Kirche und Christentum: Grundwissen für Historiker 9783506768940, 9783825233426, 3506768948


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Table of contents :
Kirche und Christentum
Impressum
Inhalt
Zu Ziel und Gebrauch dieses Buches
1 Glaube und Kultus der christlichenKirche(n)
1.1 Das Glaubensbekenntnis (Credo)
1.2 Der Katechismus: Vermittlung des Glaubens und der Normen desZusammenlebens
1.3 Das Vaterunser
1.4 Die Zehn Gebote (der Dekalog)
1.5 Die ersten drei Sakramente: Taufe, Firmung, Herrenmahl
1.6 Kirchenraum und Kirchenbau
1.7 Gottesdienst und Liturgie
2 Die Bibel – das Buch und die Bücher
2.1 Der Aufbau der Bibel
2.2 Bibelrezeption – eine Annäherung
2.3 Bibelauslegung
2.4 Frömmigkeitsliteratur
3 Predigt
3.1 Anrede Gottes – zum Selbstverständnis christlicher Predigt
3.2 Die Predigt des Mittelalters
3.3 Die Predigt der frühen Neuzeit
3.4 Die Kontroverspredigt des konfessionellen Zeitalters
3.5 Lachen in der Predigt
3.6 Predigt und Gottesdienst als gesellschaftliches Ereignis
3.7 Das Verhalten während des Gottesdienstes und der Predigt:Ein Mentalitätswandel
3.8 Predigt und Politik
4 Kirche als Institution: Geistlichkeit,Organisation und Recht
4.1 Klerus und Laien
4.2 Bischof und Bistum
4.3 Die Bischofswahl im Schnittpunkt von Religion und Politik
4.4 Pfarrer und Pfarrei – das Niederkirchenwesen
4.5 Wie wird man Pfarrer? Vorbildung, Weihe, Präsentation und Versorgung
4.6 Zur Finanzierung der Bischöfe und Pfarrer nach 1789
4.7 Der Bischof und seine Pfarrer: Diözesansynoden und Visitationen
4.8 Papsttum und Kurie
4.9 Konzilien
4.10 Kanonisches Recht und kirchliche Gerichtsbarkeit
4.11 Kirche als Vorbild von Staatlichkeit
5 Geistliche Gemeinschaften: Orden, Stifte,Klöster
5.1 Die Entstehung des christlichen Mönchtums
5.2 Das Benediktinische Mönchtum
5.3 Die Stiftsgeistlichkeit
5.4 Die Bettelorden
5.5 Orden und Klöster in der Neuzeit
5.6 Ordensähnliche Gemeinschaften
5.7 Askese und Weltveränderung
6 Kirche(n), Konfessionen, Frömmigkeitsbewegungen:Das westliche Christentumzwischen Einheit und Spaltung
6.1 Kirchenspaltung und Ketzerei im Mittelalter
6.2 Die Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts und die frühneuzeitlichenKonfessionskirchen
6.3 Zur Deutung der konfessionellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten
6.4 Vervielfachung der Kirchen und Bemühungen um die Einheit der Christen im19./20. Jahrhundert
6.5 Dynamik
7 Frömmigkeit und Gesellschaft
7.1 Heilige – eine Voraussetzung
7.2 Das Kirchenjahr: Zeiten und Feste
7.3 Das Verschwinden der christlichen Feiertage in der Neuzeit
7.4 Christlicher Lebenslauf
7.5 Sünde, Beichte, Vergebung, Buße
7.6 Wallfahrten und Prozessionen
7.7 Formen der Nächstenliebe
8 Kirche und Politik
8.1 Voraussetzungen: Aussagen des Neuen Testaments zu Herrschaft undGesellschaft
8.2 Zwei Gewalten: Das Verhältnis von Kirche und weltlicher Herrschaftsordnungnach Konstantin
8.3 Das Bild der Gesellschaft: Christliche Ständelehren
8.4 Gehorsam und Widerstand
8.5 Kulturkämpfe – der Streit um die Religion im „modernen“ Staat
8.6 Letzte Dinge
9 Literaturhinweise
Verzeichnis der Abkürzungen
Abbildungsnachweis
Register
Danksagung
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Kirche und Christentum: Grundwissen für Historiker
 9783506768940, 9783825233426, 3506768948

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UTB 3342

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Köln · Weimar · Wien Verlag Barbara Budrich · Opladen · Farmington Hills facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft · Stuttgart Mohr Siebeck · Tübingen Orell Füssli Verlag · Zürich Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

Volker Seresse

Kirche und Christentum – Grundwissen für Historiker

Ferdinand Schöningh

Der Autor: Volker Seresse, geb. 1963 in Neuß/Rhein. Studium der Geschichte und Romanischen Philologie in Mainz, Dijon und Kiel. Promotion, Assistententätigkeit und Habilitation an der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel; dort seit 2007 als Lehrkraft für besondere Aufgaben und apl. Professor tätig. Lehre am Historischen Seminar der Kieler Universität u.a. zur Geschichte der Reformation und des Konfessionellen Zeitalters sowie zu Religion und Politik im 19. Jahrhundert. Veröffentlichungen zur deutschen und nordeuropäischen Geschichte der frühen Neuzeit.

Coverbild: Detail aus dem Kupferstich „Credulity, Superstition and Fanaticism“ von William Hogarth (16971764), 1761

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier 嘷 ∞ ISO 9706

© 2011 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de ISBN 978-3-506-76894-0 Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart UTB-Bestellnummer: 978-3-8252-3342-6

Inhalt Zu Ziel und Gebrauch dieses Buches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1 Glaube und Kultus der christlichen Kirche(n) . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.1 Das Glaubensbekenntnis (Credo). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Der zweite Artikel: Jesus Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Der erste Artikel: Gott der Vater. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Der dritte Artikel: Gott der Heilige Geist. Das Dogma als Bekenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Der Katechismus: Vermittlung des Glaubens und der Normen des Zusammenlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Inhalt, Didaktik und Nutzung des Katechismus’ . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Die Eltern ehren: Katechismus und Gesellschaftsordnung . . . . 1.2.3 Die Christliche Haustafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Das Vaterunser. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Die Zehn Gebote (der Dekalog) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Das Erste Gebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Das Zweite Gebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Das Dritte Gebot. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.4 Dekalog, Bundesgedanke und Gottesvolk. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.5 Zur Bedeutung des Dekalogs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Die ersten drei Sakramente: Taufe, Firmung, Herrenmahl. . . . . . . . . . 1.5.1 Sakramente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Die Taufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3 Die Firmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4 Das Herrenmahl (Eucharistie, Kommunion, Abendmahl) . . . . . 1.5.5 Die Wirkung der Glaubensspaltung auf das Verständnis des Herrenmahls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Kirchenraum und Kirchenbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.1 Das Kirchengebäude: Ort der Gottesbegegnung und Symbol für den Weg des Menschen zu Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.2 Die Epochen des Kirchenbaus – eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.3 Die Folgen der Konfessionsspaltumg im Kirchenraum . . . . . . . 1.7 Gottesdienst und Liturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7.1 Die gemeinsame Liturgie und Liturgiesprache des lateinischen Westens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7.2 Die Gliederung des christlichen Gottesdienstes. . . . . . . . . . . . .

14 15 18 20 23 23 27 29 31 35 36 37 37 40 41 42 42 43 46 46 49 52 52 54 61 64 64 66

6

Inhalt

2 Die Bibel – das Buch und die Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2.1 Der Aufbau der Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2.1.1 Das Alte Testament. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2.1.2 Das Neue Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2.1.3 Die Sprachen der Bibel und Bibelübersetzungen . . . . . . . . . . . . 76 2.1.4 Zur praktischen Arbeit mit der Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2.2 Bibelrezeption – eine Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2.2.1 Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2.2.2 Literarische Bearbeitungen der Bibel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2.2.3 Bilderbibeln: Die Biblia pauperum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2.2.4 Geistliche Spiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2.2.5 Die bekanntesten biblischen Personen und Geschichten – ein Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2.2.6 Ein neues Israel – das biblische Bildprogramm des Rathauses von Amsterdam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2.3 Bibelauslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2.4 Frömmigkeitsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2.4.1 Lektüre für den Alltag der Christen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 2.4.2 Zur quantitativen Bedeutung der Frömmigkeitsliteratur . . . . . . 96 2.4.3 Wichtige Gattungen und Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 2.4.4 Frömmigkeitsliteratur, Mentalität und Individualisierung . . . . . 102

3 Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8

Anrede Gottes – zum Selbstverständnis christlicher Predigt . . . . . . . Die Predigt des Mittelalters. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Predigt der frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kontroverspredigt des konfessionellen Zeitalters . . . . . . . . . . . . . Lachen in der Predigt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Predigt und Gottesdienst als gesellschaftliches Ereignis . . . . . . . . . . Das Verhalten während der Predigt: Ein Mentalitätswandel . . . . . . . . Predigt und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8.1 „Mein Knecht David“ – Legitimation und Begrenzung von Herrschaft in der Krönungspredigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8.2 „Die beste Verfassung auf Erden“ – Predigt und das Bild der Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8.3 „Ihr habt das Gesetz nicht bewahrt“ – Kritik am Stadtrat . . . . . 3.8.4 „Lasset euch warnen!“ – Sittenkritik der Hofgeistlichen . . . . . . 3.8.5 „Brandstifter der Rebellion“ – Predigt am Vorabend des englischen Bürgerkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8.6 Predigt gegen die Euthanasie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8.7 Zur politischen Bedeutung der Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105 106 108 110 112 113 114 116 116 117 118 119 121 122 122

