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Grundwissen Christentum Herausgegeben von Markus Mühling
Band 5
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
Markus Mühling (Hg.)
Gott und Götter in den Weltreligionen Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus, Konfuzianismus, Buddhismus
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Inhalt
Markus Mühling Religionen im Pluralismus. Eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . .
7
Donald Wood / David A. Gilland Christliche Gotteslehre in der Welt der Religionen . . . . . . . . .
27
Daniel Krochmalnik Elohim. Gottesfragen in der Synagoge . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
Klaus von Stosch Gott im Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Perry Schmidt-Leukel Gott im Hinduismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Christian Meyer Götter, Geister, der Weg und die Transzendenz im Konfuzianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Lai Pan-chiu Die letztgültige Realität im Chinesischen Buddhismus und die christliche Gotteslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Hans Waldenfels Gott und „Leere“ im Zen-Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
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Markus Mühling
Religionen im Pluralismus. Eine Einleitung
Das vorliegende Buch Dieser Band gibt eine Einführung in die Gottes- und Göttervorstellungen einiger der wichtigsten Religionen. In der Gegenwart sind die Gesellschaften, zumindest die Europas, weitgehend pluralistisch geprägt. Das heißt, es gibt in einer Gesellschaft, wie z. B. die der gegenwärtigen Bundesrepublik, nicht mehr nur eine religiöse Gemeinschaft und Tradition, sondern deren viele. Innerhalb des Christentums können verschiedene Konfessionen unterschieden werden. Das Judentum hat über Jahrhunderte die Gesellschaft geprägt, der Islam ist im Verlauf des 20. Jahrhunderts als wichtiger Einfluss dazu gekommen. Unterschiedliche östliche Traditionen wie Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus werden zunehmend bekannt. Mit einer deutlich vernetzten Welt im wirtschaftlichen und politischen Bereich erlangen auch religiöse Traditionen anderer Weltgegenden eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Lebenswelt. Dazu gesellen sich neue religiöse Gruppierungen, Ideologien, Quasireligionen, individualistische Patchwork-Religionen und vieles andere mehr. Die religiöse Lage scheint damit im 21. Jahrhundert zunächst unübersichtlich, aber ebenso enorm wichtig für die Gesellschaft und gemeinsames Handeln zu sein. Auf eine religiöse Grundbildung nicht nur in der eigenen Tradition, sondern auch in anderen Traditionen kann innerhalb einer Allgemeinbildung der Zivilgesellschaft nicht verzichtet werden. Wenn in vielen einführenden Werken, die die Kenntnis des oder der Anderen befördern wollen, häufig praktische und geschichtliche Fragen im Vordergrund stehen – Fragen wie „Wie leben die Anderen?“, „Wie ist ihre Religion entstanden?“, „Welche Sitten und Gebräuche spielen jeweils eine Rolle?“ © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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–, so ist dies durchaus zu begrüßen. Die Kenntnis solcher unterschiedlicher Traditionen, sei sie auch die theoretisch oder praktisch durch gemeinsames Leben erworbene, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Selbstverständnis der meisten Religionen nicht das von Brauchtumsvereinen ist: Religiöse Traditionen sind nicht um ihrer selbst willen da und man feiert und bezieht sich nicht auf sich selbst – sondern in aller Regel auf eine Instanz oder Instanzen, die von der eigenen Religion unterschieden ist oder sind: auf „göttliche“ Instanzen. Will man Religionen daher wirklich ernst nehmen, wird man nicht einfach nur nach den Traditionen, Sitten, Gebräuchen oder ethischen Vorstellungen fragen können, sondern es ist anzunehmen, dass die unterschiedlichen Vorstellungen dieser „göttlichen“ Instanz oder Instanzen einen wichtigen Faktor zum Verständnis der anderen Religion und damit in einer pluralistischen Welt auch zum eigenen Leben darstellen. Gelegentlich zu hörende Äußerungen wie „Alle Religionen glauben letztlich dasselbe“ zeugen weniger von Toleranz als vielmehr von Unkenntnis und Ignoranz. Dieses Buch geht daher den Weg, sich auf die Darstellung der Vorstellungen dieser „göttlichen“ Instanz oder Instanzen in den einzelnen Religionen zu konzentrieren. Zu fragen ist dabei, was überhaupt unter einer „Theologie“, einer Lehre, die sich auf „Gott“ oder „Götter“ bezieht, zu verstehen sein soll, und ebenso die nicht minder wichtige Frage, was unter „Religion“ zu verstehen ist. Um diese Fragen zu beantworten, soll nicht in die Überfülle der akademischen Diskussionen zu diesen Fragestellungen eingeführt werden, sondern es sollen Bestimmungen genutzt werden, die so weit gefasst sind, dass sie für eigene Bestimmungen aus den unterschiedlichen religiösen Traditionen Raum lassen. Unter „Religion“ seien diejenigen handlungsleitenden Gewissheiten von Personen verstanden, die nicht empirisch getestet werden können. Diese Gewissheiten und Überzeugungen können in traditionellen Religionen kommuniziert werden, aber auch in anderen Gemeinschaften, die sich um Sinnkommunikation bemühen. Selbst Überzeugungen, die davon ausgehen, dass sich solche Sinnfragen auf keinen Fall durch eine welttranszendente Instanz beantworten lassen – also Atheismen und pantheistische Wirklichkeitsverständnisse und sogar sogenannte agnostische, skeptische Wirklichkeitsverständnisse, die der Überzeugung sind, dass sich solche Sinnfragen nicht beant© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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worten lassen – wären dann als „Religion“ oder zumindest als QuasiReligionen zu bestimmen. Ebenso soll die „göttliche Instanz“, auf die sich Religionen beziehen, zunächst sehr weit gefasst werden. Mit einer traditionellen Formulierung Luthers ist dasjenige ein Gott, „dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten; also dass einen Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und glauben; wie ich oft gesagt habe, dass allein das Trauen und Glauben des Herzens beide macht, Gott und Abgott. […] Denn die zwei gehören zu Haufe, Glaube und Gott. Worauf du nun (sage ich) dein Herz hängst und verlässest, das ist eigentlich dein Gott.“1
Dieser theologisch wichtige Gottesbegriff ist so weit, dass er eine ganze Reihe von Instanzen fasst, die normalerweise nicht mit dem Gottesbegriff belegt werden. Luther benennt z. B. Geld und Gut, Nothelferverehrung, eigene Handlungen, eigene Fähigkeiten, Klugheit, Gunst, Macht und Gewalt und sogar Freundschaft und Ehre. All diese Instanzen können im menschlichen Leben, Handeln, Fühlen und Denken eine göttliche Stelle einnehmen. Indem Luther aber zwischen Gott und Abgott unterscheidet, werden einige dieser Instanzen offensichtlich als falsche Götter bezeichnet, denen diese Rolle eigentlich nicht zukommen sollte. Kommt sie ihnen doch zu, so wird das Handeln, Fühlen und Denken der entsprechenden Menschen als wenig heilvoll und fatal betrachtet. Die entscheidende Frage lautet natürlich: Wie kann man entscheiden, was ein rechter Gott und ein Abgott ist? Luthers eigene Antwort, dass das rechte Vertrauen auch den rechten Gott ausmacht, bedeutet nicht, dass die Gottheit Gottes vom menschlichen Vertrauen abhängig wäre. Denn man muss ja fragen, was eigentlich das „rechte“ Vertrauen ist. Und das rechte Vertrauen wird zirkulär als das bestimmt, was nun wieder auf den „rechten“ Gott gerichtet ist. Die Frage nach dem richtigen Gott und den richtigen Gottesvorstellungen wird in den Theologien und Philosophien der einzelnen Religionen erörtert. Daher ist zu erwarten, dass unterschiedliche Religionen zu unterschiedlichen Verständnissen 1 Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-lutherischen Kirche, herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, BSLK, Göttingen 9 1982, 560.
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der richtigen göttlichen Instanz gelangen – und entsprechend auch zu unterschiedlichen Verständnissen menschlichen Vertrauens, menschlichen Fühlens, menschlichen Denkens, menschlichen Glaubens und menschlichen Handelns und Lebens. Luthers bekannte Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Gott und menschlichem Leben, die nun fast 500 Jahre alt sind, erlangen im Kontext der gegenwärtigen pluralistischen Lebenswelt eine ungeahnte Aktualität. Die Frage, welcher Instanz oder welchen Instanzen eigentlich unbedingtes Vertrauen zugeschrieben und wie diese Instanz verstanden wird, ist für gemeinsames Zusammenleben und Handeln somit von großer Bedeutung. Deshalb soll es Aufgabe dieses Buches sein, dieser Frage an einigen exemplarischen Beispielen nachzugehen. Wurde in einem ersten Schritt der Religionsbegriff und der Begriff der göttlichen Instanz ausgeweitet, so muss in einem zweiten Schritt aus pragmatischen Gründen eine Auswahl getroffen werden: Daher beschränkt sich dieses Buch auf religiöse Traditionen, die man unter die Weltreligionen rechnen kann – wenngleich dieser Begriff äußerst umstritten ist, sowohl hinsichtlich seines Umfangs als auch hinsichtlich seines Gehalts. Dass die Verständnisse der göttlichen Instanz oder Instanzen in Christentum, Judentum und Islam vorgestellt werden, wird nicht weiter überraschen. Ebenso ist es nicht weiter ungewöhnlich, dass Hinduismus und Buddhismus erscheinen. Dass der Konfuzianismus berücksichtigt wird, ist schon ein wenig ungewöhnlicher. Mit Recht könnten auch andere anhängerstarke Traditionen aufgeführt werden. Ebenso mag es überraschen, dass mit dem Zen-Buddhismus und dem Chinesischen Buddhismus zwei Artikel zu einer Religion erscheinen. Auch hier sind die Gründe pragmatischer Art: Die Kulturen des Ostens, insbesondere die chinesischen, erlangen in einer globalisierten Welt eine immer wichtigere Bedeutung. Hier zu veranschaulichen, dass es sich dabei keineswegs um einheitliche religiöse Kulturen handelt, ja, dass sogar die Anwendung des westlichen und neuzeitlichen Begriffs der „Religion“ hier Schwierigkeiten bereiten kann, war Ziel bei dieser exemplarischen Auswahl. Dass die Darstellungen in den einzelnen Religionen perspektivisch und exemplarisch sein mussten, wird auch deutlich, wenn man sich klarmacht, dass es schon in der je eigenen Tradition, hier der des Christentums, nicht einfach eine Gotteslehre, sondern deren unter© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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schiedliche gibt, die mitunter auch konkurrieren können und selbst innerhalb der klassischen Konfessionsgrenzen nicht einheitlich sein müssen. Ziel der Lektüre sollte daher nicht einfach die Wissensvermittlung sein, sondern Offenheit, Interesse und auch Begeisterung für die Fragestellung nach Gott und Göttern in der Welt der Religionen zu wecken.
Das Verhältnis der Religionen untereinander Unter den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft stellt sich ferner die Frage, wie mit der religiösen Vielfalt umzugehen ist und wie diese Vielfalt im Rahmen von Verhältnisbestimmungen der Religionen zueinander zu verstehen sind. Nun gibt es auch hier keine einheitliche Religionstheorie, sondern deren viele. Z.T. versucht man mit Schlagwörtern wie „Exklusivismus“, „Inklusivismus“ oder „Pluralismus“ eine Verhältnisbestimmung vorzunehmen. Exklusivismen verhalten sich exklusivistisch gegenüber anderen Religionen, Inklusivismen inklusiv und Pluralismen pluralistisch. Das allein sagt so gut wie nichts aus. Wichtig bei solchen Bestimmungen wäre, zumindest die Hinsicht anzugeben, in der etwas als exklusiv oder inklusiv zu bestimmen ist. Für die gegenwärtige pluralistische Lebenswelt sind zumindest drei solche Hinsichten wichtig und werden oft nicht genug unterschieden: a) Die Wahrheitsfrage: Wie sieht eine Religion die eigenen Wahrheitsansprüche und die anderer Religionen? b) Die Heilsfrage: Wie sieht eine Religion den eigenen Heilsanspruch und gibt es Heil für andere Religionen oder deren Angehörige? c) Die Frage des Zusammenlebens: Kann eine Religion mit anderen Religionen und deren Angehörigen auf Dauer in einer Gesellschaft zusammenleben und auf welche Weise? Die genannten Fragen sind zwar nicht unabhängig voneinander, sie dürfen aber auch nicht vorschnell vermischt werden. Eine Religion, die in der Wahrheitsfrage anderen Religionen die Wahrheitsfähigkeit abspricht oder sich nicht um die Wahrheitsfrage kümmert, muss nicht automatisch auch die Heilsmöglichkeiten und ein gemeinsames Zu© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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sammenleben bestreiten. Eine Religion, die anderen Religionen ebenso Wahrheitsfähigkeit zugesteht, muss umgekehrt dennoch nicht automatisch Toleranz im Zusammenleben mit anderen Religionen zeigen. Obwohl die Begriffe des „Exklusivismus“, „Inklusivismus“ und „Pluralismus“ in den letzten Jahren Verbreitung gefunden haben, sind sie wohl nur wenig geeignet, das Verhältnis der Religionen untereinander darzustellen, denn die Begriffe können eine Einfachheit der Verhältnisbestimmung vorgaukeln, die so schlicht nicht gegeben ist.
Religionstheorien und -modelle Im Folgenden soll die gesellschaftliche Frage nach dem Zusammenleben in Toleranz im Vordergrund stehen: Gesetzt den Fall, wir verfolgen das Ziel eines friedlichen Zusammenlebens in Interaktion und Kooperation in dauerhaft pluralistischen Gesellschaften, auf welche Weise lassen sich vor dem Hintergrund dieser Fragestellung dann Religionstheorien klassifizieren? Hinsichtlich dieser Frage sind verschiedene Modelle2 denkbar:
1. Ästhetischer Relativismus Man geht davon aus, dass Religionen letztlich keine Wahrheitsansprüche erheben können, sondern dass die Religionszugehörigkeit nur von der Sozialisation und den persönlichen Präferenzen abhängig ist. Religion wird zur Geschmackssache, zur Sache der Mode oder Tradition, aber als Privatsache haben Religionen keine Öffentlichkeitsrelevanz. Nach dieser Sichtweise können Religionen eigentlich nicht in einen Konflikt geraten und Fragen nach Konsensen und nach Toleranz werden überflüssig. Dieses Modell ist problematisch, weil es den hier vertretenen Religionsbegriff überhaupt nicht trifft: Denn im
2 Vgl. ausführlicher Mühling, M., Liebesgeschichte Gott. Systematische Theologie im Konzept, Göttingen 2013, 437 – 459.
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menschlichen Handeln spielen immer nicht testbare, also religiöse Überzeugungen eine Rolle. Spricht man diese Rolle den traditionellen Religionen aber ab, ändert das nichts daran, dass Religion nicht doch weiterhin eine entscheidende Rolle spielt – sie heißt nun nur anders und kann nicht mehr erkannt werden.
2. Absolutistischer Fundamentalismus Hier geht man von der Alleingültigkeit der eigenen Religion hinsichtlich der Wahrheitsfrage, des Heilsverständnisses und hinsichtlich der Fähigkeit für ein gesellschaftliches Zusammenleben aus: Nur die eigene Religion ist wahr, gewährt Heil und führt zu einer friedlichen Gesellschaft. Einige fundamentalistische Strömungen einiger Religionen mögen zu dieser Auffassung neigen; aber wirklich verbreitet ist diese in der Welt der Religionen nicht. Denn Religionen unterscheiden in der Regel zwischen sich und der göttlichen Instanz in einer Weise, dass nur der göttlichen Instanz ein Absolutheitsanspruch zugeschrieben wird. Dann kann aber der eigenen Religion und deren Lehre gerade kein Absolutheitsanspruch zugesprochen werden. Dieses Modell wäre auch erkenntnistheoretisch unterkomplex, weil es nicht zwischen Wahrheit und der Erkenntnisfähigkeit von Wahrheit unterscheidet.
3. Absolutistischer Skeptizismus Religionen wird insgesamt und grundlegend die Wahrheitsfähigkeit dahingehend abgesprochen, dass alle Religionen als falsch und mitunter sogar als schädlich angesehen werden. Ein solcher absolutistischer Skeptizismus ist bei Lichte betrachtet nicht das Gegenteil des absolutistischen Fundamentalismus, sondern nur eine von vielen Formen des absolutistischen Fundamentalismus selbst: Wenn Religionen es mit nicht empirisch testbaren Gewissheiten zu tun haben, dann kann ihnen erstens nicht pauschal Wahrheitsfähigkeit abgesprochen werden und dann ist zweitens die Auffassung, dass Religionen generell nicht wahrheitsfähig seien, selbst eine religiöse Auffassung. Der absolutistische Skeptizismus ist damit nicht nur selbst © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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ein absolutistischer Fundamentalismus, sondern noch dazu ein in sich widersprüchlicher.
4. Epistemischer Relativismus Alle Religionen sind hier als in gleicher Weise wahr gewertet. Sollte dies, angesichts der sich im Vordergrund widersprechenden Auffassungen der Religionen, wahr sein, müsste man generell der Auffassung sein, dass sich Widersprechendes nicht ausschließt. Man müsste das logische Prinzip des auszuschließenden Widerspruchs aufgeben, was faktisch unmöglich ist.
5. Ontologischer Relativismus Hier wird davon ausgegangen, dass alle Religionen gleich wahr sind oder zumindest gleich wahr sein können, aber es wird ein ontologischer, seinsmäßiger Grund angegeben: Alle unterschiedlichen Religionen mit ihren unterschiedlichen Göttern sind deswegen wahr, weil es all diese unterschiedlichen Götter tatsächlich gibt. Und wenn einzelne dieser Religionen die Vorstellung hätten, dass es nur einen einzigen Gott gäbe, dann bezöge sich dies nur auf eine Wirklichkeit, aber faktisch gäbe es deren viele, so dass es in unterschiedlichen Wirklichkeiten je nur einen, aber unterschiedlichen Gott geben könnte. Dieses Modell würde nur funktionieren, wenn man den Begriff einer Wirklichkeit überhaupt aufgibt. Faktisch ist aber auch dies nicht möglich. Denn die Auffassung, dass es nicht eine, sondern viele Wirklichkeiten gibt, ist selbst schon eine Allaussage. Daher ist auch der ontologische Relativismus logisch inkonsistent.
6. Erfahrungskonsens In diesem Modell geht man davon aus, dass alle oder zumindest einige Religionen in ihren religiösen Erfahrungen übereinstimmen, dass sie sich aber auf der Ebene der ausgeführten Lehre unterscheiden. Einige mystische Traditionen scheinen diese Auffassung zu vertreten und die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Überlegungen einiger Neurowissenschaftler, die sich mit religiösen Fragen beschäftigen,3 scheinen ebenfalls in die Richtung dieser Auffassung zu gehen. Dieses Modell ist im Unterschied zu den anderen Modellen 1 – 5 nicht in sich widersprüchlich, denn es unterscheidet eine Ebene primärer Erfahrung von einer Ebene sekundärer Versprachlichung dieser Erfahrung. Während also auf der ersten Ebene die gleiche Erfahrung herrscht, treten Differenzen erst auf der versprachlichten Ebene auf. Dieses Modell ist zwar nicht in sich widersprüchlich, aber es ist unbeweisbar. Zwar wird man nicht leugnen können, dass es außer- und vorsprachliche Erfahrungen geben kann. Ebenso wird man nicht leugnen müssen, dass es sich dabei auch um im weitesten Sinne religiöse Erfahrungen handeln kann. Das Problem besteht aber darin, dass man nie zeigen und aufweisen kann, dass zwei vorsprachliche Erfahrungen wirklich die gleiche Art von Erfahrung sind. Denn der Vergleich kann nur innerhalb von sprachlichen Ausdrücken vorgenommen werden. Auf dieser Ebene sind aber Widersprüche zugelassen. Die Behauptung, alle Religionen beruhten auf einem Erfahrungskonsens, ist daher zwar nicht widersprüchlich, aber schlicht unbelegbar.
7. Monistischer, scheinbar pluralistischer Konsens Nach diesem Modell beziehen sich alle oder zumindest einige Religionen auf die gleiche unbedingte Wirklichkeit, die aber von keiner vollständig korrekt erfasst wird. Die bekannteste Spielart dieses Modells geht auf John Hick4 zurück und in verschiedenen Varianten ist dieses Modell sehr einflussreich geworden. Menschliche Religionen und ihre Lehren werden als Antworten auf das eine Reale verstanden, aber diese Antworten können durchaus in einem komplementären Verhältnis stehen. Da dieses Reale jede menschliche Erkenntnis übersteigt, ist es durchaus denkbar, dass dieses Reale nur unter der Affirmation von Widersprüchen erkannt werden kann. Auch dieses Modell ist nicht in sich widersprüchlich. Aber dennoch zeigen sich 3
Vgl. z. B. Newberg, A.B., Principles of Neurotheology, Farnham 2010. Vgl. z. B. Hick, J., Gotteserkenntnis in der Vielfalt der Religionen, in: Bernhardt, R. (Hg.), Horizontüberschreitung, Gütersloh 1991. 4
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zwei Bedenken: Zum einen ist das Modell, obwohl von seinen Vertretern so genannt, nicht wirklich pluralistisch: Denn es versucht ja gerade alle Religionen unter einer Einheitsauffassung, unter einer Metalehre oder Metaperspektive zu vereinigen. Damit ist das Modell nicht pluralistisch, sondern tatsächlich monistisch. Das macht das Modell freilich nicht automatisch falsch. Könnte es nicht eine solche Metaperspektive geben? Das Problem scheint mir darin zu bestehen, dass jede Metaperspektive letztlich doch nichts anderes als eine partikulare religiöse Perspektive ist: Das monistische, scheinbar pluralistische Modell wäre demnach selbst ein Versuch, eine neue religiöse Perspektive zu etablieren; es wäre dann keine Auffassung über Religion, sondern selbst eine Religion. Und damit würde es den verschiedenen, konkurrierenden Wahrheitsansprüchen der unterschiedlichen Religionen einfach einen weiteren Wahrheitsanspruch hinzufügen. Aber selbst wenn dem so wäre, wäre dies nicht unbedingt ein Einwand gegen dieses Modell. Der wichtigste Einwand gegen dieses Modell besteht hinsichtlich seines Wertes für ein friedliches Zusammenleben in der Gesellschaft. Soll dieses Modell diese Möglichkeit beinhalten, dann wird davon ausgegangen, dass ein Konsens förderlich für gesellschaftliches Zusammenleben ist. Diese Voraussetzung ist aber selbst nicht ganz unproblematisch. Bevor dies gezeigt werden soll, sind zunächst noch andere Modelle zu besprechen, die ebenfalls den Konsensbegriff nutzen.
8. Ethikmonistischer Konsens Dieses Modell geht davon aus, dass sich alle oder zumindest einige Religionen bei unterschiedlichen Glaubensauffassungen zumindest minimal auf das gleiche Ethos, auf die gleichen Werte und Normen beziehen. Im ausgehenden 20. Jahrhundert war Hans Küngs „Projekt Weltethos“ ein Bespiel dieses Modells.5 Und ebenso kann Lessings berühmte Ringparabel hier als Beispiel genannt werden.6 Auch dieses 5
Vgl. Küng, H., Projekt Weltethos, München 131996. Zu Lessings Ringparabel vgl. die Interpretation in Härle, W., Wahrheitsgewißheit als Bedingung von Toleranz, in: Schwöbel, C./Tippelskirch, D.v. (Hg.), Die religiösen Wurzeln der Toleranz, Freiburg 2002, hier 83 – 87. 6
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Modell ist in sich nicht widersprüchlich, aber dennoch problematisch. Denn es verschiebt die Fragestellung ins Ethische. Gibt es wirklich ein Ethos oder gar eine Ethik? Oder wiederholt sich die Fragestellung hier nicht in der gleichen Weise? Wenn man wie zu Zeiten der klassischen Moderne von einem allgemein einsehbaren Sittengesetz und einer allgemein einsehbaren, in Moral bestehender Vernunftreligion ausgeht, ist dieses Modell vielleicht gangbar. Wo aber, wie in der Krise der Moderne, die Allgemeinheit „der“ Vernunft selbst bestritten wird, dort löst dieses Modell nichts. Dazu muss man nicht der Auffassung sein, dass es in relativistischer Weise mehrere „Vernünfte“ gäbe. Es genügt vollkommen, anzunehmen, dass auch die Vernunft immer orientierungsbedürftig ist an Außervernünftigem – an Inhalten, die aus Traditionen gewonnen werden, die affektiv angeeignet werden und auf die auch die Vernunft als vertrauende Vernunft angewiesen ist, um überhaupt arbeiten zu können.7 Aber selbst wenn man auch diesen Einwand nicht teilen will, stellt sich ebenso wie bei Modell 7 die Frage, ob ein Grundkonsens überhaupt automatisch zu einem befriedeten Zusammenleben und Zusammenarbeiten unter pluralistischen Bedingungen führen muss.
9. Soteriologischer Konsens Eine weitere Variante eines Konsensmodells geht davon aus, dass alle oder zumindest die meisten Religionen es mit der Überwindung von Leid und dem Aufweisen von Heil zu tun haben.8 Dieses Modell macht starke inhaltliche Annahmen über den Menschen und sein Leben. Auch dieses Modell ist nicht widersprüchlich, sondern gut denkbar. Gleichsam ist es nicht unproblematisch, denn „Leid“ und „Heil“ sind keine absoluten, sondern relationale Begriffe: Leid ist immer Leid in Bezug auf etwas und Heil ist ebenso immer nur Heil in Bezug auf einen Sachverhalt. Und diese Bezugspunkte für „Leid“ und „Heil“ unterscheiden sich in religiösen Traditionen durchaus: Ist 7
Vgl. Mühling, M., Liebesgeschichte Gott, 21 – 29. Vgl. z. B. Knitter, P.F., Religion und Befreiung. Soteriozentrismus als Antwort an die Kritiker, in: Bernhardt, R. (Hg.), Horizontüberschreitung, Gütersloh 1991. 8
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„Heil“ die Befreiung von Sünde? Ist „Heil“ die Fruchtbarkeit der Natur? Ist „Heil“ Gesundheit? Oder Wohlstand? Oder Freiheit? Oder Lebensraum im Osten? Die Heilsvorstellungen sind also so vielfältig wie die Vorstellungen von Göttern selbst. Damit verschiebt sich auch hier das Problem nur einmal mehr und dazu noch auf eine problematische Weise. Denn zumindest nach christlicher Vorstellung sind Religionen, einschließlich der christlichen, keine Heilsverursacher, sondern nur Heilsempfänger und bestenfalls Heilsvermittler. Es gibt daher aus christlicher Perspektive so etwas wie eine prinzipielle soteriologische Impotenz von Religionen. Aus christlicher Perspektive sind Religionen nicht automatisch etwas Positives. Religionen, so auch das Christentum, können, wenn sie diese Selbstrelativierung nicht anerkennen, durchaus auch Ausdruck von Unglaube sein, was Karl Barth in seiner theologischen Religionskritik meisterlich aufgewiesen hat.9 Das Modell des soteriologischen Konsenses, des Konsenses in Heilsdingen, teilt also mit den anderen konsensualistischen Modellen nicht nur die stillschweigende Voraussetzung, dass Konsens friedensförderlich ist, sondern es macht auch eine andere vorausgesetzte Wertung explizit: Dass Religionen immer etwas positiv zu Würdigendes seien. Diese Voraussetzung ist aber theologisch nicht haltbar.
10. Zielkonsens Hier geht man davon aus, dass alle Religionen ihre jeweiligen religiösen Basisüberzeugungen und sich widersprechenden Wahrheitsansprüche behalten können, solange sie sich auf gemeinsame Ziele oder Zwecke einigen können. Ein Beispiel: „Das beobachtbare Verhalten von Barry und Brendon ist dasselbe und kann beschrieben werden als ,Lastwagenladungen mit Nahrungsmitteln zum Flüchtlingslager fahren‘. Auf Anfrage beschreiben beide jedoch ihr Handeln in ziemlich unterschiedlicher Weise. Barry sagt: ,Indem ich Lastwagenladungen von Nahrungsmitteln zum Flüchtlingslager fahre, erfülle ich die Bedürfnisse der politisch unterdrückten Massen und bereite auf diese Weise die Landbevölkerung für den kommenden revolutionären 9
Vgl. Barth, K., Kirchliche Dogmatik, I,2, Zürich 1932 – 1967, §17. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Kampf vor, in Übereinstimmung mit den Lehren Maos.‘ Brendon, auf der anderen Seite, beschreibt sein Handeln anders. Er sagt: ,Indem ich Lastwagenladungen mit Nahrungsmitteln zum Flüchtlingslager fahre, erfülle ich die Bedürfnisse meiner Mitgeschöpfe und verwirkliche teilweise das Reich Gottes auf Erden in Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes.‘“10
Der Zielkonsens unterscheidet sich von den anderen Konsensmodellen dadurch, dass er keinen Konsens auf der Grundlage von Basisüberzeugungen als Bedingung von einem friedlichen Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft annimmt, sondern nur einen Konsens in je nach Situation verschiedenen Zielvorstellungen. Insofern ermöglicht er es, dass sich einzelne Religionen durchaus massiv widersprechen können, aber dennoch kooperieren können. Dies scheint zunächst ein deutlicher Vorteil zu sein. Denn wenn ein Konsens in Grundüberzeugungen wirklich nötig wäre, um sinnvoll zusammen leben und kooperieren zu können, dann wäre ein friedliches Kooperieren in pluralistischen Gesellschaften in eine ferne, wenn nicht utopische Zukunft gerückt. Aber auch der Zielkonsens ist nicht ganz unproblematisch. Wenn zwei Gruppen, etwa Religionen, miteinander zu einem Ziel kooperieren trotz unterschiedlicher, vielleicht sogar widersprechender Basisüberzeugungen, stellt sich die Frage, woher man weiß, dass das Ziel dieser Kooperation tatsächlich ein sinnvolles und gutes, d. h. ethisch vorzuziehendes Ziel ist. Diese Frage kann im Modell des Zielkonsenses offensichtlich nicht religionsübergreifend gelöst werden: Zwar kann jede der beteiligten Parteien relativ zu ihrem Wertesystem ein partikulares Ziel als ethisch anstrebbar werten, keiner kann aber sagen, wie die Situation aussieht, wenn dritte Religionen oder Partner mit ins Spiel kommen. Abgesehen von diesem möglichen Einwand besteht auch die Grundfrage, wie der Begriff des Konsenses für ein friedliches Zusammenleben überhaupt zu bewerten ist. Damit kommen wir zur Rolle des Konsenses, der in den Modellen 6 – 10 eine wichtige Rolle spielt. Was leisten Konsense und was nicht? 10 Brümmer, V., Was tun wir, wenn wir beten? Eine philosophische Untersuchung, Marburg 1985, 106 f.
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Konsense zwischen Personen oder Gruppen wirken identitätsstärkend und angenehm: Wenn im Anderen das Eigene wiedererkannt werden kann, dann stärkt dies das Zusammengehörigkeitsgefühl. Wenn also Konsense zwischen zwei Gruppen erscheinen, dann sinkt in der Tat die Wahrscheinlichkeit, dass es zwischen ihnen zur kriegerischen Auseinandersetzung kommt. Dieser Vorteil darf aber nicht zu einer Überschätzung von Konsensen führen. Konsense sind weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung für ein friedliches Zusammenleben. Im Gegenteil, Minimalkonsense sind sogar eine notwendige Bedingung für Konkurrenz: Wenn zwei junge Männer zu dem Konsens kommen, dass eine bestimmte junge Frau die begehrenswerteste ist, wird dieser Konsens nicht unbedingt zum friedlichen Verhältnis zwischen den jungen Männern beitragen. Nur wenn zwei Firmen zu dem Konsens kommen, dass es sinnvoll ist, in derselben Branche tätig zu sein, ist Konkurrenz möglich. Konsense wirken also nur über ihre psychologische Wirkung befriedend, indem sie Alterität zu reduzieren scheinen: Indem im Anderen das Eigene wiedererkannt zu werden scheint, verliert der Andere seine Andersartigkeit. Damit kommt es zur Vermeidung von Toleranz und zu einer (scheinbaren) Pluralitätsreduktion. Toleranz bedeutet, etwas leidend zu erdulden. Der Andere wird tatsächlich als Anderer erduldet und nicht unter das Eigene subsummiert. Ist wie im Falle der Religion der Andere der Andere, weil seine religiösen Einsichten vor dem Hintergrund der eigenen Perspektive als falsch oder unverständlich gewertet werden, dann ist er dennoch zu erdulden und zwar auch erleidend. Denn nur wenn man an der vermeintlichen Falschheit des Anderen leidet, erkennt man an, dass der Andere gerade auch als Anderer zur eigenen Identität gehört. Echte Konsense würden zu einer gegenseitigen Vereinnahmung des Anderen führen, während unterstellte Konsense nur zeigen, dass der Andere nicht ernst genommen würde. Unterstellte Konsense führen dadurch auch zur Dialogvermeidung. Konsense haben noch einen weiteren Nachteil. Gesetzt, es käme in einer Gesellschaft im religiösen System zu einem Universalkonsens, und gesetzt, dass Religion verstanden werden muss in der Spannung von Antwort auf das Sich-Zeigen von göttlichen Instanzen und eigenmächtigem Ergreifen-Wollen von göttlichen Instanzen: Dann © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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wäre ein religiöser Universalkonsens einer Gesellschaft für diese sogar schädlich. Denn unter den Bedingungen eines Universalkonsenses gibt es keinen dialogischen Partner mehr, der durch eine abweichende Meinung zur Korrektur beitragen könnte. Denn klar sein muss, dass ein Universalkonsens im Bereich der Religion keine Wahrheitsbedingung darstellen kann. Die Schädlichkeit von Universalkonsensen bedeutet natürlich nicht, dass partikulare Konsense im Dialog der Religionen nicht auch stabilisierend wirken können – dieses aber eben nicht müssen. Dieses Plädoyer darf daher nicht als Plädoyer gegen Konsense verstanden werden, sondern es richtet sich nur dagegen, den Konsens zum Zentralbegriff der Verhältnisbestimmung der Religionen untereinander zu machen. Betrachtet man die bisher vorgestellten Modelle, so ist zu sehen, dass die Modelle 1 – 5 alle scheitern, weil sie letztlich inkohärent sind. Die Modelle 6 – 10 scheitern nicht, haben aber ihre Probleme. Daneben besitzen sie mit dem Konsensbegriff das Problem, dass dieser die Begründungslast der Frage „Wie ist eine friedliche Gesellschaft im unreduzierten religiösen Pluralismus möglich?“ nicht tragen kann. Daher sei abschließend ein elftes Modell bevorzugt:
11. Pluralistische Toleranz Jede Religion behauptet bezeugend ihre eigenen Wahrheitsansprüche gegenüber anderen Religionen, duldet aber deren Wahrheitsgewissheiten im respektvollen, auf Verstehen zielenden Dialog unter Toleranz. Hier ist der religiöse Pluralismus der Gesellschaft gewahrt, weil es tatsächlich abweichende Wahrheitsansprüche der Religionen untereinander gibt. Gerade dadurch sind Toleranz und Dialog möglich. Aber eigene Wahrheitsansprüche zu vertreten und andere Wahrheitsansprüche in ihrer Andersheit anzuerkennen, ist nur eine notwendige Bedingung für Toleranz. Es müssen noch weitere Bedingungen dazu kommen.11 Dies ist 1. die Überzeugung, dass auch der Andere in seiner Andersheit für die eigene Identität relevant ist. M.a.W.: Im Bereich der Gesellschaft 11 Vgl. Herms, E., Pluralismus aus Prinzip, in: Herms, E. (Hg.), Kirche für die Welt, Tübingen 1995.
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muss die Relevanz von Religionen für die gemeinsame, öffentliche Interaktion anerkannt sein. 2. die Überzeugung, dass Religionen und Wirklichkeitsverständnisse absolut oder relativ unverfügbar sind. Was ist damit gemeint? Eine Unverfügbarkeit von Religionen liegt dann vor, wenn die Frage, wie Personen zu religiösen oder weltanschaulichen Gewissheiten kommen können, nicht hinreichend beantwortbar ist: Nur wenn anerkannt ist, dass die eigene religiöse Gewissheit nicht von einem selbst gemacht ist, dass man sich nicht selbst dafür entschieden hat und dass sie nicht das Produkt von allen biologischen und gesellschaftlichen Faktoren ist, ist eine absolute Unverfügbarkeit gegeben. Eine relative Unverfügbarkeit läge immerhin noch dort vor, wo zwar behauptet würde, dass letztlich doch eine Summe von welthaften Faktoren zusammen die hinreichende Bedingung für das Zustandekommen einer weltanschaulichen Gewissheit wäre, aber prinzipiell zugestanden würde, dass diese nicht methodisierbar, nicht lehrbar, nicht kalkulierbar, nicht beherrschbar, ja, letztlich nicht verstehbar ist. Fehlt einer Religion oder einem Wirklichkeitsverständnis das Kennzeichen absoluter oder relativer Unverfügbarkeit, handelt es sich um eine nicht pluralismusfähige, nicht tolerante und tendenziell totalitäre Ideologie. 3. zeugnishafte Dialogbereitschaft: Unverfügbarkeit und Anerkenntnis der Öffentlichkeitswirksamkeit sind zwei Kriterien für die Toleranzfähigkeit von Religionen. Ein drittes muss noch hinzukommen: die zeugnishafte Dialogbereitschaft. Dialogbereitschaft erkennt praktisch an, dass man bei Wahrung der ersten beiden Prinzipien auch in pluralistischen Gesellschaften miteinander interagieren und kooperieren muss und dass man nicht die Wahl hat, mit wessen Geistes Kind man das gemeinsame Handeln praktizieren will oder nicht. Für Toleranzfähigkeit ist daher auch die Dialogbereitschaft, die Religion zwar für etwas Persönliches, auf keinen Fall aber für etwas Privates oder Intimes hält, über das man besser nicht spricht, unverzichtbar. Dieses gemeinsame Sprechen über die jeweilige religiöse Überzeugungsgrundlage darf auch nicht den eigenen Standpunkt verleugnen: Es sollte im Bewusstsein geschehen, Zeugnis von der eigenen zuteilgewordenen Gewissheit und dem zuteilgewordenen Vertrauen zu geben. Aus der Perspektive der christlichen Theologie hat diese Art von Zeugnis, die bewusst darauf verzichtet, den Glauben im Anderen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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erzeugen zu wollen, einen Namen: Mission. Die Tatsache, dass der Missionsbegriff in der Alltagssprache oft in sein Gegenteil verkehrt worden ist und für ein Bekehren-Wollen mit eigenen (unlauteren) Mitteln steht, ist symptomatisch für die gegenwärtige Gesellschaft und ihre Geschichte: Es ist symptomatisch für ein gegenwärtiges verzeichnetes öffentliches Bild von Religionen, das darauf hindeutet, dass vielen gesellschaftlichen Wortführern nicht mehr bewusst ist, was Religion sinnvollerweise bedeuten kann und was nicht. Diese Tatsache ist jedoch auch symptomatisch für die Geschichte der Religion und insbesondere des Christentums in unseren Gesellschaften. Denn es ist nicht zu leugnen, dass bestimmte institutionalisierte Gestalten des Christentums in ihrer Geschichte nicht nur den Missionsbegriff für etwas gebraucht haben, was nach christlicher Theologie gänzlich unmöglich und selbstwidersprüchlich ist – die menschliche Erzeugbarkeit christlichen Vertrauens –, sondern damit selbst die jeweilige christliche Form der Religion in eine totalitäre Ideologie – und damit ins Dämonische12 – verkehrt haben. Die genannten Merkmale, einschließlich des Merkmals der Unverfügbarkeit des Zustandekommens der jeweiligen religiösen Gewissheit, sind zunächst formale und abstrakte Merkmale. In einzelnen Religionen können sie immer nur in je verschiedener inhaltlicher Form vorliegen, so dass es nicht ein inhaltliches Toleranzprinzip der Religionen gibt, sondern deren perspektivisch verschiedene und viele. Ob und in welcher Form solche Toleranzprinzipien in den einzelnen Religionen vorliegen, hängt wiederum vom Gottesverständnis ab. Zumindest für das Christentum ist dies leicht aufzuweisen: Toleranz ist in christlicher Perspektive zuallererst ein göttliches Prädikat: Es bezieht sich darauf, dass Gott den Widerspruch des Menschen erduldet und am Kreuz selbst erleidet.13 Menschliche Toleranz ist daher nur in Konformität zur Toleranz Gottes möglich. Dabei zeigt sich hinsichtlich der eigenen Auffassung von dem Zustandekommen christlichen Glaubens eine zweifache Unverfügbarkeit. Die erste und primäre Unverfügbarkeit des Zustandekommens von Glauben besteht darin, dass Gott selbst darauf verzichtet, den 12
Vgl. Tillich, P., Systematische Theologie III, Frankfurt a.M. 41984, 432. Vgl. Ebeling, G., Die Toleranz Gottes und die Toleranz der Vernunft, Zeitschrift für Theologie und Kirche 78 (1981). 13
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Glauben im Menschen wie durch ein Psychopharmakon manipulativ zu erzeugen. Zwar weht der Heilige Geist, wo er will, und Gott der Heilige Geist selbst schafft die Glaubensgewissheit im Menschen; allerdings nicht ohne kreatürliche Mithilfe: Der Heilige Geist hat sich an die menschliche Glaubenskommunikation in Predigt, in der religiösen Praxis und Sozialisation gebunden. Auch diese ist eine notwendige Bedingung für das Zustandekommen von glaubendem Vertrauen. Wo aber diese menschliche Kommunikation der guten Nachricht des Evangeliums durch die Glaubenden selbst verzeichnet und entstellt wird, was immer wieder geschieht, da zaubert Gott den Glauben mitnichten herbei, sondern toleriert in leidendem Erdulden zuallererst seine eigene Kirche: „Ja sogar gegenüber seiner Kirche und seinen Heiligen auf Erden verhält sich Gott nicht unähnlich im Ertragen und in Güte.“14
Die zweite und abgeleitete Unverfügbarkeit der Glaubenskonstitution besteht für die Glaubenden selbst: Deren Glaubenskommunikation einschließlich aller Sozialisationsfaktoren ist zwar eine notwendige Bedingung für das Zustandekommen von Glauben, aber eben keine hinreichende: Glaubendes Vertrauen kann man weder anerziehen noch sich dafür entscheiden. Vielmehr ist es Gott der Heilige Geist selbst, der das, was inhaltlich von den Glaubenden einander kommuniziert wurde, einleuchten und damit zum handlungsorientierenden Vertrauen werden lässt. Eine spannende Frage, die eine Leitfrage bei der Lektüre dieses Buches sein kann, lautet nun: Gibt es auch in anderen Religionen solche inhaltlichen Toleranzprinzipien, die aus der eigenen Perspektive inhaltlich Toleranz begründen können? Solche Prinzipien in anderen Religionen zu entdecken und darüber in einen Dialog zu treten, kann selbst Zeichen abenteuerlustiger und spannender sowie hoffnungsvoller Toleranzpraxis sein. Toleranz zeigt sich nicht dem Eigenen gegenüber, sondern dem 14 Luther, M., D. Martin Luthers Werke (WA), Weimar u. a. 1983 – 2009, Bd. 39I, 83,12 f: „Quin et cum Ecclesia et Sanctis suis in terra non dissimili tolerantia et bonitate agit.“
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Fremden und Anderen. Dies kann das Fremde und Andere sein, das zur eigenen Lebenswelt gehört oder erst im Laufe der Geschichte in jenes vordringt. Dies kann aber auch das Eigene sein, was im Verlauf der Geschichte zum Fremden und Anderen wird. Und so zeigt sich exemplarisch die Toleranzfähigkeit von Religionen, Wirklichkeitsverständnissen und ihren jeweils vertrauenden Menschen auch am besten am Umgang mit den eigenen Apostaten und den eigenen Abgefallenen: Wo Abfall von einer bestimmten Überzeugungsgemeinschaft nicht toleriert, sondern verfolgt wird, dort wird mit Sicherheit keine Toleranz praktiziert, sondern totalitäre Übergriffe. Und an dieser Stelle sollte auch die gesellschaftlich durch das Rechtssystem praktizierte Toleranz ihre Grenze haben.
Danksagung Dank gebührt all jenen, ohne die dieses Büchlein nicht hätte erscheinen können. Dies sind in erster Linie die Autoren dieses Buches, sodann stellvertretend für die Unterstützung von Seiten des Verlags Jörg Persch und Christoph Spill. David Andrew Gilland hat umfangreiche, auch inhaltliche Redaktionstätigkeit auf sich genommen und Katharina-Maria Wanckel und Jessica Fleischer haben formale Redaktionstätigkeit und die mühevolle Arbeit des Korrekturlesens geleistet. Auch all ihnen gebührt Dank. Lüneburg, im Juli 2014
Markus Mühling
Literatur Barth, Karl, Kirchliche Dogmatik, Zürich 1932 – 1967. Brümmer, Vincent, Was tun wir, wenn wir beten? Eine philosophische Untersuchung, Marburg 1985. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-lutherischen Kirche, herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 91982. Ebeling, Gerhard, Die Toleranz Gottes und die Toleranz der Vernunft, Zeitschrift für Theologie und Kirche 78 (1981), 442 – 464. Härle, Wilfried, Wahrheitsgewißheit als Bedingung von Toleranz, in: Schwöbel, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Christoph/Tippelskirch, Dorothee von (Hg.), Die religiösen Wurzeln der Toleranz, Freiburg 2002, 77 – 97. Herms, Eilert, Pluralismus aus Prinzip, in: Herms, Eilert (Hg.), Kirche für die Welt, Tübingen 1995, 467 – 485. Hick, John, Gotteserkenntnis in der Vielfalt der Religionen, in: Bernhardt, Reinhold (Hg.), Horizontüberschreitung, Gütersloh 1991, 60 – 80. Knitter, Paul F., Religion und Befreiung. Soteriozentrismus als Antwort an die Kritiker, in: Bernhardt, Reinhold (Hg.), Horizontüberschreitung, Gütersloh 1991, 203 – 219. Küng, Hans, Projekt Weltethos, München 131996. Luther, Martin, D. Martin Luthers Werke (WA), Weimar u. a. 1983 – 2009. Mühling, Markus, Liebesgeschichte Gott. Systematische Theologie im Konzept, Göttingen 2013. Newberg, A.B., Principles of Neurotheology, Farnham 2010. Tillich, Paul, Systematische Theologie III, Frankfurt a.M. 41984.
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Christliche Gotteslehre in der Welt der Religionen
1. Das christliche Bekenntnis, religiöser Pluralismus und die Erkenntnis Gottes Von ihren allerersten Ursprüngen an bekannte die christliche Kirche ihren Glauben an Gott als den Vater Jesu Christi. Indem sie dies tut, verwirklicht sie zugleich ihre eigene, sie unterscheidende Identität vor einem öffentlichen Forum: „Und wiewohl welche sind, die Götter genannt werden […], so haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von welchem alle Dinge sind und wir zu ihm; und einen HERRN, Jesus Christus, durch welchen alle Dinge sind und wir durch ihn.“ (1Kor 8,5 f ).1 „Christliche Theologie“ kann nun im weitesten Sinne des Wortes als eine vernünftige Durchdringung des Bekenntnisses der Kirche verstanden werden – als das dem Glauben ganz innewohnende Unternehmen, diesen Gott und alle Dinge in Bezug auf Gott als ihrem Ursprung und ihr Ziel zu verstehen.2 Die neuere Forschung der frühen Christenheit hat versucht, die oft sehr komplizierten und auch konfliktträchtigen Vorgänge der christlichen Identitätsbildung zu beleuchten. Im Laufe dieser Identitätsbildung gewannen die christlichen Kirchen ein neues gemeinschaftliches Verständnis ihrer selbst, indem sie sich in mannigfacher 1
Vgl. Hofius, O., „Einer ist Gott – Einer ist Herr“. Erwägungen zu Struktur und Aussage des Bekenntnisses 1.Kor 8,6, in: Evang, M./Merklein, H./Wolter, M. (Hg.), Eschatologie und Schöpfung. FS E. Gräßer, Berlin/New York 1997, 95 – 108. 2 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, 1a, q1, a7: „Omnia autem pertractantur in sacra doctrina sub ratione Dei, vel quia sunt ipse Deus; vel quia habent ordinem ad Deum, ut ad principium et finem.“ © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Weise von vielen anderen Gemeinschaften, die kulturell bedeutsam waren, unterschieden. Diese entstehenden christlichen Gemeinschaften – ähnlich dem Judentum des ersten Jahrhunderts, das selbst ein bewegliches Gefüge sozialer Beziehungen darstellte, das man nur der Bequemlichkeit halber mit der Bezeichnung „Judentum“ benennen kann – wollten ihren Glauben deutlich sowohl vom populären paganen Polytheismus als auch von „weichen“ Monotheismen unterschiedlicher philosophischer Schulen unterschieden wissen, indem sie sich einem „harten“, partikularistischen Monotheismus verpflichtet fühlten: „Für uns gibt es nur einen Gott und dieser Gott trägt wirklich diesen Namen.“3 Die Anhänger Jesu unterschieden sich aber nicht nur von den paganen hellenistischen Traditionen, sondern sie unterschieden sich auch aktiv innerhalb des sich entwickelten Judentums von diesem durch ihre Art der Frömmigkeitsausübung, der Verehrung, des Gottesdienstes und der Unterweisung, indem diese stets christologisch durchdrungen waren.4 In entsprechender Weise gewann das „christliche Bekenntnis“ seine spezifische Gestalt nicht durch eine Ablehnung des Jüdischen Monotheismus oder durch eine Verwässerung dessen: „Für uns gibt es nur einen Gott und nur einer ist Herr.“ Der eine Gott, auf den sich Christen beziehen, ist der Vater, der genau aufgrund seiner Beziehung zu Jesus als dem Sohn Gottes so genannt wird. Jesus als der Sohn wird aber zugleich als die Verkörperung des Messias Israels und als eingesetzter Herr über die Schöpfung verstanden. Interessanterweise entsprechen die kulturellen Verhältnisse zur Zeit des frühchristlichen Bekenntnisses zu Gott den Debatten um die Veränderungen der christlichen Identität in der westlichen Spätmoderne. In diesem Zusammenhang wird u. a. die Meinung vertreten, es gäbe eine „Erosion der gesellschaftlichen Bedeutung der Religion“ im nachreformatorischen Europa und es wird ein kontinuierlicher Verfall
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Vgl. Droge, A.J., Self-definition vis--vis the Greco-Roman world, in: Mitchell, M.M./Young, F.M. (Hg.), Cambridge History of Christianity. Vol. 1: Origins to Constantine, Cambridge 2006, 230 – 244. 4 Für eine Einführung in die Frömmigkeitspraxis der frühen Kirche vgl. Hurtado, L.W., Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Grand Rapids 2003. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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der öffentlichen Bedeutung des Christlichen Glaubens vorausgesagt.5 Andere Stimmen allerdings betrachten das Ende der kulturellen Hegemonie des Christentums im Westen als eine positive Gelegenheit, durch welche christliche Gemeinschaften ihren Sinn christlicher Unterschiedenheit im Gespräch mit vielen anderen religiösen Gemeinschaften wiedererlangen können. Gemäß der Analyse Christoph Schwöbels ist der Schlüsselbegriff zur Gegenwartsdeutung weniger „Säkularisation“ denn „Pluralismus“. Um unsere gegenwärtige Situation nach der Hegemonie des Christentums verstehen zu können, müssen wir sie erkennnen als „die Wiederkehr der Situation der Alten Kirche, als die noch junge christliche Bewegung ihre Identität durch die Bestimmung der Identität des Gottes, an den Christen und Christinnen glauben, bestimmen mußte“6. Eine theologisch gebildete Erforschung der „Grundprobleme der Verständigung und des Zusammenlebens im religiös-weltanschaulichen Pluralismus“7 erfordert es, dass Christliche Theologie auf die theologischen Debatten der frühen Christenheit zurückgreift, um die vernünftige Integrität und die kulturelle Provokation der klassischen Christlichen Theologie wiederzugewinnen – eine Provokation, die sich nach Schwöbel im vierten Jahrhundert herausdestillierte, als die Trinitätslehre des Ostens zu begrifflichen Innovationen der kappadozischen Väter führten: „[E]ine christlich-theologische Auseinandersetzung mit den Problemen des religiös-weltanschaulichen Pluralismus [würde] ihre Pointe verfehlen […], wenn sie sich nicht daran erinnern ließe, daß in der Denkgeschichte des Christentums eine eigene Lösung des für den Pluralismus grundlegenden Problems von Einheit und Vielfalt entwickelt wurde und in der Trinitätslehre, vor allem den in der kappadozischen Tradition und verwandten Traditionen im Westen anzusiedelnden Konzeptionen, eine präzise begriffliche Formulierung gefunden hat. Sie hat ihren begrifflich 5 Franzmann, M./Gärtner, C./Kock, N. (Hg.), Religiosität in der säkularisierten Welt. Theoretische und empirische Beiträge zur Säkularisierungsdebatte in der Religionssoziologie, Wiesbaden 2006, 16; Bruce, S., Secularization: In Defence of an Unfashionable Theory, Oxford 2011. 6 Vgl. Schwöbel, C., Trinitätslehre. Eine Skizze, in: Ders., Gott im Gespräch. Theologische Studien zur Gegenwartsdeutung, Tübingen 2011, 407 – 422 (407). 7 Schwöbel, C., Gespräch, xii.
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Donald Wood / David A. Gilland genauen Ausdruck in der Unterscheidung und Beziehung von hypostasis und ousia gefunden und der damit behaupteten Gleichursprünglichkeit von Einheit und Vielheit in der Trinität.“8
Vor uns liegt daher eine zweifache Aufgabe: Erstens gilt es, eine kurze Skizze der biblischen Wurzeln der Trinitätslehre, ihrer frühen Entwicklung und ihrer begrifflichen Formulierungen zu bieten, um eine Basis für die Debatte der christlichen Theologie mit anderen Bestimmungsversuchen Gottes aus anderen religiösen Traditionen zu gewinnen. Zweitens gilt es, darauf aufbauend die Gründe und Ziele trinitarischer Theologie in einigen ausgesuchten exemplarischen Theologien des modernen Westens vorzustellen. Verfolgt man diese zweifache Aufgabenstellung, wird man sich ungezwungen in der Umlaufbahn der Versuche der Identitätsbildung durch Selbstdifferenzierung wiederfinden. Indem man dabei die zentralen Themen, die wichtigsten Akzentuierungen und die charakteristische Sprache dieser Tradition zur Kenntnis nimmt, gilt es aber auch, eine zweifache Gefahr zu beachten: Erstens sollte man nicht einfach annehmen, dass ein theologisches Verständnis der gegenwärtigen kulturellen und politischen Situation der christlichen Kirche immer den Zeitdiagnosen, wie sie in anderen Formen des öffentlichen Diskursen vorgenommen werden, entspricht. Christliche Theologie ist nicht an Anthropologie oder Soziologie gebunden. Wo sie die Sprache von „Identitätsbildung“, „religiösem Pluralismus“ und dergleichen nutzt, 8 Schwöbel, C., Christlicher Glaube im Pluralismus. Studien zu einer Theologie der Kultur, Tübingen 2003, x; vgl. Schwöbel, C., Gespräch, xix: „Mit ihrer Behauptung, daß Gott zugleich in der Dreiheit der trinitarischen Personen von Vater, Sohn und Geist und in der Einheit des göttlichen Wesens ist, vertritt sie [d. h. die klassische Trinitätslehre] die These der Gleichursprünglichkeit von Einheit und Vielfalt für das Sein des trinitarischen Gottes, die sich darum in der radikalen Unterscheidung von Gottes schöpferischem Sein und dem geschöpflichen Sein von Welt und Mensch auch in Gottes Werken niederschlägt.“ Die neuere partristische Forschung zeigt sich mitunter gegenüber der Inanspruchnahme der Kappadozier in der gegenwärtigen trinitarischen Theologie kritisch, v. a. wenn sie in Kontrast zur (u. U. vermeintlich) monistischen Konzeption Augustins dargestellt wird. Kany, R., Augustins Trinitätsdenken. Bilanz, Kritik und Weiterführung der modernen Forschung zu „De trinitate“, Tübingen 2007 gibt einen Überblick über die relevante Literatur.
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geschieht dies wegen ihrer eigenen Gründe und gemessen an ihren eigenen Begriffen.9 Zweitens muss man darauf Acht geben, dass das Interesse an der kommunikativen Pragmatik des christlichen Bekenntnisses nicht missverstanden wird. Es geht bei Darlegung der eigenen Begriffe des Bekenntnisses gemäß dem christlichen Selbstverständnis nicht primär um einen Akt gemeinschaftlicher Poesie, sondern um einen Akt der Anerkennung, der durch Gottes Selbsterschließung seiner Identität und seines Willens für seine Schöpfung selbst angeregt ist. Die zuletzt genannte Einsicht enthält sowohl eine Abgrenzung als auch eine Bejahung. Einerseits erkennt die christliche Kirche durch ihr Bekenntnis an, dass Gott nicht anders als durch seine freie Selbstoffenbarung erkannt werden kann. Denn Gott lebt jenseits jeden Zwangs und jeder Entdeckung, ungewollt oder unbezeugt als ein anderer erkannt zu werden, als der er ist. Mit dieser Abgrenzung und dieser Negation verbindet sich aber auch eine Affirmation: Gott hat sich selbst in Gnade bekanntgemacht: „Siehe, der HERR, unser Gott, hat uns lassen sehen seine Herrlichkeit und seine Majestät.“ (Dtn 5,24). „Niemand hat Gott je gesehen; der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat es uns verkündigt.“ (Joh 1,18). Die Anerkenntnis Gottes und seiner Werke durch die Kirche findet ihre letzte Basis und ihre Norm in göttlicher Offenbarung.10 Innerhalb der Achtung vor Gottes Selbstpräsentation durch die Kirche nimmt das glaubende Lesen der Schriften des Alten und des Neuen Testaments einen besonderen Rang ein. Beide sind sowohl als ein einzigartiges Dokument und als ein Instrument göttlicher Offenbarung als auch als primärer Bezugspunkt des Bekenntnisses der 9
Schwöbel spricht hier zu Recht von dem Bedarf, „die Situation des Pluralismus selbst theologisch zu verstehen“ (Schwöbel, C., Pluralismus, xii). 10 Hilarius von Poitiers, De Trinitate 5.21 (PL 10, 143 A): „A Deo discendum est, quid de Deo intelligendum sit: quia non nisi se auctore cognoscitur.“ Vgl. Pannenberg, W., Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, 207: „Würde die Gotteserkenntnis des Menschen so gedacht, daß der Mensch aus eigener Kraft der Gottheit das Geheimnis ihres Wesens entreißt, so wäre die Gottheit des Gottes von vornherein verfehlt. Eine so verstandene Erkenntnis wäre jedenfalls keine Gotteserkenntnis, weil schon ihr Begriff im Widerspruch zum Gottesgedanken stünde. Daher ist Gotteserkenntnis nie anders als durch Offenbarung möglich.“ © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Kirche verstanden. Zumindest in dieser Hinsicht kann christliche Theologie daher einfach aufgefasst werden als ein „gebildet werden und andere […] bilden durch die Schrift“.11 Die entscheidende Frage der christlichen Gotteslehre kann daher spezifiziert werden: Es geht um die Konformität des christlichen Gottesbekenntnisses zur Realität Gottes in seiner Selbstpräsentation. Und diese Frage wird kontinuierlich durch die Schrift in Erfüllung ihrer göttlich geordneten Rolle als „Kanon“ an die Kirche herangetragen. Gemäß dem Zeugnis der Prophetie Israels will Gott in Freiheit Schöpfer aller Dinge und der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs sein und ebenso in Freiheit als dieser bekannt sein. „Denn ich bin der HERR, dein Gott […]. Ich pflanze den Himmel und gründe die Erde und zu Zion spreche ich: Du bist mein Volk.“ (Jes 51,15 f ). Israels Gottesbekenntnis beinhaltet daher die Anerkenntnis sowohl von Gottes gnädiger Treue zu seinem erwählten, aber dennoch eigensinnigen Volk als auch seine liebende Herrschaft über alle Geschöpfe, die in ihrer ihnen je eigenen Weise ebenso zur freudigen Anerkenntnis ihres Schöpfers gerufen und in das Geschick Israels einbezogen sind.12 Genau indem Gott eine Welt schafft und Israel erwählt – d. h. indem er sich als der unbestrittene Ursprung und Herrscher aller Dinge und als Herr seines Bundesvolkes identifiziert – unterscheidet sich Gott selbst von allen anderen Geschöpfen und ebenso von allen anderen, von Menschen gemachten Göttern. Er manifestiert sich dadurch gegenüber Israel als der einzig herrliche und gnädige Herr, jenseits jeglichen kreatürlichen Vergleichs und jeder kreatürlichen Klassifikation: „Ja, ich will euch tragen bis ins Alter und bis ihr grau werdet. Ich will es tun, ich will heben und tragen und erretten. Nach wem bildet und wem vergleicht ihr mich denn? Gegen wen messet ihr mich, dem ich gleich sein solle.“ (Jes 46,4 f ). Das Verhältnis zwischen Gott und Israel ist zwar ein vernünftiges Verhältnis, das auch zulässt, mit Gott zu „rechten“: „So kommt denn und lasst uns miteinander rechten, spricht der HERR.“ (Jes 1,18). Aber die geschaffene Vernunft ist dabei berufen, die Grenze ihres eigenen Vermögens anzuerkennen: „Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege 11 Vgl. Gregor von Nazianz, Oratio 28.1 (Barbel, J. (Hg.), Gregor von Nazianz. Die fünf theologischen Reden, Düsseldorf 1963, 62). 12 Vgl. Psalm 136, 145, 148 et multa alia.
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sind nicht meine Wege, spricht der HERR; sondern soviel der Himmel höher ist denn die Erde, so sind auch meine Wege höher denn eure Wege und meine Gedanken denn eure Gedanken“ (Jes 55,8 f ). Israel ist sich dabei präzise seiner Sündhaftigkeit als Hemmung seiner Gotteserkenntnis bewusst (Jer 4,22; Hos 4,1 – 6), aber Israel weiß doch zugleich auch, dass die Unfassbarkeit Gottes nicht einfach mit menschlicher Sündhaftigkeit zusammenfällt. Schon als Schöpfer übersteigt Gott jede Möglichkeit geschaffener Wahrnehmung und geschaffenen Ergreifens. Selbst dem am meisten erhöhten himmlischen Geschöpf ist keine unmittelbare Gottesschau möglich (Jes 6,2).13 Im Neuen Testament nun nimmt diese zweifache göttliche Selbstmanifestation und Selbstunterscheidung explizit christologische und trinitarische Dimensionen an: Der eine wahre Gott, der Schöpfer aller Dinge und Israels Herr manifestiert sich nun selbst durch den Heiligen Geist als der Vater Jesu Christi, der der ewige Sohn ist durch den und zu dem alle Dinge geschaffen sind (Kol 1,15 – 20; Eph 1; Hebr 1,1 f ). Entsprechend ist nun die Beziehung zwischen Gott und der Welt, wie sie in der Schöpfung ihren Anfang nimmt und in Israels Erwählung aufrechterhalten ist, nun verkündigt und anerkannt in der gesamten Schöpfung in Bezug zur Beziehung zwischen dem Vater und dem Sohn als durch den Heiligen Geist realisierte und anerkannte. Hier geschieht nun eine „neue Selbstidentifikation Gottes in der Geschichte“, die allerdings „seine frühere Selbstidentifikation als Gott Israels nicht aufhebt, sondern ein neues Kapitel in der Geschichte Gottes mit den Menschen eröffnet.“14 In einer durchaus komplexen Kontinuität mit dem Glauben des kanonischen Israels bezeugt die frühe Kirche in den Texten des Neuen Testaments den Vater Jesu Christi als den einen Schöpfer aller Dinge und als den einen Herrn des Bundes. Dabei bedient sich die Kirche sprachlicher Ausdrucksformen, die durch die biblische Sprache ge13
Dies gilt, wenn man die in dieser Passage dargestellten Seraphim begreift, als würden sie ihre eigenen Gesichter verdecken oder (wie in der exegetischen Tradition von Origenes, De Principiis IV 3,14 dargestellt) das Gesicht Gottes. Vgl. Gregor von Nyssa, Cont.Eun. 2.69: „Die Grenze, die die ungeschaffene Natur von der geschaffenen trennt, ist stark und undurchlässig“. 14 Schwöbel, C., Trinitätslehre, 412. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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schult sind – in Lob, Bittgebet und Verkündigung – und die gleichzeitig den kategorialen Unterschied zwischen dem umgeschaffenen Schöpfer und der Schöpfung wahren, und doch zugleich eine strikte Verpflichtung gegenüber der trinitarischen Form von Gottes Treue zu seinem Bund mit Israel ausdrücken. Dieser Bund ist nun für alle – Juden wie Heiden – geöffnet, die durch den Geist im Glauben mit dem einzigen Sohn des Vaters verbunden sind. Hier sehen wir nun die besondere Freiheit und das besondere Pathos des christlichen Gottesbekenntnisses: Die Kirche, die im Lob und Dienst vom Gott des Evangeliums lebt, ist davon befreit, lediglich ein lokaler religiöser Verein oder eine politische Vereinigung zu sein. Indem sie sich selbst von ihrem gekreuzigten, auferweckten und lebendigen Herrn dazu bestimmt weiß, durch das Evangelium in die gesamte Welt geboren zu sein, ist sie eine wahrhaft „apostolische“ und „katholische“ Gemeinschaft – eine partikulare Gemeinschaft von Menschen, die mit einer Botschaft von universaler Bedeutung einbezogen ist in die konkrete Freiheit der Bewegung des Heiligen Geistes in der Welt. Die Kirche, die von Gott zu diesem besonderen Dienst ausgesondert ist, findet sich selbst vereinigt vor durch ihr einmaliges Bekenntnis zu dem einen Gott als vollständig freiem Schöpfer und als vollständig treuem Versöhner. Und eben dadurch leidet die Kirche – die sich selbst als „eine“ und als eine „heilige“ bekennt – mit der Welt und an der Welt, die das Evangelium als ständige Zumutung und als Angriff erfährt.
2. Die frühe Entwicklung der christlichen Gotteslehre Das Zeugnis der frühen Kirche gegenüber den Juden und den Heiden ist in theologischer Sicht zugleich ein spirituelles Geschehen und eine delikate historische Angelegenheit. Auf ihren wesentlichen Inhalt reduziert und ohne dass sie mit den biblischen Themen, wie wir sie im letzten Abschnitt erklärt haben, angereichert gewesen wäre, kann man die frühesten theologischen Gehversuche der Kirche verstehen, wenn man sie in Auseinandersetzung mit einer ständigen, doppelten Versuchung begreift. Die Versuchung bestand einerseits darin, den Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf zu verwischen, und andererseits, einen Bruch in die Geschichte Gottes mit seinem Volk © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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einzuzeichnen. Die unterschiedlichen Arten und Weisen, wie diese beiden grundlegenden Versuchungen das frühe christliche Bekenntnis bestimmten, die Prozesse, durch die sie tatsächlich als Versuchungen, denen es zu widerstehen galt, identifiziert wurden und auf welche Weise und inwieweit diese Versuchungen überwunden wurden, kann nicht einfach illustriert werden, sondern dazu bedarf es einer umfangreicheren Darstellung. Natürlich begegnete die Kirche diesen beiden Versuchungen nicht in einer isolierten Form, sondern eigentlich war jeder Moment, christliches Zeugnis abzulegen, eine Gelegenheit, sowohl die absolute Freiheit des Schöpfers als auch seine erstaunliche Treue zur Schöpfung zu bezeugen. In ihren ersten Begegnungen mit den mediterran antiken Kulturen fand sich die apostolische Kirche in einer Lage, den dreieinen Gott zu bezeugen, indem sie von der Auferstehung bald mit dieser oder bald mit jener Betonung sprach, indem sie bald auf der unermesslichen Kraft, die da am Werke ist, bestand oder indem sie die Tiefe der göttliche Weisheit, die im Auferstehungsereignis für uns scheint, betonte. So wurde bald der Aspekt göttlicher Freiheit und bald der Aspekt der göttlichen Treue bezeugt. Eine erste große Herausforderung für das Bekenntnis der Kirche zeigte sich, als die Apostel mit besonderer Dringlichkeit die Frage stellten, ob man tatsächlich von einer genuinen Kontinuität göttlichen Heilshandelns sprechen könne, angesichts des nicht vorausgesehenen Wirkens des Heiligen Geistes unter den Heiden. Die entstehenden Konflikte wurden auch tatsächlich im Neuen Testament nicht vollständig gelöst, aber es wurden doch zwei entscheidende Ausschlussbedingungen festgehalten: Erstens war die Kirche gegen die sogenannte judaistische Gefahr aufgerufen, zu betonen, dass die genuine Neuheit von Gottes Handeln in Jesus Christus, wie es vom pfingstlichen Geist (Apg 15) bezeugt wird, anzuerkennen sei. Zweitens aber musste gegen jede Form geistlicher Vergesslichkeit betont werden, dass diese Neuheit nicht als eine Herabstufung von Gottes früheren geschichtlichen Werken angesehen werden dürfe: Die heidenchristliche Kirche war dazu aufgerufen, sich selbst als adoptierte Kinder Gottes zu verstehen und das heißt auch als einbezogen in das Geschichtshandeln Gottes an Israel (Rom 9 – 11). Im späten 2. Jh., so überliefert von Irenäus von Lyon, erschienen die beiden auszuschließenden Fehlformen nun als Häresien; und zwar einerseits als die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Häresie des Ebionitismus und andererseits als die Häresie des Marcionismus, die von der katholischen Kirche theologisch zurückgewiesen werden mussten. Eine zweite Schwierigkeit bestand darin, dass schon im Neuen Testament immerhin die Möglichkeit erscheint, dass der Gott des Evangeliums nicht unbedingt immer als freier Schöpfer aller Dinge erscheint, sondern manchmal an einen stark eingeschränkten Gott erinnert. Die Einschränkung Gottes konnte in unterschiedlicher Weise verstanden werden: Gott konnte als eine bedürftige Gottheit verstanden werden, eine Gottheit, der es nach materieller Zuwendung und menschlichem Dienst dürstet. Und umgekehrt konnte Gott als eine gänzlich geistige Gottheit verstanden werden, der Materialität gänzlich zuwider ist und für die es ganz undenkbar ist, mit leiblicher menschlicher Existenz irgendetwas zu tun zu haben. Als Antwort darauf lässt sich in der apostolischen Verkündigung eine fortgesetzte Anerkennung von Gottes transzendenter Freiheit und von Gottes unerschöpflicher Freigiebigkeit beobachten. Der Gott des Evangeliums lebt aus sich selbst, jenseits von Bedürftigkeit und jenseits jeder Bestimmung durch ein Angewiesensein auf seine Geschöpfe (Apg 17,42 f ). Und genau aus diesem Reichtum seines eigenen Lebens heraus kann Gott in seiner eigenen Schöpfung frei anwesend sein in der Inkarnation des Sohnes und der Ausgießung des Geistes, um die gefallene Welt zurechtzubringen und zu vollenden.15 Irenäus betonte diese apostolische Tradition besonders gegen einen kosmischen Dualismus und gegen eine komplizierte Theologie der Vermittlung, wie sie bei den Valentinianern zu finden war.16 Für Irenäus ist Gott der Vater Jesu Christi kein anderer als der alleinige Schöpfer des Himmels und der Erde. Der väterliche Anspruch auf seine Schöpfung verwirklicht sich in der Inkarnation Christi und zeigt ihre ursprüngliche, unmittelbare und umfassende Schöpferabsicht. Obwohl Güte ein Prädikat ist, das eigentlich nur Gott selbst zugesprochen werden kann, 15
Zu Gottes Handeln vgl. Tanner, K., God and Creation in Christian Theology. Tyranny or Empowerment?, Oxford 1988. 16 Zu Irenäus’ üblicherweise als Gnostiker bezeichneten Gegnern vgl. Brakke, D., Self-differentiation among Christian groups: the Gnostics and their opponents, in: Mitchel, M.M./Young, F.M., Cambridge History of Christianity, vol. I, 245 – 260. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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kann sie nun in abgeleiteter Weise auch als ein Prädikat der Schöpfung in all ihren Aspekten, sowohl den geistigen als auch den körperlichen, erscheinen. In Jesus Christus ist diese Güte gnadenhaft bestätigt und führt zur Zurechtbringung aller Geschöpfe.17 Das menschliche Geschöpf, eine „Mischung aus Seele und Fleisch“, ist nicht durch einen Demiurgen oder durch Engel hervorgebracht, sondern der Mensch ist gebildet nach dem Bild Gottes durch Gott den Sohn und Gott den Geist, die bei Irenäus als die „beiden Hände“ des Vaters verstanden werden.18 Das gesamte menschliche Geschöpf, sowohl in seiner geistigen als auch in seiner physischen Bestimmtheit, ist Gegenstand von Gottes schöpferischer Absicht. Und diese Absicht wird durch den Sohn und den Geist verwirklicht, die daher am einzigartigen göttlichen Schöpfungshandeln teilhaben. Daraus folgt, dass die Zurechtbringung der Menschheit in Jesus Christus die Wiederherstellung und die Vollendung des Fleisches bedeutet und keineswegs eine Flucht vor dem Materiellen. Sohn und Geist wirken dabei in ihrem Heilshandeln mit nichts anderem als göttlicher Autorität. Irenäus bietet also ein grundlegend trinitarisches Verständnis von Gottes einheitlichem, schöpferischen und erlösenden Handeln. Und dieses Verständnis des trinitarischen Handelns in der Theologie des Irenäus von Lyon Ende des 2. Jh. nimmt in ganz bemerkenswerter Weise die Bestimmungen der nizänischen Trinitätslehre des 4. Jh. vorweg: „Schöpfung und Erlösung sind das Werk Gottes genau insoweit Gott die Dreieinigkeit ist. Das göttliche Handeln ist eines, und es geschieht als solches in wesentlich trinitarisch strukturierter Weise. Es ist derselbe Gott, d. h. die Trinität, der die Menschen zur Vollendung ihrer Bestimmung führt und der die Menschen geschaffen hat. Gott schafft auf die gleiche Weise, wie er heilt, d. h., auf trinitarische Weise: Der Vater schafft und heilt durch den Sohn und den Geist.“19 17
Steenberg, M.C., Irenaeus on Creation: The Cosmic Christ and the Saga of Redemption, Boston 2008, 73. 18 Vgl. Irenäus, Gegen die Häresien 3.21.10; 4.20.1. Zur „Zwei-Hände“Sprache in der Theologie Irenäus’ vgl. Briggman, A., Irenaeus of Lyons and the Theology of the Holy Spirit, Oxford 2012, 114, 41. 19 Emery, G., The Trinity. An Introduction to Catholic Doctrine on the Triune God, übers.v. Levering, M., Washington 2011, 169 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Gottes Handeln an der Welt vollzieht sich also immer in dreieiniger Weise – ein Sachverhalt, den man die göttliche „Ökonomie“20 genannt hat. Im Rahmen dieses trinitarischen Handelns Gottes an der Welt stellt sich nun die entscheidende Frage, wie Vater, Sohn und Geist unterschieden sind. Die theoretische Lösung dieser Frage bestimmte das christliche Denken vom 2. bis zum 4. Jh. Beziehen sich die Namen „Vater“, „Sohn“ und „Geist“ nur auf bestimmte Arten und Weisen (modi) der Gegenwart eines monolithischen Gottes, der in sich selbst keine realen Unterschiede aufweist, sondern in verschiedenen Sequenzen seiner Geschichte mit der Welt unterschiedliche Rollen annimmt? Oder beziehen sich diese Namen von „Vater“, „Sohn“ und „Geist“ auf relationale Unterschiede, die in Gott selbst real sind? Im 3. Jh. erschien nun eine Strömung namens Modalismus oder Sabellianismus, die das erstere annahm, weil sie sich nicht nur dem Gedanken der Einheit, sondern auch dem Gedanken der unterschiedslosen Eins-heit verpflichtet fühlte. Um diese modalistische Gefahr abwehren zu können, führte Tertullian die Rede von Gott als der Trinität ein und er erkannte, dass in der Rede über Gott eine systematische Unterscheidung zwischen den drei göttlichen personae – den Personen Vater, Sohn und Geist – sowie der einen göttlichen substantia oder dem Wesen Gottes einzuführen sei. Diese Unterscheidung war notwendig, um eben beides gleichzeitig aussagen zu können: dass das christliche Bekenntnis sowohl der Einheit Gottes verpflichtet ist als auch der Überzeugung, dass es sich bei Gottes Selbstoffenbarung in der Zeit um eine authentische Selbstpräsentation handelt. Tertullian sah in scharfsinniger Weise, dass mit dieser Frage nichts weniger als die Glaubwürdigkeit des biblischen Gottesverständnisses auf dem Spiel steht. Denn nach der Auffassung der modalistischen Gefahr besteht zwischen Vater, Sohn und Geist, die durch das biblische Zeugnis ausgedrückt werden, und dem scheinbar „realen“ Gott, der unerkennbar hinter all diesen Erscheinungsweisen liegt, eine unüberbrückbare Kluft. Die Folge des Modalismus ist klar:
20 Vgl. Richter, G., Oikonomia. Der Gebrauch des Wortes Oikonomia im Neuen Testament, bei den Kirchenvätern und in der theologischen Literatur bis ins 20. Jahrhundert, Berlin/New York 2005, 116 – 135.
