublimierung hinsichtlich der Gegenwart Gottes im Tempel zu deuten, denn der Kontext der Zentralisationsformel stellt jeweils sicher, „daß mit seinem Namen auch Jahwe selbst an diesem Ort zu finden ist“; ja, indem an dem von JHWH erwählten Ort sein „Name“ präsent ist, ist für Israel die Voraussetzung zur Anrufung dieses Namens und damit zur Ausübung des Gottesdienstes gegeben.48 Das Deuteronomium hat noch nicht darüber reflektiert, wie sich das Wohnen JHWHs (bzw. seines Namens) im irdischen Heiligtum zum Wohnen Gottes im Himmel verhält. Dieses Problem stellt sich – in einer Zeit, als der erste Tempel in Trümmern lag – erst den Verfassern des deutero44

Zu Mi 3,9–12 s. R. KESSLER, Micha (HThK.AT), Freiburg u.a. 1999, 160–170 und J. J EREMIAS, Die Propheten Joel, Obadja, Jona und Micha (ATD 24/3), Göttingen 2007, 165–167. 45 Vgl. Dtn 12,21; 14,23; 16,2.6.11 u.ö., vgl. E. REUTER, Kultzentralisation. Entstehung und Theologie von Dtn 12 (BBB 87), Frankfurt a.M. 1993, 121ff.130ff.134ff; N. LOHFINK, Kultzentralisation und Deuteronomium. Zu einem Buch von E. Reuter, ZAR 1 (1995) 117–148, ferner M. KELLER, Untersuchungen zur deuteronomisch-deuteronomistischen Namenstheologie (BBB 105), Weinheim 1996; S.L. R ICHTER, The Deuteronomistic History and the Name Theology. ]UÔ LU Ô Ø*DUK Ô in the Bible and the Ancient Near East (BZAW 318), Berlin/New York 2000 und J. VAN SETERS, The Formula ]UÔ LU Ô Ø*DUK and the Centralisation of Worship in Deuteronomy and DH, JNWSL 30 (2004) 1–18.Ô 46 Vgl. G. VON RAD, Deuteronomium-Studien, FRLANT 58, Göttingen 1947, 26, dazu die Diskussion bei A.S. VON DER W OUDE, Gibt es eine Theologie des Jahwe-Namens im Deuteronomium?, in: Übersetzung und Deutung. Studien zum Alten Testament und seiner Umwelt, FS A.R. Hulst, Nijkerk 1977, 204–210; E. W ÜRTHWEIN, Das erste Buch der Könige Kap.1–16 (ATD 11/1), Göttingen 21985, 102f; H. WEIPPERT, „Der Ort, den JHWH erwählen wird, um dort seinen Namen wohnen zu lassen“. Die Geschichte einer alttestamentlichen Formel, BZ 24 (1980) 76–94: 87f mit Anm. 6; N. LOHFINK, Zur deuteronomischen Zentralisationsformel, Bib. 95 (1984) 297–329: 303f mit Anm. 22 und G. BRAULIK, Deuteronomium 1,1–16,17 (NEB.AT 15), Würzburg 1986, 98f. 47 WEIPPERT, Ort, 77f. 48 Vgl. a.a.O. 78 und H. GESE, Der Name Gottes im Alten Testament, in: H. Stietencron (Hg.), Der Name Gottes, Düsseldorf 1975, 75–89: 86ff.

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nomistischen Geschichtswerkes (DtrG). In deutlicher Korrektur des alten Tempelweihspruchs 1Kön 8,12f, der vom Jerusalemer Heiligtum als einer „Stätte für dein (sc. JHWHs) Thronen/Wohnen (=3 A UHK Ô Ø JL) für alle Zeiten“ (V.13b) spricht,49 bezeichnet der deuteronomistische Tempelweihbericht 1Kön 8,14–6650 in seinem jüngeren Mittelteil V.31–5151 ausdrücklich den Himmel als „Stätte deines (sc. JHWHs) Thronens/Wohnens (Ø JLÔ =3 A UHK) “ (V.39.43,52 vgl. V.30.49).53 Damit hat der spätdeuteronomistische Redaktor nicht nur die Wohn- und Thronvorstellung des alten Tempelweihspruchs korrigiert, sondern auch die deuternomische Theologie vom Wohnen-Lassen/Deponieren des „Namens“ an der von JHWH erwählten Stätte entscheidend modifiziert. Das (zerstörte) Heiligtum ist in erster Linie Gebetsstätte, an der der Name JHWHs anwesend ist; JHWH selbst aber ist nicht an den Tempel gebunden, sondern er „thront/wohnt“ (AUX) im Him-

49

Vgl. 2Chr 6,2 und aus spätvorexilischer (?)/(spät?)nachexilischer (?) Zeit die auf Zion/Jerusalem bezogenen Wendung =3 A UHK Ô Ø JL in Ex 15,17aA mit einem etwa gegenüber Jes 8,18 (s. dazu oben) bemerkenswerten Perspektivenwechsel: nicht nur ist JHWH gegenwärtig „auf dem Berg deines Erbbesitzes, an der Stätte deines Thronens, die du JHWH, gemacht hast, am Heiligtum, das deine Hände gegründet haben“, sondern er hat sein Volk Israel – als eigentliches Ziel des alten und neuen Exodus – dort auch „eingepflanzt“ (:IM), s. dazu E. ZENGER, Tradition und Interpretation in Exodus 15,1–21, VT.S 32 (1981) 452–483: 474, ferner T. VEIJOLA, Verheißung in der Krise. Studien zur Literatur und Theologie der Exilszeit anhand des 89. Psalms, Helsinki 1982, 63.144f mit Anm. 6 und J. JEREMIAS, Das Königtum Gottes in den Psalmen. Israels Begegnung mit dem kanaanäischen Mythos in den Jahwe-König-Psalmen (FRLANT 141), Göttingen 1987, 93ff, bes. 103f. 50 Es handelt sich dabei nicht um eine einheitliche Komposition, sondern um mehrere Bearbeitungsstufen, s. dazu VEIJOLA, Verheißung, 150ff, vgl. G. B RAULIK, Spuren einer Neubearbeitung des deuteronomistischen Geschichtswerkes in 1Kön 8,52–53.59–60, in: DERS., Studien zur Theologie des Deuteronomiums (SBAB 2), Stuttgart 1988, 39–52. 51 Vgl. VEIJOLA, Verheißung, 151ff als spätdeuteronomistisch eingestuft. 52 Vgl. 2Chr 6.30.33.39. 53 Die Aussage, dass JHWH im Himmel „thront/wohnt“, findet sich in exilischnachexlischen Texten häufiger, s. die Zusammenstellung bei METZGER, Wohnstatt, 151ff, vgl. DERS., Der Thron als Manifestation der Herrschermacht in der Ikonographie des Vorderen Orients und im Alten Testament, in: DERS., Schöpfung, Thron und Heiligtum. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments (BThSt 57), Neukirchen-Vluyn 2003, 95– 151: 134ff u.a. In diesen Traditionszusammenhang gehört u.E. auch die ØJUÔ (+ Subj. JHWH)-Formulierung in Jes 33,5 (innerhalb der spätexilischen prophetischen Liturgie Jes 33*): „JHWH ist erhaben, denn in der Höhe wohnt er (ØJDUN), er hat Zion mit Recht und Gerechtigkeit erfüllt“, s. dazu H. B ARTH, Die Jesaja-Worte in der Josiazeit. Israel und Assur als Thema einer produktiven Neuinterpretation des Jesajaüberlieferung (WMANT 48), Neukirchen-Vluyn 1977, 46f.47f.287f und O.H. STECK, Bereitete Heimkehr. Jesaja 35 als redaktionelle Brücke zwischen dem Ersten und dem zweiten Jesaja (SBS 121), Stuttgart 1985, 55ff, ferner T.N.D. METTINGER, The Dethronement of Sabaoth. Studies in the Shem and Kabod Theologies (CB.OT 18), Lund 1982, 107f.

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mel und erhört von dort die Gebete seines „Knechtes“ Salomo und seines Volkes Israel, z.B.: „(46) Wenn sie sich gegen dich verfehlen ,denn es gibt keinen Menschen, der sich nicht verfehlt‘ und du ihnen zürnst und sie dem Feind preisgibst, so dass ihre Häscher sie gefangen wegführen in das Land des Feindes, es sei fern oder nah, (47) und sie es sich zu Herzen nehmen in dem Land, da sie gefangen sind, und umkehren und zu dir flehen im Land ihrer ‚Gefangenschaft‘, indem sie sprechen: Wir haben uns verfehlt, wir haben gesündigt, wir haben Unrecht getan, (48) und umkehren zu dir von ganzem Herzen und von ganzer Seele in dem Land ihrer ‚Häscher‘, die sie gefangen weggeführt haben, und sie zu dir beten in Richtung ihres Landes, das du ihren Vätern gegeben hast, der Stadt, die du erwählt hast, und des Hauses, das ich deinem Namen gebaut habe: (49) so mögest du im Himmel, der Stätte deines Wohnens (=3 A UHÔ Ø JL ), ihr Gebet und ihr Flehen hören und ihre gerechte Sache führen (50) und ‚ihre Verfehlungen‘ vergeben, die sie gegen dich begangen haben, und alle ihre Auflehnungen, mit denen sie sich gegen dich erhoben haben, und sie Erbarmen finden lassen bei ihren Häschern, dass sie sich erbarmen. (51) Denn dein Volk und dein Erbteil sind sie, das du herausgeführt hast aus Ägypten, mitten  aus dem Eisenschmelzofen!“ (1Kön 8,46–51).

Auch wenn der Tempel in Trümmern lag, blieb die Existenz und Wirksamkeit Gottes unangetastet, da er im Himmel „thront/wohnt“ und von dort her die Gebete seines Volkes erhört – die große Bedeutung, die diese spätdeuteronomistische Theologie des Gottesnamens für die Exilszeit besaß, liegt auf der Hand. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass sie neue Probleme barg. Man kann sich das im Vergleich mit der deuteronomischen Konzeption verdeutlichen: Wie im Deuteronomium ist der Tempel auch hier die Stätte, an der der JHWH-Name kultisch proklamiert wird und an der Israel diesen Namen im Gebet anrufen kann. Abweichend vom Deuteronomium und seiner Zentralisationsformel schließt das deuteronomistische Tempelweihgebet 1Kön 8,14–66 aber „Jahwes Anwesenheit im Tempel selbst aus; die Präsenz seines Namens impliziert nicht die Jahwes“55: Diese Differenz zwischen der Präsenz des JHWH-Namens auf Erden/im irdischen Heiligtum und dem Wohnen Gottes im Himmel war ein Ergebnis theologischer Reflexion, die – unter den Existenzbedingungen des Exils – eine angemessene Antwort auf die Frage nach der Unverfügbarkeit und Freiheit Gottes suchte. Da sie aber nicht der „religiöse(n) Erfahrungskategorie der göttlichen Nähe“56 entsprach, konnte sie nur eine Teilantwort sein.

54

Übersetzung WÜRTHWEIN, Das erste Buch der Könige, 93f. WEIPPERT, Ort, 85. 56 G. BRAULIK, Weisheit, Gottesnähe und Gesetz – Zum Kerygma von Deuteronomium 4,5–8, in: DERS., Studien zur Theologie des Deuteronomiums (SBAB 2), Stuttgart 1988, 53–93: 76, vgl. D ERS., Spuren, 50. 55

Einwohnung Gottes in Israel

17

Der spätdeuteronomistische Redaktor ist dabei, wie die das Mittelstück V.31–51 rahmenden V.29f+52f,59f57 des Tempelweihgebets zeigen, nicht stehengeblieben. 58 Besonders V.52f,59f sprechen nicht mehr von der Differenz zwischen dem Wohnen JHWHs im Himmel und der Präsenz seines Namens auf Erden, sondern von der uneingeschränkten, jederzeit und überall möglichen Nähe des Gebetes zu Gott und der direkten Rechtshilfe JHWHs für den Beter: „(59) Mögen diese meine Worte, mit denen ich vor JHWH flehe, JHWH, unserem Gott, nahe sein (]XAHQNP ) bei Tag und bei Nacht, dass er die gerechte Sache seines Knechtes und die gerechte Sache seines Volkes Israel führe, wie es jeweils der Tag erfordert, (60) damit alle Völker der Erde erkennen, dass er, JHWH, Gott ist, keiner sonst.“ (1Kön 8,59) Damit wird in spätexilischer Zeit unter dem Begriff der „Nähe“ – der Nähe des Beters zu Gott und der Nähe Gottes zum Beter – ein Anliegen aufgegriffen, das innerhalb des Tempelweihgebets bereits der Abschlusssegen V.54a.55–58.61 anvisiert, selbst aber als Bitte um das Mitsein JHWHs formuliert hatte: „(57) JHWH, unser Gott, sei mit uns, wie er mit unseren Vätern gewesen ist; er möge uns nicht verlassen und nicht aufgeben, (58) dass er unser Herz zu sich lenke, so dass wir wandeln auf allen seinen Wegen und halten alle seine Befehle, Satzungen und Rechtsordnungen, die er unseren Vätern befohlen hat.“ (1Kön 8,57f) Die in 1Kön 8,52f.59f formulierte Theologie der Gottesnähe ist nicht ohne Parallelen im übrigen spätdeuteronomistischen Schrifttum. Auf entsprechende Berührungen insbesondere mit Dtn 4,7 (innerhalb von Dtn 4,1–40) hat vor allem G. Braulik59 aufmerksam gemacht. Während 1Kön 8,59f von der Nähe der Gebetsworte Salomos zu JHWH spricht, bezeichnet Dtn 4,7 JHWH als einen Gott, der seinem Volk Israel bei all seinem Rufen zu ihm „nahe“60 ist: 6a*.b

7

57

Denn dies ist eure Weisheit und eure Einsicht in den Augen der Völker, die alle diese Gesetze hören und dann sagen werden: „In der Tat, ein weises und einsichtiges Volk ist diese große Nation.“ Denn welche große Nation (gibt es), die einen Gott (hätte), so nahe (]XAHQNP ) zu ihr

Vgl. dazu BRAULIK, Spuren 39ff; DERS., Weisheit 75ff und VEIJOLA, Verheißung, 151ff, vgl. WÜRTHWEIN, Das erste Buch der Könige, 95f. 58 Die Vorstellung vom Wohnen JHWHs (auf Erden und) im Himmel wird auch in 1Kön 8,27 relativiert: „Ja, wohnt (AUX) Gott wirklich auf Erden? Siehe, der Himmel und der Himmel der Himmel können dich nicht fassen, wieviel weniger dieses Haus, das ich gebaut habe“ (vgl. 2Chr 6,18), s. dazu die Hinweise bei J ANOWSKI, Schekina-Theologie, 133. 59 Vgl. B RAULIK, Spuren, 45ff; vgl. DERS., Weisheit 75ff; DERS., Das Deuteronomium und die Geburt des Monotheismus, in: D ERS., Studien zur Theologie des Deuteronomiums (SBAB 2), Stuttgart 1988, 257–300: 280ff und F. HARTENSTEIN, Die unvergleichliche „Gestalt“ JHWHs. Israels Geschichte mit den Bildern im Licht von Dtn 4,1–40, in: B. Janowski/N. Zchomelidse (Hg.), Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren. Zur Korrelation von Text und Bild im Wirkungskreis der Bibel. Tübinger Symposion, Arbeiten zur Geschichte und Wirkung der Bibel 3, Stuttgart 2003, 49–77. 60 Vgl. zur Sache noch BRAULIK, Weisheit, 78ff und J ANOWSKI, Schekina-Theologie, 134.

18

Bernd Janowski wie JHWH, unser Gott, bei all unserem Rufen zu ihm? (Dtn 4,6f)

Zu dieser spätdeuteronomistischen, möglicherweise in den letzten Jahren vor dem Exilsende entstandenen Bearbeitungsschicht gehören neben Dtn 4,1–40 oder Dtn 30,1–1061 auch die soeben zitierten Passagen des salomonischen Tempelweihgebets mit ihrer neuen Theologie der Gottesnähe, deren innerster – das Gerichtswort von Dtn 31,17f (DtrN) kontrapunktierender – Wunsch für die Zukunft Israels es ist, dass „JHWH, unser Gott, mit uns sei, wie er mit unseren Vätern“ gewesen ist, und uns nicht verlasse und nicht aufgebe. (1Kön 8,57f) Dies ist dieselbe Hoffnung, die der spätdeuteronomistische Redaktor auch in 1Kön 6,11–13,62 einem als JHWH-Wort stilisierten Einschub in den vordeuteronomistischen Tempelbaubericht 1Kön 6*, zum Ausdruck gebracht und dort in die Zusage vom Wohnen JHWHs „inmitten der Israeliten“ gekleidet hat. Entsprechend dem Grundansatz deuteronomistischer Theologie hat diese Zusage von 1Kön 6,12f die Struktur einer bedingten Verheißung, ist also an den ungeteilten Gehorsam Israels gegenüber dem Rechtswillen JHWHs gebunden, wie er im deuteronomischen Gesetz (Dtn *5–28) verbindlich formuliert ist: 12a@ aA

(Was) dieses Haus (betrifft), das du (sc. Salomo) gerade baust: Wenn du in meinen Satzungen wandelst und meine Rechtsbestimmungen befolgst und alle meine Befehle hältst, indem du in ihnen wandelst, 12b.13 dann will ich mein Wort an dir verwirklichen, das ich zu deinem Vater David gesprochen habe, und will inmitten ( S! ) der Israeliten wohnen (ØJU) und mein Volk Israel nicht verlassen (1Kön 6,12f).

2.2.2 Exilisch-nachexilische Zeit Wie die zuletzt zitierten Texte zeigen, sollte es – im Gegensatz zum deuteronomistischen Tempelweihgebet und seiner Differenz zwischen dem Wohnen JHWHs im Himmel und der Präsenz seines Namens auf der Erde/im Tempel – anderen theologischen Strömungen der exilisch-nachexilischen Zeit vorbehalten bleiben, weiterführende Antworten auf die offene Frage nach der Gegenwart JHWHs in Israel zu geben. Wie sehr diese Frage die Exilsgeneration umtrieb, zeigt die Eingangsklage des frühexilischen Volksklagelieds Ps 74,1b.2: 1b

Wozu, Gott, hast du verstoßen für immer, raucht dein Zorn gegen das Kleinvieh deiner Weide? 61

Vgl. dazu G. VANONI, Der Geist und der Buchstabe. Überlegungen zum Verhältnis der Testament und Beobachtungen zu Dtn 30,1–10, BN 14 (1981) 65–98 und N. MENDECKI, Dtn 30,3–4 – nachexilisch?, BZ 29 (1985) 267–271. 62 Vgl. dazu W ÜRTHWEIN, Das erste Buch der Könige, 65; VEIJOLA, Verheißung, 149f.155f. 209 und WEIPPERT, Ort, 84.

Einwohnung Gottes in Israel 2

19

Gedenke deiner Gemeinde, die du erworben hast ureinst, die du ausgelöst hast als Stamm deines Erbbesitzes, des Berges Zion, auf dem du Wohnung genommen hast (ØJU)!63

2.2.2.1 „Ich werde inmitten der Israeliten wohnen“ (Ex 29,45) Die Kreise, die in der Folgezeit neue Perspektiven formulierten, waren vor allem die Ezechiel-Schule und die Priesterschrift.64 Dabei wird die vorexilische Schekina-Theologie intensiv rezipiert, aber aufgrund der Zerstörung des Tempels notwendigerweise transformiert. Man kann diese Transformation so beschreiben, dass die Schekina-Theologie ihre ausschließlich vertikale Dimension einbüßt und um eine horizontale Dimension ergänzt oder erweitert wird, d.h. sie erhält jetzt zusätzlich eine nationale, auf die Restitution Israels als „Volk Gottes“ bezogene, geradezu ,ekklesiologische‘ Dimension,65 insofern JHWH statt im Tempel oder auf dem Zion nunmehr „inmitten der Israeliten“ wohnen will.66 Signifikant dafür ist die JHWH-Rede Ez 43,7–9, die unmittelbar an den Visions- und Auditionsbericht Ez 43,1–5 anschließt: A

7aA

Menschensohn, (siehe) den Ort meines Thrones und den Ort meiner Fußsohlen, wo ich für immer inmitten der Israeliten wohnen will (ØJU).

B

7b

Das Haus Israel aber soll meinen heiligen Namen nicht mehr verunreinigen, weder sie noch ihre Könige, durch ihre Buhlerei und die (Toten-)Opfer ihrer Könige ‹bei ihrem Tod› – 8a@

dadurch, dass sie ihre Schwelle neben meine Schwelle und ihren Türpfosten neben meinen Türpfosten setzten, 8aAb@ so dass (nur) eine Wand zwischen mir und ihnen lag und sie (immer wieder) meinen heiligen Namen durch ihre Greuel, die sie begingen, verunreinigten,

C

63

Zu diesem Text vgl. J ANOWSKI, Schekina-Theologie, 120f und F.-L. HOSSFELD/E. ZENGER, Psalmen 51–100 (HThK.AT), Freiburg u.a. 2000, 363 (E. Zenger). 64 Zu den theologiegeschichtlichen Aspekten vgl. O.H. STECK, Strömungen theologischer Tradition im Alten Israel, in: DERS., Wahrnehmungen Gottes im Alten Testament. Gesammelte Studien (ThB 70), München 1982, 291–316: 309ff. K EEL, Geschichte Jerusalems, 890ff.903ff und K. SCHMID, Literaturgeschichte des Alten Testaments. Eine Einführung, Darmstadt 2008, 146ff. 65 Vgl. dazu bereits J ANOWSKI, Schekina-Theologie, 119ff. TH. RUDNIG, „Ist denn Jahwe nicht auf dem Zion?“ (Jer 8,19). Gottes Gegenwart im Heiligtum, ZThK 104 (2007) 267–286: 268.277f gibt die Diskussion verzerrt wieder, wenn er behauptet, F. Hartenstein und ich hätten die Vorstellung von der Einwohnung JHWHs im Tempel und von seiner Einwohnung inmitten der Israeliten gegeneinander ausgespielt; ich spreche ausdrücklich von Ergänzung und Erweiterung der tempeltheologischen SchekinaVorstellungen, nicht von ihrer Ersetzung oder gar Aufweichung (so die Unterstellung von RUDNIG, Jahwe, 268). 66 Vgl. Ez 43,7.9; Ex 25,8; 29,45f P g (s. dazu unten 21f), ferner Lev 16,16; Num 5,3; 35,34 (jeweils P s) und 1Kön 6,11-13 (spätdtr).

20

Bernd Janowski 8bA

so dass ich sie in meinem Zorn vernichtete.

B'

9a

Nun mögen sie ihre Buhlerei und die (Toten-)Opfer ihrer Könige von mir entfernen,

A'

9b

so will ich für immer in ihrer Mitte wohnen (ØJU).67

Für diese JHWH-Rede ist die Stilfigur der doppelten Rahmung kennzeichnend: in die äußeren Rahmenverse V.7aA und V.9b mit ihrer Verheißung der bleibenden Gottesgegenwart ist eine zweifache Aufforderung an Israel (V.7b + V.9a) eingebettet, die sich – als Verbot – auf die Entweihung des Jahwenamens und – als Gebot – auf die Entfernung des Fremdkultes bezieht. Diese Verbots- und Gebotsrede umschließt ihrerseits eine Schilderung der früheren Vergehen Israels und deren Ahndung durch JHWH (V.8), so dass man im Blick auf die Gesamtkomposition von einer konzentrischen Struktur (A – B – C – B' – A') sprechen kann. Während V.8 an das Israel der vorexilischen Zeit, die Zustände im alten Tempel (Nachbarschaft von JHWH-Tempel und Königspalast) und das Gerichtshandeln Jahwes erinnert, blicken die Rahmenverse V.7ab+b//V.9a + b auf das künftige Gottesvolk voraus, dem die Zusage der bleibenden Gottesgegenwart gilt: „ich will für immer inmitten der Israeliten/in ihrer Mitte wohnen“ (V.7ab//V.9b: ØJUÔ[+ Subj. JHWH] + S! ]). Israel, das ist die Botschaft von Ez 43,7–9, bleibt nicht im Todesgericht von 587 v. Chr. (vgl. V.8bA), sondern ihm wird mit der Zusage von V.7ab + 9b das „Wunder einer Neuerweckung“68 zuteil. Dass diese JHWH-Rede ganz unter dem Vorzeichen der Verheißung steht, wird durch die Rahmenfunktion von V.7 + V.9 und die konzentrische Anordnung ihrer Einzelglieder unterstrichen: Die Verpflichtung Israels auf die als Gebot aufgetragene neue Ordnung (V.7a + V.9b) basiert ganz auf der Verheißung der unkonditional69 zugesagten Gottesgegenwart. Was hier also gefordert wird, ist nicht Vorbedingung für die Rückkehr JHWHs zum Zion, sondern deren Konsequenz im Lebensvollzug Israels (vgl. V.11b!). Der eigentliche Sinn der ØJU-Formulierungen von Ez 43,7.9 erschließt sich aber erst, wenn man sie theologiegeschichtlich liest, d.h. wenn man

67

Zur Interpretation dieses Textes vgl. J ANOWSKI, Schekina-Theologie, 122ff und M. KONKEL, Architektonik des Heiligen. Studien zur zweiten Tempelvision Ezechiels (Ez 40–48) (BBB 129), Berlin/Wien 2001, 73ff.263ff, ferner A. KLEIN, Schriftauslegung im Ezechielbuch. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zu Ez 34–39 (BZAW 391), Berlin/New York 2008, 192f mit speziellen redaktionsgeschichtlichen Optionen. 68 W. ZIMMERLI, Ezechiel, 2. Teilband: Ezechiel 25–48 (BK 13/2), Neukirchen-Vluyn 2 1979, 1084. 69 Vgl. ebd

Einwohnung Gottes in Israel

21

beachtet, dass diese Verse nicht nur, wie der alte Tempelweihspruch 1Kön 8,12f.70 12

Damals sprach Salomo: „Jahwe hat erklärt, im Wolkendunkel zu wohnen (Ø *U KH) Ich habe dir wahrhaftig ein herrschaftliches Haus gebaut, eine Stätte für dein Wohnen (=3 A UHK ÔØ JL) für alle Zeiten“,

13

von einem Wohnen JHWHs im irdischen Tempel oder, wie die Jerusalemer Kulttradition der vorexilischen Zeit (vgl. Jes 8,18b)71, auf dem Gottesberg Zion, sondern zusätzlich von seinem Wohnen „inmitten der Israeliten“ (V.7aAÉ // V.9b) sprechen. Diese Selbstbindung JHWHs an Israel ist das Novum der exilisch-nachexilischen Schekina-Theologie. Dieser Sachverhalt soll noch etwas vertieft werden. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, hat sich die priesterliche Grundschrift (Pg) in ihrer Verwendung von ØJU + Subj. JHWH/„Herrlichkeit JHWHs“/„Wolke“ auf wenige, aber theologisch zentrale Texte beschränkt (Ex 24,16; 25,8; Ex 29,45f und Ex 40,35).72 Wichtig für deren Verständnis ist die Beachtung ihres jeweiligen Ortes im Kontext der priesterlichen Sinaigeschichte (Ex *19,1–40,35Pg).73

70

Auf die von O. Keel, B. Janowski, A. Schenker, F. Hartenstein und M. Rösel kontrovers geführte Diskussion zum Verständnis von 1Kön 8,12f kann hier nicht eingegangen werden, s. dazu mit den entsprechenden Literaturhinweisen zuletzt M. LEUENBERGER, Gott in Bewegung. Religions- und theologiegeschichtliche Beiträge zu Gottesvorstellungen im alten Israel (FAT I/76), Tübingen 2011, 43ff. 71 Vgl. dazu oben, vgl. zur Formulierung Ps 68,17 und dazu oben, 12. 72 Vgl. B. J ANOWSKI, Tempel und Schöpfung. Schöpfungstheologische Aspekte der priesterschriftlichen Heiligtumskonzeption, in: DERS., Gottes Gegenwart in Israel. Beiträge zur Theologie des alten Testaments 1, Neukirchen-Vluyn 22004, 214–246; DERS., Das Geschenk der Versöhnung. Leviticus 16 als Schlussstein der priesterlichen Kulttheologie, in: Th. Hieke/T. Nicklas (Hg.), The Day of Atonement – Ist Interpretation in early Jewish and Christian Traditions, Leiden/Boston 2012, 3-31; ferner S. OWCZAREK, Die Vorstellung vom Wohnen Gottes inmitten seines Volkes in der Priesterschrift. Zur Heiligtumstheologie der priesterschriftlichen Grundschrift (EHS.T 625), Frankfurt a.M. 1998; CH. DOHMEN, Exodus 19–40 (HThK.AT), Freiburg u.a. 2004, 273f.399ff; P. W EIMAR, Sinai und Schöpfung. Komposition und Theologie der priesterschriftlichen Sinaigeschichte, in: DERS., Studien zur Priesterschrift (FAT 1/56), Tübingen 2008, 269– 317 und CH. NIHAN, From Priestly Torah to Pentateuch. A Study in the Composition of the Book of Leviticus (FAT 2/25), Tübingen 2007, 31ff. 73 Vgl. dazu und zum thematischen Zusammenhang von Ex 29,45f mit Gen 17,7f und Ex 6,6f ausführlicher B. J ANOWSKI, Sühne als Heilsgeschehen. Traditions- und religionsgeschichtliche Studien zur priesterschriftlichen Sühnetheologie (WMANT 55), Neukirchen-Vluyn 22000, 195ff.303ff.328ff.356f.