Inhalt

7

4 Kirche als Institution: Geistlichkeit, Organisation und Recht 125 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

4.6 4.7 4.8

4.9 4.10 4.11

Klerus und Laien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bischof und Bistum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bischofswahl im Schnittpunkt von Religion und Politik . . . . . . . Pfarrer und Pfarrei – das Niederkirchenwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie wird man Pfarrer? Vorbildung, Weihe, Präsentation und Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Weihe und Vorbildung der Geistlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Wer bestimmt den Pfarrer? Die Schlüsselrolle des Patronatsherrn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.3 Wovon lebt der Pfarrer? Die Pfarrpfründe . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.4 Residenzpflicht, Pfründenhäufung und noch einmal: Wie wird man Pfarrer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Finanzierung der Bischöfe und Pfarrer nach 1789 . . . . . . . . . . . . Der Bischof und seine Pfarrer: Diözesansynoden und Visitationen . Papsttum und Kurie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.1 Entstehung und Selbstverständnis des Papsttums . . . . . . . . . . 4.8.2 Das patrimonium Petri: Der Papst als italienischer Territorialherr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.3 Papstwahl und Papsttum unter dem Einfluß der Politik . . . . . . 4.8.4 Das Papsttum als politische Kraft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.5 Der päpstliche Hof: Die Kurie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.6 Die Kurie als spätmittelalterlicher Pfründenmarkt. . . . . . . . . . . 4.8.7 Rom!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kanonisches Recht und kirchliche Gerichtsbarkeit. . . . . . . . . . . . . . . Kirche als Vorbild von Staatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

125 127 130 134 136 136 137 141 143 144 146 148 148 150 151 152 155 156 159 160 164 169

5 Geistliche Gemeinschaften: Orden, Stifte, Klöster . . . . . . . . . . . 171 5.1 Die Entstehung des christlichen Mönchtums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Das Benediktinische Mönchtum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Geregelter Tagesablauf: Ora ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 ... et labora! Aufgaben und Ämter im Kloster . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Wie wird man Mönch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Verweltlichung und Klosterreformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Die Stiftsgeistlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Die Bettelorden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Orden und Klöster in der Neuzeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Ordensähnliche Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Askese und Weltveränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

171 173 173 174 175 176 178 178 181 183 184

8

Inhalt

6 Kirche(n), Konfessionen, Frömmigkeitsbewegungen: Das westliche Christentum zwischen Einheit und Spaltung . . 187 6.1 Kirchenspaltung und Ketzerei im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Dauerhafte Spaltung: Lateinische Kirche und Ostkirche . . . . . . 6.1.2 Vorübergehende Spaltung: Das Große Abendländische Schisma. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Die Ketzerbewegungen und die Inquisition des Mittelalters . . . 6.2 Die Glaubensspaltung und die frühneuzeitlichen Konfessionskirchen. . 6.2.1 Luthers Reformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Die großen evangelischen Konfessionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Die Erneuerung der „alten“ Kirche: Das Konzil von Trient (Tridentinum) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Katholizismus – Luthertum – Calvinismus: die wichtigsten Unterschiede und Streitpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.5 Die Anglikanische Kirche und die puritanische Frömmigkeitsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.6 Der „linke Flügel“ der Reformation: Täufer und Dissenter. . . . . 6.2.7 Die kontinentalen Brüder der Puritaner: Jansenisten und Pietisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Zur Deutung der konfessionellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Die These Max Webers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Das Konfessionalisierungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Vervielfachung der Kirchen und Bemühungen um die Einheit der Christen im 19./20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Religionsfreiheit und die Entstehung neuer christlicher Kirchen im 19./20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Einigungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

188 188 189 190 194 195 198 199 200 204 206 209 213 213 214 215 216 219 220

7 Frömmigkeit und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 7.1 7.2 7.3 7.4

Heilige – eine Voraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Kirchenjahr: Zeiten und Feste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verschwinden der christlichen Feiertage in der Neuzeit . . . . . . . Christlicher Lebenslauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.1 Taufe, Patenschaft, Namensgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.2 Erster Kommunionempfang, Konfirmation und Erwachsenwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.3 Eheschließung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.4 Tod als Übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.5 Laienbruderschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223 226 232 237 237 243 244 246 253

Inhalt

7.5 Sünde, Beichte, Vergebung, Buße. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.1 Sünden und Erbsünde (Ursünde) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.2 Wiedergutmachung: Das Sakrament der Buße im Mittelalter . . 7.5.3 Die Sieben Todsünden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.4 Ablaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.5 Der Einschnitt der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.6 Beichte, Buße und Kirchenzucht in den frühneuzeitlichen Konfessionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.7 „Gottes straff und zorn“ – Sünde und Buße der Gemeinschaft. . 7.5.8 Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Wallfahrten und Prozessionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.1 Unterwegs zum Heiligen – Wallfahrten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.2 Unterwegs mit dem Heiligen – Prozessionen. . . . . . . . . . . . . . . 7.7 Formen der Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7.1 Grundlagen der Caritas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7.2 Mittelalterliche Armenversorgung: Kloster und Hospital. . . . . . 7.7.3 Die veränderte Sicht der Armut in der frühen Neuzeit . . . . . . . . 7.7.4 Bewegungen der Nächstenliebe im Zeitalter der Industrialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

254 254 255 257 259 261 261 264 265 266 266 271 274 274 275 278 279

8 Kirche und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 8.1 Voraussetzungen: Aussagen des Neuen Testaments zu Herrschaft und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Zwei Gewalten: Das Verhältnis von Kirche und weltlicher Herrschaftsordnung nach Konstantin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Das Bild der Gesellschaft: Christliche Ständelehren . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Gehorsam und Widerstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.1 Princeps christianus – das Leitbild des christlichen Herrschers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.2 Die Pflichten christlicher Untertanen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.3 Tyrannen und der Umgang mit ihnen nach Thomas von Aquin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.4 „Gott mehr gehorchen als den Menschen“: Widerstand in Konfessionskonflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Kulturkämpfe – der Streit um die Religion im „modernen“ Staat. . . . 8.6 Letzte Dinge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.1 Das heilsgeschichtliche Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.2 Antichrist und Tausendjähriges Reich: Politik im Horizont des Weltendes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

283 285 286 287 287 289 289 291 293 295 295 297

9 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

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Inhalt

Verzeichnis der Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Danksagung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

Zu Ziel und Gebrauch dieses Buches Wer Geschichte studiert, begegnet in den unterschiedlichsten sozial-, kultur- und politikgeschichtlichen Zusammenhängen der christlichen Religion und Kirche. Das Ziel dieses Buches ist es, das für diese Begegnung notwendige Grundwissen zu vermitteln. Es werden Glaubensinhalte, Denkmuster, Institutionen und Sozialformen des westlichen Christentums dargestellt und erläutert, die für die allgemeine Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit wichtig sind. Dieses Studienhandbuch möchte eine Lücke zu schließen. Es gibt ausgezeichnete theologische Nachschlagewerke, in denen sich Stichworte finden, welche auch für die allgemeine Geschichte wichtig sind – seien es bekanntere Begriffe wie z.B. „Ablaß“ oder unbekanntere wie z.B. „Jansenismus“. Die Einträge in diesen Werken setzen jedoch oft theologisches Grundwissen voraus und die Erklärungen sind, dem Lexikoncharakter entsprechend, oft sehr verdichtet und darum für denjenigen schwer verständlich, der nicht über dieses Grundwissen verfügt. Ähnlich verhält es sich mit den Übersichtswerken zur Kirchengeschichte, die von und für Theologen geschrieben werden; aus Sicht des Allgemeinhistorikers kommt in ihnen außerdem die politische und gesellschaftliche Dimension von Kirche und Christentum eher wenig zur Sprache. Der vorliegende Band kann und soll also theologische Nachschlagewerke und Handbücher zur Kirchengeschichte nicht ersetzen, sondern – zugeschnitten auf die Bedürfnisse des Geschichtsstudiums – ergänzen. Darum ist er so konzipiert, daß gut 850 Begriffe in ihrem Sach- und chronologischen Zusammenhang in einem fortlaufenden Text erklärt werden und auf ihre allgemeinhistorische Bedeutung immer wieder hingewiesen wird. Das Buch ist also im Grundsatz nicht chronologisch, sondern systematisch gegliedert (s. Inhaltsverzeichnis). Daher stehen einzelne Personen und Ereignisse nur selten im Vordergrund. Der Investiturstreit des 11./12. Jahrhunderts wird z.B. zwar erwähnt, aber nur sehr knapp; von ihm kann man anderswo ausführlich lesen. Stattdessen wird er eingeordnet in die systematische Frage nach der Bischofswahl im Schnittpunkt von Religion und Politik. „Grundwissen“ wird hier demnach so verstanden, daß Strukturen der Christentumsgeschichte in ihrer Bedeutung für die allgemeine Gesellschafts- und Politikgeschichte verständlich werden. Es versteht sich von selbst, daß diese grundsätzliche Gestaltung des Stoffes wie auch die Auswahl der Begriffe eine subjektive Note enthält und sich in der Praxis bewähren muß. Innerhalb des systematischen Grundgerüsts sind die meisten Kapitel und Teilkapitel in sich chronologisch aufgebaut. Dabei wird im Grundsatz die gesamte Christentumsgeschichte von ihren Anfängen an in den Blick genommen, jedoch liegt der Schwerpunkt auf dem Mittelalter und der Neuzeit bis 1914; die Frühe Kirche wird insoweit berücksichtigt, als dies zum Verständnis von Lehre, Kultus, Frömmigkeit und Kirchenorganisation späterer Zeiten beiträgt.