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„Die gesamte biblische Rede von Gott bezieht sich nicht mehr auf den wahren Gott. Keiner der drei ist Gott.“21 Origenes von Alexandrien – der sowohl ein bedeutender Exeget der frühen Kirche als auch ein bedeutender Philosoph war – machte es sich zur Aufgabe, die Bedeutung der Beschreibungen Gottes in den „göttlichen Schriften“22 zu erfassen. Dies geschah, indem er sowohl betonte, dass primär der Vater Gott im eigentlichen Sinne genannt werden könne, als auch diagnostizierte, dass der Logos aus Joh 1,3, der schon bei der Schöpfung im Anfang anwesend war, vollständig göttlich ist.23 Damit schien aber die Gefahr entstanden zu sein, zwischen „Gott“ und „dem wahren Gott“ zu unterscheiden. Denn während der Vater sowohl „Gott“ als auch der „wahre Gott“ ist, ist der Sohn zwar „Gott“, nicht aber der „wahre Gott“. Damit schien eine Hierarchie, eine Subordination in Gott selbst angenommen zu sein, was später dann auch Subordinationismus genannt wurde. Origenes selbst scheint nicht die Notwendigkeit verspürt zu haben, sich dieser Gefahr erwehren zu müssen. Nach seiner Überzeugung ist der Vater niemals der Vater ohne den Sohn. Um dies auszudrücken, sprach er auch von der ewigen Geburt des Sohnes aus dem Vater. Nichtsdestotrotz verursachte er damit aber ein Problem, dass die theologischen Debatten des 4. Jh.24 bestimmen sollte. Diese Streitigkeiten begannen damit, dass der Presbyter Arius in Alexandria diese Unterscheidung zwischen „Göttlichkeit“ und dem „wahren Gott“ zu einem Bruch werden ließ, indem er die Vorstellung der ewigen Geburt des Sohnes aus dem Vater ablehnte. Er verstand den Sohn als frei aus dem Vater geworden durch den ungezwungenen Willen des ungewordenen Vaters. Damit verstand er den Sohn als einen geschaffenen Mittler 21
Jenson, R., The Triune God, in: Braaten, C.E./Jenson, R.W. (Hg.), Christian Dogmatics, vol. 1, Philadelphia 1984, 119. 22 Vgl. Origenes, De principiis, 4.1.1. 23 Vgl. Origenes, Commentarii in evangelium Joannis 2.2.16. 24 Vgl. Hanson, R.P.C., The Search for the Christian Doctrine of God, Edinburgh 1998; Ayres, L., Nicaea and Its Legacy: An Approach to FourthCentury Trinitarian Theology, Oxford 2004; Beeley, C.A., Gregory of Nazianzus on the Trinity and the Knowledge of God: In Your Light We Shall See Light, New York 2008; Smith, J.W., The Trinity in the Fourth-Century Fathers, in: Emery, G./Levering, M. (Hg.), The Oxford Handbook of the Trinity, Oxford 2011, 109 – 121. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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zwischen dem umgeschaffenen Schöpfer und dem Rest der Schöpfung. Der Sohn gehe zwar allen anderen Geschöpfen als erstes Geschöpf voran, aber er existiere nicht ewig wie der Vater: „Es gab eine Zeit, als es ihn noch nicht gab.“ Die Bischöfe Alexander von Alexandria und dann vor allem dessen Nachfolger Athanasius von Alexandria gingen gegen diese Vorstellung des Arius vor. Athanasius verschärfte den Origenistischen Gedanken der ewigen Geburt des Sohnes und lehnte infolgedessen jede Vorstellung einer graduellen Göttlichkeit ab. Die Grenze zwischen dem ewigen Schöpfer und der Schöpfung ist eine scharfe Trennlinie. Wenn der Sohn also ebenso ewig ist wie der Vater, dann kommt ihm die gleiche Göttlichkeit wie dem Vater zu und er ist gleichen göttlichen Wesens mit dem Vater.25 Es ist kein Zufall, dass diese Debatten über das christliche Gottesverständnis zu einer Zeit entbrannten, als die Kirche gravierende politische Umwälzungen erlebte. Während die Christen im ersten Jahrzehnt des 4. Jh. noch dramatischen Verfolgungen unter Diokletian ausgesetzt waren, wurden sie nur 20 Jahre später von Konstantin bis hin zur hegemonialen Stellung gefördert. Konstantin verstand das Christentum als den sozialen Klebstoff für die Einheit des Reiches. Entsprechend sah er auch, dass fortgesetzte Streitigkeiten über das Gottesverständnis innerhalb des Christentums politische Folgen haben mussten. So versuchte man auf seine Anordnung hin auf dem Konzil von Nizäa 325 den Streit zwischen Arius und Athanasius zu lösen, indem man Arius‘ Lehre zurückwies, die die Wesensungleichheit des Sohnes mit dem Vater beinhaltete. Der Sohn ist in Ewigkeit aus dem Vater geboren und daher „wahrer Gott von wahrem Gott“.26 Diese nizänischen Bestimmungen konnten den Streit allerdings nicht befrieden, sondern heizten ihn im Gegenteil an. Schuld war dieses Wort „wesensgleich“ (homoousios), das von dem aus Spanien stammenden konstantinischen Hoftheologen Hossius von Cordoba in die Debatte eingeführt wurde. Dieses Wort war nicht nur unbiblisch, es war auch äußerst missverständlich – und das gleich in 25
Vgl. z. B. Athanasius, Oratio I contra Arianos, 39.4 – 5 (in: Metzler, K./ Savvidis, K., Athanasius: Werke, Band I. Die dogmatischen Schriften, Berlin/ New York 1998). 26 Vgl. Tanner, N.P. (Hg.), Decrees of the Ecumenical Councils. Vol. 1: Nicaea I to Lateran V, London 1990, 5. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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mehrfacher Hinsicht: Man konnte es so verstehen, als sei nun das göttliche Wesen geteilt. Man konnte es aber auch so verstehen, als sei der Sohn die identische Person mit dem Vater. In diesem Falle würde es sich um Modalismus handeln, der schon von Tertullian abgelehnt worden war. Der Hintergrund ist folgender: Um 325 gab es im Griechischen zwei Worte für Wesen, ousia und hypostasis, die noch nicht unterschieden waren. Das Wort hypostasis konnte aber auch benutzt werden, um das lateinische persona zu übersetzen. Ähnlich verhält es sich im Deutschen bis heute mit dem Wort „Wesen“: Es kann die allgemeine Natur bezeichnen, beispielsweise die Menschheit. In diesem Sinne haben alle einzelnen Menschen das gleiche Wesen. Es kann aber auch umgangssprachlich im Sinne von Individuum oder Einzelwesen verwandt werden. In diesem Sinne haben alle Menschen dann ein unterschiedliches Wesen. Ähnlich verhielt es sich mit dem Wort homousios: Man konnte es dahingehend modalistisch missverstehen, als wäre damit ausgesagt, der Sohn sei die gleiche Person mit dem Vater. Dieser Modalismus musste auch weiterhin aus den oben genannten Gründen abgelehnt werden. Andererseits musste aber auch jede subordinationistische Auffassung, nach der Sohn und Geist nur Geschöpfe seien, abgelehnt werden. Denn die christliche Praxis schloss selbstverständlich die Verehrung und Anbetung Christi sowie Dank für die durch ihn gewonnene Versöhnung und Erlösung ein. Wenn aber Christus nicht wahrer Gott ist, kann er auch nicht die Werke vollbringen, die nur Gott vollbringen kann – und dazu gehört eben die Versöhnung und Erlösung. Außerdem beginge die Kirche in einem solchen Fall eine fortgesetzte Idolatrie: Wenn Christus nur ein Geschöpf unter anderen Geschöpfen wäre, dann hätte die Kirche kein Recht, ihn zu verehren.27 Die Streitigkeiten bis hin zum Konzil von Konstantinopel 381 verschärften sich, indem nun nicht nur eine, sondern mehrere Parteien entstanden. Wir versagen uns hier, diese Auffassungen alle vorzustellen. Lediglich auf den Neo-Arianer Eunomius sei hier hingewiesen, der scharfsinnig formulierte, aber damit auch zeigte, dass das arianische Anliegen letztlich eher der hellenistischen philosophischen Tradition verpflichtet war als der biblischen Rede von Gott: Eunomius stellte klar, dass der Sohn wesensunähnlich mit dem Vater 27
Vgl. z. B. Athanasius, Contra Arianos 2.22 – 24. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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sei.28 Er argumentierte folgendermaßen: Namen beziehen sich auf das Wesen einer Sache. Gottes Wesen kann daher vollständig mit dem „Namen“ ungeworden ausgedrückt werden. Der Sohn sei aber aus dem Vater geboren (gennetos) und daher auch aus dem Vater geworden (genetos). Also folgt daraus, dass der Sohn nicht wesensgleich (homoousios) mit dem Vater sein könne. Mit anderen Worten: Der Vater ist ungeboren (agennetos) und ungeworden (agenetos), was für die Eunomianer dasselbe bedeutet. Und diese Eigenschaft könne nicht jemand anderem, etwa dem Sohn, mitgeteilt werden. Im Laufe der Zeit zeigte sich, dass „ungeboren“ (agennetos) und „ungeworden“ (agenetos) nicht dasselbe sind. Gegen Eunomius ist daran festzuhalten, dass der Sohn zwar aus dem Vater geboren (gennetos), als Ewiger aber dennoch ungeworden (agenetos) ist. Der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf ist also ein scharfer und der Sohn gehört auf die Seite des Schöpfers. Der Unterschied ist aber – zumindest sprachlich – ein kleiner, weil im Griechischen ein Buchstabe – ein Nü – über Häresie oder Orthodoxie entscheidet (gen[n]etos). Die eigentliche Lösung des Problems der christlichen Gotteslehre konnte dann auch erst von den drei großen Kappadoziern – Basilius von Cäsarea, seinem Bruder Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz – erreicht werden. Obwohl alle drei keine uniforme Theologie vorlegten,29 formten sie doch mit ihren Antworten gegen den Eunomianismus die kirchliche Gotteslehre, ihre Sprache, die Entscheidung auf dem Konzil von Konstantinopel 381 und damit das christliche Gottesverständnis in Ost und West bis heute. Eine ihrer wesentlichen Einsichten bestand darin, dass sie die Unterscheidung zwischen den griechischen Begriffen ousia und hypostasis nun deutlich erklärten: Ousia bezeichnet das Allgemeine, hypostasis das Besondere. Damit war der Weg frei, eine eindeutige und missverständnisfreie trinitarische Sprachregelung zu finden. 28
Die Bezeichnung Anhomöer für die Neo-Arianer ist insofern unpräzise, als sie nicht meinten, der Sohn sei dem Vater in jeglicher Hinsicht unähnlich, sondern nur unähnlich hinsichtlich der ousia. Treffender wäre daher der Ausdruck Heteroousianer, vgl. Beeley, C.A., Nazianz, 21. 29 Vgl. z. B. Markschies, C., Gibt es eine einheitliche „kappadozische Trinitätstheologie“? Vorläufige Erwägungen zu Einheit und Differenzen neunizänischer Theologie, in: Ders., Alta Trinit Beata, Tübingen 2000, 196 – 237. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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3. Die Sprache des dreieinigen Bekenntnisses „Wahrer Glaube“, so sagte einst der hochscholastische Theologe Bonaventura, „motiviert uns darauf zu vertrauen, dass in der einen Natur drei Personen sind (in unitate naturae sunt tres personae): Vater, Sohn und Heiliger Geist.“ Der Vater ist als einziger ungezeugt oder ungeboren, der Sohn ist ewig aus dem Vater geboren; er ist daher geboren aus dem Vater, aber ungeworden. Der Geist geht aus dem Vater hervor. Dieser Hervorgang des Geistes wird im Westen auch spiratio genannt. Im Westen wird außerdem angenommen, der Geist gehe aus dem Vater und dem Sohn hervor. Es gibt also in Gott eine irreduzible Pluralität von Personen. Und doch schließt diese irreduzible Pluralität nicht aus, dass es im göttlichen Wesen zugleich eine höchste Einheit, Einfachheit, Fülle und Ewigkeit gibt, genauso wie höchste Liebe, Freigiebigkeit und Untrennbarkeit.30 Diese Einsicht Bonaventuras drückt aus, dass die Kirche aufgrund ihres frühkirchlichen Erbes berechtigt ist, von Gott unter einem doppelten Aspekt zu sprechen, indem einerseits Bezeichnungen und Eigenschaften für das göttliche Wesen oder die göttliche Substanz angegeben werden können und indem andererseits Bezeichnungen und Eigenschaften für die Personen und ihre Eigenschaften angegeben werden können. Es gibt also zwei Arten der Prädikation: wesenhafte und relationale.31 Substantielle Eigenschaften Gottes kommen dem Vater, dem Sohn und dem Geist gemeinsam zu: Sie haben eine Kraft, ein Handeln, eine Natur, eine Ehre etc. Relative Eigenschaften beziehen sich auf die personalen Eigenschaften der drei, relativ zueinander. Und nur „aus der Kombination von beiden Arten – dem Allgemeinen und dem Besonderen – über Gott zu reden, erreichen wir ein Verständnis der Wahrheit“32. Gregor von Nazianz meinte, die drei bilden ein einziges Ganzes in ihrer Gottheit und dieses Ganze besteht in drei Persönlichkeiten: 30
Vgl. Bonaventura, Breviloquium 1.2 (Opera Omnia (Quarrachi: Collegii S. Bonaventurae, 1891), V:210. 31 Bonaventura, Breviloquium 1.4 (Opera Omnia V:212): „In divinis sunt duo modi praedicandi, scilicet per modum substantiae et relationis“. Zu Grunde liegt die aristotelische Kategorienlehre, Die Kategorien 1b25 – 2a4. 32 Basilius von Caesarea, Cont.Eun. 2.28. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Donald Wood / David A. Gilland „Wenn ich von Gott rede, lasst Euch von einem Funken des göttlichen Lichtes umgeben und erleuchtet sein, das zugleich eins und drei ist: Es sind drei bezüglich der Personalproprietäten oder ,Hypostasen‘, falls man die Drei so nennen will, oder auch tatsächliche ,Personen‘ – denn wir wollen uns hier nicht in einen Streit über die Terminologie verwickeln, solange sich die Silben auf dieselbe Sache beziehen. Und sie sind eins hinsichtlich des Begriffs des Wesens, also tatsächlich hinsichtlich der Gottheit.“33
Christliche Gotteslehre lehrt also nicht – wie polemisch gegen sie hervorgebracht wurde –, dass 3=1 und 1=3 sei,34 sondern sie unterscheidet in Gott zwei Aspekte oder Hinsichten. Gemäß dem einen ist Gott eins, gemäß dem anderen ist Gott zwei. Daraufhin stellt sich die Frage, wie diese beiden Hinsichten untereinander in ein Verhältnis gesetzt werden können. Dazu gibt es im Wesentlichen zwei Vorschläge: Der relationale Typus geht davon aus, dass die Relationalität Gottes sein Wesen konstituiert, so dass die dreifachen Relationen zwischen den Personen Gottes Sein konstituieren und umgekehrt. Ansätze zu diesem relationalen Typus finden sich bei den Kappadozieren im Osten und bei Richard von St. Viktor im Westen. Markus Mühling umschreibt ihn so: „Diese wechselseitige Konstitutivität garantiert die Einheit Gottes. Dies ist eine Einheit, die strikter gedacht ist als jede Einheit geschaffener besonderer Entitäten: Menschliche Personen haben einen Körper und dieser besteht aus den zu einem Organismus verbundenen Teilen; diese Teile sind zumindest z. T. durchaus austauschbar, ohne die Existenz oder Identität des Körpers der Person zu gefährden. Die streng wechselseitig konstitutiv verbundenen Relate Gottes, d. h. die göttlichen Personen, sind aber eben durch diese streng wechselseitige Konstitutivität eben keine Teile Gottes. Diese wechselseitigen Beziehungen sind das relationale Wesen Gottes selbst und es wird als Liebe bezeichnet: Gott ist Liebe; und zwar auch, ohne dass die Welt gedacht werden musste; und zwar in einem
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Gregor von Nazianz, Oratio 39.11. Vgl. Ders., Oratio 38.7 – 8; Johannes von Damaskus, De fide orth., 1.10. 34 Vgl. Goethe, Gespräche mit Eckermann, zit. n. Greshake, G., Der Dreieine Gott, Freiburg 1987, 20. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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viel strikteren Sinne als geschaffene Liebe überhaupt gedacht werden könnte.“35
Der zweite, komplementär zu bezeichnende Typus geht davon aus, dass die beiden Aspekte der Rede von Gott nicht vermittelt werden können, sondern dass es um eine Verdoppelung (redoublement) christlichen Redens von Gott geht. Auch dieser Typus findet Anhalt an der kappadozischen Theologie, der Theologie Augustins und Thomas von Aquins.36 Gilles Emery drückt das so aus: „Um vom trinitarischen Mysterium zu sprechen, müssen immer zwei Worte, zwei Formeln und zwei Reflexionsarten verwandt werden, die den substantialen (den wesentlichen) Aspekt und die Unterschiedenheit der Personen (die relativen Eigenschaften) miteinander verbinden.“37
Wir folgen hier dem zweiten Typus. Innerhalb dessen bezieht sich die erste Bezeichnungsweise auf die Einheit des göttlichen Wesens und Willens gemäß der Regel, dass „Bezeichnungen, die substanzhaft von allen Personen ausgesagt werden, sowohl von jeder Person einzeln als auch von allen gemeinsam ausgesagt werden.“38 Alles, was von Gott in Hinsicht auf das Wesen ausgesagt werden kann – d. h. alles, was auf die Frage antwortet, „Was ist Gott?“ –, wird in gleicher Weise und einfach von den drei Personen ausgesagt: Jede ist das, was Gott als Ganzes ist, und jede ist ganz Gott zusammen mit den anderen, die selbst auch vollständig Gott sind. Jede der Personen handelt also mit unverminderter, ungeteilter göttlicher Kraft gemeinsam und untrennbar mit den anderen: Gott der Vater ist Licht; Gott der Sohn ist Licht; Gott der Heilige Geist ist Licht; der eine Gott ist ein Licht – nicht durch Addition oder Abstraktion, sondern in der Einheit seines eigenen ewigen Scheinens. 35 Mühling, M., Liebesgeschichte Gott, Systematische Theologie im Konzept, Göttingen 2013, 95 f. 36 Vgl. Levering, M., Scripture and Metaphysics. Aquinas and the Renewal of Trinitarian Theology, Oxford 2004, 214 ff. 37 Emery, G., Trinitarian Theology, 46. Für eine andere Art reduplizierender Sprache der Trinitätslehre Augustins vgl. Ayers, L., Augustine and the Trinity, Cambridge 2010, 260 f. 38 Bonaventura, Breviloquium 1.4.2 (Opera Omnia V:212 – 13).
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Die zweite Bezeichnungsweise bezieht sich auf die irreduzible Dreiheit Gottes, d. h. auf die unterschiedlichen Proprietäten der Personen, die in Gott subsistieren und die Fülle des göttlichen Lebens bilden. Und hier lautet die entscheidende Regel, dass die Personen nicht vermischt werden dürfen, weder untereinander noch mit dem göttlichen Wesen. Gott der Vater ist Gott; Gott der Sohn ist Gott und Gott der Heilige Geist ist Gott. Aber der Vater ist nicht der Sohn, und der Geist ist weder der Vater noch der Sohn. Fragen wir nun, wodurch der Vater vom Sohn und der Geist von beiden unterschieden ist, lautet die Antwort: Sie unterscheiden sich durch ihre Beziehungen untereinander. Genauer: Sie sind gemäß der klassischen westlichen Theologie durch Ursprungsrelationen unterschieden: Der Vater geht aus niemandem hervor, der Sohn geht aus dem Vater hervor und der Geist geht ebenfalls aus dem Vater (und dem Sohn) hervor. Anders ausgedrückt: Der Vater ist ungeboren, der Vater gebiert den Sohn, und der Vater lässt den Geist aus sich hervorgehen, so dass der Geist vom Vater (und vom Sohn) ausgeht. Die Namen Vater, Sohn und Geist sind daher Bezeichnungen der Relationen, die innerhalb der einen Gottheit bestehen. Daher ist der Sohn nicht der Vater. Als Geborener ist er nicht ungeboren; aber dennoch sind dies keine Unterschiede des Wesens zwischen beiden. Gott ist vielmehr perfekt selbstgenügsam und selbstkonsistent und das ebenso in Beziehung zu seiner Schöpfung. Die drei göttlichen Personen sind weder additive Bestandteile, aus denen das göttliche Wesen zusammengesetzt wäre, noch schweben sie abgelöst über dem göttlichen Wesen. Jede Person ist für sich und mit den anderen der eine Gott. Dieses doppelte Sprachschema theologischer Rede wird auch von der Lehre der göttlichen Einfachheit mitbestimmt. Die Lehre von der göttlichen Einfachheit ist keine Lehre von der Individualität Gottes. Vielmehr bezieht sie sich darauf, dass es in Gott keine additiven Teile gibt. Daher gibt es keine Trennung im Leben Gottes. Gott ist kein Kompositum aus verschiedenen Eigenschaften. Liebe, Treue, Ewigkeit, Macht, Freiheit, Gerechtigkeit, Kenntnis und Güte sind in Gott identisch und bilden keine additiven Eigenschaften, wie im Falle der Schöpfung, selbst wenn sich diese Eigenschaften im geschaffenen Bereich mitunter zu widersprechen scheinen. Gott, wie er durch die Schrift offenbart ist, ist weder eine Projektion menschlich-religiöser Imaginationsfähigkeit noch eine Projek© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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tion abstrakten, philosophischen Denkens. Gott ist vielmehr ein unabgeschlossener, nur durch sich selbst erschließbarer Teil theologischen Bekenntnisses.39 Mit perfektem Frieden und perfekter Ruhe in der Fülle seines vollständig aktualen Lebens streckt sich Gott zu seinen menschlichen Geschöpfen, indem er sich selbst in ihre Situation begibt und sie so zu sich zieht – nicht durch eine Verwirklichung oder Vervollkommnung oder Auflösung seines eigenen Lebens, sondern aus einer Fülle von Licht und Liebe jenseits aller Wechselseitigkeiten kreatürlichen Lebens. Auf diese Weise macht er sich selbst als der unvergleichliche Schöpfer aller Dinge bekannt, indem er selbst geschaffene Bezeichnungen nutzt, von denen zwar keine vollständig hinreichend ist, die einfache Überfülle seines göttlichen Lebens zu bezeichnen, die aber alle zusammen einen Weg zur Erkenntnis Gottes auf eine dem Menschen entsprechende Art und Weise bedeuten. So kann Gott, obwohl er in sich einfach ist, dennoch auf vielfältige Weise benannt werden.40 Christliche Theologie weiß sich dabei von den Anfängen trinitarischer Begriffsbildung im 4. Jh. der östlichen und westlichen Kirchen durch das Mittelalter und die frühe Neuzeit hindurch von eben dieser gemeinsamen Verpflichtung gegenüber der Wirklichkeit Gottes bestimmt. Diese Verpflichtung besteht darin, das doppelte Bekenntnis zum dreieinigen Gott immer wieder zum Tragen zu bringen – auch wenn es nicht immer und überall in Form der regulativen grammatikartigen Begrifflichkeit ausgedrückt werden muss. Es zeigt sich dennoch überall dort, wo der Tendenz, das Wesenhafte und das Relationale in Gott zu vermengen, widerstanden wird.41 39
Vgl. Hilarius von Poitiers, De trinitate, 2.6; Gregor von Nazianz, Oratio 38.7 – 8. 40 Vgl. Petrus Lombardus, I Sent. d.8, Kap. 5. Die Identität der göttlichen Eigenschaften untereinander kann auch auf die Identität der Eigenschaften mit dem Wesen Gottes ausgedehnt werden, wie es auf dem Konzil zu Florenz geschah: „omniaque sunt unum, ubi non obviat relationis opposition“ (Tanner, N.P., Decrees, 571). Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Eigenschaften als Proprietäten der göttlichen Natur aufzufassen, vgl. Rade-Gallwitz, A., Basil of Caesarea, Gregory of Nyssa, and the Transformation of Divine Simplicity, Oxford 2009. 41 Vgl. zur trinitarischen „Grammatik“ mittelalterlicher und reformatorischer Theologie Emery, G., The Trinitarian Theology of St. Thomas Aquinas, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Während zur Zeit der Reformation im 16. Jh. eine Reihe bedeutsamer politischer, sozialer und intellektueller Umbrüche stattfanden, die die Reformation nährten und von ihr angestoßen wurden, bis hin zu einer neuen Bedeutsamkeit der Bibellektüre und theologischen Nachdenkens, die beide trinitarische Theologie weiter beförderten, so ist doch auffällig, dass die Ausführungen zur Gotteslehre in den reformatorischen Bekenntnissen den konziliaren Texten des Mittelalters zum gleichen Thema auffällig ähneln. Ein Beispiel: Das 4. Laterankonzil von 1215 sprach davon, dass „es allein einen wahren Gott gibt, ewig, unermesslich, unveränderlich, unbegreiflich, allmächtig und unaussprechlich, der der Vater, der Sohn und der Heilige Geist ist: drei Personen, aber ein Wesen oder eine Substanz oder Natur, die vollständig einfach ist“42. Diese mittelalterliche Formulierung ähnelt nun sehr stark einer Formulierung der calvinistischen Confessio Scotia von 1560, in der es heißt, dass Gott „ewig, unendlich, unermesslich, unbegreiflich, allmächtig und unsichtbar ist; einer gemäß der Substanz und doch unterschieden in drei Personen, Vater, Sohn und Heiliger Geist.“43 Bei dem Konflikt zwischen der römischen Amtskirche und den Reformatoren ging es also weniger um die Identifikation des einen wahren Gottes als vielmehr um die Frage nach der wahren Religion auf Seiten der Menschen. Die Herausforderungen für die Gotteslehre kamen aus anderen Richtungen: aus Richtung der Unitarier und der Anti-Trinitarier als linkem Flügel der Reformation im 16. Jh., von Seiten der Aufklärung, der politischen Philosophie und von Seiten der historisch-kritischen Bibelwissenschaft sowie – und das ist für die Erneuerung der trinitarischer Theologie im 19. und 20. Jh. besonders wichtig – von Seiten des Kant’schen Kritizismus und des Hegel’schen Idealismus.
44 – 48; Ellis, B., Calvin, Classical Trinitarianism, and the Aseity of the Son, Oxford 2012, 67 f. 42 Denzinger, H., Enchiridion Symbolorum, Barcelona 1948, §428. 43 Henderson, G.D. (Hg.), The Scots Confession: 1560, Edinburgh 1960. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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4. Religion und Bekenntnis in der Neuzeit Die Kontinuität wie Veränderung der Betonung im frühen reformatorischen Gottesbekenntnis werden besonders deutlich an Luthers Auslegung zum ersten Artikel: „Erstlich glaube ich von Herzen den hohen Artikel der göttlichen Majestät, daß Vater, Sohn, heiliger Geist drei unterschiedliche Personen, ein rechter, einziger, natürlicher, wahrhaftiger Gott ist: Schöpfer Himmels und der Erden, wie das alles bisher sowohl in der römischen Kirche und in aller Welt bei den christlichen Kirchen gehalten ist.“44
Luther führt hier keinen neuen Gegenstand christlichen Gottesbekennens ein. Gott ist hier bekannt und angesprochen als der dreieinige Schöpfer aller Dinge im Konzert mit der ganzen Kirche. Allerdings verändert sich die Qualität der Aussage, indem Luther betont, „ich glaube von Herzen …“. Bei Luther begegnen wir also einem neuen Interesse am Akt des Bekennens als einem Einbezug der existentiellen Dimension. Luther betont, dass der Glaube ein Vertrauen ist, das aus dem Hören auf das Wort des Evangeliums, das Jesus Christus selbst ist, zustande kommt. Er betont daher den Unterschied zwischen dem Empfang der Gnade im glaubenden Vertrauen und jeglichem moralistisch-legalistischen Kalkül: „Die Wahrheit des Evangeliums ist, daß uns Gerechtigkeit allein aus dem Glauben kommt, ohne des Gesetzes Werke. […] Die menschliche Vernunft hat als Gegenstand das Gesetz: Das habe ich getan, das habe ich nicht getan. Der Glaube aber, wenn er in seinem eigentlichen Werk ist, hat keinen anderen Gegenstand als Jesus Christus, den Sohn Gottes, hingegeben für die Sünde der Welt.“45
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Luther, M., Bekenntnis der Artikel des Glaubens wider die Feinde des Evangeliums und allerlei Ketzereien (Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis) 1528, in: Aland, K., Luther Deutsch: Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Göttingen 41990, 309 (WA 26, 499). 45 Luther, M., Auslegung des Galaterbriefes (Vorlesung von 1531), in: D. Martin Luthers Epistel-Auslegung, Bd. 4: Der Galaterbrief, hg. v. Kleinknecht, H., Götting 21987, 66; vgl. 79 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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In Luthers Analyse des dynamischen Verhältnisses von vertrauendem Glauben und Vernunft findet sich eine zweite Innovation: eine neue Kritik von „Religion“.46 Die Unterscheidung zwischen der wahren christlichen Religion und allen anderen Formen von Religion wird nun in zwei miteinander verbundenen Weisen ausgedrückt: Einerseits ist die Rechtfertigung allein aus Gnade im vertrauenden Glauben allein das Zentrum christlichen Lehrens und damit genau der Punkt, der es als wahre Religion bestimmt im Unterschied zur allgemein menschlichen, gefallenen Tendenz, eine Selbstrechtfertigung aufgrund einer verdienstvollen religiösen Praxis vorzunehmen: „[A]uf welche Weise auch immer die einen die anderen durch noch herrlichere und noch größere und noch schwierigere Werke übertreffen mögen, dennoch ist’s der gleiche Grundgehalt, nur die Art und Weise ist verschieden, d. h. die Werke sind nur durch ihre Augenscheinlichkeit und durch den Namen verschieden, in Wahrheit aber sind’s eben Werke und die sie tun, sind nicht Christen, sondern Werkleute, und das bleiben sie, ob sie nun Juden, Mohammedaner, Päpstliche oder Sektierer genannt werden.“47
Diese Diagnose findet nun ihre Entsprechung in der Art und Weise, wie sich Christen identifizierend auf Gott als den Vater mit Bezug auf seinen einen Sohn Jesus Christus beziehen, der der alleinige Mittler zwischen Gott und den menschlichen Geschöpfen ist: „[D]iese Regel […], die man in der hl. Schrift aufs genaueste beobachten muß, daß wir uns nämlich der Spekulation über Gottes Majestät, die dem menschlichen Leib und noch vielmehr dem Geiste des Menschen unerträglich ist, enthalten müssen. „Ein Mensch, der mich schaut, bleibt nicht am Leben“, 2.Mose 33,20. Der Papst, die Türken, die Juden und die Sekten beobachten diese Grundregel nicht, sondern rücken Christus, den Mittler, aus den Augen und reden von Gott allein, vor ihm beten sie, leben und tun alle ihre Werke. […] Die christliche wahre Theologie […] fängt 46
Zum Verhältnis des neu aufkommenden Interesses an religiöser Subjektivität, der reformatorischen Kritik am mittelalterlichen Kultus und am Erscheinen von „Religion“ als Gegenstand eigenständiger Betrachtung vgl. Preus, J.S., Zwingli, Calvin and the Origin of Religion, in: Church History 46,2 (1977), 186 – 202. 47 Luther, M., Galaterbrief, 26. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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nicht an mit Gott in der Majestät, wie Mose und andere lehren, sondern mit Christus, der geboren ist aus der Jungfrau, mit ihm als unserem Mittler und Hohenpriester. […] Denn Gott, wie er in seiner Natur unermeßlich, unbegreiflich und unendlich ist, so ist er der menschlichen Natur unerträglich. Wenn du daher die Rechtfertigungslehre bedenkst und überlegst, wie du Gott finden kannst, der Gerechtigkeit schafft, indem er die Sünden annimmt, wo und auf welche Weise jener zu finden sei, dann sollst du wissen, dass es keinen Gott gibt außerhalb von jenem Menschen Jesus Christus: Diesen umarme und hänge dich an ihn mit ganzem Herzen und unterlasse das Ausspähen der göttlichen Hoheit.“48
Die christliche Lehre zeichnet sich nach Luther gerade dadurch aus, dass sie anti-spekulativ und christologisch fokussiert ist. Gerade als solche findet sie ihren Ausdruck in der trinitarischen Identifikation Gottes: Christus ist nicht einfach ein vollkommenes Geschöpf – was nach Luther die Lehre der Arianer und in Analogie auch der Muslime ausmachte –, sondern wahrer Gott, der Tätigkeiten ausübt, die nur dem Schöpfer zugeschrieben werden können. „[D]enn – er gibt Gnade und Friede. Gnade und Friede geben heißt aber Sünde verdammen, den Tode zugrunde richten, den Teufel unter die Füße treten; das kann kein Engel geben. Wenn aber Christo solche Werke zugeteilt werden, dann folgt notwendig, daß er von Natur Gott ist.“49
Luther legt hier zu Recht die mittelalterliche Verzeichnung der Augustinischen Gnadenlehre ab, nach der der Glaube als Für-wahrHalten erst durch Werke der Liebe geformt werden müsse (fides caritate formata),50 und bringt sie auf neue Weise zur Geltung, indem er sie auf das Schriftzeugnis des Heilstodes Jesu Christi bezieht. Mit dieser Kreuzestheologie (theologia cruces) eröffnete Luther ein neues Kapitel westlicher Theologie, die aber freilich nur unter der Voraussetzung sowohl der Einheit des göttlichen Wesens als auch der Dreiheit der Personen Gottes kohärent aussagbar ist. Eine Besonderheit Luthers besteht dabei darin, dass er die Trinitätslehre als Basis des Rechtfertigungsgeschehens versteht. Das 48
Luther, M., WA 40I, 77 – 79; übers. teilw. in Luther, Galaterbrief, 36 f. Luther, M., Galaterbrief, 39. 50 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, 2a 2ae, q.4 a.3. 49
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Rechtfertigungsgeschehen ist aber, wie auch Schöpfung und Vollendung, eine Selbstmitteilung Gottes, in der sich Gott selbst seinen Geschöpfen zu deren Heil kommunikativ hingibt: „Denn durch diese Erkenntnis kriegen wir Lust und Liebe zu allen Gepoten Gottes, weil wir hie sehen, wie sich Gott ganz und gar mit allem, das er hat und und vermag, uns gibt zu Hülfe und Steuer, die zehen Gepot zu halten: der Vater alle Kreaturn, Christus alle sein Werk, der heilige Geist alle seine Gaben.“51
Dieses dreifache kommunikative Selbstgeben Gottes löst aber Gott nicht in die Welt auf, sondern es entspricht einem ewigen Kommunikationsgeschehen in Gott, das auch stattfände, wenn Gott keine Welt geschaffen hätte: „Und hie gehoret her, das die Schrifft unsern Herrn Christum […] nennet ein Wort […] das der Vater bey und in jm selbs spricht, also das es wahrhafftiger Goettlicher natur ist vom Vater, Doch nicht aus dem Vater fellet (wie ein leiblich, natuerlich wort von einem menschen gesprochen ist eine stimme oder othem, so nicht in jm bleibt, sondern ausser jn kompt und bleibt), Sondern ewiglich inn jm bleibt, Das sind nu die zwo unterschiedliche personen: der da spricht, und das Wort, so gesprochen wird, Das ist: der Vater und Son, Hie aber folgt nu auch die dritte, nemlich der Hoerer, beide des Sprechers und des gesprochenen Worts, Denn wo da sol sein ein Sprecher und Wort, da gehoeret auch zu ein Zuhoerer, Aber dieses alles, sprechen, gesprochen werden und zu hoeren geschicht alles Jnnerhalb der Goettlichen natur und bleibet auch allein jnn der selben, da gar keine Creatur nicht ist noch sein kann sondern beide, sprecher und Wort und Hörer, mui Dir Gott selbs sein, Alle drey gleich ewig und jnn ungesonderter einiger Maiestet, Denn jnn dem Goettlichen wesen ist kein enderung noch ungleicheit und weder anfang noch ende, Das man nicht sagen kann, das der Hoerer etwas ausser Gott sey oder angefangen habe ein Hoerer zu werden, Sondern gleich wie der Vater ein ewiger Sprecher ist, der Son jnn ewigkeit gesprochen wird, ist, also der heilige Geist von ewigkeit der Zuhoerer.“52
Während Luther also die Trinitätslehre als Basis gerade der existentiellen Dimension der Rechtfertigungslehre versteht, sahen es Teile 51 52
BSLK 661, 35 – 42. Luther, M., WA 46 59,26 – 60,6. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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des linken Flügels der Reformation ganz anders und begannen, die christliche Trinitätslehre an sich zu bestreiten: Der spanische AntiTrinitarier Michael Servet behauptete so z. B., es fehle der Trinitätslehre und ihrer Begrifflichkeit nicht nur an geistlicher Bedeutung, sondern sie bringe auch nichts anderes als Ärgernis und Spott unter den Muslimen, Juden und – da alle Werke der Schöpfung Gott preisen – auch unter den Tieren des Feldes mit sich.53 Die Autoren des Rakauer Katechismus von 1605 schließlich brachten gegen das trinitarische Christentum wieder den Vorwurf in Anschlag, ob sich seine Verteter nicht fragen lassen müssten, ob sie nicht des „Verbrechens des Polytheismus und daher der Idolatrie“ schuldig seien.54 Hier wird angenommen, die Trinitätslehre enthalte einen offensichtlichen Selbstwiderspruch, denn „das Wesen Gottes ist eines, nicht nach der Art, sondern nach der Zahl“. Ferner sei „eine Person nichts anderes als ein individuelles vernunftbegabtes Wesen“. Gleichzeitig behaupte das trinitarische Christentum aber, es gäbe „drei numerische Personen“ in Gott. Daraus folge, dass „man notwendig gezwungen sei, auch drei individuelle Wesenheiten“ anzunehmen.55 Dieser Vorwurf, die Trinitätslehre laufe auf einen Tritheismus hinaus, wurde zwar weithin gehört, aber er lässt sich auch sehr einfach entkräften: „Gott“, so schrieb Calvin, „verkündigt sich selbst als der einzige Gott, wie sich auch selbst darbietet, in drei Personen verehrt zu werden.“ Diese Tatsache aber biete gerade keinen Anlass, dass „Gott selbst dreifach ist oder zu denken, dass Gottes einfaches Wesen mit den drei Personen vermischt werden“ könne. Calvin selbst bezog sich auf die altkirchlichen Schriften zur Trinitätslehre in seinen zahlreichen Disputationen, die die Kohärenz und theologische Bedeutung der Rede zu und 53
Michael Servetus, De Trinitatis Erroribus Libri Septem, Hagenau 1531, 42 – 43: „quod omnibus his acrius est, quantum trinitatis traditio haec, fuerit Mahometanis, proh dolor, derisionis occasio, solus Deus novit. Iudaei etiam nostrae huic imaginationi adhaerere abhorrent, & stulticiam nostram cum Trinitate derident, ac propter huiusce blasphemias non credunt hunc esse illum Messiam qui in Lege promissus est. Et non solum Mahometani & Hebraei, sed bestiae agri nobis illuderent, si phantasticam nostram sententiam perciperent, nam omnia opera Domini uni Deo benedicunt.“ 54 The Racovian catechism, with notes and illustrations, translated from the Latin, London 1818, 33. 55 The Racovian catechism, 33. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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von Gott mit Hilfe der Sprache des Wesens und der relativen Sprache ausdrücken sollte. Calvin sah, dass Servet die drei Personen in der einen Wesenheit aufgehen ließ und somit das Wesenhafte und das Personale vermischte. Servet konnte weder die Personen als unterschieden denken, so dass der Unterschied zwischen Sohn und Geist verschwand, noch konnte er sie als genuin göttlich begreifen, so dass er Sohn und Geist beständig mit geschaffenen Kreaturen verwechselte.56 Das hatte mannigfache Folgen, nicht nur für die Trinitätslehre und Christologie, sondern auch für die Anthropologie: So war Servet der Meinung, die menschliche Seele fließe als Emanation aus dem Wesen Gottes und sei „ein Ausfluß des Grundwesens Gottes, als ob also ein Teil der unermeßlichen Gottheit auf den Menschen übergegangen sei!“57 Calvin konnte dergleichen nur als „Wahnwitz der Manichäer“ bezeichnen. Servet verwarf die kirchliche Sprache von Wesen und Person und wollte stattdessen die Beziehung von Vater, Sohn und Geist mithilfe der aristotelischen Ontologie und ihrer Unterscheidung von Substanz (das, was für eine Sache notwendig ist) und Akzidenz (das, was für eine Sache nicht notwendig ist) ausdrücken. Infolgedessen musste er Gott als ein aus Akzidentien zusammengesetzes Sein verstehen, das allen Launen der Geschichte verletzlich ausgeliefert sei – im Prinzip nicht von den Menschen, mit denen es interagieren sollte, unterschieden. Während Servets Gotteslehre damit als modalistische Häresie zu verstehen ist, ist die des italienischen AntiTrinitariers Valentin Gentile eher dem Arianismus zuzurechnen, da hier Sohn und Geist zwar noch als unterschieden gedacht wurden, aber offenbar dem Vater deutlich subordiniert waren. Valentin erkannte die Hervorgänge des Sohnes und des Geistes aus dem Vater durchaus als notwendig und bezeichnete den Vater daher als „Essentiator“, d. h. als denjenigen, der die göttliche Substanz Sohn und Geist mitteilt. Interessanterweise schloß er daraus, der Vater allein sei der einzige wahre Gott.58 Calvin reagiert, indem er sich direkt auf die Schrift bezieht: 56
Calvin, J., Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis, übers. und bearb. v. Weber, Otto, hg. v. Freudenberg, M., Neukirchen-Vluyn 22009, I.13.22. 57 Calvin, J., Unterricht, I.15.5. 58 Calvin, J., Unterricht, I.13.23. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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„[…] wenn wir bekennen, an den einen Gott zu glauben, so versteht man unter „Gott“ das eine und einfache Wesen, in dem wir drei Personen oder Hypostasen begreifen. Wird Gottes Name ohne nähere Bestimmung gebraucht, so ist nicht weniger der Sohn und der Geist als der Vater gemeint. Tritt neben den Vater der Sohn, so ist das Verhältnis (relatio) zu beachten, und so unterscheiden wir zwischen den Personen. Nun aber stehen die Eigenheiten (proprietates) der Personen untereinander in einer gewissen Ordnung, so daß der Vater Anfang und Ursprung ist. Wo also der Vater und der Sohn oder auch der Geist zusammen genannt werden, da wird der Name „Gott“ in besonderer Weise dem Vater beigelegt. Dadurch wird die Einheit des Wesens beibehalten und die Ordnung bewahrt; aber dies nimmt doch der Gottheit des Sohnes und des Geistes nichts.“59
Calvin empfiehlt hier keineswegs, an der trinitarischen Sprache um ihrer selbst willen festzuhalten. An dem Terminus „Person“ selbst liege gar nichts. Im Laufe der Geschichte seien viele verschiedene Termini genutzt worden, um den griechischen Begriff der hypostasis zu umschreiben, der in Hebr 1,3 genutzt wird, um die unterscheidende Eigenheit des Vaters zu benennen: „Subsistenz“, „prosopon“, sogar „Substanz“. Das sind Begriffe, die mal mehr oder mal weniger missverständlich sein konnten. Der entscheidende Punkt ist allein, dass die Schrift von „dreien spreche, von denen jeder ganz Gott ist“ und sie doch klar stelle, dass „es nicht mehr als einen Gott“60 gebe. Calvin ist daher der Überzeugung, dass die Trinitätslehre vorwiegend ein exegetisches Ziel hat, das aus der Lektüre der heiligen Schrift kommt und zu dieser hinführt. Calvin verstand die Schrift als eine textliche, heilvolle Selbstverortung Gottes. Calvin war dabei der Überzeugung, dass die theologischen Begriffe keinen Eigenwert besitzen, sondern eine Dienstfunktion für diejenige Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen, besitzen. Daher verbietet sich schon jedes semantische Interesse an der Terminologie, etwa wie im Falle des Begriffs der „Person“ selbst. Indem Calvin gelassen versichert, dass „das Wesen Gottes einfach und ungetrennt ist, und dennoch Gott alles in sich enthält, ohne Maß oder Ableitung, sondern in vollständiger Vollendung“61, 59
Calvin, J., Unterricht, I.13.20. Calvin, J., Unterricht, I.13.2 – 3. 61 Calvin, J., Unterricht, I.13.2. 60
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gibt er einem theologischen Verständnis Ausdruck, das tief in der trinitarischen Tradition verwurzelt ist. Calvin war in seiner Abwehr der Anti-Trinitarier der Überzeugung, dass die Reinheit der Lehre, die Einheit der Kirche sowie öffentliche Sicherheit und Freiheit unmittelbar voneinander abhängig seien. Die reine Lehre des Glaubens solle so zugleich der Erbauung der Kirche dienen und zur Blüte der Zivilgesellschaft führen, denn Calvin verstand das prinzipielle Ziel staatlicher Regierungen darin, „die äußere Verehrung Gottes zu fördern und zu schützen, die gesunde Lehre der Frömmigkeit und den (guten) Stand der Kirche zu verteidigen, unser Leben auf die Gemeinschaft der Menschen hin zu gestalten“ – kurz, „sie dient dazu, daß unter den Christen die öffentliche Gestalt der Religion zutage tritt und unter den Menschen die Menschlichkeit bestehen bleibt“.62 Calvin verstand diese Bestimmung der Funktion staatlicher Instanzen als die eines dritten Weges neben der apokalyptisch-revolutionären Stoßrichtung des politischen Engagements des linken Flügels der Reformation und neben einem politischen Naturalismus, der Techniken zur Ausübung von Macht, zur Erhaltung von Freiheit und Stabilität als göttlich angeordnete, aber nichtsdestotrotz zivile Ziele verstand.63 Nun zeigte sich in der Folgezeit in Europa, dass der Streit um die Auslegung der christlichen Lehre zumindest mitverantwortlich für die Religionskriege des 16. und 17. Jh. war. Man stellte sich daher die Frage, ob man die zivile Identität nicht auch ohne Rückgriff auf die Sprache der konfessionellen Differenzen und letztlich auch ohne Rückgriff auf christliche Lehre ausdrücken könne. Die Naturwissenschaften gewannen an Aufschwung und einige Zweige der Renaissance sahen sich eher zum antiken Skeptizismus hingezogen. In den Philosophien von Descartes und Spinoza fand dieses geistige Klima einen ersten gesammelten Ausdruck. Innerhalb des nachre62
Calvin, J., Unterricht, IV.20.2 – 3. Calvin, J., Unterricht, IV.20.1: „[A]uf der einen Seite [trachten] unsinnige und barbarische Menschen diese von Gott eingesetzte Ordnung wütend umzustoßen […], auf der anderen Seite aber [übersteigern] die Schmeichler der Fürsten deren Macht ohne Maß […] und sie stellen deshalb ungescheut Gottes eigener Herrschaft entgegen […].“ Vgl. Williams, G.H., The Radical Reformation, Kirksville, MO 31992. 63
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formatorischen Protestantismus lässt sich als Reaktion eine Tendenz erkennen, in der die wichtige Unterscheidung zwischen Weltordnung und Heilsordnung – zwischen dem, was dem Menschen auf natürliche Weise einsehbar ist, und dem, was ihm nur durch den Sohn im Geist erschlossen werden kann – aufgeweicht wurde. Die Entwicklung kulminiert gewissermaßen in der Philosophie Kants. Kant war der Überzeugung, dass die theoretische Vernunft in keiner Form zu Gott führen könne – weshalb er auch die klassischen Gottesbeweise verwarf –, sondern dass Gott ein Postulat der praktischen Vernunft, d. h. der Ethik, sei: „Diese Idee eines moralischen Weltherrschers ist eine Aufgabe für unsere praktische Vernunft. Es liegt uns nicht sowohl daran, zu wissen, was Gott an sich selbst (seine Natur) sei, sondern was er für uns als moralische Wesen sei […].“64
Gott wird verstanden als der Urheber einer moralischen Weltordnung, der der eigentliche göttliche Status zukommt und die religiöse Erhabenheit erleben lässt im „bestirnten Himmel über mir“ und im „moralischen Sittengesetz in mir“. Dieses moralische Gesetz stellt „sich aller menschlichen Vernunft von selbst dar, und wird daher in der Religion der meisten gesitteten Völker angetroffen.“65
Mit dieser Neubestimmung von Religion gibt Kant dieser zwar eine neue Basis im Reich der Ethik, entleert aber auch gleichzeit jede Religion und insbesondere das Christliche eines möglichen besonderen Inhalts: „[n]ur der reine Religionsglaube, der sich gänzlich auf Vernunft gründet, kann als notwendig, mithin für den einzigen erkannt werden, der die wahre Kirche auszeichnet.“66
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Kant, I., Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Kant, I., Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. VIII, hg. v. Weischedel, W., Wiesbaden 1956, 806. 65 Kant, I., Religion, 804. 66 Kant, I., Religion, 777. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Da Kant der Ansicht ist, dass viele der klassischen christlichen Lehren zumindest dieser vernünftigen Wahrheit formal nahekommen, entwirft er vernünftige Reformulierungen von Lehren wie der von der Person Christi, des Reiches Gottes und sogar der christlichen Erbsündenlehre in seiner Rede vom radikal Bösen. Die Christliche Trinitätslehre findet zwar eine lose Entsprechung in einem dreifachen göttlichen Willen in Bezug auf menschliche Moralität, verliert aber gerade dadurch auch ihren charakteristischen Inhalt: „Wenn […] eben dieser Glaube (an eine göttliche Dreieinigkeit) nicht bloß als Vorstellung einer praktischen Idee, sondern als ein solcher, der das, was Gott an sich selbst sei, vorstellen solle, betrachtet würde, so würde er ein alle menschlichen Begriffe übersteigendes, mithin einer Offenbarung für die menschliche Fassungskraft unfähiges Geheimnis sein, und als ein solches in diesem Betracht angekündigt werden können.“67
Bestimmend ist die menschliche Moralität als göttliche Weltordnung, während der Gottesbegriff funktional auf diese bezogen wird. Auch die christliche Gotteslehre kann teilweise dieser Funktion dienen – sie kann uns aber nichts über ein inneres Leben Gottes mitteilen. Damit steht Kant einerseits in der Tradition der Unterscheidung zwischen einer Lehre von Gottes immanentem Leben und einer ökonomischen Lehre des Verhältnisses Gottes zur Welt, verändert diese aber auch so, dass erstere ihre Bedeutung verliert, während letztere an dem gemessen werden muss, was die natürliche Religion durch Vernunft erkennen kann. Die natürliche Religion findet aber ihr Zentrum im Sittengesetz, d. h. im kategorischen Imperativ, der durch die Vernunft allein einsehbar ist. Lediglich um diese moralische Weltordnung mit dem Gedanken der Glückseligkeit im höchsten Gut zu vermitteln, ist der Gottesbegriff als Postulat nötig. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher folgte Kant in dem Gedanken, dass Gotteserkenntnis keine Sache vernünftigen Erkennens sein könne und teilte entsprechend Kants Ablehnung der klassischen Gottesbeweise. Er folgte ihm jedoch nicht in der Verortung der Religion im Bereich des Moralischen. Zwar überschneide sich das Religiöse z. T. mit Wissen und Handeln, weswegen es erklärlich sei, dass 67
Kant, I., Religion, 809. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Religion mit Metaphysik und Moralphilosophie ein Interesse an der Welt und am Menschen in der Welt teile. Nichtsdestotrotz findet Religion hier aber nicht ihr genuines Feld, denn ihr ureigenes, sie unterscheidendes Merkmal sei „Anschauung und Gefühl“: „Sie [die Religion] begehrt nicht das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkühr des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittlebaren Einflüßen will sie sich in kindlicher Paßivität ergreifen und erfüllen laßen.“68
Diesen Gedanken weiter verfolgend entwarf Schleiermacher später den Gedanken, dass Religion formal in einem „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“ bestehe. „Gefühl“ meint dabei „eine vor-reflexive Harmonie oder Eins-heit zwischen sich und den umgebenden Umständen“69, die auf Wissen und Handeln bezogen sein können. Das Bewusstsein absoluter Abhängigkeit ist zugleich unbestreitbar real, aber dennoch auch unerklärbar. Denn dies bezieht sich auf eine Realität, die gerade nicht zu der Welt von Gegenständen, die in reziproken, wechselseitigen Beziehungen stehen, gehört. Menschen finden sich in komplexen Beziehungen relativer Abhängigkeit und relativer Freiheit vor, wechselseitiger Responsivität und Spontaneität, sowohl mit menschlichen Geschöpfen als auch mit aller nichtmenschlichen Schöpfung. Dieses Reich der wechselseitigen Beziehungen bildet den Kausalnexus. Hier gibt es weder radikale Neuheit noch vollständige Abhängigkeit. Dennoch erfahren Menschen gerade 68
Schleiermacher, F.D.E., Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hg. v. Meckenstock, G., Berlin/New York 2001, 79. 69 Vgl. Hector, K., Attunement and Explicitation. A Pragmatist Reading of Schleiermacher’s „Theology of Feeling“, in: Sockness, B.W./Gräb, W. (Hg.), Schleiermacher, the Study of Religion, and the Future of Theology: A Transatlantic Dialogue, Berlin 2010, 215 – 242 (222): „a pre-reflective harmony or atone-ness between oneself and one’s environing circumstances“. Vgl. Schleiermacher, F.D.E., Der christliche Glaube: nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/31), hg. v. Redeker, M., Berlin 1960, §3. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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innerhalb ihres Lebens der Wechselwirkungen, dass sie letztlich vollständig von etwas anderem abhängig sind, das jeder relativen Abhängigkeit und Freiheit vorausgeht und daher nicht weiter bestimmbar ist. Dieses Bewusstsein der absoluten Abhängigkeit bedeutet dann auch die anthropologische Konstante der Religion. Dieses „Woher“ des unmittelbaren Bewusstseins schlechthinniger Abhängigkeit wird in den Religionen „Gott“ genannt und ist immer in konkrete historische Formen gefasst. Religion gibt es daher nie abstrakt, sondern immer nur in dieser oder jener kulturellen Ausprägung bestimmter historischer Traditionen. Schleiermacher versucht, diese historischen Religionen mit einer systematischen Typologie zu erfassen. Innerhalb derer ist das Christentum ein monotheistischer Glaube teleologischer Ausprägung. Genauso werden auch Judentum und Islam kategorisiert, aber dennoch unterscheidet sich das Christentum „von andern solchen wesentlich dadurch, daß alles in derselben bezogen wird auf die durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung“70. Sünde besteht für Schleiermacher darin, dass das alltägliche Sinnenbewusstsein, d. h. das Bewusstsein geteilter Wechselwirkungen, über das Bewusstsein absoluter Abhängigkeit dominiert. Erlösung meint dementsprechend die Aufhebung dieses Zustands, die dann zur steten Kräftigkeit dieses Gefühls absoluter Abhängigkeit führt. Jesus Christus war historisch der erste, der diesen Zustand besaß und er kommuniziert ihn historisch durch den Gemeingeist der Kirche. Schleiermacher hält also die einzigartige Bedeutung Christi für die Erlösung fest, kann ihm aber keine wesensmäßige Gottheit zuschreiben, da diese ja die Negation jeglicher Wechselwirkung bedeuten würde; vielmehr wird die Rede von seiner Göttlichkeit reformuliert mit der behaupteten, historisch aber nicht zugänglichen Rede von der Kräftigkeit seines Bewusstseins absoluter Abhängigkeit. So unterschiedlich die Gottesvorstellungen Kants und Schleiermachers auch sind, sie kommen doch darin überein, dass die Bedeutung der Trinitätslehre verändert wird. Sie ist nicht Zusammenfassung göttlicher Offenbarung und damit zugleich Zentrum und Zusammenfassung der Rede von Gott. Sie wird vielmehr zum argumentativen Schlussstein vorher abstrakt rekonstruierter Glaubens70
Schleiermacher, F.D.E., Der christliche Glaube, §11. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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sätze, sei es der Bedeutung der Moral bei Kant oder der Kommunikation der stetigen Kräftigkeit des Abhängigkeitsbewusstseins bei Schleiermacher. Damit wird auch Gotteserkenntnis im eigentlichen Sinne menschliche Selbsterkenntnis, während eine Erkenntnis, wie Gott in sich selbst ist, unmöglich wird. Gott wird zu einem Korrelat, wenn nicht zu einer Funktion der Welt. Genauer müsste man sagen, dass schon eine solche Fragestellung ihren Sinn verliert. Interessanterweise sind Schleiermachers Basislehren, d. h. die Frage, ob Religion tatsächlich mit dem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit in Verbindung gebracht werden kann, umstritten bis heute,71 während seiner Entscheidung, die Trinitätslehre für eine abgeleitete Theorie zu betrachten, deren Gegenstand andere Theorien sind – und sie konsequenterweise am Ende der Dogmatik zu behandeln –, viele gefolgt sind. Auf signifikante Weise mag das dadurch verdeutlicht werden, dass Hegel 1827 in seiner Religionsphilosophie beobachten konnte, dass „solchen Dogmen, wie die von der Dreieinigkeit, […] von der Theologie selbst in Schatten gestellt worden [sind]“72. Während für Kant und Schleiermacher Religion auf eine prinzipiell unerfassbare Realität jenseits der Geschichte verweist, sei es als Postulat der praktischen Vernunft oder als “Woher“ des unmittelbaren Selbstbewusstseins, so ist für Hegel die Geschichte des religiös kulturellen Lebens der Menschheit selbst Teil der göttlichen Realität. Gott ist 71 Nach W. Herrmann hat Schleiermacher zu Recht wahrgenommen, dass uns wirklich bewusst ist, dass unser Leben vollständig von für uns undurchschaubaren Kräften abhängig ist. Dennoch gilt nach Herrmann, W., Dogmatik, Gotha-Stuttgart 1925, 12: „Damit aber, daß wir diese Tatsache erfassen, haben wir keineswegs schon Religion. Das Bewußtsein davon ist freilich eine Bedingung fuer die Entstehung von Religion; es gehört das auch zu ihrem Leben, aber es ist nicht für sich allein schon Religion. Jene uns unerfaßbare Macht über unserer Existenz ist auch nicht der Gott des religiösen Glaubens. Denn diese Macht steht auch dem Gottlosen vor Augen, wenn er an die Grenzenlosigkeit des Wirklichen denkt, an dessen gesetzmässigen Verlauf unser Dasein gebunden ist. Sie ist also Schicksal, nicht Gott.“ 72 Hegel, G.W.F., Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 1, hg. v. Jaeschke, W., Hamburg 1993, 78. Hier hat Hegel nicht nur Schleiermacher, sondern auch die Marginalisierung der Trinitätslehre im Pietismus wie bspw. von F.A.G. Tholuck im Sinn.
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dynamischer Geist, der einem dialektischen Selbstverwirklichungsprozess unterworfen ist. Daher kann Hegel die klassische Lehre von der Inkarnation Gottes in Jesus Christus als dem Zentrum des christlichen Glaubens mit einem Teil dieser dialektischen Bewegung identifizieren: „Diese Menschwerdung des göttlichen Wesens, oder daß es wesentlich und unmittelbar die Gestalt des Selbstbewußtseins hat, ist der einfache Inhalt der absoluten Religion. In ihr wird das Wesen als Geist gewußt, oder sie ist sein Bewußtsein über sich, Geist zu sein. Denn der Geist ist das Wissen seiner selbst in seiner Entäußerung; das Wesen, das die Bewegung ist, in seinem Anderssein die Gleichheit mit sich selbst zu behalten. Dies aber ist die Substanz, insofern sie in ihrer Akzidentalität ebenso in sich reflektiert, nicht dagegen als gegen ein Unwesentliches und somit in einem Fremden sich Befindendes gleichgültig, sondern darin in sich, d. h. insofern sie Subjekt oder Selbst ist. – In dieser Reigion ist deswegen das göttliche Wesen geoffenbart. Sein Offenbarsein besteht offenbar darin, daß gewußt wird, was es ist. Es wird aber gewußt, eben indem es als Geist gewußt wird, als Wesen, das wesentlich Selbstbewußtsein ist. […] Er [der Geist] wird gewußt als Selbstbewußtsein und ist diesem unmittelbar offenbar, denn er ist dieses selbst; die göttliche Natur ist dasselbe, was die menschliche ist, und diese Einheit ist es, die angeschaut wird.“73
Dieses Zitat illustriert drei entscheidende Aspekte des Gottesdenkens Hegels: Erstens wird jede Reflexion des Verhälnisses zwischen Gott und Welt zentral auf die Inkarnation bezogen, die als Selbstoffenbarung des göttlichen Subjekts verstanden wird. Zweitens wird die klassische Sprache des christlichen Glaubens durch einen Übersetzungsprozess in philosophisch bestimmte Termini gesichert. Drittens ist Hegels Philosophie einem trinitarischen Verständnis der Selbstaktualisierung Gottes verpflichtet und eben in diesem trinitarischen Prozess der Selbstwerdung des absoluten Geistes besteht nicht nur das Zentrum des christlichen Glaubens, sondern dieser ist aufgrund genau dieses Kennzeichens auch die vollendete Religion.74 Hegel ist überzeugt, dass die Geschichte selbst den Prozess der Selbstverwirklichung des Absoluten darstellt und dass dieser Prozess die Wahrheit 73 Hegel, G.W.F., Phänomenologie des Geistes, hg. v. Wessels, H.-F./Clairmont, H., Hamburg 1988, 494 f. 74 Hegel, G.W.F., Vorlesungen. Teil 1, 67.
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des Inhalts der Trinität ist.75 Die drei Personen der klassischen Trinitätslehre wurden dabei zu drei Momenten oder Seinsweisen des Selbstverwirklichungsprozesses des einen absoluten Subjekts. Ebenso werden die ansonsten als vollständig innerhalb des göttlichen Lebens als realisiert gedachten trinitarischen Relationen nun mit dem Geschichtsprozess selbst identifiziert: Es gibt keinen Gott jenseits der Geschichte, sondern die Selbstverwirklichung des Absoluten ist die Geschichte. Anzeichen für diese Selbstbewegung des Geistes in der Geschichte findet Hegel viele: Es kann „eine ganz unzählbare Menge von Formen bemerklich gemacht werden, in denen der Inhalt der Dreieinigkeit verschieden und in verschiedenen Religionen zum Vorschein kam.“76 Allerdings ist eine vollständige Transparenz der Bewegung des göttlichen Geistes erst im Christentum als vollendeter Relgion gegeben. Fazit: Hegels Gotteslehre ist spiegelbildlich zu der Kants und Schleiermachers entworfen. Für Schleiermacher und Kant bleibt Gott prinzipiell vollständig hinter der Geschichte verborgen, die selbst keine göttliche Gegenwart bedeutet. Bei Hegel hingegen kommt es zu einer quasi-pantheistischen Identifikation von Gott und Welt in der Selbstverwirklichung des Absoluten als einzig Realem. Der gleiche Sachverhalt in der Terminologie der Gotteslehre ausgedrückt würde besagen, dass Kant und Schleiermacher den Zusammenhang zwischen Gott in sich und Gott für uns – also den Zusammenhang von immanenter und ökonomischer Trinität – zerreißen, während Hegel die immanente Trinität in der ökonomischen auflöst. Interessanterweise kann in keinem der beiden Fälle Gott von der Welt als unabhängig gedacht werden: Bei Schleiermacher und Kant ist Gott eine Funktion der Welt, bei Hegel ist Gott die Welt. Ebenso kann auch in keinem der beiden Fälle die Welt als selbstständig gedacht werden: Bei Kant und Schleiermacher ist sie das Aufgegebene, zu Realisierende des göttliche Vorgegebenen, d. h. Stoff zur Verwirklichung des Sittengesetzes bei Kant und Anlass zum Test der steten Kräftigkeit des Gottesbewusstseins bei Schleiermacher, während sie bei Hegel unmittelbar vergöttlicht ist. 75 Hegel, G.W.F., Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 3, hg. v. Jaeschke, W., Hamburg 1995, 209. 76 Hegel, G.W.F., Vorlesungen. Teil 3, 213.
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Allen dreien – Kant, Schleiermacher und Hegel – ist gemeinsam, dass sie das Christentum als die historisch höchst entwickelte Religion betrachten, wenn auch aufgrund unterschiedlicher Kriterien. Als primärer anderer fungiert in allen drei Fällen in der Regel das Judentum, das als niedere Stufe monotheistischer Religion gesehen wird. Kant und Schleiermacher sahen dabei den Legalismus77 des Judentums als Hindernis, dass es zu einer höheren Synthese78 fähig sei. Schleiermacher meinte dabei, dass „[…] das Christentum nicht einmal diese Aufnahme unter den Juden würde gefunden haben, wenn sie nicht von jenen fremden Elementen durchdrungen gewesen wären“79, womit er sich auf hellenistische Inhalte bezog. Sowohl Kant als auch Schleiermacher sahen das Judentum in formaler Hinsicht als eine Verkörperung eines Allgemeinen, eben als eine Verkörperung von „Religion“ an. Für Hegel besaß das Judentum zumindest teilweise ontisches Gewicht, da es doch ein Moment in der Selbstbewegung des absoluten Geistes ist. Ansonsten kennt Hegel aber wenig bis keine Berührungen von Judentum und Christentum und er verstand das Judentum stets eingeschränkt durch seinen legalistischen und nationalen Charakter.80 Das Judentum oder jüdische Theologie hat in allen drei Fällen – und oft auch bei ihren Nachfolgern – keine Bedeutung für christliche Theologie und Gotteslehre.
5. Trinitarische Theologie, Religion und Religionen Die Theologie des 20. Jh. bezog sich auf Kant, Schleiermacher und Hegel in sehr divergenter und keineswegs einfach in positiver Weise. Karl Barth fühlte sich durch die Vermischung der protestantischen Kirchen mit der materialistischen, individualistischen und militaristischen Kultur der Moderne herausgefordert, eben jenen „modernen“, „liberalen“ Protestantismus mitsamt seiner Theologie deutlich zu 77
Vgl. Kant, I., Religion, 838, wo Kant das Judentum als „statutarische“ vom Christentum als „moralische Religion“ unterscheidet. 78 Vgl. z. B. Kant, I., Religion, 804. 79 Schleiermacher, F.D.E., Der christliche Glaube, 84. 80 Hegel, G.W.F., Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 2, hg. v. Jaeschke, W., Hamburg 1994, 575 – 578. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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kritisieren, indem er als dessen Wurzeln einen wiedererwachten Modalismus erkannte, so dass nun christliche Behauptungen der Gotteslehre jeglichen Anhalt an der Realität verloren: „Gerade der Antitrinitarismus kommt unvermeidlich in das Dilemma, entweder die Offenbarung oder die Einheit Gottes zu leugnen, und darum ist die alte Kirche, ist noch Calvin so scharf gegen ihn vorgegangen. Behauptet er nämlich die Offenbarung, ohne doch die wesentliche Gottheit des Sohnes und des Geistes anerkennen zu wollen, so kann er einfach nicht anders, als in der Offenbarung irgendwie ein Drittes, das nicht Gott ist, zwischen Gott und den Menschen hineinschieben. Antitrinitarismus heißt in jeder Form, sofern er nicht Leugnung der Offenbarung ist, Vergötzung der Offenbarung. […] Er wird mit den Monarchianern, Modalisten und Sabellianern (hier finden wir Schleiermacher und in seinen Spuren so ziemlich die ganze neuere Theologie) unter Beibehaltung der Wesensgleichheit der Personen in der Trinität doch nur eine Offenbarungsökonomie, in den Personen nur Erscheinungsweisen sehen, hinter denen sich Gottes eigentliches eines Wesen als etwas Höheres, Anderes verbergen würde. Als ob die Offenbarung geglaubt werden könnte und dürfte mit dem Hintergedanken, daß wir es in ihr nicht mit Gott, wie er ist, sondern nur mit Gott, wie er uns erscheint […] zu tun hätten, als ob Gott Gott wäre in seiner Offenbarung, wenn er sich nicht in ihr offenbarte als der, der er ist von Ewigkeit zu Ewigkeit und in aller Tiefe seines Wesens.“81
Barth war sich daher bewusst, dass die christliche Rede von Gott nur gerettet werden könne, wenn sie ihre Basis in der trinitarischen Selbstoffenbarung Gottes wiedergewinnen könnte, wenn man also, in anderen Worten, keine Lücke zwischen Gottes ewigem Sein und seinem Handeln behauptete. Barth war sich dabei vor allem zweier Dinge bewusst: dass der moderne protestantische Modalismus zu einem Dualismus geführt habe, der einen „,Gott hinter Gott‘“ postuliere, und dass sich Gott in freier, christologisch fundierter Gnade seinen Geschöpfen zuwenden könne. Beides erwies sich als äußerst einflussreich. Barths Theologie bedeutet dabei nicht, dass er einfach das Paradigma Schleiermachers verlassen habe und sich dem Hegels zugewandt hätte. Aber die Einsichten, dass die Trinitätslehre Sein und 81 Barth, K., Die christliche Dogmatik im Entwurf 1927, hg. v. Sauter, G., Zürich 1982, 208 ff.
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Geschichte, ewiges Leben Gottes und Gottes Leben in der Welt zu verbinden vermag, finden sich bei Barth zu dieser Zeit sehr oft und es sind hegelianisierende Einflüsse. Man denke nur an Karl Rahners Behauptung, es müsse eine Verbindung zwischen der Trinität und dem Menschen geben und an seinen berühmten Versuch, eben jene Verbindung mit seiner These auszudrücken, die ökonomische Trinität sei die immanente Trinität und umgekehrt.82 Diese neue Erörterung fundamentaler Fragen über das Verhältnis des trinitarischen Lebens Gottes zu seinem schöpferischen und rettenden Handeln vollzog sich neben einer intensiven Erörterung, wie Gottes sich in seinem Handeln zeigende Treue zu seinem Volk verstanden werden müsse – nicht zuletzt angestoßen durch die Geschichte der Juden im 20. Jh. Gegenwärtige christliche Theologie ist daher einerseits dadurch gekennzeichnet, dass sie die Bedeutung der christlichen Identifikation Gottes als Trinität wieder betont und zugleich gerade die Trinitätslehre als Schlüssel zum Verständnis des Verhältnisses von Christentum und anderen Religionen versteht. Dabei sieht sie durchaus die Notwendigkeit, den Religionsbegriff als solchen theologisch zu kritisieren. Dabei lassen sich zwei komplementäre Züge identifizieren: Der erste Zug betrifft die theologische Untersuchung der Wirklichkeit und der Bedeutung nicht-christlicher Religionen. Beispielhaft sei hier ein Ansatz erwähnt, den der französische Jesuit Jean Dani¦lou bereits 1956 ausgesprochen hat.83 Dani¦lou sieht es als große theologische Schwäche an, dass die Geschichte nicht-christlicher Religionen von Seiten der christlichen Theologie kaum in nachhaltiger Weise berücksichtigt worden ist. Ebenso ist es nicht sachgemäß, dass in populären Auseinandersetzungen meist Assimilierungsstrategien bevorzugt würden, die das Christentum mit seiner kulturellen Ausdrucksgestalt identifizieren und die versuchen, es in die am engsten mögliche Beziehung zu anderen Formen menschli-
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Rahner, K., Der dreifaltige Gott als transzendenter Urgrund der Heilsgeschichte, in: Feiner, J./Löhrer, M. (Hg.), Mysterium Salutis, Bd. 2, Einsiedeln u. a. 31978, 328. 83 Dani¦lou, J., Dieu et Nous, Paris 1956; es wird hier aus der englischen Übersetzung von W. Roberts, God and Us, London 1957 zitiert. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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chen Verhaltens zu bringen.84 Das Christentum wird dann als ein Abschnitt der religiösen Evolution des Menschen verstanden, oder noch stärker simplifiziert, als eine Religion unter vielen, die alle in einer behaupteten transzendentalen Einheit der Religion gründeten. Dani¦lou erkennt diese historistischen und idealisierend-pluralistischen Verstehensversuche als unbefriedigend. Ihnen zugrunde liege ein Kategorienfehler: „Wir lehnen solche evolutionären und synkretistischen Theorien vollkommen ab. Das Christentum kann nicht, noch weniger als das Judentum, als eine Bekundung einer immanenten Evolution der religiösen Genialität der Menschheit beschrieben werden, von denen diese zwei bloß die relativ höheren Ausdrücke wären. Sie sind Eingriffe in die Geschichte durch einen transzendenten Gott, der den Menschen in ein Reich einführt, das von ihm radikal verschieden ist.“85
Das Christentum ist nicht eine andere Episode in der Geschichte der Religion, sondern, wie auch das Judentum, ein Teil der Geschichte der Offenbarung, d. h. einer Geschichte, die autoritativ in den Schriften des Alten und Neuen Testaments bezeugt wird. Die diese Geschichte begründenden Taten – Exodus, Sinai, Inkarnation und Pfingsten – sind einzigartig, unwiederholbar und sie bilden in der Perspektive göttlicher Weisheit ein kohärentes Ganzes. Dieses Ganze ist die Heilsgeschichte, in der die Menschheit Gott zunächst als transzendenten Schöpfer und Herrscher aller Dinge erkennt, um dann das Mysterium des Lebens Gottes als Trinität zu erkennen.86 Gestimmt
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Vgl. Dani¦lou, God and Us, 79: „Many men do, in fact, acknowledge God’s existence, but refuse to admit any positive revelation. They do not recognize in the fact of Christianity any original reality radically distinct from religion in a general sense.“ 85 Dani¦lou, God and Us, 10: „We utterly reject such evolutionary and syncretistic theories. Christianity cannot, any more than Judaism, be described as a manifestation of an immanent evolution of the religious genius of mankind, of which these two are merely the relatively higher expressions. They are interventions in history of a transcendent God who introduces man into a domain which is radically opposed to him.“ 86 Vgl. Dani¦lou, God and Us, 81; vgl. 119: „It was first necessary that faith in the unity of God, in monotheism, should be profoundly rooted in a human © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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nach dem Zeugnis der Schrift der mirabilia Gottes findet christliche Theologie ihre Aufgabe nicht darin, den Ort des Christentums unter den Weltreligionen zu bestimmen, als vielmehr „den theologischen Status der Geschichte der Religion, die Stellung der Geschichte der Religion in der Geschichte der Erlösung“87 zu verstehen. Dani¦lou war der Meinung, dass die thomistische Maxime, nach der die Gnade nicht die Natur zerstört, sondern vollendet (gratia non tollit naturam, sed perficit), die Basis für eine positivere Verhältnisbestimmung der nicht-christlichen Religionen ist – als Versuche, wie sie in vielen nachbarthianischen protestantischen Theologien vorliegen:88 „Das ist tatsächlich ein Prinzip der offenbarenden Abfolge […], dass eine neue Offenbarung die vorherige Offenbarung nicht zerstört, sondern deren Bedeutung übernimmt“.89 Genau dies ist der Lackmustest für Dani¦lous Erzählung der religiösen Geschichte der Menschheit, beginnend von der frühen „kosmischen Religion“ (d. h. menschliche Antworten auf Offenbarungen Gottes in der geschaffenen Ordnung) über die Entwicklung monotheistischen Glaubens auf der Basis der speziellen Offenbarung Gottes an Abraham und Israel bis zur höchsten Offenbarung Gottes in Sohn und Geist. „[D]ie ganze Heilsgeschichte kann als eine stufenweise Enthüllung der unaussprechlichen Trinität angesehen werden […]. [D]ie Dreieinigkeit der Personen konstituiert die Struktur des Seins, das Liebe ist, und diese Liebe ist daher genauso ursprünglich wie Dasein“.90 race always inclined towards polytheism, in order that, at the heart of that unity, the Trinity of Persons could be revealed without any danger“. 87 Dani¦lou, God and Us, 12: „[T]he theological status of the history of religion, the place of the history of religion in the history of salvation“. 88 Dani¦lou, God and Us, 11; vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae Ia q. 1 a.8. Vgl. außerdem die Überlegungen zu den Variationen innerhalb der neueren römisch-katholischen Theologie zum Verhältnis von Natur und Gnade und dessen Bedeutung für Theologien der Religionen in D’Costa, G., The Meeting of Religions and the Trinity, Edinburgh 2000, 102 – 104. 89 Dani¦lou, God and Us, 20: „It is indeed a principle of the revelational sequence […] that a new revelation does not destroy, but takes over the values of the previous revelation.“ 90 Dani¦lou, God and Us, 118 f: „[T]he whole history of salvation may be considered as a gradual unveiling of the ineffable Trinity […] the Trinity of Persons constitutes the structure of Being, and that love is therefore as primary as © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Von diesem ersten Zug unterschieden ist ein zweiter, der die christliche Beteiligung im interreligiösen Dialog betrifft. Die Kontexte und Ziele solcher Dialoge können auf vielfältige Weiser verstanden werden: als missionarische Unternehmung mit dem Ziel der möglichen Konversion des Anderen, als ein Akt christlichen Zeugnisses in einer pluralistischen Gesellschaft, als ein Sich-Aussetzen des christlichen Glaubens an andere und damit auch an Gott oder als selbstzweckhafte Gastfreundschaft, die ein menschliches Gut darstellt und trotz ihres nicht-medialen Charakters als Beispiel von Großzügigkeit zu einem vertieften sozio-politischen Verständnis führen kann. Ein solcher Dialog kann auch mannigfache Formen annehmen: Es kann sich um die Einrichtung eines formalen Dialogs aufgrund staatlich geförderter Institutionen handeln oder um reguläre Zusammenkünfte der Gemeinschaft, die der wechselseitigen Erbauung und Ermahnung anhand von religiösen Texten und Themen dienen,91 oder um die simple Bereitschaft und Neugier, Interessierten anderer religiöser Prägung im Gespräch zu begegnen, wann immer sich die Gelegenheit bietet. Die politischen und kulturellen Dynamiken, die solche Praktiken motivieren und nähren, sind ebenfalls sehr vielfältig und dem ständigem Wandel unterworfen, so dass die Erwartungshaltungen eher unklar sind. Die christliche Theologie, insbesondere insofern sie Jesus Christus als ihren auferstandenen Herrn bezeugt, beobachtet solche Projekte und engagiert sich in ihnen mit der Haltung des sicheren Vertrauens, sodass all solche Versuche letztlich von demjenigen geleitet werden, der das Gut aller Völker beabsichtigt. Dabei bestimmt sie ihr Zeugnis unter dem Bewusstsein einer hohen Verantwortlichkeit ihrem auferstandenen Herrn gegenüber. Eine unhintergehbare Voraussetzung des Unternehmens, von Gott in der Situation des religiösen Pluralismus zu sprechen, besteht für die christliche Theologie in einer intensiven Beschäftigung mit der Geschichte der christlichen existence“. Die fundamentaltheologische Ausrichtung der Analyse Dani¦lous antizipiert die wichtigen Äußerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils zum Verhältnis der Kirche zu nicht-christlichen Religionen, Nostra aetate (vgl. Tanner, N.P., Decrees, 2,968 – 971). 91 Vgl. zur Rationalität theologischen Schriftgebrauchs z. B. Ford, D.F./ Pecknold, C.C. (Hg.), The Promise of Scriptural Reasoning, Oxford 2006. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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theologischen Reflexion über die Identität Gottes, da sie hier Hilfe und Trost aus der Gemeinschaft aller Geheiligten erfahren kann. Sie wird dabei ihre – sicher immer nur vorläufigen – Ergebnisse als Zeichen ihrer Dankbarkeit, ihrer Bedürftigkeit und ihrer Hoffnung darstellen können. Auf diese Weise trägt sie ihren kleinen Teil zum Leben des Glaubens und zum Gedeihen von Gottes Wort bei.