22

Bernd Janowski 19,1 + 24,15b–18a: Erscheinen des kebôd ÔJHWH auf dem Sinai

I. 19,1

Im dritten Monat nach dem Auszug der Israeliten aus Ägypten, an diesem Tag waren sie in die Wüste Sinai gekommen.

24,15b 16a@ aA b 17

Und die Wolke bedeckte den Berg, und die Herrlichkeit JHWHs ließ sich auf dem Berg Sinai nieder; und die Wolke bedeckte ihn sechs Tage lang. Und er (JHWH) rief Mose am siebten Tag mitten aus der Wolke, Während die Erscheinung der Herrlichkeit JHWHs wie verzehrendes Feuer auf dem Gipfel des Berges vor den Augen der Israeliten war. Und Mose ging mitten in die Wolke hinein (und stieg auf den Berg hinauf).

18a

II. *25,1–39,43: Heiligtumsbau (Auftrag + Ausführung) Anordnung + Ankündigung 25,8a b 9a

Sie sollen mir ein Heiligtum errichten, und ich werde in ihrer Mitte wohnen. Entsprechend allem, was ich dir zeigen werde: dem Modell der Wohnstätte und dem Modell all ihrer Geräte, so sollt ihr es machen!

b 29,43 44a b 45a b 46a@A aF b

Dort werde ich den Israeliten begegnen und ‹mich als heilig erweisen› in meiner Herrlichkeit: ich werde das Begegnungszelt und den Altar heiligen und Aaron und seine Söhne werde ich heiligen, dass sie mir als Priester dienen. Und ich werde inmitten der Israeliten wohnen und ich werde ihnen Gott sein. Und sie werden erkennen, dass ich JHWH, ihr Gott bin, der sie aus dem Land Ägypten herausgeführt hat, um in ihrer Mitte zu wohnen. Ich bin JHWH, ihr Gott.

Ausführungsbericht + Billigung + Segnung 39,32b@ bA 43a@ aA b

Und die Israeliten taten (es). Entsprechend allem, was JHWH befohlen hatte, so taten sie. Und Mose sah das ganze Werk an, und siehe: sie hatten es gemacht. Wie JHWH befohlen hatte, so hatten sie es gemacht. Und Mose segnete sie.

III: 40,17.34f: Gegenwart des kebôd JHWH auf dem Zeltheiligtum 40,17 40,34a b 35a@ aA b

Und es geschah im ersten Monat, im zweiten Jahr, am ersten des Monats: aufgerichtet wurde/war die Wohnstätte. Und die Wolke bedeckte das Begegnungszelt, und die Herrlichkeit JHWHs erfüllte die Wohnstätte. Und Mose konnte nicht in das Begegnungszelt hineingehen, denn die Wolke ließ sich auf ihm (dem Begegnungszelt) nieder, und die Herrlichkeit JHWHs erfüllte die Wohnstätte.

Einwohnung Gottes in Israel

23

Während die ØJU-Aussagen Ex 24,16 und Ex 40,35 jeweils in den Rahmenstücken Ex 19,1 + 24,15b–18a@ (Gegenwart der JHWH-Herrlichkeit auf dem Sinai) und Ex 40,17 + 40,34f (Gegenwart der JHWH-Herrlichkeit auf dem Begegnungszelt) begegnen, gehören Ex 25,8 und Ex 29,45f zum Mittelstück (Ex 25,1–39,43: Heiligtumsbau) der priesterlichen Sinaigeschichte. Hier wiederum bildet die JHWH-Rede Ex 29,43–46 den sachlichen Höhepunkt:74 43a b 44a b 45a b 46aA aF b



Dort werde ich den Israeliten begegnen und ‹mich als heilig erweisen› 75 in meiner Herrlichkeit: Ich werde das Begegnungszelt und den Altar heiligen und Aaron und seine Söhne werde ich heiligen, dass sie mir als Priester dienen. Und ich werde inmitten der Israeliten wohnen (ØJU) und ich werde ihnen Gott sein. BF Und sie werden erkennen, dass ich JHWH, ihr Gott, bin, EF,SF der sie aus dem Land Ägypten herausgeführt hat, HF um in ihrer Mitte zu wohnen (ØJU). Ich bin JHWH, ihr Gott. SF

Diese JHWH-Rede stellt „eine pointierte Zusammenfassung der Gedanken von P über den Sinn des gesamten Heiligtums samt seiner Priesterschaft dar“76. Denn dieses Zeltheiligtum, dessen himmlisches „Modell, Urbild“ (SXM(A 3) Mose auf dem Sinai gezeigt wird (Ex 24,15b–18a@) und dessen Bauanweisungen Ex 26 detailliert entfaltet, ist nach Pg der irdische Ort, an dem JHWH inmitten seines Volkes „wohnen“ (Ex 24,8) oder – wie Ex 29,43–46 formuliert – an dem er den Israeliten „begegnen“, ihnen „sich offenbaren“ (V.43) will. Dabei führt in Ex 29,43–46 die thematische Linie vom C: MÔ „begegnen, sich offenbaren“ (V.43) über das U#$PH „heiligen“ (V.44) zu den ØJU-Aussagen in V.45a und V.46aF, denen mit ihren formelhaften Wendungen (eingliedrige Bundesformel, Erkenntnisformel, Selbst74

Auflösung der Siglen: BF = Bundesformel, EF = Erkenntnisformel, HF = Herausführungsformel, SF = Selbstvorstellungsformel. 75 Oder: „so dass es (sc. das Heiligtum)/sie (sc. die Wohnstätte) heilig wird durch meine Herrlichkeit“(?). R. ALBERTZ, Ex 33,7–11. ein Schlüsseltext für die Rekonstruktion der Redaktionsgeschichte des Pentateuch, BN 149 (2011) 13–43: 27 mit Anm. 58 behält MT bei und übersetzt: „so dass er (sc. der Eingang des Begegnungszeltes) heilig wird durch meine Herrlichkeit“. Ob sich allerdings das „dort“ von V.43a auf den „Eingang (des Begegnungszeltes)“ und nicht eher auf das „Heiligtum“ bzw. die „Wohnstätte“ (Ex 25,8f) oder das „Begegnungszelt“ (Ex 29,42) bezieht, dürfte mit der Frage nach der Zugehörigkeit von V.42 zu V.43–46 zusammenhängen, s. dazu R. ROTHENBUSCH, Zur Ausgestaltung der Sinaiperikope durch die Priesterliche Gebotsmitteilung, in: E. Gaß (Hg.), „Ich werde meinen Bund mit euch niemals brechen!“ (Ri 2,1) (FS W. Groß) (Herdes Biblische Studien 62), Freiburg u.a. 2011, 3–28:16 Anm. 56, der V.42 zu V.43–46 zieht. 76 K. KOCH, Die Priesterschrift von Exodus 25 bis Leviticus 16. Eine überlieferungsgeschichtliche und literarkritische Untersuchung (FRLANT 71), Göttingen 1959, 31.

24

Bernd Janowski

vorstellungsformel, Herausführungsformel) eine rahmende Funktion zukommt. Mit diesem Stilmittel hat die Priesterschrift erreicht, dass nicht das Wohnen Jahwes in Israel als solches, „sondern – und damit wird das Wohnen Jahwes auf seinen tiefsten Bedeutungsgehalt zurückgeführt – die Vorstellung von Jahwe als dem Gott Israels die eigentliche Sinnspitze von Ex 29,45f bildet“77. Schlägt man von dieser Sinnmitte der priesterlichen Sinaigeschichte einen Bogen zu der die Sinaitheophanie abschließenden Darstellung in Ex 40,17.34f,78 so wird deutlich, dass mit dieser „Besitzergreifung“ des Heiligtums durch die JHWH-Herrlichkeit das auf dem Sinai begonnene Geschehen der Gott-Mensch-Begegnung (Ex 24,15b–18a@) zu seinem (vorläufigen) Abschluss kommt: Indem die „Herrlichkeit JHWHs“ ihren Erscheinungsort vom Sinai zum fertiggestellten „Begegnungszelt“ (C:D LÔKG @N) verlagert, repräsentiert dieses von nun an – gleichsam als der „Sinai auf der Wanderung“ (B. Jacob)79 – den Ort der Offenbarungsgegenwart JHWHs in Israel. Über diese Zusammenhänge hinaus ist noch die schöpfungstheologische Dimension der priesterlichen Sinaigeschichte zu beachten. Diese Dimension zeigt sich vor allem an der strukturellen Entsprechung zwischen der priesterlichen Schöpfungsgeschichte (Gen 1,1–2,4a) und der priesterlichen Sinaigeschichte (Ex 16,1–40,35), die jeweils von einem Sieben-TageSchema geprägt sind (Gen 1,3–31: 6 Tage/Gen 2,2f: 7. Tag bzw. Ex 24,15b–18a@: 6 Tage →7. Tag):80 Schöpfung Gen 1,*3–31 sechs Schöpfungstage

77

Sinai Ex 24,16aA Und die Wolke bedeckte ihn (sc. den Sinai) sechs Tage lang

P. WEIMAR, Untersuchungen zur priesterschriftlichen Exodusgeschichte (FzB 9), Würzburg 1973, 135, vgl. DERS., Die Meerwundererzählung. Eine redaktionskritische Analyse von Ex 13,17-14,31 (ÄAT 9), Wiesbaden 1985, 227f und M. GÖRG, Art. C:X, ThWAT 3 (1982) 697–706: 706. 78 Vgl. J ANOWSKI, Tempel und Schöpfung, 224ff. 79 Zur Formulierung vgl. B. J ACOB, Das Buch Exodus. Herausgegeben im Auftrag des Leo Baeck Instituts von Sh. Mayer unter Mitwirkung von J. Hahn und A. Jürgensen, Stuttgart 1997, 1032, ferner M. GÖRG, Das Zelt der Begegnung. Untersuchung der sakralen Zelttraditionen Altisraels (BBB 27), Bonn 1967, 74. 80 Vgl. J ANOWSKI, Tempel und Schöpfung, 223ff und WEIMAR, Sinai und Schöpfung, 297ff, ferner A. SCHÜLE, Der Prolog der Hebräischen Bibel. Der literar- und theologiegeschichtliche Diskurs der Urgeschichte (Genesis 1–11) (ZBK.AT 1/1), Zürich 2006, 79ff; F. HARTENSTEIN, Der Sabbat als Zeichen und heilige Zeit. Zur Theologie des Ruhetages im Alten Testament, JBTh 18 (2004) 103–131: 119ff; F. B ARK, Ein Heiligtum im Kopf des Lesers. Literaturanalytische Betrachtungen zu Ex 25–40 (SBS 128), Stuttgart 2009, 74ff; A. GRUND, Die Entstehung des Sabbats. Seine Bedeutung für Israels Zeitkonzept und Erinnerungskultur (FAT 1/75), Tübingen 2011, 257ff u.a.

Einwohnung Gottes in Israel Gen 2,2 Und Gott vollendete am siebten Tag seine Arbeit, die er getan hatte, und er hörte am siebten Tag mit all seiner Arbeit auf, die er getan hatte

25

Ex 24,16b@ Und er (sc. JHWH) rief Mose am siebten Tag mitten aus der Wolke

Dieser Sachverhalt weist darauf hin, daß Ex 25,1–39,43 als der kompositorisch zentrale Abschnitt der priesterlichen Sinaigeschichte – der die Anweisungen zum Bau des Heiligtums (Ex 25,8a.9; 26,1–27,8) und die Ankündigung vom „Wohnen“ JHWHs inmitten der Israeliten (Ex 29,43–46, vgl. 25,8b) zum Thema hat – offenbar die Konkretisierung des Endes der priesterlichen Schöpfungsgeschichte sein will. Anders gesagt: das Wüstenheiligtum wird „universal kontextualisiert. Es wird Teil des Schöpfungsgeschehens.“81 So bedeutsam dieser Zusammenhang von Weltschöpfung und Heiligtumsbau am Sinai ist, so wenig lässt er sich auf die Formel bringen, dass am Sinai der Urzustand der Schöpfungswoche wiederhergestellt wird. Denn zwischen jener Welt des Anfangs und dem Geschehen am Sinai liegen die Flut und die Unterdrückung in Ägypten/die Ereignisse am Meer, aus der Noah und die Arche bzw. aus denen die Israeliten erst durch göttliches Eingreifen errettet wurden. Zwischen der Schöpfung am Anfang und der Offenbarung am Sinai verläuft die Geschichte Israels deshalb nicht einfach linear, sondern wird mehrfach gebrochen und jeweils durch das rettende Eingreifen JHWHs weitergeführt, indem dieser „auf die „Störungen“ der guten Schöpfung durch seine Geschöpfe, zumal durch die Menschen“82 reagiert – und zwar durch eine Art Schöpfungshandeln, das den Brüchen des Geschichtsverlaufs das Schöpfungswidrige nimmt und so jeweils einen Neuanfang setzt. Diesen Neuanfang fasst die priesterliche Sinaiperikope in die Metapher vom „Wohnen“ (ØJU) des Schöpfergottes inmitten der Israeliten (Ex 25,8; 29,45f)83 und bringt damit zum Ausdruck, dass die in der Schöpfung grundgelegte Hinwendung Gottes zu Welt und Mensch am Sinai ihr Ziel erreicht, und zwar als Gemeinschaft des Schöpfers mit seinem Volk. So wird mit dem siebten Tag von Ex 24,*15b–18a (+ 25,*1ff) nicht nur der bisherige Geschichtsverlauf zwischen Schöpfung und Sinai „vollendet“, sondern ein Prozess eingeleitet, der auf die Verwandlung der Welt als Raum konkret erfahrbarer Gottesnähe zielt. Diese schöpfungstheologische Dimension der Sinaigeschichte ist das Proprium der priesterlichen Geschichtsdarstellung. 81

B ARK, Heiligtum, 77. E. B LUM , Studien zur Komposition des Pentateuch (BZAW 189), Berlin/New York 1990, 261; vgl. J ANOWSKI, Tempel und Schöpfung, 242f. 83 Vgl. J ANOWSKI, Tempel und Schöpfung, 228ff.243f und W EIMAR, Sinai und Schöpfung, 287ff. 82

26

Bernd Janowski

Wieder einen Schritt weiter führt demgegenüber die Schekina-Theologie der persischen Zeit, die JHWHs Rückkehr zum Zion mit seinem Wohnen „in der Mitte Jerusalems“ verbindet. Dafür kommen neben dem dritten Nachtgesicht Sach 2,5–9 vor allem das Heilswort Sach 2,14f und das Prophetenwort Sach 8,3 in Frage:84 5

Und ich hob meine Augen auf und ich sah: Siehe, (da war) ein Mann. Und in seiner Hand war eine Messschnur. Und ich sprach: „Wohin gehst du?“ Und er sprach: „Jerusalem auszumessen, zu sehen, wie (groß) seine Breite und seine Länge ist.“ Und siehe, der Engel, der mit mir redete, trat auf. Und ein anderer Engel trat ihm entgegen. Und er sprach zu ihm: „Lauf! Sprich zu diesem jungen Mann: Offen soll Jerusalem bleiben vor Menge an Menschen und Vieh in seiner Mitte. Ich aber, ich werde für es sein – Spruch JHWHs – eine Mauer aus Feuer ringsum. Und als Herrlichkeit werde ich in seiner Mitte sein.“ (Sach 2,5–9)

6

7 8

9

14

Juble und freue dich, Tochter Zion! Denn siehe, ich komme und wohne (ØJU) in deiner Mitte, spricht JHWH. Und es werden sich versammeln viele Völker zu JHWH an jenem Tag und sie werden mein Volk sein: Ich werde wohnen (ØJU) in deiner Mitte, und du wirst erkennen, daß JHWH Zebaoth mich zu dir gesandt hat. (Sach 2,14f)

15

So sprach JHWH: „Ich kehre zurück zum Zion und werde wohnen (ØJU) inmitten Jerusalems. Und Jerusalem wird ‚Stadt der Treue‘ genannt und der Berg JHWH Zebaoths ‚Berg des Heiligtums‘.“ (Sach 8,3)

Das ist eine neue „Theologie der Stadt“, die eine Kombination der tempelorientierten Schekina-Theologie der vorexilischen Zeit mit der israelorientierten Schekina-Theologie der Exilszeit darstellt. Im „neuen Jerusalem“ wird JHWHs Herrlichkeit nicht mehr exklusiv an den Zion/Tempel gebunden, sondern seinen Bewohnern unmittelbar und immer sichtbar sein (vgl. Sach 2,8f).

84

Vgl. den Beitrag von R. Lux in diesem Band.

Einwohnung Gottes in Israel

27

2.2.2.2 „In Jakob nimm Wohnung!“ (Sir 24,8) In der hellenistischen Zeit vollzieht sich abermals eine Transformation, wenn die spätnachexilische Weisheitstheologie – Schöpfungskonzeptionen der (spät-)persischen Zeit aufnehmend (Hi 28,20–28; Prov 8,22–31) – die Frage nach dem „Ort“ der Weisheit in der Welt stellt und über die mediatrix Dei-Vorstellung von Hi 28 und Prov 8 hinausgehend offenbarungstheologisch beantwortet: Nach dem Willen des Schöpfers soll die Weisheit als göttliche Schekina in Jakob Wohnung nehmen und in Israel ihren Erbbesitz erhalten (Sir 24,7f.9–12). Die Versuche, die 51 Kapitel des Sirachbuchs zu gliedern, haben bislang noch nicht zu einem konsensfähigen Ergebnis geführt. Nach J. Marböck85 etwa weisen mehrere Indizien auf eine Struktur mit drei Teilen (1,1–23,27/28; 24,1–42,14; 42,15–51,30) und einem Rahmen (1,1–2,18 und 51,1–30) hin. Das Selbstlob der Weisheit in Sir 24 bildet diesem Vorschlag zufolge den Abschluss des ersten, mit dem programmatischen Weisheitsgedicht 1,1–10 einsetzenden Teils und zugleich, wie 24,32–34 zeigen, den Übergang zum zweiten Teil. „So steht“, wie G. Sauer formuliert, „wie ein tragendes Gerüst die Aussage über die Weisheit am Anfang, in der Mitte und am Ende des Buches“86. Auch nach O. Kaiser, der einen anderen Aufbau zugrundelegt,87 markiert Sir 24 die Mitte des Buchs, das seines Erachtens aber in zwei Hauptteile (Lehren Ben Siras: 1,1–43,33; Lob der Väter: 44,1–50,24) samt Prolog und Schluss (50,25–51,30) gegliedert ist.

Die erste größere Einheit von Sir 24 umfasst als Ich-Rede der Weisheit die V.1–22, auf die in V.23–34 das Schlußwort des Weisen, d.h. des Siraziden, folgt. Die Ich-Rede der Weisheit setzt nach einer Ankündigung ihres Selbstlobs (V.1f) mit der Beschreibung ihres Ausgangs aus dem Mund des Höchsten ein (V.3–8), schildert danach ihre intensive Suche nach einem Ruheort (V.9–12) und lädt nach einer Darstellung ihres Wachstums (V.13– 18) die Menschen dazu ein, von ihren Früchten zu genießen (V.19–22): I.

Selbstlob der Weisheit

1–2 3–8 9–12 13–18 19–22

Ankündigung Weg durch die Schöpfung und Einwohnung in Jakob/Israel Einsetzung auf Zion und Verwurzelung im Volk Israel Bilder vom Wachstum und von den Früchten der Weisheit Einladung an die Menschen zur Annahme der Weisheit

85 Vgl. J. MARBÖCK, Weisheit im Wandel. Untersuchungen zur Weisheitstheologie bei Ben Sira (BZAW 272), Berlin/New York 1999, 41ff, vgl. DERS., Gottes Weisheit unter uns. Zur Theologie des Buches Sirach (HBS 6), Freiburg u.a. 1995, 73–87: 77 und DERS., Das Buch Jesus Sirach, in: E. ZENGER u.a., Einleitung in das Alte Testament (KStTh 1,1), Stuttgart 72008, 408–416: 409ff. 86 G. SAUER, Jesus Sirach/Ben Sira (ATD Apokryphen I), Göttingen 2000, 35, vgl. 179. 87 Vgl. dazu O. KAISER, Weisheit für das Leben. Das Buch Jesus Sirach übersetzt und eingeleitet, Stuttgart 2005, 130f.

28 II.

Bernd Janowski Schlußwort des Weisen

23–29 Identifikation von Weisheit und Tora88 30–34 Autobiographische Notiz

Der Text, der im Folgenden im Zentrum steht (V.1–12), schildert nach einer Ankündigung ihres Selbstlobs (V.1f) den Weg der Weisheit – die von Anfang an in einem personalen Verhältnis zu Gott steht (V.3f)89 – durch den Kosmos und die Menschenwelt (V.5–7) bis zu ihrer Einwohnung in Jakob/Israel (V.8), wo sie im heiligen Zelt auf dem Zion Dienst tut und endgültig Wurzeln im Volk Israel schlägt (V.9–12): I.

Ankündigung

1

Die Weisheit lobt sich selbst, und inmitten ihres Volkes rühmt sie sich. In der Versammlung des Höchsten öffnet sie ihren Mund, und vor seiner Macht rühmt sie sich:

2 II.

Weg der Weisheit durch die Schöpfung

3

„Ich ging aus dem Mund des Höchsten hervor und wie ein Nebel bedeckte ich die Erde. Ich nahm Wohnung in den Höhen, und mein Thron stand auf einer Wolkensäule. Den Kreis des Himmels umschritt ich allein, und in der Tiefe der Abgründe wandelte ich umher. Über die Wogen des Meeres und über die ganze Erde, und über jedes Volk und jede Nation herrschte ich. Bei allen diesen (sc. Völkern) suchte ich Ruhe und in wessen Erbteil ich weilen könnte. Da befahl mir der Schöpfer des Alls, und der, der mich erschaffen, stellte mein Zelt hin, und sprach: ‚In Jakob nimm Wohnung und in Israel nimm Erbbesitz!‘

4 5 6 7 8

„aus dem Mund des Höchsten ...“

Ziel: Einwohnung in Israel

„in Jakob/ in Israel ...“

88 Vgl. dazu A. GRUND, „Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes“. Psalm 19 im Kontext der nachexilischen Toraweisheit (WMANT 103), Neukirchen-Vluyn 348ff. 89 Zur „Personifizierung“ der Weisheit vgl. H. GESE, Die Weisheit, der Menschensohn und die Ursprünge der Christologie als konsequente Entfaltung der biblischen Theologie, in: DERS., Alttestamentliche Studien, Tübingen 1991, 218–248: 223f; H. VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament (WMANT 64), Neukirchen-Vluyn 1990, 153ff und M. LEUENBERGER, Die personifizierte Weisheit vorweltlichen Ursprungs von Hi 28 bis Joh 1. Ein traditionsgeschichtlicher Strang zwischen den Testamenten, in: DERS., Gott, 279–312, zur Abgrenzung vom Begriff „Hypostasierung“ s. H. FRANKEMÖLLE , Frühjudentum und Urchristentum. Vorgeschichte, Verlauf, Auswirkungen. 4. Jahrhundert v.Chr. bis 4. Jahrhundert n.Chr., Stuttgart 2006, 151.173ff.

29

Einwohnung Gottes in Israel III.