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Zu Ziel und Gebrauch dieses Buches

Gliederung und Textgestaltung sollen das gezielte Nachlesen kürzerer Abschnitte wie auch die ausführlichere Lektüre erlauben; das Register am Ende des Buches ermöglicht ferner den gezielten Zugriff auf einzelne Stichworte. Es war nicht immer möglich, die Informationen zu einem Begriff oder Sachverhalt an einer einzigen Stelle konzentrieren; auch hier bietet das Register eine Hilfe. Damit Erklärungen und Strukturen anschaulich werden, sind Beispiele notwendig. Solche Beispiele finden sich in unterschiedlicher Frequenz im gesamten Buch, oft in Quellenzitaten verdichtet. Meist wurden Beispiele gewählt, aus denen der sozial- oder politikgeschichtliche Bezug erkennbar wird. Kurze frühneuhochdeutsche Quellenzitate sind bewußt nicht dem heutigen Sprachstand angepaßt worden, jedoch sind ggf. Verständnishilfen notiert. Bibelstellen sind nach der Einheitsübersetzung von 1980 zitiert. Die Inhalte dieses Studienhandbuchs sind so zusammengestellt worden, daß sie dem allgemeinen Erkenntnisstand entsprechen, wie er sich in Nachschlageund Standardwerken findet. Darum werden im Regelfall lediglich konkrete Beispiele, Zahlenangaben sowie selbstverständlich Zitate durch Fußnoten belegt.1 Weniger erforschte Themen wie Frömmigkeitsliteratur (Kap. 2.4.), Predigten in ihrer politischen Bedeutung (Kap. 3.8.) und Endzeitvorstellungen (Kap. 8.5.) stellen hier in Grenzen eine Ausnahme dar. In Kap. 9 findet sich eine Auswahl gängiger Überblicks- und Nachschlagewerke als Hinweis für die weitere Lektüre. Das Buch ist auf das lateinische Europa beschränkt, d.h. auf den Raum, der seit dem Frühmittelalter durch die lateinische (Kirchen)sprache kulturell geprägt wurde und in dem sich seit der Glaubensspaltung die vier großen Konfessionskirchen finden: Katholiken, Anglikaner, Lutheraner und Reformierte (Calvinisten). Die Ostkirchen werden nicht berücksichtigt. Auch die überseeische Christentumsgeschichte kommt nur durch gelegentliche Verlängerung des Blickes ins englisch geprägte Nordamerika vor. Ausgeklammert bleibt außerdem weitestgehend der Bereich der religiösen Musik- und Liedkultur.

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Die Fußnotenzählung beginnt in jedem der acht Kapitel neu.

1 Glaube und Kultus der christlichen Kirche(n) Die Entstehung der christlichen Religion und Kirche geht zurück auf Ereignisse, die sich im 1. Jh. n.Chr. im Nahen Osten abspielten. Um das Jahr 30 trat dort in Galiläa, einer Landschaft im Norden des heutigen Staates Israel, ein jüdischer Wanderprediger namens Jesus von Nazaret auf. Er heilte Kranke und verkündete in seinen Predigten den Beginn der Herrschaft des jüdischen Gottes Jahwe, den er als seinen Vater bezeichnete. In Galiläa gewann er Popularität weit über einen engeren Kreis von Jüngern hinaus. Doch sein Anspruch, im Namen Gottes aufzutreten, führte zum Konflikt mit der religiösen und politischen Elite des Judentums; im Gefolge dieses Konflikts wurde er hingerichtet; Soldaten der römischen Garnison in Jerusalem kreuzigten ihn vor den Toren der Stadt. Charismatische Gestalten, die für eine gewisse Zeit eine Anhängerschaft gewannen, waren im Vorderen Orient damals keine Seltenheit. Das lag an den Rahmenbedingungen: Die römische Herrschaft über Judäa und Jerusalem wurde von vielen Juden aus religiösen oder politischen Gründen abgelehnt; es ist nicht erstaunlich, daß die Hoffnung auf das Erscheinen des Messias’, d.h. eines Befreiers des Gottesvolkes, verbreitet war, auf den sich die untrennbar miteinander verbundenen religiösen und politischen Hoffnungen richteten. Doch alle diese charismatischen Gestalten und Bewegungen blieben vorübergehende Erscheinungen. Anders in diesem Fall. Erstaunlicherweise war die Kreuzigung Jesu nicht das Ende seiner Wirkung, sondern erst der Anfang. Im zweiten Teil der Bibel, dem NT, ist die feste Überzeugung der Anhänger Jesu dokumentiert, daß er nicht tot blieb, sondern von Gott auferweckt wurde und lebt. Durch die Auferweckung, so die Überzeugung der Jünger, legitimierte Gott Jesus von Nazaret und seinen Anspruch, im Namen Gottes zu handeln und zu sprechen. In zwei Ehrentiteln, die sie ihm gaben, schlägt sich dieser Glaube vor allem nieder: Christus (griech. christos = Gesalbter, eine Übersetzung des hebräischen Messias) und vor allem „Sohn Gottes“ – dieses Bekenntnis war für die ersten Christen wesentlich. Die mit diesen Titeln verbundene Überzeugung führte binnen weniger Jahrzehnte zur Trennung der Jesus-Anhänger vom Judentum und zur Verbreitung ihres Glaubens über dessen Grenzen hinaus in die hellenistisch geprägte Kultur des Mittelmeerraums. In diesen Ereignissen liegt der christliche Glaube begründet, wie er sich in den nächsten Jahrhunderten entfaltete und bis heute entscheidend geprägt ist. Faßbar wird dieser Glaube keineswegs nur über schriftliche Zeugnisse, sondern auch in Bildern, Liedern, Handlungen; doch stehen in diesem Kapitel die Grundtexte – Glaubensbekenntnis (Credo), Vaterunser und Zehn Gebote (Dekalog) – im Vordergrund.

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Glaube und Kultus der christlichen Kirche(n) | 1

1.1 Das Glaubensbekenntnis (Credo) Der Begriff Credo leitet sich her vom ersten Wort des lateinischen Glaubensbekenntnisses: credo = ich glaube. Der Glaube der ersten Christen ließ sich in einem kurzen Satz zusammenfassen: Jesus ist Sohn Gottes. Schon im 1./2. Jh. aber erwies es sich als sinnvoll, dieses elementare, knappe Bekenntnis in ausführlicheren Glaubensbekenntnissen zu erweitern und zu entfalten. Wer sich der Kirche in ihrer frühen Zeit anschloß, bekannte, ehe er getauft wurde, vor der versammelten Gemeinde, daß er an Christus glaube. Das Glaubensbekenntnis war ein Taufbekenntnis. Eines der ältesten überlieferten Glaubensbekenntnisse ist ein unter dem Namen Romanum bekanntes römisches Taufbekenntnis; es stammt spätestens aus der Mitte des 2. Jhs.1 Es wird hier neben ein anderes Credo gestellt, das Apostolische Glaubensbekenntnis (Apostolicum), wie es heute üblicherweise während des katholischen wie evangelischen Gottesdienstes gesprochen wird. Der Name Apostolicum kommt daher, daß dieses Credo der Legende nach bereits von den zwölf Aposteln formuliert wurde. Der wahre Kern dieser Legende ist, daß es ebenfalls früh entstand; im 5. Jahrhundert lag es in der heute bekannten Fassung vor. Das Romanum (Mitte des 2. Jh.s)

Das Apostolicum (entstanden vom 2. bis 5. Jh.)

Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen,

[Art. 1] Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, [Art. 2] und an Jesus Christus, seinen Sohn, unseren Herrn; empfangen durch den heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria; gelitten unter Pontius Pilatus; gekreuzigt, gestorben und begraben; hinabgestiegen in das Reich des Todes; am dritten Tage auferstanden von den Toten; aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten. [Art. 3] Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige katholische (christliche) Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben.

und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn,

und an den Heiligen Geist, die heilige Kirche, des Fleisches Auferstehung.

Auffällig ist beim Vergleich zunächst: Das Romanum ist sehr knapp gehalten, das Apostolicum deutlich länger. Ebenfalls auf den ersten Blick erkennbar ist eine 1

Zit. nach Bernhard Lohse: Epochen der Dogmengeschichte. Münster – Hamburg (8. Aufl.) 1994, S. 40.