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Christliche Gotteslehre in der Welt der Religionen
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Daniel Krochmalnik
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1. Gibt es Gott? Mit dieser Frage beginnt Thomas von Aquin die Summe der Theologie (I, 2, 1). Als mein Sohn fünf Jahre alt war, stellte er mir einmal die gleiche Frage auf dem Weg zur Synagoge. Oder, meinte er, ist Gott wie Meister Yoda, Meister Shifu, Albus Dumbeldore, der Meister von Hogwarts – also so mächtig und irreal wie eine Filmfigur. Ich kann nicht in die Geschichte ausweichen, der Junge will hier und jetzt wissen: ob es Gott wirklich gibt. Auch ein schlichtes „Ja“ oder „Nein“ würde das Fragealter nicht zufrieden stellen. Da Kinder kleine Philosophen sind, bleibe ich nicht beim Wort „Gott“ stehen, sondern bei 1
Wir berühren hier nur einige Aspekte des Themas und verweisen auf eine Reihe von umfassenderen Arbeiten: Verf.: Der eifersüchtige Gott Israels. Zum Wandel des jüdischen Gottesbildes, in: Rainer Koltermann (Hg.), Universum – Mensch – Gott, Graz, Wien, Köln 1997, S. 347 – 361. Verf.: Formeln des Monotheismus im Judentum, in: Jahrbuch für Politische Theologie, Bd. 4 (2002), Münster, Hamburg, London 2002, S. 81. Verf.: Der Gott Israels und die Götter Griechenlands. Zur neuesten Monotheismusdebatte, in: Albert Käuflein, Thomas Macherauch (Hg.), Religion und Gewalt. Die großen Weltreligionen und der Frieden, Würzburg 2008.Verf.: JHWH. Im Spannungsfeld der Jüdischen Theologie, in: Reinhold Boschki, Eva-Maria Faber, Daniel Krochmalnik, Claus Peter März, Klaus Müller (Hg.), Gott nennen und erkennen. Theologische und philosophische Einsichten (Theologische Module, Bd. 10), Freiburg i. a. 2010, S. 7 – 38. Verf.: Bildersturm, in: Bernd Schröder, Harry H. Behr, Daniel Krochmalnik, / (Hg.): Bilderverbot und Bilddidaktik. Impulse zum jüdischen, christlichen und islamischen Religionsunterricht, Berlin 2012. (Religionspädagogische Gespräche zwischen Juden, Christen und Muslimen. Bd. 3, Berlin 2013. Dort ist jeweils auch weiterführende Literatur angegeben. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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seiner Frage. Was meinst du, wenn du die Frage stellst, ob es etwas gibt oder nicht? Sieh mal, diesen Stein da, den gibt es, und die beiden Steine dort, die gibt es auch, aber es gibt sie nicht auf dieselbe Art und Weise. Sicher, jeder Stein für sich ist auf die gleiche Weise da, aber zwei Steine zusammen sind nicht wiederum ein Stein, die Zahl Zwei liegt nicht auf der Straße und ich kann sie nicht anfassen und aufheben, ich kann sie aber zählen und messen. Sie ist also nicht nichts, aber sie ist eben etwas anders als ein Stein. Philosophisch gesprochen ist das Ergebnis dieser kleinen sokratischen Unterredung, dass vom Gegebensein in vielfacher Bedeutung gesprochen werden muss. Was von Steinen gilt, die innen und außen gleich sind, gilt noch mehr von Menschen, die es nicht sind. Der Passant dort an der Ampel ist körperlich da, wie ein Stein, mit den Gedanken ist er aber wahrscheinlich ganz woanders. Wenn ich ihn nicht als wandelnde Statue ansehe, sondern als einen Menschen wie du und ich, dann ist er verglichen mit dem Stein größtenteils nicht da, wir nehmen von ihm viel weniger wahr als der Schiffskapitän vom sprichwörtlichen Eisberg. Und erst das Paar größtenteils unsichtbarer Seelen dort, das uns entgegenkommt, mit welchem Lineal soll man messen, was sich zwischen ihnen gerade abspielt? An diesem zweiten Beispiel sieht man, dass die wichtigeren Dinge in unserem Leben nicht so da sind wie Steine, das heißt aber nicht, dass sie nicht ebenso wirklich sind, ja, noch wirklicher sind als Steine. Ein Stein bewegt sich nicht, solange er nicht bewegt wird, die Liebe aber kann das versteinerte Herz in Bewegung setzen. Was ist also wirklicher, der Stein, den man greifen kann, oder die Liebe, die man nicht begreifen kann? Solltest Du also fragen: Gibt es Gott wie einen Stein? Nein, wie einen Stein, den man aufheben, den man auf jemanden werfen, den man mit dem Meißel bearbeiten kann, gibt es Gott wenigstens nach unserer Religion nicht. Ein solcher Steingott, ob nun Statue oder Stern, nennen wir Abgott. Gibt es Gott in irgendeinem anderen Sinn? Jetzt kommt unser kleiner Gottesbeweis. Auch wenn die Dinge von ganz verschiedener Seinsart sind, eines haben sie wenigstens alle gemeinsam: sie sind da. Allerdings sind sie in diesem ganz allgemeinen Sinn nicht alle im gleichen Maß da. Die einen sind nur kurz da, die anderen länger, über kurz oder lang verschwinden sie wieder. Nehmen wir unseren Stein, es gab ihn nicht immer und, so hart er auch ist, es wird ihn früher oder später nicht mehr geben. Genau genommen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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verschwindet er nicht erst im letzten Augenblick seines Daseins, vielmehr verändert er sich kaum wahrnehmbar in jedem Augenblick, er wird ständig ein anderer als er war: mal ist er da, mal ist er dort, eben war er noch ganz, jetzt ist er zertrümmert. Mit großen Steinen – Erde, Sonne, Mond und Sterne – ist es wie mit den Kleinen und mit ihnen verändert sich dauernd das ganze All. Man kann sich heute vorstellen, dass es ebenso gut einmal nicht mehr da sein wird, wie es einmal nicht da gewesen ist. Hätte das All aus sich heraus Bestand, dann wäre es nicht nur immer und ewig da, es müsste auch in jedem Augenblick unveränderlich sein. Was wir über die kleinen, die großen und alle Steine sagen, gilt ebenso für alle Nichtsteine, von denen wir vorher sprachen, denn sie haben meistens nur ein abgeleitetes Dasein: die Zwei ist nur so lange da, wie die beiden Steine, die Seelen und die Paare nur solange wie ihre Körper und alles zusammen nur solange wie das All. Damit überhaupt etwas da ist, muss es aber ein Sein geben, dem das Dasein nicht nur zufällig und vorübergehend zukommt, es muss es in sich haben. Eben dieses Sein, das man sich gar nicht anders als da seiend denken kann und das Grund allen zufälligen Daseins ist, nannten die muslimischen, die jüdischen und die christlichen Denker „Gott“. Ist man erst einmal soweit gekommen, dann kann man den Spieß leicht umdrehen: Nicht ob Gott da ist, ist hier die Frage, es sind vielmehr alle anderen Dinge, die sich die Frage gefallen lassen müssen: „Sein oder Nichtsein?“ – und es ist Gott, der hier in Frage stellt. Denn unbedingt ist nur Gott da, alle anderen Dinge sind nur be-dingt da, sie leben von geborgtem Sein und müssen es früher oder später zurückerstatten. Beweist dieser Gottesbeweis nicht zu wenig? „Sein“ klingt erst einmal so ähnlich wie „Stein“. Man muss schon, wie der Anfang der Bibel, den hellen Tag des Seins gegen die dunkle Nacht des Nichts halten, um die wunderbare Herrlichkeit des Daseins zu erblicken (Gen 1, 1 – 3). Die Bibel scheint ferner den philosophischen Gottesbegriff zu bestätigen. Im Buch der Namen (2. Moses) leitet Gott selber seinen Namen aus den vier Buchstaben J-H-W-H, den Christen, „Jehowa“ oder „Jahwe“ aussprechen, vom hebräischen Verb sein: HWH, ab, er nennt sich wohl im Vorblick auf alle kleinen Frager: „Ich bin da“ (Ehjeh, Ex 3, 14) und gleich noch nachdrücklicher: „Ich bin, der ,Ich bin da‘“ (Ehjeh Ascher Ehjeh). Der mittelalterliche jüdische Philosoph, Moses Maimonides (1138 – 1204), erkannte in dieser © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Formel den philosophischen Gottesbegriff wieder: „Ich bin das Seiende, der das Seiende ist“, das Wesen also, das das Dasein in sich hat und keines anderen Seienden außer sich bedarf, um zu sein, kurz: „das notwendige Seiende“ (HaMeziut HaMechujaw, lat.: necesse esse).2 Der jüdische Vorläufer des Aquinaten beginnt denn auch seine Summe des Gesetzes mit einer Kurzfassung unseres Gottesbeweises: „Das Grundprinzip und die Säule der Weisheiten ist zu wissen, dass es ein erstes Seiendes gibt, das allem was ist, Dasein gibt, und alles was ist, zwischen Himmel und Erde, ist nur aufgrund seines wahren Seins. Und fiele einem ein, dass es dieses Seiende nicht gäbe, dann könnte kein einziges Ding da sein.“3 Was Maimonides hier auf Hebräisch schreibt, wiederholt Baruch Spinoza (1632 – 1677) in seiner Ethik in streng geometrischer Beweisführung auf Latein. Der 7. Lehrsatz des 1. Buches De Deo lautet: „Zur Natur der Substanz gehört das Dasein“ und die Schlussfolgerung im 11. Lehrsatz: „Gott oder die Substanz (…) ist notwendig da“.4 Obschon Spinoza im erklärten Gegensatz zu Maimonides, Moses nicht mehr für einen Philosophen, das Buch Exodus nicht mehr für eine Metaphysik und die Juden geradezu für „Verächter der Philosophie“hielt,5 erkennt auch er im biblischen Gottesnamen den philosophischen Gottesbegriff wieder: „Und fürwahr“, schreibt er in seinem Theologisch-Politischen Traktat, „wer ohne Vorurteil die Ansichten des Moses erwägen will, der wird offenbar finden, dass seine Ansicht von Gott dahin ging, er sei ein Wesen, das immer ist, war und sein wird, und darum nannte er ihn mit dem Namen Jehovah, der im Hebräischen diese drei Zeiten des Seins ausdrückt“6 – der große jüdische Gesetzeslehrer Maimonides und der große jüdische Ketzer Spinoza
2
Führer der Unschlüssigen, I, 63, dt. v. Adolf Weiß, Leipzig 1923, 2. Aufl. v. J. Maier, Hamburg 1972, Bd. 1, S. 237. 3 Mischne Tora, Sefer HaMada (Das Buch der Erkenntnis), I, 1 – 2, E. Goodman –Thau, Chr. Schulte (Hg.), Berlin 1994, S. 44 (wir übersetzen). 4 „Deus, sive substantia (…) necessario existit“, Opera. Werke, Lateinisch u. Deutsch, Bd. 2, K. Blumenstock (Hg.), Darmstadt 1967, S. 93 u. 99. 5 Tractatus Theologico-Politici, Opera, Carl Gebhardt (Hg.), Bd. III, Heidelberg 1925, S. 144, 11. 6 Theologisch-Politischer Traktat, ebd. S. 38, 21 – 25, dt. v. G. Gawlick, Theologisch-Politischer Traktat, Opera. Werke Bd. 1, Günter Gawlick, Friedrich Niewöhner (Hg.), Darmstadt 1979, S. 85. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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sind sich also im philosophischen Gottesbegriff einig.7 Moses Mendelssohn (1732 – 1786), der Jünger des Maimonides und der Ehrenretter Spinozas übersetzt den Gottesnamen am Ende dieser metaphysischen Tradition in der jüdischen Religion sinngemäß mit „Ewiger“, das ist seinen Ausführungen zufolge der, der da war, der da ist und der da sein wird, der also immer und ewig da ist.8 So lautet der Gottesname noch heute in den deutjüdischen Übersetzungen des Gebetbuches. Dennoch hat es immer wieder Zweifel gegeben, ob dieser metaphysische Gottesbeweis und -begriff nicht an der Synagoge vorbeiführt. Gesetzt selbst, das Argument stäche, richten wir unsere Gebete wirklich an das nackte Dasein? Ganz zutreffend ist dieser Zweifel freilich nicht, denn schon der erste Hymnus, mit dem uns die Synagoge in der früh begrüßt, sagt mit anderen, dichterischen Worten etwas Ähnliches: „Der Herr der Welt (Adon Olam), er hat regiert, eh’ ein Gebild geschaffen war/ Zur Zeit, da durch seinen Willen das All entstand, da wurde sein Name König genannt,/Und nachdem das All aufhören wird, wird er allein, der Ehrfurchtbare regieren./Er war, er ist und er wird sein (WeHu Haja WeHu Howe WeHu Jihje)“.9 Dieser Hymnus ist freilich kein Gottesbeweis, aber er weitet jeden morgen den Horizont des Beters bis an die Grenzen des Seins. Gewiss, der Dichter, Salomon Gabirol (ca. 1021 – 1057), war selber Philosoph. Nehmen wir dagegen das urbiblische Gebet, den Lobgesang der kinderlosen Hanna im 1. Buch Samuel, das in der Synagoge in der Propheten-Lesung zum 1. Neujahrstag vorgetragen wird. Es ist eine Zusammenfassung aller alttestamentlichen Psalmen und sein Echo reicht bis zum neutestamentlichen Psalm Marias, dem Magnifikat. 7
Wir vernachlässigen hier die Unterschiede zwischen dem Aristoteliker Maimonides und dem Cartesianer Spinoza. Die Definition des Seins als unbedürftiger Substanz lautete bei Descartes: Pers substantiam nihil aliud intelligere possumus, quam rem quae ita existit, ut nulla alia re indigeat ad existentdum“, vgl. dazu Norbert Fischer, Die philosophische Frage nach Gott. Ein Gang durch ihre Stationen (Amateca. Lehrbücher zur katholischen Theologie Bd. II), Paderborn 1995, S. 355. 8 Pentateuchkommentare in deutscher Übersetzung von Rainer Wenzel, Schriften zum Judentum III, 3, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe (JubA), Bd. 9, 3, D. Krochmalnik (Hg.), Stuttgart-Bad Cannstatt, 2009, S. 114. 9 Siddur Sefat Emet, dt. v. S. Bamberger, Nachdruck Basel 1992, S. 3. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Hanna konnte kein Leben schenken, wie es der Frau nach der Bibel zukommt (Gen 3, 20), und wurde deshalb von anderen Frauen verachtet. In ihrer Verzweiflung wandte sie sich an den Ursprung allen Daseins. Nachdem ihr Kinderwunsch endlich in Erfüllung gegangen war, richtet sie diesen Lobgesang an Gott, den wir in der heutigen Sprache der Guten Nachricht wiedergeben: „1Mein Herz jubelt über den HERRN, er hat mich wieder aufgerichtet und mich gestärkt! Jetzt kann ich über meine Feinde lachen Ich bin voller Freude, weil er mir geholfen hat. 2 Der HERR allein ist heilig; es gibt keinen Gott außer ihm. Auf nichts ist so felsenfest Verlass wie auf ihn, unseren Gott.(…) 4 Starken Männern zerbricht er die Waffen; Schwachen und Entmutigten gibt er neue Kraft. 5 Reiche müssen auf einmal ihr Brot mit eigener Hand verdienen; Arme müssen nicht mehr hungern und können feiern. Die Frau, die kinderlos war, bringt sieben Kinder zur Welt, doch die Kinderreiche behält nicht eines. 6 Der HERR tötet und macht lebendig, er verbannt in die Totenwelt und ruft aus dem Tod ins Leben zurück. 7 Er macht arm und er macht reich, er bringt die einen zu Fall und andere erhöht er. Die Armen holt er aus der Not, die Hilflosen heraus aus ihrem Elend; er lässt sie aufsteigen in den Kreis der Angesehenen, er gibt ihnen einen Ehrenplatz. Denn die Grundpfeiler der Erde gehören dem HERRN ; auf ihnen hat er die Erde errichtet. (…)“ (ISam 2, 1 – 10)
Übersetzungen wie die zitierte Gute Nachricht ersetzen den verheißungsvollen Gottesnamen „Er ist da“ (JHWH), der in den zehn Versen des Gebetes nicht zufällig insgesamt genau zehn Mal vorkommt,
meistens durch HERR oder durch „Er“ oder durch den anonymen „Gott“, der mit Elohim zurückübersetzt werden müsste. Aber das Gebet gibt die ganz besondere Optik von JHWH wieder, die unsere © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Sehgewohnheiten auf den Kopf stellt. JHWH ist nicht auf der Seite der Mächtigen und Reichen und Glücklichen, die ihr Dasein im Überfluss genießen, sondern auf der Seite der Ohnmächtigen, Habenichtse und Elenden, die ihr Dasein am Rande des Nichts fristen. Wenn JHWH „Sein“ bedeutet und heißt, dann ist er jedenfalls kein unparteiisches Sein, JHWH steht auf der Seite derjenigen, denen es an Sein mangelt, der Armen, Bedürftigen und Hungrigen, die ständig von Vernichtung bedroht sind. Da ist also die Brücke zwischen „Gott an sich“ und „Gott mit uns“ – das Sein gibt sich als Seinsverheißung für die Seinsbedürftigen! In der Bibel und in der jüdischen Tradition wird Gott, der Schöpfer aus dem Nichts, der Herr der Welt, allerdings mit dem Gemeinnamen Elohim bezeichnet. Der jüdische Apologet Jehuda Halevi (ca. 1075 – 1141) setzt den Unterschied zwischen dem Gemeinnamen Elohim und dem Eigennamen JHWH mit der Antithese von Vätergott und Philosophengott, von Person und Begriff gleich.10 Doch als Monotheist weiß er, dass beide Namen zwei Seiten des einen Gottes bezeichnen, von dem wir dreimal am Tag bekennen: JHWH und Elohim sind eins: „JHWH Elohenu JHWH Echad“ (Deut 6, 4).11
2. Wer ist Gott? In der exoterischen und esoterischen jüdischen Tradition hat man das Wesen Gottes durch die Auslegung seines „besonderen Namens“ (Schem HaMejuchad) erschlossen. Im zweiten Buch Moses, dem Buch der Namen (Sefer Schemot) stellt ihm der Prophet die Frage, was der Sinn seines Namens sei. Zum Verständnis der Antwort Gottes ist es wichtig, den Kontext der Frage zu berücksichtigen. Nach seiner Flucht aus Ägypten war Moses mit seiner Herde in der Wüste unterwegs, als er am „Gottesberg“ vorbei kam, sah er einen brennenden Dornbusch, der nicht verbrannte (Ex 3, 1 – 2). Als er sich dem Phänomen näherte, kamen die folgenden Worte aus dem Busch: „Ich bin der Gott der Väter“. Die Stimme aus dem Busch erteilte ihm den Auftrag nach Ägypten zurückzukehren und sein Volk aus der Skla10 11
Der Kusari IV, 16, dt. v. D. Kassel (1853), Zürich 1990, S. 367. Der Kusari, IV, 1, ebd. 322 ff. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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verei herauszuführen. Der Berufene versucht sich zu entziehen: „Wer bin ich denn, dass ich zum Pharao gehe“ (11). Daraufhin versichert ihm die Stimme: „Ich werde mit dir sein“ (Ehje Imach, 12). Das reichte Moses nicht, er wollte genau wissen, mit wem er es zu tun hat und legt dem Volk die folgende Frage in den Mund, die es dann gar nicht gestellt hat: „Siehe, ich komme zu den Söhnen Israels und sage ihnen: Der Gott eurer Väter sendet mich zu euch; dann werden sie mich fragen: ,Wie ist sein Name?‘ (Ma Schemo) ,Was soll ich ihnen antworten?‘ Da sprach Gott zu Moses: ,Ich bin, der ,Ich bin da‘. Und er sprach: ,So sprich zu den Kindern Israels: ,Ich bin da‘ sendet mich zu euch.“ Man kann die Neugier von Moses aus der Situation heraus gut verstehen. Er will wissen, in wessen Namen er das Sklavenvolk gegen seinen Herren aufrühren soll und er will sich vor den kolossalen Göttern Ägyptens nicht mit einem windigen Wüstengott lächerlich machen. Doch die Antwort Gottes ist ein Rätsel. Man kann sie auch als Auskunftsverweigerung verstehen. So als ob Gott sagen wollte: Was fragst Du nach meinem Namen (Gen 32, 30), geh, du wirst schon sehen, „dass ich da sein werde“ – so die futurische Übersetzung von „Ascher Ehjeh“. JHWH wäre demnach ein No-Name, Gott lehnt es ab, sich zu identifizieren, er ist eben kein nennbares Ding, er ist „unbe-dingt“. Verfolgt man den Dialog weiter, dann scheint Moses mit dieser Antwort auch nicht zufrieden gewesen zu sein. Jedenfalls fand er ständig neue Ausreden, um dem Ruf nicht zu folgen. Mag ja sein, dass Gott: „Ich bin da“ heißt, aber wird er im Ernstfall auch wirklich da sein? Moses antizipiert eine solche Situation: „sie werden mir nicht glauben“; „ich bin kein geschickter Redner“; „sende, wen Du willst“ (4, 1. 10. 13). Die jüdische Tradition hat den Gottesnamen aber mehrheitlich nicht als Absage, sondern als Zusage verstanden. Die Frage war auch nicht: wie Gott heiße (diese Frage hätte wie in Ri 13, 17: Mi Schmo lauten müssen und hätte wohl kaum ganz oben auf der Tagesordnung der Sklaven gestanden), sondern, was sein Namen verheiße (Ma Schmo). Die Bibel deutet JHWH der Form nach als Imperfekt des Seinsverbs im Grundstamm in der 3. Person, Singular, Maskulin, was futurisch wiedergegeben werden kann: „Er wird da sein“. Demnach besagt der Name im Grunde nichts anderes, wie die schon zuvor in Vers 12 gegebene Zusicherung: „Ich werde mit dir sein“ (Ehje Imach). In Bezug auf Israel in Ägypten entspricht diese Beistandserklärung der Selbstaussage Gottes im Psalm: ,Ich bin bei ihm in der Not‘ (Ps © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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91,15). Der Name drückt sprachlich aus, was der brennende Dornbusch bildlich zeigt. Wie das Volk geographisch aus dem Land Israel nach Ägypten hinab gezogen und sozial ganz unten angekommen war, so war auch Gott von seinem hohen Thron herabgestiegen und hat im niedrigsten aller Wüstengewächse Platz genommen; Wie Israel in den Sklavenhütten gefangen lag, so erscheint das göttliche Licht gleichsam hinter Stacheldraht. Unsere Weisen fragen: „Warum aus dem Dornbusch und nicht aus der Mitte eines großen Baumes, etwa einer Dattelpalme? Der Heilige, gelobt sei Er sagte: ,Ich bin bei ihm in der Not‘ (Ps 91, 15). Sie befinden sich in der Unterjochung, und ich bin desgleichen im Dornbusch, an einem engen Ort – das hebräische Wort Zar, eng, klingt wie: Zara, Leiden – „deshalb (sprach er) aus dem Busch, der ganz aus Dornen besteht“ (ExR 2, 5). Eine andere rabbinische Auslegung steigert das göttliche Mitgefühl fast bis zur Blasphemie: „So wie die Zwillinge, wenn eins Kopfschmerz hat, so fühlt ihn auch das andre, ebenso sprach auch Gott: ,Ich bin mit ihm in der Not‘ (Psalm 91, 15). ,Ich bin mit ihm in der Not‘.“12 Diese Namen und Bild gewordene frohe Botschaft richtet sich keineswegs nur an das Volk Israel alleine. Gott selbst sagt, er wolle ein Exempel statuieren, damit ihn auch die Sklavenhalter erkennen (Ex 7, 5 u. ö). Gottes Namen soll zu einer Hoffnung für alle Ausgebeuteten, Unterdrückten und Notleidenden werden: „J-h-w-h (…) das Futurum der Geknechteten und Leidenden“.13 Wie aber soll diese frohe Botschaft in andere Sprachen übersetzt und allen Menschen zu Gehör gebracht werden? Die respektvolle jüdische und christliche Ersetzung des Gottesnamens durch den Hoheitstitel „HERR“ verkennt leicht, dass die Herrlichkeit dieses Herrn gerade in seiner Herablassung zu den Knechten besteht. Die alten griechischen, lateinischen und jüdischen Übersetzungen, die aus der Selbstoffenbarung Gottes im Dornbusch 12 Raschi-Kommentar z.St., vgl. dazu mein Buch: Schriftauslegung – Das Buch Exodus im Judentum, (Neuer Stuttgarter Kommentar. Altes Testament, Bd. 33.3, Stuttgart 2000 und meinen Beitrag: Bildersturm, in: Bernd Schröder, Harry Harun Behr, Daniel Krochmalnik (Hg.), „Du sollst Dir kein Bildnis machen …“. Bilderverbot und Bilddidaktik im jüdischen, christlichen und islamischen Religionsunterricht (Religionspädagogische Gespräche zwischen Juden, Christen und Muslimen. Bd. 3), Berlin 2013, S. 15 – 42. 13 Benno Jacob, Das Buch Exodus, Stuttgart, 1997, S. 70.
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vor allem die metaphysische Beschaffenheit Gottes heraushörten und den Namen mit „Seiender“ und „Ewiger“ wiedergaben, leisten leicht dem Missverständnis Vorschub, dass Gott wie ein lebloser Stein, einfach nur da ist. Der Form nach ist der Name JHWH aber zukunftsgerichtet, er drückt aus, dass dieser Gott zur Stelle ist oder sein wird, wo Not am Mann ist, er brennt wie im Dornbusch unauslöschlich auf seinen Einsatz und greift ein, wo es brennt. Die schlechteste Variante ist m. E. den hebräischen Namen mit „Jahwe“ unübersetzt zu lassen. Der deutschsprachige Bibelleser könnte mit Hamlet fragen: „Was ist uns Jahwe?“ (II, 2) – ein jawanesischer Götze? der Gott einer fremden, „jahwistischen“ Religion? der fremde Gott der fremden Juden? Der religiöse Wert der Bibelübersetzungen steht und fällt mit der Wiedergabe des Gottesnamens, der in der Hebräischen Bibel rund 7000 Mal fällt.14 Das revolutionäre Programm des Gottesnamens kommt aber auch ohnedies in der erweiterten Selbstvorstellung Gottes auf dem Sinai zum Ausdruck: „Ich bin JHWH, dein Gott, der dich aus dem Lande Ägypten geführt, aus dem Sklavenhause“ (Ex 20, 1). JHWH, das heißt Befreiung oder, um es mit einem Wort von Paulus an die Korinther zu sagen, das freilich gegen Moses und Israel gesprochen war: „wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (IIKor 3, 17).
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JHWH kommt genau 6823-mal und 25-mal in der Kurzform JH vor, Elohim dagegen nur rund 2000-mal. Ob die Herausgeber der Bibel in gerechter Sprache gut beraten waren, anstelle des einen Gottesnamens willkürlich alle möglichen Übersetzungen und Ersetzungen in beiderlei Geschlecht zu setzen, kann man bezweifeln. Wenn im gleichen Kapitel, z. B. in unserem Kapitel (Ex 3) der Gottesname abwechselnd mit „SEIN“ oder mit „ICH-BIN-DA“ wiedergegeben wird, dann wieder nach Buber und Rosenzweig mit den Pronomina und zwar in ständig wechselndem grammatischen Geschlecht, dann ist das ziemlich verwirrend. Ein Leser, der nicht so sehr um die theologische Korrektheit besorgt ist, sondern einfach darauf vertraut, dass in einer Geschichte die gleiche Person, den gleichen Namen führt und das gleiche grammatische Geschlecht behält, könnte am Ende den gut gemeinten Polynymismus mit Polytheismus verwechseln. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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3. Was will Gott? Was Gott will, das hat er nach dieser Selbstvorstellung auf dem gleichen Gottesberg in Kürze verkündet, in zehn, genau genommen vierzehn Geboten Dekalog I. II.
Eingottgebot (Anochi H‘ Elohecha, Ex 20, 2) Fremdgötterverbot (Lo-Jihje Lecha, Ex 20, 3) Bilderverbot (Lo-Ta’asse Lecha, Ex 20, 4) Verbeugungsverbot (Lo-Tischtachawe LaHem, Ex 20, 5) Verehrungsverbot (Lo Ta’awdem, Ex 20, 5) III. Meineidverbot (Lo Tissa Et-Schem-H’, Ex 20, 7) IV. Ruhetaggebot (Sachor Et-Jom, Ex 20, 8) Arbeitsverbot (Lo-Ta’asse, Ex 20, 10) V. Elterngebot (Kabed Et-Awicha, Ex 20, 12) VI. Mordverbot (Lo Tirzach, Ex 20, 13) VII. Ehebruchverbot (Lo Tinaf, Ex 20, 13) VIII. Raubverbot (Lo Tignow, Ex 20, 13) IX. Lügenverbot (Lo-Ta’ane, Ex 20, 13) X. Wunschverbot (Lo Tachmod, Ex 20, 14) Stellt man in Rechnung, dass der eröffnende Vers des Dekalogs: „Ich bin der JHWH, dein Gott, der dich aus dem Lande Ägypten geführt, aus dem Sklavenhause“ (Ex 20, 1), der in der jüdischen Zählung als Eingottgebot (I) geführt wird, weniger ein Gebot als eine Präambel ist und im Text eine Einheit mit dem Fremdgötterverbot bildet, dann enthalten die dreizehn Verse des Dekalogs (Ex 20, 1 – 14 nach der jüdischen Verszählung) genau dreizehn Ge- und Verbote. Die Dekalogeröffnung ist der hermeneutische Schlüssel zum Ganzen, in seinem Licht gelesen sind die Zehn Gebote eine Magna Charta der Freiheit. Dagegen kann man einwenden, dass das große Wort „Freiheit“ im Dekalog gar nicht vorkommt, es werden auch keine Grundfreiheiten und Grundrechte erklärt. Vielmehr werden die Empfänger des Dekalogs massiv eingeschüchtert, die feierliche Verkündigung des Dekalogs zielt ausdrücklich auf Furcht, nicht auf Freiheit (Ex 20, 17). Eher gleicht noch der Tanz der Gesetzesbrecher © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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ums goldene Kalb einer fiesta de la libertad. Doch die Rabbinen bestehen auf den Freiheitssinn der Zehn Gebote, indem sie ein Wort in dem Vers über die Dekaloginschrift: „Schrift Gottes, eingegraben in die Tafeln“ (Ex 32, 16) leicht verändern: sie fordern, anstelle der üblichen Vokalisierung der Konsonanten: CH(a)RUT, eingegraben, anders, nämlich CH(e)RUT, Freiheit, zu lesen (mAw 6, 2). Wenn auch der Begriff der Freiheit im Dekalog nicht vorkommt, so erscheint doch gleich im Titel der Gegenbegriff – Sklaverei. Gewiss, von Grundfreiheiten im modernen Wortsinn, also von „meinen“ unveräußerlichen Grundrechten, ist nicht die Rede, umso mehr aber von „meinen“ unabweisbaren Pflichten – und somit von „deinen“ Rechten. Das große göttliche „Ich“ (Anochi) – das erste Wort des Dekalogs – nimmt mich mit seinen „Du sollst!“ und „Du sollst nicht!“ in die Pflicht und schützt damit die Freiheit meines „Nächsten“ (Rea) – das letzte Wort des Dekalogs. Weil die Freiheit „meines“ Nächsten nicht ohne Einschränkung „meiner“ Freiheit möglich ist, baut Gott bei der Promulgation des Dekalogs eine spektakuläre Drohkulisse auf. Meine Freiheit wird nur insofern mitverhandelt als mit „Du“ jeder angesprochen ist, auch derjenige dem ich ein Nächster bin. Im Einzelnen ergibt sich folgender Freiheitssinn der einzelnen Gebote.15 Die ersten fünf Gebote zählen die Ansprüche auf, die mein Befreier an mich stellt. Zuallererst verbietet er mir, anderen Mächten zu gehorchen (I), mich ihnen zu unterwerfen und ihnen zu dienen (II b–d). Die exklusive Bindung an den Befreier heißt aber nicht, dass der Befreier sich im Gegenzug meinen Gottesbildern oder meinen Gotteszaubern gefangen gibt (2a u. 3) – der Befreiergott verlangt nach Gottesfreiheit! Die letzten fünf Gebote zielen auf die Freiheit meines Nächsten, indem sie die für ein Leben in Freiheit und Würde un15 Wichtige Einsichten verdanken wir den Arbeiten von Hartmut Gese, Der Dekalog als Ganzheit betrachtet, in: Ders., Vom Sinai zum Zion. Alttestamentliche Beiträge zur biblischen Theologie, München 1974, S. 63 – 80; Frank Crüsemann: Bewahrung der Freiheit. Das Thema des Dekalogs in sozialgeschichtlicher Perspektive, München 1983; J.M. Lochmann,: Wegweisung der Freiheit. Abriß der Ethik in der Perspektive des Dekalogs, Gütersloh 1979; Otto Kaiser: Freiheit im Alten Testament (2000), in: Zwischen Athen und Jerusalem. Studien zur griechischen und biblischen Theologie, ihrer Eigenart und ihrem Verhältnis, Berlin, NY 2003, 179 – 198.
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verzichtbaren Güter der Reihe nach vor meinen Übergriffen schützen: sein Leben (VI), seine Familie (VII), seine Freiheit (VIII), sein Recht (IX) und sein Eigentum (X). Dazu sind einige Erläuterungen nötig: Ehebruch (VII) bedeutet in eine fremde Familie einbrechen, das Ehebruchverbot dient daher dem Schutz der Familie. Sowohl die jüdische Tradition, als auch die neuere Bibelwissenschaft beziehen den Diebstahl (VIII) aus der Reihe von Kapitalverbrechen nicht auf Sachen, sondern auf Menschen, worauf auch sonst die Todesstrafe steht (Ex 21, 16; Deut 24, 7), es zielt somit auf Menschenraub und Sklaverei. Da der Zeuge im biblischen Rechtsverfahren zugleich Ankläger und Henker war, zielt das Falschzeugnisverbot (IX) auf den Rechtsschutz. Beim letzten Gebot geht es sicher nicht nur um bloße Wünsche, sondern um den Vorsatz zum Angriff auf fremdes Eigentum, wie der Parallelismus in Micha 2, 2 beweist: „Und sie gelüsten (Chamdu) nach Äckern und rauben sie (Gaslu)“. Die insgesamt sieben im letzten Gebot aufgezählten Güter bilden den Begriff „Haus des Nächsten“ (Bet Re’echa), das als Ganzes unter Schutz vor meinen Übergriffen gestellt wird. Zusammenfassend: der Befreiergott schützt die Freiheit der Anderen. Die drei zentralen Gebote (IVund V) fordern hingegen die positive Verwirklichung meiner Freiheit bzw. der Freiheit der Meinen. Ruhetag und Elternrespekt können als genaue Gegenstücke zu den in der Dekalogeröffnung unter den Titeln „Sklavenhaus“ (Bet Awadim) und „Land Ägypten“ (Erez Mizrajim) angeführten Erfahrungen der Unfreiheit interpretiert werden. Das Ruhetaggebot (IV a) und das Arbeitsverbot (IV b) verlangen, dass ich mir im Gegensatz zum ununterbrochenen Arbeitszwang im „Sklavenhaus“, regelmäßig jene Freizeit nehme und meinen Hausgenossen gönne, die bereits im Schöpfungsplan dafür vorgesehen ist (Gen 2, 1 – 3). So wird mein Haus mit seinen sieben freien Hausgenossen an jedem siebten Tag zu einem „Haus der Freiheit“, wo man dankbar des Auszugs aus der Knechtschaft gedenken (Deut 5, 15) und aufatmen kann (Ex 31, 17). Auch bei dem nächsten Gebot des Elternrespekts geht es um mein Haus und mein Land. Im Gegensatz zum Land Ägypten ist das Land Israel kein Staatsland (Gen 47, 18 – 22), sondern Stammland (Jos 13, 7 – 19, 51), es wird nicht durch Sklaven (Gen 47, 23 – 25), sondern durch freie Familienverbände bewirtschaftet und vererbt. Darum garantiert die Solidarität zwischen den Generationen etwa bei der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Altersversorgung die Stabilität meines Hauses und meines „Vater“und „Mutterlandes“. Das Haus der Freiheit ist der Kern dieser gegen das „Sklavenhaus“ gerichteten Magna Charta, die die Freigelassenen zu einem freien Volk machte. Dabei sind die Gottesgebote und die Sozialgebote eng miteinander verflochten, denn der Befreier schränkt durch sie meine „pharaonische“ Willkür ein und nimmt die Freiheit der anderen gegen mich in Schutz. Damit wird auch „meine“ Freiheit geschützt, weil mit dem „Du“ jeder andere angesprochen wird, auch derjenige dem ich der Nächste bin. Der Dekalog erweist sich als Vision einer freien Gemeinschaft, eine in Gebotsform artikulierte Utopie. An den Dekalog schließt eine lange Reihe von Rechtsvorschriften (Mischpatim) an (Ex 21, 1 – 23, 19). Dieses so genannte Bundesbuch, beginnt nicht zufällig mit folgender Bestimmung: „Und dies sind die Rechtsvorschriften, die du ihnen vorlegen sollst. Wenn du einen hebräischen Sklaven kaufst, so soll er sechs Jahre dienen, im siebenten aber unentgeltlich in die Freiheit entlassen werden“ (Ex 21,1). Das Verbindungswort „und“ am Anfang des Abschnitts stellt den Zusammenhang mit den zehn Geboten her. Von diesen bezogen sich nicht weniger als vier ausdrücklich auf Sklaven: das I. Gebot lautete: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Lande Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhause“ (Ex 20, 2), das IV. Gebot forderte nachdrücklich auch für Sklaven und Sklavinnen einen wöchentlichen Ruhetag (Ex 20, 9 – 11) und begründet das an einer Stelle mit der eigenen Erfahrung: „dass auch Du ein Sklave im Lande Ägypten gewesen bist“ (Deut 5, 15), das VIII. und das IX. Gebot verbietet schließlich den Menschenraub, der die Sklavenmärkte mit „Menschenmaterial“ versorgte. Es ist daher ganz logisch, dass das altisraelitische Rechtsbuch mit den Rechten und Pflichten von Sklaven beginnt. Gewiss, das ist noch keine Abolition, die Sklaverei war noch lange eine Form der Schuldentilgung, aber die Schuldknechtschaft war, wie die angeführte Bestimmung deutlich macht, zeitlich begrenzt und rechtlich geregelt. In der altorientalischen Literatur kommen Sklaven sonst nur als willenslose Objekte ihrer Herren vor, der himmlische Herr aber stellt sich selbst als Sklavenbefreier vor und gibt den Sklaven Rechtsschutz. Genau genommen schließt das „und“ an eine Bauvorschrift für den Gottestisch an. Ein sprechendes Detail dieser Bauvorschrift weist vielleicht in die gleiche Richtung. Von den Steinen des Altars heißt es, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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sie dürften nicht behauen sein (Ex 20, 21). Das hängt zweifellos mit der biblischen Heiligkeitsvorstellung zusammen, wonach das „Heilige“ das „Unberührte“ ist. Darüber hinaus kann man in den behauenen Steinen aber auch ein Symbol der Sklaverei erblicken. Überall in der alten Welt schliffen Staatssklaven Steinquader und errichteten monumentale Heiligtümer, die von den Touristen noch heute voller Bewunderung besichtigt werden. Die israelitischen Heiligtümer sollten solchen Sklavenbauten nicht gleichen. Nietzsche hatte Recht, wenn er das Judentum eine „Sklavenmoral“ gescholten hat. Das war aus seinem Mund kein Kompliment, denn er bedauerte die von der Bibel verdrängte „Herrenmoral“, die kein schlechtes Gewissen gegenüber Sklaven kannte. Gegen Gott Das Thema ist keineswegs pass¦. Es ist eine traurige, schaurige Ironie der Geschichte, dass das Volk, das den „Sklavenaufstand in der Moral“ angezettelt hat und das mehrmals täglich des Auszugs aus dem Sklavenhaus gedenkt, im 20. Jahrhundert der grausamsten Sklaverei aller Zeiten unterworfen wurde. Im Protokoll der Wanseekonferenz, auf der sich die deutsche Ministerialbürokratie über die Durchführung des Völkermordes an den europäischen Juden verständigte, wird die Versklavung und die Vernichtung durch Arbeit, in den folgenden verklausulierten Sätzen umschrieben: „Unter entsprechender Leitung sollen nun im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist.“16 Was sich hinter diesen 16 Vgl. Mark Rosemann, Die Wansee-Konferenz. Wie die NS-Bürokratie den Holocaust organisierten, dt. v. Kl. D. Schmidt, Berlin 2002, S. 176 f.
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kahlen Sätzen verbarg, kann man am Beispiel der „Durchgangsstraße IV“ in Galizien studieren, wo der deutsche Nachschub nach Südrussland rollte. Für den Ausbau von 160 Straßenkilometern ließen zwischen 1941 und 1943 nach vorsichtiger Schätzung 25 000 „arbeitsfähige“ Juden ihr Leben; ihre als nicht „arbeitsfähig“ eingestuften Angehörigen: Alte, Frauen, Kinder, waren schon zuvor ermordet worden. Wer den mörderischen Arbeitsbedingungen und der Hungerverpflegung nicht standhielt, wurde am Straßenrand kurzerhand erschossen. Als Baumaterial dienten jüdische Grabsteine.17 In der Geschichtswissenschaft ist der Nazibegriff „Vernichtung durch Arbeit“ umstritten, weil zwischen der „Ausbeutung der Arbeitskraft“ und der „Vernichtung“ ein Zielkonflikt zu bestehen scheint, doch im besonderen Fall der Juden wurde die Schwerarbeit gezielt als Vernichtungsmittel eingesetzt. Was den Juden geschah, war nach dem „Generalplan-Ost“ auch anderen slawischen Völker, Tschechen, Polen, Russen zugedacht. Der oberste Sklavenhalter des Dritten Reiches, Heinrich Himmler, begründete die Sklavenarbeit mit wahrhaft pharaonischen Worten: „Wenn wir nicht die Ziegelsteine hier schaffen, wir nicht unsere Lager mit Sklaven vollfüllen, mit Arbeitssklaven, die ohne Rücksicht auf irgend einen Verlust unsere Städte, unsere Dörfer, unsere Bauernhöfe bauen, dann werden wir nach einem jahrelangen Krieg das Geld nicht haben, um die Siedlungen so auszustatten, daß wirklich germanische Menschen dort wohnen“ (vgl. mit der Rede des Pharao, Ex 5,6–19).18 Die deutschen Siedlungsplaner rechneten in Folge der von ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen ungerührt mit 20 bis 30 Millionen Toten im Osten.19 Es ist bestimmt kein 17 Vgl. Thomas Sandkühler, „Endlösung“ in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsinitiativen von Berthold Beitz 1941 – 1944, Bonn 1996, S. 141 – 148. 18 Rede vom 9. Juni 1942 (Auszug), Heinrich Himmler, Geheimreden 1933 – 1945. B. F. Smith, A. F. Peterson (Hg.), Frankfurt/M 1974, S. 158 f. 19 R.-D. Müller, Hitlers Ostkrieg und die deutsche Siedlungspolitik, Ffm 1991, S. 130 ff. I. Heinemann; W. Oberkrome; S. Schleiermacher; P. Wagner: Wissenschaft, Planung, Vertreibung: Der Generalplan Ost der Nationalsozialisten. Katalog zur Ausstellung der DFG, 2006, S. 23.
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Zufall, dass der moderne Sklavenstaat mit der Auslöschung jenes Volkes begann, dass die Sklavenbefreiung zum Kernpunkt seiner Religion und zum Hauptattribut seines Gottes gemacht hat. SSStaat und GULAG beweisen die Modernität von JHWH. Aber dazu bedurfte es gar nicht der Arbeits- und Todeslager des 20. Jahrhunderts. Die Herrenschicht eines Volkes beträgt nie mehr als 10% der Bevölkerung, die verbleibenden 90% können ihre Sache nur auf den Sklavengott stellen. Das erklärt vielleicht die ungebrochene Popularität von JHWH und seiner Botschaft, zu denen sich heute in der einen oder anderen Form ein Großteil der Menschheit bekennen.
4. Wo wohnt Gott? So universal die biblische Botschaft auch ist, ihre Geschichte geht durch das winzige Nadelöhr Israel. Dasein Gottes, das bedeutet in der Bibel nicht nur Zukunftsverheißung, sondern auch Anwesenheit in der Gegenwart, Gott ist nicht überall gleichzeitig und gleichmäßig, er zeigt sich an jeweils bestimmten Orten. Anfangs hatte er noch keinen festen Wohnsitz auf Erden. Obdachlos streicht sein Geist wie der Wind über das Chaos (Gen 1, 2). Dringt gelegentlich der Lärm großer Menschheitskatastrophen zu ihm, kommt er herunter, um nach dem Rechten zu sehen (Gen 3, 8; 11, 5 u. ö.). Die wandernden Väter errichten ihm da und dort Opfertische unter freiem Himmel und laden ihn zum Essen und Trinken ein (Gen 12, 10), er oder ein Bote kommen kurz vorbei und verabschieden sich bald wieder. Länger dauerte der Aufenthalt auf jenem „Gottesberg“, wo er dem Volk erscheint und Monate lang verweilt (Ex 19 u. 20). Nach der Offenbarung des Freiheitsgesetzes und seiner übrigen Gesetze, entscheidet der Befreier noch tiefer herabzusteigen, und sich dauerhaft im „Haus der Freiheit“ niederzulassen: „Sie sollen mir machen ein Heiligtum (Mikdasch), dass ich wohne in ihrer Mitte (WeSchachanti Betocham)“ (Ex 25, 8). Das Verb Wohnen, Schachan, liegt dem Nomen Mischkan, Wohnung, und dem späteren Abstraktum Einwohnung, Schechina, zugrunde, die das Wüstenheiligtum und die Anwesenheit © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Gottes in seinem Volk bezeichnen. Für sein Wohnmobil bestellt Gott ein kostbares Mobiliar: Eine vergoldete Truhe (Aron HaQodesch) mit goldenem Deckel (Kaporet) und goldenen Cherubenthron (Ex 25, 10 – 22), sowie einen bestickten Trennvorhang und goldene Gardinenstangen für das Allerheiligste (Parochet, Ex 26, 31 – 37), einen vergoldeten Brottisch (Schulchan) mit einem goldenen Service für das Heiligtum (Ex 25, 23 – 30), sowie einen goldenen Leuchter mit sieben Lampen (Menora, Ex 25, 31 – 39), nicht zu vergessen, eine goldene Räucheranlage (Misbeach HaQetoret, Ex 30, 1 – 10) für das in der Hitze unter Tierfellen brütende Heiligtum, einen riesigen Herd für den Vorhof (Misbeach HaOla, Ex 27, 1 – 8) und ein großes Waschbecken aus Kupfer (Kijor Nechoschet, Ex 30, 17 – 21). Wenn man die Umstände in der Wüste bedenkt, dann ist das eine prächtige Residenz. Beim Zug durch die Wüste drehte sich buchstäblich alles um diesen Wohnsitz Gottes (Num 1 ff.). Im engsten Umkreis lagerten und marschierten seine Diener aus dem Stamm Levi, außen herum (Num 1, 49 – 53; 3, 44 – 4, 47), im gebührenden Abstand, die übrigen zwölf Stämme (Num 2, 1 – 32). Solche Qubbe genannten tragbaren Kultzelte hat man bei Beduinen noch in unserer Zeit beobachtet. Es stellt sich die Frage, weshalb die sonst eher kurz angebundene Bibel hier so ausführlich wird. Die kleinsten Einzelheiten des Zeltgerüstes, der Kultgeräte und der Priestergewänder werden mit größter Genauigkeit geschildert. Mehr als ein Drittel des zweiten Buches Moses sind diesen minutiösen Beschreibungen gewidmet. Der Laie überliest diese Partien der Bibel. Was, so fragt er sich vielleicht, hat eine Bauanleitung wie von Ikea in der Heiligen Schrift zu suchen? Die verschwenderische Liebe zum Detail hängt sicher damit zusammen, dass für die Priesterschrift (P) der Einzug Gottes in sein Zelt eine Präfiguration, wenn nicht eine Realisation des Reiches Gottes auf Erden ist (Ex 40, 34). Doch ist P hier wie auch sonst keineswegs Partikularist. Hört man nämlich im biblischen Hallraum auf die Echos den Zeltbaus, dann entdeckt man zahlreiche Anklänge an die Beschreibung des Welt© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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baus.20 Nach dem ersten Kapitel der Bibel vollendete Gott die Welt bekanntlich in sechs Tagen und ruhte am siebten Tag. Ebenso heißt es beim Bauauftrag für das Heiligtum, dass Gott sechs Tage auf dem Berggipfel ruhte, ehe er am siebenten Tag Moses dorthin zitierte (Ex 24, 15 – 18) und ihm das fertige Heiligtumsmodell vorführte (Ex 25, 9). Nach dem Schöpfungsbericht läuft jeder der sechs Schöpfungstage nach folgendem Muster ab: Gott befiehlt eine Schöpfung, die er selber ausführt oder ausführen lässt. Ehe er zum nächsten Tagewerk übergeht, benennt, begutachtet oder segnet er das fertige Geschöpf. Bei den sechs Tempelgeräten ist der Ablauf ganz ähnlich (Ex 40, 20 Zum Folgenden vgl. Martin Buber, Der Mensch von heute und die jüdische Bibel (1936), Werke, 2. Band: Schriften zur Bibel, München-Heidelberg, 1964, S. 865 – 67. Franz Rosenzweig, Die Schrift und Luther (1926), Kleinere Schriften, Berlin 1937, S. 158 Vgl. Ferner die neueren Studien von Arthur Green, Sabbat as Temple: Some Thoughts on Space and Time in Judaism, in: Raphael Jospe, Samel Z. Fishman (Hg.), God and Study: Essays and Studies in Honor of Alfred Jospe, Washington 1980, S. 287 – 305. Mosche Weinfeld, Sabbat, Temple, and the Enthronement of the Lord, in: A. Caquot, M. Delcor (Hg.), Melanges bibliques et orientaux en l’honneur de M. Henri Cazelles, Neukirchen- Vluyn 1981, S. 501 – 512. Jon D.Levenson, The Temple and the World, Journal of Religion 64 (1984), S. 275 – 98. Nehama Leibowitz, Studies in Bereshit (Genesis) bis Dewarim (Deuteronomy). In Kontext of Ancient and Modern Jewish Bible Commentary, engl. v. Aryeh Newman, 6 Bde. Jerusalem 1972 – 1980, franz. v. Moche Catane, Benno Gross et Jean Poliatchek, En meditant la sidra. Chemoth „l’Exode“, Paris1985, S. 164 – 168.
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17 ff.). Vor allem der Schluss der beiden Texte über den Weltbau und dem Zeltbau ähneln sich. Als das Schöpfungswerk beendet war, „da sah Gott alles was er gemacht und siehe es war sehr gut“ (Gen 1, 31), danach brach der siebte Tag an: „Vollendet waren“, so fährt die Schrift fort: „der Himmel und die Erde (…). Vollendet hatte Gott am siebenten Tag seine Arbeit, die er gemacht hat“ (Gen 2, 1 – 2), Gott segnete und heiligte den Ruhetag. Kaum zufällig heißt es auch nach der Fertigstellung des Zeltheiligtums fast wortgleich: „Vollendet waren alle Arbeiten an der Wohnung des Zelts der Begegnung. Gemacht hattens die Israelssöhne ganz wie der Herr Moses es geboten hatte, so hatten sies gemacht (Ex 39, 32; 40, 33, Üb. Buber, Rosenzweig). Wie der Weltbaumeister stolz auf sein Werk zurückblickte und es sehr gut fand, so auch der Zeltbaumeister – allerdings ohne Selbstlob: „Da sah Moses die ganze Arbeit und siehe, sie hattens gemacht, wie der Herr geboten hatte, so hatten sies gemacht“ (Ex 39, 43). Dann fordert der Zeltbaumeister wie einst der Weltbaumeister zur Einhaltung des Ruhetages auf (Ex 31, 13ff; 35, 1 ff.) und schließt wie der Weltbaumeister (Gen 2, 3) mit einem Segen (Ex 39, 43). Diese Echos zwischen den Texten sollen den Gedanken nahe bringen, dass die Schöpfung des Zeltes eine Replik der Schöpfung der Welt im Kleinen war – und deren Vollendung. Eine Andeutung darauf fanden die Rabbinen im letzten Wort des Schöpfungsberichtes (Gen 2, 3). Dort heißt es, dass Gott von allem Werk ruhte, das er „geschaffen und gemacht hatte (LaAssot)“. Das Wort „LaAssot“ bedeutet wörtlich: „um zu machen“, nämlich, sagen die Rabbinen, um das Gotteshaus „zu machen“ (PeskR 6). Für die Wohnung, die Gott ihm baute, revanchiert sich der Mensch mit der Wohnung, die er Gott baut, wo er für alle großen Gaben mit kleinen Opfergaben dankt. Sinn und Ziel der Schöpfung von Himmel und Erde ist die Niederlassung Gottes auf Erden, die Verwirklichung des Reiches. Dieses Weltbild lag auch dem Tempel in Jerusalem zugrunde. Der Baubericht des ersten Tempels endet mit der gleichen Schlussfuge wie die Welt- und Zeltschöpfungsberichte. König Salomo hat, so heißt es dort, im Siebenschritt des Schabbatrhythmus, den Tempel in sieben Jahren erbaut (IKön 6, 38b) und vollendet (IKön 7, 51), dann feierte er im siebten Monat (IKön 8, 2) sieben Tage lang (IKön 8, 65). Kein Tempel im Altertum, der nicht „Nabel der Welt“ sein wollte. Den mesopotamischen Tempeln war diese Nabelschau schon im Namen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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eingeschrieben: Dur-an-ki (Band von Himmel und Erde), in Nippur, E-Temen-an-ki (Haus des Fundaments von Himmel und Erde) in Babylon usw. Die Welt-Zelt-Tempel-Parallele muss aber nicht in die partikularistische Richtung, sie kann ebenso gut in die universalistische Gegenrichtung gelesen werden und wurde von P, dem Verfasser des Schöpfungsberichts, wohl auch so gelesen. Die besondere Geschichte Gottes mit Israel wäre so gesehen keine Engführung und Sackgasse, sondern der Anfang seiner Geschichte mit der ganzen Menschheit. Diese universalistische Tendenz soll gerade in seiner Wohnung sichtbar werden, deren Aufbau und Einrichtung in den alten und mittelalterlichen jüdischen Bibelkommentaren in allen Einzelheiten als imago mundi dargestellt wurde.21 In jedem Fall gehört zum alt-, wie neutestamentliche Da-sein Gottes die Spannung von Omnipräsenz und Inhabitation. Qeduscha, Trishagion, Sanctus In der Synagoge wird die Spannung zwischen dem Universalgott und dem Lokalgott in einem regelrechten kultischen Drama ausgetragen, in der Qeduscha, dem Sanctus. In der Kurzform des täglichen Achtzehngebetes ist die Qeduscha ein explosiver Wechselgesang zwischen Vorbeter und Gemeinde. Nachdem Gott als Aufersteher gepriesen wurde, steht die Gemeinde buchstäblich auf, stramm und geostet, und liefert sich einen Wettlauf mit dem Vorbeter durch alle Teile der Hebräischen Bibel. Hier zunächst das Responsorium in der Kurzform des täglichen Gebetes: „Gemeinde, dann Vorbeter: Wir wollen deinen Namen in der Welt heiligen, wie man ihn oben im Himmel heiligt, wie geschrieben steht durch deinen Propheten: ,Und einer rief dem anderen zu und sprach‘: Alle: ,Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen, voll ist die ganze Erde von seiner Herrlichkeit!‘ (Jes 6, 3) 21
Vgl. den Kommentar von Rabbenu Bechaje ben Ascher aus Saragossa (ca. 1255 – 1340) zu Exodus 38, 21. Er führt die einschlägigen Midraschim unter dem Titel Schakul Haja HaMischkan KeNeged Briat HaOlam (TanPekude 2). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Gemeinde, dann Vorbeter: Ihnen entgegen sprechen sie ,gelobt‘: Alle: ,Gelobt sei die Herrlichkeit Gottes von seiner Stätte aus!‘ (Ezechiel 3, 12) Gemeinde, dann Vorbeter: Und in den Worten der heiligen Schrift steht also geschrieben: Alle: ,Herrschen wird der Herr in Ewigkeit, dein Gott, Zion, von Geschlecht zu Geschlecht, Hallelujah‘ (Psalm 146, 10) Vorbeter: Von Geschlecht zu Geschlecht wollen wir deine Größe künden (…)“ Die Qeduscha der Gemeinde eifert in Form und Inhalt der Qeduscha der Engel nach. Wenn „Alle“ nach Jesaja schildern, wie die Serafen einander zurufen, dann verbeugen sie sich nach rechts, nach links und nach vorne, als ob sie selber Serafen wären. Dann brechen sie in das Dreimalheilig aus und wippen dabei auf Zehenspitzen, als ob sie wie die himmlischen Sechsflügler über dem Thron Gottes aufstiegen. Aber diese Doxologie ist eine Paradoxie. Dagegen erheben sich andere Engelsklassen, die, wie wir aus der Qeduscha DeJozer wissen, über sie stehenden Ophanim und Chajot, mit gewaltigem Getöse (Ez 1, 24; 3, 12 f.): „Von seiner Herrlichkeit ist das All erfüllt! Seine Diener fragen einer den anderen: wo (Ajeh) die Stätte seiner Herrlichkeit ist? Ihnen entgegen sprechen sie: ,Gelobt sei die Herrlichkeit Gottes von seiner Stätte aus! (…)“ (Qeduscha zum Mussaf-Gebet). In der Replik spiegelt sich die Erfahrung Ezechiels, welcher Entrückung und Gottesferne erlebt hat. Wäre die ganze Erde voll von Gottes Herrlichkeit, dann würde sich die Frage: „Wo (Ajeh) die Stätte seiner Herrlichkeit ist?“ nicht stellen. Die Antwort ist: „Gelobt sei die Herrlichkeit Gottes von seiner Stätte aus“, besagt, dass Gott nicht überall ist. In diese Antiphon treten Omnipräsenz und Inhabitation auseinander. Der letzte Einsatz des Vorbeters in der Langfassung der Qeduscha: „Von seiner Stätte wende er sich voll Erbarmen und begnadige das Volk (…)“ und die Replik der Gemeinde: „Herrschen wird der Herr in Ewigkeit, dein Gott, Zion, von Geschlecht zu Geschlecht, Hallelujah“, zeigen die messianische Lösung der Spannung an, wenn der Lokalberg Zion, nach dem anderen Wort Jesajas, zum Weltmittelpunkt geworden sein wird, „wenn von
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Zion wird ausgehen die Lehre, und das Wort des Ewigen von Jerusalem“ (Jes 2, 3)
5. Wo bleibt Gott? Wir fahren im Stil der Biographien Gottes von Jack Miles (Gott. Eine Biographie, 1996) und R¦gis Debray (Dieu, un itin¦raire, 2001) mit der Geschichte Gottes im Raum und durch die Zeit fort.22 Unmittelbar nach der Offenbarung auf dem rauchenden Berg (Ex 19, 18) ließ Gott den besagten Erdaltar (Misbeach) errichten, der mit seiner Rauchsäule eine Art mobiler Miniatursinai war,23 dort, so versprach er, wollte er sich überall und jederzeit einfinden. Der Altar wurde in den Mischkan integriert und dieser später in der Wohnung auf dem Zion fixiert (IISam 24, 18 – 25). Doch seine beleidigte Herrlichkeit (Kawod) zog schon bald wieder aus der verunreinigten Wohnung aus, riss sie ab (Churban) und begab sich in ihrem königlichen Viergespann (Merkawa) ins Exil (Ez 1. 8). Dort wurde der Gottesdienst in Synagogen verrichtet, nach einem Ausspruch Ezechiels, ein „Miniaturheiligtum“ (Mikdasch Me’at, 11, 16). Doch gerade Ezechiel stand der neue Tempel bereits maßgenau vor Augen, (Middot, 40 f ), der Einzug der Merkawa (43, 1 ff.) im neuen Jerusalem, das nun „Herrdort“ (H‘ Schama, 48, 35) heißen sollte, schien nah. Bis zum Wiederaufbau des Gotteshauses (Beit Elaha, Esr 1 – 6) musste allerdings das gelesene Heiligtum im Buch der Tora des Moses (Mikra, Esr 8, Neh 8, 8) die Stelle des wirklichen vertreten, zum ersten Mal ließ sich Gott vorläufig in einem Buch nieder. Doch der Wiederaufbau und die Wiedereinweihung (Chanukkat HaBajit) des Tempels lösten das Wohnungsproblem Gottes nicht endgültig. Wie schon beim ersten Tempel waren viele Propheten und Sekten der Ansicht, dass Gott ein reineres, würdigeres Heiligtum verdient hätte (Hen 90, 29; Jub 1, 17; Tempelrolle 11Q 19 Kol 29). In den Augen solcher Apokalyptiker war auch die Zerstörung des zweiten Tempels (Churban Bajit Scheni) 22 Vgl. auch mein Buch Im Garten der Schrift. Wie Juden die Bibel lesen, Regensburg 2006, S. 63 – 67. 23 Ezechiel nennt den Altar: „Harel“, Gottesberg, 43,13 – 17.
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Gotteswerk und Vorspiel zur Landung des wahren Tempels (IVEsra 10, 54; IIBar IV, 1 – 8; Offb 21, 3). Nach der rabbinischen Legende geisterte Gott noch eine Weile seufzend in den Ruinen seines Hauses (bBer 3a), ja, nach manchen Überlieferungen weilt seine Schechina bis heute an der alten Westmauer des Tempels (Kotel Ma’arawi, rEx 2, 2 u. ö.). Doch langfristig musste sich Gott andere, bescheidenere jüdische Unterkünften suchen. Gott, nun selbst „Ort“ genannt (Makom, rGen 68), und darum überall zuhause, wohnte bevorzugt in der Synagoge (bMeg 29a), die allerdings auf den Tempelberg gerichtet blieb (Misrach), im „jüdischen Lehrhaus“ (Bet Midrasch, bMeg 29a), in den „vier Ellen des Gesetzes“ (Arba Amot Schel Halacha, bBer 8a), wo anstelle des Tempels seine „Maße“ (Middot), anstelle der Opfer die Opfergesetze studiert wurden (bMen 110a). Ja, die ganze „Lehre“ (Mischna) richtete sich weiter nach dem Tempel und antwortet hundert Jahre nach dessen Zerstörung auf die erste Frage: „Von welcher Zeit ab liest man das Einheitsbekenntnis am Abend?“ mit: „Von der Zeit an, da die Priester eintreten, um von der Hebe zu essen …“ (mBer I, 1); 7/8 des Traktats über den Versöhnungstag befassen sich in tempelloser Zeit mit dem Tempeldienst. Ferner heißt es, wo immer die Juden Tora lernen, was immer sie lernen, weilt Gott mitten unter ihnen (Schchina Schruja Wenehem, mAw III, 3); er speist mit der jüdischen „Familie“ (Mischpacha), wenn sie auf die Reinheitsgebote achtet und „Worte der Tora“ hören lassen (Diwre-Tora, mAw III, 4). Man könnte auch sagen, dass die Geschichte Gottes in Israel nicht nur eine Reise durch Raum und Zeit ist, sondern auch eine Transformation seiner Daseinsweisen: Misbeach – Mischkan – Mikdasch – Merkawa – Mikra – Mikkdasch Me’at – Misrach – Bet Midrasch – Mischna Middot usw. Diese Substitutionsreihe ließe sich mühelos bis zu den mittelalterlichen „Opferaltären“ der „Heiligen Gemeinde“ (Kehilla Kedoscha) Deutschlands fortsetzen, wo sich die Juden als willige „Holocauste“ (Olot) für Gott hingaben.24 Gewiss, es gab auch im rabbinischen Judentum spirituellere Begriffe von Jerusalem und seinem Heiligtum. Die Sehnsucht bezog sich bei 24 Verf., Die Aschkenasische Spiritualität, in: Peter Dinzelbacher (Hg.), Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, Bd. 2, Hochund Spätmittelalter, Paderborn 2000, S. 375 – 396 u. 481 – 488.
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vielen Mystikern auf das himmlische Jerusalem (Jeruschalajim Schel Mala, bTan 5a) und das himmlische Heiligtum (Bet HaMikdasch Schel Mala, bPes 54a), so pilgerten etwa die in die Geheimnisse der Merkawa vertieften Ekstatiker (Jorde Merkawa) in riskanten Himmelsreisen durch höhere Hallen (Hechalot) zum göttlichen Thron. Jerusalem wird aber im Judentum nicht wie in der christlichen Lehre vom vierfachen Schriftsinn systematisch spiritualisiert.25 Der realexistierende Tempelberg verschwand nie völlig aus dem jüdischen Bewusstsein. Dafür sorgten der jüdische Kalender und das jüdische Gebet. Im jüdischen Kalender gibt es z. B. einen Zyklus (Machsor) von vier Fasttagen, die an die heute zweieinhalbtausend Jahre zurückliegende Zerstörung des 1. Tempels erinnern. Am 10. des hebräischen Wintermonats Tewet im Jahr 588 v. Chr. begann der babylonische König Nebukadnezzar die Belagerung Jerusalems. Im folgenden Jahr, am 17. des hebräischen Sommermonats Tamus durchbrachen seine Truppen die Stadtmauer. Drei Wochen später, am 9. Aw (Tischa BeAw), im August des Jahres 587 v. Chr. ließ Nebukadnezzar den von König Salomon erbauten 1. Tempel und die Stadt niederbrennen und auf den Tag genau wurde im Jahr 70 n. Chr. auch der von König 25 Cassianus, Collationes Patrum (Mönchsgespräche), XIV 8, zit. bei Ernst von Dobschütz, Vom vierfachen Schriftsinn. Die Geschichte einer Theorie, in Harnack-Ehrung (FS zum 70. Geburtstag), Leipzig 1921, S. 3 u. Anm 1.
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Herodes wunderschön renovierte 2. Tempel von den Legionen des Titus niedergebrannt. Bis heute bilden deshalb die drei Wochen zwischen dem 17. Tewet und dem 9. Aw eine Trauerperiode, die „Bejn HaMezarim“, „Zwischen den Bedrängnissen“ genannt wird. Vom Anfang des Monats Aw bis zum 9. Aw gelten verschärfte Trauer- und Fastenvorschriften. In dieser Zeit versagen sich Juden wie beim Verlust eines nahen Verwandten Festfreuden und Leckerbissen. Der 9. Aw ist der Höhepunkt dieser Trauerperiode, es ist der jüdische Volkstrauertag und wird als strenger Fasttag begangen. Danach folgen sieben Wochen des Trostes (Schiwa DeNechemta), aber der Zyklus endet erst am 3. des hebräischen Herbstmonats Tischri mit dem Fasten Gedaljas. An diesem Tag wurde im Oktober des Jahres 587 v. Chr., der von Nebukadnezar eingesetzte Statthalter Gedalja ermordet; damit ging der letzte Rest jüdischer Unabhängigkeit verloren, es begann das siebzigjährige babylonische Exil. Dieser über das ganze Synagogenjahr gelegte Trauerzyklus brennt durch den freiwilligen Hunger die Erinnerung an den Beginn der jüdischen Diaspora ins kollektive Gedächtnis ein. Aber auch vor dem Tischgebet wiederholen Juden täglich Psalm 137: „An den Strömen Babels – dort saßen wir und weinten, da wir Zions Fall gedachten (…). Sollt’ ich deiner vergessen, Jerusalem, so vergesse meine rechte Hand! Kleben soll meine Zunge mir am Gaumen, so ich deiner nicht gedenke“ (1.5.6). Bis heute bitten Juden dreimal täglich in Richtung Jerusalem um den Aufbau des dritten Tempels (Bajit Schlischi): „Herr, unser Gott (…) bringe den Dienst wieder in das Heiligtum deines Hauses, und die Feueropfer Israels“ (Amida, Awoda). Die Emanzipation der europäischen Juden führte zwar zunächst zu einer vollständigen Entlokaliserung Jerusalems. Mendelssohn beschreibt in seinem Hauptwerk unter dem Titel Jerusalem, oder religiöse Macht und Judentum (1783) ein unpolitisches, aufgeklärtes Diasporajudentum – in Berlin oder Wien. Die liberalen deutschen Juden sangen in den nächsten Generationen: „Deutschland ist unser Zion und Düsseldorf unser Jerusalem“, „Der Neckar unser Jordan, Stuttgart unser Jerusalem“ und nannten ihre Synagogen „Tempel“. Angesichts der Krise der bürgerlichen Gesellschaft nahmen Kommunisten wie Ernst Bloch eine Translation vom Lokalberg in Palästina ins damalige Zentrum der sozialistischen Weltrevolution nach Moskau vor: „Ubi Lenin, ibi Jerusalem“. Doch der Antisemitismus zwang die Juden wieder zum Rückzug auf den realen Zion und Zionisten wie Moses © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Hess in seinem Rom und Jerusalem (1862) und Theodor Herzl in Altneuland (1902) brachten die modernen sozialistischen und aufklärerischen Ideale nach Zion zurück. Inzwischen hatten aber längst die Tochterreligionen Jerusalem und den Tempelberg besetzt. Der Kampf um die heiligen Stätten im Heiligen Land ist heute einer der gefährlichsten weltpolitischen Krisenherde.
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Gott im Islam
Einleitung Mitte des Islams und damit auch Ausgangspunkt seiner Rede von Gott ist ein Buch, der Koran, das für Muslime endgültige Wort Gottes; es ist aus muslimischer Sicht Urnorm der Wahrheit und Richtschnur des rechten Lebens. Will man Aussagen über das Wesen, die Existenz und die Erfahrbarkeit Gottes machen, ist es aus muslimischer Sicht zunächst einmal erforderlich, von diesem Buch auszugehen. Der nachfolgende Artikel ist deshalb so aufgebaut, dass in einem ersten Schritt auf Natur und Status des Korans in der islamischen Theologie eingegangen wird (1.), um einerseits zu klären, wie hier Offenbarung gedacht wird und wie das offenbarte Wort Gottes in Beziehung zu Gottes Wesen gesetzt wird. Andererseits soll es um die Frage gehen, inwiefern man die islamische Theologie als Offenbarungstheologie ansehen kann und muss. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, unterschiedliche theologische Schulrichtungen im Islam zu identifizieren, um auf diese Weise die Vielfalt an Einschätzungen in der theologischen Gotteslehre besser verstehen und einordnen zu können. Auf dieser Basis gilt es, in einem zweiten Schritt über Gottes Wesen und Eigenschaften nachzudenken (2.). Abgerundet werden sollen diese Überlegungen dann durch eine Reflexion auf die Möglichkeit der Erfahrbarkeit Gottes, u. a. durch einen Rekurs auf die islamische Mystik, den Sufismus (3.), die eine kurze Auseinandersetzung mit der Frage vorbereitet, ob der liebende Gott Jesu Christi mit dem Gott des Islams identisch ist.
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1. Offenbarung als Grundlage der Rede von Gott Es ist innerislamisch umstritten, ob man die Kategorie Offenbarung tatsächlich sinnvoll in der islamischen Theologie anwenden kann. Eine Antwort auf diese Frage setzt eine Reflexion darauf voraus, was eigentlich genau durch den Koran deutlich geworden ist – bzw. anders gewendet –, was der Koran eigentlich ist. Was genau ist der Status und die Rolle des Korans in der islamischen Theologie? Um diese Frage entspann sich der zweite große theologische Streit in der Geschichte des Islams, der nicht nur den Status des Korans problematisiert, sondern auch die dahinterstehenden Gottesvorstellungen diskutiert. Vordergründig geht es dabei um die Frage, ob der Koran als geschaffen oder ungeschaffen zu glauben ist. Im Hintergrund steht aber nichts weniger als die Frage nach der Rationalität und Verstehbarkeit von Theologie überhaupt. Die hiermit angesprochene Kontroverse besteht im Wesentlichen aus dem Streit zwischen zwei theologischen Schulen: den Mu‘taziliten und den Asch’ariten. Von diesem Streit ausgehend lassen sich bis heute wichtige Eckpfeiler der islamischen Theologie rekonstruieren. Im Folgenden sollen deshalb die inhaltlichen Hauptpunkte dieses Streits zwischen beiden Schulen nachgezeichnet werden, um auf diese Weise einen Ansatzpunkt für die unterschiedlichen theologischen Gotteslehren im Islam zu gewinnen.1
1
Die nachfolgenden Überlegungen im ersten Kapitel dieses Textes folgen im Wesentlichen meinen Ausführungen in Stosch, K.v., Offenbarung. Grundwissen Theologie, Paderborn u. a. 2010, 109 – 119 in Verknüpfung mit Stosch, K.v., Der muslimische Offenbarungsanspruch als Herausforderung komparativer Theologie. Christlich-theologische Untersuchungen zur innerislamischen Debatte um Ungeschaffenheit und Präexistenz des Korans, in: ZKTh 129 (2007), 53 – 74. Dabei versuche ich Anregungen aufzunehmen, die ich zur Überarbeitung meines zuletzt genannten Textes während meines Forschungsaufenthalts an der Harvard Divinity School von Baber Johansen erhalten habe. Ihm möchte ich dafür herzlich danken. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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1.1 Die mu’tazilitische Betonung der Transzendenz Gottes Als Mu’taziliten bezeichnet man eine Gruppe islamischer Theologen aus der Frühzeit des Islams, die sich einerseits methodisch darauf verpflichtet haben, den muslimischen Glauben mit den Mitteln der Vernunft zu verteidigen und somit in der Terminologie griechischer Philosophie verständlich zu machen, und die andererseits in ihrer Entfaltung der Glaubenslehre von der absoluten Transzendenz Gottes ausgehen. Gott übersteige in seiner Einheit, Einzigkeit und Ewigkeit die Verstehensmöglichkeiten menschlicher Vernunft und sei in menschlicher Sprache nicht adäquat aussagbar. Deshalb könne auch der Koran – anders als die Tradition meine2 – nicht als ungeschaffen angesehen werden, sondern sei eine von Gott erschaffene Mitteilung des göttlichen Willens. Die Mu’taziliten hatten ihre Blütezeit zwischen der Mitte des 8. und des 9. Jh. n. Chr., also im 2. und 3. Jahrhundert muslimischer Zeitrechnung, und wurden in dieser Zeit auch stark politisch gefördert. Hintergrund dieses Interesses der Machthaber an einer rationalen Durchdringung des Glaubens war die Tatsache, dass das Kalifat Mitte des 8. Jahrhunderts ein riesiges Gebiet beherrschte, in dem die alten Religionen nach wie vor aktiv waren. Dadurch standen Auseinandersetzungen mit dem Christentum an, aber auch mit dem v. a. im Iran verbreitetem Dualismus sowie mit gnostischem Gedankengut. Die Kalifen erhofften sich an dieser Stelle durch eine mu’tazilitisch geprägte Theologie eine einigende Wirkung auf ihr Herrschaftsgebiet bzw. eine Rationalisierung der im Reich bestehenden Gegensätze. Den Höhepunkt der mu’tazilitischen Macht bildete das Kalifat von Abu l-Abbas Abdallah al-Ma’mun (786 – 833), eines Sohns von Harun ar-Raschid. Al-Ma’mun setzte sich mit persönlichem Eifer für das Aufblühen des Rationalismus ein und förderte nach Kräften die Mu’taziliten. Allerdings verwendete er dabei Mittel, die dem mu’tazilitischen Anliegen nachhaltig Schaden zufügten. Er rief nämlich eine Inquisition ins Leben, die die Bagdader Theologen überprüfen und auf die Lehre von der Geschaffenheit des Korans 2 Die älteste Bezeugung des Glaubens an die Ungeschaffenheit des Korans findet sich bei einer Tradition, die Ibn Abbas (gest. 687) zugeschrieben wird (vgl. Wolfson, H.A., The Philosophy of the Kalam, Cambridge/London 1976, 239).
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verpflichten sollte.3 Wie kein Kalif vor ihm präsentierte sich alMa’mun als Lehrer der Gläubigen und versuchte mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln – also auch der Folter und Morddrohung – das anthropomorphe Gottesbild der Tradition durch das fortschrittlichere, die Transzendenz Gottes betonende der Mu’taziliten zu ersetzen. Prominentestes Opfer des Inquisitionsverfahrens war Ahmad ibn Hanbal (780 – 855), der trotz Auspeitschung und Morddrohung am Bekenntnis zur Ungeschaffenheit des Korans festhielt.4 Ibn Hanbal vertrat dabei keine anspruchsvolle Theologie, sondern lehnte ebenso wie die ihm folgende Rechtsschule der Hanbaliten jeden Gebrauch autonomer Vernunft ab. Dennoch erlangte er dadurch Einfluss, dass er unter Einsatz seines Lebens für die Lehre von der Ungeschaffenheit des Korans und damit für die göttliche Autorität und Dignität des muslimischen Offenbarungsanspruchs eintrat. Ein Kurswechsel fand erst mit dem 10. Kalifen Dscha’far ibn Muhammad al-Mutawakkil (reg. 847 – 861) statt, der den Einfluss der Mu’taziliten immer weiter zurückdrängte. Nach der Zeit der Inquisition gehörte es in der Orthodoxie auch ohne weitere Begründung einfach zum guten Ton, gegen die mu’tazilitische Lehre zu polemisieren.5 In den vergangenen Jahren gibt es dennoch wieder vermehrt liberale muslimische Theologen (wie z. B. Nasr Hamid Abu Zaid), die sich auf die mu’tazilitische Lehre von der Geschaffenheit des Korans berufen und dadurch eine Anwendung der historisch-kritischen Methode zur Erforschung des muslimischen Offenbarungszeugnisses legitimieren. Diese Offenheit wird von islamwissenschaftlicher und von christlich-theologischer Seite meistens sehr geschätzt, so dass das bereits Ende des 19. Jahrhunderts gängige Urteil, dass die Entwicklung des Islams deutlich positiver verlaufen wäre, wenn die Mu’taziliten sich auf lange Sicht durchgesetzt hätten, wieder auflebt.6 3 Vgl. Nagel, T., Geschichte der islamischen Theologie. Von Mohammed bis zur Gegenwart, München 1994, 100 f. 4 Vgl. Paret, R., Der Standpunkt al-Baqillanis in der Lehre vom Koran, in: Ders. (Hg.), Der Koran, Darmstadt 1975, 417 – 425, 419. 5 Vgl. Paret, R., Standpunkt al-Baqillanis, 417 – 425; Ess, J.v., Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam, Bd. 4, Berlin – New York 1997, 629. 6 Vgl. etwa Leuze, R., Christentum und Islam, Tübingen 1994, 163, der an
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Kommen wir nach diesen Vorbemerkungen zur mu’tazilitischen Lehre im Blick auf den Offenbarungsanspruch des Korans. Wie bereits vermerkt ist ein wesentliches Movens mu’tazilitischer Theologie die Betonung der Transzendenz Gottes und die damit verbundene Abwehr von Anthropomorphismen. Die Mu’taziliten stehen damit in der Tradition der Dschahmiyya, ohne deren Radikalität zu übernehmen. Dschahm ibn Safwan (gest. 746) „unterscheidet in seiner Theologie scharf zwischen Gott und allem, was er mit dem Begriff ,Ding‘ belegt. Man dürfe nicht sagen, dass Gott ein ,Ding‘ sei. Das steht durchaus mit dem Koran im Einklang, denn in Sure 39, Vers 63 lesen wir, dass Gott der Schöpfer ,eines jeden Dinges‘ sei, und in Sure 42, Vers 11 heißt es, ihm gleiche ,kein Ding‘. Hieraus ergibt sich, dass auch der Koran geschaffen ist.“7 Charakteristisch für die theologische Strömung der Dschahmiyya ist der Versuch, alle anthropomorphen und dinghaften oder fassbaren Bestandteile des Gottesbegriffs zu tilgen und Gott stattdessen als den ganz und gar Anderen und Grenzenlosen zu fassen. Die Folge ist eine weitgehende Entleerung dieses Begriffs. Außerdem läuft die Dschahmiyya Gefahr „die zu den wesentlichen Zügen des koranischen Gottesbildes zählende SubjektObjekt-Beziehung des Schöpfers zu seinem Werk zu verdecken“8 und die Bedeutung der Riten für den muslimischen Glaubensvollzug aufzulösen. Als Leistung der Mu’taziliten gilt in diesem Zusammenhang, dass es ihnen gelungen ist, „die begriffliche Verklammerung von Diesseits und Jenseits, die durch die Dschahmiyya aufgebrochen worden war, unter strenger Wahrung der Transzendenz Gottes zu rekonstruieren“9. Eine wesentliche Voraussetzung für diese Leistung war dabei die Betonung der Ablehnung der Ungeschaffenheit des Korans. Denn da der mu’tazilitischen Betonung der Geschaffenheit des Korans die Dialogfähigkeit dieser theologischen Richtung festmacht. Auch Küng betont, dass durch die programmatische Entscheidung für die ,Ungeschaffenheit‘ des Korans seine Geschichtlichkeit in den Hintergrund gedrängt werde und einer traditionalistischen Erstarrung und Versteinerung von Recht, Theologie und Exegese Vorschub geleistet wird (vgl. Küng, H., Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft, München/Zürich 2004, 625). 7 Nagel, T., Geschichte der islamischen Theologie, 103. 8 Nagel, T., Geschichte der islamischen Theologie, 105. 9 Nagel, T., Geschichte der islamischen Theologie, 111. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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nach Auffassung der Mu’taziliten nichts Gott gleich ist, gilt für alles, was nicht Gott gleich ist, dass es geschaffen ist, also auch für den Koran. Abu al-Hudail (ca. 750 – 840) etwa expliziert dies so, dass er den Koran als Akzidens bezeichnet, „das des Substrates bedarf: Der Koran als Gottes Wort existiert in einem Buch, im Gedächtnis der Menschen oder in der Rezitation, ja schon vorher irgendwo im Himmel auf der ,wohlverwahrten Tafel‘ – aber immer nur als Akzidens und deshalb geschaffen“10. Er hält also – im Gegensatz zu einigen anderen Mu‘taziliten11 – an der überkommenen Rede von der Präexistenz des Korans fest, lehnt die Behauptung seiner Ungeschaffenheit jedoch strikt ab. Das Festhalten an der Präexistenz des Korans ermöglicht es den so argumentierenden Mu’taziliten die bis heute gängige muslimische Auffassung beizubehalten, dass der Koran nicht auf Erden, sondern im Himmel aufbewahrt wird.12 Der schriftlich fixierte Koran gilt den Muslimen traditionell als identische Abschrift eines bei Gott präexistenten Ur-Korans, der als „Mutter des Buches“ (Sure 43:4) oder „Urbuch“ (Sure 13:39) bezeichnet wird. Die Ablehnung der Rede von der Ungeschaffenheit dieses Buches bedeutet also nicht, dass der Koran nicht als authentische Offenbarung Gottes gesehen wird. 10
Küng, H., Islam, 361; vgl. Ess, J.v., Theologie und Gesellschaft, 617, 625 f.: „Aber es gab andererseits jene ,wohlverwahrte Tafel‘ (al-lauh al-mahfuz), auf der das, was später im Koran stand, seit jeher enthalten gewesen, und die ,Urschrift‘ (umm al-kitab), aus der er vielleicht nur abgeschrieben war“. 11 Dieses Festhalten an der Präexistenz des Korans war unter mu’tazilitischen Theologen keineswegs unumstritten. Spekulativer Grund hierfür war die Frage, welchen Sinn ein ewiges Wort ohne Adressaten haben sollte (vgl. Stieglecker, H., Die Glaubenslehren des Islam, Paderborn u. a. 21983, 81). Die gängige Antwort auf diese Bedenken bestand in der Auskunft, dass das Wort in potentia immer gegenwärtig sei, auch wenn es in actu erst mit der Schöpfung Gestalt gewinne (Leuze, R., Christentum und Islam, 177). 12 Im Hintergrund dieser Auffassung stehen zwei in diese Richtung weisende Koranstellen: „,Es ist ein vortrefflicher Koran (im Original droben im Himmel?), in einer wohlverwahrten Schrift, die nur von Gereinigten berührt wird, (nunmehr als Offenbarung) vom Herrn der Menschen in aller Welt herabgesandt.‘ (Sure 56,77 – 80) Oder an anderer Stelle: ,Es ist ein preiswürdiger Koran (was hier verkündet wird), (im Original droben im Himmel?) auf einer wohlverwahrten Tafel.‘ (Sure 85,21 f.)“ (Küng, H., Der Islam, 100). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Neben der Transzendenz ist es vor allem die Einsheit Gottes, auf die die Mu’taziliten die spekulative Begründung ihrer Lehre von der Geschaffenheit des Korans stützen. Die Einsheit Gottes (at-tauhid) gilt – wie wir weiter unten noch ausführlicher sehen werden – im Islam schulübergreifend als Grundprinzip der Theologie. Der Argumentation der Mu’taziliten zufolge bedroht die Behauptung der Ungeschaffenheit und Präexistenz des Korans das Konzept der Einheit und Einfachheit Gottes, weil nichts Ewiges aus Teilen zusammengesetzt sein könne.13 Im Übrigen sahen die mu’tazilitischen Denker im Bekenntnis zur Ungeschaffenheit des göttlichen Wortes völlig zu Recht eine Parallele zur christlichen Glaubensreflexion, die sie unbedingt vermeiden wollten. Um ihre philosophische Kritik an der Christologie und der mit ihr verbundenen Trinitätslehre aufrecht erhalten zu können, kam alles darauf an, jede Hypostasierung des Korans zu vermeiden und somit auch seine Ungeschaffenheit und vielleicht auch seine Präexistenz zu leugnen. Anders schien ihnen weder die Abgrenzung vom Christentum noch die Treue zum Bekenntnis der Einsheit Gottes möglich zu sein. Rekapituliert man die Überlegungen der Mu’taziliten, so fragt sich, wie auf reflexiver Ebene der ja doch beibehaltene Anspruch auf göttliche Autorität des Korans mit der starken Betonung der Transzendenz Gottes vermittelt wird. Einige Mu’taziliten suchen dieses Problem durch die Übernahme einer nominalistischen Auffassung zu lösen: „Jedes Reden von Gott sei nur ein logischer Zusammenhang menschlicher Wörter und Sätze, die jedoch die Wirklichkeit Gottes und die Realität der Welt nicht ausdrücken.“14 Damit steht allerdings der für Muslime so wichtige Glaubensgrundsatz in Frage, dass der Koran klar, verständlich und deutlich Gottes Wort weitergebe, so dass hier keine überzeugende Vermittlung von Transzendenz Gottes und göttlicher Autorität des Korans geleistet wird. Eine andere, in der Gegenwart weiter verbreitete Möglichkeit zur 13
Wolfson, H.A., The Philosophy of the Kalam, 324. Khoury, A.T., Der Koran, das endgültige Wort Gottes in menschlicher Sprache, in: Bsteh, A. (Hg.), Der Islam als Anfrage an christliche Theologie und Philosophie. Erste Religionstheologische Akademie St. Gabriel, Referate – Anfragen – Diskussionen, Mödling 1994, 285 mit Verweis auf al-Dschubba’i (849 – 917). 14
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Lösung dieses Problems stellt die ethische Rekonstruktion des muslimischen Offenbarungsanspruchs dar, wie sie beispielsweise in der sog. Ankaraner Schule vertreten wird. Als Ankaraner Schule bezeichnet man eine neuere theologische Schule in der Türkei, die u. a. an der Universität Ankara für eine moderne Hermeneutik des Korans eintritt. Ihre ethische Rekonstruktion des muslimischen Offenbarungsanspruchs geht in der Regel von einer Denkfigur aus, die in sehr einprägsamer Weise Fazlur Rahman (1919 – 1988) vorgegeben hat. Rahman sah den Koran als „Handbuch der Ethik, das nicht Einzelanweisungen, sondern Prinzipien bietet“15. Er schlägt folgendes dreischrittiges Verfahren zur Eruierung des rechten Verstehens des Korans vor – ein Verfahren, das die Ankaraner Schule übernommen hat. „Im ersten Schritt gehe es um die Rückkehr in die Offenbarungszeit. Weil sich jede Koranstelle auf Geschichte bezieht, muss man, um die ursprüngliche Bedeutung von Koranstellen festzustellen, jede Stelle in ihrer eigenen geschichtlichen Situation lesen.“16
Ausgehend von der genauen Analyse der geschichtlichen Umstände gelte es dann in einem zweiten Schritt, die hinter den einzelnen Regeln stehenden ethischen Prinzipien zu identifizieren. „Ziel ist […], die universale Botschaft hinter den Urteilen zu fassen zu bekommen, und diese Botschaft auf heute, auf neue geschichtliche Umstände zu übertragen.“17
Diese Übertragung ist schließlich der dritte Schritt. Um diesen Schritt leisten zu können, gelte es zuvor klar herauszuarbeiten, was der Kern 15 Körner, F., Einleitung, in: Ders. (Hg.), Alter Text – neuer Kontext. Koranhermeneutik in der Türkei heute, Freiburg/Basel/Wien 2006, 12. 16 Özsoy, Ö., Die Geschichtlichkeit der koranischen Rede und das Problem der ursprünglichen Bedeutung von geschichtlicher Rede, in: Körner, F. (Hg.), Alter Text – neuer Kontext. Koranhermeneutik in der Türkei heute, Freiburg/ Basel/Wien 2006, 86. 17 PaÅaci, M., Der Koran und ich – wie geschichtlich sind wir?, in: Körner, F. (Hg.), Alter Text – neuer Kontext. Koranhermeneutik in der Türkei heute, Freiburg/Basel/Wien 2006, 67.