Wirken der Weisheit in der Geschichte

9

Von Ewigkeit her, am Anfang, erschuf er mich, und bis in Ewigkeit vergehe ich nicht. Im heiligen Zelt tat ich vor ihm Dienst, und so wurde ich auf Zion fest eingesetzt. In der Stadt, die er gleicherweise liebt, ließ er mich ruhen und in Jerusalem ist mein Machtbereich. Und ich schlug Wurzeln in einem Volk, dem Herrlichkeit verliehen ward, im Anteil des Herrn, in seinem Erbbesitz.“

10 11 12

„von Ewigkeit her“

Ziel: Verwurzelung in Israel

„in einem Volk“

Während V.3–8 durch Verben der Bewegung – „hervorgehen“/„umkreisen, umschreiten“/„umherwandeln“/„Ruhe suchen“ – charakterisiert ist, so V.9–12 durch Verben der Ruhe und des Feststehens: „(ständig) Dienst tun“/„fest eingesetzt werden“/„ruhen lassen“/„Wurzeln schlagen“.90 An der Grenze zwischen diesen beiden Seinsweisen der Weisheit – ihrem Weg durch die Schöpfung auf der Suche nach einem Ruheplatz (V.3–7) und ihrem Wirken in der Geschichte an einem konkreten Ort (V.9–12) – wird mit V.8 der entscheidende Hinweis darauf gegeben, dass die Bewegung der Weisheit zur Ruhe kommt (vgl. V.7), indem der Schöpfer ihr „Zelt“ (RJGMG ≅ KG @N/Ø*U LH)91 an einen bestimmten Ort hinstellt und deklariert: „In Jakob nimm Wohnung und in Israel nimm Erbbesitz!“ Diese Anordnung, die nicht nur die Klimax von V.3–8, sondern auch die Spitzenaussage des gesamten Kapitels darstellt, lässt sich als Sapientalisierung der alttestamentlichen Schekina-Theologie verstehen. Theologiegeschichtlich gehört Sir 24 in den Zusammenhang einer Traditionsströmung des alten Israel,92 die man als „Theologisierung der Weisheit“93 bezeichnen kann und die in Prov 8,22–31 einen ihrer frühen Referenztexte (4. Jh. v.Chr.) hat. Im Unterschied zur alten Weisheit und ihrem im Tun-Ergehen-Zusammenhang94 prägnant zum Ausdruck kommenden praktischen Lebenswissen geht die jüngere, theologisierte Weisheit davon aus, dass die Weisheit der Schöpfung eingestiftet ist und als Gabe des Schöpfers um Annahme durch die Menschen wirbt. Diese Verbindung bzw. Identifizierung von

90

Vgl. MARBÖCK, Gottes Weisheit, 78. A.a.O. 80. 92 Zum Ausdruck „Traditionströmung“ vgl. STECK, Strömungen, 291ff. 93 Vgl. dazu den Überblick bei O. KEEL/S. SCHROER, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Göttingen 2002, 226ff; E. ZENGER, Eigenart und Bedeutung der Weisheit Israels, in: DERS. u.a., Einleitung, 329–334: 331f; M. W ITTE, Schriften (Ketubim), in: J.Ch. Gertz (Hg.), Grundinformation Altes Testament (UTB 2745), Göttingen 32009, 413–534: 449, und FRANKEMÖLLE, Frühjudentum, 150f.179ff. 94 Vgl. B. J ANOWSKI, Art. Vergeltung, RGG4 8 (2005) 1000; M. RÖSEL, Art. TunErgehen-Zusammenhang, NBL 3 (2001) 931–934, und A. GRUND, Art. Tun-ErgehensZusammenhang, RGG4 8 (2005) 654–656. 91

30

Bernd Janowski

Weisheit und Offenbarung/Tora ist das Charakteristikum der Selbstvorstellungsrede der Weisheit in Prov 8, die in V.22–3195 in Aussagen über ihre kosmische Bedeutung gipfelt: Thema: Vorgeschöpflichkeit der Weisheit 22 23

JHWH schuf mich als Anfang seines Weges, als erstes seiner Werke, damals, von uralters her wurde ich gewebt, von Anfang, von den Vorzeiten der Erde an.

I.

Erschaffung der Weisheit

24

Als es noch keine Fluten gab, wurde ich geboren, als es noch keine Quellplätze schwer von Wasser gab, bevor die Berge eingesenkt wurden, vor den Hügeln wurde ich geboren, als er Erdreich und Fluren noch nicht gemacht hatte und die frühesten Staubschichten des Erdkreises.

25 26

II.

Schöpfungshandeln JHWHs

27

Als er den Himmel festsetzte, war ich dort, als er den Kreis auf der Oberfläche der Flut einritzte, als er die Wolken oben stärkte, als die Quellen der Flut stark wurden, als er dem Meer seine Grenze setzte, so dass die Wasser seinen Befehl nicht überschreiten können, als er die Grundfesten der Erde anordnete,

28 29

chiastische Struktur: Formulierungen mit SXUH@QD und temporalem ØLH „von her/ weg“

Vorzeitigkeit der Weisheit: ØX@D! /]Q I ! -Formulierungen

Gleichzeitigkeit der Weisheit: Inf.cs. + ! -Formulierungen

Schluß: Spielende Weisheit 30

31

da war ich neben ihm als Pflege-/Schoßkind,96 und ich war Entzücken Tag für Tag, spielend vor ihm zu jeder Zeit, spielend auf dem Kreis seiner Erde, und mein Entzücken war bei den Menschen.

chiastische Struktur: „Entzücken“ der Weisheit vor Gott und bei den Menschen

Die präexistente Weisheit (V.22f), deren Vorzeitigkeit vor aller Schöpfung in V.24–26 mit Hilfe von „als noch nicht“/„(be-)vor“-Wendungen und deren Gleichzeitigkeit mit der 95 Vgl. dazu GESE, Weisheit, 224ff; A. MEINHOLD, Die Sprüche, Teil 1: Sprüche Kapitel 1–15 (ZBK.AT 16/1), Zürich 1991, 143ff; G. B AUMANN, Die Weisheitsgestalt in Proverbien 1–9. Traditionsgeschichtliche und theologische Studien (FAT 1/16), Tübingen 1996, 111ff u.a. 96 Vgl. GESE, Weisheit, 226: „da war ich bei ihm auf dem Schoß“, zu Ø L@ s. noch MEINHOLD, Die Sprüche, 134; B AUMANN, Die Weisheitsgestalt in Proverbien 1–9, 131ff. KEEL/SCHROER, Schöpfung, 220f („Expertin“); LEUENBERGER, Weisheit, 293f u.a. Mit einer „Infantilisierung der Frau“ (KEEL/SCHROER, Schöpfung, 221) hat die Übersetzung „Pflegekind/Schoßkind“ m.E. nichts zu tun.

31

Einwohnung Gottes in Israel

geschaffenen Welt durch „als“-Formulierungen ausgedrückt wird, erscheint nach V.30f als mediatrix Dei, d.h. als eine personale Gestalt, in der sich Gott an die Welt vermittelt und – gemäß der chiastischen Struktur von V.30ab–3197 – diese ihr Entzücken an der Schöpfungsweisheit hat: „In der Schöpfungsordnung vermittelt sich Gott an die Welt, und in der Erkenntnis der Weisheit kommt diese Vermittlung zum Ziel. ... Die Sophia erscheint als mediatrix Dei. Jede Erkenntnis der Sophia auf seiten des Menschen führt zur Teilnahme an Gott. In ihr erschließt sich Gott dem erkennenden und denkenden Menschen. In der Welt ist der Mensch nicht absolut von Gott getrennt, sondern in der Erkenntnis der Schöpfungsordnung nimmt er teil am Werk der Schöpfung und ist der Welt nicht nur dumpf und bewußtlos unterworfen.“98

Wenn wir von hier aus zum Sirachtext zurückkehren, so lässt sich beobachten, dass Sir 24,3–12 an bestimmte Aspekte von Prov 8,22–31 (und Hi 28,20–28) anknüpft,99 im Übrigen aber darüber hinausgeht. Die größte Differenz besteht in der Verbindung von Schöpfung und Geschichte in Sir 24,3–12 (V.3–8/V.9–12) gegenüber der Vermittlung der Weisheit an die Menschen ohne Zuspitzung auf Israel in Prov 8,30f.100 Diese interpretatio israelitica der Schöpfungsweisheit geht deutlich aus Sir 24,3–8 hervor, wo sich der Weg der Weisheit von der Totalität der Schöpfung (V.5–6a) über alle Menschen (V.6b.7) auf Jakob/Israel (V.8) einengt:101 3 4 5 6

97

„Ich ging aus dem Mund des Höchsten hervor und wie ein Nebel bedeckte ich die Erde. Ich nahm Wohnung in den Höhen, und mein Thron stand auf einer Wolkensäule.

Ursprung: Mund des Höchsten

Den Kreis des Himmels umschritt ich allein, und in der Tiefe der Abgründe wandelte ich umher. Über die Wogen des Meeres und über die ganze Erde, und über jedes Volk und jede Nation herrschte ich.

Weg: ganzer Kosmos/ alle Völker

Vgl. MEINHOLD, Die Sprüche, 147. GESE, Weisheit, 226. 99 Und zwar besonders im Blick auf die Vorgeschöpflichkeit der Weisheit (Prov 8,22f.24–26/Sir 24,3f.9) und auf ihre Anwesenheit bei der Schöpfung (Prov 8,27–29/Sir 24,5f), s. dazu auch P.W. SKEHAN, Structures in Poems on Wisdom: Proverbs 8 and Sirach 24, CBQ 41 (1979) 365–379; M ARBÖCK, Weisheit im Wandel, 55f.61; DERS., Gottes Weisheit, 79 u.a. Nach O. R ICKENBACHER, Weisheitsperikopen bei Ben Sira (OBO 1), Freiburg (CH)/Göttingen 1973, 121 fehlen von Sir 24,8 an alle Parallelen zu Prov 8. Zum Vergleich zwischen Hi 28 und Prov 8,22ff s. GESE, Weisheit, 223ff und die Beiträge bei E. VAN W OLDE, Job 28. Cognition in Context (Biblical Interpretation Series 64), Leiden/Boston 2003. 100 Vgl. MARBÖCK, Weisheit im Wandel, 56. 101 Zur Theologie der „Gegenwart Gottes“ in Sir 24 vgl. a.a.O. 46; DERS., Gottes Weisheit, 78; M. GILBERT, L'éloge de la Sagesse (Siracide 24), RTL 5 (1974) 326–348: 348; S. TERRIEN, The The Play of Wisdom. Turning Point in Biblical Theology, HBT 3 (1981) 125–153: 139f und GESE, Johannesprolog, 182f. 98

32

Bernd Janowski

7

Bei allen diesen (sc. Völkern) suchte ich Ruhe und in wessen Erbteil ich weilen könnte.

vergebliche Suche nach einem Ruheort

8

Da befahl mir der Schöpfer des Alls, und der, der mich erschaffen, stellte mein Zelt hin, und sprach: ‚In Jakob nimm Wohnung und in Israel nimm Erbbesitz!‘“

Ziel: Einwohnung in Jakob/Israel → Inclusio V.12

Der Weg der Weisheit aus der unmittelbaren Nähe Gottes (V.3f) zu einem konkreten irdischen Ort (V.8)102 bildet das geheimnisvolle Zusammenspiel von Transzendenz (Hervorgehen aus dem Mund Gottes) und Immanenz (Einwohnung in Jakob/Israel) und damit die Kondenszendenz der göttlichen Weisheit ab. Dieser Weg beginnt – der Struktur von Gen 1,1–2,4a (V.3–5!) und Ps 104 (V.1–4!) entsprechend103 – „oben“, d.h. „in den Höhen“//„auf einer Wolkensäule“ (V.4),104 wo die Weisheit zuerst „Wohnung nimmt“ (J@S@RJGMNTMÉ ≅ ØJU, vgl. V.8b), um von dort aus in vertikaler Richtung (Komposita mit J@S@-) den Weg über den Horizont („Kreis des Himmels“) nach ‚unten‘ bis zum Abyssos („Tiefe der Abgründe“) und weiter in horizontaler Richtung bis zu allen Völkern der Erde zu nehmen (V.5–6a/V.6b). Und er kommt schließlich, weil die „Ruhe“ (@UM@ O@TRHIÉ ≅ GW6ML ) bei keinem dieser Völker gefunden wird (V.7),105 an einem Ort 102

Zu V.3–8 als Stanze, die durch den Aspekt der Bewegung (V.3: „aus dem Mund des Höchsten ...“) → V.8: „in Jakob/Israel ...“) zusammengehalten wird, vgl. auch G ILBERT, L'éloge de la Sagesse (Siracide 24), 330f. 103 Zum Vergleich zwischen Ps 104 und Sir 24 s. F.-L. HOSSFELD, Schöpfungsfrömmigkeit in Ps 104 und bei Jesus Sirach, in: I. Fischer u.a. (Hg.), Auf den Spuren der schriftgelehrten Weisen (FS J. Marböck) (BZAW 331), Berlin/New York 2003, 129–138: 132. 104 Unter Hinweis auf Sir 24,9 („vor aller Zeit“); Ex 25,8–10 und 26,30 fragt MARBÖCK, Gottes Weisheit, 79 mit Anm. 21 m.E. zu Recht, ob „vielleicht sogar angedeutet (ist), daß sie (sc. die Weisheit) im himmlischen Modell des Heiligtums gewohnt hat, das in Zelt und Tempel in Israel Wirklichkeit wird“, s. dazu im folgenden. 105 Vgl. 1Hen 42,1–3, wo die Weisheit allerdings wieder an ihren himmlischen Ort zurückkehrt, weil sie keinen Ort in der Welt findet (vgl. 1Hen 84,3: die Weisheit als Thronbeisitzerin Gottes): „(1) Die Weisheit fand keinen Platz, wo sie wohnen konnte, da hatte sie eine Wohnung in den Himmeln. (2) Die Weisheit ging aus, um unter den Menschenkindern zu wohnen, und sie fand keine Wohnung; die Weisheit kehrte an ihren Ort zurück und nahm ihren Sitz unter den Engeln. (3) Und die Ungerechtigkeit kam hervor aus ihren Kammern: die sie nicht suchte, fand sie, und wohnte unter ihnen, wie der Regen in der Wüste und wie der Tau auf dem durstigen Land“ (Übersetzung S. UHLIG, JSHRZ 5 [2003] 584), s. dazu auch GESE, Weisheit, 231; K. LÖNING/E. ZENGER, Als Anfang schuf Gott. Biblische Schöpfungstheologien, Düsseldorf 1997, 107ff (K. Löning) und LEUENBERGER, Weisheit, 304ff. Zur Figur der „entschwundenen“ Weisheit s. noch 4Esr 5,9f und 2Bar 48,36. Die Aussage vom Erscheinen der Weisheit auf Erden und ihrem Aufenthalt unter den Menschen in Bar 3,38 dürfte ein frühchristlicher Zusatz sein, s. dazu G. SCHIMANOWSKI, Weisheit und Messias. Die jüdischen Voraussetzungen der urchristlichen Präexistenzchristologie (WUNT 17), Tübingen 1985, 63f und O.H. STECK

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Einwohnung Gottes in Israel

zum Ziel, der aufgrund des Zusatzes „in Jakob//in Israel“ das Spezifikum dieser Traditionsbildung ausmacht, insofern er gegenüber Prov 8,30f (vgl. „bei den Menschen“ V.31b) die Korrelation von Weltschöpfung und Israelgeschichte106 ins Zentrum rückt. „Damit ist bei Ben Sira und im Weisheitsdenken Israels überhaupt zum ersten Mal der Schritt auf eine Lokalisierung und Eingrenzung der eben noch universal waltenden Weisheit hin getan.“107 Die präexistente Weisheit (V.9) ist jetzt im „heiligen Zelt“ auf dem Zion wirksam, wo sie dem Höchsten dient und so zu ihrer „Ruhe“ kommt (V.10f). Abschließend werden die Themen von V.7f (Israel als Volk Gottes, Erbbesitz) durch die inclusio von V.12 wieder aufgegriffen: 9

„Von Ewigkeit her, am Anfang, erschuf er mich, und bis in Ewigkeit vergehe ich nicht.

Präexistenz und Ewigkeit → Sir 1,1.4

10

Im heiligen Zelt tat ich vor ihm Dienst, und so wurde ich auf Zion fest eingesetzt. In der Stadt, die er gleicherweise liebt, ließ er mich ruhen, und in Jerusalem ist mein Machtbereich.

Kult im Tempel und Ruhen in der Stadt Jerusalem

Und ich schlug Wurzeln in einem Volk, dem Herrlichkeit verliehen ward, im Anteil des Herrn, in seinem Erbbesitz.“

Verwurzelung in Israel → Inclusio V.7f

11

12

Als Hintergrund für diese neue Form der Schekina-Theologie kommt nicht nur die alttestamentliche PHQ»ʾƗK und QDʾDlƗh-Tradition von Dtn 12,9f; 25,19 und Ps 132,7f.14,108 sondern auch die priesterliche Schekina-Tradition in Frage, für die – ebenso wie für Sir 24,1–22 – der Zusammenhang von Schöpfung und Tempel konstitutiv ist.109 Damit stellt die Weisheitstheologie von Sir 24 „eine überaus kühne, umfassende Verbindung alttes-

u.a., Das Buch Baruch, Der Brief des Jeremia, Zusätze zu Ester und Daniel (ATD Apokryphen 5), Göttingen 1998, 53f (O.H. Steck). 106 Zur „Weisheit in der Geschichte Israel nach dem Siraziden“ vgl. den Exkurs bei MARBÖCK, Weisheit im Wandel, 68ff. 107 A.a.O. 62; GILBERT, L`éloge, 331 nennt den Weg der Weisheit V.3–8 treffend „un mouvement de descente et de concentration“. 108 Vgl. dazu GESE, Johannesprolog, 182f; DERS., Weisheit, 228; MARBÖCK, Weisheit im Wandel, 68ff; DERS., Gottes Weisheit, 80 und S CHOLTISSEK, Immanenz, 102. Zur dtn/dtr „Ruhe“-Konzeption s. G. BRAULIK, Zur deuteronomistischen Konzeption von Freiheit und Frieden, in: DERS., Studien zur Theologie des Deuteronomiums (SBAB 2), Stuttgart 1988, 219–230. 109 In diese Richtung gehen offensichtlich auch die Andeutungen bei MARBÖCK, Weisheit im Wandel, 64; DERS., Gottes Weisheit, 79f, vgl. GESE, Weisheit, 228.

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tamentlicher Traditionen“110 dar, die G.T. Sheppard als „hermeneutical construct“ bezeichnet hat.111 Das Selbstlob der Weisheit Sir 24,1–22, so können wir unsere Überlegungen zusammenfassen, stellt eine überaus kühne Synthese und zugleich Zuspitzung der vorexilischen und exilisch-nachexilischen Schekina-Theologie(en) dar, für die die Integration von Weltschöpfung und Heilsgeschichte, d.h. Gottes „Zuwendung zur Schöpfung – insbesondere zu Israel“112, charakteristisch ist. Mit diesem Konzept, das der im Hellenismus längst in Gang befindlichen, folgenreichen Diastase von Schöpfung und Offenbarung, von „geistiger Weltdurchdringung und transzendenter Offenbarung“113 entgegentritt,114 erreicht die alttestamentlich-frühjüdische Weisheitstheologie eine gedankliche Tiefe, die ihresgleichen sucht. Es ist darum alles andere als verwunderlich, dass gerade dieses Weisheitskonzept im Urchristentum aufgegriffen wird, um das Geheimnis der Inkarnation auszusagen. 2.3 Schekina und Inkarnation – zur johanneischen Christologie Auf der anderen Seite bildet Sir 24,1–22 eine traditionsgeschichtliche Brücke zu den johanneischen Immanenzaussagen115 und hier besonders zur Inkarnationschristologie des Johannesprologs: DUPD@R@ LDP@ÉSGMÉCN W@MÉ@TUSNTÉ CN W@MÉV?IÉLNMNFDMNTIÉO@Q@ÉO@SQN IÉ OKG QGIÉB@ QHSNIÉJ@HÉ@UKGPDH @IÉ „Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns,116 und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des Einziggeborenen vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.“ (Joh 1,14) 110

MARBÖCK, Gottes Weisheit, 85. Vgl. dazu G.T. SHEPPARD, Wisdom as a Hermeneutical Construct. A Study in the Sapientializing of the Old Testament (BZAW 151), Berlin/New York 1980, 12ff.159f. 112 MARBÖCK, Gottes Weisheit, 85. 113 GESE, Weisheit, 230. 114 Vgl. MARBÖCK, Gottes Weisheit, 86 und ausführlich O. KAISER, Anknüpfung und Widerspruch. Die Antwort der jüdischen Weisheit auf die Herausforderung durch den Hellenismus, in: J. Mehlhausen (Hg.), Pluralismus und Identität. Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 8, Gütersloh 1995, 54–69. 115 Vgl. SCHOLTISSEK, Immanenz, 102f. 116 Vgl. O. HOFIUS, Struktur und Gedankengang des Logos-Hymnus Joh 1,1–18, in: DERS./H.-CH. KAMMLER, Johannesstudien (WUNT 88), Tübingen 1996, 1–23: 22 mit Anm. 132 übersetzt ingressiv: „nahm Wohnung“; R. SCHWINDT, Gesichte der Herrlichkeit. Eine exegetisch-traditionsgeschichtliche Studie zur paulinischen und johanneischen Christologie (HBS 50), Freiburg u.a. 2007, 409 plädiert demgegenüber für ein Ineinander von ingressivem („nahm Wohnung“) und komplexivem („wohnte“) Bedeutungsaspekt. 111

Einwohnung Gottes in Israel

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Wie im Alten Testament die Vorstellung von der Einwohnung JHWHs auf dem Zion, unter den Israeliten oder in Jerusalem mit dem Leitverb ØJU ausgedrückt wird, so wird auch im Johannesprolog117 jene Bewegung des Logos von seinem Sein bei Gott/in der Schöpfung (1,1–3) hin zu seiner spezifischen Anwesenheit unter den Menschen als „wohnen/Wohnung nehmen“ (RJGMNTM ≅ ØJU)118 bezeichnet. Und wie im Alten Testament wird das, was die Gegenwart des göttlichen Logos kennzeichnet, als dessen „Herrlichkeit“ (CN W@ ≅ C A*) bestimmt. Diese Herrlichkeit „sehen“ die Wir und erkennen darin die Gegenwart des lebendigen Gottes, der sich in seinem Sohn inkarniert hat.119 Jesus, so schreibt der jüdische Religionsphilosoph M. Wyschogrod, „... diese Knechtsgestalt, dieser verachtete, gekreuzigte Jude, war nicht einfach Mensch, sondern in ihm konnte die Gegenwart Gottes entdeckt werden. Die Kirche hielt an diesem Glauben fest, weil sie an diesem Juden festhielt, an seinem Fleisch und nicht nur an seinem Geist, an seinem jüdischen Fleisch am Kreuz, an einem Fleisch, in dem Gott gegenwärtig war, inkarniert, die Welt des Menschen durchdringend, Mensch werdend“120.

Ob man die Menschwerdung des Logos im Sinne einer „Ersetzung“ des Tempels durch Christus oder als „Vollendung“ des alttestamentlichen Offenbarungsgeschehens versteht (für beide Deutungen gibt es prominente Vertreter) – festzuhalten bleibt, dass die Gegenwart Gottes im fleischgewordenen Logos ihre ursprüngliche Bindung an den Tempel/Kult, die das Kennzeichen der alttestamentlichen Schekina-Theologie ist, transzendiert

117 Zu den hier interessierenden Aussagen des Johannesprologs s. GESE, Johannesprolog, 152ff; DERS., Weisheit, 87ff; M. THEOBALD, Im Anfang war das Wort. Textlinguistische Studien zum Johannesprolog (SBS 106), Stuttgart 1983, 102ff; DERS., Gott, Logos und Pneuma. „Trinitarische“ Rede von Gott im Johannesevangelium, in: H.-J. Klauck (Hg.), Monotheismus und Christologie. Zur Gottesfrage im hellenistischen Judentum und im Urchristentum (QD 138), Freiburg u.a. 1992, 41–87: 79ff; D ERS., Das Evangelium nach Johannes Kap.1–12 (RNT), Regensburg 2009, 126ff; MARBÖCK, Gottes Weisheit, 86f; SCHIMANOWSKI, Weisheit, 53ff; H OFIUS, Struktur und Gedankengang des LogosHymnus Joh 1,1–18, ZNW 78 (1987) 1–25: 1ff; U.B. MÜLLER, Die Menschwerdung des Gottessohnes. Frühchristliche Inkarnationsvorstellungen und die Anfänge des Doketismus (SBS 140), Stuttgart 1990, 40ff; LÖNING/ZENGER, Anfang, 90ff (K. Löning); SCHOLTISSEK, Immanenz, 189ff; H. THYEN, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 2005, 88ff; W. P AROSCHI, Incarnation and Covenant in the Prologue to the Fourth Gospel (John 1:1–18) (EHS.T 820), Frankfurt a.M. 2006, 111f; SCHWINDT, Gesichte der Herrlichkeit, 397ff u.a. 118 Vgl. dazu W. MICHAELIS, Art. RJGMN V, ThWNT 7 (1964) 386–388; J.-A. BÜHNER, Art. RJGMN V, EWNT 3 (1983) 603f; HOFIUS, Struktur und Gedankengang, 22 mit Anm.132; THYEN, Das Johannesevangelium, 93f u.a. 119 Vgl. HOFIUS, Struktur und Gedankengang, 22f. 120 M. W YSCHOGROD, Inkarnation aus jüdischer Sicht, EvTh 55 (1995) 13–28: 26.