1.1 | Das Glaubensbekenntnis (Credo)

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wichtige Gemeinsamkeit im Aufbau: Beide Bekenntnisse sind in drei Teile gegliedert – Gott, Christus, der Hl. Geist sind Gegenstand des Glaubens (beim Romanum ist wiederum jeder der drei Teile dreigliedrig); üblicherweise werden diese drei Teile als drei Artikel bezeichnet. Ferner ist gleich erkennbar: das Apostolicum ist vor allem wegen des ausführlicheren zweiten Artikels deutlich länger als das Romanum. Wir gehen zunächst auf diesen zweiten Artikel ein.

1.1.1 Der zweite Artikel: Jesus Christus Im zweiten Artikel des Credo wird der Glaube an Jesus als Sohn Gottes in einer Ab- und Aufwärtsbewegung skizziert: Der Sohn Gottes wird Mensch – eine qualitativ kaum zu beschreibende Abwärtsbewegung, die aber mit der Menschwerdung noch nicht zu Ende ist: gelitten, gekreuzigt, gestorben, begraben – eine tiefere Erniedrigung ist für einen Gott nicht vorstellbar. Und dann die Aufwärtsbewegung: Auferstanden, aufgefahren in den Himmel, wieder bei Gott, künftiger Richter der Welt. Diese Ab- und Aufwärtsbewegung ist zentral für das Verständnis Jesu und des christlichen Glaubens; in den christlichen Festen wird sie von Weihnachten über Karfreitag zu Ostern und Christi Himmelfahrt hin nachvollzogen. Wesentlich ist, daß die ersten Christen diese dramatische Abwärts- und Aufwärtsbewegung so verstanden, daß sie selber in sie hineingenommen waren – bis hin zur Auferstehung. Mit dem Glauben an den Erlöser (griech. sotér; ein weiterer frühchristlicher Ehrentitel für Jesus) begann bereits in der irdischen Gegenwart ein neues Leben, das in einer zukünftigen Welt ohne Leid, Schuld, Sünde und Tod vollendet werden würde: Nicht weniger bedeutet das frühchristliche Bekenntnis „Jesus ist Gottes Sohn“! Der Gedanke der Erlösung weist auf ferne Parallelen der christlichen Religion mit den vorderorientalische Mysterien- und Erlösungsreligionen jener Zeit hin. Doch ist unübersehbar, daß der christliche Glaube an die Abwärtsbewegung Gottes für viele Zeitgenossen sperrig und äußerst anstößig war. Der Apostel Paulus formulierte, die Predigt vom gekreuzigten Christus sei für die Griechen, also diejenigen, die von der hellenistischen Kultur geprägt waren, eine „Torheit“ (1 Kor 1,23). Noch drei Jahrhunderte später hielt es der spätere Kirchenvater Augustinus in seiner Jugend „für eine Schande zu glauben, Du [Christus] hättest die Gestalt eines Menschenleibes und wärest von den Umrissen unserer Körperglieder in Grenzen eingeschlossen.“2 Warum diese Ablehnung? Für das griechische Denken war es nicht vorstellbar, daß ein Gott als Mensch geboren wurde, litt, auf grausame Weise zu Tode kam; dazu war die Kreuzigung die Hinrichtungsart für Rebellen und Verbrecher. Der Glaube der ersten Christen war für viele Zeitgenossen nicht nachvollziehbar. Es 2

Augustinus: Bekenntnisse. Aus dem Lateinischen übersetzt von Joseph Bernhart. Frankfurt/M. 2004, S. 140 [Buch 5,10,19]

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Glaube und Kultus der christlichen Kirche(n) | 1

ist darum kein Zufall, daß das Christentum lange Zeit unter den Eliten des römischen Reiches kaum Anklang fand. Es waren vor allem Menschen aus den Unterschichten, die die Kirche bildeten: Sklaven und kleine Leute. Sie zog der Glaube an Jesus Christus, den Gottessohn, an, weil er Mensch wurde, als Mensch lebte, litt und starb, aber nicht im „Reich des Todes“ blieb, sondern auferstand. Mit dem Glauben an ihn war die Hoffnung auf Befreiung von den Übeln dieser Welt und Überwindung des Todes fest verbunden. Die – hier keineswegs vollständig präsentierten – frühchristlichen Ehrentitel Jesu weisen auf unterschiedliche Facetten im Jesusbild der ersten Christen hin. Im Vordergrund stand der Glaube an Christus als den Erlöser, den Heilsbringer: Heil bedeutete Sündenvergebung, Befreiung von lebensfeindlichen Mächten aller Art (für den antiken Menschen gehörten hierzu selbstverständlich die Dämonen, böse Geistwesen), ein neues Leben. Später traten andere Züge des im Credo formulierten Glaubens an Christus stärker hervor – jeweils in Wechselwirkung mit den großen mentalitäts- und sozialgeschichtlichen Entwicklungen. Das Hervortreten dieser verschiedenen Züge läßt sich anhand der Entwicklung der bildlichen Christusdarstellungen verfolgen. Ursprünglich hatte die christliche Kirche Christusbilder als heidnisch abgelehnt. Aber ab dem 3. Jahrhundert wurde Jesus bildlich dargestellt, wobei man stets betonte, daß es nicht um eine realistische Darstellung ging, sondern um die bildliche Übersetzung der im Credo formulierten Glaubenswahrheit. Die wichtigste Darstellung Christi in der Zeit der Frühen Kirche, d.h. bis ins 4./5. Jh. hinein, war die als Guter Hirte: Ein junger Mann trägt ein verletztes oder erschöpftes Schaf auf den Schultern, weitere Schafe befinden sich in seiner Nähe. Mit dieser Darstellung wird angeknüpft an ein Jesuswort aus den Evangelien: „Ich bin der Gute Hirt. Der Gute Hirte gibt sein Leben hin für die Schafe.“ (Joh 10,11) Damit knüpfte man nicht nur an die Kreuzigung und ihre Bedeutung für die Erlösung, sondern auch an außerchristliche, antike Traditionen an. Im Mittelalter trat diese Art der Christusdarstellung zurück. Seit dem 4. Jahrhundert wurde Christus immer öfter als Herr der Welt oder Pantokrator (griech., Allherrscher) dargestellt, oft auf einem Thron, umgeben von den Aposteln, die Füße auf der Erdscheibe oder Erdkugel. Oder er erschien im BrustAbb. 1: Christus als segnender Herr der Welt bild, meist mit Bart, die Rechte seg-

1.1 | Das Glaubensbekenntnis (Credo)

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Abb. 2: Christus als Weltenrichter (Schedel’sche Weltchronik)

nend erhoben, in der Linken das Buch des Lebens, das die Namen der Gläubigen enthielt (Offb 20,12). Auch darin zeigte er sich als Herr der Welt. Der Akzent des Christusbildes verschob sich also vom Guten Hirten, der sein Leben für die Schafe opfert, hin zu einem ehrfurchtgebietenden Herrn. Betont wurde damit der Aspekt des nach Kreuzigung und Auferstehung erhöhten Christus. Dieser Wandel in der Christusdarstellung hatte mehrere Ursachen. Auf dem Konzil von Nicaea im Jahr 325 war ausdrücklich festgehalten worden, daß Christus weseneins mit Gott sei und ihm also die gleiche Verehrung wie Gott-Vater

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Glaube und Kultus der christlichen Kirche(n) | 1

zukomme – dies geschah anläßlich der Auseinandersetzung um Arius (s. Kap. 1.1.3.); dieser Konzilsbeschluß war die theologische Voraussetzung für die Darstellung Christi als Herr der Welt. Aber auch allgemeinhistorische Entwicklungen wirkten sich aus. Mit der offiziellen Anerkennung des Christentums im römischen Reich seit Konstantin d. Gr. und der Erhebung des Christentums zur offiziellen Religion des Imperiums am Ende des 4. Jahrhunderts hatte sich Christus, so deuteten es viele, durchgesetzt: Vorher im Verborgenen wirksam, war er nun öffentlich als Herr der Welt erkennbar – das drückte das Bild des triumphierenden Pantokrators aus! Als bald darauf im 5. Jahrhundert das weströmische Reich samt seiner städtischen Kultur unterging und eine Reihe von Völkerwanderungsreichen entstanden, ging damit insgesamt eine Akzentverschiebung in der christlichen Theologie und Religion einher: Einerseits gab es einen Trend hin zu einfacheren Formen der Frömmigkeit, andererseits verschob sich das Christusbild in eine Richtung, die den Germanen in religiöser Hinsicht vertraut war: Das war eben ein herrschaftlicher Christus. Verwandt mit der Darstellung Christi als Herr der Welt und ebenfalls weit verbreitet war im Früh- und Hochmittelalter die Darstellung Christi als Weltenrichter („zu richten die Lebenden und die Toten“). Das Schwert, das Christus hält, ist das Zeichen des Gerichts, die blühende Lilie das Zeichen der Gnade. Einen deutlich anderen Akzent setzten die Darstellungen, in denen das Leiden Christi am Kreuz im Mittelpunkt stand. Der Gekreuzigte war schon seit der Antike oft dargestellt worden, aber eher herrschaftlich und offenkundig noch lebendig. Die erste abendländische Darstellung des toten Christus am Kreuz stammt erst aus dem 10. Jahrhundert. Ab dem 13. Jahrhundert rückte der leidende und sterbende Christus neben Christus dem Weltenrichter in den Vordergrund der bildlichen Darstellung. Einen Höhepunkt dieser Entwicklung stellt der Isenheimer Altar von Mathias Grünewald von 1513/1515 dar. Durch die Darstellung Christi als Schmerzensmann – mit der Wunde in der Seite, den von Nägeln durchbohrten Händen, der Dornenkrone – wurde die Nähe seines Leidens zum menschlichen Leid betont: Dieser Zug Zug spätmittelalterlicher Frömmigkeit tritt hervor. Die verschiedenen Christusdarstellungen ergänzen einander, z.T. konkurrieren sie auch miteinander. Allesamt aber lassen sie sich auf das Credo zurückführen, wobei die unterschiedlichen Akzente nicht zuletzt in der Unterschiedlichkeit der beiden Medien Text und Bild begründet sind. So besteht seit dem 5. Jahrhundert eine Kontinuität des Bekenntnisses zu Jesus Christus, auf deren Grundlage die Christusfrömmigkeit im Lauf der Geschichte gleichwohl deutliche Veränderungen durchmachte. Das Credo ist fest und flexibel zugleich.