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der Texte ist und was als den geschichtlichen Umständen geschuldet zu vernachlässigen ist. Nur wenn dies geschehen ist, kann man die herausgearbeiteten ethischen Prinzipien in angemessener Weise auf Fragestellungen der Gegenwart anwenden und so zu neuen Antworten kommen. Wenn es etwa im Koran heißt, dass Frauen nur halb so viel erben sollen wie Männer, so ist dieser Satz im ersten Schritt in seine historische Entstehungssituation einzubetten. Auch wenn man davon ausgeht, dass Gott diesen Satz gesagt hat, stellt sich die Frage, wem er ihn in welcher Situation und in welcher Absicht gesagt hat. Wenn man sich nun klarmacht, dass die Stammesgesellschaft auf der arabischen Halbinsel zur Zeit der Herabsendung bzw. Entstehung des Korans kein Erbrecht für Frauen kannte, stellt die Regelung des Korans einen enormen emanzipatorischen Fortschritt dar. Wenn man überlegt, dass eine völlige Gleichberechtigung von Frauen an dieser Stelle von den Arabern des 7. Jh. nicht verstanden worden wäre, kann man vermuten, dass die göttlichen Pädagogik in dieser Koranstelle (wenn man denn wie Muslime annimmt, dass Gott der Autor des Korans ist) nicht von dem Prinzip geleitet ist, dass Frauen nur halb so viel wert sind wie Männer, sondern eher von der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Wenn das ethische Prinzip hinter dieser und vieler anderer Koranstellen aber die Gleichwertigkeit von Mann und Frau ist, dann muss diese Stelle auf unsere heutige Gesellschaftsformen übertragen bedeuten, dass Männer und Frauen gleich viel erben müssen.
Will man die Wahrheit des Korans verteidigen, so muss man dieser Lesart zufolge also seine ethischen Grundnormen erarbeiten und verteidigen. Der Kern des muslimischen Glaubens besteht in dieser Deutung demnach in einem rechten Tun bzw. in der durch ihn ermöglichten Rechtleitung, die dazu führt, dass er eine rational verantwortbare Grundorientierung für das gesamte menschliche Leben anbietet. Durch diesen Interpretationsansatz wird in keiner Weise in Frage gestellt, dass der Koran das Wort Gottes ist. Vielmehr könnte man Offenbarung in dieser Spur im Rahmen eines dialogisch-kommunikativen Offenbarungsmodells verstehen und den Koran als Zeugnis der Gespräche Muhammads mit Gott verstehen. Hierzu müsste man jenen Mu’taziliten folgen, die nicht nur die Ungeschaffenheit, sondern aus den oben referierten Argumenten heraus auch die Präexistenz des Korans bestreiten. Auch in dieser Sicht ist es tatsächlich Gott, der im Koran zu den Menschen spricht. Aber er tut dies © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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nicht zeitenthoben mit einem unerschaffenen Wort, sondern indem er auf bestimmte Situationen reagiert. Richtig verstehen kann man den Koran also nur, wenn ermittelt wird, in welche Situation hinein welcher Vers offenbart wurde. An dieser Stelle entstehen allerdings Probleme: Selbst wenn ich bei einer einzelnen Koranstelle den genauen Offenbarungsanlass einigermaßen verlässlich rekonstruieren kann, fragt sich, wie ich aus dieser Beschreibung zu einer normativen Schlussfolgerung kommen kann. Wie kann man aus deskriptiv angelegten Analysen normative Gehalte ableiten? Weiß ich wirklich, dass an der eben beschriebenen Stelle eine Gleichrangigkeit von Mann und Frau angezielt ist oder ist das Ergebnis der Exegese nicht auch sehr vom guten Willen des hoffentlich liberalen Exegeten abhängig? Will man an dieser Stelle das zwangsläufig in der Deduktion der ethischen Prinzipien des Korans enthaltene Willkürmoment tilgen, muss man die verwendeten Prinzipien auch autonom philosophisch begründen. Eben dies scheint der Ankaraner Schule auch vorzuschweben. Die ethischen Prinzipien des Korans sind jedenfalls offensichtlich auch aus der Perspektive autonomer Moral zu gewinnen und genau hieran machen die Interpreten der Ankaraner Schule auch die Vernunftgemäßheit des Korans fest. Damit wird aber die religionskritische Anfrage, ob der Koran nicht als Projektion menschlicher Lebensentwürfe durchschaut werden müsste, virulent. Bestreitet man die Konvergenz (und damit auch die Ableitbarkeit) der ethischen Prinzipien des Korans mit den ethischen Prinzipien der praktischen Vernunft und betont, dass der Koran ein höheres Ethos als die Vernunft fordert, das aus ihr nicht ableitbar ist, gerät man in eine gefährliche Nähe zu fundamentalistischen Deutungen, die selbst Verbrechen als Willen Gottes ansehen. Betont man die autonom philosophische Gewinnbarkeit der ethischen Prinzipien des Korans, gerät man in die etwa bei Lessing zu beobachtende Aporie, dass Offenbarung eigentlich nur noch aus pädagogischen Gründen erforderlich ist. M.a.W.: Entweder der Koran verkörpert nur das Ethische, das dem Menschen auch ohne ihn bekannt wäre, so dass er letztlich überflüssig ist. Oder er widerspricht dem Ethischen und wird dadurch aus der Sicht neuzeitlich-autonomer Vernunft suspekt. Von daher lohnt es sich Alternativen zur mu’tazilitischen Theologie zu prüfen.
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1.2 Die asch’aritische Betonung von Ungeschaffenheit und Präexistenz des Korans In der sunnitischen Tradition des Islams konnte sich die mu’tazilitische Position nicht durchsetzen, auch wenn sie bis heute von vielen liberalen Theologen und Theologinnen vertreten wird. Bereits kurz nach der Blüte der Mu’taziliten im 9. Jahrhundert n. Chr. gewann die Position der Asch’ariten immer mehr an Einfluss und wurde in der Folgezeit bestimmend für die Orthodoxie. Al-Asch’ari (ca. 873 – 935), der Begründer dieser Schule, vertritt inhaltlich die Theologie der Traditionsbewahrer, geht methodisch aber wie die Mu’taziliten vor, d. h. er stellt die rationale Argumentation (kalam) in den Dienst traditioneller Positionen und will gewissermaßen die rationale in die traditionale Theologie aufheben. Allerdings hat die rationale Theologie ihm zufolge keinen Selbstzweck, sondern sie ist nur wegen der vielen Ungläubigen unumgänglich – mit Wittgenstein könnte man sagen: sie hat allein therapeutische Funktion. Al-Asch’ari begründet damit eine Tradition, die in ihrer Weiterentwicklung durch al-Ghazali (1058 – 1111) zur führenden dogmatischen Schulrichtung im sunnitischen Islam wurde, deren Lehren sich bis heute durchgehalten haben. Der Ausgangspunkt der asch’aritischen Überlegungen ist ebenso wie bei den Mu’taziliten die Transzendenz und Einheit Gottes. Zugleich fragen sie auf spekulativer Ebene, ob die Vollkommenheit Gottes zureichend gedacht wird, wenn Gott nicht weitere Vollkommenheit verleihende Eigenschaften wie Allwissenheit, Allmacht und Allgüte zugesprochen werden, zumal diese Eigenschaften auch im Koran ebenso selbstverständlich von Gott ausgesagt werden wie seine Transzendenz. Dadurch tritt die auch in der christlichen Theologie nicht unbekannte Frage auf, wie diese Eigenschaften mit der Einfachheit Gottes zusammengedacht werden können. Die Antwort der Mu’taziliten auf dieses Problem bestand darin, dass Gott selbst diese Eigenschaften sei. So vertritt Abu al-Hudail (ca. 750 – 840) die Auffassung, „Gott wisse vermittels eines Wissens, welches ganz er sei; er sei mächtig zu handeln dank einer Macht, die ganz er sei, die gewissermaßen mit seinem Sein identisch ist.“18 Die 18
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Mu’taziliten weigern sich also kategorisch, eine selbständige Wirklichkeit von Eigenschaften in Gott auszusagen, da sie an keiner Stelle Unterscheidungen in Gottes Wesen eintragen wollen. Sie sprechen zwar von den Eigenschaften Gottes, sie gestehen ihnen aber keine Eigenständigkeit gegenüber Gottes Wesen zu. Wesensmäßig ist Gott ihnen zufolge reine Einheit und damit das Gegenteil von Differenz. Dadurch entsteht das Problem, wie all diese Wesensmerkmale zusammenpassen sollen, wie also Gottes Wesen beschaffen sein soll, wenn es mit dem Wissen, Hören, Sehen, Handeln, aber auch mit der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit identisch sein soll. Leugnet man wegen dieser Schwierigkeit die Ungeschaffenheit der göttlichen Attribute, fragt sich, wieso gerade die Prädikation von Einheit von diesem Verdikt ausgenommen werden soll und eine affirmative Gottesrede wird unmöglich. Ibn Kullab, einer der frühesten Vertreter einer spekulativen Theologie im Sinne der späteren Orthodoxie, ist der erste, der hier einen markanten Gegenentwurf vorlegt und die Identität der Attribute mit Gott in Abrede stellt. Er versteht sie als „,Momente‘ (ma’ani) in seinem Wesen, die ein eigenes Sein beanspruchen können“19. Da diese Momente aber auch nicht von Gott verschieden sein konnten, wollte man sie nicht auf der gleichen Ebene wie beim Menschen verstehen, lehrte Ibn Kullab, dass sie „weder identisch mit Gott noch nicht identisch mit ihm“ sind.20 Bezogen auf die Frage nach der Stellung des Koran eröffnet diese Position die Möglichkeit, den Koran als Gestalt von Gottes Wissen zu verstehen und ihm auf diese Weise immer schon eine eigene, ungeschaffene Wirklichkeit im Wesen Gottes zuzuweisen, ohne die Einheit Gottes in Frage zu stellen. Wie für alle Attribute Gottes gilt auch für 19
Ess, J.v., Theologie und Gesellschaft, 443. Vgl. Ess, J.v., Theologie und Gesellschaft, VI, 404: „Die Namen und Eigenschaften, die Gott um seines Wesens willen hat, sind weder Gott noch sind sie etwas anderes als er. Sie subsistieren durch Gott; es geht (nämlich) nicht an, dass Attribute durch die Attribute subsistieren.“ Ob die Lehre von den ewigen ungeschaffenen Attributen unter Einfluss der christlichen Trinitätslehre entstanden ist, ist in der Forschung umstritten (vgl. nur die voneinander abweichenden Urteile bei Ess, J.v., Theologie und Gesellschaft, 444 und bei Wolfson, H.A., The Philosophy of the Kalam, 241). Ebenso umstritten ist, ob der Gedanke der Ungeschaffenheit des Korans auf christliche Einflüsse zurückgeht. 20
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sein Wort der Grundsatz Ibn Kullabs, dass es nichts von Gott Verschiedenes sein kann, ohne mit ihm identisch zu sein. Dabei unterscheiden die Asch’ariten anders als etwa die erzkonservative Rechtsschule der Hanbaliten zwischen dem geistigen und dem materiellen Wort des Korans. Während das geistige Wort des Korans, also sein Inhalt, ewig in der Wesenheit Gottes existiere, seien die Laute und Worte des Korans ebenso wie seine Rezitation geschaffen und damit lediglich Ausdrucksformen von Gottes Rede. „Der Text des Korans ist ewig und ungeschaffen, der Vortrag seiner Worte ist geschaffen und zeitlich“21. Entsprechend geht beispielsweise der bereits erwähnte Ibn Kullab davon aus, dass die Ausdrucksformen der göttlichen Offenbarung variieren können und dass das, was rezitiert wird, Träger von Gottes Wort ist, während die Rezitation ebenso wie ihre schriftliche Fixierung zeitlich entstanden und damit geschaffen ist.22 Ibn Hanbal dagegen lehnte jede Differenzierung zwischen Koran und dessen Rezitation ab. Entsprechend meinen die Hanbaliten bis heute, dass die Laute und Wörter des Koran selbst ewig sind, so dass auch jede einzelne Koranrezitation in ihrer Sprachlichkeit zwei Naturen hat – eine göttliche und eine menschliche.23 Dagegen gilt den anderen Rechtsschulen der Koran lediglich als der sprachliche Ausdruck des ungeschaffenen ewigen Wortes Gottes, so dass es von seinem Wesen her zwar als ganz göttlich, in seiner Sprache aber zugleich als menschlich angesehen werden kann. Oder noch pointierter – an der christologischen Zwei-Naturen-Lehre orientiert – ausgedrückt: „Der Koran ist gänzlich das Wort Gottes und […] auch gänzlich das Wort Mohammeds“24. Diese auch für Mu’taziliten zustimmungsfä21
Nagel, T., Geschichte der islamischen Theologie, 150. Vgl. Paret, R. (Hg.), Der Koran, 420; Tritton, A.S., The Speech of God, in: Studia Islamica 36 (1972), 13, mit Verweis auf al-Asch‘ari. 23 „Thus, according to Ibn Hanbal, every recited Koran, and hence also every heard or memorized or written Koran, is of a twofold nature, a created one and an uncreated one“ (Wolfson, H.A., The Philosophy of the Kalam, 253). 24 Rahman, F., Islam, Chicago/London 21979, 31 (eig. Übers.); vgl. Talbi, M., Hören auf sein Wort. Der Koran in der Geschichte der islamischen Tradition, in: Bsteh, A. (Hg.), Hören auf sein Wort. Der Mensch als Hörer des Wortes Gottes in christlicher und muslimischer Überlieferung, Mödling 1992, 119: „Der Islam hat seine Mitte im Wort, in einem Wort, das ganz göttlich ist und in 22
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hige Formulierung Fazlur Rahmans macht bereits deutlich, dass der Gegensatz zwischen ihnen und den Asch’ariten an dieser Stelle nicht zu sehr dramatisiert werden und man sich eher auf die Frage konzentrieren sollte, ob die Dignität der koranischen Offenbarung noch in anderer Weise rational rekonstruiert werden kann als durch ihre Rückführung auf ethische Grundprinzipien. Hier scheint mir eine Gelegenheit zu bestehen, die Möglichkeit einer Unerschaffenheit des Korans durchaus zuzugestehen und ihn als direkte Rede Gottes zu verteidigen, indem seine Sprachgestalt aus ästhetischen Gründen auf Gott zurückgeführt wird. Bevor dieser Möglichkeit nachgegangen wird, sollen wenigstens kurz die spekulativen Folgeprobleme der asch’aritischen Position bedacht werden. So fragt sich zunächst einmal auf ontologischer Ebene, wie genauerhin das Verhältnis Gottes zu seinem ungeschaffenen Wort zu denken ist. Kann wirklich noch in einem strikten Sinne die Einheit Gottes gedacht werden, wenn zugestanden wird, dass sein Wort im Koran und die anderen ihm zugeschriebenen Attribute nicht mit Gottes Wesen identisch und doch nicht von ihm verschieden zu denken sind? Und ist es wirklich möglich, strikte Einsheit im Wesen Gottes zu denken, wenn ernst genommen wird, dass er sich offenbart? „Führt nicht, so wird man als christlicher Theologe die islamischen Gesprächspartner fragen müssen, führt nicht die Rede von Gott in seinem Offenbarsein mit Notwendigkeit zu einer Unterscheidung von Gott und Gott?“25 Derartige Fragen, die auch im heutigen interreligiösen Gespräch den Muslimen immer wieder von christlicher Seite gestellt werden, waren den Asch’ariten durchaus bewusst. Ein Beispiel für die Bearbeitung dieser Problemlage bietet Al Taftazani (1322 – 1390), geboren im heutigen Iran und gefördert vom seiner Sprache ganz menschlich. […] Es ist ein Wort, das ganz und gar göttlich ist und in seiner sprachlichen Vermittlung, dem Arabischen, ganz und gar menschlich.“ 25 Leuze, R., Christentum und Islam, 58. „Man sollte sich nicht scheuen, den islamischen Kritikern zuzugeben, dass die Verbindung von göttlicher Einheit und Trinität der christlichen Theologie Schwierigkeiten bereitet und wohl immer Schwierigkeiten bereiten wird. Andererseits müsste aber die islamische Theologie zu der Erkenntnis gelangen, dass die Einheit Gottes nicht so einfach zu denken ist, wie sie behauptet werden kann.“ (Leuze, R., Christentum und Islam, 130). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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mongolischen Herrscher Timur. Für Al Taftazani ist der Koran ewig und ungeschaffen und bringt eine Unterscheidung innerhalb Gottes mit sich, ohne dessen Einheit durch die Sünde der Begesellung (shirk) zu kompromittieren. Denn der ewige und ungeschaffene Koran ist nicht identisch mit dem arabischen Koran. Vielmehr ist diese ewige ungeschaffene Offenbarung Gottes kalam nafsi, sein inneres Wort oder inneres Sprechen, das auch ohne die Schöpfung der Welt vorhanden wäre. Der arabische Koran bildet dieses kalam nafsi nur nach, so dass er als Interpretation dessen erscheint. Al Taftazani beschreibt die Theorie des kalam nafsi folgendermaßen: „Inneres Schweigen muss als Mangel ausgeschlossen werden. Notwendig, ewig und wesentlich gibt es in Gott die Unterscheidung zwischen kalam als Gegenstand von ihm selbst als innerlich Sprechendem. […] Allerdings sagen wir nicht, dass die verbalen Ausdrücke und Buchstaben ewig seien. […] Es ist ähnlich, wie wenn wir sagen, „Feuer ist eine brennende Substanz“ – und dies mit einem Stift niederschreiben. Daraus folgt nicht, dass das Wesen des Feuers in Buchstaben bestünde.“26
Allerdings handelt es sich hierbei um eine Ausnahme. Abgesehen von ihr waren die Asch’ariten von den scheinbar endlosen innerchristlichen Streitigkeiten um Christologie und Trinitätslehre abgeschreckt und sie haben sich nicht auf sie eingelassen, sondern verweisen früher als christliche Theologen auf die Unbegreiflichkeit und das Mysterium Gottes.27 Gott könne wissend genannt werden und in diesem Zusammenhang könne auch die Rede vom Koran verantwortet werden, aber niemand wisse, was das genau heißt, weil Gott unser Begreifen unendlich übersteige – eine Formulierung, die natürlich stark an gegenwärtige Tendenzen der negativen Theologie erinnert. An dieser Stelle gerät die asch’aritische Position allerdings gerade durch ihre Abgrenzung von den Mu’taziliten in Aporien. Konnten die Mu’taziliten noch konsequent darauf beharren, dass die Eigenschaften 26
Hg.
Zit. n. Ipgrave, M., Trinity and Inter Faith Dialogue, 228. 230, übers. v.
27
Vgl. etwa die beschwörende Forderung von Ibn Abbas (gest. 688): „Denkt über alles nach, nur nicht über das Wesen Gottes!“ zit.n. Kholeif, F., Der Gott
des Korans, in: Bsteh, A. (Hg.), Der Gott des Christentums und des Islams, Mödling 1978 (Beiträge zur Religionstheologie ; 2), 70. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Gottes nicht hypostasiert werden dürfen und sich in eine negative Theologie flüchten, ist dieser Ansatz bei den Asch’ariten prekär. Denn sie vertreten nicht nur eine Theologie, in der Gottes Wissen unveränderlich ist, sondern behaupten zusätzlich, dass Gottes Wille nicht von seinem Wissen getrennt werden kann. Da Gottes Macht aber einem Willen dient, der keinerlei Verpflichtung unterliegt und daher auch nicht an Gottes eigene Gebote gebunden ist, die dieser jederzeit ändern kann28, ist es im asch’aritischen Denken kaum noch möglich, verlässliche Rationalitätsstandards zu entwickeln, an denen sich dann die oben erwähnten paradoxen Formulierungen abarbeiten könnten. Im Blick auf die Rede von Offenbarung droht völlig unklar zu werden, wie Offenbarung kriterial geprüft werden kann. Denn gerade, wenn man die spekulative Verdeutlichung des Status des Korans bzw. des in ihm zum Ausdruck kommenden, ungeschaffenen Wortes Gottes in Gott verweigert, wird die Frage nach der Erkennbarkeit des Korans als Wort Gottes geradezu unbeantwortbar.
1.3 Die ästhetische Rekonstruktion des muslimischen Offenbarungsanspruchs bei Navid Kermani Erfolg versprechend scheint mir an dieser Stelle eine ästhetische Rekonstruktion des muslimischen Offenbarungsanspruchs zu sein, wie sie beispielsweise bei dem deutsch-iranischen Islamwissenschaftler und Schriftsteller Navid Kermani vorgenommen wird. Sie geht von der Unnachahmlichkeit des Korans (‘i’dschaz al-qur’an) aus und stellt fest, dass diese in der muslimischen Theologiegeschichte zwar anfangs primär inhaltlich, dann aber mehr und mehr mit der sprachlich-stilistischen Gestalt des Korans begründet wird. Der Ursprung dieses Gedankens liegt in Muhammads Herausforderung seiner Gegner zum Wettstreit, sie sollten doch eine ähnliche Offenbarung wie den Koran hervorbringen. So lange ihnen das nicht gelinge, sei seine Behauptung der Göttlichkeit des Korans berechtigt. Interessant an dieser Begründungsstrategie ist, dass die ihr zugrunde liegende Herausforderung historisch zunächst gar nicht oder 28
535.
Vgl. Gimaret, D., La doctrine d’al-Ash‘arı¯, Paris 1990 (Patrimoines islam),
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zumindest nicht primär die sprachlich-stilistische Ebene im Blick hat, dass sie von den späteren Muslimen aber im Sinne einer ästhetischen Herausforderung verstanden wurde. Spätestens seit dem 10. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung gehört der Glaube, dass es niemand geschafft hat, dem Koran etwas Schöneres, Besseres und Hinreißenderes entgegenzusetzen, zu den identitätsstiftenden Elementen der muslimischen Gemeinden. Zur Logik dieser Art der Begründungsstrategie gehört nicht nur, dass „die Araber den Koran aufgrund seiner stilistischen Vollkommenheit als göttliches Werk anerkannt haben, sondern auch, daß diese Araber das Dichtervolk schlechthin und gerade sie es waren, welche das Sprachwunder eingestehen mußten, dasjenige Volk also, das die Kunst der Beredsamkeit über alles schätzte und nur durch ein sprachliches Wunder überzeugt werden konnte.“29
Vielleicht könnte man insofern die Eigenart der muslimischen Offenbarung in einem personal-dialogischen Verhältnis Gottes zu Muhammad und seinem Volk sehen. Gott teilt sich den Muslimen in einer ästhetisch vermittelten Weise mit, weil er von diesem Volk gerade so verstanden zu werden hofft. Wenn Gott nicht blinden Gehorsam, sondern verstehende Anerkennung will, muss er einem an dieser Stelle empfänglichen Volk auf ästhetische Weise begegnen. Denn – so zumindest die These von Navid Kermani – das religiöse Erkennen ist im Islam ästhetisch vermittelt „als ein Schauder erregendes, Gänsehaut verursachendes Hören einer als schön bezeichneten Rede, […] eine Schönheitserfahrung“30. Wie genau diese ästhetische Besonderheit zu fassen ist, ist natürlich ohne Kenntnisse des Arabischen unmöglich. Der mittelalterliche Denker al-Gurdschani würde sagen, dass die Besonderheit eben in der Struktur der Verse, in der sinnvollen Verknüpfung von Wortzeichen zur Übermittlung einer Intention liege, dass alles eben einfach genau an seinem Platz sei. Vers für Vers gebe es kein Wort, das angemessener oder passender ersetzt 29 Kermani, N., Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 1999, 23. 30 Kermani, N., Gott ist schön, 25 f.
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werden könnte.31 Heutzutage können auch arabisch sprechende Muslime diese These nicht so ohne Weiteres verifizieren, weil sich das Arabische seit dieser Zeit weiterentwickelt hat. Auf diese Weise übernimmt die Ästhetik der Rezitation des Korans stark die apologetische Funktion, die traditionell eigentlich dem Wortlaut des Korans zukommt. Auch wenn wir in diesem Zusammenhang solche Behauptungen nicht prüfen können, so bieten sie doch Anknüpfungsmöglichkeiten für eine Rekonstruktion der muslimischen Offenbarungsbehauptung, die einer philosophischen Prüfung standzuhalten vermag, ohne den Koran auf seine ethische Dimension zu reduzieren und ohne ihn als aus der Vernunft ableitbar anzusehen. Auch von einer Reduzierung auf seine Ästhetik kann schon deshalb keine Rede sein, weil die ästhetische Wirkung nur im Zusammenspiel von Form und Inhalt erreicht werden kann. Es geht also nicht um die Reduzierung des Korans auf seine Ästhetik, sondern um die These, dass die Gegebenheitsweise der Offenbarung im Islam primär ästhetisch vermittelt und entsprechend auf dieser Ebene zugänglich ist. Natürlich darf die Unterscheidung verschiedener Gegebenheitsweisen der Offenbarung nicht dazu führen, die jeweiligen Religionen auf ihre primären Gegebenheitsweisen festzulegen. Auch im Christentum spielen ästhetische Vermittlungsfiguren eine große Rolle, und es wäre eine eigene Untersuchung wert, warum diese Art der Vermittlung gerade in den orthodoxen Kirchen so ausgeprägt ist und gerade in den Kirchen der Reformation so sehr vernachlässigt wird. Ebenso ist gerade der Blick auf die Gestalt Christi ein wichtiges ästhetisches Ereignis, das allerdings eher in der Weise des Sehens als des Hörens beheimatet ist. Umgekehrt stellt auch der Koran kognitivpropositionale Ansprüche, die nicht in das ästhetische Hörerlebnis aufgelöst werden dürfen, sondern gerade in ihm erst angemessen erfasst werden. Eben diese Überlappungen könnten ein entscheidender Grund dafür sein, warum sich Christentum und Islam so sehr in einer Konkurrenzsituation wahrnehmen. Es kann also nicht darum gehen, im Islam eine rein ästhetische Weise der Offenbarung zu sehen und diese von einer rein personalleiblich-sakramentalen Gegebenheitsweise im Christentum abzuset31
Vgl. Kermani, N., Gott ist schön, 256. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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zen. Verzichtet man auf solche einseitigen Pauschalurteile scheint mir für das interreligiöse Gespräch dennoch die Wahrnehmung hilfreich zu sein, dass der Modus der Offenbarung im Islam offensichtlich in erster Linie im Hören zugänglich ist und dabei in der Regel nicht ohne ästhetische Elemente auszukommen scheint. Schon Muhammad selbst bekommt kein Schriftstück ausgehändigt, sondern hört die Offenbarung vom Erzengel Gabriel. Bis heute ist der Koran ein Vortragstext und gewissermaßen die liturgische Rezitation der direkten Rede Gottes. „Gott spricht, wenn der Koran rezitiert wird, sein Wort kann man genau genommen nicht lesen, man kann es nur hören.“32 Entsprechend ist im Islam nicht das Darstellen und Berühren, sondern das Hören im Mittelpunkt des liturgischen Vollzuges: Sein zentraler Kult ist „das Hören oder Aufsagen der göttlichen Rede, die salat, das täglich drei- bis fünfmalige Ritualgebet“33. Das Erleben der Nähe Gottes scheint im Islam durch die Begegnung mit seinem Wort vermittelt zu sein, so dass das Hören des Korans als sakramentale Handlung verstanden werden kann. Nicht umsonst herrschte in der islamischen Welt – anders als im Judentum – lange ein mitunter heute noch zu beobachtendes Misstrauen gegen ausschließlich schriftliche Überlieferungen der Offenbarung. Letztlich war und ist es die von Generation zu Generation immer neu vermittelte mündliche Rezitation des Korans, die die Authentizität der Offenbarung verbirgt und sie neu erlebbar macht. Selbst die Mu‘taziliten geben zu, dass Gott in der Rezitation so zu einem spricht wie zu Mose auf dem Berg Sinai und selbst die Gegner des idschaz nehmen den Koran als Literaturdenkmal sehr ernst – so wie auch von Nichtchristen Jesus wegen seiner Menschlichkeit bewundert wird. Die Rede vom idschaz ist zwar eine apologetische Theorie, die in Theologenstuben geboren wurde, aber erzeugt wurde sie von den Koran-Rezitatoren und ihren Zuhörern und entsprechend kann sie auch historisch-kritisch befragt werden. Dabei ist zu bedenken, dass die besondere ästhetische Gegebenheitsweise der Offenbarung im Islam es nahezu unmöglich machen muss, den Koran zu übersetzen. So wie das Christentum an die jüdische Tradition gebunden ist und ohne sie nicht verstanden werden 32 33
Kermani, N., Gott ist schön, 173. Kermani, N., Gott ist schön, 217. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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kann, kann auch der Koran nicht ohne die arabische Sprache verstanden werden. Die Bedeutung der ästhetischen Dimension des Korans für die Glaubensverantwortung verdeutlicht im Übrigen die Vielzahl von Bekehrungsberichten der muslimischen Tradition, die von einer Metanoia durch das ästhetische Erleben des Wortes berichten.34 Im Christentum ist mir keine Bekehrungsgeschichte bekannt, in der allein das (ästhetisch vermittelte) Hören des Wortes Gottes zur Konversion führt, während die muslimische Tradition voll von Berichten ist, die die Sprachgewalt des Offenbarungstextes illustrieren. Die hier angedeutete ästhetisch perspektivierte Hermeneutik könnte man an dieser Stelle noch weiter ausführen und etwa – wie Enes Karic´ – die Schönheit der klassischen muslimischen Kultur als Kommentar zur koranischen Idee der Schönheit verstehen35. Man könnte die Erfüllung der Scharia als ästhetische Stilisierung des muslimischen Lebensvollzugs einsichtig machen. Und man könnte sogar den muslimisch-orthodoxen Verzicht auf eine Reflexion über das Wesen Gottes als ästhetisch begründete „Geste der Trennung“ (Michel Foucault) begreifen, die die eigene Hingabe an Gottes Selbstzuwendung im Koran verdeutlicht. Diesen Möglichkeiten kann an dieser Stelle aber nicht weiter nachgegangen werden, weil es ja nur darum ging, die islamische Offenbarungstheologie so weit vorzustellen, dass deutlich wird, wie aus ihr Ableitungen über Gottes Wesen und Eigenschaften vorgenommen werden können. Bevor mit derartigen Ableitungen begonnen wird, soll zunächst wenigstens kurz deutlich werden, inwiefern aus muslimischer Sicht auch so etwas wie eine Gotteserkenntnis ohne ein besonderes Offenbarungshandeln Gottes möglich ist.
34
Vgl. Kermani, N., Gott ist schön, 32 f. Vgl. Karic´, E., Essays (on behalf ) of Bosnia, Sarajevo 1999, 199; Khaled Abou el Fadl, Conference of the Books. The Search for Beauty in Islam, Oxford 2001. 35
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1.4 Natürliche Gotteserkenntnis als Verweis auf die Offenbarung Die traditionelle islamische Theologie ist an dieser Stelle ziemlich optimistisch und favorisiert insbesondere die Denkwege, die im Westen unter den Stichworten kosmologisches und teleologisches Argument bekannt geworden sind. Insbesondere den Mu’taziliten war bei aller Wertschätzung der negativen Theologie der Aufweis der Geschöpflichkeit der Welt ein besonderes Anliegen. Und schulübergreifend betont der traditionelle Islam, dass es möglich ist, auch ohne besondere Gotteserfahrungen und Offenbarungserlebnisse zu Gott zu finden. Auch unter modernen Muslimen ist dabei gerade das teleologische Argument weiter beliebt. So betont etwa der bereits erwähnte Reformtheologe Fazlur Rahman, dass es irrational wäre, die gesamte Schöpfung angesichts ihrer enormen Komplexität als reines Zufallsprodukt anzusehen.36 Diese Beliebtheit rührt vermutlich daher, dass sich das teleologische Argument bereits im Koran selbst findet.37 Es ist allerdings schwer einsehbar, wie Gott selbst dafür argumentieren sollte, dass er existiert – noch dazu in einer Zeit, in der so gut wie niemand an seiner Existenz zweifelt. Denn die Araber in vorislamischer Zeit glaubten auch schon an Gott, so dass die Frage des Atheismus nicht die war, mit der sich der Koran auseinandersetzen musste. Der große Streitpunkt war der Monotheismus, nicht der Glaube an Gott als solcher.38 Die Frage nach Gottes Existenz wird von vornherein positiv beantwortet und durch die Plausibilitäten der traditionellen Argumente für die Existenz Gottes untermauert. Von daher kann man sich kaum wundern, dass diese traditionellen Argumente in einer Zeit, in der der Streit um die Existenz Gottes die zentrale Herausforderung darstellt, kaum mehr überzeugen können. Man darf gespannt sein, ob Muslime in den nächsten Jahrzehnten an der probabilistischen Reformulierung der traditionellen Gottesbeweise teilnehmen, wie sie etwa in der analytischen Religionsphiloso36
Rahman, F., Major Themes of the Qur’an, Chicago 1980, 11. Vgl. Berger, L., Islamische Theologie, Wien 2010, 176. 38 Vgl. Beheshti, M.H., The Qur’anic Proof for the Existence of God, in: Shomali, M.A. (Hg.), God: Existence and Attributes, London 2008, 80. 37
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phie z. B. Richard Swinburnes rekonstruiert werden39. Denkbar wäre allerdings auch eine transzendentaltheologische Wendung der islamischen Theologie. So wird bereits in der Gegenwart damit begonnen, die soeben referierten Argumente so zu rekonstruieren, dass man sich klarmacht, dass sich jeder Mensch als der liebend auf die Wirklichkeit ausgerichtete erfährt, ohne dass man diese Erfahrung würdigen könnte, wenn man sie als reine Illusion abtut.40 Menschen erfahren sich in dieser stark an christliche Theologen wie Karl Rahner oder Friedrich Schleiermacher erinnernden Theologie als angewiesen und abhängig,41 und man könnte versuchen, hieraus eine natürliche Theologie zu entwickeln. An dieser Stelle darf man die Autonomie der Vernunft aus muslimischer Sicht aber auch nicht überschätzen. Für Muslime gilt, dass Gott jedem Menschen eine Ur-Offenbarung gegeben hat, so dass bereits Adam als Muslim bezeichnet werden kann und in jedem Menschen ein Ausgreifen nach Gott wirksam ist; die Erkenntnis Gottes ist im Herzen eines jeden Menschen angelegt. Bei aller Bedeutung der traditionellen Gottesbeweise im Islam war doch bereits al-Ghazali nicht mehr im Letzten von ihnen überzeugt.42 Für ihn gilt, dass das Herz des Menschen für die Erkenntnis Gottes unerlässlich ist. „Die Schlüssel der Herzen liegen in der Hand Gottes. Er schließt sie auf, wann er will, wie er will und wodurch er will.“43 Man merkt also, wie die typisch asch’aritische Betonung der Unverfügbarkeit und Souveränität Gottes auch die traditionell starke natürliche Theologie im Islam zurückdrängt. Man könnte diesen Gegensatz allerdings dadurch unterlaufen, dass man die natürliche Gotteserkenntnis als Verweis auf das göttliche Offenbarungshandeln versteht. Eben wegen dieser Verklammerung von natürlicher Theologie und Offenbarungstheologie ist es sinnvoll, bei der Entwicklung der theologischen Gotteslehre im Islam mit dem Offenbarungsgedanken einzusetzen und Gottes Existenz und Wesen aus der Offen39
Erste Ansätze eines solchen Unternehmens sind etwa bei Mehmet Sait ReÅber an der Universität Ankara greifbar. 40 Vgl. Beheshti, M.H., Qur’anic Proof, 96. 41 Vgl. Beheshti, M.H., Qur’anic Proof, 97. 42 Vgl. Berger, L., Islamische Theologie, 176. 43 Al-Ghazali, A.-H.M., Die Nische der Lichter, Hamburg 1987, 4 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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barung abzuleiten. Hierfür sind jetzt die Grundlagen gelegt, so dass im nächsten Abschnitt auf die Frage nach dem Wesen und den Eigenschaften Gottes eingegangen werden kann.
2. Wesen und Eigenschaften Gottes Die Darstellung der mu’tazilitischen und asch’aritischen Theologie im ersten Kapitel sollte deutlich gemacht haben, wie breit im islamischen Denken eine Skepsis gegenüber allen Spekulationen über das Wesen Gottes verankert ist. Dennoch werden Gott schulübergreifend bestimmte Eigenschaften bzw. Attribute zugeschrieben, die je nach theologischer Grundkonzeption unterschiedlich gewichtet werden.
2.1 Einzigkeit und Unvergleichlichkeit Gottes Als wichtigste Aussage des Korans über Gott gilt gemeinhin die Betonung seiner Einzigkeit und damit sein strikter Monotheismus. Meistens wird hierzu auf Sure 112 verwiesen, in der es heißt: „Sprich: Er ist Gott, der Einzige, Gott, der Ewigwährende. Er zeugt nicht und ist nicht gezeugt. Und keiner kann sich mit ihm messen.“ Damit ist nicht nur die Einzigkeit Gottes ausgesagt, sondern auch seine Unvergleichlichkeit, die jede Form der Gleichsetzung mit Gott ausschließt. Aus muslimischer Sicht gibt es in der Schöpfung nichts, das auch nur annähernd Gott ähnlich ist. Dieser radikale Monotheismus wurde erst im Laufe der Offenbarungszeit des Korans zur Leitvorstellung. Während in den ersten Jahren der Entstehung des Korans – bzw. muslimisch gesprochen seiner Herabsendung, also 610 – 615 – die Sozialkritik und eschatologische Aussagen im Vordergrund standen, wurde gegen Ende der mekkanischen Periode (also von 615 bis zum Auszug Muhammads nach Medina 622) die Einschärfung des Monotheismus immer wichtiger. Der Monotheismus stand allerdings insofern in Zusammenhang mit den sozialkritischen Anliegen Muhammads, als der Wohlstand und das Herrschaftssystem Mekkas stark darauf basierte, dass alle Stämme mit ihren je eigenen Göttern an diesem Wallfahrtsort Resonanz fanden. Von daher ist es durchaus berechtigt, wenn © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Befreiungstheologen wie Farid Esack betonen, dass das Prinzip der Einheit und Einzigartigkeit Gottes alle menschlichen Rangunterschiede nivelliert und eine emanzipatorische Bedeutung für die hat, die an den Rand gedrängt sind.44 Denn wenn nur der eine Gott herausgehoben werden darf, müssen sich alle Menschen unter dessen Herrschaft beugen und dürfen sich nicht mehr gegenseitig drangsalieren oder unterdrücken. Entsprechend gilt die Verehrung von Götzen und die damit verbundene Beigesellung von anderen Göttern neben Gott (shirk) als einzige unverzeihliche Sünde im Islam – ähnlich wie die Sünde wider den Heiligen Geist im Christentum. Denn wenn ich etwas anderes neben Gott stelle und Gott damit begrenze, kann Gott nicht mehr Gott sein und seine Einzigkeit ist preisgegeben. Außerdem ist die Menschlichkeit des Menschen gefährdet, wenn dieser sich durch unterschiedliche Beigesellungen neben Gott ermächtigt fühlt, den eigenen Clan anderen Clans gegenüber zu privilegieren. Ein wichtiges philosophisches Argument für die Unvergleichkeit Gottes ist in der islamischen Philosophie der Hinweis auf die Notwendigkeit seiner Existenz. Auch in dem hierdurch gegebenen ontologischen Unterschied von allem Seienden gründet die Ablehnung jeder Form von Beigesellung: Gott allein ist unbegrenzt und er ist die Dimension, die alle anderen Dimensionen ermöglicht.45 Als Urgrund und Schöpfer von allem kann er nicht mit einem einzelnen seiner Geschöpfe verglichen werden, sondern bleibt ihr unaussprechliches Geheimnis. Aus diesem Zusammenhang ergeben sich auch die absolute Transzendenz und die absolute Nähe Gottes. Einerseits ist Gott das absolute Geheimnis, das unverfügbare Wovonher und Woraufhin von allem. Andererseits ist er als Schöpfer in allen seinen Geschöpfen nahe.46 Er würdigt auch jede noch so kleine Tat seiner Geschöpfe und
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Vgl. beispielsweise Esack, F., Qur’an, Liberation and Pluralism. An Islamic perspective of interreligious Solidarity against Oppression, Oxford 1997, 256. 45 Vgl. Rahman, F., Mayor Themes of the Qur’an, 4. 46 Vgl. Shomali, M.A. (Hg.), God: Existence and Attributes, 7: „God is the One and nothing is like Him, but at the same time God is very close and immanent.“ © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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reagiert auf sie.47 Insbesondere auf die Bittgebete seiner Geschöpfe hat er versprochen zu antworten, so dass man sich jederzeit vertrauensvoll an ihn wenden kann. So heißt es in Sure 2:186: „Wenn dich meine Knechte nach mir fragen, so bin ich nahe. Ich erhöre die Bitte des Bittenden, wenn er mich bittet.“ Zugleich darf die Nähe Gottes nicht im Sinne eines Anthropomorphismus missverstanden werden. Wenn im Koran von Gottes Hand (48:10), seinen Augen (11:37; 52:48; 54:14) und seinem Thron die Rede ist, so sind diese Redewendungen zumindest aus mu’tazilitischer Sicht als Metaphern zu verstehen. Aus asch’aritischer Sicht ist es zwar so, dass sie wörtlich ernst genommen werden müssen. Allerdings ist dann eben die Hand so stark verschieden von einer menschlichen Hand, dass der Sinn dieser Rede allenfalls metaphorisch aufgehen kann oder einfach blind geglaubt wird. Auch wenn ein solcher blinder Glaube gegenwärtig von nicht wenigen Muslimen propagiert wird (insbesondere den Salafiten), so bieten die Metaphern der Nähe und Menschenfreundlichkeit Gottes eine enorme Hilfestellung, um Transzendenz und Nähe Gottes zugleich begreiflich zu machen. Eine wichtige Brücke der Einheit und Transzendenz Gottes bei gleichzeitiger Präsenz Gottes in der Welt ist für viele Muslime im Symbol des Lichts gegeben. Laut Sure 24:35 ist Gott „das Licht der Himmel und der Erde. Sein Licht ist einer Nische gleich, in welcher eine Leuchte steht.“ D.h. ausgehend vom Rand der jeweiligen menschlichen Wahrnehmung, ausgehend von Stellen, die ihm gar nicht bewusst sind, erhellt Gott den menschlichen Horizont und ermöglicht es ihm, alles neu zu sehen. Wenn Menschen ihn selbst sehen wollen, werden sie geblendet. Sein Wesen bleibt dem Menschen notwendig verborgen. Aber von seinem Licht her bekommt die ganze Welt erst ihre Farben und ihren Glanz. Als Licht ist Gott von sich aus in seinen Wirkungen sichtbar und leuchtet von sich aus.48 Zugleich ist er die Instanz, die allen Geschöpfen erst Sichtbarkeit ermöglicht. 47
Vgl. Shomali, M.A. (Hg.), God: Existence and Attributes, 31. Falaturi, A., Wie ist menschliche Gotteserfahrung trotz des strengen islamischen Monotheismus möglich? in: Ders./Petuchowski, J.J./Strolz, W. (Hg.), Drei Wege zu dem einen Gott. Glaubenserfahrung in den monotheistischen Religionen, Freiburg 21980, 49. 48
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Entsprechend versteht auch al-Ghazali in seiner berühmten Deutung dieser Koranstelle das Licht „als Ausdruck für das, was an sich selbst sichtbar ist und was durch sich anderes sichtbar macht.“49 Die ganze Schöpfung wird durch das Licht Gottes sichtbar. Sie erscheint geradezu als Selbstmitteilung Gottes, die mit Sinnen, Herz und Verstand wahrnehmbar wird. Mit diesen Überlegungen ist natürlich noch nicht das oben bereits diskutierte spekulative Problem gelöst, wie die Einheit Gottes vermittelt werden kann mit seinen Eigenschaften und mit der Vielfalt der Welt. Es ist auch nicht klar, wie die Transzendenz und Unvergleichbarkeit Gottes dazu passt, dass der Koran sehr konkrete Aussagen über Gott macht. Wie man diese Probleme löst, hängt stark davon ab, wie man die übrigen Eigenschaften Gottes versteht und welche Aspekte man besonders hervorheben will. In der gegenwärtigen Theologie sehen viele Theologen neben der Einheit die Barmherzigkeit als die entscheidende Eigenschaft Gottes an.50
2.2 Barmherzigkeit als Wesenseigenschaft Gottes? Barmherzigkeit ist im Koran die einzige Eigenschaft, zu der sich Gott selbst verpflichtet und der er sich rückhaltlos verschreibt (vgl. 6:12). Es gibt einige Koranstellen und Überlieferungen, die islamische Theologen wie Mouhanad Khorchide zu der Ansicht bringen, dass es sich bei dieser Eigenschaft nicht nur um ein Attribut neben anderen, sondern um die entscheidende Wesenseigenschaft Gottes handelt. So wird beispielsweise in Sure 17:110 der Name Gottes als ebenso anrufungswürdig dargestellt wie die Bezeichnung als absolut barmherzig. Und in Sure 7:56 verwendet der Koran ein Adjektiv im Maskulinum, um sich auf die Barmherzigkeit Gottes zu beziehen, die eigentlich im Femininum bezeichnet werden müsste.51 Da Gott aber im
49
Al Ghazali, A.-H.M., Die Nische der Lichter, 8 Vgl. Shomali, M.A. (Hg.), God: Existence and Attributes, 14, 18. 51 Vgl. zu diesem und ähnlichen Beispielen Khorchide, M., Das Jenseits als Ort der Transformation statt des Gerichts – Eine andere Lesart der islamischen Eschatologie, in: Werbick, J./Kalisch, S./Stosch, K.v. (Hg.), Glaubensgewissheit 50
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Arabischen oft als „Er“ bezeichnet wird, spricht hier viel dafür, dass die Barmherzigkeit Gottes und „Er“, also Gott, als austauschbar und damit weitgehend synonym verstanden werden. Beinahe jede Sure des Korans beginnt mit der Anrufung der Barmherzigkeit Gottes und auch viele fromme Muslime beginnen ihre theologischen Wortbeiträge „im Namen des Allbarmherzigen“. Keine andere Eigenschaft Gottes wird im Koran so oft erwähnt wie seine Barmherzigkeit. 169mal ist von seiner Allbarmherzigkeit die Rede (ar-Rahman) und 226mal von seiner Barmherzigkeit (arRahim).52 Aber auch zahlreiche weitere Namen Gottes im Koran und in der Tradition drücken seine Barmherzigkeit aus, so dass insgesamt 598mal eine derartige Bezeichnung im Koran auftaucht. So wird beispielsweise Gottes unermessliche, nicht berechenbare Gnade gerühmt (14:34; 16:18) und Gott stellt sich im Koran als rabb al-alamin dar. Dieser Begriff wird im Deutschen häufig als „Herr der Welten“ übersetzt; das Wort rabb bedeutet – wie Hamideh Mohagheghi ausführt – im I. Stamm „besitzen, beherrschen“ und im II. Stamm „aufziehen, erziehen und versorgen“. Gott ist also nicht nur Herr im Sinne von Machthaber, sondern als Herr auch Versorger und fürsorglicher Begleiter – eben eine unterstützende Kraft, die dem Menschen „näher ist als seine Halsschlagader“ (50:16).53 Die fürsorgliche Barmherzigkeit Gottes zeigt sich auch schon in der Schöpfungsordnung, genauerhin in der Erschaffung der Natur für den Menschen.54 Gott rüstet den Menschen mit dem aus, was er für ein gutes Leben braucht. In diesem Zusammenhang muss man auch die Barmherzigkeit verstehen, die Gott ausübt, wenn er uns Propheten schickt.55 Barmherzigkeit zeigt sich insbesondere in Gottes Rechtleitung für den Menschen (vgl. 16:64; 44:2 – 6; 45:20). Von daher und Gewalt. Eschatologische Erkundungen in Islam und Christentum, Paderborn u. a. 2011, 38. 52 Shomali, M.A. (Hg.), God: Existence and Attributes, 19. 53 Vgl. Mohagheghi, H., Zum Gottesverständnis in islamischen Gesellschaften, in: Lederhilger, S.J. (Hg.), Die Marke „Gott“ zwischen Bedeutungslosigkeit und Lebensinhalt. 9. Ökumenische Sommerakademie Kremsmünster, Frankfurt/M. u. a. 2007. 54 Vgl. Rahman, F., Major Themes of the Qur’an, 6. 55 Vgl. Rahman, F., Major Themes of the Qur’an. 8 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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kann der Koran insgesamt und mit ihm die Scharia als Ausdruck von Gottes Barmherzigkeit gewertet werden. In einem Hadith des Propheten Muhammad heißt es: „Gott hat seine Barmherzigkeit in 100 Teile geteilt, auf die Erde hat er nur einen Teil davon geschickt, das ist der Teil, der seinen Ausdruck in der Liebe zwischen Eltern und ihren Kindern sowie in der zwischenmenschlichen Liebe findet, die anderen 99 Teile hat er für den Tag der Wiederauferstehung aufgehoben.“56 Die auf der Erde erfahrbare Barmherzigkeit ist also nur ein Bruchteil dessen, was dem Menschen eschatologisch begegnen wird, so dass man fast versucht sein könnte, von einem Leben und Sterben im Vertrauen auf die bedingungslose Barmherzigkeit Gottes zu sprechen. Bei einer solchen Qualifizierung muss man allerdings vorsichtig sein. Die Barmherzigkeit Gottes wird im Koran nicht als bedingungslose Zuschreibung verstanden, die alle anderen Eigenschaften Gottes aufhebt. Selbst in Sure 6:54, einer der zentralen Belegstellen für Gottes Barmherzigkeit im Koran heißt es: „Euer Herr hat sich selber der Barmherzigkeit verschrieben, dass er nämlich dann, wenn jemand von Euch Böses aus Unwissenheit tat, hinterher jedoch umkehrte und gedeihlich handelte, dass er dann bereit ist zu vergeben, barmherzig.“ (Sure 6:54) Offensichtlich will Gott uns nicht mit seiner Barmherzigkeit überschütten, sondern wartet auf unsere Umkehr. Die Barmherzigkeit ist uns versprochen und fest zugesagt. Aber sie gilt uns nicht, wenn wir uns ihr nicht öffnen und sie nicht für uns erbitten. An dieser Stelle kann es vielleicht auch weiterhelfen, die oben bereits erwähnte Unterscheidung zwischen Gott in seiner Allbarmherzigkeit (ar-Rahman) und seiner Barmherzigkeit (ar-Rahim) aufzunehmen. Nach dem Korankommentar von Yusuf Ali meint ar-Rahman Gott in seiner Barmherzigkeit als Grundversorgung jedes Menschen, ohne die Leben gar nicht möglich ist. Diese Form der Barmherzigkeit wäre dann zumindest in diesem Leben unverlierbar und unbedingt. Dagegen wäre die Rede von ar-Rahim Gott in seiner Barmherzigkeit, wie sie konkret für Menschen erfahrbar wird, die sich ihm bewusst zuwenden.57 Diese Unterscheidung würde es erlauben, doch eine unbedingte und bleibende Barmherzigkeit Gottes für alle 56 57
Khorchide, M., Islamische Eschatologie, 44. Diesen Hinweis verdanke ich Muna Tatari. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Menschen zu behaupten, die sich dann noch einmal von seiner liebend-barmherzigen Antwort auf die sich ihm zuwendenden Menschen unterscheidet. Jedenfalls darf man die Rede von der Barmherzigkeit Gottes im Koran nicht von der Betonung seiner Gerechtigkeit lösen. Immer wieder werden im Koran Gottes Barmherzigkeit und seine Strenge im Strafen unvermittelt nebeneinander gestellt (vgl. Sure 5:98). Im asch’aritischen und noch mehr im salafitischen Denken hat das dazu geführt, dass die Barmherzigkeit nicht mehr als verlässliche Wesenseigenschaft Gottes gedacht wird, sondern als Attribut, das den Menschen immer erreichen kann, wenn Gott es will, auf das man sich aber niemals verlassen darf. Letztlich ist es in diesem Ansatz reine Willkür Gottes, ob er uns seine Barmherzigkeit zuwendet oder uns straft. Aus asch’aritischer Sicht kann man nicht einmal sicher sein, dass Gott gutes Handeln belohnt, weil erst von Gott festgesetzt wird, was gut ist und er hier vollkommen frei ist. In unseren auch noch so gut begründeten ethischen Urteilen können wir irren, so dass durchaus denkbar ist, dass auch ein Mensch, der nach menschlichen Maßstäben immer gut handelt, keine Barmherzigkeit bei Gott findet. Im mu’tazilitischen Denken ist ein solches willkürliches Handeln Gottes unmöglich, und man kann sich auf die wohl verdiente Barmherzigkeit Gottes verlassen. Entsprechend der platonischen Philosophie ist hier das Gute gut, weil es gut ist und kann auch von den Menschen mit der autonomen philosophischen Vernunft als gut erkannt werden. Wer also nach menschlichen Maßstäben gut handelt, darf sich auch seines Lohns gewiss sein – vorausgesetzt er ist Muslim. Allerdings wird die Gerechtigkeit Gottes so sehr betont, dass im Zweifelsfall auch die Barmherzigkeit eine gerechte Strafe nicht abwenden kann. Immer wieder wird auf das Gericht verwiesen (vgl. 1:4; 21:47; 38:55 – 59). Gott ist eben auch der, der rächt, nicht nur der, der verzeiht. Aber geleitet ist er aus mu’tazilitischer Sicht immer durch seine Gerechtigkeit. Erst in der neueren islamischen Theologie ist hier eine Öffnung für den Gedanken zu beobachten, dass man die Barmherzigkeit als Eigenschaft aller Eigenschaften Gottes verstehen und damit als Schlüssel für die Gott-Welt-Beziehung ansehen könnte. Entsprechend wird dann auch der Gedanke des Gerichts von seinen Strafaspekten gereinigt und auf eine Transformation des Menschen hin © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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umgedeutet.58 Hier darf man auf die weitere Entwicklung des islamischen Denkens gespannt sein, insbesondere wie eine derart betonte Barmherzigkeit Gottes mit seiner Gerechtigkeit vermittelt wird.59
2.3 Die Vielfalt der Eigenschaften Gottes Es würde den Rahmen eines solchen Artikels sprengen, wenn man alle Namen und Eigenschaften Gottes aufzählen wollte, die in der muslimischen Tradition von Bedeutung sind. Im Zentrum der Schultheologie standen seit jeher folgende sieben Wesenseigenschaften: Macht, Wille, Wissen, Rede, Hören, Sehen und Leben. Diese Eigenschaften wurden allerdings eher aus Gründen Klassischer Metaphysik in den Vordergrund gerückt, als dass sie aus theologischen Gründen so zentral verhandelt werden müssen. Im Folgenden will ich daher weiter die Koranische Spannung zwischen der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes als Fokus der Aufmerksamkeit beibehalten und nur noch einige wenige Eigenschaften Gottes bedenken, die für diese Spannung von zentraler Bedeutung sind. Zunächst einmal ist das sicherlich die Personalität Gottes. Dabei ist das zentrale Moment des Personseins Gottes aus islamischer Sicht, dass Gott eine persönliche Beziehung zu jedem Individuum hat.60 Es geht also nicht darum, Gott als Person in einem menschlichen Sinn anzusehen, sondern ihm die Macht zuzutrauen, sich konkret den Menschen zuzuwenden und sich um sie zu kümmern. Mit dem Stichwort Macht wird eine weitere unverzichtbare Eigenschaft des muslimischen Gottesbegriffs benannt. In asch’aritischer Sicht ist die Allmacht Gottes so zu verstehen, dass buchstäblich jedes Ereignis in der Welt von Gott herbeigeführt wird. So etwas wie Kausalität ist in diesem Denken bloßer Schein. Wenn ich im Feuer verbrenne, dann 58
So beispielsweise bei Khorchide. Vgl. meine entsprechenden Nachfragen in Klaus von Storck, Barmherzigkeit als Leitkategorie für Islamische Theologie?, in: Ders./Mouhanad Kharchide/Milad Karimi (Hg.), Theologie der Barmherzigkeit? Zeitgemäße Fragen und Antworten des Kalam, Münster–NewYork 2014 (Gratuiertenkolleg Islamische Theologie 1), 37 – 53. 60 Shomali, M.A. (Hg.), God: Existence and Attributes, 7; vgl. Shomali, M.A. (Hg.), God: Existence and Attributes, 11. 59
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nur weil Gott das so will. Gott könnte auch jederzeit dafür sorgen, dass Feuer nicht verbrennt. Die hier unterstellte kontinuierlich wirkende Schöpfermacht Gottes entkleidet den Menschen aller schöpferischen Fähigkeiten und reduziert ihn auf den Erwerb der von Gott geschaffenen Handlungen (kasb), ohne dem Menschen eigene Willensfreiheit und Kreativität zuzutrauen. In der modernen islamischen Theologie wird dieses Denken einer Revision unterzogen. In mu’tazilitischer Tradition wird die Freiheit des Menschen betont, um Gottes Gerechtigkeit und Macht richtig würdigen zu können. Das in der islamischen Schultheologie verankerte allgemeine und ständige Schöpferwirken Gottes könnte man so – in der aristotelisch inspirierten Begrifflichkeit der Scholastik – als sein Handeln auf erstursächlicher Ebene beschreiben, das der Freiheit des Menschen auf zweitursächlicher Ebene keinen Abbruch tut. Natürlich könnte Gott jederzeit das Feuer so verändern, dass es keinen Schmerz hervorruft. Aber aus frei gewähltem und gewährtem Respekt vor der Autonomie seiner Schöpfung ermöglicht Gott uns, gesetzmäßige Abläufe in der Natur zu entdecken, die planvolles und sittlich relevantes Handeln allererst ermöglichen. Und deshalb lässt Gott das Feuer eben auch etwas verbrennen, was eigentlich noch nützlich auf der Erde sein könnte, wenn dies von dem von ihm gewährten naturgesetzlichen Ablauf so vorgesehen ist. Eine Eigenschaft Gottes, die insbesondere in der islamischen Befreiungstheologie hervorgehoben wird, ist sein Wirken als Befreier. Dieses emanzipatorische Wirken ist immer wieder explizit auf die Zerstörung lebensfeindlicher Strukturen gerichtet. Insofern wird Gott im Koran genauso wenig wie in der Bibel immer als versöhnend und langmütig beschrieben. Er ist auch der, der Unheilstifter (2:205), Frevler (3:57), Verräter (8:58) und Ungerechte nicht liebt und sie mit schweren Strafen im Jenseits bedroht. Er verweigert seine Liebe und Zuwendung denjenigen, die eingebildet und prahlerisch sind (57:23), Übertretungen begehen (5:87) und Böses sprechen (4:148).61 Ziel ist dabei die Umkehr der Menschen, deren Lebensstil anderen und der Schöpfung insgesamt schadet. An dieser Stelle will der Gott des Ko-
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Vgl. Mohagheghi, H., Gottesverständnis in islamischen Gesellschaften,
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rans Umkehr und ist nicht bereit, den unheilen Zustand der Welt kampflos hinzunehmen. Der Mensch wird so in die Entscheidung gerufen. Gott lädt ihn ein, sich ihm hinzugeben – Hingabe an Gott ist die Bedeutung des Wortes Islam – und also mu‘min zu sein und damit jemand, der sich Gott rückhaltlos anvertraut und seinen guten Willen in diesem Leben umzusetzen versucht. Geht er auf diese Einladung ein, wird der Gläubige Gott als Freund und Vertrauten entdecken (3:68). Dabei kann er sich auf die Liebe zu Gott stützen, die als natürliche Veranlagung immer schon in jedem Menschen angelegt ist62, die ihm aber auch in der Botschaft der Propheten entgegentritt. Geht er auf die Einladung Gottes nicht ein, kann er aber auch ganz andere Seiten Gottes entdecken. Je nach Situation können Gott deshalb sehr unterschiedliche Eigenschaften zugesprochen werden. Diese lassen sich dann verstehen und kohärent interpretieren, wenn man Gott als den Lebendigen, mit dem Menschen in Beziehung Stehenden begreift. Der Koran wird also erst dann als Offenbarung lebendig und Gott durch ihn verständlich, wenn man in ihm und durch ihn Gott erfährt und ihn als den erfasst, der jedem Einzelnen in seinem Leben Rechtleitung geben will. Die Erfahrbarkeit Gottes ist das große Thema der islamischen Mystik, des Sufismus.
3. Mystik und Erfahrungsmöglichkeiten Gottes Angesichts der starken Betonung der Transzendenz Gottes könnte man argwöhnen, dass im Islam kaum Möglichkeiten der Erfahrbarkeit Gottes gegeben sind. Dagegen betont beispielsweise Abdoldjavad Falaturi (1926 – 1996), dass gerade diese Betonung in Kombination mit der Einsicht in die Einheit Gottes ein Weg zu Gott sein kann, weil so ausgeschlossen wird, dass der Mensch sich nur durch einen Mittler abspeisen lässt.63 Denn letztlich kann nur Gott selbst die Sehnsüchte des Menschen stillen, so dass Muslime schon sehr früh und in sehr vielfältiger Weise nach Gotteserfahrungen gesucht haben. Besondere 62
Vgl. Beheshti, M.H., Qur’anic proof, 94. Vgl. Falaturi, A., Menschliche Gotteserfahrung trotz islamischen Monotheismus, 47. 63
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Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang die islamische Mystik. Als einer der ersten Vorläufer der islamischen Mystiker gilt Hasan al-Basri (gest. 728), der angesichts des großen politischen Erfolges der Muslime vor allem im Irak der Verweltlichung des Islams entgegentritt und eine asketische Frömmigkeit predigte und praktizierte. Dhu’n Nun dagegen ist der erste, der dem Welthass der frühen Sufis entgegentritt und überall Fingerzeige auf die Einzigkeit Gottes findet. Annemarie Schimmel unterscheidet in ihren verschiedenen Publikationen zum Thema zwei verschiedene Haupttypen mystischer Erfahrungen, die auch meinen nachfolgenden Überlegungen zugrunde liegen sollen. Auf der einen Seite die „Unendlichkeitsmystik“, der es letztlich um das Einswerden mit Gott geht, sowie die „Persönlichkeitsmystik“, die nicht Aufgehen ins Unendliche erreichen will, sondern die eine dialogische Liebesbeziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf als Zielvorstellung kennt.64 Die Unendlichkeitsmystik stellt einen mystischen Weg dar, der sich auch in anderen Religionen findet – beispielsweise im Advaita Vedanta in der Interpretation des Shankara – und den bereits Plotin denkerisch in seiner auch für den Islam sehr einflussreichen Philosophie erkundet hat. Seine Hauptvertreter im Islam dürften neben alHalladsch (857 – 922) Ibn al-Arabi (1165 – 1250) und Rumi (1207 – 1273) sein. Sein Ziel ist die totale Entwerdung und Einswerdung mit Gott, und er kann sich philosophisch leicht mit einem monistischen Denken verbinden – so etwa bei Ibn al-Arabi.65 Ein schönes Beispiel findet sich bei Rumi und wird in unterschiedlichen Versionen immer wieder in der islamischen Tradition erzählt: „Jemand (der Mystiker) pochte ans Tor des Vielgeliebten (Gott), und eine Stimme im Innern fragte: Wer ist da? – Ich bin es, antwortete er. Und die Stimme erwiderte: In diesem Haus ist nicht Raum für mich und dich. Und das Tor blieb geschlossen. Da ging der Gläubige in die Wüste, fastete und betete in der Stille. Ein Jahr danach schlug er von neuem ans Tor, und
64
Vgl. Schimmel, A., Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus, München 1985, 16 – 43. 65 Vgl. Peters, F.E., Art. Allah, in: Esposito, J. (Hg.), The Oxford Encyclopedia of the Islamic World, Oxford 2009, 129. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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die Stimme fragte wieder: Wer ist das? Der Gläubige antwortete: Du bist es. Da öffnete sich das Tor.“66 Die Schwierigkeit der Unendlichkeitsmystik für die islamische Orthodoxie besteht darin, dass in ihr der Welt und dem Menschen keine eigene Wirklichkeit zugebilligt wird und das für den Koran konstitutive Gegenübersein Gottes eigentlich nicht mehr gedacht werden kann. Auch wenn bestimmte östliche Meditationstechniken auch im Sufismus rezipiert werden und so Wege der Entwerdung des Ichs auch im Islam populär machen, bleibt dieser Weg der Unendlichkeitsmystik innerislamisch immer umstritten. Akzeptabler erscheint vielen die sog. Persönlichkeitsmystik. In ihr geht es um eine Sehnsucht nach Verschmelzung mit Gott, die aber als zumindest innerweltlich bleibend unerfüllbar charakterisiert wird. Als Hauptvertreter könnte man Dschunaid (830 – 910), al-Ghazali (1058 – 1111) und Naqshband (1318 – 1389) bezeichnen. In unterschiedlichsten literarischen Zeugnissen wird das Wechselspiel der leidenschaftlichen und leiderfüllten Liebe des Menschen zu Gott in seiner Schönheit und Einzigartigkeit beschrieben.67 Vergleicht man die Grundidee der Persönlichkeitsmystik mit der der Unendlichkeitsmystik, so kann man das mit dem Bild des Eisens im Feuer tun. Während sich aus Sicht der Unendlichkeitsmystik der Mystiker in Gott auflöst, so dass sich jede Unterscheidung als Schein entpuppt, ist der Mystiker im Sinne der Persönlichkeitsmystik wie ein Eisen im Feuer ganz vom Feuer durchglüht, aber in der Substanz doch immer noch Eisen. Deshalb darf der Rausch des Mystikers etwa in der Sicht von Naqshband nicht der Endzweck sein, sondern muss als bloß trügerisch entlarvt werden. Denn auch mit noch so großer Sehnsucht und meditativer Anstrengung kann die Grenze zwischen Geschöpf und Schöpfer nicht eingerissen werden. Ein besonders prominentes Beispiel dafür, dass viele Mystiker sich allein der Liebe Gottes hingeben möchten, ist Rabi’a al-‘Adawiyya (gest. 801). Sie schreibt in einem viel zitierten Ausspruch: 66
Khoury, A.T., Art. Mystik, in: Ders./Hagemann, Ludwig/Heine, Peter, Islam-Lexikon. Geschichte – Ideen – Gestalten, Bd.2, Freiburg 1991, 578 f. 67 Vgl. etwa die Geschichte von Madschnun und Leila, die schön zusammengefasst wird bei Aslan, R., Kein Gott außer Gott. Der Glaube der Muslime von Muhammad bis zur Gegenwart, Bonn 2006, 216 – 220. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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„O, mein Herr, wenn ich dich anbete aus Furcht vor der Hölle, so verbrenne mich in ihr, und wenn ich dich anbete in der Hoffnung auf das Paradies, so verbanne mich daraus, aber wenn ich Dich anbete um Deiner selbst willen, so verberge nicht vor mir Deine ewige Schönheit.“68
In dieser Sicht wird die Begegnung mit Gott das zentrale Moment der eigenen Frömmigkeit und selbst der Koran tritt gegenüber dem Erleben Gottes in den Hintergrund: „Warum, so ein Sufi-Meister, warum sollte man seine Zeit damit verschwenden, einen Liebesbrief (nämlich den Koran) zu lesen, wenn der Geliebte anwesend ist, der ihn geschrieben hat?“69
Im Sufismus ist also die Liebe zwischen Gott und Mensch das Fundament der Schöpfung; die Liebe ist das Wesen Gottes.70 Sie bleibt in der Welt zwar im Letzten unerfüllt, ist aber dennoch die letzte Antriebskraft und Sehnsucht des Glaubenden. Die intime Liebe des Mystikers zu Gott wird auch sehr schön in dem nachfolgenden Gedicht Rabi’as deutlich: „Du bist mein Atem, Meine Hoffnung, Mein Gefährte, Meine Sehnsucht, Mein ganzer Reichtum. Ohne Dich – mein Leben, meine Liebe – Hätte ich nie diese unendlichen Länder durchwandert […] Überall suche ich Deine Liebe – Dann plötzlich erfüllt sie mich. O Herr meines Herzens, Strahlendes Auge der Sehnsucht in meiner Brust, Nie werde ich von Dir frei sein, Solange ich lebe. Sei Du zufrieden mit mir, Geliebter, Dann bin auch ich zufrieden.“71 68
Zit. n. Stölting, Mystik, 320. Aslan, R., Kein Gott außer Gott, 223. 70 Vgl. Aslan, R., Kein Gott außer Gott, 232. 71 Zit. n. Aslan, R., Kein Gott außer Gott, 233 f.
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Auch wenn die Rede von einer wechselseitigen Liebe zwischen Mensch und Gott durchaus Anhaltspunkte im Koran vorweisen kann (vgl. 5:54), findet ihre derart emphatische Betonung nur geringen Rückhalt im Koran. Dennoch ist sie auch in ihrer ekstatischen Dimension fest in der Tradition der islamischen Mystik verankert und könnte eine wichtige Brücke zum Gott der Liebe sein, den Jesus von Nazareth gepredigt hat.
4. Allah als der Gott Jesu Christi? In den vergangenen Jahren hat sich in der christlichen Theologie die Diskussion darüber zugespitzt, ob sich der muslimische und der christliche Glaube auf denselben Gott beziehen.72 Auch auf muslimischer Seite betonen gerade Salafiten die Differenz der Gottesbilder beider Religionen, indem sie den Gott des Islams durch das arabische Wort „Allah“ bezeichnen. Diese auch in der christlichen Theologie immer wieder praktizierte Form terminologischer Abgrenzung ist allerdings schon aus etymologischen Gründen unsachgemäß. Denn zum einen ist das Wort „Allah“ vermutlich eine Zusammensetzung aus dem bestimmten Artikel al (der, die, das) und dem Wort elah oder ilah. Ilah kommt von a-la-ha, was so viel wie Anbetung bedeutet.73 Für Elah gibt es verschiedene Definitionen: Jemand, bei dem der Mensch Zuflucht findet, jemand, zu dem der Menschen Zuneigung empfindet, oder ein Dasein, das im Verborgenen existiert.74 Keine dieser Definitionen erlaubt es, diesen Gottesbegriff spezifisch nur für den Islam zu reservieren. Zum anderen – und dieser Grund scheint mir der eigentlich durchschlagende zu sein – war der Begriff „Allah“ schon vor der Herabsendung des Korans üblich auf der arabischen Halbinsel, und 72
˘
Vgl. nur Körner, F., JHWH, Gott, Allah: drei Namen für dieselbe Wirklichkeit?, in: ThPQ 158 (2010), 31 – 38 und Volf, Miroslav (Hg.) Do we worship the same God? Jews, Christians, and Muslims in Dialogue, Grad Rapids-Cambridge 2012. 73 Shomali, M.A. (Hg.), God: Existence and attributes, 13. 74 Vgl. da¯iratul ma¯rife islamı¯ (=große islamische Enzyklopädie), Teheran 2001, B.10, 79. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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zwar sowohl bei Juden, Christen und Hanifen als auch bei polytheistischen Arabern.75 Schon in vorislamischer Zeit wurde „Allah“ als Hauptgott in Mekka verehrt und als einziger Gott nicht durch Bilder verehrt.76 Gerade dieser gemeinsame Begriff erlaubte es dem Koran mit den Angehörigen anderer Religionen um Gott zu streiten.77 Ganz offensichtlich bricht der Koran nicht völlig mit den vorislamischen Gottesvorstellungen, korrigiert sie aber, insbesondere durch die Ablehnung jeder Form von Beigesellung (shirk). Auch heute noch beten arabischsprachige Christen zu „Allah“, weil sich dieser Begriff für den einen Gott in der arabischen Sprache durchgesetzt hat. Von daher ist es nicht sinnvoll, eine Differenz in der Gottesvorstellung zwischen Islam und Christentum dadurch ausdrücken zu wollen, dass man im Deutschen das Wort „Allah“ verwendet, wenn man vom Gott des Islams sprechen will. Unabhängig von dieser etymologischen Frage besteht allerdings die sachliche Frage, ob man sagen kann, dass sich Christen und Muslime in ihren Gebeten auf denselben Gott beziehen. Diese Frage lässt sich allerdings nicht allgemein beantworten. Sowohl aus muslimischer als auch aus christlicher Sicht ist Gott ein jedem Menschen personal zugewendetes Wesen, das zu ihm in eine Beziehung treten will und den Menschen durch seine Rechtleitung bzw. durch seinen Heiligen Geist einlädt, seinen guten Willen zu tun. Gott ist also nur in personalen Beziehungen zugänglich und präsentiert sich den Menschen in einer großen Vielfalt. Schon innerislamisch gibt es genauso wie innerchristlich eine ungeheure Vielfalt von Gottesbildern. Beschreibt ein Muslim Gott als einen solchen Willkürgott, wie er in der asch’aritischen Tradition oft gesehen wird, oder als derart abstraktes und transzendentes Prinzip wie es in der mu’tazilitischen Tradition die Regel ist, so dürfte es für die meisten Christen schwierig sein, in diesem Gott den Gott Jesu Christi zu sehen, der sich in unbedingter Liebe und Barmherzigkeit für die Menschen zugänglich gemacht hat und sie durch ihr Leben begleiten will. Wird entsprechend der oben beschriebenen neueren Ansätze in der islamischen Theologie Gott 75
Vgl. Izutsu, T., God and Man in the Koran. Semantics of the Koranic Weltanschauung, Tokio 1964, 95 – 119. 76 Vgl. Peters, F.E., Art. Allah, 127. 77 Vgl. Izutsu, T., Semantics of the Koranic Weltanschauung, 96, 98. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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aber von seiner Barmherzigkeit her gedacht, wäre es christlicherseits eher möglich, in ihm den Gott zu erkennen, der sich auch in Jesus von Nazareth ein für alle Mal als vorbehaltlose Zusage an den Menschen offenbart hat. So wie JHWH aus christlicher Sicht als der Gott Jesu Christi identifiziert wird, ohne dass man Juden ein Bekenntnis zu Christus abverlangen könnte, wäre es bei einer derart gestalteten islamischen Theologie möglich, auch den Gott des Korans als Gott Jesu Christi zu identifizieren. Eine spannende Frage für die Zukunft wird dabei sicherlich sein, inwiefern die moderne islamische Theologie bereit ist, ihre Gottesvorstellung auch durch die Zeugnisse von JHWH und Jesus von Nazareth in der Bibel bereichern zu lassen. Wünschenswert wäre es aus christlicher Sicht, wenn Muslime sich dazu durchringen könnten, ihren älteren Geschwistern im Glauben ebenso einen eigenen Wert einzuräumen, wie dies Christen nach den langen Wirrungen des Antijudaismus gegenüber den Juden auf breiter Front im 20. Jahrhundert getan haben.
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Einleitung Hindus betrachten ihre Religion gerne als die älteste unter den großen religiösen Traditionen. Ein Grund hierfür liegt darin, dass die frühesten Teile der Veden – eines später als Offenbarung ewiger Wahrheit verehrten Textkorpuses – vermutlich bis in die Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends zurückreichen.1 Man könnte den Hinduismus allerdings ebenso gut auch als die jüngste der sogenannten Weltreligionen ansehen. Denn die Vorstellung, dass es sich bei der Vielfalt der religiösen Traditionen Indiens um so etwas wie eine einzige zusammengehörende Religion namens „Hinduismus“ handelt, ist ein Kind des 18./19. Jh. n. Chr. und entwickelte sich erst seitdem zum Selbstverständnis der „Hindus“.2 Es waren einflussreiche Ge-
1 In Indien des öfteren anzutreffende Vorschläge, die Anfänge der Veden noch weiter, das heißt in die Industal- bzw. Harappa-Kultur, zurückzudatieren, haben bisher keine allgemeine Zustimmung gefunden. Vgl. Malinar, A., Hinduismus (Studium Religionen), Göttingen 2009, 30 ff. 2 Britische Kolonialbeamte führten den Begriff „Hindooism“ als religiöse Sammelbezeichnung für jene zahlreichen religiösen Gruppierungen Indiens ein, die sich weder dem Islam, noch dem Sikhismus, weder dem Buddhismus, noch dem Jainismus, noch anderen deutlicher konturierten Traditionen zuordnen ließen. Der Terminus „Hindus“ hatte zuvor geographische Bedeutung und bezeichnete zunächst die Bewohner des Indus-Beckens und dann die ganz Indiens. Ab dem 15./16. Jh. findet sich der Terminus auch als Sammelbezeichnung für jene Nicht-Muslime, die indischen Religionen angehören. Siehe hierzu auch: Michaels, A., Der Hinduismus: Geschichte und Gegenwart, München 1998, 27 – 47; Lipner, J., On Hinduism and Hinduisms: The way of the banyan, in:
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stalten des Neo-Hinduismus, die diese Entwicklung bewusst lancierten. So versuchte beispielsweise Vivekananda (1863 – 1902) in vielen Reden, seine Landsleute davon zu überzeugen, dass sie – ungeachtet aller Verschiedenheit in Kultus, Sitte und Glaubensvorstellungen – allesamt Mitglieder einer einzigen gemeinsamen Religion, eben des Hinduismus, seien.3 Dessen zentrales Charakteristikum bestehe gerade in seiner inneren Vielgestaltigkeit bzw. darin, diese Vielfalt im Sinne einer verborgenen Einheit und Harmonie zu deuten, auch und besonders im Hinblick auf die zahlreichen unterschiedlichen Götter und Gottesbilder. Genau dies führt Vivekananda bereits auf die Veden zurück, in denen es mit Blick auf unterschiedliche Götter heißt: „Sie nennen (es) Indra, Mitra, Varun. a, Agni, und es ist der himmlische Vogel Garutmat. Was nur das Eine ist (oder: das eine Seiende) (ekam sad), benennen die Redekundigen vielfach. Sie nennen es Agni, Yama, Ma¯taris´van.“4
Im Folgenden sollen einige Merkmale hervorgehoben werden, die der Gottesbegriff in den als „Hinduismus“ bezeichneten Traditionen gefunden hat und in denen sich sowohl seine Vielgestaltigkeit als auch wiederkehrende Grundmotive zeigen.