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und in Jesus Christus menschliche Gestalt angenommen hat.121 Darin liegt das Neue der johanneischen Inkarnationschristologie, die aber – bei aller Differenz – ohne den Rekurs auf die alttestamentliche Schekina- und die frühjüdische Weisheits-Theologie nicht zu verstehen ist.122 Dieser Bezug von Joh 1,14 zum Alten Testament (und zum Frühjudentum) kann allerdings, wie vor allem H. Seebaß hervorgehoben hat, nur als ein dialektischer bezeichnet werden: „Dieses Wort (sc. Joh 1,14), so scheint mir, ist überhaupt nur verständlich, wenn man es in seinem dialektischen Bezug zum Alten Testament sieht. Als wollte es all das in einer Formel, besser noch in einem Lehrsatz zusammenfassen ... daß der Gott der Bibel nur im Bezug zu seinen Menschen erkennbar sein will. Ineins damit aber unterscheidet es sich von allen nur denkbaren Sätzen des Alten Testaments, weil dies von keinem seiner Großen sagen könnte: das Wort ward Fleisch. Das Wort geht also einerseits über das alttestamentliche Denkbare in schockierender Weise hinaus, weil es Gott in einem ungeheuer eindeutigen Bezug zu einem ganz bestimmten Menschen sieht, in dem das Wort Fleisch ward. Andererseits haftet es gerade mit seiner Grundvorstellung ganz im Gottesverstehen des Alten Testaments.“123

Die eigentliche Aussageabsicht von Joh 1,14 dürfte darin zu sehen sein, dass sich der Logos, der im Anfang bei Gott war (Joh 1,1f), erniedrigt hat und Mensch geworden, d.h. in die volle Kreatürlichkeit des Menschseins eingetreten ist.124 Nach rabbinischem Verständnis nimmt Gott zwar einzelne Züge einer irdischen Existenz an, doch ist er nie in einer endgültigen Weise „Fleisch geworden“ und hat so „unter uns Wohnung genommen“.125 121 Darin liegt die differentia specifica zwischen Joh 1,14 und der alttestamentlichfrühjüdischen Schekina-Theologie, vgl. SCHOLTISSEK, Immanenz, 91: „Nach alttestamentlichem Zeugnis wohnt Gott in der Höhe bzw. im Himmel und auf dem Zion bzw. inmitten seines Volkes (vgl. Jes 33,5; Ps 2,4; 9,12; Tob 5,17; die Bundesformel), aber nicht im Menschen“, vgl. F RANKEMÖLLE, Frühjudentum, 199 und SCHWINDT, Herrlichkeit, 409. Von der Immanenz Gottes im Menschen spricht zum ersten Mal TestXII: TestDan 5,1; TestJos 10,2 und TestBenj 6,4, s. dazu S CHOLTISSEK, Immanenz, 98f.191 und zur Sache im folgenden. 122 Zu den motivlichen Querverweisen zwischen dem Johannesprolog und frühjüdischen Weisheitstexten s. THEOBALD, Anfang, 102ff. Speziell zu der These, dass die Logostheologie Philos von Alexandrien eine Brücke zur neutestamentlichen Christologie darstellt, s. zuletzt FRANKEMÖLLE, Frühjudentum, 186ff, der im übrigen an der diesbezüglichen Differenz zwischen Frühjudentum und Urchristentum festhält, vgl.unten Anm, 124. 123 H. SEEBASS, Der Gott der ganzen Bibel. Biblische Theologie zur Orientierung im Glauben, Freiburg 1982, 50, vgl. 217f; ferner DERS., biblische Theologie, VF 27 (1982) 28–45: 45; MÜLLER, Menschwerdung, 50f u.a. 124 Vgl. FRANKEMÖLLE, Frühjudentum, 199: „Die in den ntl Texten behauptete exklusive Konzentration auf Jesus Christus bleibt der unaufhebbare Dissens zwischen christlichem und jüdischem Glauben, letztere auch in seiner griechischen Interpretation durch Philon und durch die Weisheitstheologen.“ 125 Vgl. C. THOMA, Art. Inkarnation, in: DERS./Petuchowski, Lexikon, 157–161.

Einwohnung Gottes in Israel

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Das aber ist die Sinnspitze von Joh 1,14. Der göttliche Schöpfungslogos hat in einem geschichtlich begrenzten Leben, in Jesus dem Christus, seine eschatologische Gestalt gefunden, die als „Herrlichkeitserscheinung“ offenbar wurde, indem sie „unter uns Wohnung nahm“126. Das Sehen dieser Herrlichkeit wird vom Text als Wahrnehmung der im Sohn vollkommen repräsentierten Offenbarung des Vaters beschrieben. Für das Judentum ist diese Zuspitzung nicht akzeptabel, weil das Christentum die „jüdische Tendenz zur Räumlichkeit“127 so zugespitzt hat, dass sie eine „körperliche Form“128 annimmt. Damit wird die alttestamentliche Schekina-Tradition, die schon mit Sir 24,1–22 eine umfassende Transformation erfahren hatte, noch einmal transformiert, indem Jesus Christus zum fleischgewordenen Wort Gottes wird, das „unter uns wohnte“.

3. Von der inhabitatio zur incarnatio – Zusammenfassung Überblickt man den langen Weg der alttestamentlichen Schekina-Theologie von den Anfängen bis in die exilisch-nachexilische Zeit, so lassen sich folgende Stufen unterscheiden: (1) Schekina-Theologie ist in vorexilischer Zeit immer Tempeltheologie gewesen. Als Stätte der kultisch repräsentierten Gottesgegenwart ist der Tempel – so die Grundkonzeption der Jerusalemer Kulttradition – der Ort, an dem himmlischer und irdischer Bereich ineinander übergehen, und die Kultordnung mit ihrer komplexen Symbolik in Relation zum Weltganzen steht. Hier, auf dem kosmisch dimensionierten Gottesberg Zion, hatte JHWH als Weltkönig Wohnung genommen (Jes. 8,18b, vgl. Ps 68,17; 74,2 und aus nachexilischer Zeit Jl 4,17.21; Ps 135,21) und hier wird er bei der erhofften Heilswende wieder gegenwärtig sein. Auch in den exilisch-nachexilischen Belegen Ez 43,7–9 und 1Kön 6,11–13 ist der Heiligtumsbezug unübersehbar und für das Verständnis konstitutiv: Als Gott „in der Mitte seines Volkes“ wohnt JHWH am erwählten Ort seines (zukünftigen) Heiligtums in Israel. (2) Aufgrund der Ereignisse von 587 v.Chr. konnte die Jerusalemer Tempeltheologie allerdings nicht ungebrochen weitertradiert werden. Entsprechend wurde auch die Schekina-Theologie entscheidend modifiziert. Diese Modifikation drückt sich vor allem in dem steigenden Interesse am Volk Israel, wie es sich in der Vorstellung vom Wohnen Jahwes „inmitten der Israeliten“ bekundet (Ez 43,7.9; Ex 25,8; 29,45f; 1Kön 6,13, vgl. Jes 33,5; Ps 78,60). Seit der Exilszeit kommt es somit zu einer Übertragung Vgl. B ÜHNER, RJGMN V,603f, ferner T HEOBALD, Anfang, 53ff.118ff. WYSCHOGROD, Inkarnation, 22. 128 Ebd. 126 127

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des in vorexilischer Zeit dem Gottesberg Zion und seinem Tempel zugesagten Heils auf das Volk Israel, anders ausgedrückt: zusätzlich zu ihrem traditionellen Tempelbezug erhält die Schekina-Theologie jetzt eine nationale, auf die Restitution Israels als Gottesvolk bezogene, geradezu ,ekklesiologische‘ Komponente. Dieser explizite Israel-Bezug ist das Novum der exilischen Schekina-Theologie. (3) Sowohl Ezechiel als auch der spätdeuteronomistische Redaktor von 1Kön 6 haben ihre Schekina-Theologie angesichts des in Trümmern liegenden ersten Tempels formuliert. Dies vor allem hat zu der beschriebenen theologischen Modifikation geführt. Als Ruine ist das Jerusalemer Heiligtum aber nicht obsolet geworden, es erwies sich vielmehr als „das integrierende Element, das es den Exilierten, den nach Ägypten geflüchteten und den im Lande verbliebenen Judäern ermöglicht, ihre religiöse Identität zu bewahren“129. Auf die Tempelruine richteten sich die Gebete des Volkes, aber auch die theologischen Reflexionen eines Ezechiel oder der Deuteronomisten aus. Unter ihrer Verkündigung, die in tempelloser Zeit um das Problem der Gottesnähe rang, hat Israel die Nacht des Exils überstanden und trotz tiefster Erschütterungen an seiner Hoffnung auf das Kommen Gottes festzuhalten vermocht. (4) Das ist nun auch der für Sir 24,1–22 entscheidende Gesichtspunkt: Wie nach der Priesterschrift erst vom Sinai her erkennbar wird, was mit Gottes Schöpfungshandeln „am Anfang“ intendiert war – nämlich Gemeinschaft mit dem Menschen/mit Israel zu haben –, so besteht auch nach Sir 24,1–22 der tiefste Sinn des Wegs der göttlichen Weisheit in der Zuwendung zur Schöpfung (V.5f), die in ihrer „Einwohnung“ in Jakob/Israel (V.8) ihr Ziel erreicht. Mit diesem Konzept, das Schöpfung und Geschichte integriert und damit der im Hellenismus längst in Gang befindlichen, folgenreichen Diastase von Schöpfung und Offenbarung, von „geistiger Weltdurchdringung und transzendenter Offenbarung“130 entgegentritt,131 erreicht die alttestamentlich-frühjüdische Weisheitstheologie eine gedankliche Tiefe, die ihresgleichen sucht.

129 W EIPPERT, Ort, 92. Entgegen der oft beschworenen negativen Einstellung der Deuteronomisten zum Kult (s. die Nachweise bei V EIJOLA, Verheißung, 207f mit Anm. 46) darf nicht vergessen werden, dass die spätdeuteronomistische Theologie von 1Kön 6,11– 13 und 1Kön 8,46–51 + 52f wesentlich Tempeltheologie war, d.h. eine Theologie „in Erwartung des Tages, an dem man dort wieder den zentralen Kultus installieren könnte“ (a.a.O. 209). 130 GESE, Weisheit, 230. 131 Vgl. MARBÖCK, Weisheit Gottes, 86 und ausführlich O. KAISER, Anknüpfung und Widerspruch. Die Antwort der jüdischen Weisheit auf die Herausforderung durch den Hellenismus, in: J. Mehlhausen (Hg.), Pluralismus und Identität (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft 8), Gütersloh 1995, 54–69.

Einwohnung Gottes in Israel

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(5) Es geht bei allen diesen Bestimmungen einer mehrere Jahrhunderte umfassenden, hier nur in knappen Strichen skizzierten Traditionsbildung immer um die Frage, wie Gott in die Welt kommt. Während die altorientalischen Sachparallelen, allen voran die spätägyptischen Tempelinschriften, immer wieder dem Gedanken der incorporatio Ausdruck geben – die Gottheit tritt in die Welt ein, indem sie sich temporär mit ihrem Kultbild „vereinigt“ –, sprechen die alttestamentlichen Schekina-Texte von einer inhabitatio, also von einer „Einwohnung“ Gottes im Tempel und/oder in seinem Volk. In einem dritten Schritt schließlich, der sich mit dem Begriff incarnatio belegen lässt, geschieht eine letzte Transformation, indem Jesus Christus zum fleischgewordenen Wort Gottes wird, das „unter uns wohnte“ (Joh 1,14). Damit stehen wir – christlich gesprochen – endgültig vor dem Geheimnis der Gegenwart Gottes, das auszubuchstabieren nicht mehr meine Aufgabe ist.

Anhang I: Die Schekina-Texte (mit relativer Chronologie) Altorientalische Vorläufer der biblischen Schekina-Theologie Ägypten: Königlicher Totenkult des Neuen Reichs (18.–20. Dynastie, 1552–1070 v. Chr.) und Tempelinschriften der griech.-röm. Zeit (ab 332 v. Chr.) Mesopotamien: Neuassyrische Konsekrierungsrituale („Mundwaschung“, 1.Jt. v. Chr.)

Schekina-Theologie der vorexilischen Zeit [Jer 7,12 (dtr): Silo als Ort des früheren „Wohnen-Lassens“ des„Namens“] [Ps 78,60 (dtr): Zerstörung der „Wohnstätte“ Silo durch JHWH] [1Kön 6,12f (dtr): bedingte Verheißung vom „Wohnen“ JHWHs im Tempel] 1Kön 8,12f [vgl. 2Chr 6,1f: Tempelweihbericht] [1Kön 8,46–51 (dtr): Tempelweihgebet Salomos] Jes 8,18, vgl. 6,1 Ps 68,17 Dtn 33,16 dtn Zentralisationsformel (Langform): + Ø*DUK : Dtn 12,11; 14,23; 16,2.6.11; 26,2, vgl. Neh1,9; Esr 6,12; + ]6EK: Dtn 12,5.21; 14,24, vgl. 1Kön 9,3; 11,36; 14,21 (= 2Chr 12,13); 2Kön 21,4.7 Kritik: Mi 3,11, vgl. Ps 46,5f („Mitte“-Aussagen)

Schekina-Theologie der exilisch-nachexilischen Zeit Ps 74,1b.2 Ez 43,7–9 1Kön 8,46–51 (dtr)

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Ps 78,60 (dtr) Dtn 33,12 (dtr) Jer 7,12 (dtr) Priesterschrift: P g: Ex 24,16 (+ Subj. GVGX C A* ); 25,8; 29,45f (jeweils + Subj. JHWH); 40,35 (+ Subj. ØM:); P s: Lev 16,16 (Begegnungszelt); Num 5,3 (Lager); 9,17f (Wolke); 10,12 (Wolke); 35,34 (Land//Israeliten) 1Kön 6,11–13 (spätdtr) Sach 2,9.14f; 8,3 Ps 85,10 Jl 4,17, vgl. 4,21 (Fortschreibung) Ps 135,21 Jes 33,5; 57,15 Ez 37,26f (Fortschreibung) 1Chr 23,25; 2Chr 6,1f

Schekina-Theologie der hellenistisch-römischen Zeit (Auswahl) Sir 24,1–12 u.ö., anders 1Hen 42,1–3; 84,3 u.ö.; Bar 3,38 (frühchristlicher Zusatz) 2Makk 14,35 u.a. 11Q 19 Kol.29,8f; 45,13f (Stadt//Jerusalem) u.ö.; 4Q 405 20–22,12f; 4Q 508 2,1; Jub1,17 Zentralisationsformel: 11Q 19 Kol. 29,3; 45,12 u.ö. „Mitte“-Aussagen: 1QM 10,1; 13,8; 4Q 504 3,2,7; 4Q 509 194,3 u.ö.

Anhang II: Quellennachweis zu den Abbildungen 1. S. Schoske/D. Wildung, Gott und Götter im Alten Ägypten, Mainz 1992, 42 Abb. 22 2. P. Amiet u.a., Handbuch der Formen- und Stilkunde. Antike, Stuttgart u.a., 1981, 295 Abb. 3

Jerusalem – Stadt der Treue JHWHs Schekina in Zion nach Sacharja 1–8 RÜDIGER LUX 1. Die mental map von Sach 1–8 In der Religionsgeographie, Ethnologie und Kulturanthropologie hat sich der Begriff mental map als Bezeichnung der religiösen und kulturellen Konstruktion von Welt unter besonderer Berücksichtigung der Raumvorstellungen etabliert. Die mental map, eine Art inneres Weltmodell, spiegelt die natürliche Umwelt des Menschen nicht wie sie ist, sondern wie sie wahrgenommen, religiös und kulturell möbliert wird.1 Dabei wurden auf der inneren Landkarte keineswegs nur Raumstrukturen kartographiert. Nicht selten verbinden sich mit den räumlichen Grenzlinien auch Zeitzonen, Reservate urzeitlich oder endzeitlich konnotierter Mythologeme ebenso wie einschneidender geschichtlicher Erfahrungen, die – symbolisch und sprachlich vermittelt – die Landkarte des kulturellen Gedächtnisses mit beschrieben haben. Man denke nur an die Bedeutung des Exodus oder des Babylonischen Exils für die mental map des Volkes Israel.2 Zu den räumlichen und zeitlichen Koordinaten kommen schließlich auch evaluative Momente hinzu. Die Räume und Zeitzonen werden mit Wertungen wie gut und böse, arm und reich, fruchtbar und unfruchtbar, sicher und gefährlich, fremd und vertraut, wild und gezähmt, tödlich und lebendig verbun-

1

Vgl. dazu B. J ANOWSKI, Das biblische Weltbild. Eine methodologische Skizze, in: DERS., Der Gott des Lebens. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments Bd. 3, Neukirchen-Vluyn 2003, 3–26:19f; B. P ONGARTZ-LEISTEN, Mental map und Weltbild in Mesopotamien, in: B. Janowski/B. Ego (Hg.), Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte (FAT 32), Tübingen 2001, 261–279: 261ff, die die babylonische Weltkarte von Borsippa als mental map des babylonischen Weltbildes analysiert. 2 Zum Exodus als „Erinnerungsfigur“ im kulturellen Gedächtnis Israels und seiner Bedeutung für die Orientierung Israels im Zeit-Raum-Gefüge seiner nationalen Existenz vgl. J. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 200ff; J. ASSMANN, Monotheismus und Ikonoklasmus als politische Theologie, in: E. Otto (Hg.), Mose. Ägypten und das Alte Testament (SBS 189), Stuttgart 2000, 121–139: 121ff.

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den. Daher ist die mental map, um mit Charles Taylor zu sprechen, immer auch eine moralische „Landkarte“.3 Sach 1–8, insbesondere der Zyklus der Nachtgesichte (Sach 1,7– 6,8[15]), lässt sich als Entwurf solch einer mental map für die frühnachexilische Zeit lesen. Mit der Eingliederung Jerusalems und seines judäischen Umlandes in das persische Provinzialsystem nach der Eroberung Babylons durch Kyros II., 539 v. Chr., und vor allem mit der Rückkehr nennenswerter Gruppen von Exulanten nach Jerusalem und Juda im Zuge der mit dem Magier Gaumata einsetzenden blutigen Aufstandsbewegung, die das Perserreich zu Beginn der Herrschaft Dareios I. in den Jahren 522–521 v. Chr. erfasste, sah man sich offensichtlich vor die Aufgabe einer grundlegenden Überarbeitung der mentalen Landkarte Israels gestellt. Dabei enthält Sach 1–8 lediglich einen Entwurf, an dem spätere Generationen weiter gearbeitet haben und dem sich andere Entwürfe aus der Perserzeit an die Seite stellen ließen.4

3

Vgl. dazu den Abschnitt „Das Selbst im moralischen Raum“ in CH. T AYLOR, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M. 1996, 52–104, in dem er mehrfach darauf zu sprechen kommt, dass sich das Selbst auf der Suche nach moralischer Orientierung und Identität einer vorgegebenen „Landkarte des betreffenden Raums“ bedient, in dem es sich bewegt (a.a.O. 59): „Wissen, wer man ist, heißt, daß man sich im moralischen Raum auskennt, in einem Raum, in dem sich Fragen stellen mit Bezug auf das, was gut ist oder schlecht, was sich zu tun lohnt und was nicht, was für den Betreffenden Sinn und Wichtigkeit hat und was ihm trivial und nebensächlich vorkommt. Mir drängt sich hier der Gebrauch einer räumlichen Metapher auf, doch ich bin überzeugt, daß das mehr ist als nur eine persönliche Vorliebe. Manche Anzeichen sprechen dafür, daß die Verbindung mit der räumlichen Orientierung ganz tief in der menschlichen Psyche verankert ist.“ H. ROSA, Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor, Frankfurt a.M./New York 1998, 113f, hat in Weiterführung dieser Gedanken darauf hingewiesen, dass „dieser Raum nicht nur bestimmte moralische Qualitäten enthält, sondern den gesamten ,Horizont des (für ein Subjekt) Bedeutsamen’ umfasst“. Daher plädiert er dafür, „die entsprechenden ,moralischen Landkarten‘ … als eng verknüpft mit umfassenderen kognitiven Landkarten, oder sogar als ein Bestandteil derselben“ zu verstehen. 4 Man denke dabei nur an die Konzepte von P, Ez 40–48 oder Esr und Neh, die vielfältige Berührungspunkte zu Sach 1–8 enthalten, sich aber auch in mancherlei Hinsicht deutlich davon unterscheiden. So greift der in sich gewachsene Verfassungsentwurf des Ez in vielfältiger Weise auf Sach 1–8 zurück. Während in seiner Grundschicht – wie bei Sach – der Tempel noch im Zentrum von Jerusalem seinen Ort findet (Ez 40,1–4), kommt es in einer späteren Überarbeitung zur Aufhebung der Einheit und strikten Trennung von Tempel und Stadt (Ez 45,1–8;48,8–22). Wahrscheinlich reagiert die Überarbeitung bereits auf Missstände am Zweiten Tempel und kontrastiert diesen mit einem idealen Endzeitheiligtum. Vgl. dazu M. KONKEL, Die zweite Tempelvision Ezechiels (Ez 40–48). Dimensionen eines Entwurfs, in: O. Keel/E. Zenger (Hg.), Gottesstadt und Gottesgarten. Zur Geschichte und Theologie des Jerusalemer Tempels (QD 191), Freiburg/Basel 2002, 154–179: 161ff, und R. LUX, Das neue und das ewige Jerusalem. Planungen zum Wie-

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1.1 Die Außenhaut der Welt Der ursprünglich aus sieben Nachtgesichten bestehende Zyklus5 eröffnet aus der irdischen Perspektive des Erzählers, der der literarischen Konzeption nach mit dem Autor der Texte identisch ist, einen Blick in den Grenzbereich zwischen Himmel und Erde. Dabei lassen sich das erste und letzte Nachtgesicht als Himmels- oder Horizonttorvision deuten.6 Der Reiter auf dem roten Pferd zwischen den Myrten an der Meerestiefe (1,8–17), der im Verlauf der Vision mit dem angelus interpres identifiziert wird und weitere Reiter auf verschiedenfarbigen Pferden empfängt, die im Auftrag JHWHs die Erde durchstreiften, steht für das Sonnenuntergangstor im äußersten Westen.7 Die vier Wagen mit den verschiedenfarbigen Pferden, die deraufbau in frühnachexilischer Zeit, in: DERS., Prophetie und Zweiter Tempel. Studien zu Haggai und Sacharja (FAT 65), Tübingen 2009, 86–101: 87ff. 5 Dass Sach 3 nachträglich in den Zyklus eingefügt wurde, wird von der ganz überwiegenden Mehrheit der Ausleger angenommen. Anders sehen dies M. B Iý, Das Buch Sacharja, Berlin 1962, 42f, und R. HANHART, Sacharja 1–8 (BK 14,7.1), NeukirchenVluyn 1998, 213. Die zahlreichen Argumente für den sekundären Charakter von Sach 3 sind immer wieder ausführlich zusammengestellt worden (vgl. CH. J EREMIAS, Die Nachtgesichte des Sacharja. Untersuchungen zu ihrer Stellung im Zusammenhang der Visionsberichte im Alten Testament und zu ihrem Bildmaterial [FRLANT 117], Göttingen 1977, 201–203, und H. DELKURT, Sacharjas Nachtgesichte. Zur Aufnahme und Abwandlung prophetischer Traditionen [BZAW 302], Berlin/New York 2000, 147) und müssen daher in diesem Rahmen nicht noch einmal in ihrer Gesamtheit wiederholt werden. Andere literar- und redaktionskritische Arbeiten rechnen mit einer noch sehr viel weitergehenden literarischen Schichtung des Zyklus’, wobei sie in der Regel eine ursprüngliche Fünferstruktur annehmen (vgl. H.-G. SCHÖTTLER, Gott inmitten seines Volkes. Die Neuordnung des Gottesvolkes nach Sacharja 1–6 [TThSt 43], Trier 1987, 268ff; CH. UEHLINGER, Figurative policy, Propaganda und Prophetie, in: J.A. Emerton [ed.], Congress Volume Cambridge 1995 [VT.S 66], Leiden u.a. 1997, 297–349: 338; O. KEEL, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus Bd. 1 u. 2, Göttingen 2007, 1011f). Mit noch weitergehenden Wachstumsschüben rechnet R.G. KRATZ, Das Judentum im Zeitalter des Zweiten Tempels (FAT 42), Tübingen 2004, 85ff. 6 So u.a. T H.H. ROBINSON/F. HORST, Die Zwölf Kleinen Propheten (HAT I,14), Tübingen 21954, 219; JEREMIAS, Nachtgesichte, 112; HANHART, Sacharja, 71ff; H. GRAF REVENTLOW, Die Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi (ATD 25,2), Göttingen 1993, 41 u.a. 7 UEHLINGER, Policy, 339f, und KEEL, Jerusalem, 1012f, haben darauf hingewiesen, dass im Hintergrund des ersten Nachtgesichtes vom Reiter mit dem roten Pferd Sonnengottvorstellungen stehen (vgl. 2Kön 23,11), dem in Assur ein Pferd zugeordnet wurde. Dabei symbolisiere die rote Farbe des Pferdes die Morgensonne. Die räumlichen und zeitlichen Konnotationen des Nachtgesichtes sprechen aber eher für den Sonnenuntergang. Die von JHWH ausgesandten himmlischen Reiter kehren von ihrem irdischen Inspektionsritt zurück. Das spricht für den Abend. Und der Standort des Reiters auf dem roten Pferd an der Meerestiefe lässt bei der verinnerlichten Landkarte des Judäers und seiner Orientierung im Raum eher an den Westen, die Küste des Mittelmeeres denken, in der die Sonne am Abend als roter Ball versank. Dass der Autor mit dem Reiter auf dem

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zwischen den zwei Erzbergen hervorbrausen und die ʤʥʤʩ ʧʥʸ transportieren (6,1–8), stehen für das Sonnenaufgangstor im Osten.8 Beide Nachtgesichte markieren die westliche und östliche Grenzlinie der erfahrbaren, diesseitigen Welt und führen den Betrachter bis an den Übergang zum Himmelstor als einer Transzendenzschleuse zwischen Diesseits und Jenseits. Der Prophet selbst hat keinerlei Einblick ins Jenseits,9 was er sieht und hört, das widerfährt ihm auf der Grenze. JHWH wird dabei jenseits der Grenze verortet. Einen direkten Zugang zu ihm gibt es nicht (mehr). Die gesamte Kommunikation zwischen Diesseits und Jenseits verläuft ausschließlich über den angelus interpres und andere Engelgestalten. Beide Rahmenvisionen betonen die Horizontale in ihrer äußersten Ausdehnung. Das wird durch die letzte Vision noch einmal unterstrichen. Nachdem die beiden Horizonttore die Ost- und die Westgrenze markierten, liegt hier das Gewicht der Aussage auf zwei von vier Wagen, die eine Ausfahrt in die ʯʥʴʶÔʵʸʠÔund die ʯʮʩʺʤ ʵʸʠ unternehmen (6,6). Damit umfängt der Blick des nächtlichen Sehers die Welt als ganze sowohl in ihrer WestOst- als auch in der Nord-Süd-Ausdehnung. Die vier Himmelsrichtungen stehen ihm wie eine Windrose in Gestalt der vier Winde aus 2,10 sowie 6,1–8 vor Augen.10 Auch wenn die hier beschriebene mental map in vielen Details nur angedeutet wird und uns manche Eintragung auf ihr erhebliche Rätsel aufgibt, so dürfte eines unbestritten sein: Gott und Welt sind voneinander geschieden und kommen nur über ein hierarchisch gegliedertes Vermittlungssystem (himmlische Botenreiter ĺ angelus interpres ĺ Prophet) miteinander in Kontakt. Wirft man von den Rahmenvisionen aus einen Blick auf das Zentrum des Zyklus, dann kommt die Vertikale der Welt des Erzählers in den Blick. roten Pferd Assoziationen an Dareios I. intendiert habe, ist angesichts seiner Identifikation mit dem angelus interpres eher unwahrscheinlich. Er repräsentiert gerade keine irdische Macht, sondern den Willen JHWHs. 8 Vgl. dazu vor allem H. GESE, Anfang und Ende der Apokalyptik dargestellt am Sacharjabuch, in: DERS., Vom Sinai zum Zion. Alttestamentliche Beiträge zur biblischen Theologie (BevTh 64), München 31990, 202–230: 217–219. Auch wenn man die Bezüge, die Gese zwischen den Nachtgesichten und einer Reihe von antiken Quellen aus dem griechischsprachigen Raum herstellt, z.B. der Drei-Kontinenten-Lehre des Hekataios von Milet, mit Skepsis betrachtet, so bleibt es sein Verdienst, wesentliche Strukturen der mental map der Nachtgesichte aufgedeckt zu haben. 9 Auch darin unterscheidet sich das sekundäre Nachtgesicht von der Entsühnung Joschuas in Sach 3 von allen anderen, die Sacharja keinen direkten, sondern immer nur einen indirekten, über den angelus interpres vermittelten Kontakt mit der himmlischen Welt ermöglichen. 10 Vgl. zum Motiv der vier Winde in Ägypten A. GUTBUB, Die vier Winde im Tempel von Kom Ombo (Oberägypten), in: O. KEEL, Jahwe-Visionen und Siegelkunst. Eine neue Deutung der Majestätsschilderungen in Jes 6, Ez 1 und 10 und Sach 4 (SBS 84/85), Nachwort v. A. Gutbub, Stuttgart 1977, 328–353: 328ff.