1.1.2 Der erste Artikel: Gott der Vater Vor allem zwei Merkmale unterschieden den aus dem Judentum hervorgegangenen christlichen Gottesglauben wesentlich von den umgebenden Religionen. Das

1.1 | Das Glaubensbekenntnis (Credo)

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eine ist der Monotheismus: „Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben dir“ lautet das erste der Zehn Gebote (s. Kap. 1.4.1.). Daß es nur einen Gott gibt, wurde für den Glauben des alten Israel konstitutiv und so auch für das Christentum. Hier bestand ein wesentlicher Unterschied zur polytheistischen Götterwelt der Antike. Das andere von der religiösen Umwelt der Antike unterscheidende Merkmal ist in der Formulierung enthalten, die am Anfang des Credo steht: „Ich glaube an Gott, den Vater.“ Mit dem Vatertitel wird Gott als personales, liebendes Gegenüber angesprochen – ein markanter Unterschied zu den Gottesbildern der antiken Religionen! Die griechischen Götter kümmerten sich nur soweit um den einzelnen Menschen, wie es ihnen gerade paßte; wer sich von den Göttermythen aufgeklärt distanzierte, begriff das Göttliche im Leben der Menschen als einen eher abstrakten göttlichen Weltgeist. Unerklärlich und unpersönlich waltete auch das fatum (etwa: Schicksal), ein wesentlicher Begriff der römischen Religion, über dem Lebensweg des Menschen. Der germanischen Religion war die Vorstellung eines Gottes als personales Gegenüber, gar Gottes als eines Vaters aller Menschen, ebenfalls völlig fremd. Demgegenüber ist der christliche Gottesglaube gekennzeichnet durch einen „geradezu extreme[...][n] Personalismus, sowohl im Verhältnis zu Gott wie zu den Menschen, gipfelnd in der Forderung der Gottes- und Nächstenliebe“ (ARNOLD ANGENENDT).3 Das personale Element war auch im Judentum enthalten, doch mit dem Bekenntnis zu Gott als Vater ging der christliche Glaube darüber hinaus. Dieser Grundzug des christlichen Gottesverständnisses geht zurück auf Jesus von Nazaret. Nach dem Bericht der Evangelien wurde er von seinen Jüngern gefragt, wie man richtig bete. Als Antwort gab Jesus ihnen das Gebet, das wir als Vaterunser kennen (s. Kap. 1.3.): Gott wird als Vater angeredet, genau genommen sogar in einer vertraulicheren Form von Vater: das aramäische Wort abba ist etwa mit „Papa“ zu übersetzen. So sahen auch die ersten Christen Gott als ihren Vater an. Der Vaterbegriff wurde zentral für das christliche Gottesbild, besonders in der frühen Kirche. Ab der Spätantike vollzog sich eine der bildlichen Darstellung Christi vergleichbare Entwicklung. So wie das Bild des Guten Hirten gegenüber dem Bild von Christus als Herr und Richter zurücktrat, trat neben dem liebenden Vatergott in der christlichen Gottesvorstellung stärker als bisher der über die Sünden der Menschen zornige Gott hervor. Zurück zum Credo. Im Romanum wie im Apostolicum wird Gott als der Allmächtige bezeichnet. Im Apostolicum wird ferner formuliert: Gott ist der Schöpfer der Welt – ein Bekenntnis, daß man in das Romanum noch nicht aufgenommen hatte. Warum wurde in der Spätantike betont, daß der christliche Gott der Schöpfer der Welt sei?

3

Arnold Angenendt: Grundformen der Frömmigkeit im Mittelalter. München 2003, S. 2.

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Alle Hochreligionen setzen sich mit dem Problem auseinander, daß es Gutes und Böses in der Welt gibt. Die Antworten fallen unterschiedlich aus. In manchen wird die Welt als Kampfplatz eines guten Prinzips gegen ein böses Prinzip, eines guten Gottes gegen einen bösen Gott verstanden; werden beide Prinzipien als gleich stark aufgefaßt, spricht man von Dualismus. Im jüdischen und christlichen Glauben wurde dagegen auf der Grundlage der monotheistischen Grundentscheidung betont: Es gibt nur den einen, allmächtigen Gott, er ist Schöpfer der Welt und hat sie sehr gut geschaffen (vgl. Gen 1-2). Damit standen die ersten Christen im Gegensatz zu philosophischen und religiösen Strömungen ihrer Zeit, nach denen nur das Geistige gut, alles Körperliche und Materielle aber böse war; diese Strömungen gewannen im 2. Jahrhundert auch in der Kirche Einfluß. Ab dem 3. Jahrhundert trat der Manichäismus, eine im persischen Raum entstandene, dualistische Religion in Konkurrenz zum Christentum; die Manichäer griffen einzelne christliche Gedanken und Schriften auf, verwarfen aber das AT und namentlich die darin enthaltenen Schöpfungsberichte im Buch Genesis. Ihre Lehre fand gerade unter den gebildeten Schichten des spätrömischen Reiches Anklang. Ein knappes Jahrtausend später, um 1200, vertraten die Katharer dualistische Auffassungen, die in der Ablehnung alles Materiellen und Körperlichen, so auch der Sexualität und Ehe, als böse mündeten. In Auseinandersetzung mit der antiken Abwertung des Körperlichen, Materiellen hielten die Christen im Apostolicum mit dem Bekenntnis „Ich glaube an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde“ fest: Die Natur, das Körperliche ist Gottes Schöpfung und darum gut. Auch wenn das Böse ganz offensichtlich in der Welt vorhanden ist und sie korrumpiert hat, ist der Schöpfergott dennoch stärker. Er ist allmächtig, wie es im Credo heißt. Er erhält die Welt am Leben und – hier tritt der erste Artikel des Glaubensbekenntnisses hinzu – Christus hat das Böse bereits gesiegt, auch wenn das noch nicht offensichtlich ist.

1.1.3 Der dritte Artikel: Gott der Heilige Geist. Das Dogma als Bekenntnis „Ich glaube an den Heiligen Geist“ heißt es im dritten Artikel. Während Christus als menschgewordener Gottessohn, Gekreuzigter, Auferstandener gut faßbar ist und von Anfang an im Zentrum der christlichen Frömmigkeit stand, der Glaube an Gott als den Vater Jesu Christi und Schöpfer der Welt sich zwanglos ergibt, ist der Heilige Geist im Wortsinne unanschaulich, schwierig zu fassen und stand fast ausnahmslos am Rand christlicher Frömmigkeit. Warum erscheint er dennoch im Credo? An dieser Stelle ist ein Exkurs zum Begriff Dogma nötig. Das griechische Wort Dogma im christlichen Sinne meint das Bekenntnis zu einer von Gott offenbarten und durch die Kirche formulierten Glaubenswahrheit. Ein Dogma ist damit zugleich Lehrsatz und Bekenntnis. Normalerweise wird es nicht ohne eine konkrete Auseinandersetzung um das Verständnis des Glaubens formuliert. Die Glau-

1.1 | Das Glaubensbekenntnis (Credo)