1. Die vielen Götter und die eine Gottheit In den Veden begegnet man zahlreichen Gottheiten (m.: deva, fem.: devı¯). Häufig sind diese Götter unterschiedlichen Aspekten oder Kräften der naturhaften, sozialen und kultischen Wirklichkeit zugeordnet. So ist beispielsweise Su¯rya der Sonnengott, Us. as die Göttin der Morgenröte, Va¯yu der Wind und Rudra (später S´iva) eine Mittal, S./Thursby, G. (Hg.), The Hindu World, New York, London 2007; Malinar, A., Hinduismus, 15 – 25. 3 Als typisches Beispiel siehe Vivekananda, The Common Bases of Hinduism, in: The Complete Works of Vivekananda. Mayavati Memorial Edition, Bd. 3, Calcutta 1989. 4 R. g Veda 1,164,46. Zit.n.: Mehlig, J. (Hg.), Weisheit des alten Indien, Bd. 1: Vorbuddhistische und nichtbuddhistische Texte, München 1987, 61. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Sturmgottheit, der besondere Zerstörungskraft innewohnt. A¯pas ist der Gott des Wassers, Pr.thivı¯ die Göttin der Erde, Dyaus der Gott des Himmels, Yama der Gott des Todes usw. Soziale Phänomene sind repräsentiert durch Götter wie etwa Aryaman, den Gott der Gastfreundschaft und Heiratsverbindungen, Varun. a, der über die soziale Ordnung wacht, Mitra, den Gott des Vertrags usw. Einen deutlichen Bezug zur kultischen Wirklichkeit zeigen zum Beispiel Va¯c, die Göttin der Sprache und des heiligen Wortes, Agni, der Feuergott, der die Opfergaben verbrennt und so in den unsichtbaren Bereich der Götter bringt, Soma, der Gott jenes Rauschtranks, der seinen Konsumenten in die Welt der Götter entrückt usw. Der in den vedischen Texten begegnende Polytheismus lässt weder eine eindeutig abgegrenzte Anzahl noch eine systematische Ordnung der verschiedenen Gottheiten erkennen. Was ihre Hierarchie betrifft, so finden sich unterschiedliche Modelle: Beispielsweise kann im henotheistischen Sinn eine bestimmte Gottheit als die höchste hervorgehoben werden. Wem dieser Rang jeweils zugesprochen wird, variiert jedoch in den verschiedenen Hymnen. Besonders häufig trifft es allerdings auf Indra zu, der wiederholt als „König der Götter“ erscheint. Auch monotheistische Tendenzen werden in den Veden greifbar, nämlich dort, wo eine bestimmte Gottheit den anderen nicht nur an Rang und Machtfülle überlegen erscheint, sondern als Schöpfer der Welt, einschließlich der Götter, vorgestellt wird, so dass der Schöpfergott von allen anderen Göttern qualitativ unterschieden ist. In mehreren Hymnen wird diese, den letzten Ursprung bildende Gottheit als ausgesprochen geheimnisvoll dargestellt. Es ist eine Wirklichkeit „jenseits des Himmels und jenseits der Erde, jenseits der Götter, […] worin alle Götter mit eingerechnet sind“, eine Wirklichkeit, die die Geschöpfe nicht zu finden vermögen (R. g Veda 10,82,5ff ). Nur als der eine Ursprung von allem lässt sie sich bezeichnen (R. g Veda 10,129,1 f.6): „Nicht war das Nichtseiende und nicht war das Seiende damals. Nicht war der Luftraum noch der Himmel darüber. Was strich hin und her? Wo? In wessen Obhut? Was war das unergründliche, tiefe Wasser? Nicht der Tod noch die Unsterblichkeit war damals; nicht gab es ein Anzeichen von Tag und Nacht. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Perry Schmidt-Leukel Es atmete nach eigener Satzung ohne Windzug dieses Eine (tad ekam). Irgendein anderes als dieses war weiter nicht vorhanden. […] Wer weiß es gewiss, wer kann es hier verkünden, woher sie entstanden, woher die Schöpfung kam? Die Götter (kamen) erst nachher durch die Schöpfung dieser (Welt). Wer weiß es denn, woraus sie sich entwickelt hat?“5
Als besonders einflussreich sollte sich eine Vorstellung erweisen, die die monotheistischen Tendenzen in eine monistische Richtung lenkte und in der die Schöpfung als kosmisches Opfer gedeutet ist. Nach dem sogenannten Purus. a Mythos (R. g Veda 10,90) bildet die gesamte sichtbare und unsichtbare, sterbliche und unsterbliche Wirklichkeit einen einzigen Organismus, den Purus. a. Dieser vereint beide Geschlechter, denn aus dem maskulinen Purus. a wird die feminine Viraj geboren und aus ihr wiederum der Purus. a. Dieser Purus. a wird von den Göttern geopfert. Aus dem im Opfer zerteilten Organismus entsteht die Welt mit all ihren unterschiedlichen Aspekten: Aus ihm geht die kultische Welt mit den vedischen Texten und Opfersprüchen ebenso hervor wie die soziale Welt mit der Hierarchie der vier Grundkasten: Die Priester (Brahmanen) entstehen aus dem Mund des Purus. a, die Kaste der Adligen und Krieger (Ks. atriya) aus seinen Armen, der Nährstand (Vais´ya) aus seinen Schenkeln und schließlich die Diener (S´u¯dras) aus seinen Füßen. Doch auch die Natur mit Erde, Luft, Himmel und allen Tieren entspringt dem Opfer des Purus. a und schließlich sogar die Götter selbst. Der paradoxe Mythos, demzufolge die Götter aus jenem Opfer hervorgehen, das sie selber vollziehen – der seine Parallele darin findet, dass das Weibliche aus dem Männlichen und das Männliche aus dem Weiblichen entsteht –, lässt sich wohl dahingehend deuten, dass es sich bei der Schöpfung um das Produkt einer göttlichen Selbst-Opferung handelt: Das Eine zerteilt sich, um so die Vielfalt der Wirklichkeit hervorzubringen, doch geht es dabei nicht verloren, sondern bleibt die alle Vielfalt durchziehende eine Wirklichkeit. All diese Tendenzen des Polytheismus, Henotheismus, Monotheismus und Monismus kehren als Grundmotive hinduistischer Got5
Mehlig, J. (Hg.), Weisheit, 68 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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tesvorstellungen häufig wieder. Besondere Prominenz erlangte das monistische Motiv zunächst in einem Teil der vermutlich zwischen dem siebten und zweiten vorchristlichen Jahrhundert entstehenden Upanis. aden. Es handelt sich hierbei um Texte, die – worauf im nächsten Punkt nochmals zurückzukommen sein wird – teilweise in erheblicher Spannung zu den älteren Veden stehen, aber dennoch von der Tradition schließlich als das „Ende der Veden“ (veda anta = Veda¯nta) der Sammlung der Veden eingeordnet und als Offenbarung ihres tiefsten, verborgenen Sinnes aufgefasst wurden. Beigetragen hat hierzu wohl auch, dass sie im Gottesverständnis eine deutliche Kontinuität zu Auffassungen zeigen, wie sie schon im Purus. a Mythos greifbar sind. Das Eine, so heißt es in der Cha¯ndogya-Upanis. ad (6,2,3), „will vieles sein“. Ausdrücklich werden die „drei und dreihundert und drei und dreitausend“ (= 3306; eine symbolische Zahl) Götter, die für die unterschiedlichen Kräfte und Aspekte der Welt stehen, als Kräfte und Erscheinungsformen einer einzigen göttlichen Wirklichkeit gekennzeichnet.6 Auf dieses Eine verweisen die Upanis. aden vor allem mit dem Wort brahman, das vormals die Wirkungskraft der vedischen Hymnen bezeichnete. Während alles veränderlich und somit vergänglich ist, ist Brahman das allein Unvergängliche. Es ist frei von allen Kennzeichnungen, die auf die einzelnen Gegebenheiten dieser Welt zutreffen, und daher ist es mit nichts vergleichbar. Als der alles tragende Grund der Wirklichkeit wohnt Brahman zugleich jedoch allen einzelnen Teilen der Wirklichkeit als daseins- und identitätsstiftende Kraft und in diesem Sinn als das eigentliche oder wahre Selbst (a¯tman) inne. Brahman kann auf personale wie auf impersonale Weise vorgestellt werden, d. h. als höchste Gottheit und/oder als höchstes Sein, doch letztlich ist es „nicht dies, nicht das“.7 Insofern es mit nichts vergleichbar ist, ist es einzigartig, ist „das Eine ohne ein zweites“8. Wer es zu kennen glaubt, der kennt es nicht, nur wer es nicht erkennt, der kennt es.9 Auch die henotheistischen und monotheistischen Tendenzen der 6
Br. hada¯ran. yaka-Upanisad 3,9,1 – 9. ˙ Br. hada¯ran. yaka-Upanisad 4,5,15. ˙ 8 Cha¯ndogya-Upanisad 6,2,1. ˙ 9 Kena-Upanisad 3,11. ˙ 7
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Veden pflanzten sich weiter fort, nicht selten ohne deutliche Unterscheidung von einer monistischen Matrix. Besonders in den jüngeren Upanis. aden sowie in den großen Epen des Maha¯bha¯rata und des Ra¯ma¯yan. a, die über einen längeren Zeitraum hinweg (vmtl. 4. Jh. v. Chr. – 4. Jh. n. Chr.) entstanden, und schließlich in den zahlreichen Pura¯n. as (mehrheitlich wohl erst ab dem 4. Jh. n. Chr.) treten nicht nur immer wieder neue Gottheiten auf, sondern einige ältere, in den Veden nicht unbedingt zentrale Götter, wie Vis.n. u und S´iva (ehemals Rudra), werden nun zu Hochgottheiten oder nehmen gar die Rolle eines monotheistisch verstandenen Alleingottes ein.10 Auch einige weibliche Gottheiten rücken teilweise zu dieser Position auf. Wie bereits der Purus. a nicht ohne Viraj, seinen weiblichen Part, gedacht wird, so haben auch Vis. n. u und S´iva jeweils eine als Gemahlin vorgestellte weibliche Seite, die die göttliche schöpferische Energie (s´akti) symbolisiert: S´ri-Laks.mı¯ bei Vis. n. u und Pa¯rvatı¯ bei S´iva. Weibliche Gottheiten, wie etwa die beiden oft miteinander identifizierten Göttinen Durga¯ und Ka¯lı¯, können jedoch auch unabhängig von ihrer Assoziation mit einer männlichen Gottheit den Platz des höchsten Gottes einnehmen und in diesem Sinn als das Brahman verstanden und verehrt werden. In kultischer und theologischer Hinsicht lassen sich somit, je nachdem welche Gottheit jeweils als höchste oder eigentliche Repräsentation Brahmans angesehen wird, drei große Stränge unterscheiden, auch wenn diese in der Praxis nicht immer und in jedem Fall eindeutig voneinander getrennt sind: der Vis. n. uismus (mit Vis. n. u als Brahman); der S´ivaismus (mit S´iva als Brahman) und der S´a¯ktismus (mit einer Göttin, einer ´sakti, als Brahman). Nicht selten werden weiteren Göttern unterschiedliche Funktionen und Aufgabenbereiche zugeordnet. Zudem mögen sie als einer Hauptgottheit untergeordnete Gottheiten erscheinen oder auch mit dieser teil-identifiziert werden, indem sie als Verkörperungen einer letztlich dem einen Gott zugeordneten Kraft oder Funktion gelten. Ein besonders prominentes Beispiel für eine funktionale Zuordnung unterschiedlicher Götter bzw. göttlicher Kräfte ist das Folgende: Vermutlich im Zusammenhang mit dem Reinkarnationsglauben (siehe unten unter Punkt 2) entwickelte sich die kosmologische Vorstellung einer zyklischen Abfolge von neu entstehenden und nach 10
Vgl. die hilfreiche Übersicht in Michaels, A., Hinduismus, 235. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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einer gewissen Dauer wieder vergehenden Welten. Das schöpferische Wirken Gottes wurde dementsprechend auf alle drei Phasen bezogen, so dass es in Gestalt des Gottes Brahma¯ (nicht zu verwechseln mit dem brahman) als das Hervorbringen, in der Gestalt Vis. n. us als das Erhalten und in der S´ivas als das Zerstören (offensichtlich ein Nachwirken seiner frühen Identität als Rudra) der jeweiligen Welt vorgestellt wird. Es handelt sich dabei aber nicht um das Werk von drei Göttern, sondern um die durch drei Gottheiten repräsentierten unterschiedlichen Wirkweisen des einen Gottes. Sehr oft wird die Einheit des Göttlichen in der Vielfalt seiner Erscheinungen auch durch die Konstruktion weitreichender und keineswegs immer einheitlich dargestellter Verwandtschaftsbeziehungen zum Ausdruck gebracht. Beispielsweise handelt es sich bei dem populären, elefantenköpfigen Gott Gan. es´a um eine ursprünglich selbständige Gottheit, die in einer kleineren Strömung des Hinduismus sogar als höchster Gott verehrt wird. Meist wird er jedoch S´iva bzw. dessen Gemahlin Pa¯rvatı¯ zugeordnet, als deren Sohn er gilt. In funktionaler Hinsicht ist er vor allem der Herr der Hindernisse und wird als effektiver Beseitiger von Hindernissen jeglicher Art verehrt. Damit ist er ein Symbol für die Macht Gottes, sowohl Hindernisse zu errichten als auch zu überwinden. Weitere Verwandtschaftsbeziehungen bringen zusätzliche Aspekte zum Ausdruck. So hat Gan. es´a nach einigen Erzählungen zwei Gattinen, Buddhı¯ und Siddhı¯, deren Namen seine Verknüpfung mit religiöser Weisheit und übernormalen Fähigkeiten anzeigen. Nach vergleichbarem Muster wurde im Laufe der Zeit eine unüberschaubare Menge von lokalen Gottheiten in das indische Pantheon integriert. Sie gelten als Träger besonderer Funktionen, als Verwandte bekannterer Gottheiten oder auch als lokale Manifestationen derselben. Ein weiteres, insbesondere im Vis. n. uismus anzutreffendes Relationsmuster unterschiedlicher Gottheiten besteht im Gedanken der Inkarnation oder Herabkunft (avata¯ra) Gottes.11 Ursprünglich selbständige Götter, wie Kr..sn. a oder Ra¯ma, werden als Avata¯ras des Hochbzw. Alleingottes Vis. n. u verehrt. In der Bhagavadgı¯ta¯ (4,6 – 8), deren Entstehung möglicherweise in das 1. Jh. v. Chr. zurückreicht, offen11 Vgl. hierzu insbesondere Parrinder, G., Avatar and Incarnation. The Divine in Human Form in the World’s Religions, Oxford 1997.
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bart Vis. n. u durch Kr. s. n. a, dass er, der ungeborene und unwandelbare Gott, vermittels seiner übernatürlichen Schöpfer-/Zauberkraft (ma¯ya¯) dennoch von Zeit zu Zeit als wandelbare Gestalt geboren wird, um die vom Verfall bedrohte Wahrheit/Ordnung (dharma) neu aufzurichten, die Guten zu belohnen und die Bösen zu vernichten. Insgesamt zählt die vis. n. uitische Theologie zehn Avata¯ras, deren letzter der zukünftige Kalkin ist, der einst durch die endgültige Vernichtung der Buddhisten und Jainas das Goldene Zeitalter einleiten wird. Die zehn Avata¯ras sind nicht allein von menschlicher Gestalt und auch die Zahl „zehn“ ist nicht im strengen Sinn zu nehmen. Sie weitet sich nämlich durch die bereits genannten Muster der Identifikation, TeilIdentifikation und Verwandschaftsverhältnisse. So gesellen sich zu Kr. s. n. a und Ra¯ma ihre Gefährtinnen Ra¯dha¯ und Sı¯ta¯, die teilweise ebenfalls als Avata¯ras sowie als Verkörperungen des weiblichen Prinzips Gottes gedeutet werden. Aber auch Avata¯ras können ihre eigenen, quasi Sub-Avata¯ras haben, ja letztlich kann jeder Mensch zum Avata¯ra werden, indem – und in dem Maße wie – er/sie transparent wird für die jedem innewohnende göttliche Wirklichkeit.
2. Gott als Grund des Heils In den älteren Teilen der Veden zeigt sich eine stark auf das innerweltliche Wohlergehen ausgerichtete Religiosität. Den Göttern werden nach vedischer Vorschrift Opfer dargebracht, damit sie Naturkatastrophen verhüten, gute Ernte und Erfolg bei Viehzucht und Handel gewähren, männliche Nachkommenschaft schenken, vor Krankheit bewahren, die Liebe entflammen lassen usw. Letztlich geht es bei all dem um die Bewahrung einer kosmischen Ordnung (zunächst als r.ta, später vornehmlich als dharma bezeichnet) mit dem Ziel, allgemeines Gedeihen und Wohlergehen zu ermöglichen. Das Opfer ist den Göttern (bzw. dem Göttlichen) geschuldet, aber ebenso schulden diese daraufhin dem Opfernden ihren Beistand. Vorstellungen über ein Leben nach dem Tod sind in den älteren vedischen Texten nur schwach ausgeprägt. Wer seine Pflicht erfüllt und gemäß der kosmischen Ordnung lebt, darf erwarten, nach dem Tod in den Bereich der Ahnen und Götter einzugehen, wohin ihn Agni, der Feuergott, verbringt. Die Lebensziele der frühvedischen Religion © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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wurden von der Tradition unter drei Stichworten zusammengefasst: Es gilt, der kosmischen Ordnung des dharma zu entsprechen (besonders durch Erfüllung der kultischen und sozialen, kastenspezifischen Pflichten), um somit artha (Wohlstand/Macht) zu erlangen, was wiederum Lebensgenuss, ka¯ma (Sinnenfreuden), ermöglicht. Der vielleicht fundamentalste Wandel in der indischen Religionsgeschichte ereignete sich mit der breiten und radikalen Infragestellung dieses Konzepts durch die sogenannten S´raman. a-Bewegungen, die in Indien ab etwa dem 6. Jh. v. Chr. auftreten. Aus ihnen gingen nicht nur jene indischen Religionen hervor, die wie der Jainismus und der Buddhismus die Veden ablehnen. Vielmehr beeinflussten und veränderten sie auch in maßgeblicher und bleibender Weise alle weiteren, sich nach wie vor auf die Veden beziehenden, indischen Traditionen. Einen deutlichen ersten Niederschlag dieses Prozesses bilden die bereits genannten Upanis. aden. Mit den S´raman. a-Bewegungen trat in Indien der Reinkarnationsglaube auf, dessen genaue Wurzeln nach wie vor unklar sind. Der Glaube an zahlreiche, ja letztlich unzählige Wiedergeburten nahm den drei vedischen Lebenszielen ihre Plausibilität und Attraktivität und bedrohte damit fundamental die mit diesen Zielen verbundene kultische Praxis und soziale Ordnung. Lohnt es sich noch, nach Wohlstand und Sinnenfreuden zu streben, wenn sich endlos ein Leben an das andere reiht? Wenn sich dabei zugleich alles als vergänglich und wandelbar erweist? Wenn jedes dieser Leben doch wieder nur maximal dieselben Genüsse zu bieten hat, ansonsten aber vor allem immer wieder die Erfahrung von Leid und Vergänglichkeit bereitet? „Wie ein Frosch in einem wasserlosen Teich“ fühlt sich, wer die beständige Vergänglichkeit der sich endlos fortzeugenden Existenzen erkennt.12 Das Streben nach Wohlstand und Genuss vermag aus dieser Perspektive nicht wirklich zu befriedigen. Opfer und Pflichterfüllung führen nur zu neuer Wiedergeburt, doch nicht zu bleibender Erfüllung.13 Diese kann allein vom Eingang in das Unsterbliche, in den göttlichen Grund aller Dinge und damit von der Befreiung aus dem Kreislauf der Geburten (sam . sa¯ra) erwartet werden. 12
Vgl. Maitra¯yan. a-Uanisad 1,3 – 4. ˙ Vgl. z. B. Br. hada¯ran. yaka-Upanisad 3,8,1 – 12; Mun. daka-Upanisad ˙ ˙ ˙ 1,2,8 – 13. 13
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Die Bindung an den sam . sa¯ra resultiert jedoch gerade aus dem Begehren der in ihm erhältlichen Güter. Die Einsicht in deren letztlich unbefriedigenden Charakter stellt somit bereits den Beginn der Befreiung dar. Die endgültige Befreiung ist das Resultat der völligen Überwindung des auf die Welt und Weltliches gerichteten Begehrens in der erlösenden Erkenntnis bzw. in der Erfahrung des Göttlichen, des Brahman. Möglich ist diese befreiende Erkenntnis aufgrund der Gegenwart des Brahman als des eigenen wahren Selbst, des A¯tman.14 Erlangt wird sie auf dem Weg der asketischen Abkehr vom weltlichen Leben. Die Ablehnung der vedischen Lebensziele von artha und ka¯ma und die Umdeutung des dharma im Sinne einer Erlösungsordnung durch die S´raman. a-Bewegungen beinhaltete eine immense Herausforderung. Wenn Wohlstand und Sinnesgenuss verpönt werden und das einzig wahre Ziel, für das es sich zu leben lohnt, die endgültige Befreiung von der Wiedergeburt ist, die nur auf dem Weg der Abkehr vom weltlichen Leben erreicht werden kann, so ist damit in fundamentaler Weise die Ordnung der Gesellschaft bedroht, die nun einmal auf der Erfüllung sozialer Pflichten, der Teilhabe am wirtschaftlichen Leben und der Fortpflanzung beruht.15 Viele der weiteren Entwicklungen in den religiösen Vorstellungen Indiens lassen sich als Reaktionen auf diese Herausforderung interpretieren. Einige der wichtigsten seien hier kurz angedeutet, da sie auch von Bedeutung für das Verständnis der Weiterentwicklung des Gottesbildes sind. Besonders markant ist, dass in nahezu16 allen Reaktionen auf die 14
Vgl. z. B. Br. hada¯ran. yaka-Upanisad 4,4. Darin unterscheiden sich die ˙ Upanisaden allerdings von anderen S´raman. a-Gruppierungen. Zwar streben ˙ auch Jainas und Buddhisten nach der Befreiung vom Sam . sa¯ra sowie nach dem wahrhaft Unvergänglichen, doch wird dieses nicht im Sinne der Bahman-A¯tman Lehre verstanden. Letztere ist vielmehr besonders im Buddhismus Gegenstand sarkastischer Kritik. 15 Vgl. hierzu besonders Krishna, D., The Problematic and Conceptual Structure of Classical Indian Thought about Man, Society and Polity, Delhi 1996, 36 – 53. 16 Eine signifikante Ausnahme hiervon bilden allein die sogenannten Ca¯rva¯kas, jene indischen Materialisten, die den vedischen Lebenszielen von artha und ka¯ma treu bleiben, den dharma aber nunmehr völlig diesseitig verstehen und jeden Glauben an Götter sowie an ein Leben nach dem Tod ablehnen. „Be© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Herausforderung durch die S´raman. as deren Auffassung von der qualitativen Überlegenheit des jenseitigen Heils über das innerweltliche Wohlergehen akzeptiert wird, einschließlich der Auffassung, dass das höchste Heilsziel mit der Befreiung (moks. a) vom Kreislauf der Wiedergeburten verknüpft ist. Eine Reaktion bestand – wie oben bereits vermerkt – in der Integration der von den Vorstellungen der S´raman. as beeinflussten Upanis. aden in die Veden als der Enthüllung ihres eigentlichen, tieferen Sinns17 und damit zugleich als ihr Abschluss, ihr „Ende“. Dies ermöglichte zugleich die Abgrenzung von jenen aus den S´raman. as hervorgegangenen religiösen Gruppierungen, die wie die Buddhisten und Jainas die Veden verwarfen. Ob eine bestimmte religiöse Richtung die Veden formal als „Offenbarung“, als ´sruti (das „Gehörte“ im Sinn von „die von den vedischen Sehern vernommene Wahrheit“), anerkannte oder nicht, wurde fortan zu einem in Indien geläufigen Unterscheidungsmerkmal18 – und zwar völlig unabhängig davon, wie jemand den Inhalt der Veden im Einzelnen interpretierte. Der sozialen Herausforderung der S´raman. as begegnete man im Wesentlichen auf zweifache Weise: Zum einen durch die Hinausschiebung der endgültigen Befreiung, zum anderen durch die Verinnerlichung und Spiritualisierung der mit dem Befreiungsstreben verbundenen Weltabkehr. Ersteres geschah auf zwei unterschiedlichen Wegen: Einer bestand darin, den Reinkarnationsglauben mit dem im vedischen Brahmanismus wurzelnden Kastensystem zu verknüpfen und zwar mittels einer Neuinterpretation des „Karmas“. Während karman (= „Handlung“) ursprünglich die Wirksamkeit einer speziellen „Handlung“, nämlich des Vollzugs des vedischen Rituals mit einem bestimmten Ziel, bezeichnete, wird es nun auf den Vollzug des Lebens schlechthin ausgedehnt. Wer „gut“ handelt – was freiung“ von allem Leid ist ihnen allein der als Vernichtung gedachte Tod. Vgl. Sharma, C., A Critical Survey of Indian Philosophy, Delhi ND 2009, 40 – 47; Radhakrishnan, S./Moore, C.A. (Hg.), A Source Book in Indian Philosophy, Princeton 1989, 227 – 249. 17 Vgl. z. B. Mun. daka-Upanisad 1,1,3 – 7. ˙ ˙ 18 Als a¯stika (“Bejaher“ = orthodox) gelten jene, die den Offenbarungscharakter der Veden formell bejahen, als na¯stika (“Verneiner“ = heterodox) jene, die diesen bestreiten. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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dann durchaus im Sinne vedischer Pflichterfüllung verstanden werden konnte – wird in einer höheren Kaste wiedergeboren, wer schlecht handelt, in einer niederen Kaste oder gar in einer untermenschlichen Daseinsform.19 Das Streben nach besserer Wiedergeburt konnte somit dem Streben nach endgültiger Befreiung als sinnvolles Zwischenziel vorgeordnet werden und die Verbesserung des eigenen Standes durch bessere Wiedergeburt zugleich als Verbesserung der inneren Disposition für das Erlangen der endgültigen Befreiung gedeutet werden. Ein anderer Weg bestand in der nun entwickelten Lehre einer Korrelation von vier Lebensabschnitten mit vier unterschiedlichen Lebenszielen. Den traditionellen vedischen Lebenszielen dharma, artha und ka¯ma wird die Befreiung, moks. a, als höchstes Lebensziel bei- und übergeordnet, wobei jedoch die Erlangung der jeweiligen Lebensziele nur sukzessive und nur in unterschiedlichen Lebensabschnitten möglich ist. Konkret heißt dies, dass der männliche Jugendliche der oberen drei Kasten zunächst durch das Vedastudium bei Brahmanen den dharma zu erlernen hat (Mitglieder der unteren Kaste sowie die Kastenlosen sind von der Initiation in das Vedastudium ausgeschlossen), dass er sodann als verheirateter und erwachsener Hausvorsteher die Lebensziele von artha und ka¯ma verfolgen soll und erst im fortgeschrittenen Alter, wenn seine Enkelkinder heranwachsen, den asketischen Weg der Weltabwendung einschlagen darf, um nach der endgültigen Befreiung moks. a zu streben. Ausdrücklich schärfen Texte, die den dharma in ethischer und rechtlicher Hinsicht auslegen (Dharmas´a¯stras), wie etwa die Manusmr. ti (6,33 – 37) ein, dass keine dieser Stufen übersprungen werden kann. Mit anderen Worten, nur wer seine gesellschaftlichen Pflichten erfüllt hat, darf sich anschließend der Erlösung zuwenden – zumindest wollte es so die brahmanische Orthodoxie, auch wenn die Praxis vielfach eine andere war. Neben der zeitlichen Hinausschiebung des Ziels der Befreiung bestand ein anderer Weg der Verbindung des asketischen Ideals der S´raman. as einerseits mit den Erfordernissen der Gesellschaft und den Ansprüchen brahmanischer Religion andererseits in der Spiritualisierung der Weltabkehr. Diese Tendenz liegt dem einflussreichen, sich zuerst in der Bhagavadgı¯ta¯ abzeichnenden Schema der „drei Wege“ 19
Vgl. Cha¯ndogya-Upanisad 5,10,7. ˙ © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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(trima¯rga) zur Befreiung zugrunde. Demnach führen sowohl der „Weg der Werke“ (karmama¯rga) als auch der „Weg der Erkenntnis“ (jÇa¯nama¯rga) und besonders der „Weg der Gottesliebe“ (bhaktima¯rga) zur Erlösung. Unter dem „Weg der Werke“ versteht die Bhagavadgı¯ta¯ die Beachtung der traditionellen Pflichten vedischer Religion. Auch dieser Weg, so betont es die Gı¯ta¯ (3,20), kann zur endgültigen Befreiung führen, allerdings nur, wenn man sich zugleich darin übt, nicht an den Früchten seiner Werke zu haften, also die Haltung innerer Loslösung bei gleichzeitiger Pflichterfüllung praktiziert (3,7.9.19.25).20 Der „Weg der Erkenntnis“ bezieht sich auf die Bemühung der S´raman. as, sich durch Ausstieg aus der Welt der Produktivität und Reproduktion und durch entsprechende asketische Disziplin für die erlösende Einsicht zu disponieren. Nach der Bhagavadgı¯ta¯ ist dies durchaus der Königsweg, aber er ist schwer und mühevoll und somit für eine große Zahl von Menschen nicht realisierbar (vgl. Bhagavadgı¯ta¯ 12,1 – 8). Der einfachste und insofern favorisierte Weg ist für die Gı¯ta¯ der „Weg der Gottesliebe“. Gegenüber dem „Weg der Werke“ hat er zudem den Vorteil, Menschen aller Kasten und jeden Geschlechts offen zu stehen (9,32) und verglichen mit dem „Weg der Erkenntnis“ ist er nicht nur leichter, sondern steht selbst jenen offen, die „von bösem Wandel“ sind (9,30). In ihm geht es darum, sich ganz der Gnade und Liebe Gottes anzuvertrauen. Die exklusive Hinwendung zu Gott bedeutet seitens des Menschen eine innere Abkehr von allem anderen (18,66) und damit ebenfalls eine Art der Loslösung von der Welt. Doch ist sie zugleich getragen von dem Vertrauen auf die aktive, errettende und niemanden ausschließende Gnade Gottes (12,7; 9,29). Damit erhält die personale, theistische Gottesvorstellung, wie sie mit dem „Weg der Gottesliebe“ verbunden ist, eine neue, für das Erlösungsstreben konstruktive Rolle.
3. Gott als Grund der Welt Gerade die Vielfalt unterschiedlicher Gottesvorstellungen hat auch im Hinduismus immer wieder zu Versuchen geführt, mittels „theo20 Vgl. Malinar, A., The Bhagavadgı¯ta¯. Doctrines and Contexts, Cambridge 2007, 79 – 94.
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logischer“, das heißt auf die als Offenbarung (s´ruti) geltende Texte zurückgreifender, und „philosophischer“, das heißt rational schlussfolgernder, Argumentationen eine spezifische Vorstellung als die richtige zu erweisen. Dies sei hier kurz und exemplarisch anhand der drei hauptsächlichen Formen des Veda¯nta21, also der um die Auslegungen der Upanis. aden bemühten Systeme, verdeutlicht. Im Zentrum steht dabei die Frage, in welchem Sinn Gott bzw. Brahman als Grund der Welt zu verstehen ist. Als Begründer des Advaita-Veda¯nta (a-dvaita¯ = Nicht-Zweiheit), . des non-dualistischen Veda¯nta, gilt S´ankara (7. oder 8. Jh. n. Chr., . traditionelle Datierung 788 – 820). Nach S´ankara besteht zwischen Ursache und Wirkung immer eine Gleichförmigkeit wie bei Same und Frucht. Brahman, so lehrt es die Offenbarung, ist das absolut Eine, das „Eine ohne ein Zweites“, sowie das wahrhaft Unvergängliche. Die Welt hingegen erscheint als vielgestaltige und vergängliche bzw. veränderliche Wirklichkeit. Wenn aber das Prinzip der Gleichförmigkeit gilt und Brahman ursächlicher Grund der Welt ist, dann sind die Vielgestaltigkeit und Veränderlichkeit der Welt Anzeichen dafür, dass ihr ontologisch keine letzte Wirklichkeit zukommt. Sie ist das Produkt der ma¯ya¯, der Schöpfer- oder Zauberkraft Brahmans und hat daher nur eine bedingte, dem Traum oder der Illusion vergleichbare Wirklichkeit. Ihre eigentliche Wirklichkeit hingegen ist Brahman allein, das heißt, in Wahrheit existiert nichts außer Brahman – zumindest nicht in demselben absoluten Sinn von Existenz. Der schöpferischen ma¯ya¯ entspricht subjektiv avidya¯, das Nicht-Wissen bzw. die Verblendung, eben der illusionäre Eindruck von der Wirklichkeit einer vielgestaltigen und veränderlichen Welt.22 Die upanis.adische Lehre von der Gegenwart . Brahmans in allem als A¯tman, als das wahre Selbst, ist nach S´ankara 21 Darüber hinaus bestehen zahlreiche Zwischen- und Unterformen dieser Hauptrichtungen. 22 Die genaue Verhältnisbestimmung von ma¯ya¯ und avidya¯ war eine der frühen Streitfragen innerhalb des Advaita-Veda¯nta. Während ein Teil der Anhänger beides mehr oder weniger miteinander identifizierte, sahen andere in der ma¯ya¯ die positive Schöpferkraft Brahmans, in der avidya¯ hingegen die negativ besetzte Verblendung des Menschen. Nur der Mensch, nicht aber Brahman, ist demnach von der Verblendung affiziert. Vgl. hierzu Sharma, C., Indian Philosophy, 273 – 279, 292 – 297.
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somit im Sinne strikter Identität bzw. Nicht-Zweiheit von Brahman und A¯tman zu verstehen. Die erlösende Erkenntnis besteht im völligen Schwinden der avidya¯ oder, positiv gesagt, in der Erfahrung des wahren, non-dualen Charakters der Wirklichkeit als Brahman. . Aus S´ankaras Ansatz ergibt sich eine konsequente Relativierung aller Gottesbilder. Da sich alle sprachlichen Bezeichnungen auf begrifflich unterschiedene Konzepte und somit auf die illusionäre Vielheitswelt beziehen, ist das wahre Wesen Brahmans begrifflich nur negativ bestimmbar: es ist nirgun. a brahman, d. h. „Brahman frei von Eigenschaften“. Konkrete beschreibbare Gottesvorstellungen hingegen, die Brahman mit den typischen theistischen Attributen wie Allwissenheit, Allmacht usw. ausstatten, sagun. a brahman (= „Brahman mit Eigenschaften“), sind nur von relativem Wert. Wie alles Sprechen bewegt sich auch die Rede über Gott auf der Ebene der konventionellen (vyavaha¯ra) oder relativen Wahrheit (sam . vr.ti satya), während sich die Wahrheit im höchsten Sinn (parama¯rtha satya) der Aussagbarkeit entzieht. Konkrete Gottesbilder sind deswegen jedoch keineswegs bedeutungslos. Sie dürfen nur nicht als wörtlich wahre Beschreibungen Gottes verstanden werden. Ihre Bedeutung liegt wie die aller sprachlichen Artikulation im funktionalen, praktischen Bereich. Sie orientieren das Leben des Menschen solange sich dieser im Zustand der Illusion befindet. Sie vermögen auf das Göttliche hinzuweisen – was im Advaita Veda¯nta vorzugsweise mit der Begriffstriade „Sein / Wahrheit – Geist – Glückseligkeit“ (satcita¯nanda) geschieht –, werden jedoch im Zustand der Erleuchtung als unangemessene Begrenzungen der unbegrenzten Wirklichkeit Brahmans durchschaut. Die erlösende Erkenntnis, moks. a, darf nicht als etwas bedingt Entstandenes betrachtet werden. Sie ist vielmehr das wahre Wesen der Wirklichkeit, das mit dem Schwinden der Verblendung als das unwandelbar Gegenwärtige in Erscheinung tritt. Da die Unterscheidung von Individuen typisches Merkmal der Verblendung, Brahman hingegen die absolute Einheit ohne jede Unterscheidung ist, verliert sich mit der Erleuchtung jedes individuelle Bewusstsein. Es schwindet wie die Identität von Flüssen, die in das Meer münden und deren Wasser in Wahrheit ohnehin nie von dem des Meeres getrennt war. . S´ankaras philosophische Theologie erwies sich bis zum heutigen Tag als außerordentlich einflussreich. Allerdings blieb sie nicht un© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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. widersprochen. Obwohl sich S´ankara in den ihm zugeschriebenen Werken als strenger Verteidiger der vedischen Orthodoxie und demzufolge als scharfer Kritiker des Buddhismus zeigt, war seine Philosophie unleugbar vom maha¯ya¯na-buddhistischen Denken Na¯ga¯rjunas beeinflusst.23 Dies brachte ihm des öfteren den Vorwurf eines „Krypto-Buddhisten“ ein. Vor allem aber richtete sich die Kritik gegen seine deutliche Privilegierung des „Wegs der Erkenntnis“ (jÇa¯nama¯rga) vor dem „Weg der Gottesliebe“ (bhaktima¯rga). Mit dem Erstarken der sich dem Weg der Gottesliebe verschreibenden Bhakti. Bewegungen nahm auch die Kritik an S´ankara zu und es kam in Gestalt des Vis´is. ta¯dvaita-Veda¯nta, d. h. des „qualifizierten“ oder ˙ „modifizierten Non-Dualismus“, und des Dvaita-Veda¯nta, also des „dualistischen Veda¯nta“, zu entschiedenen Gegenentwürfen. Als Begründer des Vis´is. ta¯dvaita-Veda¯nta gilt Ra¯ma¯nuja, der ˙ . ca. 400 Jahre nach S´ankara gelebt haben dürfte (trad. Datierung: 1017 – 1137; vmtl. 1055 – 1137). Nach Ra¯ma¯nuja ist das Verhältnis zwischen Brahman und Welt sowohl von Einheit als auch von Unterschiedenheit geprägt. Gott ist – wie die Seele in einem Körper – in allen geistigen und materiellen Dingen gegenwärtig, aber auch hiervon verschieden, insofern das göttliche Selbst die Welt als seinen Körper hervorgebracht hat. Das individuelle Selbst verhält sich zum höchsten, göttlichen Selbst wie der Teil zum Ganzen oder wie der einzelne Lichtstrahl zur Lichtquelle. Die Einheit zwischen Brahman und Welt bildet somit den umfassenden Rahmen der Wirklichkeit der Welt, aber einen Rahmen innerhalb dessen reale Unterschiede bestehen. Die upanis. adische Rede von Brahman als dem „Einen ohne ein Zweites“ bedeutet nach Ra¯ma¯nuja nicht, dass alles, ohne weitere Unterscheidung, Brahman ist, sondern bezeichnet die Einzigartigkeit Brahmans als der Quelle aller Wirklichkeit. Ra¯ma¯nuja lehnt daher . auch S´ankaras Unterscheidung zwischen nirgun. a brahman und sagun. a brahman ab. Keineswegs müssen für Brahman alle Attribute, sondern lediglich die negativen Qualitäten geleugnet werden. Positive Eigen-
23 Dieser Einfluss war indirekt vermittelt durch Gaudapa¯da, den Lehrer von ˙ . S´ankaras Lehrer. Vgl. hierzu King, R., Early Advaita Veda¯nta and Buddhism. The Maha¯ya¯na Context of the Gaudapa¯dı¯ya-ka¯rika¯, Albany 1995. ˙
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schaften sind dem Wesen Brahmans im Wissen um seine Unendlichkeit durchaus zuschreibbar. Aus dieser Position ergibt sich einer der schärfsten Kritikpunkte . . an S´ankara, der darauf beruht, dass S´ankara keine Lösung für das . Theodizee-Problem habe. Nach Ra¯ma¯nuja muss S´ankara, aufgrund der Affirmation Brahmans als der einzigen Wirklichkeit, Brahman auch die avidya¯, die Verblendung, zuschreiben. Denn wo soll diese sonst herkommen? Das widerspricht jedoch der Vollkommenheit Brahmans, die eben auch als vollkommenes Wissen zu bestimmen ist. Zudem ist die Verblendung die Wurzel aller weiteren, insbesondere auch moralischen Übel, die dann ebenfalls auf Brahman selbst zurückfallen würden. Dem stellt Ra¯ma¯nuja seine sich aus dem modifizierten Non-Dualismus ergebende Lösung entgegen: Die innerhalb der umfassenden Einheit geltende Unterschiedenheit verleiht dem Menschen eine gewisse Selbständigkeit, die es diesem wiederum ermöglicht, zwischen Gut und Böse zu wählen. Gott ist den Menschen beständig nahe und inspiriert sie zu allem Guten, doch setzt er ihre Freiheit nicht außer Kraft. Vielmehr besteht seine Absicht darin, dass Menschen aus freien Stücken seiner Inspiration folgen. Durch das karmische Gesetz der guten und bösen Folgen entsprechender Taten verfolgt Gott das Ziel, das Gute im Menschen zu stärken und ihn allmählich zur höchsten Glückseligkeit hinzuführen. Vom Ziel dieser göttlichen Pädagogik her, die nach Ra¯ma¯nuja dem schöpferischen und erlösenden Wirken Brahmans unterliegt, bringt . Ra¯ma¯nuja einen zweiten gewichtigen Einwand gegen S´ankara vor: Wenn im Zustand der endgültigen Befreiung jegliches individuelle Bewusstsein verschwände, dann gliche dies der atheistisch-materialistischen Konzeption vom Tod als endgültiger Vernichtung. Wer, so Ra¯ma¯nuja, würde sich noch um die Erlösung bemühen, wenn darin jedes Ich-Bewusstsein aufgehoben wäre und folglich diese Erlösung nicht ihm, als einem seiner selbst bewussten Individuum, zuteil werden würde? Im Zustand der Erlösung bleibt nach Ra¯ma¯nuja das Ich-Bewusstsein erhalten, doch befindet es sich in der beständigen und beseligenden Schau des immer größeren, göttlichen Selbst und ist genau darin seinem eigenen wahren Wesen treu. . Während S´ankaras Theologie traditionell in dem kurzen Satz zusammengefasst wird: „Brahman ist die einzige Wirklichkeit, die Welt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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illusorisch und das individuelle Selbst nicht verschieden von Brahman“24, fasst Ra¯ma¯nuja seine Auslegung des Veda¯nta in folgende Worte: „Jene, aber, die das Veda¯nta verstehen, lehren so: Es gibt ein höchstes Brahman, das die alleinige Ursache des ganzen Universums ist, das allem Übel entgegensteht, dessen wesenhafte Natur unbegrenztes Wissen und Glückseligkeit ist, das zahllose glückliche Eigenschaften von höchster Vollkommenheit umfasst, das seinem Wesen nach von allen anderen Wesen verschieden ist und das das innerste Selbst von allem bildet. Die individuellen Selbste … sind insofern Modalitäten dieses Brahmans als sie seinen Leib bilden. Die wahre Natur dieser Selbste ist jedoch verdunkelt durch die Verblendung, den Einfluss der anfanglosen Kette des Karmas. Und Erlösung muss daher verstanden werden als die intuitive Schau des höchsten Selbst, was der wahren Natur des individuellen Selbst entspricht und auf die Zerstörung der Verblendung folgt.“25
Für Madhva (1238 – 1317), den Begründer des Dvaita-Veda¯nta, ist Ra¯ma¯nujas System nicht konsequent genug von dem des reinen Advaita unterschieden. Wenn die individuellen Selbste letztlich doch mit dem höchsten, göttlichen Selbst wesenseins sind – ähnlich dem Verhältnis von Lichtstrahlen und Lichtquelle, die beide das Wesen des Lichtes teilen –, dann, so Madhva, lassen sich die von Ra¯ma¯nuja intendierten Unterscheidungen zwischen göttlichem Selbst und menschlichem Selbst nicht widerspruchsfrei durchführen. Es bedarf daher eines deutlich radikaleren Bruchs mit der Lehre des Advaita und der Entwicklung des genauen Gegenteils, nämlich des Dvaita- bzw. dualistischen Veda¯nta. Madhva zufolge sind Gott und Welt ontologisch völlig voneinander verschieden: Während das Sein Brahmans unabhängig und unbegrenzt ist, ist das Sein der von Brahman erschaffenen Welt gänzlich von Gott abhängig und mannigfach begrenzt. Differenz ist eine eigenständige ontologische Größe. Sie ist selbst etwas Letztes und muss daher nicht auf der Grundlage einer die
. Brahma satyam jagan mithya¯ jı¯vo brahmaiva na¯parah. Sharma, C., Indian ˙ Philosophy, 273, Anm. 1. 25 Aus Ra¯ma¯nujas Kommentar zum Brahmasu¯tra (I,2,12). Zit.n. der englischen Übersetzung in Radhakrishnan, S./Moor, C.A. (Hg.), Indian Philosophy, 552. 24
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Differenz nochmals umfassenden Einheit gedacht werden. Daher ist es auch unnötig, sich die Welt als Körper Gottes vorzustellen. Zwischen dem individuellen Selbst und Gott besteht lediglich eine entfernte Ähnlichkeit bzw. Abbildlichkeit, zugleich aber eine weitaus größere Unähnlichkeit, insofern Gottes Qualitäten im Unterschied zu denen des Menschen von unendlicher Vollkommenheit sind. So bleibt Gott dem Menschen zwar unfassbar und unbegreifbar, doch heißt dies keineswegs, dass nicht mit den geeigneten Worten, nämlich jenen der Offenbarung und den darauf fußenden Argumenten, auf Gott verwiesen werden könnte. Im Unterschied zu Ra¯ma¯nuja vergleicht Madhva das Verhältnis zwischen Gott und Mensch nicht mit dem des Lichtes zu seinen Strahlen, sondern mit den Widerspiegelungen des Lichtes, z. B. dem der Sonne auf dem Wasser. Die Grundbestimmungen der ontologischen Verschiedenheit, der völligen Abhängigkeit (des Menschen von Gott) und der (entfernten) Ähnlichkeit oder Abbildlichkeit bleiben auch in der endgültigen Erlösung erhalten. Selbst wenn die Offenbarungstexte hierfür das Bild der im Meer aufgehenden Flüsse verwenden, so gilt doch nach Madhva, dass der Eindruck des sich vermischenden Wassers nur oberflächlich entsteht, da die Qualitäten des Wassers im Detail verschieden bleiben. Die Einheit mit Gott, um die es in der Erlösung geht, ist keine ontologische Vereinigung, sondern ein innerer Gleichklang, die völlige Angleichung des menschlichen Willens und seiner Neigungen an den Willen Gottes. Die Abhängigkeit aller Geschöpfe von Gott wird bei Madhva auch in soteriologischer Hinsicht betont. Alle menschliche Hingabe an Gott muss letztlich als allein der Gnade Gottes verdankte Gabe verstanden werden. Dies führt bei Madhva zu einer Prädestinationslehre, wonach Gott allein bestimmt, wer zur Erlösung gelangt. Dementsprechend erscheinen denn auch die theologischen Gegner Madhvas, . wie S´ankara, die Jainas oder die Buddhisten, als dämonische, aber von Gott zugelassene Werkzeuge zur Verblendung jener, denen Gott seine Gnade verwehrt, deren unheilvollem Wirken Gott nun aber auch, durch das Auftreten Madhvas, machtvoll Einhalt gebietet. Ra¯ma¯nuja und Madhva waren beide glühende Verehrer Vis. n. us, den allein sie mit Brahman identifizierten. Ihre Theologie bietet gezielt eine rationale Grundlage für den „Weg der Gottesliebe“ (bhaktima¯rga), der die Erlösung des Menschen als Vollendung wechselsei© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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tiger Liebe zwischen Gott und Mensch versteht: als das Resultat einer Haltung, in der der Mensch sich der Gnade Gottes anvertraut und in seiner Verehrung für Gott, dessen Liebe empfängt und erwidert.
4. Gott als Liebe Eines der zentralen Kapitel der Bhagavadı¯ta¯ erzählt, wie Kr. s. n. a, eine Inkarnation Vis. n. us, auf Bitten Arjunas diesem in einer alles überstrahlenden Epiphanie sein wahres göttliches Wesen offenbart: „Wenn am Himmel auf einmal der Glanz von tausend Sonnen sich erhöbe, ein solcher Glanz würde ähnlich sein dem Glanze jenes Hochsinnigen.“26 (11,12)
Diese Worte, so wird berichtet, seien Robert Oppenheimer, dem Leiter des Teams zur Entwicklung der Atombombe, angesichts ihrer ersten erfolgreichen Zündung am 16. Juli 1945 in Los Alamos spontan in den Sinn gekommen.27 Man muss dies nicht als Zynismus deuten. Es kann auch Ausdruck des überwältigenden Erschreckens vor jener immensen Macht und zerstörerischen Kraft sein, die sich hinter scheinbar „toter“ Materie verbirgt. Arjuna ist angesichts der hinter Kr. s. n. a hervortretenden Erscheinung Gottes bis in den Kern erschüttert. Und doch wagt er es „mit stammelnder Stimme, voll Angst und Schrecken“ (11,35) zu sprechen: „Du bist der Vater der Welt, des Beweglichen und Unbeweglichen, du von ihr zu verehren als Meister und mehr als Meister; dir ist keiner gleich, viel weniger überlegen in den drei Welten, o unvergleichlich Gewaltiger. Darum neige ich mich, werfe meinen Leib vor dir nieder und bitte dich, den preiswerten Gottherrn, um Gnade; wie der Vater mit dem Sohne, wie der Freund mit dem Freunde, 26
Bhagavadı¯ta¯ 11,12. Zit.n. Deussen, P., Vier Philosophische Texte des Maha¯bha¯ratam: Sanatsuja¯ta-Parvan – Bhagavadgı¯ta¯ – Mokshadharma – Anugı¯ta¯, Leipzig 1922, 78. 27 Jungk, R., Heller als tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher, Reinbek bei Hamburg 1977, 186. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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wie der Liebende mit der Geliebten mögest du, o Gott, mit mir Nachsicht haben.“ (11,44 f )28
Der von der Bhagavadı¯ta¯ favorisierte Weg der Gottesliebe ist vor diesem Hintergrund zu sehen: In seinem unfassbaren Wesen erschüttert Gott oder das Göttliche den Menschen zu Tode. Und doch kann, darf und soll der Mensch sich auf die Liebe Gottes verlassen wie auf die Liebe eines Vaters, eines Freundes, eines Liebhabers. Gerade letzteres, die Intimität der erotischen Liebesbeziehung und ihr auf Vereinigung abzielender Charakter, ist in den Bhakti-Bewegungen immer wieder als Bild für das Verhältnis zwischen Gott und der menschlichen Seele herangezogen worden. Die populärste Version dieses Motivs ist die im Bha¯gavata-Pura¯n. a (9./10. Jh. n. Chr.) (Buch 10, Kapitel 29 – 33) erzählte Beziehung zwischen Kr. s. n. a und Ra¯dha¯.29 Der junge Kr. s. n. a ist Kuhhirte in Vrindavan am Yamuna¯ Fluss. Er betört die Frauen des Ortes, die gopı¯s (= Milchmädchen), die sich haltlos in ihn verlieben. Angelockt von der Melodie seiner Flöte verlassen sie ihre Häuser, Gatten und Familien und folgen ihm des Nachts an die Ufer des Flusses, um sich dem Liebesspiel mit ihm hinzugeben. Doch als sie sich als die von ihm Erwählten rühmen, verschwindet er vor ihren Augen. Verrückt und verzweifelt vor Liebe suchen sie seine Spuren und entdecken, dass er sich mit einer von ihnen, Ra¯dha¯, zurückgezogen hat. In der intimen Zweisamkeit zwischen Ra¯dha¯ und Kr. s. n. a wiederholt sich dieselbe Situation. Als sich Ra¯dha¯ für die allein Erwählte hält, entschwindet Kr. s. n. a. Schließlich aber erhört er das verzweifelte Rufen Ra¯dha¯s und der anderen Gopı¯s. In einem ekstatischen Reigentanz verfielfältigt Kr. s. n. a seine Gestalt so, dass schließlich jede der Gopı¯s ihn ganz für sich allein hat, jede sich als die von ihm allein geliebte Ra¯dha¯ erfährt. Nach einer Nacht voller Liebesspiele und verzückter Wonnen kehren die Gopı¯s in ihre Häuser zurück, während ihre Männer nichts von ihrer Abwesenheit bemerkt haben. Das Bha¯gavata-Pura¯n. a schildert diese Erzählung nicht nur voller plastischer Details, immer wieder deutet es diese vielmehr explizit als 28
Deussen, P., Maha¯bha¯ratam, 82. Vgl. den Text in Goodall, D. (Hg.), Hindu Scriptures, London 1996, 373 – 393. 29
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realsymbolische Metapher. Dass die Gopı¯s ihre Häuser verlassen, ist unschwer als Anspielung auf die Weltabkehr der S´raman. as erkennbar. Nur wird diese hier ganz im Sinne des bhaktima¯rga gedeutet: Sie sind angezogen vom Liebeswerben Gottes. Das Sich-Entziehen Kr. s. n. as in dem Moment, in dem die Aufmerksamkeit nicht mehr ihm gilt, sondern sich in Selbstruhm verkehrt, verdeutlicht, dass die Liebe zu Gott als dem wahren Selbst nicht mit egozentrischer Eigenliebe verwechselt werden darf, sondern gerade darüber hinausführen will. Schließlich wird die intime persönliche Vereinigung zum Bild für die Erfahrung der Einheit der Seele mit Gott, wie sie der inneren Dynamik der Liebe entspricht. Wiederholt wird Kr. s. n. a als der „Herr der Liebe“ bezeichnet und entzückt von seinen Liebkosungen „verlieben sie [die Gopı¯s] sich in die Liebe“ (10,33,9). Kr. s. n. a ist jedem Menschen zugewandt als seiner einzigen Liebe, jeder und jede ist Gott gegenüber in der Situation der Ra¯dha¯, die wiederum nichts anderes ist als eine Dimension Gottes selbst, dessen „der in den Gopı¯s wohnt, in ihren Ehemännern und in allen Geschöpfen“ (10,33,36). In diesem Sinn wurde die Liebe zwischen Kr. s. n. a und Ra¯dha¯ zu einem der begehrtesten Stoffe der von der Bhakti beeinflussten Dichtung.30 Zwischen dem 6. und 9. Jh. n. Chr. nehmen die Bhakti-Bewegungen in Indien immer mehr zu, sowohl in den vis. n. uitischen als auch in den ´sivaitischen Traditionen.31 Wohl von Südindien ausgehend breiten sie sich weiter aus und werden in der Folgezeit zur vorherrschenden Strömung hinduistischer Frömmigkeit. Einen, aber keineswegs den einzigen, theologischen Höhepunkt erreichen sie in den Werken der tamilischen ´sivaitischen Siddha¯nta Schule.32 Die Vorstellung, dass Gottes Wesen Liebe ist, wird hier zum beherr30
Vgl. beispielsweise Jayadeva, Gı¯tagovinda. Lieder zum Lob Govindas, hg. und übers. von Steinbach, E., Frankfurt a.M./Leipzig 2008; Kämpchen, M., Krishnas Flöte. Religiöse Liebeslyrik aus Indien, Freiburg i. Br. 1979. 31 Die hier vorausgesetzte Standard-Theorie zur Entwicklung der BhaktiBewegungen wird neuerdings jedoch mit dem Argument in Frage gestellt, dass Bhakti von Anfang an sowohl mit personalistisch-theistischen als auch monistischen Transzendenzkonzepten verbunden war, vgl. Sharma, K., Bhakti and Bhakti Movement. A New Perspective. A Study in the History of Ideas, New Delhi 1987. 32 Vgl. hierzu Dhavamony, M., Love of God according to S´aiva Siddha¯nta. A Study in the Mysticism and Theology of S´aivism, Oxford 1971. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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schenden Motiv. So heißt es beispielsweise in Tirumu¯lars Tirumantiram (Vers 257): „Die Unwissenden sagen, dass Liebe und Gott verschieden sind; sie wissen nicht, dass Liebe und Gott dasselbe sind. Sobald sie wissen, dass Liebe und Gott dasselbe sind, ruhen sie in Gottes Liebe.“33
Gott, so die Theologen des ´sivaitischen Siddha¯nta, offenbart sein Wesen als Liebe sowohl in der Schöpfung als auch in seiner Gnade, in der er sich dem Menschen selber erschließt und so dem Menschen die Erlösung zuteil werden lässt.34 Die liebende Verehrung der Gottheit vollzieht sich allerdings keineswegs allein im Inneren des eigenen Herzens und einem entsprechenden Lebenswandel. Konkrete sakramentale Form nimmt sie in der privat oder im Tempel vollzogenen pu¯ja¯ an, einem Ritual, bei der die Figur der Gottheit so behandelt wird als begegne man der Gottheit selbst. Sie wird begrüßt, gewaschen, gekleidet, gesalbt, mit der Darbringung von Rosenwasser, Blumen, Licht, Räucherwerk und Speise geehrt. Besonders gesucht wird der Blickkontakt mit der Gottheit, dars´ana, das sich mit den Augen Berühren, wodurch man sich der ehrerbietigen und liebenden Beziehung zur Gottheit versichert. In den Bhakti-Bewegungen spielt zudem die Verehrung der Gottheit durch Rezitation der Gottesnamen und den gemeinschaftlichen Gesang immer wieder neu entstehender Lieder zahlreicher Bhakti-Poeten ein große Rolle. Obwohl die Bhakti-Frömmigkeit primär von theistischen Gottesvorstellungen geprägt ist, hat sich wohl ab dem 15. Jh. besonders in Nordindien eine Form der Bhakti entwickelt, die das Göttliche als eine Realität jenseits theistischer Vorstellungen verehrt und daher in . Anlehnung S´ankaras Unterscheidung zwischen sagun. a- und nirgun. abrahman auch als nirgun. a-bhakti bezeichnet wird.35 Prominente 33
Nach der englischen Übersetzung in Dhavamony, M., Love of God, 128. Vgl. Dhavamony, M., Love of God, 343 – 347. 35 Vgl. Lorenzen, D.N., Praises to a Formless God. Nirgun. ¯ı Texts from North India, Delhi 1997. Obwohl Krishna Sharma eine wesentliche Verbindung zwischen Bhakti und personalistischen Gottesvorstellungen bestreitet, bekräftigt 34
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Vertreter der nirgun. a-bhakti zeichnen sich durch ihre starke Kritik an äußerlichen und ritualistischen Formen von Frömmigkeit aus und betonen die Irrelevanz weltlicher Unterscheidungen, wie jene der Kaste oder auch der Religionszugehörigkeit, für die Frage des authentischen Gottesbezugs. So finden sich unter ihnen und ihren Anhängern nicht nur Mitglieder aller Kasten, sondern auch Kastenlose, die sogenannten „Unberührbaren“, sowie die zu diesem Zeitpunkt in Indien bereits stark präsenten Muslime. Dementsprechend ging die sich aus hinduistischen wie islamischen Elementen speisende Religionsgemeinschaft der Sikhs aus dem Wirken zweier bedeutender Nirgun. a Bhaktas, nämlich Kabı¯rs (15. Jh.) und Guru Na¯naks (1469 – 1539) hervor. In charakteristischer Weise heißt es bei Kabı¯r: „Wo suchst Du mich, mein Freund? Immer bin ich nah. Ich bin nicht im Bild und nicht im heiligen Bad, nicht an geheimen Orten, nicht in Tempeln oder Moscheen, nicht in Kas´¯ı (der heiligen Stadt), noch auf dem Kaila¯´s (dem heiligen Berg). Nicht im Gebet, noch in der Buße, nicht im Gelübe, nicht im Fasten. Nicht im Yoga, nicht in Riten, nicht in der Entsagung. Sieh nur und Du findest mich schnell wie ein Wimpernschlag. Kabı¯r sagt: Höre, o Sadhu. Du findest mich im Glauben.“36
5. Gott innerhalb und außerhalb des Hinduismus Bekanntlich hat der Indologe Paul Hacker den Inklusivismus als typisch indische Denkform bezeichnet und damit auf eine Haltung verwiesen, die im religiös Anderen eine defizitäre Form des Eigenen
jedoch auch sie den besonderen Charakter der vor allem mit Kabı¯r verknüpften Form der nirgun. a-bhakti. Siehe Sharma, K., Bhakti, 162 – 197. 36 Nach der englischen Übersetzung in Lorenzen, D.N., Praises, 213. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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erblickt.37 Einen klassischen Beleg für diese Haltung bietet wiederum die Bhagavadgı¯ta¯. Dort lehrt Kr. s. n. a, dass jene, die sich an andere Götter wenden und diesen opfern, ihren Lohn in Wahrheit nur von ihm allein, Kr. s. n. a bzw. Vis. n. u, erhalten. Doch ist ihr Lohn von untergeordneter, vorläufiger Natur (vgl. 7,20 – 23; 9,23 – 25). Beispiele für eine solche Haltung lassen sich in der Religionsgeschichte Indiens vielfach finden.38 Nicht selten ist sie verknüpft mit der Vorstellung, dass unterschiedliche Kulte, Wege, Götter und Gottesvorstellungen den Unterschieden in der spirituellen Auffassungsgabe der Menschen (adhika¯ra-bheda) entsprechen.39 Was die Einschätzung religiöser Vielfalt betrifft, so sind damit zwei wichtige Aspekte verbunden: Zum einen kann die Vielfalt religiöser Traditionen insofern als positiv gewertet werden, als diese unterschiedlichen spirituellen Bedürfnissen gerecht wird. Zum anderen ist die positive Bewertung religiöser Vielfalt damit jedoch nicht zwangsläufig mit dem Gedanken der Gleichwertigkeit verknüpft. Denn die Unterschiede in der spirituellen Auffassungsgabe werden zumeist im Sinne unterschiedlicher spiritueller Entwicklungsstufen verstanden. Wer sich in seiner Entwicklung noch auf einem spirituell niedrigeren Niveau befindet, für den sind eben andere Formen von Religion angemessen und erforderlich als für jenen, der in seiner religiösen Entwicklung weiter vorangeschritten ist. Das aber bedeutet, dass die Vielfalt der Religionen hierarchisch gedeutet wird, so dass die jeweils eigene Religion als jene gilt, die in inklusivistischer Weise allen anderen überlegen ist. Solche inklusivistischen Konzeptionen ermöglichten eine gewisse Akzeptanz religiöser Vielfalt. Allerdings war damit weder die Konkurrenz wechselseitiger Überlegenheitsansprüche ausgeschlossen, noch die Einnahme exklusivistischer Haltungen gegenüber solchen Positionen, die sich nur schwer in das inklusivistische Deuteraster einfügen ließen.40 Vor allem betraf dies die na¯stikas, also jene Grup-
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Vgl. Text und Diskussionen in: Oberhammer, G. (Hg.), Inklusivismus. Eine indische Denkform, Wien 1983. 38 Siehe Raghavan, V., The Great Integrators: The Saint-Singers of India, Delhi 1966. 39 Vgl. Raghavan, V., Integrators, 76. 40 Für einige Beispiele in Vergangenheit und Gegenwart siehe Clooney, F.X., © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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pierungen, die die Offenbarungsqualität der Veden verneinten, und darunter insbesondere Buddhisten und Jainas. In der Regel wurden Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen religiösen Gruppierungen mit den Mitteln der Polemik geführt. Sie konnten jedoch – besonders wenn es darum ging, die exklusive Unterstützung regionaler Herrscher für die eigene Gruppierung zu sichern – auch in gewalttätige Konflikte umschlagen, von denen die Religionsgeschichte Indiens keineswegs frei ist. Der Untergang des einst blühenden Buddhismus in Indien dürfte in einem nicht unerheblichen Maß auch auf die bis heute extrem konflikthaltige Spannung zwischen ihm und den verschiedenen Hindu-Traditionen zurückzuführen sein.41 Der Islam drang ab dem 9./10. Jh. vor und verbreitete sich bis zur Mitte des zweiten Jahrtausends über weite Teile Indiens. Ab dieser Zeit trat nun auch das Christentum in Gestalt europäischer Kolonialmächte in Indien auf, wo es im 16. Jh. in Goa ein erstes christliches Kolonialreich errichtete.42 Beispiele für eine inkludierende Haltung ebenso wie für eine exklusivistische Ablehnung finden sich seither auch hinsichtlich der Begegnung hinduistischer Traditionen mit dem Islam43 und dem Christentum.44 Bedeutende hinduistische Reformgestalten wie Raja Rammohun Roy (1772 – 1833) und Keshub Chunder Sen (1838 – 1884) zeigten sich beeindruckt von der Gestalt Hindu Views of Religious Others: Implications for Christian Theology, in: Theological Studies 64 (2003). 41 Vgl. hierzu Hazra, K.L., The Rise and Decline of Buddhism in India, New Delhi 1995, 385 – 388; Halbfass, W., Der Buddha und seine Lehre im Urteil des Hinduismus, in: Schmidt-Leukel, P. (Hg.), Wer ist Buddha? Eine Gestalt und ihre Bedeutung für die Menschheit, München 1998; Schmidt-Leukel, P., Buddhist-Hindu Relations, in: Schmidt-Leukel, P. (Hg.), Buddhist Attitudes to Other Religions, St. Ottilien 2008. 42 Schon vorher war das Christentum in Form der sogenannten “ThomasChristen“ (ursprünglich wohl aus Persien eingewanderte Nestorianer) in Südindien gegenwärtig, blieb aber eine kleine Gemeinschaft, die sich relativ gut in die indische Gesellschaft eingepasst hatte. 43 Für Beispiele einer positive Identifikation Allahs mit hinduistischen Gottesvorstellungen siehe Raghavan, V., Integrators, 81 – 94. 44 Vgl. Neufeldt, R., The Response of the Hindu Renaissance to Christianity, in: Coward, H. (Hg.), Hindu-Christian Dialogue. Perspectives and Encounters, Maryknoll 1989. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Jesu. Während Roy ihn als Guru betrachtete, dessen Gebote den „Weg zu Frieden und Glückseligkeit“ weisen, war Sen bereit, in ihm einen avata¯ra, eine der Inkarnationen Gottes zu sehen – zwei Vorstellungen, die sich seither im Hinduismus weit verbreitet haben.45 Andererseits trifft man bei dem Reformer Dayananda Saraswati (1824 – 1883) auf eine gnadenlose Kritik sowohl des Christentums als auch des Islams.46 Das sich in den diversen indischen Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts herausbildende Bewusstsein, einer die unterschiedlichen philosophischen und kultischen Traditionen Indiens übergreifenden Religion namens „Hinduismus“ anzugehören, von dem zu Eingang dieses Beitrags die Rede war, brachte für das Verhältnis zu Christentum und Islam einen folgenschweren neuen Aspekt mit sich. Die immense Vielfalt an unterschiedlichen Gottheiten, heiligen Schriften, religiösen Ideen, rituellen Vollzügen und kultischen Gemeinschaften in Indien konnte nur dadurch mit dem Gedanken versöhnt werden, all dieses gehöre zu einer einzigen Religion, nämlich der Religion des Hinduismus, dass diese Vielfalt zum Wesensmerkmal des Hinduismus erhoben wurde.47 Dieser Gedanke hat sich im 20. Jahrhundert so stark durchgesetzt, dass man ihn sogar juristisch festgeschrieben hat. So definierte der indische Supreme Court in einer Entscheidung vom 2. Juli 1995 sieben Merkmale des „Hinduismus“. Dazu zählen: „(ii) Der Geist der Toleranz und die Bereitschaft, auch den Standpunkt des Gegners zu verstehen und wertzuschätzen und zwar aufgrund der Erkenntnis, dass die Wahrheit viele Seiten hat. […] (v) Die Anerkennung der Tatsache, dass es viele Mittel oder Wege zur Erlösung gibt. […] (vii) Dass im Unterschied zu anderen Religionen oder religiösen Be-
45 Vgl. Neufeld, R., Hindu Views of Christ, in: Coward, H. (Hg.), HinduChristian Dialogue. Perspectives and Encounters, Maryknoll 1989; sowie die Texte von Roy, Sen, Saraswati, Ramakrishna, Vivekananda, Gandhi, Aurobindo und Radhakrishnan in: Barker, B.A./Gregg, S.E. (Hg.), Jesus Beyond Christianity. The Classic Texts, Oxford 2010, 153 – 214. 46 Siehe Saraswati, D., Light of Truth, or An English Translation of the Satyarth Praksh, New Delhi 1984, 589 – 722. 47 Vgl. nochmals exemplarisch Vivekananda, Common Bases, 371.
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Perry Schmidt-Leukel kenntnissen die Hindu Religion als solche nicht an ein verbindliches Set von philosophischen Konzepten gebunden ist.“48
Mit dem Bekenntnis zum Wert religiöser Vielfalt als einem, wenn nicht gar dem entscheidenden Wesensmerkmal und Einheitsband des Hinduismus waren drei weitreichende Aspekte verbunden. Erstens die Wertschätzung religiöser Pluralität auch im Hinblick auf die „nichthinduistischen“ Religionen. Vivekananda – und viele nach ihm – sahen gerade darin die Botschaft des Hinduismus an die Welt. So verkündete er in seinem berühmt gewordenen Eröffnungswort auf dem Weltparlament der Religionen in Chicago am 11. September 1893: „Ich bin stolz, einer Religion anzugehören, die der Welt sowohl Toleranz als auch universale Akzeptanz gelehrt hat. Wir glauben nicht nur an universale Toleranz, sondern wir akzeptieren alle Religionen als wahr.“49
Zweitens wird daraus nun aber auch das zentrale Unterscheidungsmerkmal des Hinduismus von anderen Religionen, insbesondere von Christentum und Islam, denen – so zumindest die Auffassung zahlreicher Hindus – eine solche Wertschätzung religiöser Vielfalt fremd, ja vielleicht sogar prinzipiell unmöglich ist. Die politisch einflussreiche Hindutva-Bewegung50 hat daraus die Konsequenz gezogen, der Hinduismus müsse, im Interesse seiner für die Menschheit insgesamt entscheidenden Botschaft vom Wert religiöser Vielfalt, vor dem sich in hartnäckiger missionarischer Bemühung äußernden muslimischen und christlichen Absolutismus geschützt werden.51 Damit wird dann eine gegenüber Islam und Christentum intolerante Religionspolitik 48
Siehe: http://judis.nic.in/supremecourt/helddis.aspx; vom 25. 11. 2012 (meine Übersetzung). Als weitere Merkmale werden noch genannt: die Anerkennung der Veden, eine zyklische Kosmologie, der Reinkarnationsglaube sowie die Akzeptanz, dass nicht alle Hindus die Verehrung von Götterbildern teilen. 49 Vivekananda, Addresses at the Parliament of Religions. Response to Welcome, in: The Complete Works of Vivekananda. Mayavati Memorial Edition, Bd. 1, Calcutta 1989, 3. 50 Für eine kurze Übersicht siehe Malinar, A., Hinduismus, 114 – 119. 51 Vgl. hierzu die gesammelten Schriften und Reden von M.S. Golwalkar in Golwalkar, M.S., A Bunch of Thoughts, Bangalore 2000. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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begründet. „Es scheint, dass man, um dem Pluralismus treu zu bleiben, diesen überwinden muss“ – wie es Chakravarthi Ram-Prasad in kritischer Absicht treffend formuliert hat.52 Zudem verbindet sich nun drittens ein solches Verständnis von Hinduismus zwar nicht zwangsläufig53, aber doch relativ leicht mit einem nationalistischen Konzept, wonach unter den Oberbegriff „Hinduismus“ einfach all jene Religionen fallen, die indischen Ursprungs sind54, womit man den neuen, religiösen Begriff des „Hinduismus“ mit dem ursprünglichen Wortgebrauch von „Hindu“ im Sinne einer primär geographischen Bezeichnung für die Bewohner des Indus-Gebiets verquickt. Die Folge hiervon ist, dass auch Religionsgemeinschaften, die sich explizit nicht als „hinduistisch“ verstehen, wie etwa Buddhisten, Jainas oder Sikhs, dennoch von der HindutvaBewegung dem Hinduismus zugerechnet und andere Religionen, wie der Islam und das Christentum, allein schon wegen ihres außerindischen Ursprungs ausgegrenzt werden. Folgenreich ist vor allem, dass auf diesem Weg nationale Loyalität mit dem Hindu-Sein bzw. mit der Zugehörigkeit zu einer als „hinduistisch“ geltenden Religion gleichgesetzt wird, wohingegen die Zugehörigkeit zu Christentum und Islam in den Ruf nationaler Illoyalität gestellt wird. Der Dialog mit dem Christentum ist in mehrfacher Hinsicht von diesen Entwicklungen betroffen. Aus der Perspektive der HindutvaBewegung wird dieser Dialog häufig entweder verweigert oder mit äußerster Skepsis betrachtet, da man das christliche Interesse am Dialog als neue, geschicktere Variante des unveränderten missionarischen Interesses betrachtet.55 Aber auch unabhängig von dieser
52
Ram-Prasad, C., Hindu Perspectives on Islam, in: Gort, J./Jansen, H./ Vroom, H. (Hg.), Religions View Religions. Explorations in Pursuit of Understanding, Amsterdam/New York 2006, 192 f. Meine Übersetzung. 53 Zur rechtlichen und theologischen Kritik an dieser Entwicklung siehe Kashyap, S.C., The Case for a Divorce between Religion and Politics, in: Sharma, A. (Hg.), Hinduism and Secularism. After Ayodya, Basingstoke 2001 und Long, J.D., A Vision for Hinduism. Beyond Hindu Nationalism, London 2007. 54 Vgl. Elst, K., Who is a Hindu? Hindu Revivalist Views of Animism, Buddhism, Sikhism and Other Offshoots of Hinduism, New Delhi 2002. 55 Für eine dementsprechend negativ gefärbte Gesamtdarstellung hinduis© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Perspektive sind die Erwartungen an einen Dialog mit dem Christentum nicht besonders groß. Einerseits hat man auf hinduistischer Seite in aller Regel keinen Zweifel daran, dass auch Christen über einen echten Gottesbezug verfügen – ist der A¯tman doch in jedem Menschen gegenwärtig, wie auch immer diese Gegenwart im Einzelnen gedeutet sein mag. Andererseits wird – im Unterschied zur Zeit der frühen hinduistischen Reformbewegungen – nicht mehr gesehen, worin man noch vom Christentum lernen könnte.56 Vielen Hindus gilt dieses als eine spirituell unterentwickelte bzw. verarmte Religion, die sich zu sehr an Äußerlichkeiten, Dogmen und das Streben nach weltlichem Einfluss hängt und der es an meditativ-kontemplativer Erfahrung und Einsicht mangelt.57 Christliche Ansprüche auf eine Alleingültigkeit oder zumindest Überlegenheit der Offenbarung Gottes in Christus werden als Anzeichen christlicher Arroganz und Ignoranz gewertet.58 Zu einem christlichen Missionar soll Sarvepalli Radhakrishnan (1888 – 1975) gesagt haben, für einen Hindu seien Christen gewöhnliche Menschen, die sehr außergewöhnliche Ansprüche erheben. Auf die Entgegnung des Missionars, diese Ansprüche bezögen sich nicht auf sie selbst, sondern auf Christus, habe Radhakrishnan geantwortet: „Wenn Euer Christus keinen Erfolg darin hatte, Euch zu besseren Männern und Frauen zu machen, warum sollten wir dann annehmen, er würde, wenn wir Christen werden, für uns mehr tun?“59 Zwar übt die Gestalt Jesu nach wie vor eine starke Anziehungskraft auf Hindus aus. Aber, wie Anantanand Rambachan vermerkt, wird diese als tiefe Affinität der Spiritualität Jesu zum tisch-christlicher Begegnung aus hinduistischer Sicht vgl. Goel, S.R., History of Hindu-Christian Encounters (AD 304 to 1996), New Delhi 21996. 56 Auch die christliche, islamische und buddhistische Kritik am Kastensystem hat sich die Hindutva-Bewegung, vermittelt über den Reform-Hinduismus, längst zu eigen gemacht. Vgl. Teltumbde, A. (Hg.), Hindutva and Dalits. Perspectives for Understanding Communal Praxis, Kolkota 2005. 57 Vgl. hierzu beispielsweise Swarup, R., Hindu View of Christianity and Islam, New Delhi 1992. 58 Vgl. Swarup, R., Hindu View, 69 – 72; Yadav, B.S., Vaishnavism on Hans Küng: A Hindu Theology of Religious Pluralism, in: Griffiths, P. J. (Hg.), Christianity through Non-Christian Eyes, Maryknoll 1999. 59 Gopal, S., Radhakrishnan: A Biography, New Delhi 1989, 195 (meine Übersetzung). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Hinduismus empfunden.60 Zudem zeigen sich Hindus häufig davon überzeugt, dass ihnen ihre eigene Tradition ein besseres Verständnis Jesu ermöglicht als die traditionelle christliche Dogmatik: Am Inkarnationsglauben wird insbesondere der Anspruch auf die Einzigkeit von Inkarnation kritisiert, an der Soteriologie die Satisfaktionslehre. Zur Gnade Gottes bedarf es keines blutigen Opfers; das Kreuz erscheint vielmehr als Zeichen einer sich-selbst aufopfernden Liebe.61 In der christlichen Gotteslehre sehen Hindus häufig nichts, was ihrem eigenen reichhaltigen Reservoir an philosophisch-theologischen Betrachtungen zur Natur Gottes überlegen wäre oder diese in irgendeiner Weise ergänzen könnte. Nach Sita Ram Goel „spricht es Bände“, dass die Christenheit zweitausend Jahre gebraucht habe, um, wie es das II. Vatikanische Konzil lehrt, einen Strahl der Wahrheit auch im Hinduismus zu erkennen – und dann nur einen Strahl!62 Dialogskepsis und -verweigerung findet sich freilich auch auf christlicher Seite. Sie basiert auf traditionell oder evangelikal gefärbten Vorstellungen von der Abwesenheit heilshafter Offenbarung in nicht-christlichen Religionen. Hinduistische Konzeptionen eines religiösen Pluralismus werden als für das Christentum nicht akzeptabel verworfen und im Blick auf ihre möglichen oder faktischen repressiven Implikationen kritisiert.63 Eine primär theologisch begründete Ablehnung des Hinduismus verbindet sich in der indischen Gegenwart bisweilen auch mit der Kritik am Kastensystem, so dass jeder Dialog mit dem Hinduismus als „Dialog mit den Unterdrückern“ diskreditiert wird.64 Obwohl diese Auffassung innerhalb der sogenannten Dalit-Theologie65, einer vor allem auf die Kastenlosen ausgerichteten Form von Befreiungstheologie, durchaus anzutreffen ist, 60
Vgl. Rambachan, A., The Hindu Vision, New Delhi 1999, 42. Vgl. hierzu auch die Analyse von Ram-Prasad, C., Hindu Views of Jesus, in: Barker, G.A. (Hg.), Jesus in the World’s Faiths. Leading Thinkers from Five Religions Reflect on His Meaning, Maryknoll 2005. 62 Goel, S.R., History, x. 63 Vgl. beispielsweise Alphonse, M.P., Witnessing to Christ in a World of Religious Pluralism, in: Bage, M. et al., Many Other Ways? Questions of Religious Pluralism, New Delhi 1992. 64 Vgl. Ariarajah, W., Not without My Neighbour. Issues in Interfaith Relations, Genf 1999, 79 ff. 65 Webster, J.C.B., The Dalit Christians. A History, New Delhi 2000. 61
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gibt es doch zugleich auch Bestrebungen, die Überwindung sozialer Ungerechtigkeiten und ihrer religiösen Legitimation zu einem gemeinsamen Thema des Dialogs zu machen.66 Die auf christlicher Seite früher vorherrschende, fast durchgängig abschätzige Haltung gegenüber dem Hinduismus67 ist heute zumindest teilweise auch echter Wertschätzung und ernsthafter Dialogbemühung gewichen.68 Viele Christen, innerhalb wie außerhalb Indiens, sehen in der Begegnung mit dem Hinduismus eine Chance, das Christentum zu bereichern und zu vertiefen, sowohl in spiritueller als auch in philosophisch-theologischer Hinsicht. Für die christliche Rezeptionen hinduistischer kontemplativ-aszetischer Lebensformen stehen Namen wie Swami Abhishiktananda, Bede Griffith, Murray Rogers oder Sarah Grant. Reinterpretationen christlicher Gottesvorstellungen unter dem Einfluss hinduistischer, meist advaitischer Ideen finden sich bei Raimundo Panikkar und Michael von Brück. Und selbst die vom Neo-Hinduismus aufgeworfene Frage, ob Inkarnation nicht auch so gedacht werden kann, dass sie nicht allein auf Jesus begrenzt ist, hat inzwischen auf christlicher Seite keineswegs nur ablehnende Antworten hervorgebracht: „In einem pluralistischen Kontext scheint die Theorie multipler avataras die theologisch angemessendste Haltung zu sein, vermag sie doch beidem Rechnung zu tragen: dem Geheimnis Gottes und der Freiheit der Menschen, auf göttliche Initiativen zu unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedliche Weise zu antworten. […] die Auffassung, dass das Geheimnis allein in einer konkreten Person an einem konkreten Punkt geoffenbart wurde – und nirgends sonst – verkennt, dass sich unsere Nächsten in anderen Religionen auf andere solche Punkte beziehen.“69 66
Kuttianimattathil, J., Practice and Theology of Interreligious Dialogue. A Critical Study of the Indian Christian Attempts since Vatican II, Bangalore 1995, 501 – 509. 67 Vgl. Sharpe, E.J., Faith Meets Faith. Some Christian Attitudes to Hinduism in the Nineteenth and Twentieth Centuries, London 1977. 68 Vgl. hierzu die Übersichten in Coward, H. (Hg.), Hindu-Christian Dialogue. Perspectives and Encounters, Maryknoll 1989; Ariarajah, W., Hindus and Christians. A Century of Protestant Ecumenical Thought, Amsterdam/ Grand Rapids 1991; Kuttianimattathil, J., Practice. 69 Samartha, S., One Christ – Many Religions. Toward a Revised Christo© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Christian Meyer
Götter, Geister, der Weg und die Transzendenz im Konfuzianismus
1. Einleitung: Traditionell chinesische und moderne Annäherungen an das Thema Handelt es sich bei Konfuzianismus um eine Religion? Diese Frage ist seit dem modernen Aufeinandertreffen der westlichen und der chinesischen Kultur von beiden Seiten immer wieder gestellt worden. Die „konfuzianische“ Tradition stellte durch ihre Andersartigkeit im Vergleich zum Christentum von Anfang an ein besonderes Problem dar. Zugleich war sie aber auch ein wichtiges Teilprojekt des Unternehmens einer seit Max Müller projektierten „vergleichenden“ Religionswissenschaft und eines damit verbundenen Konzepts der „Weltreligionen“.1 Insbesondere der „religiöse“ oder alternativ der säkulare oder zivile Charakter des Konfuzianismus stand bereits seit dem jesuitischen „Ritenstreit“ im 17. Jh. in Frage. Zu dieser interkulturellen Problematik tritt jedoch auch die Frage des Verhältnisses des Konfuzianismus zu Traditionen wie dem Buddhismus und Daoismus im ursprünglichen heimischen Kontext selbst hinzu. Dieses konnte nämlich aus chinesischer Sicht einerseits als komplementärer Kontrast, andererseits als mindestens teilweise Konkurrenz verstanden werden. Stets war damit jedoch eine Vergleichbarkeit mit dem Konfuzianismus impliziert, die sich in einer gemeinsamen Bezeichnung als „Lehren“ (jiao ) ausdrückte. Zusammen wurden diese 1
Zur strategischen Bedeutung des Konfuzianismus für das Projekt der vergleichenden Religionswissenschaft und das Konzept der Weltreligionen beim modernen „Begründer“ der Religionswissenschaft Max Müller siehe Sun, A.X.D., Confusions over Confucianism. Controversies over the Religious Nature of Confucianism, 1870 – 2007, Ph.D. thesis, Princeton 2008. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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als die „Drei Lehren“ (sanjiao) bezeichnet, die sich nach einer weithin akzeptierten Formel ergänzend „zu Einem verbänden“ (sanjiao heyi ), eines Ursprungs seien (sanjiao tongyuan ) oder als verschiedene Wege zumindest auf ein gleiches Ziel hinausliefen (shutu tonggui ).2 Daraus ergibt sich jedoch eine weitere Frage: Gibt es den Konfuzianismus überhaupt als separate Religion oder kann man von ihm oder chinesischer Religion allgemein nur im Verbund mit den anderen religiösen Traditionen reden? In der Begegnung mit dem Westen wurde dies reflektiert, indem dort immer wieder mit Formulierungen einer singularischen „chinesischen Religion“3 oder seit de Groot mit dem einflussreichen Etikett eines pauschalen „chinesischen Universismus“ (de Groot 1918) operiert wurde.4 Oder ist vielleicht der Begriff „Religion“ – und in eventuell geringerem Maße selbst das Adjektiv „religiös“ – unangemessen und weist uns auf ein Problem hin, das schon länger allgemein erkannt ist, aber am Konfuzianismus wie den chinesischen religiösen Traditionen in besonderer Weise hervortritt: Dass „Religion“ eben kein universaler Begriff, keine anthropologische Grundkonstante und auch kein „universelles Phänomen“ ist. Als im Westen – wenn auch im Kontakt 2
Vgl. hierzu u. a. Gentz, J., Die Drei Lehren (sanjiao) Chinas in Konflikt und Harmonie. Figuren und Strategien eine Debatte, in: Franke, E./Pye, M. (Hg.), Religionen Nebeneinander. Modelle religiöser Vielfalt in Ost- und Südostasien, Münster u. a. 2006, 24. 3 Zu verschiedenen Positionen hierzu seit dem 19. Jh. siehe Gentz, J., Die Drei Lehren, 17 f mit besonderem Hinweis auf die jüngeren Debatten zwischen Maurice Freedman und Arthur Wolf in den 1970ern sowie einige differenziertere Positionen (u. a. Grube, W., Religion und Kultus der Chinesen, Leipzig 1910 und Weller, R.P., Unities and Diversities in Chinese Religion, Seattle 1987, Shahar, M./Weller, R.P., Unruly Gods: Divinity and Society in China, Honolulu 1996). Die Idee einer chinesischen Religion findet sich noch in der jüngeren Einführung von Julia Ching und Hans Küng mit dem Titel „Christentum und Chinesische Religion“, anders jedoch Eichhorn, Malek und Clart, die alle pluralisch formulieren („Religionen Chinas“), s.a. die Reflexion bei Clart, P., Religionen Chinas, Göttingen 2009, 7 f. 4 Dieses Konzept hatte eine Breiten- und zeitliche Fernwirkung u. a. über Glasenapps viel gelesene und häufig nachgedruckte Einführung zu den „fünf Weltreligionen“ einschließlich des „chinesischen Universismus“ bis hin zum Gebrauch bei Papst Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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mit anderen Kulturen entstandener – Begriff 5 erscheint er uns in Anwendung auf die eigene und uns nahestehende Kulturen als „natürlich“; tatsächlich erweist er sich jedoch in der interkulturellen Begegnung als kulturell höchst relativ (und bei genauerem Blick selbst innerhalb unserer eigenen Kultur in seiner Verwendung abhängig von jeweiligen Wahrnehmungserfahrungen oder Gebrauchskontexten).6 Als Gegenfrage ergibt sich dann jene nach chinesischen, besonders auch traditionellen Funktionsäquivalenten zum westlichen Religionsbegriff.7 So hat die im langen Laufe ihrer Geschichte hochreflektierte und begrifflich ausdifferenzierte chinesische Kultur auch Allgemeinbegriffe hervorgebracht, die etwa die drei angeführten – von uns meist so bezeichneten – „Religionen“ mit einheitlichen Begriffen (z. B. jiao) bezeichnen. Jedoch geschah dies in nur teilweise überlappenden Gebrauchskontexten und keineswegs notwendigerweise mit Blick auf dieselben Gemeinsamkeiten. Hier tritt somit ein grundlegendes Problem interkultureller Verständigung auf, nämlich das des Übersetzens, das niemals eins zu eins Äquivalente liefern kann, sondern nur funktionelle oder einem Kontext entsprechende semantische Annäherungen. Der chinesische Fall ist dafür durch seine Distanz zu unserer westlichen Wahrnehmung geradezu paradigmatisch. Trotz allem scheint es jedoch durchaus sinnvoll sich an das Übersetzen zu wagen, da nur dadurch überhaupt Verständnisannäherungen erreicht und gemeinsame begriffliche Bezugspunkte hergestellt werden kön5 Siehe dazu besonders Smith, J.Z., Religion, Religions, Religious, in: Taylor, M.C. (Hg.), Critical Terms for Religious Studies, Chicago/London 1998; zur früheren Kritik an einem zu universellen Verständnis von Religion s.a. Smith, W.C., The Meaning and End of Religion. A New Approach to the Religious Traditions of Mankind, New York 1963. 6 Vgl. z. B. Eco, U., Einführung in die Semiotik, München 81994, 85. 7 Dabei entsteht die Frage, inwieweit man denn von einem (einheitlichen) „westlichen Religionsbegriff“ überhaupt reden kann. Gemeint ist hier darum im diskursiven Sinne der komplexe, mehrschichtige und durchaus umstrittene moderne Begriff Religion, wie er im Laufe mehrerer Jahrhunderte besonders seit der Neuzeit geprägt wurde (vgl. hierzu bes. Smith, J.Z., Religion, Religions, Religious). Zur Frage nach außereuropäischen, besonders asiatischen „Äquivalenten“ des Religionsbegriffs s.a. Deeg, M./Freiberger, O./Kleine, C. (Hg.), Religion in Asien? Studien zur Anwendbarkeit des Religionsbegriffs, Uppsala 2012.