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Sie ist die einzige Vision, in der dem Propheten ein Durchblick in den Himmel gewährt wird. Er sieht den sieben mal siebenflammigen goldenen Leuchter mit den beiden Ölbäumen (Sach 4). Dabei werden die sieben „Lampen“ (ʺʥʸʰ) des Leuchters in der Deutung der Vision ausdrücklich mit den sieben „Augen JHWHs“ (ʤʥʤʩ ʩʰʩʲ) identifiziert (V.10b), die – den Botenreitern des ersten Nachtgesichtes vergleichbar – die gesamte Erde durchstreifen. Auch hier bekommt der Prophet also nicht JHWH selbst zu Gesicht. Er erblickt ihn lediglich im Symbol des Leuchters, der für seine Augen steht. JHWH selbst ist nicht auf der Erde, aber sein Blick wandert vom Himmel her über die ganze Erde. „Gott sieht man nicht, sondern man wird von ihm gesehen“.11 Die Augenmetaphorik ist schon wegen ihrer astralen Bezüge im religiösen Symbolsystem des Alten Orients eng mit dem Himmel verbunden. Beate Ego hat eindrücklich gezeigt, dass in der Exilszeit die Rede von den Augen JHWHs, die von seinem himmlischen Thron auf die Erde herabschauen, zunehmend an Bedeutung gewonnen hat (vgl. Ps 14,2; 33,13; 53,3; 80,15; 102,20; 113,5f; Jes 57,15ff; 63,15ff; 2Chr 16,9).12 Dass der Leuchter in Sach 4 die Gegenwart JHWHs in der himmlischen Welt symbolisiert,13 wird schließlich aus der Verknüpfung mit den vorhergehenden Nachtgesichten deutlich. Am Ende von Sach 2, das Kap. 4 ursprünglich unmittelbar vorausging, ist davon die Rede, dass JHWH künftig wieder seinen ʷʬʧ „auf dem heiligen Boden“ (ˇʣʷʤÔʺʮʣʠ ʬʲ) durch die Erwählung Jerusalems in Besitz nehmen werde (V.16). Noch ist dies nicht geschehen, sondern Erwartung unmittelbar bevorstehender Zukunft.14 V.17 fährt dann fort, dass JHWH sich bereits „von seiner heiligen Wohnung“ (ʥˇʣʷÔʯʥʲʮʮ) „erhoben“ habe (ʸʥʲ Ni.). Dabei bildet die Rede von der „heiligen Wohnung“ JHWHs einen deutlichen Gegenpol zu dem „heiligen Boden“, auf dem er erst künftig wieder sesshaft werden will. Offensichtlich wird daher mit dem ˇʣʷ ʯʥʲʮ sein himmlischer Wohnsitz als Ort für das folgende Geschehen in Sach 4 in Blick genommen.15 Dies geschieht durch Stichwortanknüpfung, indem Sach 4,1 die Verbwurzel ʸʥʲ aus 2,17 aufnimmt und 11

GESE, Anfang, 211. Vgl. B. EGO, Von der Jerusalemer Tempeltheologie zur rabbinischen Kosmologie. Zur Konzeption der himmlischen Wohnstadt Gottes, Mitteilungen und Beiträge der Forschungsstelle Judentum Leipzig 12/13 (1997) 36–52: 44ff, und DIES., „Der Herr blickt herab von der Höhe des Heiligtums“. Zur Vorstellung von Gottes himmlischem Thronen in exilisch-nachexilischer Zeit, ZAW 110 (1998) 556–569: 559ff. 13 Vgl. R. LUX, Himmelsleuchter und Tempel. Beobachtungen zu Sacharja 4 im Kontext der Nachtgesischte, in: DERS., Prophetie und Zweiter Tempel. Studien zu Haggai und Sacharja (FAT 65), Tübingen 2009, 144–164: 149ff. 14 Vgl. die Waw-Pf.-Formen ʬʧʰʥ und ʸʧʡʥ in V.16a.b. 15 Der ˇʣʷ ʯʥʲʮ bezeichnet häufiger die himmlische Wohnstatt Gottes (vgl. Dtn 26,15; Jer 25,30; 2Chr 30,27). Vgl. dazu H.D. PREUSS, ʯʥʲʮ, ThWAT 4 (1984) 1027–1030: 1029. 12

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sogar verdoppelt. Damit setzt der Autor ein deutliches Signal für den Rezipienten, Sach 4 von dem himmlischen Geschehen in 2,17 her zu lesen. Für die Wahrnehmung der himmlischen Wirklichkeit muss der Prophet eigens geweckt werden. Und dass die ersten Leser des Zyklus Sach 4 tatsächlich als Himmelsvision identifizierten, wird schließlich zur Gewissheit, wenn man beachtet, dass ein späterer Ergänzer Sach 3 genau in diese Nahtstelle zwischen 2,17 und 4,1 einfügte und das Geschehen der Neueinkleidung des Hohenpriesters Joschua sowie seiner Entsühnung in die himmlische Ratsversammlung verlegte.16  

Himmel Leuchter = sieben Augen  JHWHs



  N ʯʥʴʶÔʵʸʠ

(Westtor an der Meerestiefe)

W

Zion Tempel Jerusalem

O

(Osttor mit Horizontbergen)

ʯʮʩʺÔʵʸʠ 6

Mit diesen drei Visionen hat der Autor der Nachtgesichte gleichsam die religiös konnotierte Außenhaut seiner Welt in ihrer äußersten horizontalen und vertikalen Erstreckung ausgespannt und eingerichtet. Im Zenit seiner Weltbetrachtung steht JHWH, der im Jenseitigen ferne und verborgene Gott, den der Mensch nicht sieht, aber von dem er mit sieben Augen, also mit vollständiger Aufmerksamkeit gesehen wird. Er schickt Botenreiter ins Diesseits und postiert seinen ʪʠʬʮ an der Grenzschleuse zum Jenseits, der die himmlischen Botschaften an den Propheten vermittelt.

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Dass Sach 3,1–7 eine Gerichtsszene in der himmlischen Ratsversammlung ins Bild setzt, geht vor allem aus dem in V.1f aufgeführten Personentableau (JHWH, Joschua, JHWH-Engel und Satan) hervor, das eine ganze Reihe von Bezügen zu den Himmelsszenen in Hi 1,6–12 und 2,1–7 aufweist. Vgl. dazu HANHART, Sacharja, 180f; REVENTLOW, Sacharja, 52f; DELKURT, Nachtgesichte, 84; T H. POLA, Das Priestertum bei Sacharja. Historische und traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur frühnachexilischen Herrschererwartung (FAT 35), Tübingen 2003, 201; J. W ILLI-P LEIN, Haggai, Sacharja, Maleachi (ZBK 24.4), Zürich 2007, 84 u.a.

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1.2 Der Binnenraum der Welt In den Deutungen der Bildelemente dieser drei Visionen und in den Visionen zwei und drei sowie fünf und sechs misst der Autor den Binnenraum seiner Welt aus. Während die Außenhaut für den ewigen, unvergänglichen Kosmos steht, ist der Binnenraum wandelbar, von Konflikten bewegt und im Umbruch begriffen. Was bisher an der westlichen Peripherie des persischen Weltreiches lag, ein entlegener Landstrich in der Satrapie Transeuphratene, über dessen politischen Status im frühen Perserreich wir wenig Zuverlässiges wissen,17 rückt plötzlich nicht nur ins Zentrum der Aufmerksamkeit des Erzählers, sondern wird zum Mittelpunkt seiner mental map. Die ersten konkreten im Diesseits zu verortenden geographischen Angaben, die dem Leser mitgeteilt werden, sind Aussagen über „Jerusalem“, die „Städte Judas“, den „Zion“ und den „Tempel“ (1,12.14–17). Um ihre Zukunft geht es in den Nachtgesichten und um die Frage nach JHWH und seinem Verhältnis zu diesem Land, dieser Stadt und seinem heiligen Berg. Neben Juda, Jerusalem und dem Zion ist pauschal von den ʭʩʥʢ die Rede (1,15). Sie interessieren lediglich als Gegner Israels, der im Binnenraum die feindliche Umwelt repräsentiert. Man kann und soll dieses erste Nachtgesicht als Programmvision lesen,18 die ein Geschehen ankündigt, das in den folgenden Visionen vor den Augen der Leser abrollt.19 Neben diesen geographischen Angaben teilt die Programmvision den Binnenraum der Welt in zwei Zeitzonen. Sie lässt den Visionär nicht nur die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits schauen, sondern verortet ihn auch auf einer Zeitschwelle, die die siebzig Jahre des Zornes JHWHs über Jerusalem und die Städte Judas markiert (1,12). Mit dieser bereits aus der 17

Es ist nach wie vor in der Forschung strittig, von welchem Zeitpunkt an Jerusalem und Jehud zu einer eigenständigen Provinz im Rahmen der Verwaltungsordnung des persischen Großreiches wurde. Vgl. dazu die unterschiedlichen Voten bei A. MEINHOLD, Serubbabel. Der Tempel und die Provinz Jehud, in: Ch. Hardmeier (Hg.), Steine - Bilder - Texte. Historische Evidenz außerbiblischer und biblischer Quellen (ABG 5), Leipzig 2001, 193–217: 194ff. 18 Das wird vor allem an den thematischen Wiederaufnahmen deutlich. So werden die in 1,15 erwähnten israelfeindlichen Völker im zweiten Nachtgesicht ihrem verdienten Strafgericht zugeführt. Der Zorn über Jerusalem (1,12) wandelt sich in seine erneute Erwählung (2,16). Die Stadt wird wieder aufgebaut und JHWH selbst wird in Gestalt seines ʣʥʡʫ in ihrer Mitte wohnen sowie als ˇʠ ʺʮʥʧ ihr Schutz sein. 19 DELKURT, Nachtgesichte, 71ff und P OLA, Priestertum, 44f deuten das erste Nachtgesicht als die Berufungsvision des Propheten Sacharja. Allerdings stellt sich aufgrund des Aufrufes zur Flucht an die Angehörigen der babylonischen Gola in Sach 2,10–13 die Frage, ob man nicht bereits mit einer früheren Phase der Wirksamkeit des Propheten rechnen muss, die in die Zeit zurück reicht, in der er selbst noch ein Angehöriger der Gola war (vgl. Neh 12,16). Damit rechnet auch K. GALLING, Die Exilswende in der Sicht des Propheten Sacharja, in: DERS., Studien zur Geschichte Israels im persischen Zeitalter, Tübingen 1964, 109–126: 110ff.

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Babylon-Inschrift Asarhaddons (681–669 v. Chr.) bekannten Straffrist von siebzig Jahren für eine Stadt und ein Land, die auch in Jes 23,25; Jer 25,11f; 29,10 begegnet,20 wird der Zeitraum der mental map Sacharjas binär strukturiert. Es gibt eine Zeit vor der Strafe und eine Zeit nach der Strafe. Die ungeduldige Frage des angelus interpres, ʩʺʮʚʣʲ „wie lange noch“ (1,12),21 deutet an, dass man sich der Zeitgrenze nähert, ein Epochenwechsel ins Haus steht. Und dieser Epochenwechsel verbindet sich schließlich auch mit der moralisch-evaluativen Landkarte des Autors. Die Zeit des Zornes JHWHs ist an ihr Ende gekommen. Jetzt eifert er für Jerusalem und den Zion mit großem Eifer und zürnt gegen die stolzen, selbstsicheren Völker, die zu ihrem Unheil Beihilfe leisteten (1,14b.15). Danach ist auch die moralische Landkarte binär vorstrukturiert. Barmherzigkeit für Zion und Jerusalem, die Stadt der Erwählung (1,17), die das Zentrum der künftigen Welt bildet, Zorn für die Völker, die es mit feindlichen Absichten umringen und ihm Böses wollen. Dieser Umbruch der Zeit und der Werte, der sich auf der Horizontale im Geschick Israels und der Völker ankündigt, hat allerdings zur Voraussetzung, dass sich auch in der Vertikale, der Gott-Mensch-Beziehung Entscheidendes tut. Die Schlüsselfrage, um die es in dem gesamten Zyklus geht, ist die, wie und ob der im Jenseits verborgene JHWH wieder im Diesseits beheimatet werden kann, wie und ob er noch einmal vom fernen zum nahen, vom abwesenden zum anwesenden Gott seines Volkes wird. Auf diese Frage gibt der Autor eine klare Antwort. Sie fordert das Zusammenwirken von Gott und Mensch: „Darum, so spricht JHWH: Ich kehre zurück nach Jerusalem. Mein Haus soll in ihm gebaut werden – Spruch JHWH Zebaots – Und die Messschnur soll über Jerusalem ausgespannt werden.“ (1,16)

JHWH hat sich zur Rückkehr nach Jerusalem entschlossen (ʩʺʡˇ pf. propheticum) und bindet diesen Entschluss an den Wiederaufbau der Stadt und des Tempels.22 Die folgenden Nachtgesichte arbeiten dieses Raum20

Zu den 70 Jahren als einer von den Göttern verhängten Straffrist s. M. ALBANI, Die 70-Jahr-Dauer des babylonischen Exils (Jer 25,11f; 29,10) und die Babyloninschrift Asarhaddons, Mitteilungen und Beiträge der Forschungsstelle Judentum Leipzig 17 (1999) 4–20: 8ff, und R.G. KRATZ, Translatio imperii. Untersuchungen zu den aramäischen Danielerzählungen und ihrem theologiegeschichtlichen Umfeld (WMANT 63), Neukirchen-Vluyn 1991, 260ff. 21 Die Frage ʩʺʮʚʣʲ hat ihren festen Platz in der Klagepoesie Israels. Vgl. Ps 6,4; 74,10; 80,5; 90,13; 94,3; Jes 6,11; Jer 12,4; Hab 1,2. 22 HANHART, Sacharja, 54 u.a. nehmen an, dass JHWH bereits ohne jede Vorbedingung nach Jerusalem zurückgekehrt sei. Das widerspricht allerdings der Sachlogik des

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und Zeitprogramm ab. Im zweiten Nachtgesicht ist davon die Rede, dass die im Bild der vier Hörner geschauten feindlichen Völker, die zur Zerstreuung Israels beigetragen hatten, von vier Schmieden bereits zerschlagen wurden (2,1–4).23 Im dritten Nachtgesicht von der Messschnur werden dann das künftige Jerusalem und die Rückkehr JHWHs konkretisiert (2,5– 17). Das dem Leser dort vor Augen gestellte „neue Jerusalem“ verlangt allerdings, dass die im sechsten Nachtgesicht von der fliegenden Schriftrolle enttarnten inneren Feinde des Volkes, die Diebe und die Meineidigen, dem Fluch verfallen (5,1–4), und im siebten Nachtgesicht die ʤʲˇʸ, das „Böse“ schlechthin, in Gestalt einer Frau im Epha an die äußerste Peripherie ausgeflogen und verdrängt wird, in die ʸʲʰˇ ʵʸʠ (5,5–11).24 Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die Vorstellungen, die der Zyklus von der Rückkehr JHWHs nach Jerusalem im dritten Nachtgesicht entwickelt.

2. Die Rückkehr JHWHs nach Jerusalem Das dritte Nachtgesicht (Sach 2,5–17) gliedert sich in zwei Teile, die eigentliche Vision in V.5–9 und eine Spruchreihe in den V.10–17. Dass die Spruchreihe nicht zum ursprünglichen Bestand der Vision gehörte, sondern gesamten Zyklus. Wenn JHWH im dritten Nachtgesicht ankündigt, dass er erst künftig als Feuermauer die Stadt schützen wolle und in ihrer Mitte anwesend sein will, dann setzt dies die Auffassung voraus, dass seine Rückkehr immer noch aussteht. Darüber hinaus ist nach der altorientalischen Tempelbautheologie eine solche Rückkehr nur denkbar, wenn auch der Tempel des betreffenden Gottes wieder hergerichtet war, was ja nach 1,16 erst erfolgen sollte. Zwar ist sein Entschluss zur Rückkehr an keine Vorbedingungen geknüpft. Er ist ein Akt der freien Gnade. Damit diese aber zum Zuge kommen kann, bedarf es sehr wohl auch menschlicher Aktivitäten. Vgl. dazu CH. EHRING, Die Rückkehr JHWHs. Traditions- und religionsgeschichtliche Untersuchungen zu Jesaja 40,1–11; Jesaja 52,7–10 und verwandten Texten (WMANT 116), Neukirchen-Vluyn 2007, 96ff und R. LUX, JHWHs „Herrlichkeit“ und „Geist“. Die „Rückkehr JHWHs“ in den Nachtgesichten des Sacharja, in: DERS., Prophetie und Zweiter Tempel. Studien zu Haggai und Sacharja (FAT 65), Tübingen 2009, 193–222: 195ff. 23 Wahrscheinlich sind dabei vor allem die Assyrer und Babylonier im Blick. Die Zahl der vier Hörner ergäbe sich dann dadurch, dass jeder der beiden Nationen ein Hörnerpaar zugeordnet worden ist. So R.M. GOOD, Zechariah’s Second Night Vision (Zech 2,1–4), Bib 63 (1982) 56–59: 56ff, und J.M. B ODA, Terrifying the Horns. Persia and Babylon in Zechariah 1,7–6,15, CBQ 67 (2005) 22–41: 26. Allerdings ließe sich die Vierzahl auch im Sinne der „vier Winde“ (Sach 2,10; 6,5) universalistisch deuten. Dann bezögen sich die vier Hörner auf alle israelfeindlichen Völker, die es in seiner Geschichte bedrängt haben. 24 Zu Sach 5,5–11 als Eliminationsritus vgl. K EEL, Jerusalem, 1021f, und CH. UEHLINGER , Die Frau im Efa (Sach 5,5–11). Eine Programmvision von der Abschiebung der Göttin, BiKi 49 (1994) 93–103: 98.

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einen späteren Nachtrag darstellt, wird schon daran deutlich, dass sie sich nicht mehr an den in Jerusalem agierenden „Mann mit der Messschnur“ richtet, dem das JHWH-Wort in V.8b–9 gilt, sondern an die babylonische Gola (V.10–13) sowie an die Tochter Zion (V.14–16). 2.1 Das neue Jerusalem (2,5–9) Die Struktur des Nachtgesichtes enthält zwei Bildsequenzen. Das geschaute Geschehen spielt sich auf der irdischen (V.5–6) und der himmlischen Ebene (V.7–9) ab, wobei das himmlische Geschehen direkt auf das irdische Geschehen zielt, ja eine Art Gegenentwurf zu diesem proklamiert. 2,5 Und ich hob meine Augen auf und sah: Siehe – (da war) ein Mann. Und in seiner Hand war eine Messschnur.

Bild 1

6 Und ich sprach: Wohin gehst du? Und er sprach: Jerusalem auszumessen, zu sehen wie (groß) seine Breite und seine Länge ist. -------------------------------------------------------------

Deutung

Bild 2

Erde

Himmel

7 Und siehe, der Engel, der mit mir redete, trat auf. 25 Und ein anderer Engel trat ihm entgegen. 8 Und er sprach zu ihm: Lauf! Sprich zu diesem jungen Mann: Offen (ʺʥʦʸʴ) 26 soll Jerusalem bleiben vor Menge an Menschen und Vieh in seiner Mitte. 9 Ich aber, ich will für es sein – Spruch JHWHs – eine Mauer aus Feuer (ˇʠ ʺʮʥʧ) ringsum. Und als Herrlichkeit (ʣʥʡʫ) will ich in seiner Mitte sein.

Botenauftrag Verheißung I

Erde

Verheißung II Verheißung III

25 LXX liest in V.7a DH??RSG JDHÉund setzt damit wahrscheinlich wie in Sach 3,6; 4,14 ʣʮʲ voraus. Dadurch entsteht der Eindruck, dass der angelus interpres von Anfang an dem Geschehen beigewohnt habe und lediglich der zweite JHWH-Engel in V.7 neu hinzugekommen sei. Dabei bleibt allerdings die zweiteilige Grundstruktur des Nachtgesichtes auf der Strecke, das aus zwei Szenen (V.5–6.7–9) mit unterschiedlichen Akteuren besteht. Daher ist mit L. KOEHLER, Hebräisches jƗsƗ’ und Markus 8,11, ThZ 3 (1947) 471, und G. W ALLIS, Die Nachtgesichte des Propheten Sacharja. Zur Idee einer Form (VT.S 29), Leiden 1978, 377–391: 379, der absolute Gebrauch von @BX im Sinne von „erscheinen/auftreten“ anzunehmen. 26 LXX liest J@S@J@ QOVI „fruchtbar“ und setzt wahrscheinlich hebräisch ʺˣʩ ʸʍʕ ˝ voraus (vgl. W. RUDOLPH, Haggai, Sacharja1–8, Sacharja 9–14, Maleachi [KAT 13,4], Berlin 1981, 84). Dagegen sprechen allerdings nicht nur die wichtigsten Textzeugen, sondern auch das in diesem Nachtgesicht intendierte Städtebaukonzept.

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Zunächst sieht der Prophet einen Mann mit einer Messschnur (V.5). Auf die Frage, wohin er gehe, antwortet dieser, er wolle Jerusalem in seiner Breite und Länge ausmessen (V.6). Die Realisierung des Planes von Sach 1,16b soll Gestalt annehmen.27 Darauf folgt ein zweites Bild, das im Himmel oder auf der Grenze zwischen Himmel und Erde angesiedelt ist. Der angelus interpres erteilt einem weiteren Engel einen Botenauftrag. Er soll in das irdische Geschen eingreifen (V.7–8a) und dem „jungen Mann“ (ʸʲʰʤ) mit der Messschnur drei Verheißungen JHWHs mitteilen (V.8b–9). Wahrscheinlich werden hier unterschiedliche Städtebaukonzepte für den Wiederaufbau Jerusalems in frühpersischer Zeit durchgespielt. Der „Mann mit der Messschnur“, der Jerusalem in seiner Länge und Breite ausmessen will, folgt dem im gesamten Alten Orient gängigen Städtebaukonzept einer klar umgrenzten, von einer Mauer umgebenen Stadt. Die Verwendung der Termini ʡʧʸ „Breite“ und ʪʸʠ „Länge“ lassen an das für die Perserzeit übliche hippodamische Modell einer rechteckigen befestigten Stadt denken, das in Tel Megadim verwirklicht wurde28 und wohl auch den Plänen für das neue Jerusalem im Verfassungsentwurf des Ezechiel zugrunde lag, für den ja das Rechteck die zentrale geometrische Figur darstellt (Ez 45,6; 48,15).29 Die himmlischen Pläne für Jerusalem sehen aber – wie die erste JHWHVerheißung erkennen lässt – anders aus.30 Mit der Inversion des vorange27 Aufgrund der lexematischen Unterschiede ([ʤ]ʥʷ in 1,16; ʤʣʮ ʬʡʧ in 2,5) und vermeintlicher inhaltlicher Spannungen glaubte man immer wieder für 2,5 einen anderen Verfasser annehmen zu müssen als für 1,16 (ROBINSON/ HORST, Propheten, 222; A. B EHRENS, Prophetische Visionsschilderungen im Alten Testament. Sprachliche Eigenarten, Funktion und Geschichte einer Gattung (AOAT 292), Münster 2002, 273 u.a.). Für (ʤ)ʥʷ und ʬʡʧ muss aber die gleiche Grundbedeutung „Schnur, Seil, Strick“ angenommen werden (so K.M. B EYSE, ʥʷ, ThWAT 6 [1989] 1223–1225: 1223f, und H.-J. FABRY, ʬʡʧ, ThWAT 2 [1977] 699–706: 699ff). Beide können in einer Constructusverbindung mit dem Nomen ʤʣʮ „Maß“ eine Messschnur oder ein Maßband bezeichnen (Jer 31,39 ʤʥʷ ʤʣʮʤ/Sach 2,5 ʤʣʮ ʬʡʧ), sind also Synonyma. Dass es sich bei beiden um unterschiedliche Messwerkzeuge handle, der ʥʷ zum Ausmessen von Gebäuden und der ʬʡʧ als Seil zur Landvermessung diene (so REVENTLOW, Sacharja, 46), lässt sich aufgrund von Jes 34,11.17; Jer 31,39 und Hi 38,5 nicht aufrecht erhalten. Dort dient der ʥʷ ebenfalls zur Landvermessung. Die variierende Begrifflichkeit allein ist, wenn man den Grundsatz variatio delectat in Anschlag bringt, noch kein hinreichender Grund für die Annahme einer unterschiedlichen Verfasserschaft von Sach 1,16 und 2,5. 28 Vgl. dazu M. STERN, Material Culture of the Land of the Bible in the Persian Period 538–332 B. C., Warminster/Jerusalem 1982, 47ff; H. WEIPPERT, Palästina in vorhellenistischer Zeit, München 1988, 698f, und E.S. GERSTENBERGER, Israel in der Perserzeit. 5. und 4. Jahrhundert v. Chr (BE 8), Stuttgart 2005, 42. 29 S. dazu vor allem K ONKEL, Tempelvision, 155ff. 30 Vgl. O. W AHL, Göttliches und menschliches Messen. Zur Botschaft von Sacharja 2,5–9, in: L. Ruppert u.a. (Hg.), Künder des Wortes (FS J. Schreiner), Würzburg 1982, 255–272: 259ff, nimmt an, dass die Pläne der Ausmessung Jerusalems durch den Mann