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bensbekenntnisse der Frühen Kirche und die ihnen zugrundeliegenden Dogmen sind das Ergebnis von Herausforderungen und Konflikten des 2. bis 5. Jahrhunderts, die sich innerhalb der Kirche abspielten oder von außen an sie herangetragen wurden. Aus ihnen ergab sich die praktische Notwendigkeit, den christlichen Glauben in Dogmen inhaltlich zu klären und begrifflich zu präzisieren. Ein Beispiel. 325 wurde auf dem Konzil von Nicaea durch die Konzilsväter als Dogma festgehalten, daß Jesus Christus wesensmäßig Gott sei, wesenseins mit Gott-Vater. Die Formulierung dieses Dogmas war die Reaktion auf einen Streit. Es richtete sich gegen den Priester Arius und dessen nach ihm Arianer genannte Anhänger, die die Göttlichkeit Christi bestritten. Arius ging es darum, die Einzigkeit Gottes zu wahren, die ihm gefährdet schien, wenn auch Jesus göttlich war. Darum verstand er Christus als eine Art Halbgott, ein vollkommenes Geschöpf – aber eben ein Geschöpf, und als solches keineswegs gleich mit Gott, dem Schöpfer. Die Konsequenz dieser Auffassung war jedoch, daß das Heil fraglich wurde: Nur wenn Jesus Gott war, bedeutete sein Tod tatsächlich die Erlösung vom Bösen – weil allein Gott die Menschen retten kann. Mit der Festlegung auf das Dogma der Wesenseinheit Christi mit Gott endete zwar der Streit noch nicht, aber die Positionen waren geklärt. Auch warf die Festlegung von Nicaea neue Fragen auf: Wie war das Verhältnis von Gott und Christus zu denken, wenn sie beide Gott waren, es aber nur einen Gott gab? Und wie paßte es dazu, daß Jesus zugleich auch Mensch war? Dieses Problem – Jesus einerseits Mensch, andererseits Gott – war bereits seit dem 2. Jahrhundert diskutiert worden. Erst das Konzil von Chalcedon formulierte im Jahr 451 eine Antwort, die sich zwar nicht sofort durchsetzte, auf lange Sicht aber im lateinischen Christentum unangefochten blieb: Christus ist ganz Mensch und zugleich ganz Gott, eine Person in „zwei Naturen“. In menschlicher Natur leidet und stirbt er, in göttlicher Natur heilt er und besiegt den Tod. Das Dogma der zwei Naturen Christi war ein Paradox, wie die Konzilsväter durchaus wußten. Sie haben nicht versucht, dieses Paradox aufzulösen, sondern verstanden ihr Bekenntnis zu den zwei Naturen Christi als eine Annäherung an ein Geheimnis, dessen Beschreibung immer nur unzulänglich bleiben kann. Dogmen als bekenntnishaft formulierte Glaubenswahrheiten, das sei noch einmal betont, entstehen in der Regel aus Konflikten heraus und dienen der Klarstellung, der Positionsbestimmung der Kirche. Aus dem Entstehungskontext heraus erschließen sich Sinn und Bedeutung der jeweiligen Formulierung. Zurück zum dritten Artikel des Credo. Warum wurde der Heilige Geist neben Gott-Vater und Christus gestellt? Wesentlich ist hier die grundlegende Erfahrung der ersten Christen, daß Jesus nach seiner Himmelfahrt, mit der seine Aufwärtsbewegung ihr Ziel erreichte, zwar nicht mehr auf der Erde weilte, sie aber nach den Berichten des Neuen Testamentes dennoch die Erfahrung machten: Er war gegenwärtig. Der Schlüsseltext hierfür ist der Pfingstbericht: „Als der Pfingsttag gekommen war, befanden sich alle [Apostel] am gleichen Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen,

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wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.“ (Apg 2,1-4). Der Heilige Geist wird hier als eine vom Himmel, d.h. von Gott gesandte Kraft beschrieben, die die Apostel zur Predigt befähigt; daß sie den Mut haben, dies öffentlich tun ist angesichts ihrer mangelhaften Bildung und der noch keine zwei Monate zurückliegenden Kreuzigung Jesu ebenso erstaunlich wie die Tatsache, daß man sie über Sprachbarrieren hinweg versteht. Für den Autor der Apostelgeschichte war beides ein deutliches Zeichen der Gegenwart des Geistes Gottes, der sie mit Christus verband. Der Heilige Geist war demnach für die ersten Christen die stellvertretend für Christus gegenwärtige und wirksame Kraft Gottes; er ist in der Kirche wirksam, die nicht zufällig im dritten Artikel in einem Atemzug mit dem Geist bekannt wird. Heilig, also Gott zugehörig, ist die Kirche durch Gottes Geist; nur durch ihn sind „Gemeinschaft der Heiligen“ und Glauben möglich. Im Anschluß an die Pfingstgeschichte wird der Heilige Geist als Flamme dargestellt, häufiger aber noch als Taube. Die Darstellung des Geistes als Taube geht zurück auf den Bericht von der Taufe Jesu im Jordan durch Johannes den Täufer: „Kaum war Jesus getauft und aus dem Wasser gestiegen, da öffnete sich der Himmel, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube auf sich herabkommen.“ (Mt 3,16) Wie das Verhältnis zwischen GottVater, Christus und dem Geist genauer zu verstehen sei, wurde vor allem im 4. Jahrhundert durchdacht und kontrovers diskutiert. Am Ende stand im Jahr 381 auf dem Konzil von Konstantinopel das Dogma von der Trinität (lat. trinitas = Dreieinigkeit, Dreifaltigkeit): Gott-Vater, Christus und der Heilige Geist sind Abb. 3: Der Hl. Geist als Taube und das Pfingstwundanach verschiedene Personen, aber der, Nachzeichnung

1.2 | Der Katechismus

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wesensgleich und insofern drei-einig. In diesem Zusammenhang wurde ein Credo formuliert, daß unter der Bezeichnung Nizäno-Konstantinopolitanum in die Geschichte einging; es ist im Vergleich zum Apostolicum ausführlicher und präziser in Bezug auf das Verständnis Christi und der Trinität. Vielfach tritt es während der Gottesdienste an den christlichen Hochfesten Ostern und Pfingsten an die Stelle des Apostolicums. Auf Einzelheiten der christlichen Trinitätslehre muß hier nicht eingegangen werden; wesentlich ist, daß man an der monotheistischen Grundlage des christlichen Gottesbildes festhielt und innerhalb der Trinität keine Hierarchie, sondern eine Gleichwertigkeit betonte. Diese Gleichwertigkeit wird durch das christliche Symbol der Dreieinigkeit, das gleichseitige Dreieck, verdeutlicht.

1.2 Der Katechismus: Vermittlung des Glaubens und der Normen des Zusammenlebens Der christliche Glaube, dessen Kern im Credo formuliert ist, wurde und wird auf verschiedene Weise vermittelt: durch Gesang, Musik, Bilder, Kirchenbau, Predigt. Auch die Nächstenliebe als vorgelebter Glaube ist hier zu nennen – von Almosen und Hospitälern wird noch die Rede sein (Kap. 7.7.). Hinzu treten ferner als schriftliche Medien der Glaubensvermittlung die Bibel oder Bibelteile in den Volkssprachen (Kap. 2.2.), Andachts- und Erbauungsliteratur (Kap. 2.4.) und schließlich der Katechismus: um seine Bedeutung für die Glaubensvermittlung und in Bezug auf den gesellschaftlichen und politischen Alltag geht es hier.

1.2.1 Inhalt, Didaktik und Nutzung des Katechismus’ Als Katechismus bezeichnet man ein Werk, in dem die wichtigsten Inhalte des christlichen Glaubens zum Zweck der Katechese (griech. katechesis = Lehre, Unterricht) zusammengefaßt sind: Credo, Vaterunser, Dekalog, oft auch eine Erklärung der Sakramente u.a.m. Die Rolle des Katechismus’ bei der Glaubensvermittlung und darüber hinaus bei der Normierung und Deutung gesellschaftlicher Wirklichkeit steht hier im Mittelpunkt. Vorweg sei noch bemerkt, daß es bebilderte Katechismen sowie Katechismuslieder gab, also Lieder, in denen Teile des Katechismus’ in Medodien gefaßt waren. Katechismen gab es in der frühen Kirche noch nicht, wohl aber Katechese. Diejenigen Erwachsenen, die Christen werden wollten und daher um die Taufe baten, wurden im christlichen Glauben unterrichtet. Die Katechese dauerte etwa drei Jahre, am Ende stand eine Prüfung; gleichzeitig hatten sich die Katechumenen im Lebensalltag zu bewähren: Besuchten sie Kranke, gaben sie Almosen? Am Ende des Katechumenats stand die Taufe. Als das Christentum ab dem 4. Jh. von einer Minderheits- zur Mehrheitsreligion im Römischen Reich