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nen, an deren Missverständnissen wir interkulturell weiter arbeiten können. Mit Freiberger erscheint es zugleich als modernes religionswissenschaftliches Anliegen, nicht mehr scheinbar isolierbare Phänomene (oder Begriffe), sondern verschiedene Diskurse zu Religion zu vergleichen.8 Dies lässt sich in einem translingualen Ansatz, der Übersetzung im weitesten Sinne als begriffliche Aneignungsprozesse in diskursiven Kontexten versteht, verbinden.9 So müssen wir in China wie im Westen mit jeweils langen Begriffsgeschichten rechnen, die die Begriffe durch ihre unterschiedlichen diskursiven Prägungen jeweils als komplex und mehrschichtig erscheinen lassen und erst durch genaue Aufdeckung der historischen und aktuellen Diskurse verglichen werden können. Der Begriff „Religion“ oder das Adjektiv „religiös“ – und das gleiche gilt dann für nur scheinbar eindeutigere Ausdrücke wie Gott oder Götter – erweist sich dann als heuristisch nützliches Konzept, auch wenn klar ist, dass wir damit von einer westlich geprägten Denktradition und deren geschichtlichen Kontexten ausgehen; alternative sprachliche Gegenbegriffe wären von anderen Seiten, u. a. der Chinesen, zu entwerfen, wobei der moderne westliche Religionsbegriff, wie wir sehen werden, sich auch in Ostasien als dominant erwiesen und ältere, traditionelle Begriffe bereits weitgehend verschüttet hat. Als angemessene Annäherungsweisen an das Problem ergeben sich im Prinzip zwei Möglichkeiten: Eine des direkten Vergleichs zwischen abstrakt definierten westlichen und chinesischen Begrifflichkeiten, in dem Feld, das wir nun normalerweise als „Religion“ bezeichnen, und damit die Rekonstruktion und das vergleichende Gegeneinanderstellen dieser Begriffe. Oder zweitens ein bewusst hermeneutischer Ansatz, der vor allem der bereits erfolgten Begriffs- und Begegnungsgeschichte nachspürt, in der beide, westliche und östliche Kategorien, bereits aufeinandergetroffen und miteinander in Interaktion getreten sind bzw. von den 8
Freiberger, O., Der Askesediskurs in der Religionsgeschichte. Eine vergleichende Untersuchung brahmanischer und frühchristlicher Texte, Wiesbaden 2009, bes. 21 – 33, 255 – 258. 9 Für China siehe hierzu Liu, L.H., Translingual Practice: Literature, National Culture, and Translated Modernity, China, 1900 – 1937, Stanford 1995. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Akteuren diskursiv in Relation gesetzt wurden. Da wir zwischen China und dem Westen bereits auf solch eine längere Begegnungsund Verflechtungsgeschichte aufbauen können, soll hier letzterem gefolgt werden, wobei damit zugleich ein Vergleich verschiedener westlicher und chinesischer Annäherungen anhand verschiedener Positionen der Vergangenheit eingeholt wird. Dieser Ansatz erfolgt dabei entsprechend der Aufgabenstellung dieses Kapitels mit besonderem Bezug zur chinesischen Seite dieser gemeinsamen Geschichte, mit spezifischem Fokus auf den Konfuzianismus und die Frage nach Gott, Göttern, Geistern und anderen möglichen „Äquivalenten“ in konfuzianischen Konzepten. Im Sinne eines hermeneutischen Ansatzes, der vor allem auf das moderne Verständnis von Religion zielt, stehen dabei die bis heute wirkungsvollen Diskurse der neueren Zeit im Vordergrund. Dabei ergeben sich drei Stationen: 1. Vormodernes Verständnis von Religion, Gott, Göttern, Geistern und dem „Weg“ (Dao, Tao ) im Konfuzianismus bzw. dem chinesischen Denken, 2. die Begegnung im Laufe der modernen Missionsgeschichte als gemeinsamer Geschichte bzw. Verflechtungsgeschichte („shared/entangled history“) und als wichtiger Faktor der gegenseitigen Auseinandersetzung und teilweiser Konvergenz im Verständnis von Religion zwischen einem christlich geprägten Westen und Ostasien und 3. moderne Diskurse, in denen das westliche Verständnis von „Religion“ und der Religionsbegriff in chinesischer Übersetzung (als Neologismus zongjiao) als dominantes Konzept bereits Eingang gefunden hat und in chinesischen Projekte und Diskursen selbst in bewussten Anknüpfungen an die eigene Tradition bis heute wirkt.
2. Der Weg und die Lehren – Traditionelle Begriffe und unsere Fragen nach dem Religiösen, Gott oder einer Transzendenz im Konfuzianismus Hermeneutischer Ausgangspunkt soll trotz allem die Rekonstruktion eines ursprünglichen, vormodernen chinesischen Verständnis sein, auch wenn wir uns dazu immer westlichsprachiger Begriffe bedienen müssen. Neben dem Konfuzianismus ist für diese Vorgeschichte auch dessen frühe Wechselwirkung mit anderen Traditionen zu beachten. Vor allem zwei Begriffe haben immer wieder die Gesamtwahr© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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nehmung und -darstellung des Konfuzianismus wie auch der anderen als einheimisch betrachteten Traditionen geprägt: Einerseits gilt dies für den Dao-Begriff (in früheren Transkriptionen auch „Tao“ geschrieben), wörtlich übersetzbar als „Weg“ – eine Metapher, die schon früh in vorchristlichen Jahrhunderten sowohl Konfuzius in den Mund ) begelegt als auch dann besonders von den Daoisten (daojia nutzt und später selbst von den Buddhisten adaptiert wurden. Die Metapher hatte dabei mindestens zwei Aspekte, die identifiziert werden: Dao kann den zu gehenden Weg des Menschen meinen, besonders im konfuzianischen und politischen Kontext auch den der ), aber auch den „Weg idealisierten frühen Herrscher (wangdao des Himmels“, des Kosmos, dessen Wege in der astronomischen, aber auch der natürlichen Ordnung der Dinge auf Erden manifest sind. Beide fügten sich zusammen in der Vorstellung, dass der Mensch diesem übergeordneten oder kosmischen Weg des Himmels in je angemessener Weise (als Herrscher, Minister, Vater oder Sohn etc.) zu folgen habe. Gemäß den verschiedenen Interpretationen konnte dann auch ein Dao im Sinne der jeweiligen Tradition gemeint sein, der man persönlich oder andere folgten bzw. deren „Wege“ man „ging“ oder „praktizierte“ (xing bzw. xiu ).10 Zugleich gewann Dao auch früh die Bedeutung als selbst wirkende kosmische Macht und Wesenheit. Im letzteren Sinne kommt Dao auch quasi einem „substantiellen“ (nicht lediglich formalen) Wahrheits- und Religionsbegriff nahe. Allerdings wurde diese Vorstellung nie abschließend personalisiert.11 Demgegenüber greift der zweite, auf dieselben Traditionen angewandte jiao-Begriff eher das Moment des „Lehrens“ auf. Dabei verbinden sich mit diesem Begriff mehrere Aspekte, nämlich einerseits die Bezeichnung einer Schul- und Lehrtradition (der Lehren der weisen Herrscher, des Konfuzius, des Buddha, des Laozi etc.), andererseits ein besonderes pädagogisches, ja, sozialethisch-politisches Moment der Erziehung und Bildung des Einzelnen als Teil einer Gesellschaft, die konfuzianisch als in hierarchischen und Familien10
Campany, R.F., On the Very Idea of Religions (In the Modern West and in Early Medieval China), in: History of Religions 42/4 (2003), 300 – 305. 11 Bzw. lediglich als „Verkörperungen“ des Daos etwa im Daoismus durch einen vergöttlichten Laozi (Lao-tzu), jedoch nicht im Sinne des Christentums als allmächtiger und zugleich persönlich nahbarer Gottheit. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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beziehungen strukturiert gedacht wurde.12 In diesem Sinne hatten sich schon in der antiken Chunqiu- und Zhanguo-Periode (770 – 476/ 476 – 221 v. Chr.) verschiedene konkurrierende Schulen (jia ) gebildet, die unter dem Namen verschiedener Schulhäupter oder Patriarchen miteinander wetteiferten. Dabei ging es zunächst um die Gunst des Herrschers und politische Entscheidungsfragen, die aber verknüpft wurden mit allgemeinen kosmologischen und ethischen Ansichten, Fragen der Organisation des Staates, empfohlenen rituellen Praktiken oder Methoden der Lebensverlängerung. In einem allgemeinen Sinne könnten sie auch als Lehren oder Rezepte der Problem- und Lebensbewältigung verstanden werden, die von Ratgebern individuell vertreten oder schulartig weitergegeben wurden. Aus diesen kristallisierten sich u. a. die Schulen der Konfuzianer (Ru ) mit ihrem deutlichen Akzent auf Ritenpraxis, Persönlichkeits-/ ) und Charakterbildung oder „Selbstkultivierung“ (xiushen politisch-gesellschaftlichen Rezepten gegenüber den Daoisten mit den Themen Kosmologie, Nichteinmischung (Laissez-faire, wuwei ) und Lebensverlängerung, den Legalisten (fajia ) mit ihrem Plädoyer für eine starke Regierung durch strenge Gesetze und einen ) Beamtenstaat sowie einer kosmologischen Schule (yinyangjia heraus. Die letzten zwei hielten sich nicht als eigenständige Schulen, ihre Vorstellungen flossen aber wie einige andere13 in die der ersten beiden ein. Später trat der Buddhismus (fojiao , die „Lehre[n] des Buddha“) als weitere Tradition hinzu, mit dem sich langsam die generische Bezeichnung „Lehren“ (jiao) statt Schulen (jia) durchsetzte. 12
Vgl. Chen Hsi-yuan, Confucianism Encounters Religion. The Formation of Religious Discourse and the Confucian Movement in Modern China, Ph.D. thesis, Harvard 1999, 1, 10 f zum Konfuzianismus als archetypischer (und orthodoxer) jiao. Zum Gebrauch von jiao in diesem pädagogisch-gesellschaftlichen Sinne im Konfuzianismus vgl. schon Xu Shens Shuowen jiezi und das kanonische Buch und Traktat aus dem Riten-Klassiker des Liji, Zhongyong („Die Anwendung der Mitte“). 13 Manche nehmen auch an, dass die Schule Meister Mos (Mozis), die oft mit christlichen Lehren verglichen wurde, mit Geistervorstellungen, dem Glaube an den Himmel und dem Konzept der hierarchielosen Nächstenliebe trotz ihres Untergangs großen Einfluß auf den Konfuzianismus ausübte, vgl. z. B. Wang [„Abriss der Geschichte Zhixin, Zhongguo Jidujiao shigang des Christentums in China“], Shanghai 2004, 11. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Durch den dominanten Charakter des „konfuzianischen Kanons“ als staatlich sanktionierter Tradition ab der frühen Han-Dynastie (202 v. Chr.–9 n. Chr.), später insbesondere als Stoff für die Examina für die Rekrutierung der Beamten eingesetzt, behielt der jiao-Begriff jedoch eine dominant konfuzianische Prägung. Die konfuzianisch geschulten Gelehrten, die die Beamten stellten, definierten eine „Lehre“, also auch die des Daoismus und Buddhismus, nicht zuletzt durch ihren Nutzen als ethische Unterweisung. Das galt auch, wenn diese nach dem Verständnis dieser Traditionen selbst viel mehr auf einen kosmologischen Bezug zielte und mit weiteren metaphysischen Lehren und eigenen Praktiken assoziiert war. Da der Konfuzianismus bis auf wenige historische Ausnahmen seit der Han-Zeit durch die Examina und den mit ihm assoziierten rituellen Staatskult als staatliche Lehre sanktioniert war, konnte dazu in der Praxis komplementär oft eine individuelle buddhistische oder daoistische Praxis bei den Gelehrten selbst treten, während im Volk sowieso eine jeweilige lokale Mischung aus verschiedenen volksreligiösen, buddhistischen und daoistischen Elementen dominierte. Zu der meist tolerierenden Haltung der Gelehrten und des Staates zu diesen volksreligiösen lokalen Kulten, die oft gar staatliche Anerkennung erlangten und bewusst in den Staatskult integriert wurden, und der Frage der Annahme der Existenz von Geistern und Göttern (guishen ) kommen wir noch unten unter dem Stichwort „shendao shejiao “. Erst mit der Bewegung des sogenannten Neokonfuzianismus (in der späten Tang-Zeit, und dann besonders ab dem 11. Jh.) formierte sich wieder ein stärkerer „fundamentalistischer“14 Konfuzianismus, der in Abgrenzung und Aufnahme von Elementen von Buddhismus und Daoismus auch individuellere Konzepte konfuzianischer Praxis entwickelte (oder in der eigenen Tradition neu identifizierte). Erst später trat auch das Christentum hinzu, zunächst in ähnlicher Stellung wie Buddhismus und Daoismus, mit denen es konkurrierte, und in „Ergänzung zum Konfuzianismus“. Bereits in der katholischen (Jesuiten)mission spielte dabei die Frage nach dem Himmel, der Bezeichnung für Gott sowie den Riten in der „Schule der [konfu14 Vgl. Goossaert, V., 1898: The Beginning of the End for Chinese Religion?, in: The Journal of Asian Studies 65.2 (2006), 308.
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zianischen] Gelehrten“ (secta literatorum), wie wir unten noch sehen werden, eine fundamentale Rolle, die auf christlicher Seite erheblichen interpretatorischen Aufwand nötig machte. So spielte die Vorstellung eines persönlichen obersten oder gar monotheistischen Gottes in China keine Rolle, weder in der Praxis noch im Sinne eines individuellen sich anvertrauenden „Glaubens“ (pistis, fides). Auch dogmatische Glaubensbekenntnisse hatten darum keine Bedeutung. Wege (dao) waren eben eher mit bestimmten grundlegenden Vorstellungen verbundene Lebens-Rezepte, die zu praktizieren (xing) oder zu kultivieren (xiu) waren und sich dabei als hilfreich, wirksam und heilvoll für den einzelnen und ein Kollektiv erwiesen oder nicht. Nicht ausgeschlossen war damit jedoch die prinzipielle aus der antiken Tradition stammende Idee etwa einer himmlischen Macht, des Himmels (oder auch mehrerer Himmel) oder eines rituell vom Kaiser verehrten obersten Gottes Shangdi.15 Hinzu kam die Vorstellung von weiteren Göttern bzw. Geistern (shen), einschließlich der verehrten familiären Ahnengeister. Die Überzeugungen der tatsächlichen Existenz von Geistern waren allerdings gegenüber der zugeschriebenen ethischen Funktion dieser Riten im Konfuzianismus eher marginal. Nicht selten wurde von skeptischen Gelehrten deren Existenz sogar bezweifelt, ohne dass deren Funktion notwendigerweise in Frage stand. Diese Ambiguität findet sich schon in einem frühen, dem Konfuzius zugeschriebenen Zitat aus den Gesprächen des Konfuzius (Lunyu): „[Der Meister] opferte [den Ahnen] als seien sie anwesend, er opferte den Geistern, als seien sie anwesend (ji ru zai, ji shen ru shen , ). Der Meister sagte: ,Wenn ich nicht an zai einem Opfer selbst teilnehme, ist es, als ob das Opfer nicht vollzogen worden sei.‘“ ( , ) (Lunyu 3,12). Ganz im Gegensatz zu einem Skeptizismus, der sich dem westlichen Leser durch den ersten Doppelsatz unmittelbar aufdrängt, läuft die Pointe in diesem kurzen „Logion“ vor allem darauf hinaus, die reale Beteiligung (und das „Beteiligtsein“ als Haltung) des Opfernden am stattfindenden Vorgang des Opfers selbst zu betonen. Dabei bleibt noch 15
So in den älteren Klassikern diverse Male, jedoch nicht durchgehend oder gar häufig erwähnt. (Im Staatskult erscheint traditionell die Dopplung als (Erhabener Himmel, oberster Herrscherahn/ Haotian Shangdi Gott). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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immer offen, ob die Gegenüber der rituellen Opferhandlung, die Ahnen und Geister, tatsächlich als anwesend vorgestellt sind. Dies erscheint geradezu als sekundär. Wichtiger war die Funktion für die Einübung einer respektvollen, ethischen Haltung, um die es hier wie an anderen Stellen viel eher geht. Ursprünglich entstammte die Vorstellung eines Himmels (tian ) der antiken Tradition einer Verehrung eines obersten Himmelsgottes seit der Zhou-Dynastie (11. Jh.–256 v. Chr.). Dieser wurde zudem “, eines obersten (shang ), mit der Vorstellung des „Shangdi jedoch anscheinend ferngerückten Hochgottes, eventuell eines Urahnen aus der vorhergehenden Shang-Dynastie, vereinigt.16 Dabei erfüllte der Himmel eine wichtige legitimierende Funktion der neuen Herrschaft. Schon früh erschien diese Vorstellung des Himmels auch trotz der Opfer durch den Kaiser (als „Himmelssohn“) weitgehend unpersönlich. Der Himmel wirkte als eingreifende Macht insbesondere durch astronomische Zeichen oder Naturkatastrophen. Aktuell blieb diese Idee durch die gesamte Kaiserzeit hindurch vor allem im politischen legitimatorischen Konzept eines „Mandats des Himmels“ (tianming ), das eine Dynastie am Anfang erhält und das dessen ,transzendente‘, jedenfalls übermenschliche Legitimation darstellt. Dieses Konzept, das zunächst mit dem Herrschaftsantritt der antiken Zhou-Dynastie verbunden war, wurde bis in jüngste Zeit beibehalten.17 Bei Konfuzius selbst, soweit wir ihn aus den ihm zugeschriebenen Gesprächen (Lunyu) kennen, spielte die Vorstellung des Willens des Himmels (tianming) und einer Führung durch den Himmel immerhin eine gewisse Rolle in einer Anzahl von Logien.18 Beim 16
Im Staatsritual wurde dieser als Haotian Shangdi („Erhabener Himmel, Höchster Gott(ahn)“) verehrt und beopfert. Zur offenen Frage der Deutung dieses Shangdi in der frühesten Zeit, den wir für die Shang-Dynastie nur aus wenigen Orakel-Inschriften kennen und dem anscheinend keine eigenen Opfer dargebracht wurden, s. u. Clart, P., Religionen Chinas, 21. 17 Es ist noch immer enthalten im modernen chinesischen Übersetzungsbegriff für Revolution, „geming “, das wörtlicher zu übersetzen ist als „Wechsel des legitimierenden Mandats“. 18 Einige Konfuzius zugeschriebene Logien erwähnen durchaus den „Willen des Himmels“, auch in persönlichem Bezug, so Lunyu 2,4: „Als ich fünfzehn war, war mein ganzer Wille aufs Lernen ausgerichtet. Mit dreißig Jahren stand ich fest. Mit vierzig hatte ich keine Zweifel mehr. Mit fünfzig kannte ich den © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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einflussreichen konfuzianischen Denker Xunzi (ca. 300 – 230 v. Chr.) wurde der schon zu seiner Zeit entpersonalisierte Himmel zunehmend naturalisiert und mehr und mehr im Sinne eines natürlichen Phänomens verstanden. Derselbe Xunzi hielt jedoch zugleich vehement an der Bedeutung von Riten und Sitte (li ) fest, die gerade auch die Opfer umfassten, die wir in westlicher Perspektive normalerweise der religiösen Sphäre zuordnen. Während das Himmelsopfer als höchstes Opfer neben dem für die Ahnen bis zum Ende der Kaiserzeit (1911) das Privileg des Kaisers darstellte, konnte ihm von normalen Individuen oder in individuellen Anliegen nicht offiziell geopfert oder zu ihm gebetet werden. Für alle Personen unterhalb des Herrschers waren hingegen andere Götter oder Geister (shen ) – wie die lokalen Erdgötter oder die eigenen Ahnen – zuständig. Allerdings traten später auch mit buddhistischen und daoistischen Vorstellungen verknüpfte diffuse Vorstellungen vom Himmel dazu, die diesem als lenkender Instanz auch im Volk einen Platz gaben. Ähnliches gilt auch für die Vorstellung des obersten Gottes oder Urahns „Shangdi“, die sogar noch frühere Wurzeln aus der ShangDynastie (ca. 16. Jh. bis 11. Jh. v. Chr.) aufweist. Lange Zeit war sie – bis auf die Tradierung im Kanon und in den höchsten Opfern – eher Willen des Himmels. Als ich sechzig war, hatte ich ein feines Gehör, um das Gute und das Böse, das Wahre und das Falsche herauszuhören. Mit siebzig konnte ich den Wünschen meines Herzens folgen, ohne das Maß zu überschreiten.“ Allerdings spricht Lunyu 17,19 vom Himmel als nicht direkt zu den Menschen redend: „Konfuzius sprach: ,Ich möchte meine Zeit nicht mit Reden verbringen.‘ Daraufhin meinte Zi-gong: ,Wenn der Meister nicht redet, was können wir dann noch anderen übermitteln?‘ Konfuzius erwiderte: ,Redet etwa der Himmel? Die vier Jahreszeiten haben ihren Wechsel, die Dinge entstehen und wachsen. Redet etwa der Himmel?‘“, s.a. verschiedene Logien, die eine Führung durch den Himmel nahelegen, z. B. Lunyu 9,5: „Als der Meister in Kuang um sein Leben bangen musste, sprach er: ,König Wen lebt nicht mehr – sind die Prinzipien von Sitte und Ordnung da nicht mir anvertraut? Wollte der Himmel, dass sie untergehen, dann wären sie mir nicht anvertraut worden. Will der Himmel das aber nicht, was können mir da die Leute von Kuang anhaben?‘“ u. ö. (3,13; 3,24; 6,28; 7, 23; 7,35; 8, 19; 9,6; 9,12; 11,9; 11,19; 12,5; 14,35; 14,36; 16,8; 20,1; 20,3) (Übers. nach Moritz, R., Konfuzius: Gespräche (LunYu), Leipzig 1982). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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marginal. Wie wir sehen werden, ist dieser Ausdruck jedoch nach Zusammenbruch der „konfuzianischen“ Institutionen des Staatsrituals und der erfolgreichen Aneignung durch die Christen besonders von den Protestanten beibehalten worden und wird heute sogar im allgemeineren Sprachgebrauch – anders als Begriffe wie dao oder shen (Gott, Geist) – hauptsächlich mit dem christlichen Gott als quasi „chinesischer Gottesname“ assoziiert.19 Schließlich ist der generische Ausdruck „shen“ zu bedenken, den man im Deutschen normalerweise als „Gott/Götter“ oder auch „Geist“ übersetzen wird. Zum Teil erscheint dieser auch in binominaler Kombination als „guishen“, das eher auf Geister im Plural unter Einbeziehung auch negativ wirkender Geister (z. B. gefährlicher hungriger Geister oder Dämonen) hinweist.20 Im Allgemeinen hat die westliche Forschung zur chinesischen Religion hier nach der chinesischen Materie eine systematische Dreiteilung vorgeschlagen: Man kann unterscheiden zwischen 1. Ahnengeistern, 2. Göttern (Naturgeistern und zu Göttern aufgestiegene und verehrte Menschen), 3. bösen Geistern (oder Dämonen).21 Die dominante religiöse Praxis war dabei der unterschiedlichen Behandlung dieser Wesen gewidmet. Während Ahnengeister eher positiv waren und die Beachtung der Ahnenriten für Segen für die eigene Familie und den Clan sorgen konnten, waren Naturgeister (neben dem Himmel also die Vielzahl der Erdgötter, Regengötter, des 19
Vgl. zur Problematik und Bedeutung des Gottesnamens im Zusammenhang mit China auch Teuffel, J., Mission als Namenszeugnis: Eine Ideologiekritik in Sachen Religion, Tübingen 2009. 20 Dieser Begriff konnte in früherer Zeit allerdings gerade die verstorbenen Ahnen meinen. Erst in späterer Zeit wurde er mehr für gefährliche Geister benutzt, die herumspuken. Für die hungrigen Geister (e’gui , Sanskrit preta) nicht erlöster Seelen wurde aus dem Indischen im chinesischen Buddhismus auch die Speisung dieser Seelen im „Geistermonat“, dem siebten Mondmonat ), übernommen. (chines. guiyue 21 Vgl. Clart, P., Religionen Chinas, 175, nach Jordan, D.K., Gods, Ghosts, and Ancestors. The Folk Religion of a Taiwanese Village, Berkeley 1972 und Wolf, A.P Gods, Ghosts, and Ancestors, in: Ders. (Hg.), Religion and Ritual in Chinese Society, Stanford 1974. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Windgottes, Drachen etc.) mächtiger und von allgemeinerer, meist geographischer oder funktionaler Bedeutung. Hinzu kamen jene in Kulten verehrten Verstorbenen, die ihre Wirkmächtigkeit (ling ) über den Kreis des Clans hinaus unter Beweis gestellt hatten (so u. a. diverse Schutz-, Reichtums- und Glücksgötter oder unter persönlichem Namen oder Titel bekannte Gestalten wie Guandi, Mazu etc.).22 Dazu traten außerdem buddhistische Bodhisattvas wie die weithin verehrte „Göttin“ Guanyin (urspgl. der Bodhisattva Avalokites´vara) und verschiedene Buddhas etc. Viele dieser Kulte wurden in die Staatsreligion im „Register der Opfer“ aufgenommen und so Teil des rituellen Systems, das im kaiserlichen China durch konfuzianisch gebildete Beamte auch auf lokaler Ebene praktiziert wurde. Diese Situation ergibt nun das für westliche, insbesondere christliche Augen ungewohnte und verwirrende Bild eines scheinbar – im theologischen Sinne – chaotischen Religions- und Göttersystems, das jedoch, sofern es im Staatskult integriert war, von der konfuzianisch gebildeten Elite rituell verwaltet wurde. Es ist jedoch nur zu verstehen, wenn man den Blick von einer theologischen, d. h. auf Gott und Götter gerichteten, Fixierung abwendet und sich auf ein an konkreten Rezepten, ethischen Gesellschaftsbezügen und Selbstkultivierung orientiertes Denken einlässt. In gewisser Weise entspricht diese Haltung eher einem Verständnis von Realität, das mit vielen Einflüssen und Faktoren im Leben sowie der Möglichkeit, auf diese in vielfältiger Weise rituell, ethisch oder über Arbeit an sich selbst (Selbstkultivierung) zu reagieren, rechnet.23 Eine Fixierung auf lediglich einen Weg, oder gar nur einen Gott, erschien erst mit dem Christentum (oder in anderer Weise mit dem Islam)24 relativ spät. Ein Gottesbegriff im 22
Zum chinesischen Pantheon siehe z. B. Birrell, A., Chinesische Mythen, Stuttgart 2002. 23 Eine Differenzierung von insgesamt fünf „Modalitäten“ (diskursiv, selbstkulturell, liturgisch, direkt-praktisch und relational) chinesischer religiöser Praxis findet sich bei Chau, A., Modalities of Doing Religion and Ritual Polytropy: Evaluating the Religious Market Model from the Perspective of Chinese Religious History, in: Special Issue. „Beyond the Market: Exploring Religious Fields in Modern China“, Religion 41 (2011). 24 Berührungen mit dem Islam finden sich schon in der Tang-Zeit, nicht viel früher war auch zunächst das „nestorianische“ Christentum (der Assyrischen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Sinne des christlichen Eingottglaubens oder auch nur indoeuropäischer mehr oder weniger systematisierter Götterwelten („Panthea“) mit deren zentraler Bedeutung von Glauben und Verehrung findet sich im traditionellen China so nicht, jedoch fand die christliche Mission immerhin genug Möglichkeiten an Vorstellungen existenter „Geistwesen“ anzuknüpfen. Ähnliches gilt auch für andere Motive, die wir heute mit einem Göttlichen verbinden: denen von (erfahrbarer) „Heiligkeit“ oder der Konzeption von „Transzendenz“. Beide Begriffe sind zugleich sehr neuzeitlich-westlich geprägt, denen man nur ungenau im traditionellen China Übersetzungsäquivalente zuordnen kann.
3. Die „(Wieder)entdeckung“ des Motivs des Himmels und eines höchsten oder Hochgotts durch Jesuiten und die protestantische Mission des 19. Jh. Als die katholische Mission im 16. Jh. – nach ersten Präsenzperioden des „nestorianischen“ Christentums in der Tang-Zeit (618 – 907) und unter der mongolischen Yuan-Dynastie (ab 1234 in Peking/Nordchina, offiziell 1279 – 1368) sowie zeitgleicher Mission der Dominikaner – erneut nach China kam, fand sie die Situation einer dominanten mit Konfuzius verbundenen „Lehre der Gelehrten“ („secta“ oder „lex literatorum“)25 sowie des Staatskults vor – die dann im 19. Kirche des Ostens) nach China gelangt. Der Islam ist heute in der VR China mit unterschiedlich geschätzten ca. 20 – 40 Millionen vertreten, dabei macht neben den eigentlichen ethnischen Minderheiten (bes. im Westen des Staatsgebiets) die muslimisch geprägte, jedoch weitgehend sinisierte und nur durch ihre Religion definierte Minderheit der Hui in Kernchina immerhin ca. 10 Millionen aus. Auch hier finden sich Adaptationen des Dao-Begriffs und Synthesen mit dem Konfuzianismus der Gebildeten im kaiserzeitlichen China, vgl. Ben-Dor Benite, Z., The Dao of Muhammad: A Cultural History of Muslims in Late Imperial China, Harvard 2005. 25 Vgl. Standaert, N., The Jesuits Did NOT Manufacture ,Confucianism‘, in: East Asian Science, Technology, and Medicine 16 (1999), 118 – 121 mit Verweis auf Matteo Ricci und Nicolas Trigault, Histoire de l’exp¦dition chr¦tienne au royaume de la Chine, 1582 – 1610; lat.: De Christiana expeditione apud Sinas suscepta ab Societate Jesu [1617, Vorwort 1615] (vgl. a. die parallele © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Jh., als -ismen-Bildungen allgemein üblich wurden, im Westen durchgehend als „Konfuzianismus“ bezeichnet wurde26 – und dazu die der zwei weiteren, ergänzenden, sich insbesondere auf die individuelle Praxis ausgerichteten Lehren des Buddhismus und Daoismus sowie die volksreligiöse Praxis. Während die Bettelorden sich vor allem an das normale Volk wandten und – darin mit den Jesuiten übereinstimmend – die volksreligiöse Vielfalt der Götter und Kulte als Aberglauben (superstitio)27 brandmarkten, konzentrierten sich die englische, spanische und deutsche Fassung des Texts). Zum Begriff der secta oder alternativ lex („Gesetz“) zur Bezeichnung der Lehren (Traditionen) von Christentum und Judentum als Vorgänger des modernen Religionsbegriffs siehe außer Standaert (der allerdings eher den Paradigmenwechsel mit dem neuen Gebrauch des Begriffs „religio /Religion“ auch durch die Begegnung mit China betont) auch App, U., The Birth of Orientalism, Philadelphia 2010, 103ff u. ö. 26 Erste Erwähnung für diese Ismen in Bezug auf Religionen finden sich nach Jonathan Z. Smith (Religion, Religions, Religious, 276) nacheinander im frühen bis mittleren 19. Jh., zuletzt auch für den Konfuzianismus, nämlich: „,Boudhism‘ (1821), ,Hindooism‘ (1829, which replaced the earlier seventeenthcentury usages ”Gentoo [from ”gentile”] religion” and ”Banian religion”), ,Taouism‘ (1839), and ,Confucianism‘ (1862)“ (Smith, J.Z., Religion, Religions, Religious, 276). Während Lionel Jensen in seinem wichtigen Buch Manufacturing Confucianism die Jesuiten als Verantwortliche für die Benennung als „Konfuzianismus“ festmacht, da diese im chinesischen Originalbegriff Ru keinen Anhalt habe und zudem mit der geringeren Zentralität der Figur des Konfuzius in den klassischen Schriften kollidiere, verweist Standaert in seiner Rezension mit Recht auf den erst späteren Ursprung dieses „Ismus“ (auch wenn die Jesuiten für die Latini) als Konfuzius verantwortlich sierung von Meister Kong (Kong [fu]zi waren), vielmehr fänden sich in deren (westlichen) Schriften lex/legge etc. oder secta literatorum (Standaert, N., The Jesuits Did NOT Manufacture ,Confucianism‘, 118 – 121). S.a. Sun, X.D., The Fate of Confucianism as a Religion in Socialist China: Controversies and Paradoxes, in: Yang, F./Tamney, J.B. (Hg.), State, Market and Religions in Chinese Societies, Leiden 2005, 232. Zum Problem der Ismen-Bildung und den damit verbundenen westlichen Metaphern s.a. Campany, R.F., On the Very Idea of Religions, bes. 291 – 294 (298). 27 So auch Ricci, M./Trigault, N., De Christiana expeditione apud Sinas Suscepta ab Societate Jesu, Buch 1, Kap. 9 „De ritibus apud Sinas superstitiosis et aliis Erroribus“, 92ff indem viele Aspekte des religiösen Lebens in China unter den Begriff superstitio gefasst werden. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Jesuiten ihrer typischen Missionsstrategie entsprechend auf die Beamten- und Gelehrtenschicht der literati28 und den Kaiser selbst. Dabei verfolgten sie nun, unter Führung des bedeutenden und noch heute in China hoch angesehenen Matteo Ricci (1552 – 1610), eine sogenannte Akkommodationsstrategie,29 die bewusst chinesische Anknüpfungspunkte für die eigene Lehre betonte und diese durch die eigenen Besonderheiten zu ergänzen hoffte.30 Diese Strategie führte sie zu einer anhaltenden und intensiven Auseinandersetzung mit den chinesischen, konfuzianischen Klassikern wie auch der Praxis der chinesischen Riten.31 In den Klassikern fanden die Jesuiten Anknüpfungsmöglichkeiten für die Vorstellung ihres monotheistischen Gottes sowohl im Gedanken des Himmels als auch des dort erwähnten Shangdi. Beide waren ja nicht zuletzt im Staatsritual kom-
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Die literati (oder chines. shidafu ) waren die sozial durchaus durchlässige Schicht der Examenskandidaten, aus denen durch die Staatsprüfungen die Beamten rekrutiert wurden. Zugleich bildeten sie seit den letzten Jahrhunderten sozial eine Einheit mit der lokalen Gentry, aus der sie meist hervorgingen. 29 Diese kann als Vorläufer der späteren missionswissenschaftlichen Inkulturations- bzw. Indigenisierungs- oder kulturellen Kontextualisierungsansätze gelten. 30 Zum Streit um diesen Ansatz als Verkürzung der Darstellung des Christentums (angeblich unter Verschweigung schwieriger, aber zentraler Glaubenslehren wie des Kreuzes) siehe z. B. die kritische Darstellung des französischen Sinologen Jacques Gernet (Gernet, J., Christus kam bis nach China. Eine erste Begegnung und ihr Scheitern, Zürich 1984), der von anderer Seite u. a. von Nicolas Standaert mit Bezug auf die Biographie eines wichtigen gelehrten Konvertiten Yang Tingyun (Standaert, N., Yang Tingyun, Confucian and Christian in Late Ming China. His Life and Thought, Leiden 1988) deutlich widersprochen wurde. 31 Siehe z. B. Standaert, N., Yang Tingyun, 38 – 42, 90 f. Zur besonderen Atmosphäre der Ming-Zeit des 16. Jh., u. a. der Vorstellungen eines Ur-Monotheismus und individueller Frömmigkeitspraxis siehe u. a. Übelhör, M., Geistesströmungen der späten Ming-Zeit, die das Wirken der Jesuiten in China begünstigten, in: Saeculum 23 (1972); vgl. a. Übelhör, M., Hsü Kuang-ch’i (1592 – 1633) und seine Einstellung zum Christentum: Ein Beitrag zur Geistesgeschichte der späten Ming-Zeit, in: Oriens Extremus 15 (1968). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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biniert als Haotian Shangdi präsent.32 Sie sahen hierin einen defizienten, später zudem verschütteten Ausdruck einer ursprünglichen, allgemeinen Offenbarung, in der zwar der Schöpfergedanke fehlte, das ethische Element jedoch stark betont schien. Üblicherweise führten sie ihre Konvertiten nach der Einführung in theologische Wahrheiten auf der Stufe allgemeiner Offenbarungen erst zu den dann folgenden speziellen Elementen wie der Lehre vom Kreuzestod. Buddhismus oder dem Daoismus boten Anknüpfungspunkte über deren individuelle Selbstkultivierungs- bzw. Frömmigkeitspraxen wie Fasten, Sündenbekenntnis und tagebuchartiges Notieren eigenen Fehlverhaltens. Stolpersteine und Streitpunke mit den Bettelorden boten hingegen – neben der von diesen abgelehnten Adaption des Namens Shangdi für Gott (oder der Identifikation des christlichen Gottes mit der chinesischen Vorstellung des Himmels) – die Praktiken der Ahnenverehrung wie des Konfuziuskultes. Deren Bedeutung als zivile oder aber religiöse Riten stand zur Debatte. Dabei betrachteten die Jesuiten diese als „zivil“, wobei Konfuzius und die gelehrte „konfuzianische“ Tradition in Analogie zur verehrten und längst adaptierten griechischrömischen Tradition der Antike gesehen werden konnte, so dass z. B. Konfuzius selbst etwa mit Seneca verglichen wurde.33 Beide Elemente führten dann zum sogenannten „Chinesischen Ritenstreit“ zwischen Jesuiten und Bettelorden (bes. Dominikanern), der mit dem Verbot der chinesischen Riten für die christlichen chinesischen Konvertiten durch den Papst 1704 (1715 und 1742 bestätigt) und dem Verbot des Christentums durch den chinesischen Kangxi-Kaiser 1724 entschieden wurde.34 32
Mungello, D. E. (Hg.), The Chinese Rites Controversy: Its History and Meaning, San Francisco 1994, 51. 33 Vgl. Standaert, N., Matteo Ricci: Shaped by the Chinese, in: Thinking faith 2010, 2 f. (Anm. 9) nach Ricci, M., Lettere, Macerata 2001, 185 (Shaozhou, 10 December 1593): „un altro Seneca“; zu den Konfuzianern als dem Inhalte nach der Schule der Epikureer vergleichbar siehe Standaert, N., Shaped by the Chinese, 100 (Zhaoqing, 20 October 1585): „la setta epicurea“; vgl. a. Rule, P., K’ung-tzu or Confucius? The Jesuit Interpretation of Confucianism, Sydney 1986, 28 – 29. 34 Erst in den 1939 (für die Mandschurei bereits 1936) wurde dieses Verbot wieder revidiert und aufgelockert. (siehe z. B. Lee, E.-J., Anti-Europa. Die Ge© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Für die Geschichte des modernen wissenschaftlichen Riten- oder Ritualbegriffs ist noch immer nicht ausgiebig evaluiert, welche Bedeutung hierbei der chinesische Ritenstreit spielte.35 Jedoch findet sich hier ein Diskurs vor, der in China und im Westen Beachtung fand und zumindest im Westen Riten (bzw. Ritual) als einen Vergleichsoder Metabegriff etablierte. Die Frage von Religion/religiös vs. zivil (oder säkular) schien für die Chinesen wie den Kaiser Kangxi jedenfalls als fremd, da das an ethischer Lehre ausgerichtete, konfuzianisch dominierte jiao-Paradigma noch intakt war und sich eine Entscheidung im Sinne des aus dem Westen kommenden und nur im westlichen Kontext Sinn ergebenden Religionsbegriffs nicht aufdrängte. Eine ähnliche Frage wie die katholische im 17. Jh. stellte sich dann im 19. Jh. der jungen protestantischen Mission in China, die erst mit der Ankunft Robert Morrisons (1782 – 1834) in Kanton 1807 begann und besonders nach der Öffnung Chinas für Missionare und Handel nach dem Opiumkrieg (1840 – 42) richtig einsetzte. Im protestantischen Kontext ist sie besonders bekannt unter dem Stichwort der „(Protestant) Term Question“, der Frage nach der richtigen Übersetzung von „Gott“ ins Chinesische. Diese Frage stellte sich der protestantischen Mission noch einmal dringender und führte verschieschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklärung. Eine ideengeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. Münster/Hamburg/ London 2003, 39. Eine Initiative zu einer sogar mit anderen Religionen gemeinsamen Verehrung des Himmels fand sich u. a. initiiert durch den katholischen Kardinal Yu Bin (1901 – 1978, 1935 Bischof in Nanjing) auf Taiwan (Republik China) zum Chinesisch Neujahr 1971, siehe Yu Bin, Fuxing Zhonghua wenhua yu jingtian („Renaissance of Chinese Culture and Worshipping Heaven“), in: Zhonghua wenhua fuxing yuekan [Chinese Culture Renaissance Monthly] 5,11 (Nov. 1970), 9; vgl. a. Bresciani, U., Ancestor Worship and Cardinal Yu Bin, in: Ching Feng 3 (1 – 2) (2002) und Zhang Zhendong, Yu Bin shuji de tiandao yu rendao („The Way of Heaven and the Way of Man of Cardinal Yu Bin“), in: Zhexue yu wenhua, 15,8 / 171 (August 1988), 506. 35 Siehe jedoch das Material in App, U., Birth of Orientalism; vgl. hierzu ein noch unveröffentlichtes Paper von Prof. U. Berner auf dem Kongress der IAHR 2010 in Toronto „Chinese-European Encounter and the Emergence of a (Comparative) Science of Religion“ im zusammen von Joachim Gentz und mir organisierten Panel “The Development of Modern Religious Concepts and the Discipline of Religious Studies in China“. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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dene Missionen und von diesen eingesetzte Kommissionen ins Feld der Auseinandersetzung, da der Protestantismus stärker als der Katholizismus eine komplette Bibelübersetzung verlangte, in der der Gottesname konsistent zu übersetzen war. Nur im 17. Jh. hatte Jean Basset (1662 – 1707) eine unvollständige katholische, nie offiziell anerkannte Übersetzung erstellt, die mit der Übersetzung des Gottesnamens als „shen“ (Geister, Gott[heit]) Einfluss auf die weitere Diskussion haben sollte.36 Der britische Missionar und Sinologe James Legge, der später auch mit Max Müller zusammenarbeitete, präferierte dagegen wie die Jesuiten die Übersetzung als „Shangdi“. Im Laufe der Streitigkeiten des 19. Jh. (mit zeitlichem Schwerpunkt von 1847 und 1890) setzten sich nun verschiedene, zum Teil konkurrierende protestantische Übersetzerteams und schließlich auch interdenominationell besetzte Kommissionen an diese Frage, bevor erst 1919 eine komplette Version der chinesischen Bibelübersetzung (ins moderne Chinesisch) vorgelegt wurde. Auch diese ist allerdings bis heute in zwei konkurrierenden Version vorhanden: einer, die Gott mit dem Shangdi der konfuzianischen Klassiker übersetzt, und einer anderen, die hier den generischen Begriff „shen“ (Götter/Geister) verwendet. Die Problematiken beider Übersetzungen mit ihren jeweiligen Konnotationsfeldern und Kontexten sind des Öfteren diskutiert worden.37 Festzuhalten ist, dass heute die Präsenz des Christentums in allen geographischen Regionen des kulturellen Chinas (einschl. Taiwans, Hongkongs oder bei Auslandschinesen in Südostasien und im Westen) und ein fester kontextueller Gebrauch bei beiden Begriffen zu relativer Eindeutigkeit und sogar Verdrängung indigener Konnotationen geführt hat – sofern diese nicht bewusst wieder hervorgeholt werden. Insbesondere der früher so umstrittene Gebrauch von Shangdi scheint nach Wegfall seines Gebrauchs im Staatsritual gerade zu einem Erkennungsbegriff für den christlichen Gott geworden zu sein. 36
Siehe Zetzsche, J., Tianzhu, Shangdi oder Shen? Zur Entstehung der christlichen chinesischen Terminologie, in: Chun (Chinesischunterricht) 13 (1997); vgl. ders., The Bible in China. The History of The Union Version or The Culmination of Protestant Missionary Bible Translation in China, Nettetal 1997. 37 Zuletzt Teuffel, J., Mission als Namenszeugnis. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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4. Die Einführung des westlichen Religionsbegriffs über den Neologismus zongjiao, moderne Diskurse und Betrachtungen zur „religiösen Dimension“, „(immanenten) Transzendenz“ und „Spiritualität“ im Konfuzianismus Während sich Missionare früh mit dem Auseinanderklaffen des christlich-westlichen Religionsbegriffs und theistischer Konzepte sowie dem konfuzianischen jiao-Paradigma auseinandersetzen mussten, stand diese Frage für den Konfuzianismus in China selbst lange nicht an. Die Wissensordnungen schienen bis tief ans Ende des 19. Jh. etabliert und leistungsfähig und es wurde an ihnen auch als Teil chinesischer Identität („Essenz“) festgehalten, als schon äußerliche, technische und militärische Mittel aus dem Westen adaptiert wurden.38 In dieser Situation schienen sich auch das Christentum und die Mission in China ohne einen neugeschaffenen chinesischen Übersetzungsausdruck für „Religion“ als eine der jiao (Lehren) und mit Teilnahme am Dao-Diskurs eingeordnet zu haben.
4.1 Frühe Diskussionen um Religion und Konfuzianismus und die Aneignung des westlichen Religionsbegriffs um 1900 und in den Debatten der späten Kaiser- und Republikzeit (1912 – 1949) Dies änderte sich jedoch, als die traditionellen Taxonomien angesichts der Übermacht und der Niederlagen Chinas gegenüber dem Westen immer deutlicher in Frage gestellt wurden. Die Situation wurde weiter verschärft, als China im Chinesisch-Japanischen Krieg von 1894 – 95 gegenüber dem sich schneller modernisierenden Japan ebenfalls eine herbe Niederlage erlitt. Ab der letzten Dekade des 19. Jh. und nochmals verstärkt ab 1900 strömten Konzepte westlichen Wissens und wissenschaftlicher Theorien und Begriffe nach China. Hierzu gehörte auch das Konzept von „Religion“. 38
Vgl. die berühmte Formel „zhongxue wei ti, xixue wei yong “ („Chinesisches Lernen als Wesen, westliches Lernen für die Anwendung“), die besonders dem konservativen Reformer Zhang Zhidong (1837 – 1909) zugeschrieben wird. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Nach ersten Annäherungen an diesen westlichen Begriff (u. a. mit einer Transkription (erlilijing oder lulilizheng )39 und Gleichsetzungen mit dem schamanistischen antiken und volksreligiösen wu )40 wurde nicht zuletzt durch den politischen Reformer Liang Qichao (1873 – 1929), seit 1898 im Exil in Japan, die japanische Neuschöpfung in zwei sino-japanischen kombinierten Zeichen „shkyú“, im Chinesischen dann als zongjiao ausgesprochen, dem chinesischen Publikum vermittelt, der sich im Folgenden durchsetzte. Nachdem dieser Begriff noch anfänglich im Sinne des ethisch-pädagogischen jiao-Paradigmas verstanden worden war, klärte ihn Liang Qichao für sich und seine Leser 1902 in einem Artikel41 im (eigentlichen) Sinne der „Westler“ (xiren suowei zongjiao zhe ) als „abergläubische Verehrung“ mit wichtigen Elementen wie Seelenvorstellung, Glaube, Ausrichtung auf ein Jenseits (Nirvana oder christlichen Himmel/Paradies), Gottesdiensten oder Riten und im Gegensatz zur weltorientierten, vernünftigen und sozialethischen Ausrichtung des Konfuzianismus. Damit stellte er sich allerdings in einem nun dezidiert religionskritischen Sinne in einen Gegensatz zur auch von ihm vorher vertretenen Meinung, dass der Begriff zongjiao (Religion) gerade auch auf die eigene Tradition 39
Song Yuren (1857 – 1931) in seinem Caifengji [„An Account of Western Customs“, verf. o.O. 1894] (siehe Chen Hsi-yüan, Zongjiao/ Religion: A Keyword in the Cultural History of Modern China, in: Xinshixue 13.4 (Dez. 2002), 60 und Chen Hsi-yuan, Confucianism, 47 f.) und die zweite in Yan Fus Übersetzung von Adam Smiths An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (Yuanfu ), übers. von Yan Fu (orig. 1902). 40 So im Beitrag des Ersten Gesandtschaftssekretärs in Washington und Vertreter des Kaiserhofs beim Parlament der Weltreligionen in Chicago 1893, Pung Kwang-yu (Peng Guangyu ) unter Hinzuziehung von Xu Shens antiker, Han-zeitlicher Definition von wu in seinem Werk , siehe Pung Kwang Yu (Peng Guangyu), ConfuciShuowen jiezi anism, in: Barrows, J.H. (Hg.), The World’s Parliament of Religions: An Illustrated and Popular Story of the World’s First Parliament of Religions, Held in Chicago in Connection with the Columbian Exposition of 1893, Chicago 1893; vgl. Chen Hsi–yüan, zongjiao, 41. 41 Liang Qichao, Baojiao fei suoyi zun Kong lun, in: Liang Qichao xuanji , Peking 2006, 77 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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des Konfuzianismus zu beziehen sei – eine Wendung, die nicht alle aus dem Lager des Konfuzianismus mitmachten. Seit dieser Zeit und den folgenden Debatten ist es sinnvoll von einem modernen chinesischen Religionsdiskurs, angelehnt nun an den modernen chinesischen Religionsbegriff (zongjiao), zu sprechen. Mit der Frage nach der Anwendbarkeit des chinesischen Religionsbegriffes (zongjiao) auf den Konfuzianismus war u. a. die Frage nach dessen positiver und negativer Wertung verbunden. Bis dahin hatte insbesondere Liangs Mentor Kang Youwei, der Führer des Reformversuchs von 1898, den Begriff bewusst in einem positiven Sinne auf den Konfuzianismus angewandt, an dem er auch im Unterschied zu seinem Schüler Liang weiter festhielt. In den nachfolgenden Debatten um den Konfuzianismus als Staatsreligion wurde zurückgehend auf eine Unterscheidung Kang Youweis selbst eine Differenzierung innerhalb der neuen Kategorie zongjiao vorgenommen, nämlich zwischen solchen Lehren oder Religionen, die vor allem den humanistischen oder „Menschenweg“ (rendao ) betonten – wie der Konfuzianismus – und anderen, die einen theistischen Weg des Bezuges auf einen Gott, Götter oder Geister vertraten, wie das Christentum, aber auch Buddhismus, Daoismus, Islam und lokale volksreligiöse Kulte.42 Diese Unterscheidung war keineswegs fremd, da schon früher im Dao-Diskurs ähnlich lautende Unterscheidungen gemacht worden waren. So wurde der Daoismus öfter als „Weg des ) bezeichnet. Ebenso kann auch dem Begriff Himmels“ (tiandao „shendao“ („Götter-Weg“) eine Tradition über die Wirkungsgeschichte eines Zitats in den Klassikern aus dem kanonischen TuanKommentar zum Yijing43 zugesprochen werden: „Der Weise (ideale Herrscher) etabliert die (moralische) Lehre mit Hilfe des Wegs der Götter (Geister)“ ([shengren yi] shendao shejiao ( ) ). Dieses Zitat war seit Jahrhunderten als Ausdruck der Haltung der 42
Wieder anders konnte allerdings auch der Buddhismus behandelt werden, der nun in Rezeption westlicher Forschungsliteratur zum frühen und „UrBuddhismus“ oft als eigentlich atheistisch verstanden wurde. 43 Das Yijing (I Ging) ist dem Ursprung nach ein altes Orakelbuch, das die Hexagramme mit seinen zehn mitkanonisierten Kommentaren [„Flügeln“], darunter dem Tuan-Kommentar, auslegt. Vgl. a. u. a. die Übersetzung von Wilhelm, R., I Ging. Das Buch der Wandlungen, München 201992. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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konfuzianisch Gebildeten zu volksreligiösen und lokalen Kulten angewandt worden, meist in dem Sinne, dass lokale Kulte von zu Göttern (oder Geistern) (shen) erhobenen Menschen vom Staat toleriert oder gar durch offizielle Anerkennung gefördert werden konnten, insbesondere sofern sie auf lokaler Ebene „dem einfachen Volk“ mit Hilfe ihrer „theistischen“ Kulte moralische Lehre und Werte vermittelten. Diese Unterscheidung von humanistischem rendao und theistischem shendao, die nun auf den zongjiao-Begriff als eine Binnendifferenzierung übertragen wurde, erlaubte so eine Subsumierung des Konfuzianismus unter dem Begriff „zongjiao“. Diese Einbeziehung erfolgte dabei über die angewandte „shendao-shejiao“-Formel zugleich in einem eher indigenen Verständnis des neuen Ausdrucks, nicht als reine Übernahme westlicher Vorstellung von „Religion“. So wurde kurz nach dem Untergang des kaiserlichen Systems mit seinen kaiserlichen Ahnenriten, Himmelsopfern und weiterem Staatskult sowie der Gründung der Republik 1911/12 von einem Anhänger Kang Youweis, Chen Huanzhang, eine „Konfuzianische Religionsvereinigung“ (Kongjiaohui , Confucian Association) gegründet. Diese sollte nach Wegfall des angestammten institutionellen Orts der konfuzianischen Tradition – nämlich der mit Hilfe an den konfuzianischen Klassikern geprüften und rekrutierten Beamtenschaft, die zugleich auch in priesterlicher Funktion offizielle Riten ausführte – eine konfuzianische „Kirche“ parallel zu anderen „Religionen“ institutionell neu aufbauen und zugleich als geeignete chinesische Staatslehre auch in der neuen Republik propagieren. Diese Gruppe erlangte allerdings trotz anfänglicher Einflüsse auf die Verfassungsdebatten ab 1913 bis in die 1920er keinen bleibenden Einfluss mit höherem Wirkungsgrad.44 Insbesondere wurde die Sanktionierung des Konfuzianismus als Staatsorthodoxie bereits mit dem kaiserlichen Staat (1911) bzw. nach letzten Restaurationsversuchen bis in die 1920er Jahre endgültig abgeschafft. Das Konfuziusritual wurde zwar 1928 nach der erneuten nationalen Einigung durch die Nationalpartei (Guomindang) eingestellt, aber verändert bereits 1934 als Teil der neuen Staatsideologie 44 Zu den Diskussionen siehe u. a. Chen Hsi-yuan, Confucianism Encounters Religion.
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mit Zügen einer politischen Religion wieder eingerichtet45 und besteht bis heute in der Republik China auf Taiwan fort. In besonderer Weise lebte konfuzianisches Denken allerdings auch bei anderen Denkern fort. Nicht zuletzt auch bei einer einflussreichen Gruppe von chinesischen intellektuellen Christen in der Indigenisierungsbewegung (bensehua yundong ), von denen die meisten noch eine konfuzianische Erziehung genossen hatten und die sich unter Adaptionen chinesischer, insbesondere konfuzianischer Elemente aus christlicher Perspektive mit dem eigenen Erbe auseinandersetzten. Bekannte Vertreter wie Xie Fuya, aber auch Wu Leichuan können hier als Repräsentanten gelten.46 Besonders der Religionsphilosoph Xie Fuya setzte sich 1928 in seiner „Philosophy of Religion“ (Zongjiao zhexue , der ersten modernen expliziten „Religionsphilosophie“ in China) u. a. mit dem Religionsbegriff und der Übersetzung als „zongjiao“ auseinander. Dabei verwarf er den neuen Übersetzungsausdruck, der sich am ursprünglichen Sinn der zwei chinesischen Zeichen orientierte, als ungeeignet.47 Er selbst hielt 45
Der Konfuziusgeburtstag wurde jedoch als Feiertag beibehalten und Konfuzius vor allem als Lehrer gedeutet, auch die „Konfuziustempel“ (Kongmiao) wurden dazu erhalten. Siehe u. a. Nedostup, R., Civic Faith and Hybrid Ritual in Nationalist China, in: Washburn, D./Reinhart, A.K. (Hg.), Converting Cultures: Religion, Ideology, and Transformations of Modernity, Leiden 2007, (40) 42 – 44 und Wilson, T.A., Sacrifice and the Imperial Cult of Confucius, in: History of Religions 41 (Feb. 2002). 46 Zu Wu Leichuan siehe Malek, R., Verschmelzung der Horizonte: Mozi und Jesus. Zur Hermeneutik der chinesisch-christlichen Bewegung nach Wu Leichuan (1869 – 1944), Leiden 2004 und Chu Sin-Jan, Wu Leichuan. A Confucian Christian in Republican China, New York u. a. 1995. 47 [The Philosophy of Religion], Xie Fuya, Zongjiao Zhexue Ji’nan 1998, 250. Dabei verstand er zong und jiao jeweils nach Zitaten aus den konfuzianischen Klassikern, nämlich ersteres nach einem Zitat aus dem , Shangshu (Shujing) als ein „wichtiges Opfer“ (yin yu liuzong Shangshu, Kap. Yaodian), das zweite im Sinne des oben genannten Zitats „shendao shejiao“. Er hält diesen neuen Übersetzungsbegriff allerdings insgesamt für unzulänglich, da „zongjiao“ nach den chinesischen Zeichen eben nicht mehr als das äußerliche Verehren und Opfern gegenüber einem oder mehreren Göttern (bzw. Geistern, shen) bedeute und damit einerseits weder den atheistischen Buddhismus noch den agnostizistischen Konfuzianismus noch mystische Erfahrung oder ethisches Verhalten enthalte. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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weiter am traditionellen Begriff dao fest (der auch häufig, z. T. heute noch in Übersetzungen für den westlichen Ausdruck „Theologie“ gebraucht wurde, u. a. als „daoxue“ oder „shengdaoke“).48 Ein anderes Fortleben hatte der Konfuzianismus aber auch in seiner Adaptation in populären religiösen Gruppen (sog. „volksreligiösen Sekten“ oder „Heilsgemeinschaften“) wie Yiguandao, in dem häufig ein „synkretistisches“ Konzept von nun mehr nicht nur „Drei“, sondern „Fünf Lehren“ (wujiao ) oder Religionen – neben Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus auch Islam und Christentum – vertreten wurde.49 Aus dem Jahr 1923 haben wir aus einer solchen volksreligiösen und synkretistischen Gruppe mit dezidiert konfuzianischer Ausrichtung ein Werk Zongjiao dagang, das man zunächst als „Abriss zu Religion“ auffassen mag, vorsichtiger jedoch lieber als „Abriss zu zongjiao“ übersetzen sollte, verfasst von einem Wang Binggang. In diesem wird der neugeprägte Ausdruck „zongjiao“ bewusst in einem weniger westlichen, als vielmehr indigenem Sinne verstanden, in dem der Aspekt als Lehre (jiao) im traditionellen (pädagogisch-ethischen) Sinne als Zielrichtung jeder zong-jiao betont wird, während zong als je verschiedene Grundlage (zong) verstanden, aber auch als auf einen Stifter oder ein Schulhaupt (jiaozhu ) zurückgehende Schulrichtung (zong) bezogen wird. Die verschiedenen Richtungen werden zudem als verschiedene Wege (dao) (des Humanismus für den Konfuzianismus, des Himmels für den Daoismus, der inhärenten Buddhanatur [xingdao ] oder des monotheistischen Gottes nach christlicher oder muslimischer FaÅon) interpretiert.50 48
Siehe das chinesische Curriculum des Hangchow Christian College von 1904 (Hangzhou Yuying shuyuan zhangcheng ) [Hangchow Christian College Curriculum], (Microfiche), Shanghai 1904, 11 f: daound shengdaoke , s.a. im Curriculum des „Religionsinstituts“ xue von Karl Ludvig Reichelt auf dem Tao Fong Shan (Hongkong) Daofeng qikan [“Tao-Fong Magazine. Organ of the Christian Brotherhood among the Religious Devotees in East Asia“], 1,1 (1934), 12, 94 und 97 („daoxueban kech“ und shendaoxuue ). engbiao 49 Zu Yiguandao vgl. z. B. Clart, P., Confucius and the Mediums: Is There a ,Popular Confucianism‘?, in: T’oung Pao: International Journal of Chinese Studies 89 (2003), bes. 37, Anm. 63. 50 In weiteren Teilen der Einleitung werden indigene Auffassungen mit ei© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Das Weiterwirken des konfuzianischen Paradigmas von Lehre (jiao) sowie von der rituellen Praxis kann also auch nach Wegfall der institutionellen Basis durch andere Kanäle (Wiederaufnahme konfuzianischer Elemente in der Praxis der Nationalpartei Guomindang, in volksreligiösen Gruppen wie auch in der Ethik des chinesischen Buddhismus und Daoismus sowie selbst im Christentum) nicht unterschätzt werden.51 Ebenso finden sich auf der lokalen Ebene in Taiwan und Hongkong Rituale, die von Vertretern der lokalen Elite ) in „offizioder sogar unabhängigen Ritenspezialisten (lisheng ellem Stil“ durchgeführt werden und in denen ein anscheinend konfuzianisch geprägtes Ritual weiterzuwirken scheint.52 Außerhalb der Volksrepublik China blieb außerdem auch die Ahnenverehrung selbstverständlicher Teil ritueller Praxis in der Familie, zu der sich bis heute auch die christlichen Kirchen durch Anpassung oder Ersatz (z. B. Blumen statt Abbrennen und Darbringen von Weihrauchstäbchen) verhalten müssen.53
4.2 Annäherungen und die Neuaneignung der Kategorie des „Religiösen“ in der Richtung des philosophischen Modernen Neukonfuzianismus von der Republikzeit bis heute Eine weitere wichtige Strömung, die für die Tradierung, Neubelebung sowie moderne Neuinterpretation unter philosophischen Vorzeichen stand, war diejenige des später sogenannten „Modernen Neukonfuzianismus“ (dangdai xinrujia /dangdai (xin)ruxue nigen strukturellen Einflüssen aus westlichem Religionsverständnis (u. a. Verhandlung von Glaube,Religion und Wissenschaft neben dem buddhistischen )) verTheorem von moralisch-karmischer Ursachenverkettung (yinguo handelt. Siehe Wang Binggang, Zongjiao dagang, Peking 1923, bes. 1 – 51. 51 Zur Weiterwirkung im Katholizismus auf Taiwan vgl. etwa auch den Versuch der Einführung einer gemeinsamen religiösen Himmelsverehrung durch Kardinal Yu Bin in den 1970ern (s. o.). 52 Vgl. hierzu u. a. Clart, P., ,Popular Confucianism‘?. 53 Siehe dazu z. B. eine jüngere Umfrage zur Haltung zur Ahnenverehrung unter Protestanten in Taiwan (durchgeführt von der Religionsabteilung der protestantischen Aletheia University [Zhenli daxue] in Danshui, Taiwan, unveröffentlichtes Material). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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( ) ), der sich nach dem Scheitern der Versuche der Reetablierung des Konfuzianismus als Staatsreligion und angesichts der starken antitraditionalistischen und antireligiösen Bewegung der 1920er Jahre entwickelte. Gerade wegen der deutlichen antireligiösen Strömung der Zeit orientierte sich diese Richtung allerdings an der ebenfalls aus dem Westen (und über Japan) übernommenen Kategorie der „Philosophie“ (jap. tetsugaku, chines. zhexue ): Konfuzianismus sollte nun als Philosophie – besonders am Vorbild der oft herangezogenen Lebensphilosophie Henri Bergsons (1859 – 1941) oder Rudolf Euckens (1846 – 1926) – rekonstruiert werden und zwar in der philosophischen Arena im bewussten Gegenüber zu liberalpragmatischen und szientistischen Versionen der Moderne unter dem Liberalen Hu Shi oder anderen radikal antitraditionalistischen Kritikern (besonders auch der sich formierenden Kommunisten).54 Dabei wurden früh auch religiöse Aspekte evaluiert und selektiv integriert (so z. B. bei Liang Shuming),55 dominant blieb jedoch in dieser Zeit – im Gegensatz zu der weiter existierenden erwähnten Confucian Association (Kongjiaohui) Kang Youweis und Cheng Huanzhangs – zunächst die deutliche Abgrenzung vom Projekt Religion und damit eher die Dissoziation von religiöser Praxis (Riten) oder gar theistischen Vorstellungen. Diese Richtung setzte sich in vielen Philosophie-Departments nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des chinesischen Bürgerkriegs (1937 – 1945 bzw. 1945 – 1949) besonders in Hongkong (u. a. am New Asia College der Chinese University mit Vertretern wie 54
Zu allgemeinen Darstellungen der Genealogie dieser Richtung siehe u. a. Bresciani, U., Reinventing Confucianism: The New Confucian Movement, Taipei 2001; Li, Minghui (Lee Ming-huei), Der Konfuzianismus im modernen China, Leipzig 2001; Makeham, J., Lost Soul: „Confucianism“ in Contemporary Chinese Academic Discourse, Cambridge, MA/London 2008; Cheng, C.-Y./Bunnin, N. (Hg.), Contemporary Chinese Philosophy, Malden, MA 2002. 55 Siehe Wesolowski, Z., Liang Shumings (1893 – 1988) Religionsbegriff, in: Malek, R. (Hg.), „Fallbeispiel“ China. Ökumenische Beiträge zu Religion, Theologie und Kirche im chinesischen Kontext, Sankt Augustin/Nettetal 1996; s.a. Wesolowski, Z., Lebens- und Kulturbegriff von Liang Shu-ming (1893 – 1988). Dargestellt anhand seines Werkes Dong-Xi wenhua ji qi zhexue, Sankt Augustin 1997. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Tang Junyi und Qian Mu, später auch Liu Shu-hsien) und Taiwan (u. a. am Institute an der Academia Sinica in Taipei) durch. Nach dem Sieg der Kommunisten und Gründung der Volksrepublik China 1949 wurden 1958 im später sogenannten „Neu-Konfuzianischen Manifest“ (orig.: „A Manifesto on Chinese Culture to the World“) mehrerer Vertreter dieses intellektuellen Konfuzianismus56 in bewusster Abgrenzung zur kommunistisch-materialistischen Ideologie auf dem Festland immerhin „geistige Aspekte“ (engl. spiritual (life); chines. jingshen ) betont, die auch auf die antike religiöse Tradition zurückgeführt wurden, jedoch vor allem eine moralische Zielrichtung und einen Akzent auf chinesischer humanistischer „Weisheit“ besaßen, von der auch der Westen lernen könne.57 Ab den 1960ern und 1970ern – verstärkt jedoch erst in den 1980ern und 1990ern – begann eine nochmals positivere Annäherung und Betonung der „religiösen Dimension“ des Konfuzianismus. Eine besonders frühe und bis heute aktive Rolle spielte dabei ein noch lebender Vertreter der dritten Generation des Modernen Neukonfuzianismus, Liu Shu-hsien (Liu Shuxian) (*1934), der Mitte der 1960er Jahre seine Doktorarbeit zu Tillich verfasste („A Critical Study of Paul Tillich’s Methodological Presuppositions“, Southern Illinois University, Ph.D. 1966). Liu lehrte zunächst lange Jahre in den USA sowie ab 1981 als Nachfolger Tang Junyis am Philosophie-Department der Chinese University of Hong Kong. Seit seiner Emeritierung 1999 ist er als Forscher (Chair Research Fellow) am Institute of Chinese Literature and Philosophy der Academia Sinica (Taiwan) und vertritt weiterhin aktiv die Betonung der „religiösen Dimension“ der konfuzianischen Tradition aus religionsphilosophischer Sicht.58 Parallel hierzu entwickelte der einflussreiche Harvard-Professor Tu Weiming (Du Weiming , *1940) (Professor in Harvard seit 56 Unter Federführung Zhang Junmais zusammen mit Tang Junyi sowie Mou Zongsan und Xu Fuguan. 57 Siehe u. a. die englische Version in de Bary, W.T./Lufrano, R. (Hg.), Sources of Chinese Tradition, New York/Chichester 22000, 550 – 558 (gegenüber dem chinesischen Original von Zhang Junmai gekürzte ins Englische übersetzte Version). 58 Zu Liu s.a. Cheng, C.-Y./Bunnin, N. (Hg.), Contemporary Chinese Philosophy.
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1981, Direktor des Harvard-Yenching Institute 1996 – 2008) ein Interesse an der Selbstkultivierungstradition des Konfuzianismus.59 In diesem Rahmen legte er 1989 u. a. eine Untersuchung zum kanonischen klassischen Traktat Zhongyong („Die Mitte und seine Anwendung“) vor, in der er diese religiöse Seite des Konfuzianismus herausstellt.60 Tu propagiert in den letzten Jahren geradezu missionarisch ein Projekt „Konfuzianischer Spiritualität“,61 die auch über den chinesischen Kulturraum hinauswirken und eine wichtige Rolle für eine globale religiöse Kultur und den Dialog religiös geprägter Zivilisationen spielen könne. Unterstützt wurde er dabei u. a. von theologischen Vertretern der Universitäten in Boston (Robert Neville und John Berthrong, Boston University, School of Theology), die sich zusammen mit Tu wegen ihrer ähnlichen Ansichten anlässlich einer Konferenz 1991 als „Boston Confucians“ identifizierten.62 Schon in den 1990er Jahren wurde zudem von Vertretern dieser intellektuellen Richtung eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der Transzendenz als Kennzeichen und Besonderheit des westlichen Christentums – nicht zuletzt in Rezeption der einflussreichen Konfuzianismus-Studie Max Webers und dessen Implikationen zu einem Ethos und Weltverhältnis – betrieben.63 Dabei kristallisierte sich eine Formel heraus, die für den Konfuzianismus eine „immanente Transzendenz“ propagierte: Damit wurde einerseits ein Bild des Verhältnisses von Mensch und Himmel eingefangen, das keinen – durch 59 Vgl. schon seine Arbeit Tu Weiming, Humanity and Self-cultivation: Essays in Confucian Thought, Boston 1978. 60 Tu Weiming, Centrality and Commonality: An Essay on Confucian Religiousness, Albany, NY 1989. 61 Tu Weiming (Hg.), Confucian Spirituality, New York (2003 – 2004). 62 Vgl. Neville, R., Boston Confucianism, Albany, NY, 2000; Van Norden, B.W., Review of Boston Confucianism, in: Philosophy East and West 53/3 (July 2003), 413 – 417. Vgl. a. Berthrong, J., All under Heaven: Transforming Paradigms in Confucian-Christian Dialogue, Albany 1994; Ders., The Transformations of the Confucian Way, Boulder 1998 und Ders., Concerning Creativity: A Comparison of Chu Hsi, Whitehead, and Neville, Albany 1998. 63 Vgl. a. Liu Shu-hsiens Artikel, The Confucian Approach to the Problem of Transcendence and Immanence, in: Philosophy East and West 22/1 (Jan. 1972), 45 – 52; vgl. a. ders., Theism from a Chinese Perspective, in: Philosophy East and West 28,4 (1978), 413 – 417.