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stellten Flächenplurals31 ʺʥʦʸʴ „offen“ (V.8b) wird unterstrichen, worauf es dem Autor ankommt. Sein Modell orientiert sich – wie Peter Marinkoviü gezeigt hat32 – an dem erstmalig in der frühen Perserzeit in Pasargadae und Persepolis aufgekommenen Konzept der „offenen Residenzstadt“.33 Dieses Modell verzichtete gegen das für die antike Stadt als Architekturmerkmal bestimmende Prinzip der Ummauerung weitestgehend auf Befestigungsanlagen.34 Der Komplex der königlichen Paläste lag in einem paradeisos, an den sich die Wohnsiedlungen derjenigen anschlossen, die im Palastbezirk beschäftigt waren (Beamte, Dienerschaft, Handwerker). Versorgt wurden die offenen Residenzstädte durch landwirtschaftliche Siedlungen im näheren und weiteren Umland sowie durch Abgaben aus dem gesamten Reich.35 Für den Schutz der offenen Residenzstadt, die stabile politische Verhältnisse voraussetzte, war die Leibgarde des Reichskönigs zuständig,

mit der Messschnur in einem diametralen Widerspruch zum Plan JHWHs gestanden hätten. Durch die Botschaft des Engels wären sie in ihrer „Kindlichkeit“ und Unangemessenheit vollkommen negiert worden. So auch K. ELLIGER, Die Propheten Nahum, Habakuk, Zephanja, Haggai, Sacharja, Maleachi (ATD 25), Göttingen 21951, 102. Man kann allerdings auch das durch den JHWH-Engel vermittelte Konzept der „offenen Residenzstadt“ als Steigerung und Überbietung der irdischen Vermessungsarbeiten sehen (mit J.M. VINCENT, Von der feurigen Herrlichkeit JHWHs in Jerusalem. Eine Auslegung von Sach 2,5–9, in: DERS., Das Auge hört. Die Erfahrbarkeit Gottes im Alten Testament [BThSt 34], Neukirchen-Vluyn 1998, 99–134: 118f, und D ELKURT, Nachtgesichte, 117). 31 Vgl. Ges-K §124ab. 32 Vgl. P. MARINKOVIû, Stadt ohne Mauern. Die Neukonstitution Jerusalems nach Sacharja 1–8, Diss. München 1996, 53ff. 33 Vgl. LUX, Jerusalem, 96f, und jetzt auch H.-P. MATHYS, Anmerkungen zur dritten Vision des Sacharja (Sacharja 2,5–9), ThZ 66 (2010) 103–118: 107f. 34 Vgl. H. KOCH, Es kündet Dareios der König … Vom Leben im persischen Großreich, Mainz 1992, 71. H.M. N IEMANN, Das Ende des Volkes der Perizziter. Über soziale Wandlungen Israels im Spiegel einer Begriffsgruppe, ZAW 105 (1993) 233–257: 234ff, deutet ʯʥʦʸʴ „offenes Land“ in Anlehnung an Ri 5,7.11 als kollektive Selbstbezeichnung der frühisraelitischen Bauern- und Hirtenbevölkerung, die sich dem Druck der befestigten kanaanäischen Stadtstaaten entzogen habe. Sacharja habe in seinem dritten Nachtgesicht das sozialutopische Programm der Rückkehr zu einer solchen frühisraelitischen Lebensform entworfen (a.a.O. 242, Anm. 28). Während allerdings hinter Ri 5 ein StadtLand-Konflikt erkennbar wird, in dem das frühe Israel gerade nicht in der Stadt (Innenperspektive), sondern draußen auf dem offenen Land siedelte (Außenperspektive), hebt Sach 2,8 diesen Gegensatz auf. Eine große Menge an Menschen und Vieh soll in der Stadt Jerusalem leben, die sich ohne Begrenzung in das offene Land hinein erstreckt. Daher haben wir es hier wohl nicht mit einer sozialutopischen Beschwörung der Anfänge Israels zu tun (Rückkehr aufs Land!), sondern eher mit einem an der persischen Städtebaukultur orientierten innovativen und geradezu utopisch erscheinenden Zukunftskonzept für Jerusalem. 35 Letzteres wird in dem kunstvollen Bildprogramm an der Osttreppe des Apadana von Persepolis eindrucksvoll vor Augen geführt. Vgl. KOCH, Dareios, 97ff.

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die sogenannten „Zehntausend Unsterblichen“.36 Dass die offenen Residenzstädte Lebensraum für eine große Menge an Mensch und Vieh boten, wird überdeutlich, wenn man einmal das gewaltige Palastareal von Persepolis in Augenschein genommen hat. Seine Errichtung und Unterhaltung erforderten beträchtliche Ressourcen an Menschen und materiellen Gütern.37 Die zweite Verheißung JHWHs wendet sich sofort dem zentralen Problem dieses Konzeptes zu. Wenn Jerusalem keine Stadt im üblichen Sinne sein sollte, für die Mauern und Wehranlagen eine selbstverständliche Notwendigkeit darstellten, sondern eine offene Residenzstadt, wer würde dann für seinen Schutz sorgen? Kein anderer als der künftige Gottkönig der Stadt selbst. Das wiederum betont vorangestellte pronomen separatum ʩʰʠʥ „ich aber“ (V.9a) unterstreicht die Proklamation des Schutzherrn der Stadt ebenso wie das doppelte ʤʩʤʠ „ich will dasein“ in V.9a.b, in dem man eine Anspielung auf Ex 3,14 sehen darf.38 Wenn der Schutzherr erklärt, dass er selbst als ˇʠ ʺʮʥʧ „Feuermauer“39 um die Stadt her sein wolle, dann knüpft der Autor hier wohl in erster Linie an die Symbolik der „Wolken- und Feuersäule“ an, in der JHWH beim Exodus Israel schützend voran ging und ihm folgte (Ex 13,21f; 14,19f.24; Num 14,14; Neh 9,12.19). Wie die mobile Feuersäule JHWHs Schutz und Gegenwart bei seinem Volk Israel auf dem Weg symbolisierte, so sollte die ˇʠ ʺʮʥʧ zum symbolischen Ausdruck für JHWHs Gegenwart und Schutz vor Feinden in derjenigen Phase der Geschichte werden, in der Wanderschaft und Exil ein Ende haben würden und JHWH sich selbst zur dauerhaften Rückkehr nach Jerusalem, seiner erwählten Stadt (Sach 1,17; 2,17; 3,2), verpflichtete. Aus 36

Vgl. KOCH, Dareios, 251ff. Interessant ist, dass dieses Konzept sachlich und terminologisch in Ez 38,11 wieder aufgegriffen und auf das Land übertragen wurde. Dort fällt Gog, der endzeitliche Feind Israels, in das „offene“ (ʺʥʦʸʴ) Land ein und führt gegen seine Bewohner Krieg, die in Städten „ohne Mauern, Riegel und Tore“ (ʭʩʺʬʣʥ ʧʩʸʡʥ ʤʮʥʧ ʯʩʠʡ) leben. Wurde das Konzept der offenen Residenzstadt Jerusalem in späterer Zeit zum endzeitlichen Idealkonzept für das gesamte Land erklärt? 38 Mit W ILLI-P LEIN, Sacharja, 75, und MATHYS, Anmerkungen, 113f. 39 Möglicherweise hat die Vorstellung ägyptische Wurzeln. So umgibt eine „Mauer aus Erz“ das Binsengefilde des Sonnengottes Re. Die Metapher wird dann im Rahmen der Königsideologie auf den Pharao übertragen (s. S. HERRMANN, Die Herkunft der „ehernen Mauer“. Eine Miszelle zu Jer 1,18 und 15,20, in: M. Oeming/A. Graupner (Hg.), Altes Testament und Verkündigung (FS A.H.J. Gunneweg), Stuttgart u.a. 1987, 344–352: 344ff). Vgl. die Aufnahme des Motivs in Jer 1,18; 15,20. M ATHYS, Anmerkungen, 111ff nimmt an, dass das „Erz“ bei Sacharja durch das „Feuer“ ersetzt wurde, weil Feuerphänomene auch sonst in der Theophanie JHWHs eine hervorgehobene Rolle spielen (1Kön 18,38; 2Kön 1,10.12; 2Chr 7,1; Ps 29,7; 104,4; Hi 1,16 u.a.) und Feuer von ihm als Waffe eingesetzt wird (Am 1,4.7.10.12.14; 2,2.5; Jes 30,27.30; Jer 17,27; 49,27; Hos 8,14; Sach 12,6 u.a.). 37

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der mobilen Feuerwolke wird eine sich in den potenziellen Stunden der Gefahr je und je von neuem einstellende undurchdringliche Feuermauer, die die offene Stadt umgibt.40 In diesem Zusammenhang ist darüber hinaus zu beachten, dass Wolke und Feuer ja nicht nur in einer besonderen Schutzbeziehung zum Volk Israel standen, sondern auch zum „Zelt der Begegnung“, dem mobilen Heiligtum (Ex 40,34.38; Num 9,15ff). An ihm signalisierten sie die jeweilige An- oder Abwesenheit JHWHs in seiner Wohnung. Dieser Umstand wird vor allem im Blick auf die dritte Verheißung JHWHs in V.9b wichtig. Wenn es dort heißt, dass er in der Mitte Jerusalems als ʣʥʡʫ „Herrlichkeit“ anwesend sein wolle, dann darf man darin auch eine Anspielung auf die priesterschriftliche Heiligtumstheologie sehen. Denn in Ex 40,34f „bedeckt“ (ʤʱʫ) die „Wolke“ (ʯʰʲ) das Zelt von außen, ja „wohnt“ (ʯʫˇ) auf ihm. Der ʣʥʡʫ hingegen „erfüllt“ (ʠʬʮ) das Innere der Wohnung JHWHs. „Wolke“ (ʯʰʲ) und „Herrlichkeit“ (ʣʥʡʫ) symbolisieren damit die Präsenz JHWHs an seinem Heiligtum nach innen und außen. Dieses Konzept scheint mir auch in Sach 2,9 vorzuliegen, ohne dass dabei expressis verbis vom Tempel die Rede ist. Immerhin könnte das abschließende ʤʫʥʺʡ „in ihrer Mitte“ eine Anspielung auf den Tempel sein, denn nach Lev 15,31; 16,16; 26,11; Ez 37,26.28; 43,7; 48,35; Ps 116,19 befand sich der Ort des Heiligtums bzw. des Tempels ebenfalls „in der Mitte“ (ʪʥʺʡ) des Volkes oder der Stadt Jerusalem.41 Auf das künftige Jerusalem übertragen heißt dies also, dass JHWHs Präsenz in der Stadt nach außen in der Feuermauer Gestalt gewinnen sollte42 und nach innen in seinem ebenfalls als Feuer-, 40 So auch MATHYS, Anmerkungen, 112. Man kann gegen diese Deutung einwenden, dass es sich bei der Feuersäule doch um ein bewegliches Symbol der Begleitung Israels durch JHWH auf dem Weg durch die Wüste handle, während die Feuermauer eher die Assoziation einer stabilen, stationären Größe nahe lege. Der Einwand übersieht, dass wir es in beiden Fällen mit Metaphern zu tun haben, die jeweils ein Architekturobjekt (ʣʥʮʲ und ʤʮʥʧ) mit dem Nomen ˇʠ verknüpfen. Das verbindende Moment zwischen Feuersäule und Feuermauer ist das des Schutzes und der Abwehr von Feinden, der nur jeweils im konkreten Fall wirksam wird. 41 Mit MATHYS, Anmerkungen, 116. 42 D.L. PETERSEN, Haggai and Zechariah 1–8, London 1985, 171 u.a. haben vorgeschlagen, das Bild der Feuermauer vom zoroastrischen Feuerkult her zu interpretieren. So sei z.B. die Residenzstadt Pasargadae von einer Reihe von Feueraltären umgeben gewesen. Allerdings lässt sich diese These vom archäologischen Befund her kaum halten. Zwar trifft es zu, dass der Feuerkult in der Achämenidenzeit nicht in Tempeln, sondern im Freien vollzogen wurde (vgl. dazu das Relief am Grabmahl Dareios I. in Naqš-e Rustam und die Erläuterungen bei KOCH, Dareios, 280ff). Aber von den beiden Steinsockeln, die im Umland von Pasargadae gefunden und als Feueraltäre interpretiert wurden, diente aller Wahrscheinlichkeit nur einer als Feueraltar (so M. HUTTER, Religionen in der Umwelt des Alten Testaments Bd. 1. Babylonier, Syrer, Perser [KStTh 4,1], Stuttgart 1996, 233). Für eine Feuermauer um die gesamte Stadt ist das zu wenig!

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Licht- und Glanzphänomen (Ex 24,27; Jes 4,5; 60,1f; Jer 13,16; Ez 1,4; 43,2) bekannten und mit dem Tempel eng verbundenen ʣʥʡʫ (vgl. bes. Ez 10,11.22–24; 43,1–5).43 Dasjenige Jerusalem, in das zurück zu kehren JHWH beschlossen hat (1,16), sollte sich nach alledem am Konzept der offenen persischen Residenzstadt orientieren. Damit rückte der Autor der Nachtgesichte in seiner mental map die westliche Peripherie des persischen Weltreiches, Jerusalem und Juda, ins Zentrum, während die Metropolen der persischen Reichskönige (Pasargadae, Persepolis, Susa und Ekbatana), in denen die realen politischen Entscheidungen fielen, zur Peripherie mutierten. Was uns hier vorliegt, ist ein national-religiöses, partikularistisches und kontrapräsentisches Geschichtskonzept. Die fremden Völker kommen lediglich als bereits überwundene (2,1–4) oder potenzielle Feinde Judas und Jerusalems in Blick, vor denen JHWH seine offene Residenzstadt und deren Bewohner als Feuermauer schützen wird (2,9). Theologisch wird seine Gegenwart in der Mitte der Stadt kontrapräsentisch und kontrafaktisch gedacht. Implizit relativiert und marginalisiert sie die faktische Präsenz der fremden politischen Herrscher und unterstellt sie der Herrschaft des alleinigen Gottkönigs JHWH in Jerusalem. 2.2 JHWHs Einzug in Jerusalem (2,14–16) Das dritte Nachtgesicht hat einen Nachtrag in Gestalt von drei JHWHWorten erhalten (V.10–13.14–16.17),44 die alle drei eine vergleichbare Grundstruktur miteinander teilen. Einem Aufruf (V.10–11.14a.17a) folgt jeweils eine durch ʩʫ–causalis eingeleitete Begründung (V.12–13.14b– 16.17b). Das erste JHWH-Wort enthält einen Aufruf an die babylonische Gola zur Flucht nach Jerusalem (V.10–13),45 das zweite ruft die Tochter Zion zur Freude über den bevorstehenden Einzug des Gottkönigs JHWH in 43 Die ˇʠ ʺʮʥʧ und der ʣʥʡʫ beschreiben die beiden Momente, die in der altorientalischen Metapher vom „Schreckensglanz“ (pulhu melammu) von Göttern und Königen ihren Niederschlag gefunden hat, ihre visuell in Szene gesetzte Abschreckung von Feinden sowie ihre glanzvolle Präsenz. Vgl. dazu F. HARTENSTEIN, Die Unzugänglichkeit Gottes im Heiligtum. Jesaja 6 und der Wohnort JHWHs in der Jerusalemer Kulttradition (WMANT 75), Neukirchen-Vluyn 1997, 69–76; DERS., JHWH und der „Schreckensglanz“ Assurs (Jes 8,6–8). Traditions- und religionsgeschichtliche Beobachtungen zur „Denkschrift“ Jesaja 6–8, in: F. Hartenstein u.a. (Hg.), Schriftprophetie (FS J. Jeremias), Neukirchen-Vluyn 2004, 86ff. 44 Das wird schon daran deutlich, dass die drei Sprucheinheiten sich ganz unvermittelt nicht mehr an den jungen Mann mit der Messschnur richten, der der Adressat von V.8f war, sondern von V.10 an vollkommen unvermittelt ganz neue Adressatengruppen angesprochen werden. 45 Vgl. dazu R. B ACH, Die Aufforderung zur Flucht und zum Kampf im alttestamentlichen Prophetenspruch (WMANT 9), Neukirchen 1962, 19.

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die Stadt auf (V.14–16), und das dritte fordert „alles Fleisch“ zur Stille angesichts der unmittelbar bevorstehenden praesentia dei auf (V.17).46 Im Folgenden konzentrieren wir uns auf den „Aufruf zur Freude“ in V.14– 16.47 2,14 Juble und freue dich, Tochter Zion!

Aufruf

Denn siehe, ich komme und werde in deiner Mitte (ʪʫʥʺʡ) wohnen (ʩʺʰʫˇʥ) – Spruch JHWHs –,

Begründung A

15 [Und es werden sich viele Völker sammeln bei JHWH an jenem Tag. Und sie werden mir zum Volk sein. Ich aber will in deiner Mitte (ʪʫʥʺʡ) wohnen (ʩʺʰʫˇʥ)] damit du erkennst, dass JHWH der Heerscharen mich zu dir gesandt hat.

Begründung B

16 Dann wird JHWH Juda erben (als) seinen Besitz auf dem heiligen Boden. Und er wird Jerusalem noch einmal erwählen

Begründung C

So, wie der Aufruf zur Flucht (V.10–13) mit dem Nomen ʣʥʡʫ an die dritte Verheißung des vorhergehenden Nachtgesichtes anknüpfte (V.9b ĺ V.12a), so tut dies der Aufruf zur Freude mit dem Nomen ʪʥʺ (V.9b ĺ V.14b.15b). JHWH will „in der Mitte“ (ʪʥʺʡ) der Tochter Zion wohnen. Diese Stichwortanknüpfungen legen die Vermutung nahe, dass es sich bei den Sprucheinheiten um eine Nachinterpretation des vorausgehenden Nachtgesichtes handelt. Das „Dasein“ der Herrlichkeit JHWHs in der Mitte Jerusalems (V.9) wird danach ausdrücklich als seine Einwohnung (ʩʺʰʫˇʥ) in der Stadt interpretiert. Wenn unsere Vermutung zutrifft, dass mit der ʣʥʡʫ-Aussage in 2,9b ein klassischer Topos der Heiligtumstheologie eingespielt worden ist, dann wird diese jetzt mit der Schekina-Theologie verknüpft. JHWH wird in Gestalt seiner Herrlichkeit in das Zionsheiligtum zurückkehren, das die Mitte Jerusalems bildet.48 Dieses Konzept knüpft an die aus vorexilischer Zeit 46 Vgl. dazu R. LUX, „Still alles Fleisch vor JHWH …“. Das Schweigegebot im Dodekapropheton und sein besonderer Ort im Zyklus der Nachtgesichte des Sacharja, in: DERS., Prophetie und Zweiter Tempel. Studien zu Haggai und Sacharja (FAT 65), Tübingen 2009, 180–190: 180ff. 47 Zur formgeschichtlichen Beschreibung s. F. CRÜSEMANN, Studien zur Formgeschichte von Hymnus und Danklied in Israel (WMANT 32), Neukirchen-Vluyn 1969, 55–65, und G. MANSFELD, Der Ruf zur Freude im Alten Testament, Diss. Heidelberg 1965, 32ff. 48 Die Rückkehrerwartung hatte in der altorientalischen Tempeltheologie ihre Vorbilder. Vgl. dazu den Bericht Asarhaddons über die Zerstörung und den Wiederaufbau Babels und des Marduktempels Esagila. Danach hatten die Götter im Zorn über die Bewoh-

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bekannte Schekina-Theologie an (1Kön 8,12f). Nachdem sich bei Ez der ʣʥʡʫ JHWHs „aus der Mitte der Stadt“ (ʸʩʲʤ ʪʥʺ ʬʲʮ) erhoben hatte und diese verließ (Ez 11,23), wird im Verfassungsentwurf die Rückkehr der „Herrlichkeit“ und ihre erneuten Einwohnung im Tempel thematisiert (Ez 43,9). In der Sache folgt auch Sach diesem Vorstellungsmuster (Sach 2,9). Ort der Einwohnung ist bei ihm die mit der „Tochter Zion“ identisch gedachte Größe der Stadt Jerusalem und ihr heiliger Berg (Sach 2,14a; 8,3).49 Die im Exil vom Heiligtum abgelöste und auf Israel bezogene Schekina-Theologie (Ex 25,8; 29,45f, 1Kön 6,13; Ez 43,7.9), in der die Vorstellung vom Wohnen Gottes zu einem ekklesiologischen Theologumenon transformiert worden war,50 wird in den den Wiederaufbau des Tempels favorisierenden nationalreligiösen Kreisen, zu denen auch Haggai und Sacharja gehörten (vgl. Esr 5,1f), erneut an die Stadt Jerusalem mit seinem Zionsheiligtum zurück gebunden. Das personale Verständnis der Schekina tritt gegenüber dem räumlichen Konzept wieder in den Hintergrund.51 Die auf die Zusage vom Wohnen JHWHs in der Mitte der Tochter Zion in Sach 2,14b folgende Zwischenformel ʤʥʤʩ ʭʠʰ markiert eine Zäsur zwischen V.14 und 15. V.15a erweitert die Verheißung von V.14 durch eine eschatologische Heilszusage an viele Völker (ʠʥʤʤ ʭʥʩʡ)52. Mit dem ner der Stadt diese und ihre Heiligtümer verlassen und waren wie die Vögel in den Himmel geflogen, wohl um dort ihre himmlischen Wohnsitze aufzusuchen. Nach einer Verkürzung der 70-jährigen Straffrist auf 11 Jahre versöhnen sich Marduk und die übrigen Götter mit der Stadt, beauftragen Asarhaddon mit dem Wiederaufbau und sagen ihre Rückkehr zu. Nach Abschluss der Arbeiten wird diese Rückkehr in Gestalt ihrer Götterbilder feierlich zelebriert: „Die Götter und Göttinnen, die darin wohnten, welche das Überschwemmungswasser und der Gewitterregen fortgeführt hatte, deren Aussehen traurig geworden war, hob ich auf aus ihrem schlimmen Verfalle ihre verdüsterten Züge ließ ich erglänzen, ihr schmutziges Gewand reinigte ich, und ich ließ sie in ihren Heiligtümern für ewig wohnen“ (R. B ORGER, Die Inschriften Asarhaddons, Königs von Syrien (AfO 9), Graz 1956, 11ff, Zitat 23 [Episode 32 Fassung a: A, 9–17]). 49 Es verwundert nicht, dass in dem nachexilischen Ps 135,21 der Gott Israels gleichzeitig als ʯʥʩʶʮ ʤʥʤʩ sowie als ʭʬˇʥʸʩ ʯʫˇ bezeichnet werden kann. 50 Vgl. dazu B. J ANOWSKI, „Ich will in eurer Mitte wohnen“. Struktur und Genese der exilischen Schekina-Theologie, in: DERS., Gottes Gegenwart in Israel. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 1993, 119–147: 144. 51 Dabei ist allerdings festzuhalten, dass damit diejenigen Vorstellungsgehalte, die der Schekina-Theologie im Exil zugewachsen waren, nicht obsolet wurden. So auch B. J ANOWSKI, Gottes Weisheit in Jerusalem. Sirach 24 und die biblische Schekina-Theologie, in: H. Lichtenberger/U. Mittmann-Richert (ed.), Biblical Figures in Deuterocanonical and Cognate Literature (DCLY 2008), Berlin/New York 2009, 1–29: 8ff. 52 Die Formel ʠʥʤʤ ʭʥʩʡ begegnet als temporale Deixis in Sach 1–8 nur dreimal (2,15; 3,10; 6,10). Dabei handelt es sich durchweg um sekundäre Zusätze zum Zyklus der Nachtgesichte. Dieser Befund wird durch das außergewöhnlich gehäufte Vorkommen der Formel bei Deuterosacharja (9,16; 11,11; 12,3.4.6.8[2x].9.11; 13,1.2.4; 14,4.6.8.9.13.

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Stichwort ʭʩʥʢ knüpft der Autor von V.15a an V.12f an. Beide Aussagen über die Völker stehen aber in einer sachlichen Spannung zueinander. Während dort von einem Völkergericht die Rede ist und auch alle anderen Aussagen über die Völker in den Nachtgesichten negativ konnotiert sind (1,15; 2,1–4), worin sie mit der völkerkritischen Tendenz Haggais übereinstimmen (Hag 2,6–9.20–22), haben wir es hier mit einer Heilszusage an diese zu tun.53 Auch formal hebt sich V.15a als Prosatext vom vorausgehenden poetisch geformten V.14 ab. Damit liegt eine Reihe von Indizien dafür vor, dass es sich bei V.15a um eine späte Einfügung in den Aufruf zur Freude handelt, die den Heilspartikularismus universalistisch überwindet.54 Hinreichende Gewissheit für diese redaktionsgeschichtliche Hypothese ergibt sich aus einer weiteren Beobachtung. V.15aȕ greift den zweiten Teil der Bundesformel auf: ʭʲʬ ʩʬ ʥʩʤʥ „und sie werden mir zum Volk werden“. Für Rudolf Smend begegnet die Bundesformel mit ihrem Völker-

20.21) unterstrichen. Die Formel verweist auf einen vorher abgesteckten zeitlichen Rahmen, der hier durch das bereits angesagte künftige Wohnen JHWHs in Jerusalem gebildet wird. Vgl. dazu JENNI, Angaben, 165f. 53 H.-P. MATHYS Israel und die Völker in der Achämenidenzeit: Bekanntes und weniger Bekanntes, in: H. Irsigler (Hg.), Die Identität Israels. Entwicklungen und Kontroversen in alttestamentlicher Zeit (HBS 56), Freiburg u.a. 2009, 145–156:145ff hat deutlich gemacht, dass die Politik der Achämeniden gegenüber den von ihnen unterworfenen Völkern auch die Literatur Israels in der Perserzeit in mancherlei Weise inspiriert hat. Dabei werden die Völker in Analogie zum persischen Reichskönig dem Gottkönig JHWH unterstellt und Israel nachgeordnet, für das sie Hilfsdienste leisten müssen (z.B. Finanzierung des Zweiten Tempels, Hag 2,6–9). Schließlich bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die mit der Tora gegebene Sonderstellung Israels anzuerkennen (Dtn 4,6). Dabei wird allerdings die Einbeziehung der Völker in das Heilshandeln JHWHs in der frühnachexilischen Zeit, in der Haggai und Sacharja wirkten, allenfalls am Rande von Bedeutung gewesen sein. Der Schock über die blutige Niederschlagung der Aufstandsbewegung durch Dareios I. am Beginn seiner Herrschaft dürfte das freundliche Perserbild erheblich eingetrübt haben. Wahrscheinlich spiegelt die Aufforderung zur Flucht in Sach 2,10–13 diese auch für die Gola politisch brisante Situation wider. Erst in der späteren Perserzeit hellt sich das Bild der Völker in der Literatur Israels sichtbar auf. Vgl. dazu auch R. LUX, „Wir wollen mit euch gehen…“ Überlegungen zur Völkertheologie Haggais und Sacharjas, in: DERS., Prophetie und Zweiter Tempel. Studien zu Haggai und Sacharja (FAT 65), Tübingen 2009, 241–265: 252ff. 54 Thematisch knüpft die Heilszusage an die Völkerwallfahrtstexte zum Zion (Jes 2,2– 4.60; Mi 4,1–3) an. Sachlich und lexematisch besteht eine enge Verbindung zu Jes 56,1– 8. Nach O.H. STECK, Der Abschluß der Prophetie im Alten Testament. Ein Versuch zur Frage der Vorgeschichte des Kanons (BThSt 17), Neukirchen-Vluyn 1991, 29, liegt in Jes 56,1–8 eine Fortschreibung aus dem 3. Jh. v. Chr. vor. Dort begegnet ebenfalls das seltene Verb ʤʥʬ1 Ni. als terminus technicus für den Anschluss von Fremden an JHWH (V.3.6), das nur in spätnachexilischen Texten belegt ist. Vgl. auch die durchweg späten Texte Jes 14,1; Jer 50,5; Est 9,27.