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wuchs, ging in den Wirren der Völkerwanderungszeit die frühkirchliche Katechese als Taufunterricht zurück und weitgehend verloren. Die Folge war, daß viele Christen im Frühmittelalter kaum Kenntnisse des Glaubens hatten, auf den sie getauft worden waren. Und die meisten Geistlichen waren wegen mangelnder theologischer Bildung, nicht in der Lage, daran etwas zu ändern. Aus dem Versuch, diesen Zustand zu verbessern, gingen die ersten Katechismen hervor. Sie entstanden im 8./9. Jahrhundert im Zuge der Karolingischen Kirchenreform und dienten zunächst den Geistlichen als Handreichung, damit sie die Laien unterweisen konnten. Das Ziel war es, mit Hilfe des Katechismus’ jedem Christen wenigstens das Vaterunser und das Credo vertraut zu machen. Weitere Bemühungen, den Getauften den Kern ihres Glaubens zu vermitteln, folgten im Hoch- und Spätmittelalter. So wurden die Katechismen umfangreicher: Seit dem 13. Jahrhundert zählten die Zehn Gebote zum Katechismus; auch das Ave Maria kam hinzu, oft auch eine Aufzählung der Sieben Werke der Barmherzigkeit, der Sieben Tugenden und der Sieben Todsünden (s. Kap. 7.5.). Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden immer mehr Katechismen und ihre Zielgruppe erweiterte sich: Die meisten wurden in den Volkssprachen verfaßt, dienten also nicht nur den Geistlichen als Leitfaden, sondern auch der häuslichen Nutzung durch lesefähige Laien. Zugleich wurden die didaktischen Bemühungen intensiviert: Viele Katechismen enthielten Bilder, Exempla (Beispielgeschichten, von lat. exemplum = Beispiel) und wurden in Reime gefaßt. Der seit Gutenberg praktizierte Buchdruck mit beweglichen Lettern förderte seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine noch weitere Verbreitung der im Vergleich zur Bibel meist deutlich schmaleren und folglich erschwinglichen Katechismen. Die Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts führte dazu, daß die im 15. Jahrhundert gewachsene Zahl von Katechismen weiter zunahm, damit der nun konfessionell formulierte Glaube vermittelt werde. Es ist kein Zufall, daß die im deutschsprachigen Raum der frühen Neuzeit am meisten verbreiteten Katechismen fast gleichzeitig mit den Konfessionskirchen entstanden: Martin Luthers Kleiner Katechismus von 1529; in der katholischen Kirche der Kleine Katechismus des Petrus Canisius SJ († 1597) von 1558, der noch zu dessen Lebzeiten 233 Mal aufgelegt wurde; in den reformierten Landeskirchen schließlich der Heidelberger Katechismus von 1563. Der Aufbau dieser Katechismen war verschieden, auch die inhaltlichen Unterschiede sind nicht zu übersehen: Überall aber finden sich Credo, Dekalog, Vaterunser und eine Erklärung der Sakramente. Das Kennzeichen zwar nicht aller, aber der meisten Katechismen seit dem 11./12. Jahrhundert ist die dialogische Form, die einander abwechselnde kurze Frage und Antwort. So wird z.B. ein Gebot zuerst genannt, danach wird gefragt, was darunter zu verstehen ist, und hierauf folgt die mehr oder weniger ausführliche Erläuterung. Ein Beispiel aus Luthers Kleinem Katechismus:

1.2 | Der Katechismus

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Erklärung des Vierten und Fünften Gebotes in Luthers Kleinem Katechismus (1529)4 Das Vierde [Gebot]: Du solt deinen vater und deine mutter ehren. Was ist das? Antwort: Wir sollen Gott fürchten und lieben, das wir unsern Elltern und herrn nicht verachten noch erzürnen, sondern sie ynn ehren halten, yhn dienen, gehorchen, [sie] lieb und werd haben. Das Fünffte [Gebot]: Du solt nicht tödten. Was ist das? Antwort: Wir sollen Gott fürchten und lieben, das wir unserm nehisten an seinem leib keinen schaden noch leyd thun, sondern yhm helffen und foddern ynn allen leibs nöten. Die Präsentation des Glaubenswissens in der Frage-Antwort-Struktur des Katechismus erleichtert es den Wortlaut zu memorieren und den Inhalt zu erfassen. Vom Spätmittelalter bis ins 19./20. Jahrhundert hinein war der Katechismus für die meisten Christen das wichtigste schriftliche Medium der Glaubensvermittlung; wir treffen ihn nicht nur in der Kirche, sondern auch in den Schulen und Häusern an. In der Kirche spielte er selbstverständlich die zentrale Rolle, weil im Katechismus eben die Kernstücke christlichen Glaubens und christlicher Lebensführung zusammengefaßt waren und er damit für die Katechese durch den Geistlichen oder den Küster die Grundlage darstellte. Die einzelnen Teile des Katechismus’ wurden vorgelesen, mehr oder weniger ausführlich erläutert, vorgesprochen und nachgesprochen, auswendig gelernt und abgefragt. Diese Unterweisung im Katechismus richtete sich im Spätmittelalter wie in der beginnenden Neuzeit keineswegs nur an Kinder und Jugendliche, sondern auch an Erwachsene, vor allem an das Gesinde, also die abhängigen Arbeitskräfte. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert aber wurden als Adressaten des Katechismusunterrichts, der in der katholischen Kirche Christenlehre hieß, nur noch die Heranwachsenden verstanden. Hinzu kam die Katechismuspredigt, die sich wohl vor allem an das Gesinde richtete. Viele evangelische Kirchenordnungen des 16./17. Jh.s sahen für den Sonntagmorgen, vor dem sonntäglichen Hauptgottesdienst, eine solche Katechismuspredigt vor, oft auch für den Sonntagnachmittag und an weiteren Wochentagen. Luther hatte im Gefolge spätmittelalterlicher Prediger seit 1516 regelmäßig Predigtreihen über den Katechismus gehalten und wurde darin Vorbild im evangelischen Bereich. Bis um 1700 waren Katechismuspredigten offenbar sehr verbreitet, in der Mitte des 18. Jahrhundert fanden sie unter dem Einfluß der Aufklärung weitgehend ein Ende. Neben den Predigtgottesdiensten, die ausdrücklich den Katechismus zum Thema hatten, wurde vielfach auch im Hauptgottesdienst ein Abschnitt des Katechismus’ verlesen, also z.B. das Glaubensbe4

WA 30/1, S. 286.

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kenntnis samt Erklärung. Nach einer Ordnung der Pommerschen Kirche von 1568 war vorgesehen, daß Luthers Kleiner Katechismus innerhalb von zehn aufeinanderfolgenden Sonntagen vorzulesen war, um danach am Anfang wieder zu beginnen.5 Das didaktische Prinzip der ständigen Wiederholung, damit „den Text des Catechismi [...] jederman lerne und behalte“6, galt selbstverständlich auch in der Schule, wo eine im Lauf der Neuzeit zunehmende Zahl von Gläubigen dem Katechismus begegnete. Vielfach lernten die Kinder anhand seiner Texte lesen und schreiben; für die höheren Klassen wurden eigens anspruchsvollere und ausführlichere Katechismen verfaßt. Der nach Kirche und Schule dritte Ort, an dem der Katechismus verwendet wurde, war das Haus. Hier sollte der Katechismus einerseits den Eltern dabei dienen, ihre Kinder im christlichen Glauben zu unterrichten; andererseits war er als Grundbuch christlichen Glaubens für alle gedacht, Eltern, Kinder, Gesinde. In einer bücherarmen Zeit, in welcher der Erwerb und die Lektüre von Bibeln und Andachtsliteratur oft über die finanziellen Möglichkeiten hinausging, gehörten Katechismen zu den am meisten verbreiteten Druckwerken überhaupt. Besonders in den lutherischen Kirchen des römisch-deutschen Reiches und Skandinaviens wurde Luthers Kleiner Katechismus gleichsam die Laienbibel. Das stimmte durchaus mit den Intentionen des Reformators überein, denn im Kleinen Katechismus sei „alles was eym Christen nott ist zu wissen, grundlich [...] begriffen.“7 Das im Katechismus zusammengefaßte Grundwissen wurde folglich in vielen deutschen und skandinavischen Kirchenordnungen verlangt, um zu Abendmahl und Eheschließung zugelassen zu werden. Und wenn aus den verschiedenen Regelungen auch nicht ohne weiteres auf ihre Einhaltung geschlossen werden kann, so wird an ihnen doch deutlich, welche zentrale Rolle dem Katechismus für die Glaubensvermittlung während der frühen Neuzeit beigemessen wurde. Daß dabei im lutherischen Bereich der Kleine Katechismus von 1529 eine dominierende Rolle spielte und ab 1580 sogar den Bekenntnisschriften zugerechnet wurde, lag nicht nur an der sprachlichen Qualität und theologischen Präzision des Werkes, sondern auch am Ansehen Luthers. Zusammengenommen führte dies dazu, daß wesentliche Teile seines Kleinen Katechismus’ bis ins 20. Jh. hinein im Wortlaut auswendig gelernt wurden. Das hatte gar nicht in der Absicht des Reformators gelegen – er wollte sein Werk lediglich als Modell verstanden wissen, nicht als wortwörtlich zu memorierenden Text.

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Norbert Buske: Katechismusfrömmigkeit in Pommern. Spätmittelalterliche niederdeutsche Reimfassungen der Zehn Gebote aus dem Bereich des pommerschen Bistums Cammin und die in Pommern gültigen Fassungen von Martin Luthers Kleinem Katechismus. Schwerin 2006, S. 36f. Ebd, S. 37. WA 7, S. 204.