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Sündenfall oder Schöpfer-Geschöpf-Differenz ontologisch gefassten – Sprung zwischen beiden sah, sondern eher deren reaktive Verbundenheit als Teile eines höheren Ganzen markierte. Dahinter stand im älteren chinesischen Denken der entsprechende Gedanke, dass sich „Himmel und Mensch zu einem verbinden“ (tianren heyi ), und nach dem insbesondere kein persönliches Gottesbild oder Erlösung zu einer jenseitigen Erlösung oder Heil notwendig sei. Allerdings wurde andererseits mit diesem Stichwort doch eine konfuzianische Überzeugung „immanenter“ ethischer Werte veranschlagt: Diese seien besonders nach dem kanonischen Zhongyong-Traktat und der Tradition des Neokonfuzianismus (ab 11. Jh.) als „vom Himmel als Gebot verliehen“ (tianming) in der „inneren Natur des Menschen“ (xing ) immanent und entsprächen gleichzeitig vernünftigen aus den Situationen ableitbaren normativen Werten.64 Andere Vertreter wie der taiwanische Philosoph Lee Minghui (*1953)65 – im Gefolge seines Lehrers Mou Zongsan – verfolgten dabei u. a. Projekte wie das der wechselseitigen Interpretation des frühen konfuzianischen Denkers und Klassikers Mengzi (Menzius) mit Kant und schlossen sich so bejahend den Vertretern wie Liu und Tu an. 2010 wurde unter Leitung Tu Weimings an der prominenten Peking Universität ein Institute for Advanced Studies eingerichtet, das nicht zuletzt ein Centre for World Religions and Global Ethic enthält und an Hans Küngs Weltethos-Projekt anknüpft. Es wird geleitet von Prof. Yang Xusheng, der selbst in Tübingen promoviert wurde66 und 64
Vgl. z. B. Liu Shu-hsien, Confucian Ideals and the Real World, in: Tu Weiming (Hg.): Confucian Traditions in East Asian Modernity, Cambridge, Mass. 1996, 104 – 106: „It shows an unmistakably religious character, as it points to an ultimate concern and establishes a faith that transcends worries about life and death. It finds a balance, or rather a unity, between transcendence (Heaven) and immanence (humanity). Even though belief in a personal God and an organized church is absent in the Confucian tradition, it provides a spiritual path among world religions for answering some of the most deeply felt personal questions.“ 65 Lee wurde 1987 in Bonn mit einer Dissertation zu „Das Problem des moralischen Gefühls in der Entwicklung der Kantischen Ethik“ promoviert. 66 Mit einer philosophischen Dissertation mit dem Titel (Yang Xusheng) „Immanente Transzendenz – Eine Untersuchung der Transzendenzerfahrung in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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mit Küng in Verbindung steht.67 Das Projekt verfolgt offensichtlich eine strategische Mission einer bewussten Einbindung Chinas (auch gerade der Volksrepublik) in den globalen Ethikdiskurs.68
4.3 Neueste Entwicklungen und Diskussionen um den Konfuzianismus, besonders in der VR China Stellte sich der Konfuzianismus seit Untergang des kaiserlichen Systems mit der Revolution und den gescheiterten Bemühungen in den Verfassungsdebatten um eine Etablierung als Staatsreligion (oder Staatsdoktrin) bis in jüngste Zeit als rein intellektuelles Unternehmen ohne institutionellen Unterbau außerhalb der Universitäten und intellektueller Kreise dar, hat sich dieses Bild in den letzten Jahren erneut gewandelt. Dabei verbinden sich hinzukommende Elemente eines sogenannten Staats- und Volkskonfuzianismus mit der intellektuellen Tradition sowie mit prominenten Diskussionen und Bemühungen, in denen verstärkt eine neue gesellschaftliche Bedeutung und auch Institutionalisierung des Konfuzianismus in der VR China gefordert wird, der sich gegenüber seinen Kritikern ansatzweise durchzusetzen scheint. Von besonderem Interesse ist dabei die unabhängig entstandene Bewegung eines Volks- oder Grass-root-Konfuzianismus, in der antiken chinesischen Religiosität mit Berücksichtigung des Konfuzianismus“, Diss., Universität Tübingen 2004, http://tobias-lib.uni-tuebingen.de/ volltexte/2004/1194/pdf/yang-xusheng-diss-publish-web.pdf. 67 Im Rahmen von Küngs Projekt und der von ihm herausgegebenen Buchreihe „Christentum und Weltreligionen“ hatte schon 1988 die (katholische) Expertin für chinesische Religion Julia Ching (Qin Jiayi , 1934 – 2001, Professorin für Religion, Philosophie und East Asian Studies an der University of Toronto) das erwähnte Buch „Christentum und Chinesische Religion“ zusammen mit Küng verfasst, in dem die potentielle Rolle des Konfuzianismus im Religionsdialog und die Interpretation der chinesischen Religion (unter besonderer Berücksichtigung des Konfuzianismus) als „Weisheitstradition“ (vgl. so auch http://www.global-ethic-now.de/gen-deu/0b_weltethosund-religionen/0b – 03 – 01-chin-religion/0b – 03 – 0100-chin-religion.php#) betont wird; vgl. auch ihren Titel Ching, J., Konfuzianismus und Christentum, Mainz 1989. 68 “Tu Weiming, About Tu Weiming“, http://tuweiming.net/about-tu/. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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dem seit den letzten zehn Jahren über intellektuelle Kreise hinaus private Akademien (shuyuan )) im alten Stil zum Lesen und Rezitieren der konfuzianischen Klassiker einladen und die auch wieder Kurse für Kinder für das klassische Auswendiglernen von Klassikern anbieten (dujing yundong ).69 Schon seit den 1980er Jahre hatte – nach Ende der Kulturrevolution und Beginn der folgenden Reformpolitik (seit 1978) – auch in der VR China ein noch eher intellektuelles Interesse begonnen, das sich mit dem staatlichen mischte: So wurde parallel zur beginnenden wirtschaftlichen Reformpolitik und mit der Lektüre von Webers Protestantismusthese und den Studien zu den Weltreligionen u. a. zu Konfuzianismus und Daoismus, das Potential des „pragmatisch-rationalen“ Ethos des Konfuzianismus für eine ostasiatische Wirtschaftsentwicklung betont. In einem weiteren Diskurs der 1980er Jahre, an dem sich auch der langjährige Präsident Singapurs Lee Kuan Yew ( ) aktiv beteiligte, wurde zugleich der Konfuzianismus herangezogen, um mit der Propagierung kollektiver „asiatischer Werte“ diese den Ansprüchen westlicher, an individuellen Freiheiten ausgerichteter Werte entgegenzustellen und damit autoritäre Machtansprüche – in der VR China wie in Singapur – kulturessentialistisch zu legitimieren. Hierzu trat im Laufe der 1990er eine Inszenierung der kommunistischen Führung als Vertreter des chinesischen Nationalismus, zu der nicht zuletzt die Aktivitäten um die Wiederbelebung symbolischer Kulte und Rituale an hundert Stätten mit nationaler Bedeutung gehörte. An diesen wurden – zunächst inoffiziell, jedoch nach dem Jahr 2000 zunehmend offiziell sanktioniert – rituelle Feiern abgehalten. Dies geschah u. a. am Konfuziustempel in Qufu, aber auch parallel an anderen Kultorten nationaler Symbolik (am Grab des Gelben Kaisers Huangdi etc.).70 Religiosität und die reale Existenz von Göttern oder 69 Diese Richtung des Grass-root-Konfuzianismus ist zuletzt besonders von Sebastien Billioud zusammen mit JoÚl Thoraval u. a. in drei Artikeln untersucht und dargestellt worden (s. Litverz.). 70 Zu einer ethnologischen Studie zum modernisiert wiederbelebten Konfuziusritual an einem anderen Konfuziusschrein, der südlichen Linie der Kon(Zhejiang) siehe Wang-Riese, X.-B., Globalisation fuzius-Sippe in Quzhou vs. Localisation. Current Confucius Cult in Quzhou, in: Jansen, T./Klein, T./ Meyer, C. (Hg.), Globalization and the Making of Religious Modernity in
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Geistern – verbunden mit diesen rituellen Inszenierungen – wurde dabei nicht thematisiert. Vielmehr erscheint auch unter dem neuesten Stichwort der „Harmonischen Gesellschaft“ (hexie shehui ) eher wieder das alte pragmatische Paradigma von sozialethischer Lehre (jiao), für das die tatsächliche Existenz von übermenschlichen, transzendenten Wesen weniger wichtig ist als die damit verknüpfte Propagierung und Verbreitung moralischer Werte. Eine direkte Auseinandersetzung um die Frage der Religiosität des Konfuzianismus wurde dagegen auf akademischer Ebene geführt. Zunächst führten dabei Kritiker des Konfuzianismus als feudalistisches Erbe das Wort. So sorgte der ältere marxistische Historiker Ren (1916 – 2009)71 zunächst für die Einrichtung eines Jiyu Departments zur Erforschung des Konfuzianismus am Weltreligioneninstitut an der zentralen Pekinger Akademie für Sozialwissenschaften. Bis 2003 war hier ein Anhänger von ihm, Li Shen (*1946), Direktor der Abteilung für Konfuzianismus. Dieser stellte in historischer Betrachtung dabei den religiösen Charakter des Konfuzianismus in funktionaler Analogie zu anderen Religionen heraus. In jüngster Zeit stellte er klassische und spätere Werke der konfuzianischen „Ru “-Tradition zusammen, um in einem westlich geprägten Religionsverständnis zu belegen, dass auch der Konfuzianismus über Psalmen und Hymnen verfügt habe sowie der chinesische Religionsoder zongjiao-Begriff letztlich indigen sei und der Konfuzianismus sogar eine mindestens implizite Theologie, einschließlich einer Art Gotteslehre gehabt habe. Die Intention hinter diesem vor allem historisch ausgerichteten Projekt war dabei allerdings gegen eine positive Rolle des „religiösen“ Konfuzianismus gerichtet, der als solcher von Li als der Modernisierung hinderlich angesehen wurde. In einer Debatte von 2001 – 2004, die nicht zuletzt auf der Internetseite www.confuChina. Transnational Religions, Local Agents, and the Study of Religion, 1800–Present, Boston/Leiden 2014, die Interessen verschiedener beteiligter Akteure untersucht, neben persönlichen Interessen und dem an lokaler Identität, nicht zuletzt auch solchen an Tourismus. 71 Zu Ren Jiyu vgl. auch einen neueren Band hg. und übers. mit Einleitung von Defoort, C./Schulz-Zinda, Y. (Hg.), Ren Jiyu: The Marxist View of Chinese Philosophy and Religion. Editors’ Introduction, in: Contemporary Chinese Thought 41,4 (2010). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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cius2000.com geführt wurde, dominierten dagegen letztlich die Befürworter einer positiven Rolle des Konfuzianismus.72 Im unmittelbaren zeitlichen Kontext wurde Li als Leiter der Abteilung zugunsten eines Verfechters einer positiven Wertung des Konfuzianismus, Lu , abgelöst. Ein weiterer Vertreter insbesondere einer Guolong staatlichen Anerkennung des Konfuzianismus als Religion73 oder dessen Interpretation als „Zivilreligion“ ist Chen Ming .74 Auch bei wichtigen weiteren Vertretern des Konfuzianismus in der VR ) ist jedoch von einer Gotteslehre China (dalu xinrujia kaum zu sprechen, einige Vertreter verfechten Konfuzianismus eher offensiv als gesellschaftliches oder gar politisches Konzept.75 Eine Auseinandersetzung mit religiösen Elementen wie dem des Himmels (und Shangdi) findet in der VR China teilweise sogar eher in christlichen Kreisen (u. a. beim Religionswissenschaftler, Religionsphilosophen und öffentlichen Intellektuellen He Guanghu oder dem Hongkonger Religionswissenschaftler und Theologen Lai Panchiu) statt, die bewusst dieses religiöse Erbe in einer Art kontextueller Theologie (u. a. im Rahmen der sogenannten SinoChristian Theology)76 aufnehmen und die in einem religionsphilo-
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Vgl. hierzu Sun, A.X.D., Confusions over Confucianism, 148 – 153, siehe a. Sun, A.X.D., The Fate of Confucianism, bes. 236 – 244. 73 Neben den beiden großen christlichen Konfessionen (protestantischer und katholischer Kirche), Buddhismus, Daoismus und Islam. 74 Siehe z. B. Chen Ming, Rujiao gongmin zongjiao shuo, 2007; s.a. Nakajima Takahiro, The Restoration of Confucianism in China and Japan. 75 So etwa Jiang Qing (1953–), der einen politischen Konfuzianismus vertritt, während Kang Xiaoguang (1963–) fordert, Konfuzianismus wieder zur Staatsreligion (Staatsdoktrin) zu machen; vgl. Fan Ruiping, The Renaissance of Confucianism in Contemporary China, Dordrecht u. a. 2011, (bes. zu Jiang Qing); vgl. zu Kang Xiaoguang Gänßbauer, M., Confucianism and Social Issues in China – the Academician Kang Xiaoguang: Investigations Into NGOs in China, the Falun Gong, Chinese Reportage, and the Confucian Tradition, Bochum 2011. 76 Vgl. hierzu Hes jüngste „Globale Religionsphilosophie“ (Baichuan guihai: herZouxiang quanqiu zongjiao zhexue), der von ihm und Xu Zhiwei ausgegebene Band Duihua: Ru Shi Dao yu Jidujiao; s.a. der von Lai herausgegebene Band “Christian-Confucian Dialogue on Humanity: An Ecological Perspective“, in: Studies in Inter-religious Dialogue 14/2 (2004), 202 – 215 und © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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sophisch geprägten Religionsdialog mit Vertretern u. a. des Modernen Neukonfuzianismus stehen. Die Partner in einem solchen Austausch mit dem Christentum sind dann auf konfuzianischer Seite vorzugsweise an der religiösen Dimension interessierte Vertreter wie Tu Weiming oder Liu Shu-hsien und andere.
5. Zusammenfassung und Ausblick Religion – bzw. zongjiao nach chinesischer Terminologie – kann als heuristischer Begriff auch auf die chinesische Tradition der Ru-Lehre oder des Konfuzianismus versuchsweise angewandt werden, wie dies auch in der Vergangenheit in der andauernden Begegnungsgeschichte des Westens mit China geschehen ist und sich in direktem wie indirektem Religionsdialog77 fortsetzt. Dabei geriet auch immer wieder die Frage theistischer Elemente des Konfuzianismus in das Blickfeld, so der Bezug auf den Himmel bzw. den Shangdi als in den Klassikern belegten und in den Riten beopferten höchsten Gott. Diese festetablierten Anteile wie auch die Einbeziehung verschiedenster anderer, auf Götter oder Geister bezogener Elemente (Ahnenverehrung, Naturgötterkulte und lokale, volksreligiöse Kulte, etc.) in der Vergangenheit sind genauso festzuhalten wie auch der in der heutigen Selbstbeschreibung der chinesischen Tradition vorhandene Bezug auf den westlich geprägten Religionsbegriff. Noch immer sind jedoch, nicht zuletzt angesichts einer fehlenden repräsentativen Organisation des Konfuzianismus, die Stimmen im Konfuzianismus auch zu dieser Frage vielfältig und diffus. Insbesondere nach den letzten Entwicklungen, wie der Belebung eines Grassroot- neben dem intellektuellen Konfuzianismus, bleibt abzuwarten, in welche Richtung sich dieser “Process Christology and Christian-Confucian Dialogue in China“, in: Process Studies 33/1 (2004), 149 – 165. 77 Zum direkten und indirekten Religionsdialog siehe Lai, P., Reflections on the History of Buddhist-Christian Encounter in Modern China, in: Ching Feng 6,1 (2005); einer der stärksten Vertreter eines direkten Religionsdialogs in der (Zhejiang University), vgl. ders. Heping de VR China ist Wang Zhicheng kewang. Dangdai zongjiao duihua lilun [Eager for Peace: Contemporary Theories of Interreligious Dialogue], Peking 2003 und ders., Quanqiu zongjiao zhexue [Global philosophy of religion], Peking 2005. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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entwickelt und welche Rolle die Frage nach Religiosität oder einem theistischen Bezug auf Götter oder Geister (shen) dabei spielen wird.
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Die letztgültige Realität im Chinesischen Buddhismus und die christliche Gotteslehre
Einleitung Der Gottesbegriff, der eine so große und überragende Rolle für den christlichen Glauben spielt, scheint im Buddhismus – der ja von einigen seiner westlichen Interpreten als atheistische Religion verstanden wird – nahezu keine Rolle zu spielen. Allerdings ist gerade diese Bezeichnung des Buddhismus als atheistische Religion, wenn nicht weitere Erklärungen erfolgen, äußerst missverständlich. Erstens wird man darauf hinweisen müssen, dass der Buddhismus es zwar ablehnt, einen Schöpfergott als alleinigen Gegenstand der Verehrung zu identifizieren, dass er aber nicht die Existenz von himmlischen oder göttlichen Wesen verneint. Ganz im Gegenteil: Der Buddhismus vertritt die Existenz von himmlischen Wesen (deva). Sie gehören zu einer von sechs Reichen des Daseins und sie unterliegen dem Erleiden der Kreisbewegung von Geburt, Leben, Tod und Wiedergeburt.1 Man wird daher mit anderen Worten sagen können, dass die himmlischen oder göttlichen Wesen eher in Gemeinschaft mit dem Menschen mitleiden, als dass sie Erlösergestalten für die Menschen wären. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass im Maha¯ya¯na Buddhismus, der genauso wie der Therava¯da Buddhismus sich vom ursprünglichen Buddhismus in verschiedener Weise ganz signifikant unterscheidet, 1
Die anderen fünf Reiche sind das Reich des menschlichen Lebens (manusya), das des höllischen Seins (naraka), das der Tiere (tiryagyoni), das der ˙ hungrigen Geister (preta) und das der eifersüchtigen Götter (asura), die titanische, übermenschliche Wesen sind, die häufig im Krieg mit den himmlischen Wesen stehen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Buddha eine Funktion erhält, die mit der Funktion Gottes in theistischen Traditionen positiv verglichen werden kann. So kann beispielsweise der Buddha bzw. die Bodhisattvas Gebete erhören und beantworten und aktiv Menschen von Gefahr und Leiden erlösen. Sie können auch unterschiedliche reine Länder für ihre menschlichen Verehrer schaffen, die diese als Paradiese nach ihrem Tod erhalten. Da wir nun die Komplexität, die Zweideutigkeit und die nur beschränkte Anwendbarkeit des Gottesbegriffs im Buddhismus voraussetzen müssen, soll im Folgenden der Fokus auf dem buddhistischen Verständnis der letztgültigen Realität liegen. Faktisch bevorzugen viele Wissenschaftler den Ausdruck der „letztgültigen Realität“ anstelle des Ausdrucks „Gott“ im Rahmen des interreligiösen Vergleichs oder des interreligiösen Dialogs, sofern auch der Buddhismus einbezogen wird.2 Indem wir nun diesem Sprachgebrauch folgen, soll dieses Kapitel untersuchen, ob und in welcher Weise die buddhistische Sicht der letztgültigen Realität für eine theologische Betrachtung der christlichen Gotteslehre von Bedeutung sein kann. Nach dem Begründer der Prozessphilosophie, Alfred North Whitehead (1861 – 1947), gibt es einen signifikanten Unterschied zwischen Christentum und Buddhismus. Während er das Christen2
Hier können beispielsweise folgende Aufsätze genannt werden: BuddhistChristian Studies 8 (1988), darin: Cobb, J.B. Jr., Ultimate Reality: A Christian View, 51 – 64; Abe, M., I. Response to Cobb, 65 – 82; Ray, R. II. Response to Cobb, 83 – 109; Buddhist-Christian Studies 9 (1989), darin: Cook, F.H., Just This: Buddhist Ultimate Reality, 127 – 142; Küng, H./Yagi, S., Response to Cook, 143 – 174; Kaufmann, G.D., God and Emptiness: An Experimental Essay, 175 – 188; Gross, R.M./Tekeda, R., Response to Kaufmann, 189 – 229; King, S.B./Ingram, P.O. (Hg.), The Sound of Liberating Truth: BuddhistChristian Dialogues in Honor of Frederick J. Streng, Richmond 1999, 65 – 104; Cummings Neville, R. (Hg.), Ultimate Realities: A Volume in the Comparative Religious Ideas Projects, Albany 2001, bes. 125 – 150; Schmidt-Leukel, P. (Hg.), Buddhism and Christianity in Dialogue, Norwich 2005, 87 – 147, darin: Baier, K., Ultimate Reality in Buddhism and Christianity: A Christian Perspective, 87 – 116; Nambara, M., Ultimate Reality in Buddhism and Christianity: A Buddhist Perspective, 117 – 137; Baier, K., Response to Minoru Nambara, 138 – 143; Nambara, M., Response to Karl Baier, 144 – 150. Vgl. auch Au, Kin-ming, Ultimate Reality: A Comparative Study of Kitaro¯ Nishida’s Concept of Nothingness and Paul Tillich’s Concept of God, in: Ching Feng 4/2 (2003), 113 – 130. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
Die letztgültige Realität im Chinesischen Buddhismus
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tum primär als eine Religion charakterisiert, die stets eine Metaphysik oder Ontologie hervorbringt, verhält es sich mit dem Buddhismus umgekehrt: Der Buddhismus ist primär eine Metaphysik oder Ontologie, die eine Religion hervorbringt.3 Dieser Unterschied von Buddhismus und Christentum mag in der Lage sein, die relative Unterschiedenheit dieser beiden religiösen Traditionen in Bezug auf ihr jeweiliges Verhältnis zur Metaphysik oder Ontologie zu verdeutlichen, aber er ist wenig geeignet, auf adäquate Weise das eher komplizierte Verhältnis zwischen Buddhismus als einer Religion und seiner Metaphysik und Sichtweise der letztgültigen Realität zu verdeutlichen. Denn wir werden sehen, dass der Buddhismus nicht einfach als eine Religion zu verstehen ist, die aus einem bestimmten Verständnis der letztgültigen Realität abgeleitet werden kann. Man wird eher sagen können, dass sich im Buddhismus verschiedene Denktraditionen mit ihren je unterschiedlichen Verständnissen der letztgültigen Realität entwickelt haben, insbesondere nachdem der Buddhismus in Kontakt mit den verschiedenen indigenen philosophischen Schulen Ostasiens kam. Da es nun unmöglich ist, all diese unterschiedlichen Sichtweisen der letztgültigen Realität, wie sie von den unterschiedlichen buddhistischen Schultraditionen vertreten werden, in einem kleinen Kapitel abzubilden,4 soll in den nachfolgenden Ausführungen der Blickpunkt auf die folgenden repräsentativen Positionen des Buddhismus gelegt werden: 1. Der Frühe Buddhismus: Hier wird hauptsächlich der Begriff des abhängigen Hervorgehens oder des abhängigen Hervorgehens in Gemeinschaft (pratı¯tyasamutpa¯da) genutzt, um das Dharma zu erklären, welches als Begriff der letztgültigen Realität im Buddhismus fungiert. 2. Die Schule des Mittleren Weges (Ma¯dhyamaka) des Maha¯ya¯na Buddhismus: Auf der Basis der Lehre des abhängigen Hervorgehens entwickelt diese Schule den Begriff der Leere (S´u¯nyata¯), der sich darauf bezieht, dass es keine selbstständige Natur (svabha¯va) oder 3
Vgl. Whitehead, A.N., Religion in the Making, Cambridge 1926, 39 f. Dieses Kapitel ist ein Ergebnis eines Forschungsprojekts des Autors, das vom Research Grants Council, Hong Kong (Projekt Nr. CUHK 445509) gefördert wurde. 4
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Substanz gibt, und der genutzt wird, um den Begriff der letztgültigen Wahrheit (parama¯rtha-sat), bzw. den der Wirklichkeit als solcher auszudrücken. 3. Die Huayan/Hua-yen Schule des Chinesischen Buddhismus (Avatam . saka): Während die Schule des Mittleren Weges versucht, ihre Sicht der letztgültigen Realität hauptsächlich durch Negation von substantialistischen Begriffen auszudrücken, gibt es einige buddhistische Schultraditionen in Asien, zu denen der Hua-yen Buddhismus gehört, die einige Begriffe der philosophischen Tradition Chinas nutzen, um nicht nur in rein verneinender, sondern eher positiver Weise ihre Verständnisse der letztgültigen Wirklichkeit ausdrücken zu können. 4. Der Maha¯ya¯na-Begriff der Drei Körper (Trika¯ya): In diesem buddhistischen Begriff, insbesondere in der Interpretation des Reinen-Land-Buddhismus, wird ein gewissermaßen „theistisches“ Verständnis der letztgültigen Realität geboten, das Ähnlichkeiten mit dem christlichen Gottesverständnis aufweist. Auf der Basis dieses buddhistischen Verständnisses der letztgültigen Realität werden abschließend einige Gedanken zum christlichen Gottesverständnis geboten.
1. Die letztgültige Realität im Frühen Buddhismus Siddha¯rtha Gautama, der auch als der Buddha – was wörtlich „der Erwachte“ bedeutet, oder als S´a¯kyamuni, was „der Weise des S´a¯kyasStammes“ bedeutet – bekannt ist, war vor allem ein religiöser Mensch auf der Suche nach der Befreiung vom Leiden oder vom Schmerz (duhkha) des endlosen Kreislaufs von Werden und Vergehen (samsa¯ra). Er war kein professioneller Philosoph, der am reinen metaphysischen Nachdenken besonderen Gefallen fand. Gemäß dem Text Majjhima Nika¯ya, einer der berühmten buddhistischen Lehrtexte (su¯tras), blieb der Buddha angesichts verschiedener metaphysischer Fragen still.5 Nach der Erklärung des Buddha verweigerte er die
5 Darin sind die folgenden Fragen eingeschlossen: Ist die Welt ewig oder nicht? Ist die Welt räumlich endlich oder unendlich? Ist die Seele (jı¯va) mit dem
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Antwort auf diese rein gedanklichen „metaphysischen“ Fragen, da diese keinen Nutzen für die Befreiung hätten.6 Schließlich würde – so eine sehr bekannte Parabel des Buddha – ein durch einen Giftpfeil Verwundeter auch keine irrelevanten Fragen nach dem Material, aus dem der Pfeil hergestellt sei, oder nach dem Schloss, aus dem der angreifende Schütze stamme, stellen, sondern sich auf Fragen konzentrieren, wie seine Wunde zu heilen sei. Trotz dieser scheinbar desinteressierten Haltung gegenüber metaphysischen Fragen blieb die Metaphysik dennoch wichtig, denn die Sicht der letztgültigen Realität bestimmt nach buddhistischem Verständnis auch die Sicht der spirituellen Befreiung. Denn gemäß dem Buddhismus sind unsere Leiden – vor allem diejenigen Leiden, die von Gier, Hass und Täuschung herrühren – verursacht durch eine falsche Vorstellung von der Wirklichkeit. Um also vom Leiden erlöst zu werden, gilt es, eine korrekte Sicht der wahren Natur der Wirklichkeit bzw. des letztgültigen Status der Realität zu gewinnen. Die Vorstellung der letztgültigen Realität, die der Buddha durch seine Erleuchtung erlangte, kann verstanden werden als eine nicht-unterscheidende Weisheit, die den Gegenstand der Erkenntnis einfach als das erkennt, was er ist (yatha¯bhu¯ta-dars´ana). Zusammenfassend kann man also sagen, dass das, was der Buddha erlangte und lehrte, nichts anderes als die richtige Sicht der letztgültigen Wirklichkeit war, sowie der Weg und die praktischen Übungen, wie dieses befreiende Verständnis der letztgültigen Realität zu erlangen sei. Dabei gibt es zwei buddhistische Begriffe, die als funktionale Äquivalente für den Kunstbegriff „letztgültige Wirklichkeit“ dienen können: Nirvana und Dharma. Nirvana wird von manchen Wissenschaftlern als die letztgültige Wirklichkeit verstanden, da es gemäß den buddhistischen su¯tras mit den Eigenschaften des Ungeborenseins, Ungewordenseins und Ungeschaffenseins belegt wird. Es kann außerdem mit dem Ende des Kreislaufs der Samsara identifiziert werden, so dass der Eintritt in das Nirvana die Befreiung vom ansonsten Körper identisch oder nicht? Wird die vollständig erleuchtete Person (Tatha¯gata) nach ihrem Tod weiter existieren oder nicht? 6 Für eine vergleichende theologische Studie über des Buddhas Schweigen über diese Fragen vgl. Pamikkar, R., The Silence of God: The Answer of the Buddha, Maryknoll, NY 1989. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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endlosen Kreislauf von Tod und Wiedergeburt bedeutet. Da das Nirvana damit auch einen letztgültigen Standard von Befreiung darstellt, den Menschen erhalten können, ist es in dieser Hinsicht eher mit dem Reich Gottes als mit Gott selbst als verschiedener Begriffe der christlichen Tradition vergleichbar. Während nun der frühe Buddhismus Nirvana und Samsara als gegensätzliche Begriffe verstand, verstehen einige Schulen des Maha¯ya¯na Buddhismus das Nirvana als das Samsara und umgekehrt. Dann aber kann gefragt werden, ob der Begriff des Nirvana wirklich als die letztgültige Wirklichkeit im Maha¯ya¯na Buddhismus verstanden werden kann. Wilfred Cantwell Smith bemerkte zu Recht, dass es zwar gut sein könne, dass viele westliche Denker eher den Begriff des Nirvana als den des Dharma als attraktiv im Buddhismus empfänden, während es sich bei den meisten Buddhisten gerade umgekehrt verhalte: Sie betrachten eher das Dharma als sowohl göttlich als auch als den Zentralbegriff der Lehre des Buddha.7 Der Begriff des Dharma wurde schon vor dem Aufstieg des Buddhismus als Begriff für die letztgültige Wirklichkeit verwandt. Die Wurzel des Wortes Dharma meint wörtlich „das, was aufrecht erhält“, bzw. „das, was unterstützt“. Ontologisch bezieht sich der Plural der Dharmas auf alle da seienden Dinge und der Singular Dharma auf die Art und Weise, wie die Dinge (Dharmas) existieren. Der gleiche Ausdruck kann auch verwandt werden für die sozialethische Organisation der Gesellschaftsform, für religiöse und moralische Pflichten, nach denen der Einzelne handeln sollte. So nennen beispielsweise die „Hindus“ ihre „Religion“ – d. h. ihre Weise zu leben, bzw. das, was sie an religiöser Sitte und Praxis kennen – das Sana¯tana Dharma (den ewigen Weg) und nicht „Hinduismus“, denn das ist ein erst spät und vom Westen geprägter Begriff. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff des Dharma auch im Buddhismus. Dharma kann sich sowohl auf die Art und Weise beziehen, in der die einzelnen individuellen Entitäten existieren (Dharmas), als auch auf den Weg (Dharma) der religiösen Befreiung, insbesondere im Falle des buddhistischen Dharma, das sich auf die Lehre und Praxis des Buddhismus bezieht. Die von Gautama Buddha erreichte Erleuchtung wurde primär verstanden als Dharma des abhängigen Ursprungs, womit auch die 7
Vgl. Smith, W.C., Faith and Belief, Princeton, NJ 1979, 24. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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wahre Natur der Wirklichkeit oder Existenz bezeichnet werden kann. Das buddhistische Wirklichkeitsverständnis des Dharma vertritt die Ansicht, dass die Existenz einer partikularen Entität immer von vielen Bedingungen und Ursachen abhängig ist. Eine Entität tritt nur dann in die Existenz, wenn alle relevanten notwendigen und hinreichenden Bedingungen zusammen eintreten. Ist das nicht der Fall, hört die Entität auf zu existieren. Gemäß diesem Wirklichkeitsverständnis gibt es immer beständig wechselnde Phänomene oder Existenzen, ohne dass es eine ewige oder unveränderliche Substanz gäbe. Mit anderen Worten: Nichts ist permanent, unabhängig oder selbstständig (causa sui). Oder positiv ausgedrückt: Alles, was existiert, ist interdependent, d. h. wechselseitig abhängig oder relational. Anders als der Brahmanismus, der eine unabhängige und ewige Substanz, bzw. ein solches Selbst (a¯tman) kennt, das den immer wechselnden Erscheinungen zugrunde liegt, geht der Buddhismus davon aus, dass es keine unveränderliche Substanz oder ewige Seele gibt, die dem Kreislauf des Samsara zugrunde liegt. In scharfem Kontrast zur brahmanistischen Lehre von der unveränderlichen, ewigen, unabzählbaren und unzerstörbaren Seele vertritt der Buddhismus eine Lehre des Nicht-Selbst (ana¯tman). Während der Brahmanismus von der Existenz eines unveränderlichen, ewigen und individuellen Selbst (a¯tman) ausgeht, das mit dem ewigen kosmischen Selbst (Brahman) identisch ist und daher als die kosmische letztgültige Realität zu verstehen ist, meint der Buddhismus, dass es keine ewige und unveränderliche Substanz oder Seele gibt, auf der der Prozess des Samsara basiert. Während der Brahmanismus davon ausgeht, dass die spirituelle Befreiung in der Verwirklichung der Identität zwischen dem ewigen a¯tman, dem individuellen Selbst, und dem ewigen Brahman, dem kosmischen Selbst, liege, meint der Buddhismus, dass Leiden gerade durch ein falsches Wirklichkeitsverständnis entstehe und andauere. Dabei sei ein solches falsches Wirklichkeitsverständnis gerade dadurch gekennzeichnet, dass man die Existenz einer permanenten Seele annehme und die Abhängigkeit oder Interdependenz alles Seienden verneine. Versteht man demgegenüber das Wesen des Seienden als wechselseitig abhängiges Entstehen, wird man aufhören, sein Herz an irgendwelche zeitlichen Güter zu hängen und somit spirituelle Befreiung erlangen. Daher ist es äußerst wichtig zu betonen, dass die buddhistische Lehre des Nicht-Selbst in grundlegender © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Weise eine soteriologische Strategie ist, die die Bindung an eine ewige Seele aufhebt und zurückweist, ohne allerdings die Existenz von Personalität einschließlich Bewusstsein und Handeln verneinen zu müssen.8 Da nun der Begriff einer ewigen unveränderlichen Substanz oder Seele abgelehnt wird, versteht der Buddhismus das Dharma als ein universales Prinzip, das in allen Dharmas verkörpert ist und weniger als eine metaphysische Entität, die neben oder getrennt von den gewöhnlichen Dharmas besteht. Es gibt also, mit anderen Worten, kein unabhängiges Noumenon (Dharma), das losgelöst von den Phänomenen (Dharmas) wäre. Vielmehr ist das Dharma in allen Dharmas immanent, obwohl es diese auch transzendiert. Denn während die verschiedenen Dharmas einen Anfang und ein Ende ihrer Existenz haben, bleibt das Dharma – als die Art und Weise der Existenz der einzelnen Dharmas – bestehen. Im Unterschied zum Schöpfergott des Christentums ist der Buddha nicht der Schöpfer der Welt. Das Dharma existiert, und zwar unabhängig vom Leben des historischen Gautama Buddha. Gautama Buddha war einfach eine Person, die das Dharma des abhängigen Erscheinens entdeckte und die Menschen lehrte, dieses zu verwirklichen. Im Maha¯ya¯na Buddhismus wird ferner angenommen, dass Gautama Buddha nicht die einzige Person ist, die das Dharma verwirklichte. Vielmehr gibt es viele Buddhas, die das gleiche Dharma verwirklicht haben oder die es noch verwirklichen werden – unabhängig davon, ob sie der Lehre Gautama Buddhas folgen oder nicht. Im Unterschied zum Hinduismus wird im Buddhismus die Autorität der Vedas als göttliche Offenbarung verworfen. Trotz der Mythologien, die sich um Gautama Buddha gebildet haben, einschließlich derer Geschichten, die von seiner Erleuchtung handeln, ist es angemessen zu sagen, dass die religiöse Suche Buddhas vom natürlichen Kreislauf von Leben und Tod angeregt war. Seine Erleuchtung wurde durch die Meditation über den natürlichen Lebensprozess der Welt inspiriert. In diesem Sinne kann seine Sicht der letztgültigen Realität
8 Vgl. Collins, S., Selfless Persons: Imagery and Thought in Therava¯da Buddhism, Cambridge 1982; auch: Harvey, P., The Selfless Mind: Personality, Consciousness and Nirva¯n. a in Early Buddhism, Surrey 1995.
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als Ergebnis eines natürlichen Wissens oder einer natürlichen Offenbarung verstanden werden. Das Dharma ist nicht einfach ein metaphysisches Prinzip, das sich auf die gleichursprüngliche Abhängigkeit und die gleichursprüngliche Entstehung aller Dinge bezieht. Es bezieht sich auch auf den Befreiungsweg, wie er durch die spezifische Sicht dieser letztgültigen Realität vorgegeben ist. Der christliche Theologe Paul Tillich (1886 – 1965) prägte den Begriff der letztgültigen Realität oder Gottes als das, „was uns unbedingt angeht“. Damit ist nicht einfach das gemeint, was uns subjektiv letztgültig betrifft, sondern was objektiv unser Sein oder Nicht-Sein bestimmt.9 Als die letztgültige Wahrheit oder Realität kann das Dharma ebenso verstanden werden als das, was uns unbedingt angeht, denn es bestimmt unser Sein oder Nicht-Sein. Ebenso hängt unser letztgültiges Geschick (Nirvana) von unserem Verständnis und Handeln nach dem Dharma ab. Auf der Basis dieses Verständnisses kann das Dharma daher als das, was uns unbedingt angeht und daher als Äquivalent des Gottesbegriffs im Buddhismus, verstanden werden, denn es schließt sowohl den subjektiven als auch den objektiven Aspekt ein: das, was Buddhisten subjektiv unbedingt angeht, und das, was ihr Sein bestimmt. Daher hat Tillich durchaus Recht, wenn er sagt: „Wird Gott verstanden als das, was den Menschen unbedingt angeht, so hat der frühe Buddhismus ebenso wie der Vedanta-Hinduismus einen Gottesbegriff […]“10. Tatsächlich ähnelt die buddhistische Verhältnisbestimmung zwischen dem Dharma und den Dharmas sehr der Verhältnisbestimmung zwischen Gott und den seienden Dingen, wie Tillich sie vornimmt: Alles endliche Seiende partizipiert in Gott, der als Grund des Seins, als Struktur des Seins oder als das Sein selbst beschrieben wird. Damit ist Gott kein Seiendes neben anderem Seienden, auch nicht das höchste Seiende, das neben anderen Seienden existieren würde.11
9
Vgl. Tillich, P., Systematische Theologie I, Stuttgart u.a 61980, 19 – 22. Tillich, P., Systematische Theologie I, 256. 11 Vgl. Tillich, P., Systematische Theologie I, 273 – 280. Vgl. ferner Small, J., God as the Ground of Being: Tillich and Buddhism in Dialogue, Köln 2009. 10
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2. Die letztgültige Realität in der Schule des Mittleren Weges Die Ma¯dhyamika (wörtlich: mittlerer Weg) Schule schließt an die Tradition des frühen Buddhismus an. Sie erhielt ihren Namen, weil sie einen „mittleren Weg“ zwischen zwei extremen Positionen zu vertreten sucht: zwischen der Position des Annihilationismus, der die Existenz von Dingen verneint und dem Eternalismus, der von einer Art ewiger Substanz ausgeht, die dem welthaften Prozess der Veränderung unterliegt. Die Grundannahme der Ma¯dhyamika Schule wird kurz und bündig durch die berühmte „Lehrstrophe über die Mitte“ von Na¯ga¯rjuna (150 – 250 v. Chr.) ausgedrückt (Mu¯lamadhyamakaka¯rika¯, 24,18): „Das Entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit dies ist es, was wir Leere nennen. Sie ist abhängig von Konvention. Sie selbst ist der Mittlere Weg.“12
Diese Lehrstrophe sagt also grundlegend aus, dass alles Sein kontingentes Seiendes und in wechselseitiger Abhängigkeit entstanden ist. Dem sich immer verändernden Prozess des Werdens oder des abhängigen Entstehens unterliegt keine statische oder unveränderliche Substanz oder individuierte Natur. Allerdings wird die kontingente Existenz aller Dharmas nicht verneint. Vielmehr können die Dharmas als kontingentes oder konventionelles Seiendes erfahren werden. Der Begriff der Leere meint daher nicht, dass nichts existiert, sondern dass es kein individuiertes Prinzip der Selbstheit der Dinge gibt. Die Schule des Mittleren Weges versucht, das dualistische Denken hinter sich zu lassen, indem sie häufig dialektische oder paradoxe Ausdrücke nutzt. Damit soll ausgedrückt werden, dass die letztgültige Realität unsere Sprache und unsere Begriffe transzendiert, besonders dann, wenn es sich um Begriffe wie Substanz oder Wesen handelt. Da nun die Schule des Mittleren Weges voraussetzt, dass der Begriff einer individuierten Selbstheit verworfen werden muss, neigt sie dazu, ihre 12 Vgl. Kalupahana, D.J., Na¯ga¯rjuna: The Philosophy of the Middle Way, Albany 1986, 339.
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Sicht der letztgültigen Realität mittels der via negativa als philosophischem Mittel auszudrücken. Obwohl die Schule des Mittleren Weges eher dem Nominalismus als dem Realismus zugerechnet werden kann, verwirft sie den Gebrauch der Sprache nicht vollständig. Faktisch dient der Ausdruck der Leere zur Bezeichnung der letztgültigen Realität. Um die Bedeutung des Begriffs der Leere als Begriff für das Dharma des abhängigen Entstehens verstehen zu können, ist es hilfreich, sich die Entwicklung des buddhistischen Denkens anzuschauen. Eine frühere buddhistische Theorie des Dharma vom abhängigen Entstehen meinte, alles sei durch fünf skandas, durch fünf Aggregate, gebildet. Diese skandas sind 1. die physische Form oder die Materie (ru¯pa), 2. Empfindung oder Gefühl (vedana¯), 3. Wahrnehmung (samjÇa¯), 4. geistiger Impuls (samska¯ra) und 5. Bewusstsein (vijÇa¯na). Eine Entität tritt nun ins Sein, wenn diese fünf skandas zusammenkommen, und sie hört auf zu sein, wenn sie wieder auseinandertreten. Nach dieser Theorie gibt es keine dauerhaften Dinge, aber diese fünf skandas sind dauerhaft. Für die Schule des Mittleren Weges ist diese Theorie nicht zu Ende gedacht und daher inadäquat. Daher müsse man weitergehen: Auch die fünf skandas sind kontingent, leer und nicht dauerhaft. Die oben angegebene Lehrstrophe sagt sogar aus, dass der Begriff der Leere selbst von Konventionen abhängig ist, d. h. vom konventionellen Bezeichnen des Sprachgebrauchs (prajÇapti). Der Begriff der Leere selbst ist also leer und darf daher nicht als eine metaphysische Substanz mit einer individuierten Selbstheit verstanden werden. Der Ausdruck Leere ist somit mit anderen Worten nur ein begriffliches Werkzeug, um das dualistische Denken zurückweisen zu können, das unterscheidend tätig ist und in irgendeiner Form eine individuierte Selbstnatur, Substanz oder Essenz als objektivem Bezugspunkt menschlicher Sprache annimmt. Gemäß diesem Ansatz die Sprache zu nutzen, um sich auf die letztgültige Realität beziehen zu können, sind offensichtlich sich kontradiktorisch widersprechende Ausdrücke wie „Sein“ (abhängiges Entstehen) und „Nicht-Sein“ (Leere) fähig, auf alle Dharmas angewandt zu werden. Dabei muss aber beachtet werden, dass weder „Sein“ noch „Nicht-Sein“ für sich alleine in der Lage ist, die ganze oder die letztgültige Wahrheit auszudrücken. Damit ist der Mittlere Weg weder ein dritter Weg neben solchen, die alleine auf Begriffen wie © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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entweder „Sein“ oder „Nicht-Sein“ aufruhen, noch ein Kompromiss, der jeweils zur Hälfte von Seiendem und Nichtseiendem spricht. Vielmehr müssen die sich kontradiktorisch widersprechenden Ausdrücke in einer dialektischen oder komplementären Weise angewandt werden, um sich auf die letztgültige Realität beziehen zu können, denn jeder Weg für sich alleine wäre dazu unbrauchbar. Dieser dialektische oder komplementaristische Sprachgebrauch von den Begriffen des Seins oder Nichtseins in der Schule des Mittleren Weges ist damit eine Variation des instrumentalistischen Verständnisses von Sprache im frühen Buddhismus. Denn der frühe Buddhismus gestand einerseits die Beschränktheit sprachlicher Begriffe zu, während er andererseits den Wert der Sprache zum Zwecke der Erleuchtung von Menschen anerkannte. Buddha meinte nämlich, es ginge darum, beide Extreme zu meiden: Die Sprache ist nicht nutzlos, wenn es darum geht, sich auf die letztgültige Realität zu beziehen, aber sie darf auch nicht als die letztgültige Wahrheit selbst verstanden werden.13 Diese Tradition fortführend behauptete die Lehrstrophe über die Mitte (24,8 – 10) von Na¯ga¯rjuna eine Theorie zweier Wahrheiten: „Die Lehre Buddhas beruht auf zwei Wahrheiten: Wahrheit in Bezug auf weltliche Konvention und Wahrheit letztgültiger Frucht. Wer nicht den Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Wahrheit versteht, versteht auch nicht die Wahrheit von Buddhas Botschaft. Ohne sich auf weltliche Konvention zu beziehen, wird die letztgültige Frucht nicht gelehrt. Ohne die letztgültige Frucht zu verstehen, ist Freiheit nicht erreicht.“14
Die beiden Wahrheiten beziehen sich also auf zwei Arten des Verstehens, nicht zwei Stufen des Seins. Die Schule des Mittleren Weges meint also, die letztgültige Wahrheit könne nicht vollständig durch menschliche Sprache und Konvention ergriffen werden, aber man könne auch diese Sprache nicht einfach verwerfen. Denn die Beschränktheit der Sprache kann durch den Gebrauch dieser kontra13 14
Vgl. Kalupahana, D.J., Na¯ga¯rjuna, 19. Vgl. Kalupahana, D.J., Na¯ga¯rjuna, 331 ff. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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diktorischen oder komplementären Begriffe überwunden werden. In diesem Sinne ist der Sprachgebrauch auch heilsam. Denn er hilft eher, dass wir unsere falschen Vorstellungen der letztgültigen Realität überwinden können, denn dass wir die letztgültige Realität in einer konkreten Weise sprachlich ausdrücken könnten. Bis zu einer gewissen Grenze kann man die Sicht der Sprache in der Schule des Mittleren Weges mit dem Komplementaritätsprinzip in der Quantenphysik vergleichen oder mit einigen Ausprägungen christlicher Theologie.15
3. Die letztgültige Realität im Hua-yen Buddhismus Anders als die Schule des Mittleren Weges, die sich auf die letztgültige Realität mithilfe der Negation und mithilfe eines dialektischen oder komplementaristischen Sprachgebrauchs beziehen will, entwickelten einige Schulen des Maha¯ya¯na Buddhismus Methoden, um sich auf eine buddhistische Sicht der letztgültigen Realität in einer positiveren Weise beziehen zu können, indem sie die philosophischen Ressourcen nutzten, die in Ostasien zugängig waren. So entwickelten beispielsweise einige Schulen des chinesischen Maha¯ya¯na Buddhismus die Lehre des Tatha¯gatagarbha weiter zu ihren Verständnissen der Buddha-Natur (fo xing). Tatha¯gatagarbha bedeutet wörtlich „der Embryo, (garbha) der aus der Soheit gegangen und zur Soheit gekommen ist“ (tatha¯gata, bezogen auf Buddha). Der Begriff der Buddha-Natur, der einer der wichtigsten Themen des chinesisch-buddhistischen Denkens ist, besagt, dass der Prozess, in dem man die Buddhaheit gewinnt, identisch ist mit dem Prozess der Verwirklichung der eigenen Natur und des je eigenen Potentials. Die Lehre, dass jedes empfindsame Wesen Buddha-Natur besitzt und damit auch die Möglichkeit, Buddhaheit zu erreichen, wurde zum Allgemeingut des chinesischen Buddhismus. Im Laufe der weiteren Entwicklung der Lehre stritten sich die Tien-tai-Schule und die Hua-yen-Schule in China über die 15 Vgl. Lai, Pan-chiu, Buddhist-Christian Complementarity in the Perspective of Quantum Physics, in: Studies in Inter-religious Dialogue 12.2 (2002), 148 – 164. Einige Teile dieses Kapitels basieren auf diesem Aufsatz.
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Frage, ob auch Bäume und Gräser eine Buddha-Natur besäßen.16 Der berühmte japanische Zen-Meister Do¯gen (1200 – 1253) bezog sich ebenfalls auf die Lehre von der Buddha-Natur. Er meinte, alles Seiende einschließlich der scheinbar leblosen Dinge hätte eine BuddhaNatur.17 Nach dem Verständnis dieser Weiterentwicklung besitzen sogar die nicht-organischen Dinge eine Buddha-Natur. Obwohl Do¯gen die Buddha-Natur auch mithilfe des Begriffs der Leere charakterisieren konnte, betont doch sein Verständnis der letztgültigen Realität, die mithilfe des Begriffs der Buddha-Natur ausgedrückt wird, eine Art von mystischem Realismus.18 Die Entwicklung der Lehre von der Buddha-Natur ist nicht notwendigerweise eine Verletzung der buddhistischen Tradition, denn die Maha¯ya¯na Lehre, nach der alle lebenden Wesen mit einer BuddhaNatur ausgestattet sind, hat ihre Wurzeln in der personalistischen Schule des frühen Buddhismus.19 Ferner bedeutet diese Weiterentwicklung der Lehre einen wichtigen Beitrag für die buddhistische Sichtweise der letztgültigen Realität. Denn da alles Seiende eine Buddha-Natur besitzt und letztendlich Buddhaheit erreicht, ist die letztgültige Realität gleichbedeutend mit der letztendlichen Verwirklichung der Buddha-Natur. Daher kann die letztgültige Realität als Buddha-Natur beschrieben werden. Nach dieser Auffassung ist die transzendente letztgültige Realität vollständig immanent in den Dingen des Alltags. Die letztgültige Realität, ob sie nun als Dharma oder als Buddha-Natur bezeichnet wird, ist keine geheimnisvolle Wirklichkeit fern von unserer Alltagswelt, sondern sie ist inmitten 16
Die Ansicht, dass auch Bäume und Gräser eine Buddha-Natur besitzen, wurde besonders populär angesichts des gegenwärtigen ökologischen Anliegens. Vgl. James, S.P., Zen Buddhism and Environmental Ethics, Aldershot, Hampshire 2004, 64 – 69. 17 Do¯gens Interpretation beruht zwar auf einer Lehrmeinung, wird aber nicht besonders durch die chinesische Grammatik der relevanten Passagen der buddhistischen Schriften unterstützt. Vgl. Abe, M., A Study of Do¯gen: His Philosophy and Religion, Albany 1992, 35 – 76; Dumoulin, H., Zen Enlightenment: Origins and Meaning, New York 1979, 102 – 124. 18 Vgl. Kim, Hee-Jin, Eihei Do¯gen: Mystical Realist, Boston 2004, 102 – 167. 19 Vgl. Robinson, R.H./Johnson, W.L., The Buddhist Religion: A Historical Introduction, Belmont, CA 31982, 44. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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jeglichen Seins verkörpert. Das Reich der Phänomene und des Relativen einerseits und das Reich des Absoluten andererseits fallen so in eins. Bis zu einem gewissen Maß ist daher jedes Seiende des Alltags eine Verkörperung, wenn nicht gar eine Inkarnation der letztgültigen Realität. Damit ist nicht nur eine deutlich positivere Sicht der letztgültigen Realität vertreten, sondern ebenso eine Verbindung von mystischer Erfahrung der letztgültigen Realität und der täglichen Erfahrung der Dinge des Alltags. Dies kann insbesondere im Falle des Hua-yen Buddhismus veranschaulicht werden. Als der Erwachte erhielt der Buddha in seiner Erleuchtung die Sicht der wahren Natur, bzw. der letztgültigen Realität. Daher ist die letztgültige Realität äquivalent mit dem, was der Buddha in seiner Erleuchtung wahrnahm. Gemäß der Avatamsaka Su¯tra versuchte der Buddha, seine Sichtweise der Realität, die er in der höchsten Meditation erschlossen bekam, in Worte zu fassen. Und obwohl angenommen wird, dass diese Sichtweise nur durch intuitive mystische Erfahrung verwirklicht werden kann und nicht konkret, direkt und literal durch Sprache zu beschreiben ist, benutzt die Su¯tra doch mannigfache Metaphern, um sie zu beschreiben. Die wohl bekannteste Metapher, die in der Su¯tra verwandt wird, ist die des JuwelenNetzes des Indra. Gemäß der alten indischen Mythologie der Veden ist Indra, der Gott des Donnerkeils, der erste aller Götter. In seinem himmlischen Palast befindet sich ein Netz von unendlichen Dimensionen, besetzt mit einer unendlichen Zahl von Juwelen. Die Oberfläche eines jeden Juwels reflektiert unendlich den Glanz aller anderen Juwelen, und die Reflexionen dieser anderen Juwelen auf der Oberfläche eines einzelnen Juwels unterscheiden sich, je nach der Position dieses Juwels. Die Hua-yen Schule versucht nun, dieses Verständnis der letztgültigen Realität mithilfe der Begriffe der Nichtabgeschlossenheit zwischen den Ereignissen (shi shi wu ai), der wechselseitigen Identität und Interpenetration (xiang qi xiang ru) und dem Begriff des Alles-inEinem-und-Eines-in-Allem (yi ji yi qie, yi qie ji yi) auszudrücken. Nach der Hua-yen Schule besteht die Welt, die grenzenlos ist, aus einer unendlichen Anzahl von Ereignissen oder Existenzen. Jede dieser Existenzen ist zwar leer in Bezug auf ihre Natur und besitzt keine unvergängliche Selbstnatur oder Identität, aber alle diese Entitäten haben ihre je eigene relative Position, die sie von allen anderen un© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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terscheidet. Ferner partizipieren all diese Myriaden Ereignisse wechselseitig aneinander, ohne sich dadurch zu vermischen oder ihre individuelle Identität zu verlieren. Die Theorie der Nichtabgeschlossenheit zwischen den Ereignissen bedeutet daher, dass alle Phänomene, wie unterschiedlich sie auch sein mögen, ein Netz der Interpenetration ohne Abgeschlossenheit oder Vermischtheit bilden, so dass jedes Ereignis an allen anderen partizipiert und alle Ereignisse an jedem einzelnen Ereignis.20 Aus dieser Darstellung geht hervor, dass die Hua-yen Philosophie in manch einer Hinsicht der Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads ähnelt. In beiden Philosophien werden eher dynamische Begriffe wie Ereignis oder Prozess genutzt, um die eher statischen Begriffen wie Substanz oder Wesen als die fundamentalsten ontologischen Kategorien zu ersetzen. Es gibt allerdings auch Unterschiede. Denn die Theorie der Nichtabgeschlossenheit zwischen den Ereignissen des Hua-yen-Denkens versucht, die synchrone Beziehung zwischen den Dharmas mittels der Begriffe der Interdependenz und Interkausalität auszudrücken. Der Begriff der Interkausalität meint nun aber gerade nicht, dass es eine zeitliche Sequenz von Vorher und Nachher gäbe oder dass ein Effekt immer der Ursache folgen würde. Die Gesamtheit der Welt kann als selbstverursachend, nicht-hierarchisch und ohne Mittelpunkt verstanden werden.21 Während also Hua-yen von einer Interpenetration ohne Vorher und Nachher in einem temporalen oder logischen Sinne spricht, kann Whiteheads Position eher als eine kumulative Penetration beschrieben werden, da hier in allen zeitlich folgenden Entitäten alle zeitlich vorhergehenden aufgehoben sind, nicht aber umgekehrt.22 Die nicht zu unterschätzende Relevanz der Hua-yen Philosophie für das Verständnis der Umweltproblematik wurde von zeitgenössischen Wissenschaftlern hervorgehoben.23 Aus der Perspektive der 20
Vgl. Williams, P., Maha¯ya¯na Buddhism: The Doctrinal Foundations, London 22009, 129 – 148, bes. 135 f. 21 Vgl. Cook, F.H., Hua-yen Buddhism: The Jewel Net of Indra, University Park/London 1977, 1 – 25. 22 Vgl. Odin, S., Process Metaphysics and Hua-yen Buddhism: A Critical Study of Cumulative Penetration vs. Interpenetration, Albany 1982. 23 Vgl. Cook, F.H., The Jewel Net of Indra, in: Callicott, J. B./Ames, R.T. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Tiefenökologie begrüßte insbesondere David Landis Barnhill die Hua-yen Theorie der Nichtabgeschlossenheit der Dharmas, die eine „differenzierte Integration“ aller Dinge bedeute. Denn gemäß dem Hua-yen Buddhismus sind alle Dinge zwar wechselseitig aufeinander bezogen durch ihre Interpenetration und ihre wechselseitig konstituierte Identität, aber dennoch verschwindet nicht die Unterschiedenheit individueller Phänomene angesichts ihrer engen, wechselseitigen Bezogenheit. Die Möglichkeit der Nichtabgeschlossenheit aller Dharmas beruht gerade auf Basis der Tatsache, dass jedes Dharma von den anderen unterschieden ist.24 Barnhill betont nun, dass diese Position die beiden folgenden Extreme vermeiden kann: 1. die Überbetonung der Individualität und die Auffassung einer nur externen Relationalität, so dass die Einheit der natürlichen Welt verloren geht; und 2. die Überbetonung der Einheit der Gesamtheit aller Dharmas mit der Folge, dass die Unterschiede zwischen ihnen nicht beachtet werden und die Diversität der Welt verloren ginge – etwa beispielsweise mit der konkreten Folge, dass menschliches Sein von der Natur separiert und so für Umwelt und Gesellschaft destruktiv würde. Die Hua-yen-Auffassung der Differenz und Identität zwischen dem Ganzen und seinen Teilen unterscheidet sich daher gravierend von purem Egoismus, abstraktem Tranzendentalismus und indifferenziertem Monismus.25 Man wird durchaus zugeben müssen, dass sich die buddhistische Betonung der Interdependenz und der wechselseitigen Penetration aller Dinge in einer Schusslinie mit der ökologischen Vision befindet. Ferner betont der Buddhismus, oft im Unterschied zum Christentum, welches eine absolute Unterschiedenheit zwischen menschlichem und nicht-menschlichem Sein mittels der Begriffe der Gottesebenbildlichkeit und Personalität aufrecht erhält, die Kontinuität, Zusammengehörigkeit und sogar Einheit alles Seienden. Die Folge dieser Wirklichkeitsauffassung ist, dass der Buddhismus eine Ethik auf Basis (Hg.), Nature in Asian Traditions of Thought: Essays in Environmental Philosophy, Albany 1989, 213 – 229. 24 Vgl. Barnhill, D.L., Relational Holism: Hua-yen Buddhism and Deep Ecology, in: Barnhill, D.L./Gottlieb, R.S., Deep Ecology and World Religions: New Essays on Sacred Ground, Albany 2001, 81 – 85. 25 Vgl. Barnhill,D.L., Relational Holism, 91 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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eines universalen Mitleids in Bezug auf alles Leben und sogar in Bezug auf alles Sein vertritt und damit in Kontrast zu einer anthropozentrischen Ethik steht, die den Wert und die Güte nichtmenschlichen Seins außer Acht lässt. Daher hebt die ostasiatische, buddhistische Bejahung des Wertes aller Dinge, einschließlich der nicht-menschlichen Entitäten, mittels des Begriffs der Buddha-Natur ihre Kompatibilität mit der ökologischen Vision hervor. Dabei ist es wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass die buddhistische Bejahung des Wertes jedes individuellen Seienden einschließlich der Bejahung der wesentlichen Gleichheit aller empfindsamen Wesen nicht zu einem Individualismus führt, denn diese Bejahung des individuellen Seins wird ausbalanciert und vervollständigt durch die Bejahung der radikalen Bezogenheit allen Seins.
4. Die buddhistische Trika¯ya-Lehre und die letztgültige Realität Obwohl Gautama Buddha im frühen Buddhismus eher die Rolle eines spirituellen Lehrers als die eines Erlösers innehatte, wurde der Buddha nach seinem Tod schnell zum Gegenstand der Anbetung und Verehrung. Populär wurde die Verehrung des Buddha vor allem während und nach der Regierung Asokas (268 – 239 v. Chr.). So wurden dem Andenken des Buddha viele Pagoden (stu¯pas) errichtet. Viele Ja¯taka-Erzählungen über frühere Leben des Buddha kursierten und wurden als Inschriften der Pagoden festgehalten.26 Über das Wesen des Buddha, einschließlich seiner Eigenschaften wie Ewigkeit, Perfektion, Allwissenheit etc., wurde im Buddhismus breit debattiert.27 Durch den Aufstieg des Maha¯ya¯na-Buddhismus steigerte sich die Verehrung des Buddha und die Lehrdebatten über die Buddhaheit wurden komplizierter, da es nach Auffassung des Maha¯ya¯na-Buddhismus viele Buddhas und Bodhisattvas gibt, von denen Gautama 26
Vgl. Harvey, P., An Introduction to Buddhism: Teachings, History and Practices, Cambridge 1990, 77 – 81. 27 Vgl. Griffiths, P.J., On Being Buddha: The Classical Doctrine of Buddhahood, Albany 1994. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Buddha nur einer war.28 Die Bodhisattvas, so nahm man an, hatten die höchste Weisheit und das höchste Mitgefühl erreicht, so dass sie es nach ihrer Erleuchtung vorzogen, in der Welt zu bleiben, um andere zu erlösen, anstatt sofort in das Nirvana eingehen zu wollen. Der wahrscheinlich populärste Bodhisattva dürfte Avalokites´vara (Kuanyin im Chinesischen, Kannon im Japanischen) gewesen sein, der auserwählt war, ein reines Land zu gründen, in das all jene, die seinen Namen anriefen, wiedergeboren würden. Auch der Shin Buddhismus, eine der größten religiösen Gruppierungen im gegenwärtigen Japan, übernahm von diesem Buddhismus des Reinen Landes diese Erlösungsvorstellung und entwickelte sie weiter. Man lehrte nun, dass es für die Erlösung nötig sei, ausschließlichen Glauben in die Kraft und die Gnade Amidas zu besitzen.29 Angesichts der offensichtlichen Pluralität von Buddhas entwickelte sich im Maha¯ya¯na-Buddhismus die Trika¯ya-Lehre, die besonders für den Reinen-Land-Buddhismus wichtig wurde. Trika¯ya bedeutet wörtlich „drei Körper“ (ka¯yas). Diese sind: 1. der Dharmakörper (Dharmaka¯ya), der sich auf den formlosen, unbegreifbaren, unbeschreiblichen und grenzenlosen Körper des Buddha bezieht, 2. der erscheinende Körper (Nirma¯naka¯ya), der die sinnliche Form des Körpers des Buddha in Raum und Zeit bezeichnet, insbesondere den physischen und weltlichen Körper Gautama Buddhas, und schließlich 3. der Körper der Seligkeit (Sambhogaka¯ya), der den himmlischen und seelischen Körper der Buddhas oder Bodhisattvas wie Amida und Kuan-yin bezeichnet, der die Fähigkeit besitzt, mit den empfindsamen Lebewesen zu interagieren. James L. Fredericks betont, dass der Nirma¯naka¯ya und der Sambhogaka¯ya als nützliche Medien (upa¯ya) des Dharmaka¯ya fungieren, um den Bedürfnissen und Beschränkungen der empfindsamen Lebewesen entgegenkommen zu können.30 Dabei gibt es im Maha¯ya¯na-Buddhismus ein eigenes Ver28
Vgl. Williams, P., Maha¯ya¯na Buddhism, 209 – 266. Hinsichtlich eines Vergleichs und Dialogs zwischen dem Shin Buddhismus und dem Christentum vgl. Hirota, D. (Hg.), Toward a Contemporary Understanding of Pure Land Buddhism, Albany 2000. 30 Vgl. Fredericks, J.L., Primordial Vow: Reflections on the Holy Trinity in Light of Dialogue with Pure Land Buddhism, in: Phan, P.C. (Hg.), The Cambridge Companion to the Trinity, Cambridge 2011, 325 – 343, bes. 330 ff. 29
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ständnis dieser nützlichen Mittel. Nach dieser Lehre entspricht es der Weisheit und dem Mitgefühl der Buddhas oder Bodhisattvas, die äußerst unterschiedliche Mittel zur Erlösung der empfindsamen Lebewesen schufen, die sich je nach den unterschiedlichen Neigungen und den unterschiedlichen Stufen des Verständnisses dieser Lebewesen unterscheiden. Der letzte Zweck der Differenzierung dieser Erlösungsmittel besteht dabei in der Absicht, jedes einzelne der Lebewesen erlösen zu können.31 Da nun die Neigungen und die Verständnisfähigkeiten der empfindsamen Lebewesen je nach Fall durchaus drastisch variieren, bedarf es einer großen Vielfalt solcher nützlichen Mittel. Aus diesem Grunde gibt es auch viele Bodhisattvas und viele unterschiedliche Sambhogaka¯yas, die verschiedene und z. T. auch entgegengesetzte Erlösungswege anbieten, d. h. solche, die auf eigener Kraft beruhen, und solche, die auf fremder Kraft beruhen. Der Begriff des Dharmaka¯ya, der mit Eigenschaften wie Reinheit, Ewigkeit etc. bedacht wird, scheint der Lehre von der Leere zu widersprechen und er ähnelt dem personalistischen Begriff Gottes in der christlichen Theologie. Der Begriff des Dharmaka¯ya findet sich auch in einigen Texten der Schule des Mittleren Weges. Dort ist dieser Dharmakörper dann gleichbedeutend mit der Leere oder der letztgültigen Wahrheit.32 In Einklang mit den Lehren des abhängigen Entstehens und der Leere wird der Dharmaka¯ya dann selbst als leer vorgestellt. Mittels dieser Trika¯ya-Lehre und der ihr korrelierten Lehre von den nützlichen Mitteln betont der Buddhismus die Pluralität göttlicher Manifestationen, ohne die Einheit der letztgültigen Realität aufzugeben.
5. Theologische Betrachtung Man wird aufgrund der genannten Darstellung buddhistischer Inhalte leicht sehen können, dass es zwischen den buddhistischen 31
Vgl. Pye, M., Skilful Means: A Concept in Mahayana Buddhism, London 1978, und Schroeder, J.W., Skillful Means: The Heart of Buddhist Compassion, Honolulu 2001. 32 Vgl. Williams, P., Maha¯ya¯na Buddhism, 176 – 189. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Auffassungen der letztgültigen Realität und christlichen Gottesverständnissen bedeutende Unterschiede gibt. Diese Unterschiede können Anlass dazu geben, weitere theologische Betrachtungen über das christliche Gottesverständnis vorzunehmen.
5.1 Der christliche Gott und die griechische Philosophie Die traditionelle christliche Lehrbildung übernahm zahlreiche Begriffe aus der griechischen Philosophie, wie etwa die Begriffe der Ousia oder Hypostasis. Einige christliche Theologen betrachten diesen griechischen Begriffsrahmen aber mittlerweile als nicht geeignet, um christliche Theologie treiben zu können. Beispielsweise neigt die griechische Philosophie dazu, den Begriff der Substanz als ihre fundamentalste Kategorie zu benutzen, während in der christlichen Gotteslehre die göttlichen Personen im Mittelpunkt stehen, so dass der Begriff der Person, nicht der Begriff der Substanz, zur grundlegenden Kategorie geworden ist. Da die göttlichen Personen aber durch ihre Relationen konstituiert werden, unterscheidet sich auch die ontologische Bedeutung der Relation deutlich von deren Stellung in der griechischen Philosophie, die den Begriff der Relation deutlich dem der Substanz nachordnete.33 Andere Theologen wiederum entdeckten, dass der griechische Substanzbegriff viel zu statisch ist, um den christlichen Gott beschreiben zu können, was insbesondere für ein dynamisches Verständnis der Inkarnation gilt. Aus diesem Grunde versuchen viele gegenwärtige Theologen, die durch die griechische Tradition bedingten Probleme zu überwinden, in dem sie die Trinitätslehre wiederbelebten und so ein besonderes Augenmerk auf die grundlegende Bedeutung der Relationalität für die christliche Gotteslehre legten.34 Andere, zu denen auch die Prozesstheologen gehören, ersetzen den griechischen Begriffsrahmen durch die Prozessphi33
Vgl. z. B. Zizioulas, J., Being as Communion: Studies in Personhood and the Church, Crestwood, NY 1985; LaCugna, C.M., God for Us: The Trinity and Christian Life, San Francisco 1991. 34 Vgl. z. B. Schwöbel, C., Gott in Beziehung, Tübingen 2002; Grenz, S.J., The Social God and the Relational Self: A Trinitarian Theology of the Imago Dei, Louisville 2001. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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losophie Whiteheads. Einige Theologen schlugen sogar vor, die christliche Gotteslehre ohne den Begriff des Seins zu beschreiben, um die durch Martin Heidegger (1889 – 1976) kritisierte Onto-Theologie überwinden zu können.35 Die buddhistische Betonung des sich ständig wechselnden Charakters aller Dinge und deren Interdependenz steht in striktem Gegensatz zum Mainstream der griechischen Philosophie, mit Ausnahme vielleicht der Vorstellungen Heraklits von Ephesus (535 – 475 v. Chr.), der für seinen berühmten Ausspruch, dass man nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen könne, bekannt wurde. Das buddhistische Denken passt nun recht gut zu diesem Bruch mit dem substantialistischen Denken, das die griechische Philosophie bestimmte, was besonders angesichts der Tatsache deutlich wird, dass hier der Begriff der Substanz durch den der Leere und der Begriff des Seins durch den des Werdens ersetzt wird. Daher ist es nur vernünftig zu erwarten, dass das buddhistische Denken einige relationale Begriffe zur Erfassung des christlichen Verständnisses von Gott beisteuern kann, damit Christen ihr eher relationales Verständnis Gottes, einschließlich des Verständnisses der Trinität, besser ausdrücken können. Tatsächlich wurden entsprechende Versuche schon von gegenwärtigen Wissenschaftlern vorgenommen. So schlug beispielsweise John P. Keenan vor, die christliche Gotteslehre und die Lehre der Christologie könne mit den Begriffen, die aus dem Maha¯ya¯na Buddhismus stammen, deutlich adäquater beschrieben werden als mittels des substantialistischen Begriffsgebäudes der griechischen Philosophie.36 Ein anderes Beispiel besteht in dem Versuch, die Hua-yen Philosophie – die ja die Kategorie des Ereignisses anstelle der Substanz als ihre grundlegende ontologische Kategorie versteht – zu nutzen, um das Konzept der Perichorese, d. h. die wechselseitige Durchdringung der göttlichen Personen der Trinität, besser verstehen zu können, ohne dass eine von den göttlichen Personen unabhängige göttliche Substanz angenommen werden müsste.37 35
Vgl. Marion, J.-L., God without Being, Chicago/London 1991. Vgl. Keenan, J.P., The Meaning of Christ: A Maha¯ya¯na Theology, Maryknoll 1989. 37 Vgl. Lai, Pan-chiu, Trinitarische Perichorese und Hua-yen Buddhismus, in: Mühling, M./Wendte, M. (Hg.), Entzogenheit in Gott: Beiträge zur Rede 36
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Eine der wichtigsten Anfragen an die christliche Theologie vor dem Hintergrund eines buddhistischen Verständnisses der letztgültigen Realität lautet also: Ist es wirklich notwendig, den aus der griechischen Philosophie stammenden Begriffsapparat zu benutzen, um das christliche Gottesverständnis angemessen beschreiben zu können? Wenn das nicht der Fall ist – was in der Gegenwart breit zugestanden wird –, dann kann weiter gefragt werden, ob und in welcher Weise nicht buddhistisches Denken einige hilfreiche Begriffe bereitstellt, die dem genuin christlichen Anliegen besser entgegenkommen als die griechischen Begriffe.
5.2 Göttliche Relationalität Der Buddhismus versucht auf verschiedene Weise, eine dynamische und relationale Sichtweise der Wirklichkeit zu beschreiben, in der die letztgültige Realität das erste Beispiel oder die wichtigste Verkörperung des ontologischen Prinzips des abhängigen Entstehens ist. Christliche Theologie hat nun überhaupt kein Problem zu behaupten, dass alle Dinge voneinander abhängen, relational konstituiert sind, eher im Werden und daher veränderlich sind und dergleichen mehr, sondern würde diese Sichtweise unterstützen. Allerdings tendieren die meisten Schulmeinungen der christlichen Tradition, mit der Ausnahme vielleicht der Prozesstheologie, dahin, Gott als eine Ausnahme dieses Prinzips zu verstehen. Man möchte also die göttliche Transzendenz betonen, indem auf die Unterschiedenheit und sogar Trennung zwischen Gott und Welt verwiesen wird. Die Vorstellung göttlicher Freiheit oder Souveränität tendiert dazu, die Möglichkeit des Einflusses der Geschöpfe auf Gott zu minimieren. Damit unterscheidet sich die christliche Gottesvorstellung insofern deutlich von der buddhistischen Betonung der Relationalität, denn sie behauptet nicht nur eine fundamentale Relationalität zwischen dem endlichen Seienden, sondern auch zwischen der letztgültigen Realität und allen endlichen Existenzen. Im gegenwärtigen Dialog zwischen Buddhismus und Christentum von der Verborgenheit der Trinität, Utrecht 2005, 45 – 61. Einige Teile dieses Kapitels basieren auf diesem Aufsatz. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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findet man sehr viele akademische Studien, die den buddhistischen Begriff der Leere mit der christlichen Trinitätslehre vergleichen. Einer der meistbeachteten dieser Vorschläge stammt von Masao Abe (1915 – 2006). Abe bezieht sich auf das Verständnis des Begriffs der Absoluten Nichtheit aus der Schule von Kyoto. Der Begriff der absoluten Nichtheit ist dabei so verstanden, dass er sich noch jenseits der relativen Distinktion von Sein und Nicht-Sein befindet. Abe hält nun einen fruchtbaren Dialog zwischen dem buddhistischen Verständnis der dynamischen Leere einerseits und dem christlichen Verständnis der Kenosis andererseits für möglich. Meint der Begriff der Kenosis traditionell im Christentum die Selbstentleerung der Gottheit in Christus während dessen Leben auf Erden, so schlägt Abe nun ein grundlegenderes Verständnis von Kenosis vor, das sich nun auf einen vollständigen Selbstverzicht der Gottheit bezieht. Dieser Begriff der göttlichen Selbstentleerung bedeutet dabei, dass Gottes unendliche Unbezogenheit keine Priorität über Gottes Bezogenheit zu dem, was nicht Gott ist, zukommt, und ferner, dass Gottes kenotische Selbstentleerung in dynamischer Identität mit Gottes treuer und endlicher Fülle steht.38 Abes dynamisches Verständnis der letztgültigen Realität und seine Identifikation der göttlichen Leere mit der endlichen Fülle befindet sich in einer Linie mit der buddhistischen Betonung der Nichtdualität von Form und Leere durch die Herz-Sutra: „Die Form unterscheidet sich nicht von Leere und Leere nicht von Form. Form selbst ist Leere und Leere ist Form.“39 Diese Interpretation des kenotischen Gottes und sein Vergleich mit der absoluten Nichtheit des Buddhismus erweckte nun viele Debatten zwischen buddhistischen, jüdischen und christlichen Wissenschaftlern.40 Abes Interpretation der Relationalität der letztgültigen Realität erinnert dabei an die 38 Vgl. Abe, M., Kenosis and Emptiness, in: Corless, R./Knitter, P.F. (Hg.), Buddhist Emptiness and Christian Trinity, New York 1990, 5 – 25, bes. 18. 39 Vgl. Keenan, J.P./ Keenan, L.K., I Am / No Self: A Christian Commentary on the Heart Su¯tra, Leuven 2011 für eine christliche Interpretation der HerzSutra im Vergleich zu Joh. 40 Vgl. Ives, C. (Hg.), Divine Emptiness and Historical Fullness: A Buddhist Jewish Christian Conversation with Masao Abe, Valle Forge, PA 1995; Cobb, J.B. Jr./Ives, C. (Hg.), The Emptying God: A Buddhist-Jewish-Christian Conversation, Maryknoll, NY 1990.
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klassische Identitätsthese von immanenter und ökonomischer Trinität von Karl Rahner (1904 – 1984), nach der die immanente Trinität die ökonomische Trinität ist und umgekehrt.41 Das buddhistische Verständnis der letztgültigen Realität ist daher von kaum zu unterschätzender Relevanz für die gegenwärtigen theologischen Debatten über das Verhältnis von immanenter und ökonomischer Trinität und für die Debatten um eine angemessene Verhältnisbestimmung von göttlicher Freiheit und göttlicher Relationalität.42
5.3 Göttliche Personalität Paul Tillich wies darauf hin, dass dort, wo das Christentum dazu neigt, die letztgültige Realität in personalen Begriffen zu beschreiben, der Buddhismus es zu bevorzugen scheint, nicht-personale oder transpersonale Kategorien zu verwenden.43 Für Tillich schließen sich personale und nicht-personale Begriffe aber nicht wechselseitig aus: „Der Gott, der ein Seiendes ist, wird transzendiert durch den Gott, der das Sein selbst ist, der Grund und Abgrund allen Seins. Und der Gott, der eine Person ist, wird transzendiert durch den Gott, der die Person selbst ist, den Grund und Abgrund allen Personalen. […] Das bedeutet, dass Sein und Person keine kontradiktorischen Begriffe sind. Sein schließt personales Sein ein; es verneint es nicht. Der Grund des Seins ist der Grund des personalen Seins, nicht seine Negation.“44
41
Vgl. Rahner, K., Der dreifaltige Gott als transzendenter Urgrund der Heilsgeschichte, in: Feiner, J./Löhrer, M. (Hg.), Mysterium Salutis, Bd. 2, Einsiedeln u. a. 31978, 328. 42 Hinsichtlich einer Diskussion über die gegenwärtige Debatte vgl. Molnar, P.D., Divine Freedom and the Doctrine of the Immanent Trinity: In Dialogue with Karl Barth and Contemporary Theology, London 2002. 43 Vgl. Tillich, P., Christianity and the Encounter of the World Religions, New York/London 1964, 65 f. 44 Tillich, P., Biblical Religion and the Search for Ultimate Reality, London 1955, 82 f: „The God who is a being is transcended by the God who is being itself, the ground and abyss of every being. And the God who is a person is transcended by the God who is the Person-Itself, the ground and abyss of every personal. […] This means being and person are not contradictory concepts. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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John Macquarrie (1919 – 2007), der der theologischen Tradition von Nikolaus von Kues (1401 – 1464) folgt, der Gott als die coincidentia oppositorum verstand, schlägt nun einen dialektischen Theismus vor, um die Fehler des klassischen Theismus zu vermeiden, der Gott einseitig beschrieb, in dem die göttliche Transzendenz auf Kosten göttlicher Immanenz betont wurde.45 Macquarrie entwickelte eine Menge dialektischer Begriffe, um sein dialektisches Gottesverständnis auszudrücken. Nach ihm wird Gott verstanden als Sein und Nichtsein, Eins und Vieles, verstehbar und unverstehbar, transzendent und immanent, leidensfähig und leidenslos, ewig und zeitlich, etc. Er betont ferner, dass „innerhalb jedes Gegensatzes jede Seite ihr Recht hat, behauptet werden kann und behauptet werden muß.“46 Gott ist also nicht z. T. transzendent und z. T. immanent, sondern vollständig transzendent und vollständig immanent. Gemäß diesem dialektischen Theismus ist auch die Distinktion von personal und apersonal im Rahmen der Dialektik der göttlichen coincidentia oppositorum zu verstehen. Es handelt sich also nicht um eine zu verwerfende Kontradiktion, sondern wir können und sollen die Sprache der Personalität nutzen, um von Gott zu sprechen, der den Begriff der Personalität übersteigt.47 Der Buddhismus, insbesondere der Buddhismus des Reinen Landes, widerspricht nicht der Anwendbarkeit des Personbegriffs auf den Begriff der letztgültigen Realität, wenn auch die buddhistische Tradition in ihrer Breite den Begriff der Person nicht für letztgültig oder fundamental für unser Verständnis der letztgültigen Realität hält. Der Ansatz der Schule des Mittleren Weges zeigt deutlich, dass personale und transpersonale Begriffe sinnvoll auf dialektische, paradoxe oder komplementäre Weise genutzt werden können, um Menschen ein angemessenes Verständnis oder eine angemessene Sicht der letztgültigen Realität nahezubringen. Der buddhistische Zugang zur Sprache und zum Verständnis der letztgültigen Realität kann so Being includes personal being; it does not deny it. The ground of being is the ground of personal being, not its negation.“ 45 Vgl. Macquarrie, J., In Search of Deity: An Essay in Dialectical Theism, London 1984, 14. 46 Macquarrie, J., In Search of Deity, 15. 172. 47 Vgl. Macquarrie, J., In Search of Deity, 242 ff. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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nicht nur die christliche Theologie auf fruchtbare Weise herausfordern, ihre personalen und apersonalen Begriffe zu überdenken, wenn sie auf die letztgültige Realität selbst angewandt werden, sondern auch zu überdenken, ob und in welchem Sinne der Personbegriff, einschließlich der damit verbundenen Begriffe des Vaters und des Sohnes, nicht Metaphern oder begriffliche Modelle für die letztgültige Wirklichkeit oder Gott darstellen.
5.4 Vielheit und Einheit Gottes Auch die Ähnlichkeiten hinsichtlich der Gnadenlehre, besonders in deren protestantischer Gestalt, die die Rechtfertigung allein aus Gnade (sola gratia) und allein im glaubenden Vertrauen (sola fide) vertritt, im Vergleich zum Reinen Land Buddhismus – besonders zum Shin Buddhismus, haben die Aufmerksamkeit vieler christlicher Theologen, einschließlich der Karl Barths (1886 – 1968), auf sich gezogen. Damit kann auch die Frage gestellt werden, ob und in welchem Sinne Erlösung allein durch Gnade und im Vertrauen einzigartig christlich ist.48 Für die Gotteslehre, die im Zentrum der Betrachtung dieses Buches steht, sind die wichtigsten Fragen, die noch zu besprechen sind, die Fragen nach einer oder mehreren göttlichen Inkarnationen und die damit verwandte Frage von Einheit und Vielheit Gottes. Während das Christentum vor allem die Stellung Christi innerhalb des Trinitarischen Beziehungsgefüges betont, ist für die buddhistische Trika¯ya-Lehre und der darauf bezogenen Lehre der nützlichen Mittel vor allem die Pluralität göttlicher Manifestationen oder Offenbarungen wichtig, und zwar ohne die göttliche Einheit zu mindern. Verglichen mit dem Begriff der nützlichen Mittel kennt die christliche Theologie sogenannte Akkomodationstheorien (Theorien der Anpassung Gottes an die Fähigkeiten der Menschen): Gott kann durchaus nicht vollständig angemessene oder sogar unangemessene Begriffe und Worte verwenden, die aber dem Grad menschlichen Verstehens angemessen sind, die letztlich aber die Wahrheit oder Wirklichkeit nicht treffen, um mit seinen menschlichen Geschöpfen 48 Vgl. Tennent, T.C., Theology in the Context of World Christianity, Grand Rapids, MI 2007, 135 – 162.
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zu kommunizieren, die unter weltlichen Bedingungen noch die Fähigkeit besitzen, die letztgültige Wahrheit verstehen zu können.49 Die wichtigste Frage, die sich für die christliche Theologie dabei stellt, lautet: Ist es dabei notwendig, die göttliche Anpassung auf die Inkarnation des göttlichen Wortes zu beschränken? Setzt man den biblischen Grundsatz voraus, dass Gott will, dass jeder gerettet wird und vollständige Kenntnis der Wahrheit erlangen soll (1.Tim. 2,4) und wird weiter vorausgesetzt, dass es eine hohe Diversität an menschlichen Kulturen und Fähigkeiten, die Wahrheit zu erkennen, gibt, sollte es möglich und wünschenswert für die christliche Theologie sein, bejahen zu können, dass es eine Pluralität von göttlichen Offenbarungen und Handlungsweisen gibt, und zwar ohne die Einheit der göttlichen Heilsökonomie kompromittieren zu müssen. Die christliche Theologie wird dabei überdenken müssen, ob und in welcher Weise die Ökonomie des dreieinigen Gottes – also das Handeln des dreieinigen Gottes an und in der Welt – streng christozentrisch zu verstehen ist, oder ob nicht andererseits die Universalität und Pluralität des Handelns und der Manifestationen des Heiligen Geistes ernster genommen werden muss als das bisher der Fall ist. Vergleicht man buddhistische Aussagen über die letztgültige Realität mit biblischen Zentralaussagen über den Heiligen Geist, dann zeigen sich auch hier Ähnlichkeiten: Der Heilige Geist kann als „leer“ oder „formlos“ beschreiben werden, und er „weht wo er will“ (Joh 3,8).