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bezug hier „in einer letzten Abwandlung“,55 die den Bund JHWHs mit seinem Volk wie in Jes 56,4.6 universal auch auf Nichtisraeliten ausweitet.56 Erfährt mit diesem Zusatz die Schekina-Theologie eine universalistische Ausweitung? Wohnt JHWH mit der Etablierung eines „Völkerbundes“ nun auch in der Mitte der nichtisraelitischen Völker? So weit ging der Redaktor in seiner universalisierenden Interpretation offensichtlich noch nicht. Mit der Wiederholung der Aussage vom Wohnen Gottes von V.14b in V.15b@ (ʪʫʥʺʡ ʩʺʰʫˇʥ) wird der ursprüngliche Textzusammenhang (V.14 ĺ 15bA) wieder hergestellt.57 Liest man die folgende Wiederholung der Verheißung vom Wohnen Gottes als Adversativsatz58 – „Ich aber will in deiner Mitte wohnen“ –, dann behält Israel trotz der Einbeziehung der Völker in den JHWH-Bund eine Sonderposition in der Völkerwelt.

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Vgl. R. SMEND, Die Bundesformel, in: DERS., Die Mitte des Alten Testaments, Gesammelte Studien Bd. 1 (BevTh 99), München 1986, 11–39: 39. 56 Das aber ist noch nicht die Konzeption Sacharjas und seiner frühen Rezipienten. In Sach 8,7f, ein Text, der wohl nicht zur Grundschicht, aber zu einer frühen Redaktionsstufe der Sacharjaüberlieferung gehören dürfte, wird deutlich, dass die Ausleger Sacharjas mit der Rückkehr JHWHs nach Jerusalem auch die Hoffnung einer umfassenden Rückkehr aus der Gola verbunden haben. Diese Rückkehr war für sie die Rettung und allein Werk JHWHs. Denn so wie er selbst nach 2,14 und 15b in der Mitte der „Tochter Zion“, also Jerusalems, wohnen wollte, so räumt er jetzt auch den geretteten Rückkehrern ein Wohnrecht in der Stadt ein (V.8a) und schließt seinen Bund mit ihnen, indem er ihnen die Treue hält und Gerechtigkeit wieder herstellt (V.8b). Die vollständige Bundesformel bleibt hier deutlich partikular auf Israel beschränkt. Der Rückkehr JHWHs und seiner Einwohnung in der Mitte Jerusalems (2,5–9,14) entspricht die Heimholung der Gola und ihrer Einwohnung in der Mitte der Stadt (8,7f). Diese Gegenseitigkeit wird mit der zwei gliedrigen Bundesformel besiegelt. Von dieser partikularistischen Konzeption unter scheidet sich V.15a erheblich. Die mental map des späten Bearbeiters, dem Sach 8,7f vorgelegen haben dürfte, nimmt neue, universale Heilskonturen an. Die Völker kommen nicht mehr als potenzielle Feinde in Blick, vor denen JHWH als Feuermauer sein Volk schützen muss, sondern schließen sich JHWH an und finden Aufnahme in seinem Bundesvolk. 57 Damit bleibt allerdings ein Problem verbunden. Die gezielte Wiederaufnahme der Schekina-Verheißung lässt im synchronen Lesezusammenhang unterschiedliche Deutungen zu. Sie kann als Abwandlung und Ersatz für die fehlende Hälfte der Bundesformel in V.15a interpretiert werden, wonach JHWH dann auch der Gott der Völker sein wolle, die sich ihm anschließen. Zwar bezieht sich das Suffix der 2. Pers. Sg. wie in V.14b auf die „Tochter Zion“ zurück, aber diese soll ja – der Intention des Redaktors folgend – zu einer Metropole der Völker avancieren, die zu seinem Volk werden (vgl. Sach 8,23). Die Zusage der Einwohnung JHWHs, seiner Nähe und Präsenz, würde sich bei dieser inklusiven Lesart nicht nur an das Bundesvolk vom Sinai richten, sondern an den künftigen „Völkerbund“ in Zion, der sich „an jenem Tage“ um JHWH sammeln wird. Geht die Völkerwelt damit ohne jede Differenz in Israel auf? 58 Vgl. Ges-K § 163.

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An der Einwohnung Gottes in der Mitte Zions sollen die Jerusalemer und Judäer schließlich erkennen,59 dass JHWH den Propheten zur „Tochter Zion“60 gesandt hat (V.15bA). Diese – die Völker exkludierende – Lesart von der Einwohnung JHWHs in Zion und der daraus resultierenden Erkenntnis der Sendung des Propheten durch JHWH wird nicht nur durch das Suffix der 2. Pers. Sg. gestützt (ʪʫʥʺʡ), sondern vor allem durch den folgenden V.16. Dieser ist rein partikular auf Juda als den Erbbesitz JHWHs und das „Heilige Land“ sowie auf die Erwählung Jerusalems konzentriert. Das Motiv, dass JHWH Juda als seinen ʷʬʧ und seine ʤʬʧʰ wieder in Besitz nehmen wird, geht auf die mythologische Vorstellung von der Aufteilung der Erde an die Göttersöhne durch den Göttervater „Eljon“ zurück (Dtn 32,6; Ps 82,6).61 Da die ʤʬʧʰ nach altisraelitischem Bodenrecht als unveräußerlich galt (Lev 25,23; 1Kön 21,3), macht V.16 deutlich, dass JHWH seine Besitzansprüche an Juda und Jerusalem nicht aufgegeben hat. Mit der Zusage seiner Einwohnung inmitten der „Tochter Zion“ nimmt er gleichsam seine „Altimmobilien“ wieder in Besitz und bekräftigt damit, dass es sich dabei um „heiliges Land“ bzw. um das „Land des Heiligtums“ (ʺʮʣʠ ˇʣʷʤ) handelt.62 Heilig ist dieses Land nur deswegen, weil es sich dabei eben um die ʤʥʤʩ ʺʮʣʠ handelt (Jes 14,2), das für ihn ausgesonderte Land seiner Gegenwart und seines Wohnens.63

59 Die Erkenntnisformel bezieht sich bei Sacharja auf die „Sendung“ des Propheten. Sie begegnet durchweg in Zusätzen zum Zyklus der Nachtgesichte (2,[12.]13.15; 4,9; 6,15) und dient damit der nachträglichen Legitimation der Botschaft Sacharjas. Von besonderem Interesse ist dabei, dass die erste Sendungsaussage im Rahmen der Aufforderung zur Flucht in 2,12 noch nicht mit der Erkenntnisformel verbunden worden ist. Sie weist lediglich auf eine Sendung des Propheten durch den ʣʥʡʫ (JHWHs) zu den israelfeindlichen Völkern hin, die Israel ausgeraubt hatten. Wahrscheinlich wurde damit auf eine frühere Phase der Wirksamkeit des Propheten unter den Angehörigen der Gola angespielt. Vgl. dazu R. LUX „…damit ihr erkennt, dass JHWH Zebaot mich gesandt hat“. Erwägungen zur Berufung und Sendung des Propheten Sacharja, in: DERS., Prophetie und Zweiter Tempel. Studien zu Haggai und Sacharja (FAT 65), Tübingen 2009, 269–282: 272ff. 60 Das in Erweiterung zur Erkenntnisformel in 2,13b nachgestellte ʪʩʬʠ in 2,15bA betont noch einmal ausdrücklich die Sendung des Propheten zur „Tochter Zion“ (im Unterschied zu 2,12aA)! Die Aussage vom Wohnen JHWHs gilt eben nur ihr und niemandem sonst. 61 Vgl. H.-J., ZOBEL, ʯʥʩʬʲ , ThWAT 6 (1989) 131–151: 131ff. 62 Zu ˇʣʷ als Bezeichnung für die Stiftshütte und das Zionsheiligtum s. Ex 28,43; 29,30; 35,19; 39,1; Ps 20,3; 60,8; 150,1. Vgl. in Analogie dazu die Bezeichnung Jerusalems als ˇʣʷʤ ʸʩʲ (Jes 48,2; 52,1; Neh 11,1.18) oder des Zion als ˇʣʷʤ ʸʤ (Jes 27,13; Jer 31,23; Sach 8,3; Ps 2,6). 63 Wahrscheinlich wurde die Rede von der ˇʣʷʤ ʺʮʣʠ in Sach 2,16 zum Ausgangspunkt der späteren Bezeichnung Israels als „Heiliges Land“ (vgl. SapSal 12,3; 2Makk 1,7).

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Damit hält auch Sach 2,16 eine bleibende Differenz zwischen Israel und den Völkern fest. Obwohl sich viele Völker JHWH anschließen und in ein Bundesverhältnis zu ihm eintreten werden, bleibt der „Tochter Zion“ ein unwiderrufliches Privileg. Nur in ihrer Mitte, an keinem anderen Ort und in keinem anderen Volk der Welt will JHWH wohnen. Der Zion wird zum irdischen Haftpunkt und energetischen Zentrum64 der Regentschaft JHWHs, von dem aus sich seine Wirksamkeit in die Völkerwelt hinein erstreckt. Diese partikularistische Schekina-Konzeption von Sach 2,14.15b–16 entspricht den vorhergehenden drei Nachtgesichten (1,8–17; 2,1–4.5–9) und steht damit wohl noch ganz nahe bei der Grundbotschaft Sacharjas. Ihre Weltsicht konzentriert sich auf die Rückkehr JHWHs und der Gola nach Jerusalem (V.10–13). Das war das Programm des Tages: der Wiederaufbau der Stadt und des Tempels sowie die Auslotung ihrer künftigen Rolle im Zuge der Konsolidierung der Machtverhältnisse im Perserreich unter Dareios I. Es bedurfte wohl erst länger anhaltender neuer Erfahrungen im Vielvölkerstaat der Perser, die in späterer Zeit eine universale Perspektive vom „Vielvölkerbund“ eröffneten, die ein späterer Bearbeiter des Sacharjabuches in 2,15a eingetragen hat.

3. Jerusalem – Stadt der Treue (8,1–5) Sach 8,1–5 lässt sich als eine Zusammenfassung der Grundbotschaft des Propheten deuten. Auf die Wortereignisformel (V.1) folgt eine Zusammenstellung von drei durch die Botenformel (ʺʥʠʡʶ ʤʥʤʩ ʸʮʠ ʤʫ) eingeleiteten JHWH-Worten (V.2–5).65 Die ersten beiden JHWH-Worte (V.2f) lehnen sich eng an die Terminologie und den Inhalt des ersten Nachtgesichtes (1,7–17) an, setzen aber auch charakteristische neue Akzente. Nach dem sekundären Datierungssystem, das die Bücher Hag und Sach 1–8 miteinander verbindet, ergingen diese Worte knapp zwei Jahre nach der Proklamation der Nachtgesichte (vgl. 1,7 ĺ 7,1). Die historische Validität dieser chronologischen Angaben 64

Dabei ging man offensichtlich von einer konzentrischen Heiligkeitskonzeption aus. Im Zentrum befand sich das „Allerheiligste“ (ʭʩˇʣʷʤ ˇʣʷ) als Thronsitz des unsichtbaren Gottes JHWH, das gleichsam einen Tresor der Heiligkeit bildete (Ex 26,33; 1Kön 8,6; 1Chr 6,34; 2Chr 3,8.10; 5,7; Ez 41,4). Von ihm strahlt die Heiligkeit auf den gesamten Tempelkomplex aus (1Kön 8,4.8.10; 1Chr 23,32; 29,5; Ez 45,2.6.7; 44,27; Ps 11,4; Hab 2,20 u.a.), auf den „heiligen Berg“ (Jes 11,9; 56,7; 57,13; 65,11; 66,20; Jer 31,23; Jl 4,17; Ob 1,16; Ps 2,6), die „heilige Stadt“ (Jes 48,2; 52,1; Neh 11,1.18) und schließlich das gesamte „heilige Land“ (Sach 2,16). 65 Diese dürfte später sukzessive erweitert worden sein (8,6.7f.9–13.14–17.18f.20– 22.23).

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ist umstritten.66 Die Einordnung von Sach 8,1ff nach dem Visionszyklus macht aber durchaus Sinn und trägt zur Erklärung der inzwischen eingetretenen Akzentverschiebungen bei. Auf die Wortereignisformel und die Botenformel in V.1–2a@ folgt ein chiastisch geformtes Bikolon, das den Chiasmus von Sach 1,14b aufnimmt und erweitert: 8,2abA

1,14b

A Ich eifere für den Zion B’ und (mit) großer Glut A Ich eifere B’ und den Zion

B (mit) großem Eifer A’ eifere ich für ihn. B für Jerusalem A’ einen großen Eifer

GK> CFÔG@·MPHÔØ 8³BHK ÔXSH@-$ÂPHÔ ?'KÔXSH@-$ÂPHÔGK± CFÔGLÁWDVÔ ÔÔÔÔÔÔ]«HK…U6QXKHÔXSH@-$ÇPHÔ ÔÔ?GK CFÔG@ÁMPHÔØ 8³BHK 6ÔÔ Ô

In 8,2 konzentriert sich der Eifer JHWHs allein auf den Zion. Jerusalem fehlt. Und dieser Eifer wird in seiner Intensivität dadurch noch gesteigert, dass die aus 1,14 bekannte ʤʬʥʣʢ ʤʠʰʷ in der zweiten Zeile des parallelismus membrorum von 8,2 durch eine „große Glut“ (ʤʬʥʣʢ ʤʮʧ) verstärkt wird. JHWH wird zum glühenden Verfechter der Sache Zions. Die Jerusalemtheologie des ersten und dritten Nachtgesichtes wird in 8,2 auf die Zionstheologie konzentriert. Die Stadt definiert sich vom Zion, von ihrer heiligen Mitte her, die in besonderer Weise mit ihrem Gott verbunden ist. Das wird schließlich auch aus dem zweiten JHWH-Wort in 8,3 deutlich das sowohl an 1,16 als auch an 2,14 anknüpft.67

66 W ILLI-P LEIN, Sacharja, 18f.55 vermutet, dass das die Bücher Haggai und Sacharja verklammernde chronologische System von Sacharja selbst geschaffen worden sei. Eine genaue Analyse der chronologischen Angaben macht allerdings deutlich, dass das System in sich nicht einheitlich ist. So stammt mindestens Sach 1,1 von einem deutlich späteren Bearbeiter als die ihm vorausgehenden und nachfolgenden Datierungen. Vergleicht man das bei Hag und Sach vorliegende Datenmaterial mit den Datierungen im Ezechielbuch (Ez 1,1f; 8,1; 24,1; 33,21; 40,1), dann wird deutlich, dass den nachexilischen Herausgebern dieser Prophetenbücher – wer immer sie auch gewesen sein mögen – offensichtlich daran lag, die Prophetenworte präzise einem historischen Kontext zuzuordnen, aus dem heraus sie zu verstehen sind. Es handelt sich daher um Leseanweisungen, die die Texte auch späteren Lesern noch erschließen sollen. Derartige Anweisungen waren aber noch nicht für die durch den Propheten unmittelbar angesprochenen Personen erforderlich, die ja mit ihm denselben Zeithorizont teilten. Erst spätere Generationen, für die die Zeitbezüge der Prophetenworte nicht mehr zum selbstverständlichen Wissen gehörten, bedurften derartiger chronologischer Leseanweisungen. Dabei müssen diese keineswegs als reine Fiktion abgetan werden, dürften allerdings wohl erst auf die Tätigkeit von Redaktoren zurückgehen, die ein oder zwei Generationen später begannen, das ihnen überkommene prophetische Erbe zu sammeln und zu pflegen. 67 Dadurch wird deutlich, dass dem Autor von Sach 8,3 der durch Sach 2,14–16 erweiterte Zyklus der Nachtgesichte bereits vorgelegen haben dürfte.

Jerusalem – Stadt der Treue

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]«HK>U6QXÔ S¸! ÔX3H±MJUVÔÔÔÔÔÔÔÔÔÔÔÔÔÔÔØ 8¾BH K@ ÔX3HA UÔ ?UC0NGÔQGÂÔS @²AB ÔGVÂGX QGVÔÔÔÔSL ½@G QX:H·Ôh]«HKiU6QXÔG@®QP M(V A Ich kehre zum Zion zurück B und will in der Mitte Jerusalems wohnen. B’ Und Jerusalem wird Stadt der Treue genannt A’ und der Berg JHWH Zebaots „der heilige Berg/der Berg des Heiligtums“.

JHWHs in 1,16 angekündigte Rückkehr nach Jerusalem erfährt auch hier eine zionstheologische Interpretation. Die Mitte der Stadt ist der Zion. Er wird der Ort seiner Einwohnung sein. Aber mit dieser Mitte hat es etwas ganz Besonderes auf sich. Und diese Besonderheit wird expressis verbis benannt. Sie gibt der Stadt ihren Ehrennamen „Stadt der Treue“ (ʺʮʠʤʚʸʩʲ). Mit diesem Namen kann sowohl das geforderte Verhalten ihrer menschlichen Bewohner zum Ausdruck gebracht werden, ihre Rechtstreue und Wahrheitsliebe (vgl. Sach 8,16.19), als auch die Treue ihres göttlichen Einwohners (8,8) zu seinem Wohnsitz. Ja, in Jerusalem als ʺʮʠʤʚʸʩʲ kommt es geradezu zu einer Entsprechung zwischen der ʺʮʠ Gottes und des Menschen. So wie diese ʺʮʠ (Treue/Wahrheit) an ihren Mitbürgern praktizieren sollen, so will auch JHWH in „Treue“ und „Wahrheit“ unter ihnen präsent sein.68 Bleibender Ort dieser Präsenz aber ist der Zion. Seiner wird JHWH sich nach 1,17 noch einmal erbarmen. Und so, wie Juda als ˇʣʷʤ ʺʮʣʠ, als „heiliges Land“ sein „Erbanteil“ (ʷʬʧ) unter den Völkern ist (2,16), so ist der Zion als „heiliger Berg“ (ˇʣʷʤ ʸʤ) sein Wohnsitz in der Mitte Jerusalems, das er erwählt.69 Dass damit die Tempeltheologie ins Spiel kommt, der „heilige Berg“ eben der „Berg des Heiligtums“ ist, wird aus Texten wie Jes 56,7; 66,20 deutlich, in denen der ˇʣʷʤ ʸʤ im parallelismus membrorum zum „Haus“ (ʺʩʡ), oder zu den „Wohnungen“ (ʺʥʰʫˇʮ) JHWHs steht. Und dass es sich dann in der Stadt, in der Gott auf dem Zion und in seinem Heiligtum wieder präsent sein wird, für jedermann gut wohnen lässt, auch für die, die noch nichts oder nichts mehr zum Wohle der Stadt beitragen können, das malt das Sacharjabuch seinen Lesern in einem der eindrücklichsten Heilsbilder vor Augen, die sich im Alten Testament finden: So spricht JHWH Zebaot: Es werden wieder Greise und Greisinnen sitzen auf den Plätzen Jerusalems, ein jeder mit seinem Stock in seiner Hand wegen der Fülle der Tage. 68 Dass die praesentia dei in den Wiederaufbaukonzepten für das künftige Jerusalem in der frühnachexilischen Zeit eine entscheidende Rolle spielte, wird auch aus der Namengebung deutlich, die die Stadt im Verfassungsentwurf des Ezechiel bekommt: ʤʥʤʩ ʤʮˇ – „JHWH ist hier“ (Ez 48,35)! 69 Vgl. zum Zion als ˇʣʷʤ ʸʤ Jes 11,9; 57,13; 65,11.25; Jer 31,21; Dan 9,16.20; Jl 4,17; Ob 16; Ps 2,6.

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Und die Plätze der Stadt werden sich füllen (mit) Knaben und Mädchen, die auf ihren Plätzen spielen. (8,4f)

Einwohnung JHWHs – für Sacharja nimmt sie nicht nur Gestalt in seinem ʣʥʡʫ in der Mitte der Stadt an. Wo JHWH wohnt, da haben nach der mental map des Propheten, die eben auch eine moralische „Landkarte“ ist, auch die Alten einen sicheren Platz und die Kinder Raum zum Spiel.

Die personifizierte Weisheit als Erbin der atl. „Schechina“ MARTIN LEUENBERGER Dass die Welt nicht nur von Menschen bevölkert wird, sondern auch von Gottheiten als den eigentlichen Herren des Kosmos – die selbstverständlich nie in ihrer irdischen Präsenzform aufgehen –, ist im alten Orient common sense und auch für das alte Israel wenigstens bis zum Exil selbstverständlich.1 Hier gilt erst für die spätnachexilische Zeit und auch dann nur für ein begrenztes Traditionssegment die berühmte Formel Qohelets: „Gott ist im Himmel und du auf der Erde (Q @G K:ÔG3@VÔ]X(L5!Ô]XGHKZ@G)“ (5,1). Grundsätzlich ist die Gegenwart Jhwhs in Israel daher zunächst einmal selbstverständlich und wenig geheimnisumwittert. Problematisch und in der Folge zum Geheimnis wird sie durch Zweierlei: zum Einen durch die geschichtlichen Erfahrungen Israels im Wandel der Zeiten, die immer wieder in Spannung geraten zu einer ungebrochenen Präsenzweise Jhwhs.2 Zum Anderen wird das irdische Zugegensein Jhwhs durch den aufkommenden Monotheismus mit seiner Unterscheidung von Gott und Welt zunehmend in Frage gestellt und lässt sich schließlich nur noch „geheimnisvoll“ denken.

1. Gottes Gegenwart und die atl. Schechina-Vorstellungen An diesem Urteil ändert sich auch nichts, wenn man nun sofort religionsund theologiegeschichtlich präzisiert, dass im alten Israel die Gegenwart Gottes in der Welt höchst vielfältig wahrgenommen wird und die Vorstel1 Vgl. etwa F. STOLZ, Weltbilder der Religionen. Kultur und Natur. Diesseits und Jenseits. Kontrollierbares und Unkontrollierbares (Theophil 4), Zürich 2001, 57ff; C. UEH4 LINGER , Art. Gott/Götter/Götterbilder und -symbole, I.–II., RGG 3 (2008) 1145–1148; B. J ANOWSKI, Art. Gottesvorstellungen, in: A. Berlejung/C. Frevel (Hg.), Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament (HGANT), Darmstadt 22009, 25–28; J. VAN DIJK u.a., Art. Gott, RLA 3(1971) 532–575; J. ASSMANN, Art. Gott, LÄ 2 (1977) 756–786: 757ff.765ff. 2 Vgl. die knappe Übersicht zur Abwesenheit Gottes von A. SCHELLENBERG, Art. Abwesenheit Gottes, www.wibilex.de.

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lungen durch die Zeiten und theologischen Traditionen stark variieren3. Einige Stichworte mögen das Spektrum der Präsenzweisen Jhwhs umreißen, ohne es systematisch oder vollständig erfassen zu können: Jhwh selbst manifestiert sich etwa durch Theophanien, Wundertaten, seinen Schrecken, seinen Tag u.a.m. punktuell-diskret vor Einzelnen oder einem Kollektiv; umgekehrt ist er jedoch auch dauerhaft-stetig präsent, z.B. durch die Erhaltung des Kosmos oder die Spendung von Segen (die letztlich eine „Gotthaltigkeit der Welt“ bewirkt4). Jhwh kann sich sodann befristet oder unbefristet durch Mittlerfiguren bzw. -instanzen – wie Engel, seinen Namen, seine Herrlichkeit, sein Angesicht usw. oder eben die im Folgenden interessierende GLJW – vertreten lassen; weitere Spielarten stellen die Geistverleihung dar oder die Gabe der Tora als Weisung Gottes (sei es extern in der Schrift, sei es intern im [neuen] Herzen). Schließlich spielt die Gegenwart Jhwhs in unterschiedlichen Lebensbereichen und -vollzügen eine Rolle. Zentral ist sie etwa im Kult: Einerseits kann sie punktuell durch Opfer evoziert werden (s. bes. Ex 20,24), andererseits repräsentieren Kultsymbole im Tempel (namentlich vermutete Kultbilder, Stier-Plastiken, Mazzeben, die eherne Schlange Nechuschtan, der Kerubenthron, die Lade oder nachexilisch der Leuchter) – dauerhaft die göttliche Präsenz. In dieses weite Spektrum göttlicher Präsenzweisen fügen sich auch die atl. Schechina-Vorstellungen – verstanden als Abbreviatur für die verschiedenen Vorstellung vom Wohnen (ØJU) Jhwhs5 – ein. Ihnen kommt religions- und theologiegeschichtlich eine herausragende Bedeutung zu: 3 Vgl. klassisch die kompakte Zusammenstellungen bei W. ZIMMERLI, Grundriß der alttestamentlichen Theologie (ThW 3/1), Stuttgart u.a. 61989, 58ff und neuerdings J ANOWSKI, Gottesvorstellungen, 25, der die Kategorien „der temporären/dauerhaften Erscheinungsweise Gottes“ unterstreicht. Freilich gehört ein entsprechender Paragraph selbst bei thematisch aufgebauten Darstellungen keineswegs zum Standardrepertoire atl. Theologien, sondern muss dort und in Religionsgeschichten oft eigens zusammengestellt werden.   Vgl. H.-P. MÜLLER, Segen im Alten Testament. Theologische Implikationen eines halb vergessenen Themas, ZThK 87 (1990) 1–32. s. zum Ganzen M. LEUENBERGER, Segen und Segenstheologien im alten Israel. Untersuchungen zu ihren religions- und theologiegeschichtlichen Konstellationen und Transformationen (AThANT 90), Zürich 2008. 5 Der Begriff der GMXJHU (inhabitatio, Einwohnung) wurde bekanntlich erst nachbiblisch gebildet (s. das Belegmaterial bei P. B ILLERBECK [/H.L. STRACK], Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, 1–6, München 1922–1956, 314f und ausführlichst A.M. GOLDBERG, Untersuchungen über die Vorstellung von der Schekhinah in der frühen rabbinischen Literatur. Talmud und Midrasch (SJ 5), Berlin 1969; weiterführend könnte der Hinweis von B. J ANOWSKI, Die Einwohnung Gottes in Israel. Eine religions- und theologiegeschichtliche Skizze zur biblischen Schekina-Theologie, in diesem Band, 3–40: 4 auf einen Zusammenhang mit 2Makk 14,35 sein, wo sich – freilich griechisch – die erste Nominalbildung RJG MVRHI findet: Es hat Jhwh gefallen (GTUCN JGR@I), „den Tempel deiner Einwohnung unter uns entstehen/bauen zu lassen [M@NMÉ SGIÉ RGIÉ RJGMV RDVIÉDUMÉG?LHMÉFDMD RP@H]“.