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Die letztgültige Realität im Chinesischen Buddhismus
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Hans Waldenfels
Gott und „Leere“ im Zen-Buddhismus
1. „Gott“ im Buddhismus1 Die Zeit, in der der Buddhismus leichtfertig als „atheistische Religion“ angesprochen werden konnte,2 ist vorbei. Tatsache ist zwar, dass der Begriff „Gott“ im Buddhismus nicht zu finden ist und auch nicht voreilig aus christlicher Perspektive in den Buddhismus eingeführt werden sollte.3 Wichtig ist demgegenüber aber, dass sich in der lange 1
Vgl. zum Thema meine früheren Arbeiten: Absolutes Nichts. Zur Grundlegung des Dialogs zwischen Buddhismus und Christentum, Freiburg u. a. 31980, v. a. 176 – 197; Faszination des Buddhismus. Zum christlich-buddhistischen Dialog, Mainz 1982; v. a. 25 – 55. 92 – 111. 168 – 182; An der Grenze des Denkbaren. Meditation – Ost und West, München 1988; Gott – zwischen Christentum und Buddhismus, in: Waldenfels, H., Gottes Wort in der Fremde. Theologische Versuche II, Bonn 1997, 265 – 281 u. ö. (Register). 2 Vgl. Glasenapp, H.v., Der Buddhismus – eine atheistische Religion, München 1966. 3 Vgl. Suzuki, D.T., Outlines of Mahayana Buddhism, New York 1963, 219: „Der Buddhismus verwendet das Wort ,Gott‘ nicht. Das Wort ist eher beleidigend für seine Anhänger, zumal wenn es im einfachen Volk mit der Idee des Schöpfers verbunden ist, der die Welt aus dem Nichts erschaffen hat, den Fall der Menschheit verursachte und – von Gewissensbissen geplagt – seinen einzigen Sohn sandte, um die Fehlgeleiteten zu retten. Doch muss der Buddhismus deshalb nicht als Atheismus angesehen werden, der eine agnostische, materialistische Interpretation des Universums stützt. Weit gefehlt, – der Buddhismus erkennt ausdrücklich in der Welt die Gegenwart einer Realität an, die die Grenzen der Phänomenalität transzendiert und doch zugleich allem immanent ist und sich in seiner vollen Herrlichkeit manifestiert, in der wir leben, uns bewegen und sind.“ (Eigene Übersetzung; vgl. Waldenfels, H., Gott – zwischen Christentum und Buddhismus, in: Ders., Gottes Wort in der Fremde. Theo© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
Gott und „Leere“ im Zen-Buddhismus
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vom Christentum geprägten Kulturwelt allmählich die Einsicht durchsetzt, dass die interkulturelle Begegnung erfordert, dass man nicht voreilig eigene Kategorien auf fremdkulturelle Phänomene überträgt, sondern stattdessen die mühsame Arbeit auf sich nimmt, das Fremde in sich und aus sich zu verstehen. Das setzt voraus, dass man den eigenen Standpunkt zumindest zeitweilig einklammert, sich auf fremde Sprachspiele einlässt und vor allem nicht das Eigene unterschwellig zur Norm des Verstehens von Fremdem macht. Wenn Philosophen im Staunen einen Zugang zur Wirklichkeit erblicken, ist es an der Zeit, das Staunen über das Fremde und das Eingeständnis, dass vieles auf den ersten Blick unverständlich bleibt, nicht zu verdrängen. In diesem Sinne wird man aufgrund der lange in unserem Kulturkreis vorherrschenden Verständnisweisen Begriffe wie „Gott“ und „Religion“ nicht zu schnell in fremde Welten übertragen. Das verbietet schon die Tatsache, dass die Rede von „Gott“ und „Religion“ auch bei uns längst ihre Eindeutigkeit verloren hat. Gehörte lange Zeit Gott selbstverständlich in die Definition von Religion, so ist das heute längst nicht mehr der Fall. Vielfach ist die Definition dadurch erweitert worden, dass „Gott“ durch Begriffe wie „Transzendenz“, „das Absolute“, aber auch neutral-unpersönlich „Gottheit“ oder plural „göttliche, überirdische, transzendente Mächte“ ersetzt wird4. logische Versuche II, Bonn 1997, 271). Der japanische Zenmeister und Philosoph Shin’ichi Hisamatsu hat in einer eigenen Studie den buddhistischen Atheismus in Beziehung zum neuzeitlichen Atheismus des Abendlandes gesetzt; vgl. die deutsche Übersetzung: Hisamatsu, Shin’ichi, Atheismus, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 62 (1978), 268 – 296; dazu auch Waldenfels, H., Gottes Wort 271 – 275; Nachdruck der Übersetzung, in: Hisamatsu, S., Philosophie des Erwachens. Satori und Atheismus, Zürich/ München 1990. 4 Vgl. Dierse, U., Art. Religion, in: HWPh 8, 632: „Obwohl es seit langem üblich ist, ,Religion‘ als Sammelbegriff für jede Verehrung transzendenter Mächte, jede Lehre vom Göttlichen und alle Glaubensbekenntnisse der Menschen zu verwenden, ist es fast unmöglich, genaue Äquivalenzbegriffe für ,Religion‘ zu finden, die nicht das lat. ,religio‘ aufgenommen haben, nicht zuletzt wegen des Bedeutungswandels von ,religio‘ selbst.“ Zur Annäherung an die Gottesfrage und den Umgang mit Religion vgl. auch Waldenfels, H., Kontextuelle Fundamentaltheologie, Paderborn 42005, 103 – 106. 123 – 143; Ders., © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Hans Waldenfels
Wer sich auf eine Bewegung wie den Buddhismus einlässt, kommt nicht umhin, sich auf seine Sprachwelten einzulassen.5
2. Auf dem Weg zur Sprachlosigkeit Ein anderes muss an dieser Stelle in Erinnerung gerufen werden. Im abendländischen Verständnis ist Religion zwar immer auch religiöse Praxis, doch spielt der Aspekt der Lehre weithin eine beherrschende Rolle. Natürlich kommt auch der Buddhismus nicht ohne Lehre aus. Doch während im Christentum die Gottesfrage im Laufe der Zeiten, wenn man allein an die Lehre von der Trinität denkt, zu einer hochspekulativen Angelegenheit geworden ist, die viele Menschen überfordert, scheint die Lehre des Buddhismus wesentlich eine Anleitung zur Praxis zu sein. Man kann sogar sagen: Während das Christentum lange Zeit den höchsten Wert auf die rechte Sprache, die „Orthodoxie“ als Ausdruck des richtigen Verstehens, gelegt hat, tendiert der Buddhismus in die Sprachlosigkeit, also in die Richtung schweigenden, sprachlosen Daseins. Dabei ist zu beachten, dass der Buddhismus wie die meisten Religionen unterschiedliche Ausprägungen kennt. Auf der einen Seite ist der Weg des Buddha ein Weg, der aufgrund seiner vom Menschen den totalen Einsatz fordernden Einstellung bald zu einer elitären Bewegung werden musste. Alles verlassen und loslassen, alles Hab und Gut, alle Radikalbindung an einen anderen Menschen, wie sie sich in ehelichen Beziehungen verwirklicht, letztlich ein Sich-selbst-Loslassen ist nicht jedem Menschen gegeben und stellt für viele eine Überforderung dar. Hier fragt sich dann: Ist der Buddhaweg nur für wenige Menschen als Weg der Befreiung geeignet, oder wie kann er auch den „Schwachen“ ein Weg in die Vollendung sein? Bekanntlich ist auch der Weg des Buddha ein Weg, der grundGott. Auf der Suche nach dem Lebensgrund, Leipzig 21997, dort zum Buddhismus 38 f. 5 In meinen neueren Arbeiten habe ich mich wiederholt auf die Sprachschwierigkeiten im Umgang mit fremden Kulturen eingelassen. Die vielfach noch nicht veröffentlichten Manuskripte finden sich auf meiner Homepage www.hans-waldenfels.de. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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sätzlich allen Menschen offen steht. Aus einem Kleinen Fahrzeug wurde das Große Fahrzeug, und auch im Großen Fahrzeug – Maha¯ya¯na – bleibt die Offenheit für alle bestehen, ja man muss sagen: Es gehört zu den Grundzügen des Buddhismus, dass er sich bis auf den heutigen Tag immer neu als universalen Heilsweg angeboten hat. So haben sich auch im Maha¯ya¯na-Buddhismus die Wege noch einmal gegabelt. Japanisch gesprochen gibt es den Weg des jiriki, der „Eigenkraft“, den diejenigen beschreiten, die glauben, mit eigener Kraft das Ziel der Befreiung erreichen zu können, und des tariki, der „Anderkraft“, den diejenigen gehen, die auf eine andere Kraft vertrauen, mit deren Hilfe sie das Lebensziel zu erreichen suchen. In den fernöstlichen Ländern, in China und Japan, aber auch in den anderen Ländern Südostasiens finden wir in unterschiedlichen Ausprägungen diese beiden Verwirklichungen des Buddhaweges. Konkret geht es auf der einen Seite um den Weg meditativer Versenkung, auf der anderen Seite um den Weg vertrauender Hinwendung und Anrufung des großen Amida Buddha. Es ist leicht verständlich, dass sich die Gottesfrage, wenn sie denn im Buddhismus gestellt werden kann, auf den beiden Wegen auf unterschiedliche Weise stellt. Anrufung ist immer eine Form des Sprechens – hier stellt sich die Frage nach dem Gebet.6 Meditative Versenkung ist eine Schweigeübung, führt also in die Sprachlosigkeit. Das heißt jedoch nicht, dass nicht auch über diesen Vorgang reflektiert werden und dass es über die Erfahrungen, die Menschen mit solchen Übungen machen, nicht ein Austausch stattfinden kann, der dann wieder zurück ins Wort führt. Weil aber im Christentum das Wort eine so eminent wichtige Stellung einnimmt und überall, wo das Wort eine beherrschende Rolle spielt, es oft genug zum Gerede und zum Geschwätz kommt,7 übt eine Religion, die in die Erfahrung der Sprachlosigkeit und des Schweigens einführt, bei nicht wenigen Suchenden eine starke Faszination aus, – scheint sie doch ein „Jenseits 6
Vgl. dazu Waldenfels, H., Das Gebet – erläutert am japanischen Buddhismus, in: Ders., Faszination des Buddhismus. Zum christlich-buddhistischen Dialog, Mainz 1982, 92 – 111. 7 Vgl. ausführlicher Waldenfels, H., Unterwegs zum Erfahrungsglauben, in: Ders., Löscht den Geist nicht aus! Gegen die Geistvergessenheit in Kirche und Gesellschaft, Paderborn 2008, 141 – 156. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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des Wortes“ (H. Urs von Balthasar) anzubieten. Obwohl der AmidaBuddhismus oder – wie er auch heißt – der Buddhismus des Reinen Landes eine viel größere Anhängerschaft um sich vereinigt, gilt das überwiegende Interesse bei uns dem Meditations-Buddhismus oder – nach seiner aus Japan in den Westen tradierten Form benannt – dem Zen-Buddhismus.8
3. Die Frage nach Gott – eine Zwischenbemerkung Hier ist noch einmal an die Anfragen zu erinnern, die die Untersuchung im Hinblick auf das Gottesverständnis in der Welt der Religionen klären möchte. Diese Fragen sind weitgehend aus einem christlichen Verstehenshintergrund formuliert. So möchte man gerne erfahren, wie es in der nichtchristlichen Welt um die natürliche Gotteserkenntnis bestellt ist und ob es dort einen Sinn für Offenbarung gibt. Was gibt es für Gottesvorstellungen, wenn Gott denn überhaupt existiert? Welche Eigenschaften hat er? Ist er einer oder viele oder vielgestaltig? Wie gestaltet sich sein Verhältnis zur Welt? Und wie wirkt sich das Gottesverständnis auf das Verständnis des Menschen, seine Personalität und die menschliche Gesellschaft aus? Was wir bereits einleitend zum Buddhismus gesagt haben, zeigt jedoch, dass ein solcher Fragenkatalog von vornherein scheitern muss. Denn ehe wir das Fremde wahrgenommen haben, haben wir bereits unsere eigene Brille aufgesetzt, so dass wir das Andere, wenn auch unbewusst und keineswegs in böser Absicht, in unsere eigenen Kategorien einzupassen versuchen. Eine derart naive Annäherung an fremde Religionen sollte aber beim heutigen Stand interreligiöser Begegnung eigentlich überholt sein. Begegnungen gerade im Bereich subtiler existentieller Fragen können nur gelingen, wenn auf beiden Seiten eine große Bereitschaft besteht, auf den anderen zu hören und ihn zu sehen, wie er ist und sich versteht, ohne die eigene Position als die auf jeden Fall überlegene einzubringen. Wenn, wie eingangs angemerkt, im Buddhismus „Gott“ im 8 Vgl. Waldenfels, H., Der Dialog mit dem Zen-Buddhismus, in: Ders., An der Grenze des Denkbaren. Meditation – Ost und West, München 1988, 69 – 87.
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abendländischen Sinne nicht vorkommt und wir dennoch nicht mehr einfach von einer „atheistischen“ Religion sprechen können, ist als nächster Schritt zu fordern, dass wir die Fragen nach Gott nicht nach einem von Christen und Abendländern erarbeiteten Denkschema stellen. Wenn Gott auch für uns der nicht einholbare Horizont alles Seienden ist, können wir nur mit einer großen geistigen Offenheit in die Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit fremden Denk- und Lebenshorizonten eintreten. Die dazu erforderliche Sensibilität hat zur Voraussetzung, dass wir uns in unseren eigenen Überzeugungen zunächst zurücknehmen und zurückhalten, um das Fremde in seiner Fremdheit, aber auch in seinem Anspruch wahrnehmen zu können. Nur wo das geschieht, kommt es zu wahrer Begegnung, aber auch zu wahrem Verständnis. Wir beginnen daher für unseren Fragebereich damit, dass wir den Zen-Buddhismus zunächst auf uns wirken lassen, wie er sich darstellt. Wenn dann am Ende deutlich wird, dass dort die Gottesfrage doch auf ganz eigene Weise zum Tragen kommt, ist das Ziel dieser Untersuchung erreicht.
4. „Von Geist zu Geist“9 Der Anfang des Zen-Buddhismus verbindet sich mit der legendären Gestalt des Bodhidharma, dessen grundlegende Intuition in den vier Zeilen zusammengefasst ist: „Eine besondere Überlieferung außerhalb der Schriften, unabhängig von Wort und Schriftzeichen: Unmittelbar des Menschen Herz zeigen, – Die (eigene) Natur schauen und Buddha werden.“
Der Buddhismus ist keine Buchreligion. Heinrich Dumoulin spricht von „Geistüberlieferung“ und „Geistübertragung“, die sich seit der Erleuchtung des historischen Buddha immer wieder direkt vom Meister auf den Jünger vollzieht. Der klassische japanische Ausdruck spricht von ishindenshin, von der Übertragung von Geist zu Geist, also 9 Eine umfassende Darstellung der Geschichte bietet das zweibändige Werk von Dumoulin, H., Geschichte des Zen-Buddhismus, Bern 1985; das folgende Zitat dort I.83.
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von der unmittelbaren Berührung, die sich im Vollzug der Erleuchtung vollzieht. Seit den Tagen des Buddha gibt es eine große Zahl von Beispielen, die die Übertragung beschreiben. Berühmt ist das 6. Beispiel der Ko¯an-Sammlung Mumonkan, Schranke ohne Tor:10 „Als einst der Welterhabene auf dem Geierberg weilte, hob er mit den Fingern eine Blume empor und zeigte sie der versammelten Schar (der Mönche). Damals schwiegen alle. Nur der ehrwürdige Ka¯shyapa verzog sein Gesicht zu einem Lächeln. Der Erhabene sprach: ,Ich habe das wahre Dharma-Auge, den wunderbaren Geist des Nı¯rvana, die formlose wahre Form, das geheimnisvolle Dharma-Tor, das nicht auf Worten und Buchstaben beruht, eine besondere Überlieferung außerhalb der Schriften. Diese vertraue ich dem Maha¯ka¯shyapa an.“
Das lächelnde Schweigen, das zwischen Buddha, dem Erhabenen, und seinem Lieblingsjünger herrscht, erinnert an die Geschichte aus der Lehrschrift Vimalakı¯rtis, wo zwischen 32 Bodhisattvas die Frage nach der Nicht-Zweiheit erörtert wird und alle Anwesenden gescheite Antworten geben bis auf den Laien Vimalakı¯rti, der einfach schweigt. Damit wird klar: Nicht das Reden über das Schweigen ist das Letzte, sondern das Schweigen selbst. Zwei Dinge sind hier anzumerken: (1) In der Übung geht es um die körperliche Haltung des reinen Sitzens. (2) Weil die äußere Ruhehaltung allein nicht unbedingt zum radikalen Schweigen führen muss, hat man sich auf verschiedene Weise bemüht, über die Haltung des Nicht-Sprechens hinaus in die Haltung des „Nicht-Denkens“ zu gelangen. „Nicht-Denken“ darf aber nicht verwechselt werden mit dem „Nichts-Denken“, in dem das „Nichts“ am Ende doch noch objekthaft übrig bleibt.11
10
Mumonkan. Die Schranke ohne Tor. Meister Wu-men’s Sammlung von 48 Ko¯an, hg. v. Dumoulin, H., Mainz 1975, 52; zum Folgenden auch Waldenfels, H., Wort und Schweigen, in: Ders., An der Grenze des Denkbaren. Meditation – Ost und West, München 1988, 88 – 108. 11 Dieser Fehler wird oft auch da gemacht, wo man meint, in West und Ost werde einfach in umgekehrter Weise von Sein und Nichts gesprochen, so dass im Osten das umfassende Sein des Westens durch ein umfassendes Nichts ersetzt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Ein Weg der Einübung in das „Nicht-Denken“ ist die Übung des Ko¯an, die in bekannten Sammlungen vorliegen. Es handelt sich um kurze Worte, Sätze oder auch Geschichten, durch deren Paradoxität der Übende in das „Nicht-Denken“ getrieben wird.12
5. „Mu“, „Nicht-“ Vielleicht das bekannteste und am meisten geübte Ko¯an ist das berühmte Mu (jap.), das man am besten mit „nicht-“ übersetzt. Es wird in der Erklärung zum Ko¯an als „Schwert“ beschrieben, durch das man sich von allem trennt und löst. Mit der Vorstellung des Mu beginnt die Ko¯an-Sammlung Mumonkan:13 „Das Beispiel Ein Mönch fragte den Chao-chou: ,Hat auch der Hund die BuddhaNatur?‘ Chao-chou antwortete: ,Mu‘. Wu-men erklärt: Beim praktischen Üben des Zen muss man die von den Altmeistern errichtete Schranke durchschreiten. Um die wunderbare Erleuchtung zu erlangen, ist es nötig, die Regungen des Bewusstseins völlig abzuschneiden. Wer die Schranke der Altmeister nicht durchschritten und die Regungen des Bewusstseins nicht abgeschnitten hat, gleicht Geistern, die an Gräser und Bäume gebunden sind. Doch sprich: Was bedeutet Schranke der Altmeister? Nur dieses eine Schriftzeichen: Mu, die eine Schranke des Tores der Schule. Deshalb heißt es ,die Schranke ohne Tor der ZenSchule‘. Wer hindurchzuschreiten vermochte, kann nicht bloß mit Chao-chou freundschaftlich verkehren, er wandelt auch Hand in Hand zusammen mit den Altmeistern der Generationslinie von Geschlecht zu Gechlecht; würde. Vgl. zur Sache Izutsu, T., Philosophie des Zen-Buddhismus, Reinbek 1979. 12 Neben der schon genannten Sammlung Mumonkan ist zu nennen die Sammlung Bi-yän-lu. Meister Yüan-wu’s Niederschrift von der Smaragdenen Wand, hg. in drei Bänden von Gundert, W., München 1964 – 1973. 13 Zit.n. Dumoulin, H. (Hg.), Mumonkan. Die Schranke ohne Tor. Meister Wu-men’s Sammlung, 37 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Hans Waldenfels Augenbrauen und Haar einander berührend, schaut er mit gleichen Augen, hört mit gleichen Ohren. Ist dies nicht beglückend? Möchtest du nicht diese Schranke durchschreiten? Dann erwecke mit den 360 Knochen und Gelenken und mit den 84 000 Poren aus Leibeskräften diesen Zweifel und versenke dich in das eine Wort: ,Mu!‘ Trag es mit dir bei Tag und Nacht! Verstehe es nicht als leeres Nichts oder als Nichts in bezug auf Sein! Es ist, wie wenn jemand einen glühenden Eisenball verschluckt hat, er möchte ihn ausspeien, kann ihn aber nicht ausspeien. Wirf alles bisherige böse Wissen und alles unnütz Erlernte weg! So kommt es nach geraumer Weile, wenn der Zeitpunkt reif ist, von selbst äußerlich und innerlich zu einem Zustand der Einheit. Es ist wie beim Traum eines Stummen – er kann ihn nur für sich selbst wissen. Wenn es plötzlich in Handeln ausbricht, kannst du den Himmel erschrecken und die Erde zittern machen. Es ist, als ob du dem Feldherrn Kuan das große Schwert entrissen und es ergriffen hättest. Wenn dir so ein Buddha begegnet, du tötest den Buddha, wenn dir ein Patriarch begegnet, du tötest den Patriarchen. Auf der Felsscheide von Leben und Tod besitzest du die große Freiheit; inmitten der sechs Wege und vier Geburten erfreust du dich vollkommener Sammlung. Doch wie soll man es (= das ,Mu‘ des Ko¯an) bei sich tragen? Gib dich nur mit Anstrengung aller Kraft diesem ,Mu‘ hin! Wenn du nicht ablässest, wird es sein, wie wenn eine Dharma-Leuchte angezündet wird. Der Gesang lautet: Hund – Buddha-Natur! Der gültige Befehl ist vollkommen aufgezeigt. Wer zwischen Sein und Nichtsein verbleibt, Verliert Leib und Leben.“
Die Erklärung des Meisters kann hier nicht Schritt für Schritt nachvollzogen und interpretiert werden.14 Nur soviel sei gesagt: In dem Text findet sich eine Reihe von Stichworten, die bis heute Anlass zur Reflexion geben. Es ist die Rede von „durchschreiten“ und „abschneiden“ – Verben, die wiederkehren, wo heute von „Transzendenz“ und „Absolutheit“ gesprochen wird. Mu wird unterschieden vom relativen und nihilistischen Nichts und ist letztendlich operativ wie eine Waffe, die zum Einsatz kommt. Dabei geht es um Leben und Tod und um die radikale Freiheit, die der Mensch im Vollzug von Mu 14 Vgl. dazu die ausführlichen Erläuterungen von Dumoulin, H. (Hg.), Mumonkan. Die Schranke ohne Tor. Meister Wu-men’s Sammlung, 38 f.
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realisiert, also um die Vollendung, auf die jeder Mensch in seinem Leben zugeht. „Mu“, „nicht-“ und „nichts“, also die Negation steht da im Zentrum, wo der Mensch aus den Fesseln irdischer Existenz ausund aufbricht.
6. „Absolut“ An dieser Stelle bietet es sich an, auf das Verständnis von „absolut“ einzugehen, das sich in diesem Text ankündigt. Gegenbegriff zu „absolut“ ist „relativ“. Anders als in europäischen Sprachen sind die beiden Begriffe im Japanischen etymologisch als Gegensatzbegriffe eng miteinander verbunden.15 „Absolut“ heißt im Japanischen zettai, „relativ“ so¯tai. In beiden Begriffen bleibt der Bezugspunkt tai = gegenüber. Zettai wird in Bezug auf so¯tai bzw. tai ausgesagt. Zettai ist das, was kein tai = Gegenüber kennt, von ihm völlig frei, von ihm abgeschnitten, von ihm getrennt, also ohne Gegenüber ist. Wir machen einen großen Sprung aus der Anfangsphase des Zen in das neuzeitliche Japan. Der japanische Philosoph Kitaro¯ Nishida (1870 – 1945), der selbst in die Zen-Übung initiiert wurde, hat in seinem letzten Lebensjahr einen Aufsatz veröffentlicht, in dem er sich auch mit dem Absoluten beschäftigt und dabei auf Gott zu sprechen kommt. Wir zitieren den Text ausführlich, weil er auf seine Weise in die fremde Denkwelt einführt und weil sich in der Reflexion auf das Verhältnis von absolut und relativ zugleich die sprachliche Schwierigkeit widerspiegelt, wenn man die Realität des Absoluten zur Sprache bringen will. Man muss sich dem Tod stellen, wenn man der Tiefe des Lebens ansichtig werden will:16 15 Vgl. zum Folgenden ausführlicher meine Ausführungen in Waldenfels, H., Nichts, 61 f, dort Anm. 41. 16 Vgl. Nishida, K., Ortlogik und religiöse Weltanschauung (jap. Bashoteki ronri to shu¯kyo¯teki sekaikan), in: Ders., Logik des Ortes. Der Anfang der modernen Philosophie in Japan, hg. v. Elberfeld, R., Darmstadt 1999, 204 – 284; Zitat: 225. Zur Einführung in Nishidas Denken und Werk vgl. auch Elberfeld, R., Kitaro¯ Nishida (1870 – 1945). Das Verstehen der Kulturen. Moderne japanische Philosophie und die Frage nach der Interkulturalität, Amsterdam/Atlanta, GA 1999.
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Hans Waldenfels „Tod bedeutet, ein Relatives steht dem Absoluten gegenüber. Stehen wir selbst Gott gegenüber, so ist das unser Tod. Als Jesaja Gott sah, sprach er: ,Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin ein Mensch mit unreinen Lippen, und ich wohne unter einem Volk mit unreinen Lippen, und ich habe den König, den Herrn Zebaoth, gesehen, mit meinen Augen.‘ (Jes 6,5) Genau genommen kann das Relative dem Absoluten nicht gegenüberstehen. Denn ein Absolutes, das dem Relativen gegenüberstünde, wäre kein Absolutes, sondern selber wieder ein Relatives. Steht also das Relative dem Absoluten gegenüber, so muss dies der Tod für das Relative bedeuten. Es muss zu Nichts werden (jap. mu to naru). Wir selbst berühren Gott allein durch den Tod in widersprechender Entsprechung (jap. gyakutaio¯). Nur durch den Tod hindurch können wir selbst mit Gott verbunden werden. Die Vertreter der objektivierenden Logik werden hier vermutlich einwenden: Wenn das Relative stirbt und zu nichts würde, so gäbe es kein Gegenüberstehendes, so dass man auch nicht mehr von einem Gegenüberstehen sprechen könnte. Aber der Tod meint hier nicht ein bloßes Nichts. Absolut bedeutet gemäss dem chinesischen Schriftzeichen (zettai): jegliches Gegenüberstehen (tai) zerbrechen (zessuru). Aber dasjenige, was jedes Gegenüberstehen einfach nur zerbricht, ist einfach nichts bzw. das bloße Nichts. Der Gott, der nichts schaffen kann, ist ein ohnmächtiger Gott, also kein Gott. Stünde dem Absoluten in irgendeinem Sinne etwas Gegenständliches gegenüber, so wäre es relativ und nicht absolut. Aber andererseits ist auch das, was das Gegenüberstehen bloß zerbricht, kein Absolutes. Hier liegt der Selbstwiderspruch des Absoluten. In welchem Sinne ist aber nun das Absolute das wahre Absolute? Das Absolute ist das wahre Absolute, indem es dem Nichts (mu) gegenübersteht. Denn indem es dem absoluten Nichts (jap. zettaimu) gegenübersteht, ist es das absolute Sein. Dies bedeutet aber nicht, dass ihm selbst außerhalb seiner selbst irgendetwas gegenüberstünde, nein, dem absoluten Nichts gegenüberzustehen bedeutet, dass es selbst in selbstwidersprüchlicher Weise sich selbst gegenübersteht; dies nenne ich widersprüchliche Selbstidentität (jap. mujunteki jikodo¯itsu). Das bloße Nichts steht sich selbst nicht gegenüber. Was sich selbst gegenübersteht, muss sich selbst negieren. Aber was sich selbst negieren muss, muss in irgendeinem Sinn den gleichen Ursprung wie es selbst aufweisen. Denn was keine Beziehung zu sich selbst besitzt, kann sich selbst auch nicht negieren. Auch in der formalen Logik gilt: sobald Verschiedenes zur gleichen Art gehört, bildet es einen Kontrast oder einen Gegensatz. Solange es außerhalb seiner etwas gibt, wodurch es negiert wird oder dem es gegenübersteht, ist es selbst nicht absolut. Das Absolute muss in sich selbst absolute Selbstnegation enthalten. Die Tatsache, dass es in sich selbst die absolute Selbstnegation enthält, bedeutet zugleich, dass es zum absoluten Nichts wird. Solange es selbst nicht
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zum absoluten Nichts wird, steht das Negierende sich selbst noch gegenüber, womit es selbst noch keine absolute Negation in sich selbst enthält. Daher bedeutet die Tatsache, dass es selbst in sich selbst sich selber in widersprüchlich selbstidentischer Weise gegenübersteht, dass das Nichts dem Nichts selbst gegenübersteht. Das wahre Absolute muss in diesem Sinne absolut widersprüchlich selbstidentisch sein. Dies ist der einzige Weg, um Gott logisch zum Ausdruck zu bringen. Gott ist darum durch sich selber, weil er als absolute Selbstnegation sich selber widersprechend entsprechend gegenübersteht und in sich selber absolute Selbstnegation enthält. Weil er absolutes Nichts ist, ist er absolutes Sein. Da er zugleich das absolute Sein ist, ist ihm nichts unmöglich, nichts unbekannt; er ist allwissend und allmächtig. Deshalb kann ich behaupten: weil es Buddha gibt, existieren auch die Lebewesen, aber umgekehrt gilt auch: weil es Lebewesen gibt, existiert auch Buddha. Zugleich behaupte ich aber auch: die Welt als Schöpfung existiert, weil es Gott, den Schöpfer, gibt, aber umgekehrt gilt auch: Gott existiert, weil es die Welt der Schöpfung gibt. Meine Behauptungen mögen vielleicht an die Lehre Karl Barths und anderer anknüpfen, nach der Gott als absolute Transzendenz gedacht wird.“
An dieser Stelle breche ich den Text ab, zumal Nishida dann auf buddhistische Überlegungen eingeht.
7. Philosophie und Zen Das ausführliche Zitat stammt aus der Mitte des 20. Jahrhunderts und ist in der Zeit entstanden, als der Pazifische Krieg für Japan zu Ende ging. Das Interesse an westlicher Philosophie und Wissenschaft, aber auch am Christentum war in jener Zeit groß.17 Um Nishida hatte sich ein Kreis gebildet, der bei allem Einsatz, ein modernes Japan zu schaffen, das freilich nur möglich erschien, wenn das Land sich weit für westliches Denken öffnete, die Rückbindung an die eigene Tradition nicht verlor. Außer Nishida gab es eine große Zahl von Denkern und Philosophen, die selbst Zen geübt hatten und nach wie vor übten und zugleich nach möglichen Brücken zum westlichen Denken 17 Vgl. aus einer anderen Perspektive zum Thema „Philosophie und Zen“ auch das Werk des Do¯gen-Forschers Arifuku, K., Deutsche Philosophie und Zen-Buddhismus. Komparative Studien, Berlin 1999.
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suchten. Dabei konnten sie weder der Gottesfrage noch der westlichen Religionskritik ausweichen. Das Nishidazitat ist eines von vielen anderen, die hier eingeführt werden könnten. Nishida selbst hat seit seinem Frühwerk Zen non kenkyu¯ immer wieder von Gott gesprochen.18 Wie der Untertitel seines ersten Werkes aus dem Jahr 1911 zeigt, ringt er von Anfang an um die „reine Erfahrung“. Dies tut er gleichsam zwischen den Religionen, nicht einfach auf der Basis seiner niemals geleugneten Verankerung in der Zen-Übung. Der Rahmen seines Denkens wird deutlich, wenn man den Beginn dieses Buches mit seinem Schlussteil vergleicht. Gleich am Anfang erläutert Nishida sein Verständnis der „reinen Erfahrung“: „Erfahren bedeutet, das Tatsächliche als solches zu erkennen; ohne alles Mitwirken des Selbst nach Maßgabe des Tatsächlichen zu wissen. Rein beschreibt den Zustand einer wirklichen Erfahrung als solcher, der auch nicht die Spur von Gedankenarbeit anhaftet. Dem, was gewöhnlich Erfahrung genannt wird, ist hingegen immer ein irgndwie geartetes Denken beigemischt.“ (29)
Wenn von „Gedankenarbeit“ die Rede ist, kommt man an der Sprache nicht vorbei. Denn der Ort, an dem Gedanken sich äußern, ist die Sprache, die aber dann nicht im Singular, sondern in ihren pluralen Ausformungen zu sehen ist. Das Buch endet mit einem Abschnitt über „Wissen und Liebe“, in dem Nishida „Gott“ undifferenziert auf unterschiedliche Religionen, den Buddhismus eingeschlossen, anwendet. Dort heißt es am Schluss: „Den unendlichen und absoluten Buddha oder Gott zu erkennen ist nur durch Liebe möglich. Ihn zu lieben bedeutet, ihn zu erkennen. In der Lehre der Veden, im Neuplatonismus und im Buddhismus heißt es, dass wir Gott erkennen, im Christentum und im Jo¯do-Glauben (dem Glauben an das ,Reine Land‘ des Amida-Buddha) aber, dass wir Gott lieben und von ihm abhängen. Trotz ihrer verschiedenartigen Ausformungen sind sie aber im Wesen identisch. Gott ist nicht analytisch zu erschließen. Das 18 Vgl. die deutsche Übersetzung: Nishida, K., Über das Gute. Eine Philosophie der Reinen Erfahrung, hg. v. Pörtner, P., Frankfurt 2001, 118 – 121.199 – 220; die nächsten Zitate im Text mit Seitenzahl aus diesem Werk.
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Wesen der Realität ist mit Persönlichkeit ausgestattet, daher ist Gott ganz und gar Person. Wir können ihn nur durch Intuition, Liebe und Glauben erkennen. Daher kennen wir, die wir behaupten, dass wir Gott nicht erkennen, sondern ihn nur lieben und an ihn glauben, ihn auch am besten.“ (220)
Vergleicht man diese Aussagen zur „reinen Erfahrung“ und zur Erkenntnis Gottes mit den Aussagen des letzten großen Aufsatzes Nishidas, zeigt sich, dass das Ringen um das Verständnis der Religion und der letzten Wirklichkeit sein ganzes Leben begleitet hat. Gerade im Ringen um das „Absolute“, das durch seine bleibende Gebundenheit an das „Gegenüber“ im Japanisch-Sprachlichen den Ausdruck seiner wahren Wirklichkeit schuldig bleibt, wird aber die Begrenztheit menschlichen Sprachvermögens überaus offenkundig. Diese Begrenztheit kommt nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck, dass Nishida um eine neue Gestalt der Logik ringt und zu akrobatischen Sprachformulierungen wie „widersprüchliche Selbstidentität“ (jap. mujunteki jiko-do¯itsu) greift. In einer solchen Formulierung kann man eine entfernte Erinnerung an die Ko¯an-Übung des Zen wiedererkennen. Auf jeden Fall ist es an der Zeit, angesichts des wachsenden Bewusstseins für den gesellschaftlich-kulturellen Pluralismus auch der Pluralität der Sprachen und der sich in ihnen verbergenden Gedankenwelten größere Aufmerksamkeit zu schenken.
8. Zen, Philosophie und Mystik Bei Nishida fällt von Anfang an auch sein Interesse an der europäischen Mystik auf. Dieses findet seine Fortsetzung unter den ihm folgenden Philosophen der so genannten Kyo¯to-Schule,19 die großenteils selbst der zen-buddhistischen Richtung angehören oder ihr nahestehen. Jim Heisig hat gelegentlich den Weg der Kyo¯to-Schule „Philosophy as Spirituality“ genannt. Dabei ist er der Ansicht, dass es zu ihren bleibenden Aufgaben zählt, die philosophischen Fragen als re19 Vgl. Ohashi, R. (Hg.), Die Philosophie der Kyo¯to-Schule. Texte und Einführung, Freiburg 1990; Heisig, J.W., Philosophers of Nothingness, Honolulu 2001.
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ligiöse Fragen zu formulieren.20 Namentlich zu nennen sind Shin’ichi Hisamatsu (1889 – 1980), Keiji Nishitani (1900 – 1990), Masao Abe (1915 – 2006), Shizuteru Ueda (geb. 1926), Eiko Hanaoka (geb. 1938). Bei diesen Autoren steht das dogmatische Christentum nur bedingt im Vordergrund. Dafür findet die Welt der Mystik, die sich vor allem bei Meister Eckhart und in der rheinischen Mystik auftut, besondere Aufmerksamkeit.21 An Eckhart war lange Zeit interessant, dass Teile seiner Lehren posthum verurteilt worden sind, er also nicht für ein orthodoxes Christentum zu sprechen schien. Eckhart ist zugleich das klassische Beispiel dafür, dass die persönliche Erfahrung mit Gott nach ihrem eigenen sprachlichen Ausdruck ruft, der nicht immer leicht zu finden ist. An dieser Stelle ist der Schweizer Literaturgeschichtler Alois Maria Haas zu nennen. Aufgrund seiner langjährigen Forschungsarbeit und der nach Japan aufgebauten Beziehungen ist er zu einem der wichtigsten Brückenbauer zwischen Theologie, japanischer, vom Zen inspirierter Philosophie und mittelalterlicher Mystikforschung geworden. Haas selbst geht es in seiner Forschung weniger um die Beschäftigung mit der Zenpraxis als um das Sprachgeschehen und das darin sich offenbarende Denken. Seit seinem Werk Gottleiden – Gottlieben hat er sich immer wieder auch dem Zen-Buddhismus gewidmet.22 In einem seiner letztveröffentlichten Arbeiten stellt er 20
Vgl. Takeuchi, Y. (Hg.), Buddhist Spirituality (= World Spirituality vol. 9), New York 1999, 367 – 388; die Bemerkung: 386. 21 Vgl. Bd. 7 der Gesammelten Werke (Chosakushu¯) von K. Nishitani, der den Titel Kami to zettaimu (= Gott und das absolute Nichts) trägt und folgende Arbeiten enthält: Die Beziehung von Gott und Mensch bei Eckhart; Mechthild von Magdeburg; Deutsche Mystik; Deutsche Mystik und deutsche Philosophie (Tokyo 1987); sodann Ueda, Sh., Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gottheit. Die mystische Anthropologie Meister Eckharts und ihre Konfrontation mit der Mystik des Zen-Buddhismus, Gütersloh 1965; Ders., Das „Nichts“ bei Meister Eckhart und im Zen-Buddhismus unter Berücksichtigung des Grenzbereichs von Theologie und Philosophie, in: Papenfuss, D./Söring, J. (Hg.), Transzendenz und Immanenz. Philosophie und Theologie in der veränderten Welt, Stuttgart 1977, 257 – 266. Vgl. zum Folgenden auch Waldenfels, H., Mystik im Buddhismus, in: Ders., Gottes Wort in der Fremde. Theologische Versuche II. Bonn 1997, 221 – 238. 22 Vgl. Haas, A.M., Gottleiden – Gottlieben. Zur volkssprachlichen Mystik © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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eindrucksvoll die verschiedenen Begegnungsfelder mit dem japanischen Zen vor, die über den interreligiösen Bereich und damit das Christentum hinausreichen.23 Dazu gehören Literatur und Literaturwissenschaft, Psychologie und Philosophie, vor allem aber die Kunst und die Welt der Ästhetik, wo an die vom Zen inspirierten „Wege“ (jap. do¯) zu erinnern ist: kado¯ oder ikebana, „Weg der Blume“, sado¯, „Weg des Tee“, shodo¯, „Weg des (kalligraphischen) Schreibens“, kendo¯, „Weg des Schwertes“, kyu¯do¯, „Weg des Bogenschießens“, um nur einige zu nennen, an denen zu erkennen ist, wie sehr sich der Geist des Zen auf eigene Weise materialisiert. Die Kenntnis der Mystik erweist sich in der Tat als der Weg, auf dem sich Erfahrene begegnen können. Mit gutem Grund hat Hugo M. Enomiya-Lassalle, einer der wichtigsten Vermittler des Zen in den innerkirchlich-christlichen Raum, in der Geschichte der Mystik einen Weg der Vermittlung zwischen den verschiedenen religiösen Erfahrungsräumen ausgemacht24. Heinrich Dumoulin hat einem seiner frühen Bücher den Titel Östliche Meditation und christliche Mystik gegeben.25
9. „Neinsagen“ und das Nichts „Das Neinsagen im Sinne einer auch existentiellen Loslösung von allem und jedem, die radikale Negation als eine dynamische Wegbewegung von allem und hin zum Nichts, ist immer schon als ein entscheidender Vergleichspunkt zwischen Meister Eckhart und dem Zenbuddhismus empfunden worden.“26 im Mittelalter, Frankfurt 1989, darin: Meister Eckhart als Gesprächspartner östlicher Religionen,189 – 200; Das Ereignis des Wortes. Sprachliche Verfahren bei Meister Eckhart und im Zen-Buddhismus, 201 – 240; auch die Bibliographie: 428 – 431; Ders., Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik. Frankfurt 1997, darin: Dichtung in christlicher Mystik und Zen-Buddhismus, 154 – 188. Mystik im Kontext. München 2004. 23 Vgl. Haas, A.M., Zen und der Westen, in: Ders., Mystik im Kontext, München 2004, 465 – 482. 24 Vgl. Enomiya, H.M., Zen-Buddhismus, Köln 1966, 221 – 409. 25 Dumoulin, H., Östliche Meditation und christliche Mystik, Freiburg/ München 1966, v. a. 54 – 126. 26 Haas, A.M., Gottleiden, 215. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Mit diesen Worten leitet Haas seine komparativen Überlegungen zum Gebrauch und zur Bedeutung der Negation ein. Dabei zeigt sich auf den ersten Blick, dass die Negation mehr als einen verbalen Akt darstellt. Es geht sicher auch um die Negation als Sprechakt, doch ist sie mehr als das: Sie meint „die existentielle Loslösung von allem und jedem“. Das Wohin dieser Loslösung und Negation aber heißt „Nichts“. Bedenkt man, dass die Theologie das „Nichts“ weithin nur aus der Schöpfungslehre in der Rede von „creatio ex nihilo“ kennt, dann verwundert es, wie sehr in der Geschichte der Mystik Gott und Nichts auf eigentümliche Weise zusammengedacht werden. Haas hat das Thema immer wieder behandelt.27 In dem hier genannten Kapitel geht es Haas um den direkten Vergleich Eckharts mit dem Zen-Buddhismus. Dabei greift er auf eine wenig bekannte Predigt Eckharts zurück, in der er vom Reich Gottes spricht und u. a. fragt, wie der Mensch das Trachten nach dem Reich Gottes (vgl. Mt 6,33) verwirklichen kann.28 Nach Eckhart führt der Weg über einen dreifachen Tod: Der Mensch muss seiner Geschaffenheit ledig werden; er muss das ewige Urbild, nach dem er erschaffen ist, verlassen und verlieren und damit im Nichts enden. Das wiederum „wäre nicht absolut, wenn nicht am Grund Gottes selbst angesetzt würde“ (218). Haas fasst den Gedanken so zusammen: „Nach dem Auszug der Seele aus ihrem geschaffenen und ungeschaffenen Sein und nach ihrem Eintritt in die göttliche Natur wird sie auf ein letztes Nicht-Begreifen zurückgeworfen, das nichts anderes ist als die schlichte Erfahrung ihrer selbst. Das bedeutet Rückkehr in die Alltäglichkeit, darin die Kategorien des Heiligen und Profanen überschritten sind. Denn der Verzicht auf die Suche nach Gott schließt in sich den Verlust aller Begehrlichkei, aller Erkenntnisbilder (des diskursiven Erkenntnisstromes), allen Verstehens, aller Form und aller Seienden. Die Gleichzeitigkeit von Alltäglichkeiut und Gelassenheit, d. h. Ertrunkensein in diesem gru˚ndlosen mere der gotheit ist von äußerst paradoxer Art, weil sie das Ergebnis eines 27
Vgl. Haas, A.M., Das Nichts Gottes und seine Sprengmetaphysik, in: Ders., Mystik im Kontext, München 2004, 89 – 104; Nichtsspekulation der rheinländischen Mystik, ebd. 216ff; außerdem die Reg. der in Anm. 22 genannten Werke. 28 Vgl. Haas, A.M., Gottleiden, 216 – 222; nachfolgende Seitenzahlen im Text aus diesem Buch. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Findens sunder suchen darstellt. Einzige Übung, die dazu führt, ist das Verbleiben in diesem Tod und in dieser Anonymität (su˚nder namen), die die Gottheit selber ist.“ (219)
Bei Eckhart geht es also um einen Dreischritt, in dem Haas deutliche Ähnlichkeiten mit dem Zen-Buddhismus erkennt: „Es sollte zunächst die edilkeit der Seele artikuliert werden; diese ist aber nur denkbar in einer Nicht-Artikulation, d. h. in einer reductio in mortem der Seele; ist diese weit genug, d. h. bis zur Preisgabe aller Denk- und Sprechkategorien (im Nichtbegreifen der Gottheit) vorangetrieben, so wird die Artikulation wieder möglich: die Seele erfährt sich selbst, geht ihren eigenen Weg, ohne Rücksicht auf ihre Gottsuche in Gewöhnlichkeit. Diese Folge von Artikulation – Nicht-Artikulation – Artikulation ist für Eckhart ebenso typisch wie für den Zen-Buddhismus; sie ist vielleicht kennzeichnend für mystisch imprägnierte Sprache überhaupt. Die Feststellung wäre trivial, wenn nicht die inhaltliche Bewegung der Aussage eine ähnliche Zielrichtung verfolgt wie im Zen-Buddhismus: die Überführung von allem Bestehenden aus seiner Differenziertheit in NichtDifferenzierung (Nichts) und schließlich wieder in Differenzierung. (Oder: Vielheit – Einheit –Vielheit.)“ (220)
Bei Eckhart folgt allerdings dann – und das markiert für Haas einen Unterschied zwischen Buddhismus und Christentum – ein vierter Schritt: Auf die via negationis folgt die via eminentiae, da die via negationis in ihrer radikalen Verwirklichung in eine negatio negationis, in Eckharts Sprache: in ein versagen des versagennes führt (vgl. 221). Nun könnte man meinen, diese Position müsse es auch im Zen geben, gerade weil die „Schritte“ nicht in einer „Position“ enden können. Doch was gemeint ist, ist das zentrale Geheimnis des Christentums, das darin seinen Ausdruck findet, dass Gott Mensch wird und darin sein Wesen als totale Selbstentäußerung – „Kenosis“ (Phil 2) – offenbart29. 29
An dieser Stelle ist auf die Relativierung hinzuweisen, die Haas selbst an anderer Stelle hinsichtlich des Eckhartschen „Nichts“ vornimmt. Er bemerkt: „Ich bin geneigt, die Eckhartsche Nichts-Spekulation sehr hoch zu veranschlagen, kann sie aber letztlich bloß in einem relativen Sinne (zugunsten der Steigerung und des Überschwangs des göttlichen Seins), d. h. im Sinne der via eminentiae gelten lassen. Das Eckhartsche ,Nichts‘ ist spekulativ eine Hilfs© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Dass der Zen-Buddhist bei der Rede von Gottes Menschwerdung nochmals einen Weg gehen müsste, zeigt sich bei Daisetsu Teitaro¯ Suzuki, dem bekanntesten Interpreten des Zen-Buddhismus im Westen, wo er sich mit der Leidensgestalt des Gekreuzigten konfrontiert sieht. Das Kreuz ist für ihn ein „schrecklicher Anblick“30 : „Andererseits bietet das Christentum einige Dinge, die schwer zu begreifen sind, namentlich das Symbol des Kreuzes. Der gekreuzigte Christus ist ein schrecklicher Anblick, und ich kann nicht anders, in meiner Vorstellung verbindet er sich mit dem sadistischen Impuls einer seelisch überreizten Phantasie. Christen werden sagen, die Kreuzigung stelle eben das Kreuzigen unseres Selbst oder des Fleisches dar, weil ohne Unterwerfung des Selbst von uns keine sittliche Vollkommnheit erreicht würde. […] Da es kein Selbst gibt, bedarf es der Kreuzigung nicht, muss keine sadistische Tötung des Fleisches erfolgen, kann uns der schreckliche Anblick des Gekreuzigten am Wege erspart werden. […] Das Christentum neigt dazu, die Leiblichkeit unseres Daseins besonders zu betonen. Daher die Kreuzigung und daher auch die Symbolik des Abendmahls, das Essen des Fleisches und das Trinken des Blutes. Nicht-Christen ist der Gedanke des Blut-Trinkens widerwärtig.“
10. „Was ist Religion?“ Nach Nishida war es vor allem Keiji Nishitani, der in großer Breite das Feld zwischen neuzeitlicher Philosophie, Religion und Mystik abgesteckt hat. International bekannt geworden ist Nishitani vor allem durch die Übersetzungen seines Buches Shu¯kyo¯ towa nanika, deutsch: Was ist Religion? (Frankfurt 1982). Seinen eigenen Ausgangspunkt hat er früh beschrieben.31 Philosophisch war er zunächst geprägt durch konstruktion, um das göttliche Sein einzig als einic ein herauszustellen.“ Haas, A.M., Gottleiden, 421). Zurückhaltung zeigt Haas auch, wo die Rede von der „Gottheit“ zur Aufhebung des trinitarischen Gottesverständnisses zu führen scheint bzw. in diesem Sinne interpretiert wird (vgl. ebd.). 30 Suzuki, D.T., Der westliche und der östliche Weg. Essays über christliche und buddhistische Mystik, Frankfurt 1974, 127; dazu Waldenfels, H., Kontextuelle Fundamenaltheologie, Paderborn 42005, 244 f. 31 Vgl. dazu Waldenfels, H., Nichts, 67 ff. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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seinen Lehrer Nishida; von da aus war er interessiert am deutschen Idealismus bis zur Philosophie Martin Heideggers, über ihn an Nietzsche, schließlich auch an der deutschen Mystik. Mit der christlichen Theologie wurde er bekannt über die in Japan einflussreiche Barth-Schule, dann auch durch die Gastprofessoren in Kyoto, unter ihnen Emil Brunner, Paul Tillich u. a. Wie Nishida übte Nishitani bis zu seinem Lebensende Zen. Sein Verhältnis zu Buddhismus und Christentum hat er selbst in die Worte gefasst: „Ich bin mit keiner Religion, wie sie ist, zufrieden, und ich spüre auch die Grenzen der Philosophie. So habe ich mich nach langem Zögern entschieden und bin heute ein werdender Buddhist geworden. Einer der Hauptgründe für diese Entscheidung war – so merkwürdig es klingen mag –, dass ich den Glauben des Christentums nicht annehmen konnte und doch auch nicht in der Lage war, ihn abzulehnen. Was das Christentum angeht, so kann ich nicht mehr als ein werdender Christ werden. […] Wenn es um den Buddhismus geht, so kann ich den Buddhismus annehmen als ein werdend gewordener Buddhist […] und von diesem Standpunkt aus kann ich zur selben Zeit ein werdender (nicht gewordener) Christ sein. Insofern als ich Buddhist bin, kann ich kein gewordener Christ sein.“32
Die Nennung der verschiedenen Namen verdeutlicht zugleich, dass Nishitani sich philosophisch für das moderne Japan eingesetzt hat, in dem Wissenschaft und Religion, westliches und tradtionell-japanisches Denken zu einer lebensgestaltenden Symbiose zusammenfinden sollten. Das Ringen um diese Symbiose spiegelt sich in den Themen des genannten Werkes wider. Anders als viele andere vor ihm, war es für Nishitani einsichtig, dass das Personsein im westlichen Verständnis eine positive Grundbedeutung haben muss, die dem Menschen bei aller Eingebundenheit in gesellschaftliche und kosmische Zusammenhänge in seiner Individualität einen eigenen Wert verleiht. Die Individualität des Menschen besagt also keineswegs nur (zu überwindende) Begrenzung, sondern immer zugleich Offenheit. In die32 Vgl. Waldenfels, H., Christentum und Buddhismus II: Im Gespräch mit Keiji Nishitani, in: Ders., Gottes Wort in der Fremde. Theologische Versuche II. Bonn 1997, 185 – 203; Zitat: 189.
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sem Sinne ist das cartesianische Ego aufzubrechen für das Du und Wir. Vom Christentum her war Nishitani auch die Rede von der Personhaftigkeit Gottes geläufig. Auch hier war eine Korrektur des Denkens erforderlich, die sich auch für einen Nicht-Christen im trinitarischen Gottesverständnis des Christentums ankündigen kann. Dass für einen fernöstlichen Menschen Eckharts Rede von Gott und Gottheit eine eigene Relevanz zukommt, ist gleichfalls nachvollziehbar. Ein zweites großes Thema ist für Nishitani die Vielseitigkeit des Nichts-Verständnisses, das von einem nihilistischen Nichts, wie es Nietzsche bis in seine „Gott ist tot“-Botschaft in die Welt hinausgerufen hat, bis zu einem Nichts reicht, das sich mit dem Begriff der Fülle verbindet.33 Hier ersetzt Nishitani das „absolute Nichts“ durch den dem indischen Buddhismus entlehnten Begriff ´su¯nyata¯ (jap. ku¯) = Leere. In einer interkulturell-interreligiösen Erörterung der Frage nach Religion kann schließlich der Geschichtsbezug allen Denkens nicht ausgeklammert werden. So folgt den Kapiteln „Was ist Religion?“, „Das Personale und Impersonale in der Religion“, „Nihilismus und ´su¯nyata¯“ bzw. „Die Position von ´su¯nyata¯“ die Besprechung des Verhältnisses von „Leere und Zeit“, „Leere und Geschichte“. Dass in dem angedeuteten Rahmen von Gott gesprochen wird und zwischen Gott und Leere ein eigenes Verhältnis entsteht, ist leicht einzusehen. Die Diskussion um dieses Verhältnis ist vor allem in den USA geführt worden. Hier war vor allem Masao Abe der Vermittler zwischen dem Fernen Osten (von Europa aus gesehen!) und der westlichen Welt.
33
Vgl. Hisamatsu, Sh., Die Fülle des Nichts. Vom Wesen des Zen, Pfullingen 1975. Stichworte einer positiven Erläuterung des zen-buddhistischen Nichts sind das „Nichtirgendertwas“ oder die völlige Unbestimmbarkeit, die Leere, das Herz, das Selbst, die Freiheit und Unbefangenheit, die schöpferische Kraft. Hisamatsu hat sich auch mit dem „Atheismus“ befasst; vgl. Anm. 3. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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11. Gott und Leere In Abes Werken spiegeln sich die Verständigungsversuche wider, die er selbst angestoßen hat.34 Den großen Kreis seiner Gesprächspartner kann man leicht in der Festschrift zu seinem 80. Geburtstag erkennen.35 Die erste Runde einer schriftlich geführten internationalen Diskussion zum Thema Buddhismus und Christentum als Problem heute fand in den Jahren 1963 bis 1976 in der japanischen Zeitschrift Japan Religions statt, wurde aber am Ende nicht als Buch veröffentlicht.36 Die weiteren Diskussionen sind unter ausdrücklichem Verweis auf die Frage nach Gottes Kenosis und der buddhistischen Leere publiziert worden.37 Damit ist eine Diskussion eröffnet worden, die in Europa bislang nur marginal zur Kenntnis genommen worden ist.38 Zwar ist in den 34
Vgl. Abe, M., Zen and Western Thought, Honolulu 1985; „Two-Volume Sequel“: Buddhism and Interfaith Dialogue, Honolulu 1995; Zen and Comparative Studies, Honolulu 1997. 35 Mitchell, D.W. (Hg.), Masao Abe. A Zen Life of Dialogue, Boston u. a. 1998; darin auch meine Reflexion: Waldenfels, H., Masao Abe’s Intellectual Journey to the West. A Personal Reflection, 59 – 62; vgl. Waldenfels, H., Gottes Kenosis und budhistische Sunyata in der Welt von heute, in: Ders., Gottes Wort in der Fremde. Theologische Versuche II, Bonn 1997, 204 – 220. 36 Vgl. die genaueren Angaben in: Waldenfels, H., Gottes Wort, 204 f. 37 Vgl. Cobb J.B. Jr./Ives, Ch. (Hg.), The Emptying God. A Buddhist-Jewish-Christian Conversation, Maryknoll 1990, darin: Abe, M., Kenotic God and Dynamic Sunyata, 3 – 65; Corless, R./Knitter, P.F. (Hg.), Buddhist Emptiness and Christian Trinity. Essays and Explorations, New York/Mahwah, N.J. 1990; darin: Abe, M., Kenosis and Emptiness, 5 – 25; Ives, C. (Hg.), Divine Emptiness and Historical Fullness. Buddhist-Jewish-Christian Conversation with Masao Abe, Valley Forge 1995, darin: M. Abe, God’s Total Kenosis and Truly Redemptive Love, 251 – 259. Vgl. auch die Sonderausgabe des vom Nihontetsugakushi-Forum herausgegebenen Bd.5 von Nihon no Tetsugaku. Tokyo 2004, das dem Thema Mu und ku¯ (= Nichts und Leere) gewidmet ist, darin Beiträge von Sh. Ueda, E. Hanaoka u. a. Der Band zeigt, dass die Frage inzwischen nicht mehr allein in Kyo˘ to, sondern auch an anderen japanischen Universitäten diskutiert wird und nach wie vor unabgeschlossen ist. 38 Der fernöstliche Ansatz findet Beachtung in Kwan-Won Kim, Zur Theologie der Negation. Versuch einer koreanischen kontextuellen Theologie ˘ isangs, Bonn/Seoul 1990; im Gespräch mit dem „wao˘ Hwao˘ m“ Buddhismus U © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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letzten Jahrzehnten unter verschiedenen Rücksichten die Frage nach dem Negativen und der Negation gestellt worden. So haben der Nihilismus nach Nietzsche und seine Diskussion nach Heidegger lange Schatten geworfen. Die Negative Theologie selbst hat neues Interesse gefunden.39 Es fällt aber auf, dass in den hier aufgeführten deutschsprachigen Werken nur zwei Autoren ausdrücklich die fernöstlichen Mitchell, D.W., Spirituality and Emptiness. The Dynamics of Spiritual Life in Buddhism and Christianity. New York/Mahwah, N.J. 1991; Bowers, H., Jr., Someone or Nothing? Nishitani’s Religion and Nothingness as a Foundation for Christian-Buddhist Dialogue, New York 1995; Münch, A., Dimensionen der Leere. Gott als Nichts und Nichts als Gott im christlich-buddhistischen Dialog, Münster 1998; aus dem Bereich des Theravada-Buddhismus Wachs, M., Seele oder Nicht-Ich, Frankfurt 1998. 39 Aus dem Raum der Philosophie sind zu nennen Arbeiten zum Nihilismus und zur Negation, u. a.: Weischedel, W., Philosophische Grenzgänge, Stuttgart 1967; Berlinger, R., Das Nichts und der Tod, Frankfurt 1972; Arendt, D. (Hg.), Der Nihilismus als Phänomen der Geistesgeschichte, Darmstadt 1974; Schwan, A. (Hg.), Denken im Schatten des Nihilismus. FS W.Weischedel, Darmstadt 1975; Bachelard, G., Die Philosophie des Nein, Wiesbaden 1978; Weier, W., Nihilismus. Geschichte, System, Kritik, Paderborn 1980; Peng, F., Das Nichten des Nichts. Zur Kernfrage des Denkweges Martin Heideggers, Frankfurt 1998. Aus der Theologie vgl. u. a. Hochstaffl, J., Negative Theologie. Ein Versuch zur Vermittlung des patristischen Begriffs, München 1976; Salaquarda, J. (Hg.), Philosophische Theologie im Schatten des Nihilismus, Berlin 1971; We˛cławski, T., Zwischen Sprache und Schweigen. Eine Erörterung der theologischen Apophase im Gespräch mit Vladimir N. Lossky und Martin Heidegger, München 1985; Langemeyer, G., Menschsein im Wendekreis des Nichts, Münster 1988; Nordhofen, E., Der Engel der Bestreitung. Über das Verhältnis von Kunst und Negativer Theologie, Würzburg 1993; Raueiser, St., Schweigemuster. Über die Rede vom Heiligen Schweigen. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung von Odo Casel, Gustav Mensching, Rudolf Otto, Karl Rahner, Wilhelm Weischedel und Bernhard Welte, Frankfurt 1996; Oelmüller, W., Negative Theologie heute. Die Lage des Menschen vor Gott, München1999; Zechmeister, M., Gottes-Nacht. Erich Przywaras Weg Negativer Theologie, Münster 1997; Reikerstorfer, J. (Hg.), Vom Wagnis der Nichtidentität, Münster 1998; Röhring, H.-J., Kenosis. Die Versuchungen Jesu Christi im Denken von Michail M. Tareev, Leipzig 2000; Striet, M., Offenbares Geheimnis. Zur Kritik der negativen Theologie, Regensburg 2003; Halbmayr, A./Hoff, G.M. (Hg.), Negative Theologie heute? Zum aktuellen Stellenwert einer umstrittenen Tradition, Freiburg 2008. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Bemühungen wahrnehmen: Stefan Raueiser und Willi Oelmüller.40 Die ansonsten für die interreligiöse Begegnung hilfreiche Arbeit von Bertram Stubenrauch weiß zwar sehr genau um die Bedeutung des Kenotischen, nimmt jedoch die buddhistisch-christliche Diskussion um die Kenosis Gottes und die buddhistische Leere (skt. ´su¯nyata¯) nicht wahr.41 Erst die jüngere Regensburger Arbeit von Alexander Hoffmann arbeitet einen bedenkenswerten Vergleich der Kenosis im Werk von Hans Urs von Balthasar und in der Philosophie der Kyo˘ toSchule heraus.42 Die kurze Beschreibung des Diskussionsstands zeigt, dass es an der Zeit ist, die in Kyo˘ to angestoßene und in den USA weiterverfolgte Diskussion um Gott und Leere erneut aufzugreifen. Mit der Betonung von ´su¯nyata¯ ist die Rede vom „absoluten Nichts“ zu den religiösen indischen Wurzeln bei Na¯ga¯rjuna zurückgeführt worden, die über China den japanischen Zen-Buddhismus erreicht haben.43 Man kann Na¯ga¯rjunas Lehre nach wie vor mit Frederick Streng zusammenfassen.44
40
Vgl. die in Anm. 38 genannten Werke von St. Raueiser, der bei seinen
Überlegungen über das Schweigen immer wieder in den asiatischen Raum hineinhört, und von Oelmüller, W., über die Negative Theologie heute, 20 f.
41 Vgl. Stubenrauch, B., Dialogisches Dogma. Der christliche Auftrag zur interreligiösen Begegnung, Freiburg 1995. Die Arbeit lag als Habilitationsschrift der Universität Regensburg unter dem Titel „Die Kenosis Gottes und das Pleroma Gottes“ vor. 42 Vgl. Hoffmann, A., Kenosis im Werk Hans Urs von Balthasars und in der japanischen Kyoto-Schule. Ein Beitrag zum Dialog der Religionen, Bonn 2008. 43 Vgl. dazu Waldenfels, H., Nichts, 22 – 33. 44 Vgl. Streng, F.J., Emptiness. A Study in Religious Meaning, Nashville/ New York 1967, 80; zit.n. Waldenfels, H., Nichts, 33.
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Damit sind wir an jener Stelle, an der sich Negation im sprachlichen und Loslassen im ontologisch-spirituellen Bereich treffen und doch beides in letzter Konsequenz nur in Formeln wie „Negation der Negation“, „Loslassen des Loslassens“ und „Leerung der Leere“ wiedergegeben werden kann45.
12. „Absolute unendliche Offenheit“ Einen eigenen Brückenschlag zwischen Zen und Christentum vollzieht die japanische Religionsphilosophin Eiko Hanaoka-Kawamura46. Sie ist getaufte Christin, wurde bei Helmut Thielicke in Hamburg in Theologie promoviert und übt seit dem frühen Tod ihres Mannes und ihrer Lehrtätigkeit im Umkreis von Keiji Nishitani Zen. Für sie ist die Frage nach Gott, zumal nach dem christlichen Gott, heute für Buddhisten und den Buddhismus hochbedeutsam (242). Sie hat den Umgang mit der Gottesfrage an elf Autoren im Umkreis der Kyo¯to-Schule geprüft und kommt zu dem Ergebnis, dass es drei Tendenzen gibt: 1. Hajime Tanabe (1885 – 1962), der Nachfolger Nishidas, Katsumi Takizawa (1909 – 1984), ein vom Buddhismus zum Christentum konvertierter Religionsphilosoph, Yoshinori Takeuchi (1913 – 45
Vgl. Waldenfels, H., Sprechsituationen: Leid – Ver-nicht-ung – Geheimnis. Zum buddhistisdche und christlichen Sprechverhalten, in: Ders., Gottes Wort in der Fremde. Theologische Versuche II, Bonn 1997, 239 – 264, v. a. 247 – 257. 46 Vgl. Hanaoka(-Kawamura), E., Zen and Christianity. From the Standpoint of Absolute Nothingness, Kyoto 2008; folgende Seitenzahlen im Text aus diesem Buch. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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2002), nach Nishitani Inhaber des von Nishida besetzten Lehrstuhls und Priester eines Reine Land-Tempels, Kazuo Muto¯ (1913 – 1995) und Ko¯ichi Tsujimura (geb. 1922), zwei weitere Gelehrte in Kyo¯to, suchen nach einem „grundlosen Grund“ als Ursprung von Buddhismus und Christentum und bemühen sich, zu der beiden Religionen gemeinsamen Quelle zurückzufinden. 2. Masao Abe und Shizuteru Ueda neigen dazu, die letzte Wirklichkeit in verschiedenen Dimensionen in Buddhismus und Christentum zu orten und betonen eher die Verschiedenheit. 3. Für Kitaro¯ Nishida, Keiji Nishitani, Koshiro¯ Tamaki (1915 – 1999) und Seiichi Yagi (geb. 1932)47 dagegen öffnet sich die letzte Wirklichkeit als „grundloser Grund“ im Ursprung von Buddhismus und Christentum in der Erfahrung der Zen-Übung, die zum Ausgangspunkt allen Denkens wird (254). Entscheidend ist, dass die Frage nach der letzten Wirklichkeit sich in der Begegnung mit dem Christentum als Gottesfrage stellt. Schlüsselwort, besser gesagt: Schlüsselerlebnis dieser Sicht der Dinge ist für Eiko Hanaoka die „absolute unendliche Offenheit“ (214. 294. 303ff u. ö.). Man könnte meinen, dass wie für Nishida das „absolute Nichts“ und für Nishitani die „Leere“ zum Ausdruck ihrer Erfahrung geworden ist, „Offenheit“ Ausdruck der Grunderfahrung ist, die Eiko Hanaoka gemacht hat. Mit diesem Wort erhält die Diskussion um das „absolute Nichts“ deutlich eine positive Färbung. Aus ihrer christlichen Zugehörigkeit gelangt ihr der „Durchbruch“ in der Übung des Zen. Gerade deshalb ist ihr bewusst, dass der Durchbruch auch auf andere Weise gelingen kann. Aus der Sicht christlich-theologischer Reflexion ließe sich die „Offenheit“ in Beziehung setzen zum theologischen Grundbegriff der „Offenbarung“ (griech. epiphaneia, apokalypsis; lat. revelatio). Die „Offenheit“ würde dann auf das velum, den „Vorhang“, die „Verhüllung“ stoßen, über dessen „Dahinter“ nicht geurteilt wird und das sich doch „zeigen“, „enthüllen“ kann.48 Die reine Negativität würde in
47
Vgl. von ihm das mit Luz, U. herausgegebene Buch: Gott in Japan. Anstöße zum Gespräch mit japanischen Philosophen, Theologen und Schriftstellern, München 1973. 48 Vgl. ausführlicher Waldenfels, H., Kontextuelle Fundamentaltheologie, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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einer negatio negationis enden, ohne eigenmächtig ein eigenes Urteil über das „Transzendente“, das „Darüberhinausliegende“ zu fällen. Dennoch bliebe die Möglichkeit der absoluten re-velatio, der Entfernung des velum, erhalten. Verwunderlich wirkt bei Eiko Hanaoka, dass im Registerteil des Buches zwar die verschiedensten Personen genannt werden, doch sowohl „Buddha“ als auch „Christus“ oder „Jesus“ als Stichworte fehlen. Vermutlich hat das damit zu tun, dass Hanaoka sich hintergründig nach wie vor mit dogmatisch zu nennenden Positionen der christlichen Theologie auseinandersetzt. Dazu gehören die Frage des persönlichen Gottes (314 f. 369 – 378 u. ö.), Sünde und Erlösung (211 – 218. 315 u. ö.), auch das Verständnis von Glauben. Hanaoka unterscheidet zwischen Religion auf der Basis von Glauben (engl. faith), verstanden als „nicht gegründet in persönlicher Erfahrung, sondern auf Versicherungen von Seiten eines Mittlers, also ein fester Glaube (engl. belief ) an die Erfahrung anderer, die Gott erfahren haben mögen“, und Religion(en) der „Selbstwahrnehmung (engl. self-awareness), die in der direkten und persönlichen Erfahrung des absoluten Nichts gründen, in der das wahre Selbst erfahren werden kann“ (294). Um dieses Verhältnis von Glaubensvermittlung und Selbsterfahrung geht ihr Ringen. Man könnte auch sagen: Sie fragt nach dem Verhältnis von christlicher Gotteserfahrung und im Zen gemachter Erfahrung und sieht hier doch entscheidende Unterschiede (304). Hier wäre eine biblische Vertiefung des Glaubensverständnisses hilfreich. In seiner Grundbedeutung, wie sie im Alten und Neuen Testamenten abgerufen werden kann, ist Glaube weniger ein intellektueller Standpunkt zwischen Glauben und Wissen, also fremderzeugtem und eigenständig erlangtem Wissen, sondern eine Grundeinstellung zur Wirklichkeit49. Von der englischen Sprache her gesehen, ist Hanaokas Glaubensverständnis näher bei belief als bei faith. Das wirkt sich aus, wo die Bedeutung von Gestalten wie Buddha und Christus zur Sprache kommen müssten. Auch hier finden 181 – 202; Ders., Einführung in die Theologie der Offenbarung, Darmstadt 1996. 49 Vgl. Waldenfels, H., Fundamentaltheologie, 316 – 329. 343 – 356. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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christliche Grundtexte nur marginal Beachtung. Zwei Texte werden im buddhistisch-christlichen Gespräch immer wieder zitiert: Gal 2,20 und Phil 2. Gal 2,20, „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“, gehört für asiatische Denker in ihrer verschränkten Identitätsaussage zu den faszinierendsten biblischen Texten und wird auch von Hanaoka entsprechend gewürdigt (198 ff. 304. 323 f ).50 Im Blick auf Phil 2,5 – 8 und seine Aussage über Gottes Kenosis setzt sie jedoch die in den USA geführte Diskussion nicht fort; sie geht auch auf das von ihrem Lehrer Nishitani Gesagte nicht näher ein (304. 370, vgl. 321 – 326).
13. Nochmals: Gottes Kenose und S´u¯nyata¯51: Wir kehren deshalb noch einmal zu Keiji Nishitani zurück. Zu seinen Grundpositionen gehört die Einsicht, dass „Mensch als Person“ ohne Zweifel „die höchste Idee vom Menschen [ist], die je konzipiert wurde“, und dass dies auch für „die Idee von Gott als ,Person‘“ gilt (110). Allerdings impliziert dieses Personverständnis eine stark auf das Individuum und damit das Ego konzentrierte Sicht, die damit zugleich an ihre Grenze stößt. Im Hinblick auf Gott schließt Nishitani ausdrücklich ein Abgleiten in eine reine Impersonalität aus; er spricht eher von „Transpersonalität“, die die negativen Züge des Personseins ausschließt (118 u. ö.). Eine Brückenfunktion in der Ausdeutung der Gottesfrage nimmt dann die Interpretation Eckharts ein, wie sie in Kyo¯to gewachsen ist und bei der das Verhältnis von „Gott“ und „Gottheit“ hilfreich erscheint (vgl. 120 – 130).52 Nishitani setzt ein bei Mt 5,43 – 48, einer Stelle, die er voll zitiert 50
Vgl. Nishitanis Rückfrage zu diesem Text: „Bei Paulus finde ich einen Ausspruch, den ich – vom Zen-Buddhismus her – nur allzu gut zu verstehen glaube; er sagt da, er habe den Tod erlitten…. ,Nicht ich lebe,Christus lebt in mir:‘ Das leuchtet mir unmittelbar ein – nur darf ich Sie fragen: Wer spricht da?“; zit.n. Waldenfels, H., Nichts, 199. 51 Vgl. zum Folgenden Nishitani, K. Was ist Religion?, Frankfurt 1982, mit Seitenzahlen im Text, dazu auch Waldenfels, H., Nichts, 105 – 121.176 – 207, dort zum Gottesverständnis 113 – 119. 176 – 183. 52 Vgl. hierzu nochmals die zuvor angesprochene zurückhaltende Interpretation der Frage bei Haas A.M., s. o. Anm.29. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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(115 f ). Der Evangelist zitiert aus der Bergpredigt, dass Gott die Sonne über Guten wie Bösen aufgehen und es regnen lässt über Gerechte und Ungerechte. Die Stelle endet in der Aufforderung, „vollkommen zu sein“ wie der Vater im Himmel. Die sich hier offenbarende Liebe, die keine Unterschiede kennt und selbst die Feinde liebt, erläutert Nishitani dann von Phil 2 her, wo sich Gottes Kenosis in der Kenosis Jesu offenbart: „Was aber ist diese nicht unterscheidende Liebe53 (oder agape), die auch den Feind liebt? Sie ist, um es kurz zu sagen, das ,Sich-Leermachen‘54. Im Falle Christi heißt dies, Menschengestalt anzunehmen und, mehr noch, zum Knecht werden – und zwar in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes. Der Ursprung seines ,Sich-leer-Machens‘ (ekkeno¯sis) ist in Gott. Gottes Liebe ist es, die bereit ist, selbst dem Sünder zu vergeben, der sich gegen ihn vergangen hat. Diese vergebende Liebe ist Ausdruck der ,Vollkommenheit‘ Gottes, der Gute und Böse gleichermaßen umfängt. Deshalb darf gesagt werden, dass in Gott selbst die Bedeutung des ,Sichleer-gemacht-Habens‘ enthalten ist. Im Falle Christi verwirklicht sich das ,Sich-leer-Machen‘ (ekkeno¯sis) in der Tatsache, dass er, der in Gottes Gestalt war, Knechtsgestalt annimmt; in Gott gehört die ekkeno¯sis schon zu seiner ursprünglichen Vollkommenheit. Das besagt: Die Tatsache, dass Gott Gott ist, schließt als wesenhaften Charakterzug das ,Sich-leer-gemacht-Haben‘ ein. Im Falle Christi sprechen wir von einer Tat, die vollbracht worden ist, bei Gott von seiner ursprünglichen Natur. Was für den Sohn ekkeno¯sis ist, ist für den Vater keno¯sis. Im Osten würden wir das ana¯tman oder muga, non-ego oder Selbst-Losigkeit nennen.“ (116 f )55
53
Zu beachten ist, dass die Formulierung „nicht unterscheidende Liebe“ eine deutlich buddhistische Färbung besitzt. 54 Ich übersetze hier bewusst wieder mit „Leer-Machen“. 55 Zu beachten ist, dass sich in den verschiedenen Übersetzungen des japanischen Textes Schwankungen feststellen lassen. Ana¯tman (Skt.) bzw.muga (jap.) werden sowohl ontologisch mit „Nicht-Ich“ bzw. „Nicht-Selbst“ als auch – wie in der deutschen Übersetzung – ethisch mit „Selbst-Losigkeit“ wiedergegeben. Es ist folglich auf den spekulativ-ontologischen wie auf den existentiell-spirituellen Aspekt der Kenose zu achten. Ich bin an einigen Stellen auf den japanischen Text zurückgegangen und habe vor allem die deutsche Übersetzung „Selbstentäußerung“ wieder durch „Sich-leer-Machen“ ersetzt. In den Übersetzungen gibt es zu diesem Text eine Fußnote, die auf buddhistische Zusammenhänge verweist. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Für Nishitani kommen hier zwei Gesichtpunkte zusammen: 1. In Gott gehört die Kenosis zu seinem Wesen; sie ist ursprünglich. 2. Der Mensch kann diese „Vollkommenheit“ Gottes nur erreichen, wo er die Unterschiede zwischen den Menschen aufhebt und auch seinen Feind liebt: „Der Mensch muss die unterscheidende menschliche Liebe aufgeben und sich der nicht unterscheidenden göttlichen Liebe hingeben. Er muss dem eros absagen und sich der agape zuwenden, das ego (jap. ga) verneinen und sich dem non-ego (jap. muga) zuwenden. ,Sich selbst leer machen‘ besagt im Falle Christi, dass er, der in Gottes Gestalt war, als Knecht die Gestalt eines Menschen annahm und seine Liebe zu einer Verkörperung der Vollkommenheit Gottes wurde. Im Falle eines Christen bedeutet ,sich leer machen‘ den Wandel von der menschlichen unterscheidenden Liebe zur göttlichen nichtunterscheidenden Liebe und die Nachahmung und Einübung in die Vollkommenheit Gottes.“ (117)
Man könnte meinen, Nishitani selbst sei mit solchen Überlegungen ganz auf die Seite des Christentums gewechselt. Das ist jedoch keineswegs der Fall. Denn er erinnert ausdrücklich daran, dass er mit diesen Überlegungen sehr nahe bei buddhistischen Grundüberzeugungen ist: „Ich habe gesagt, dass die nicht unterscheidende Liebe, welche die Sonne gleichermaßen über Bösen und Guten, über Feind wie Freund aufgehen lässt, durch die Selbst-Losigkeit (jap. muga) charakterisiert ist. SelbstLosigkeit (ana¯tman bzw. muga) ist bekanntlich das Grundprinzip des Buddhismus, der sie Große Weisheit oder Großes Mitleid (maha¯-prajÇa¯ und maha¯-karun¸a¯) nennt. Ich hatte bereits Gelegenheit, kurz auf maha¯prajÇa¯ einzugehen. Maha¯-karun¸a¯, das Große Mitleidige Herz, ist so zu verstehen, dass es keinen privaten Sonnenaufgang gibt. Die Sonne schickt ihre Strahlen nicht an einen Ort, den sie sich ausgesucht hat, noch legt sie irgendeine Vorliebe an den Tag, die von Zuneigung oder Abneigung diktiert wäre. In ihrem Leuchten gibt es kein ego. Ohne ego oder selbstlos sein heißt ,leer‘ sein (s´u¯nyata¯). Darin hat die Vollkommenheit Gottes etwas mit dem Großen Mitleidigen Herzen des Buddhismus gemein. Und vom Menschen wird verlangt, in solch einer Weise vollkommen zu sein wie Gott.“ (119)
Hier wird deutlich, dass es in der letzten Offenheit für die wahre Wirklichkeit Berührungspunkte gibt, die schwerlich zu leugnen sind. Allerdings wird man sich vor voreiligen Identifizierungen hüten © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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müssen. Vor allem wird man mit der Sprache und mit Begriffen vorsichtig sein. Zweifellos bringt das Schweigen, aus dem die Erfahrung des Zen erwächst, auch eine neue Sprache. Es gibt einige Punkte, wo diese sich äußern kann, die wir abschließend andeuten können: • Zen lädt zu einer Praxis ein. Die Praxis besteht wesentlich im Loslassen und sie stellt eine falsche Selbstverhaftung in Frage. Die Hauptwaffe des Loslassens besteht darin, „Nein“ sagen zu können. • Zen führt in Erfahrung – Erfahrung, nicht überdeckt von eigenen Worten und Vorstellungen, Erfahrung, in der der Übende im Alltag frei wird vom Alltag; sinnvollerweise ist die Rede von „Erfahrung der Nicht-Erfahrung“56. • Zen sprengt Grenzen – wer schweigt, wird offen und empfänglich, nimmt auf neue Weise wahr und wird kreativ. • Zen schafft Freiheit-von – Beweis der Echtheit aber ist Freiheit-für; negativ klingende Stichworte wie „Nichts“, „Leere“, „Selbstlosigkeit“ „Offenheit“ verheißen zugleich „Fülle“, „Erfüllung“ und „Offenbarung“ und erzeugen „Mitleiden“ und „Liebe“. • Zen spricht auf eigentümliche Weise ohne Worte von „Transzendenz“, von „Jenseits“ und „Zukunft“. Frage: Was ist hier das letzte Wort?
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Vgl. Waldenfels, H., Wort, 223 f. 233 – 238. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525568538 — ISBN E-Book: 9783647568539
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Die Autoren
Dr. David A. Gilland, Wissenschaftlicher Assistent, Systematische Theologie und Wissenschaftskulturdialog, Leuphana Universität Lüneburg. Autor u. a. von:
Law and Gospel in Emil Brunner’s Earlier Dialectical Theology, London u. a. 2013. Which Relationality? Whose Personhood? (zus. m. M. Mühling), Studies in Christian Ethics 26 (2013), 473 – 486. Karl Barth – Emil Brunner Correspondence, als Hg. und Übers., London, 2014.
Prof. Dr. Dr. h.c. Daniel Krochmalnik, Professor für Jüdische Religionslehre, -pädagogik und -didaktik an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg. Privatdozent für Jüdische Philosophie an der Universität Heidelberg. Schriften u. a.:
Moses Mendelssohns Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe (als Hg.). Verfasser der Kommentare: Schriftauslegung – Die Bücher Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium im Judentum, (Christoph Dohmen (Hg.). Neuer Stuttgarter Kommentar. Altes Testament, Bd. 33.1, 3 u. 5), Stuttgart 2000 – 2003.
Prof. Dr. LAI Pan-chiu, Professor am Department Cultural & Religious Studies, The Chinese University of Hong Kong. Autor u. a. von: Towards a Trinitarian Theology of Religions. A Study of Paul Tillich’s Thought, Kampan 1994. Sino-Christian Theology. A Theological Qua Cultural Movement in Contemporary China (Hg. zus. m. Jason Lam), Frankfurt/M. 2010. Mahayana Christian Theology. Thought-Experiments of Sino-Theology, Hong Kong 2011 (chinesisch).
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Die Autoren
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PD Dr. Christian Meyer, Privatdozent in der Sinologie und Vertretungsprofessor für Religions- und Missionswissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg, Guest Research Fellow am Institute of Sino-Christian Studies (ISCS), Tao Fang Shan, Hong Kong & Honorary Research, Associate am Cultural and Religious Studies Departement, Chinese University of Hong Kong. Autor u. a. von :
Die chinesische Entdeckung der Religionsgeschichte. Studien zur Rezeption westlicher Religionswissenschaft in China, 1890-1949 (Habilitationsschrift, in Druckvorb.). Ritendiskussionen am Hof der nördlichen Song-Dynastie 1034-1093, Sankt Augustin 2008. Globalization and the Making of Religious Modernity in China : Transnational Religions, Local Agents, and the Study of Religion, 1800–Present, Boston-Leiden 2014 (Hg. , zus. mit Thomas Jansen und Thoralf Klein).
Prof. Dr. Markus Mühling, Professor für Systematische Theologie und Wissenschaftskulturdialog, Leuphana Universität Lüneburg. Autor u. a. von: Liebesgeschichte Gott. Systematische Theologie im Konzept, Göttingen 2013. Einstein und die Religion. Das Wechselverhältnis zwischen religiös-weltanschaulichen Gehalten und naturwissenschaftlicher Theoriebildung Albert Einsteins in seiner Entwicklung, Göttingen 2011. Versöhnendes Handeln – Handeln in Versöhnung. Gottes Opfer an die Menschen, Göttingen 2005.
Prof. Dr. Perry Schmidt-Leukel, Professor für Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie, Universität Münster. Autor u. a. von:
Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh 2005; ppb. 2013. Understanding Buddhism, Edinburgh 2006. Transformation by Integration. How Inter-faith Encounter Changes Christianity, London 2009.
Prof. Dr. Klaus von Stosch, Professor für Katholische Theologie (Systematische Theologie) und ihre Didaktik sowie Vorsitzender des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften an der Universität Paderborn. Autor u. a. von: Offenbarung, Paderborn u. a. 2010.
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Die Autoren
Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, Paderborn u. a. 2012. Theodizee, Paderborn u. a. 2013.
Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Waldenfels, Emeritus für Fundamentaltheologie, Theologie der Religionen und Religionsphilosophie, Universität Bonn, Lic. phil. (Pullach) Dr. theol. (Rom) Dr. theol. habil. (Würzburg) Dr. h.c. (Warschau). Autor u. a. von:
Kontextuelle Fundamentaltheologie. Paderborn (1985) 42005. Lexikon der Religionen (Hg.), Freiburg 41999. Absolutes Nichts, Freiburg 1976, 31980, ND Paderborn 2013.
Dr. Donald Wood, Lecturer in Systematic Theology, University of Aberdeen (Scotland). Autor u. a. von:
Barth’s Theology of Interpretation, London u. a. 2007. ,Maker of Heaven and Earth‘, IJST 14/4 (2012), 381 – 395. ,An Extraordinarily Acute Embarrassment‘. The Doctrine of Angels in Barth’s Goettingen Dogmatics, SJT 66/3 (2013), 319 – 337.
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