Die personifizierte Weisheit als Erbin der atl. „Schechina“

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Das belegt einerseits die konstitutive Einbindung in die Zionstheologie der Staatszeit, wo Jhwhs Wohnen (ØJU) in bzw. Thronen (AUX) auf dem Zion usw.6 das vorstaatliche Basiskonzept der Herkunft Jhwhs aus dem Süden (möglicherweise von einem Gebirgswohnsitz, von wo aus sein mobiles Eingreifen erfolgt) ablöst7. Und andererseits wird die Vorstellung in den beiden dominanten Bereichen des Enneateuchs, der priesterlichen und der dtn-dtr. Tradition, intensiv rezipiert und transformiert, indem die Wohnaussagen nun (vorab) auf den C A* bzw. ]UD Jhwhs übertragen werden und teils personal als Wohnen unter den Israeliten gefasst wird. Wenn es zutrifft, dass es sich dabei um eine Akzentuierung der majestätischen Erscheinungsform bzw. der (kultischen) Zugänglichkeit Jhwhs handelt (und nicht um eine Abminderung der göttlichen Gegenwart)8, so ist daran bes. interessant, dass auch unter strikt monotheistischen Gegebenheiten am irdischen Wohnen Jhwhs resp. dessen C A* bzw. ]UD festgehalten wird, also weiterhin mit einer Immanenz des Transzendenten gerechnet wird. Man kann daher leicht zugespitzt formulieren, dass die atl. Schechina-Vorstellungen strukturell vormonotheistisch geprägt sind und es weitgehend bleiben: Denn nur selten wird wie in 1Kön 8 explizit der Himmel als Jhwhs 6

Vgl. v.a. 1Kön 8,12f; s.a. Jes 8,18; Ps 68,17; 135,21; zur Auswertung s. JANOWSKI, Die Einwohnung Gottes, 3–40; DERS., Gottes Weisheit in Jerusalem. Sirach 24 und die biblische Schekina-Theologie, in: H. Lichtenberger/U. Mittmann-Richert (ed.), Deuterocanonical and Cognate Literature. Yearbook 2008. Biblical Figures in Deuterocanonical and Cognate Literature, Berlin u.a. 2009, 1–29: 5ff; DERS., „Ich will in eurer Mitte wohnen“. Struktur und Genese der exilischen Schekina-Theologie, in: Ders., Gottes Gegenwart in Israel. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 1993, 119–147; DERS., Art. Shekina, RGG4 7 (2004) 1274f; s.a. M. ROHDE, Wo wohnt Gott? Alttestamentliche Konzeptionen der Gegenwart Jahwes am Beispiel des Tempelweihgebets 1 Könige 8, BThZ 26 (2009), 165–183. – Dagegen hält etwa S. OWCZAREK, Die Vorstellung vom „Wohnen Gottes inmitten seines Volkes“ in der Priesterschrift. Zur Heiligtumstheologie der priesterschriftlichen Grundschrift (EHS.T 625), Frankfurt a.M. u.a. 1998, 231 zwar nicht die Vorstellung insgesamt, aber doch die Verwendung von ØJU für „kaum viel älter als die Aussagen in P g“. 7 S. dazu LEUENBERGER, Gott, Kap. 1f. 8 So mit weiterer Lit. für B. JANOWSKI, Sühne als Heilsgeschehen. Studien zur Sühnetheologie der Priesterschrift und der Wurzel KPR im Alten Orient und im Alten Testament (WMANT 55), Neukirchen-Vluyn 1982, 312; O WCZAREK, Die Vorstellung, 242ff.248f; für den dtr. Bereich H. W EIPPERT, „Der Ort, den Jahwe erwählen wird, um dort seinen Namen wohnen zu lassen“. Die Geschichte einer alttestamentlichen Formel, BZ 24 (1980) 76–94: 77f; J ANOWSKI, „Ich will in eurer Mitte wohnen“, 128f; O. KAISER, Der Gott des Alten Testaments. Theologie des AT, 2. Jahwe, der Gott Israels, Schöpfer der Welt und des Menschen (UTB 2024), Göttingen 1998, 198ff. Klassisch hat G. V. RAD, Deuteronomium-Studien, in: Ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament 2 (ThB 48), München 1973, 109–153: 128 die beiden (in ihrem Verhältnis nicht näher bestimmten) Aspekte formuliert: „Nicht Jahwe selbst ist am Kultort gegenwärtig, sondern nur sein Name als Garant seines Heilswillens; an ihn allein als die zureichende Offenbarungsform Jahwes hat sich Israel zu halten“ (Hervorhebungen M.L.).

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=3 A UH ] PL benannt (s. V.30.39.43.49). So oder so – im vorliegenden Zusammenhang geht es vorab darum, dass die atl. Schechina-Vorstellungen in exemplarischer Weise die Frage nach der Gegenwart Gottes in der Welt bzw. in Israel bearbeitet.

2. Die personifizierte Weisheit Beachtet man die skizzierte Verortung der Schechina-Vorstellungen im Horizont der Frage nach den Gegenwartsweisen Jhwhs, so erstaunt es nicht, dass der Vorstellungskomplex im weisheitlichen Bereich fast vollkommen fehlt und dass hier auch alternative Modelle von Jhwhs Gegenwart eine marginale Rolle spielen. Denn der weisheitliche Traditionsbereich wird nicht von der Frage nach Gottes Gegenwart umgetrieben; vielmehr entspringt er dem im ganzen alten Orient verbreiteten Weltordnungsdenken, das – in letztlich lebensdienlicher Abzweckung9 – Bestand, Strukturen, Zusammenhänge und Funktionsweisen der Natur, der Kultur und der menschlichen Lebenswelten zu erfassen sucht. Dabei besteht die leitende und immer wieder aktualisierte doppelte Grundüberzeugung darin, dass eine gerechte Weltordnung Gottes existiert und dass diese für den Menschen erkennbar ist: Welterkenntnis und Gotteserkenntnis verschmelzen letztlich miteinander. Denn Gott hat die Welt in Weisheit geschaffen und geordnet (Weisheit als Schöpfungs- und Weltprinzip)10, sodass sie der weise, d.h. mit alltäglichem, technischem, ethischem, intellektuellem usf. Sachverstand ausgestattete Mensch erkennen kann. Weisheit ist somit von Haus aus hauptsächlich mit der Weltordnung und der dieser angemessenen Lebensführung des Menschen befasst, wogegen die Frage nach der Gegenwart Gottes in der Welt nur indirekt thematisiert wird. Dies ändert sich nun grundlegend durch die Personifizierung der Weisheit, die sich in frühjüdischer Zeit abspielt. Zwar fungiert die personale Größe der „Frau Weisheit“11 in Fortführung weisheitlicher Tradition als

9 S. statt vieler T.C. RÖMER, La littérature sapientiale, in: Ders. u.a. (Hg.), Introduction à l’Ancien Testament (MoBi 49), Genf 22009, 579–589. 10 Vgl. Prov 3,19f; Ps 104,24; s.a. Jer 10,12; 51,15. Freilich hat dieser Konnex in der sog. Krise der Weisheit tiefe Risse bekommen und drohte zu zerbrechen; daher wurden Weisheit und Erkenntnis der Gottesfurcht nach- und untergeordnet (Prov 1,7; 9,10; Ps 111,10; s.a. Hi 28,28; Sir 1,14). 11 Als solche wird sie zwar nicht explizit – auch nicht im Gegenüber zu S6KXRH* Ô SU @D: „Frau Torheit“ (Prov 9,13) in Prov 1–9 – bezeichnet, aber doch ganz klar stilisiert, weshalb Anführungszeichen gesetzt sind.

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vorweltlich geschaffene Schöpfungs„mittlerin“12 und Weltordnungsexpertin. Als solche repräsentiert sie jedoch auch Gott selbst und vermittelt durch ihre irdische Präsenz Gott und Welt13. Aufgrund der Personifizierung und der so gewonnenen Vermittlungsfunktion rückt die personifizierte Weisheit daher in den Fragehorizont der Gegenwart Gottes und dann auch der Schechina-Vorstellungen ein, den die einführenden Überlegungen abgesteckt haben. Die These, die ich im Folgenden begründen will, lautet deshalb, dass die Konzeption der personifizierten Weisheit die Schechina-Vorstellungen (im o. bei Anm. 5 genannten Sinne) beerbt; Missverständnissen vorbeugend sei sogleich hinzugefügt, dass die personifizierte Weisheit damit weder als exklusive Alleinerbin des göttlichen ØJU beansprucht wird14, noch dass dieses Erbe für sie das allein maßgebliche oder dominante sei (s.u.). Die traditionsgeschichtlichen Verbindungslinien zwischen beiden Vorstellungsbereichen erweisen sich jedoch als so charakteristisch und bedeutsam, dass ich die personifizierte Weisheit (auch) als Erbin der Schechina exponieren möchte. 2.1 Die Personifizierung der Weisheit: Datierung, Hintergründe, Ursachen Bevor ich diese These anhand aussagekräftiger Textbeispiele näher konturieren kann, sind einige Vorüberlegung zu Datierung, Hintergründen und Ursachen der Personifizierung der Weisheit erforderlich. (a) Die Personifizierung der Weisheit lässt sich theologiegeschichtlich ziemlich präzise datieren: Sie findet sich in der hebräischen Bibel erstmals, ebenso deutlich wie prominent ausgeformt, in Prov 1–9; dieser jüngste Buchteil stammt sehr wahrscheinlich aus frühhellenistischer Zeit. Das bedeutet, und das ist m.E. für das Verständnis wichtig, dass die Personifizierung nicht nur generell in „der nachexilischen Zeit“ erfolgt15, sondern sich präziser in der frühhellenistischen Umbruchszeit verorten lässt. 12 Präziser ist sie gemäß Prov 8 bei der Schöpfung durch Jhwh nur anwesend (V.27ff), sie tritt dann aber in der Folge als Vermittlerin zwischen Jhwh und den Menschen auf (V.30f; s.u. 2.2). 13 Vgl. nur den Forschungsüberblick G. B AUMANN, Die Weisheitsgestalt in Proverbien 1–9. Traditionsgeschichtliche und theologische Studien (FAT 16), Tübingen 1996, 41ff (Lit.); gegenüber anderen Mittlergestalten differenziert S. GORGES-B RAUNWARTH, „Frauenbilder – Weisheitsbilder – Gottesbilder“ in Spr 1–9. Die personifizierte Weisheit im Gottesbild der nachexilischen Zeit (Exegese in unserer Zeit 9), Münster 2002, 401f. 14 Vgl. dazu bes. die Beiträge von J. LEONHARDT-B ALZER, Vorstellung von der Gegenwart Gottes bei Philo von Alexandrien und E.E. P OPKES, Vorstellungen von der Einwohnung Gottes in der Tempelrolle: 11QT 29,7b–10 und die Entwicklungsgeschichte frühjüdischer Schechina-Vorstellungen in diesem Band. 15 Dafür im Anschluss an A. MEINHOLD, Die Sprüche, Teil 1: Sprüche Kap. 1–15 (ZBK 16), Zürich 1991, 45 u.ö. jüngst C. MAIER, Art. Weisheit (Personifikation) (AT), http://www.bibelwissenschaft.de (8.1.2010), Kap. 1.1; vgl. aber ihre Endredaktion von

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(b) Die traditionsgeschichtlichen Hintergründe des Vorgangs lassen sich wie folgt umreißen16: (1) Zentral für das Profil der personifizierten Weisheit ist die ägyptische 0D˜DW (P˜W), die als Göttin bzw. als „Prinzip“ die gerechte Weltordnung verkörpert17. (2) Darüber hinaus wirken im Blick auf die lebensförderliche Aufgabe wohl auch Göttinnen aus dem syrischkanaanäischen Raum nach18. (3) Hingegen spielt in Prov 1–9 die Rezeption von Isis-Aretalogien, die textlich erst aus späterer Zeit erhalten sind,

Prov 1–9 im 3. Jh. gemäß DIES., Die „fremde Frau“ in Proverbien 1–9. Eine exegetische und sozialgeschichtliche Studie (OBO 144), Freiburg (Schweiz) u.a. 1995, 19ff; ebenso S. SCHROER, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut. Studien zur Gestalt der Sophia in den biblischen Schriften, Mainz 1996, 12 u.ö.; B AUMANN, Die Weisheitsgestalt in Proverbien 1–9, 268ff; GORGES-B RAUNWARTH, „Frauenbilder – Weisheitsbilder – Gottesbilder“ in Spr 1–9, 379ff; C.R. YODER, Wisdom as a Woman of Substance. A Socioeconomic Reading of Proverbs 1–9 and 31:10–31 (BZAW 304), Berlin 2001, 12 u.ö. – Demgegenüber weisen redaktions- und literaturgeschichtliche Befunde in die frühhellenistische Zeit (s. summarisch M.V. FOX, Proverbs 1–9. A New Translation with Introduction and Commentary (AB 18A), New York u.a. 2000, 48f; M. W ITTE, Schriften (Ketubim), in: J.C. Gertz (Hg.), Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments (UTB 2745), Göttingen 32009, 413–534: 452f; L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Das Buch der Sprichwörter, in: E. Zenger u.a. (Hg.), Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart (KStTh 1/1), 7. durchges. und erw. Aufl., Stuttgart u.a. 2008, 371–379: 376ff. 16 S. als ausgezeichnete Übersicht FOX, Proverbs 1–9, 333ff. 17 Vgl. das Referat von B AUMANN, Die Weisheitsgestalt in Proverbien 1–9, 13ff (Lit.), die selber sehr zurückhaltend bleibt (s. 280ff), aber religionssoziologisch ein ähnliches Milieu persönlicher Frömmigkeit umreißt (s. 303ff); s. zur Ma˜at vorab C. KAYATZ, Studien zu Proverbien 1–9. Eine form- und motivgeschichtliche Untersuchung unter Einbeziehung ägyptischen Vergleichsmaterials (WUNT 22), Neukirchen-Vluyn 1966, 93ff und die – allzu scharfe – Kritik von M.V. FOX, World-Order and Ma˜at: A Crooked Parallel, JANES 23 (1995) 37–48. 18 Vgl. zu den kanaanäischen Göttinnen bes. U. W INTER, Frau und Göttin. Exegetische und ikonographische Studien zum weiblichen Gottesbild im Alten Israel und in dessen Umwelt (OBO 53), Freiburg (Schweiz) u.a. 1983, 511ff. In diesem Kontext ist auch der aramäische Ah ›iqar zu nennen, der in 10,1 lautet: ‹p l‹lhn \T>\@UK K\ ˜[mK@ O>PU‹hm] mlkwt‹ b š>P\@Q ã\PKK\N\E˜l qdšn nš‹[K@ „Auch bei den Göttern ist sie [sc. die Weisheit] ge[ehrt]; mit [ihr zusammen] ist [ihrem Herrn] die Herrschaft. In den Hi[mme]l ist sie gesetzt; ja, der Herr der Heiligen hat [sie] erhöht“ (I. KOTTSIEPER, Die Sprache der $h›iqarsprüche [BZAW 194], Berlin u.a. 1990, 11f.19f; die Weisheit wird in 9,14 explizit als Thema genannt; 9,16 lautet dann: >h ›kPœWK P@ ‹lhy‹ h[wd ˜w]: „[ihre Weisheit] haben die Götter k[undgetan])“. Die Weisheit ist hier offenkundig ebenfalls personifiziert und von göttlicher oder gottähnlicher Statur, fügt sich also gut zur eben genannten Verwandtschaft (0D˜at; Göttinnen); eine nähere Auswertung wird allerdings durch die unsichere Verortung (westsemitische oder neuassyrischer Herkunft während der EZ IIB–C?) erschwert (s. knapp B. LANG, Frau Weisheit. Deutung einer biblischen Gestalt, Düsseldorf 1975, 149ff; E.S. GERSTENBERGER, Israel in der Perserzeit. 5. und 4. Jahrhundert v.Chr. [BE 8], Stuttgart 2005, 290f).

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höchstens eine generelle Rolle im Blick auf die Lehrreden19; erst in den jüngeren Texten Sir 24 (?) und bes. SapSal 7 ist die Aufnahme spezifischer inhaltlicher Züge diskutabel bis plausibel20. (4) Hinzunehmen muss man die sozialgeschichtlichen Verhältnisse im vor- und nachexilischen Israel, die verschiedene Rollen hervorbringen, namentlich die auch für die Weisheit wichtige Figur des Königs21; daneben stehen bei der Modellierung der Frau Weisheit auch – durchaus ambivalente – Frauenrollen Pate (Ratgeberin und Königsmutter, v.a. aber Hausherrin, Gastgeberin oder Braut)22, ohne dass sich die Weisheit darauf reduzieren ließe (s. nur die quasigöttlichen Funktionen als Schöpfungs„mittlerin“ und Weltordnungsexpertin). (5) Schließlich müssen ältere Analogien für Personifizierungsprozesse herangezogen werden23: Allgemein kann man auf personifizierte Abstrakta verweisen (z.B. SL @V CR W  ,] KUVÔ PC B Ps 85,11); spezifischer stehen dann – neben der „Jungfrau/Tochter Israel/Juda“ – insbes. personifizierte Städte, die im alten Orient eine lange Tradition besitzen, im Zentrum, im alten Israel allen voran natürlich „Frau/Tochter Zion“ (s.a. Tochter Jerusalem); deren positive und negative Aspekte werden nun jedoch aufgeteilt und einander als Frau Weisheit und Frau Torheit gegenübergestellt. (c) Angesichts dieser langfristigen Hintergründe ist nun nach den konkreten Ursachen der Personifizierung der Weisheit gerade in frühhellenistischer Zeit zu fragen. Dabei kann selbstverständlich keinesfalls darum gehen, die Personifizierung sozusagen kausal abzuleiten; vielmehr soll versucht werden, die relevanten Faktoren in ihrem historisch kontingenten Zusammenspiel zu benennen und damit eine theologiegeschichtliche Entwicklung zu rekonstruieren. (1) Das grundlegende Spannungsfeld, auf das die Personifizierung reagiert, wird durch den nachexilischen Monotheismus konstituiert, der mit 19 Positiv urteilen hingegen etwa O. KAISER, Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des Alten Testaments, 3. Die poetischen und weisheitlichen Werke, Gütersloh 1994, 64f; T. KRÜGER, Kohelet (Prediger) (BK 19 [Sonderband]), Neukirchen-Vluyn 2000, 45 und bes. F OX, World-Order and Ma˜at, 44ff; s. dazu die Texte bei H. ENGEL, „Was Weisheit ist und wie sie entstand, will ich verkünden“. Weish 7,22–8,1 innerhalb des (6,22–11,1) als Stärkung der Plausibilität des Judentums angesichts hellenistischer Philosophie und Religiosität, in: G. Hentschel/E. Zenger (Hg.), Lehrerin der Gerechtigkeit. Studien zum Buch der Weisheit (EThS 19), Leipzig 1991, 67–102: 95ff. S. aber zum allgemeineren Hintergrund LANG, Frau Weisheit, 76ff und knapp LEUENBERGER, Monotheismus, 61f. 20 S. SapSal 7,22–8,1; s.a. Sir 24,3ff (?), dazu M AIER, Art. Weisheit, Kap. 1.2. 21 Vgl. nur G. B AUMANN, Die Weisheitsgestalt in den Proverbien, 300ff. 22 Vgl. dazu ausführlich C.V. CAMP, Wisdom and the Femine in the Book of Proverbs (BLS 11), Sheffield 1985, bes. 90ff; SCHROER, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut, 63ff; GORGES-B RAUNWARTH, „Frauenbilder – Weisheitsbilder – Gottesbilder“ in Spr 1–9, 119ff; YODER, Wisdom as a Woman of Substance, 39ff. 23 Vgl. GORGES-BRAUNWARTH, „Frauenbilder – Weisheitsbilder – Gottesbilder“ in Spr 1–9, 384ff. (Lit.).

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der Zeit das Vermittlungsproblem von Gott und Welt in aller Schärfe aus sich heraussetzt. (Das lässt sich, nachdem der Glanz der monotheistischen Entwürfe Dtjes’ und der P etwas verblasst ist, mehrfach beobachten [z.B. in der Angelologie vom Pentateuch bis in die Apokalyptik]; im weisheitlichen Bereich ist insbes. die Hiob-Rahmenerzählung zu nennen.) Die neue Leitdifferenz zwischen Schöpfer und Geschöpf muss irgendwie überbrückt werden, soll die Immanenz des Transzendenten und damit die Möglichkeit von Gotteskontakt gewährleistet bleiben24. In der Weisheitsströmung unternimmt es die personifizierte Weisheit, eben diese sich verschärfende Kluft (und mithin die Frage der Gegenwart Gottes) auszufüllen bzw. zu bearbeiten. (2) Freilich ließe sich dies in ähnlicher Weise auch durch das ältere Konzept der Weisheit als Schöpfungs- und Ordnungsprinzip der Welt erreichen (s.o. Anm. 10). Doch genügt diese Variante offenbar im pluralistischen Jerusalem des 3. Jh. v.Chr. nicht mehr, wo nicht nur verschiedene jüdische Strömungen, sondern auch hellenistische Lebensweisen miteinander konkurrieren. Dabei tritt v.a. das Individuum – und mit ihm der Schöpfungshorizont, der nach dem sonstigen Traditionsabbruch als letzter Bezugsrahmen verbleibt – ins Zentrum, das sich vor die Herausforderung gestellt sieht, für die eigene (gelingende) Existenz eine Verhältnisbestimmung von Tradition(en), Erfahrung(en) und Offenbarung(sansprüchen) vorzunehmen bzw. vornehmen zu müssen25. Darauf reagiert der Redaktor von Prov 1–9 mit einer kreativen Transformation der älteren Weisheitstradition. Für ihn besteht das Proprium der personifizierten Weisheit und ihrer werbenden Lehrreden nicht nur darin, die Weisheit personal – und damit wesentlich als (Gott und Menschen miteinander vermittelndes) Handlungssubjekt – zu konzipieren, sondern sie näherhin als Frau Weisheit in attraktiver Gestalt zu präsentieren und sie insbes. mit öffentlich werbenden Lehrreden für ihren way of life plädieren zu lassen26. In einer Perspektive der moyenne durée erscheint diese Innovation religions- und theologiegeschichtlich auch deshalb so bemerkenswert, weil hier der femininen Weisheit quasigöttliche Züge zuerkannt werden, während zuvor in der späteren Königszeit im Zuge der

24 Vgl. unter diesem Aspekt noch einmal die priesterlichen und dtn-dtr. Adaptionen der Schechina-Vorstellung und bes. 1Kön 8 (s.o. I mit Anm. 8). 25 Vgl. zum Ganzen ausführlich M. HENGEL, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh. v.Chr. (WUNT 10), Tübingen 31988, 199ff.275ff und die neueren Skizzen von R. ALBERTZ, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, 2. Vom Exil bis zu den Makkabäern (GAT/ATD.Erg 8/2), Göttingen 1992, 591ff; K RÜGER, Kohelet (Prediger), 39ff.43ff. 26 Ob die Weisheit damit hingegen „mit einem religiösen Nimbus versehen [wird], der sie einer kritischen Überprüfung und Infragestellung entzieht“ (KRÜGER, Kohelet [Prediger], 45), scheint mir keineswegs ausgemacht.

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Alleinverehrung Jhwhs dessen Parhedra Ašerah sukzessive marginalisiert und dann vollkommen eliminiert wurde. 

Die Personifizierung der Weisheit scheint also nicht nur auf theologischen Faktoren im engeren Sinn – dem monotheistischen Vermittlungsproblem – zu beruhen, sondern darüber hinaus aufs Engste mit dem – im frühhellenistischen Jerusalem virulenten – Kommunikationspotential der werbenden Frau Weisheit zusammenzuhängen. Inwiefern sich die so umschriebene personifizierte Weisheit nun als Erbin der atl. „Schechina“ erweist, soll nun anhand der signifikantesten atl., frühjüdischen und ntl. Texte ausgeführt werden. 2.2 Die Weisheit in Prov 8 Die personifizierte Frau Weisheit tritt innerhalb der hebräischen Bibel exklusiv in der Einleitung zum Proverbienbuch in Kap. 1–9 auf, hier dafür umso plastischer. In bes. Maß gilt dies für die drei (jüngeren) Weisheitsgedichte in 1,20–33 und Kap. 8f, wo die Weisheit durchwegs und ausschließlich personifiziert auftritt, während sie sonst in Kap. 1–9 in vielfältigen Metaphern erscheint, von denen die Personifizierung nur eine ist27. In 1,20ff ruft die Weisheit – gern im Intensivplural S LJ W (1,20; 9,1) – „auf der Gasse, auf den freien Plätzen erhebt sie die Stimme“ (1,20) und wirbt mit ebensoviel Überzeugung wie Charme für ihren Weg der Erkenntnis und der Gottesfurcht, der das Unglück bannt. Die Weisheit ist also dauerhaft und offensiv unter den Menschen anwesend, auch wenn sie nicht explizit dort „wohnt“. Vergleichbar bittet sie in Kap. 9 als begüterte Hausherrin, die ihren Palast gebaut hat (9,1; s. 8,34), zum feierlichen Gastmahl und verspricht lange Lebenszeit (9,11). Ebenfalls auf das Erlangen von Leben und göttlichem Wohlgefallen läuft die Rede in Kap. 8 zu (V.32ff), aus der im vorliegenden Rahmen zwei Aspekte herauszugreifen sind: (1) In 8,12 setzt, nach dem Höraufruf in V.4–11, die eigentliche Selbstvorstellung (V.12–21) mit der Aussage ein: GLQ:Ô X3HMJUÔ GLJ W XM(@