1.2 | Der Katechismus

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Am Prinzip des Auswendiglernens und Abfragens entzündete sich auch Kritik, bereits im 16. Jh. und vermehrt seit etwa 1700. Der Vorteil des Auswendiglernens, die Möglichkeit der Verinnerlichung (vgl. „to learn by heart“!), liegt ebenso auf der Hand wie der mögliche Nachteil, daß zwar der Wortlaut, nicht jedoch der Sinn erfaßt wird. Ein Handbuch zur Katechese von 1708 faßt diese Kritik in folgende Szene. Eine Mutter bringt ihre Tochter, ein Vater seinen Sohn zum Geistlichen, damit er sie prüft, ehe sie zum Abendmahl zugelassen werden. Beide Eltern haben ihre Kinder vorher den Katechismus gelehrt. Aber der Pastor ist mißtrauisch: „,Ihr habt euren Kindern Worte beygebracht, ohne Verstand und Krafft.‘“ Tatsächlich zeigt sich: Die Kinder können zwar alles hersagen, aber auf die Verständnisfragen nicht antworten – „‚Meine Mutter hat mich so nicht gefraget,‘“ entschuldigt sich das Mädchen. Darauf der Pastor: „‚Wärst du ins Examen [d.h. zur öffentlichen Katechese durch den Geistlichen] gekommen, so würdest du den Verstand [= Verständnis] der erlernten Worte auch vernommen haben.‘“ Darauf die Mutter: „‚Wir sind einfältige Leute, die das nicht verstehen.‘“ Und der Vater bringt ein offenbar gängiges Argument gegen den Besuch der öffentlichen Katechese vor: „‚Da geht [...] viel Zeit drauf, wir brauchen unsere Kinder nöthiger‘“, d.h. als Arbeitskraft.8 In dieser Szene deuten sich die Grenzen der Glaubensvermittlung durch den Katechismus an: nicht nur das Memorieren ohne Erfassen des Sinns, sondern auch das oft beklagte Fernbleiben vom Katechismusunterricht. Tatsächlich kann vom Text der Kirchenordnungen wie bei anderen normativen Quellen nicht ohne weiteres auf ihre Verwirklichung geschlossen werden. Gleichwohl: Unter den schriftlich verfügbaren Medien der Glaubensvermittlung dürfte vom 14. bis 19. Jahrhundert die größte Breitenwirkung von den Katechismen ausgegangen sein. Es ist unwahrscheinlich, daß die intensivierte Verbreitung und Nutzung der Katechismen seit dem 15./16. Jahrhundert auf Dauer folgenlos blieb. Anders gewendet: Das, was der durchschnittliche Laie vom Glauben wußte, verdankte er vor allem dem Katechismus und dessen Auslegung und Lektüre in Kirche, Schule und Haus. Auch wer die Normen des Katechismus’ verletzte, dürfte sie in der Regel gekannt haben. Es muß aber offen bleiben, in welchem Verhältnis die kognitive Erfassung des Glaubens durch Wort und Schrift zu anderen Ebenen der Vermittlung und Erfassung wie Musik, Gesang und Bild stand.

1.2.2 Die Eltern ehren: Katechismus und Gesellschaftsordnung Trotz dieser Einschränkungen kann die Bedeutung des Mediums Katechismus für die Kenntnis christlicher Normen in Europa bis ins 19./20. Jahrhundert hinein wohl kaum überschätzt werden. Sie waren bezogen auf das Alltagsleben und die zwischenmenschlichen Beziehungen. So ist der Katechismus nicht nur für 8

Zit. nach Christoph Bizer: Katechetik. In: TRE 17 (1988), S. 686-710, hier S. 688f.

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das Verständnis christlicher Frömmigkeit und Ethik von Bedeutung, sondern auch als Quelle gesellschaftlicher Werte. Ein Beispiel hierfür ist die Behandlung des Vierten Gebotes im „Großen Seelentrost“, einem Katechismus aus der Mitte des 14. Jahrhunderts, der im nordwest- und mitteldeutschen Bereich sowie in den Niederlanden weit verbreitet war.9 Erklärung und Beispielerzählung zum Vierten Gebot im niederdeutschen Katechismus „Großer Seelentrost“ (Mitte 14. Jh.) 2 Lieber Vater, ich bitte dich im Namen Gottes, unseres Herrn: lehre mich, was das vierte Gebot ist. Liebes Kind, das will ich dich gerne lehren, damit du Gott für mich bittest. Das vierte Gebot lautet so: Mensch, du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren. Dies sollst du als erstes dazu hören: Du sollst ihnen gehorsam sein und sollst ihnen fleißig dienen. Du sollst Ehrfurcht vor ihnen haben und sie niemals mit etwas betrüben. Gott hatte im Alten Testament befohlen: wenn ein Mann ein Kind hat, das ihm ungehorsam oder widersetzlich war, daß er es vor Gericht bringe und anklage; [...]. Dann tötete man die ungehorsamen Kinder [...]. In unserer Zeit tötet ein ungehorsames Kind seine Seele selbst; denn das Kind, das seine Eltern betrübt und ihnen ungehorsam ist in angemessenen Dingen, das begeht eine Hauptsünde und tötet seine Seele. Davon will ich dir ein Gleichnis sagen … [Im Anschluß folgen mehr als 30 Beispielerzählungen zur Veranschaulichung des Gebotes. Eines dieser Exempla zum Vierten Gebot lautet wie folgt:] Es war ein guter Mann, der hatte einen Sohn. Dem gab er eine Frau und gab ihm all seinen Besitz und blieb mit ihm in dem Haus wohnen. Am Anfang behandelte der Sohn den Vater sehr gut. Danach aber gab er ihm das Brot, das die Knechte bekamen und dünnes Bier. Und er befahl ihm, auf das Feld zu gehen und zu pflügen, denn er wollte ihn nicht am Herd sitzen haben. Eines Tages kam der Vater müde vom Acker zurück und der Sohn saß bei seiner Frau und aß. Als er den Vater sah, gab er ihm dünnes Bier zu trinken und grobes Brot zu essen und befahl ihm, wieder zu gehen. Als der Vater gegangen war, ging er an die Truhe und wollte eine Schüssel herausnehmen. Da sprang ein großer,

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Der Große Seelentrost weicht allerdings insofern von den meisten anderen Katechismen ab, als erstens i.W. nur die 10 Gebote erläutert werden; zweitens überwiegen rein quantitativ die Exempla, die Beispielerzählungen zur Erläuterung der Gebote (Der große Seelentrost. Ein niederdeutsches Erbauungsbuch des vierzehnten Jahrhunderts. Hgg. von Margarete Schmitt. Köln – Graz 1959, S. 9*. 136f*). Ebd., S. 126; hochdt. Übertragung V.S.

1.2 | Der Katechismus

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breiter Wurm heraus und sprang dem Sohn unter die Augen und bedeckte das ganze Gesicht und biß sich so fest mit seinen Klauen, das ihn keiner entfernen konnte. Da schickte man einen Boten zum Schmied, damit der den Wurm mit seiner Zange abreiße. Als der Schmied in das Haus kam, da sah sich der Wurm um und sah den Sohn so grimmig an, daß der vor Angst zu Boden fiel und sprach: Das ist kein Wurm, das ist der böse Feind [...]. Also blieb er jämmerlich liegen und zwar so lange, bis er starb. Liebes Kind, laß dir das eine Lehre sein. Hast du Eltern, gib ihnen gerne, was sie nötig haben. Hast du Kinder, so gib ihnen nicht den ganzen Besitz. Gib deinen Kindern so, daß du selbst den besten Teil behältst. Laß dir also lieber sein, daß sie dich brauchen als daß du sie brauchst. Denn die sind Narren, die ihren Kindern zu viel geben, so daß sie selber nichts mehr haben. An der Beispielgeschichte wird klar: Das Gebot, die Eltern zu ehren, meint nicht so sehr die kleinen Kinder oder Jugendlichen; vor allem sind die erwachsenen Kinder gemeint, die ihre altgewordenen Eltern ehren sollen. Das führt mitten hinein in den sozialen Alltag der Vormoderne. Wer einen Hausstand gründen, also heiraten wollte, mußte in der Regel ein entsprechendes Vermögen oder Einkommen haben. Das bedeutete vielfach: Der in die Jahre gekommene Bauer ging auf das Altenteil, der Handwerkermeister gab seine Werkstatt auf, jeweils zugunsten des erwachsenen Kindes. Das enge Zusammenwohnen der Generationen im gleichen Haus oder auf demselben Grundstück sowie die oft knappen wirtschaftlichen Ressourcen konnten zu Streit führen. Das Exemplum geht also auf eine den Lesern und Hörern vertraute Lebenssituation ein: Auf sie wird das Vierte Gebot bezogen und lebensklug ausgelegt. Auch andere alltägliche Gegebenheiten im Verhältnis zwischen erwachsenen Kindern und altgewordenen Eltern wurden durch die Katechismen im Zusammenhang des Vierten Gebotes angesprochen. In einem katholischen Katechismus aus der Mitte des 16. Jahrhunderts werden etwa die Kinder in der Auslegung des Gebotes dazu aufgefordert, die „alt oder arm“ gewordenen Eltern zu versorgen. „Wann sie aber anfahen [= anfangen] irrig oder wunderlich zu werden, sie mit gedult tragest.“11

1.2.3 Die Christliche Haustafel Beim Katechismus als Grundlage gesellschaftlicher Normen ist zum Abschluß noch die Christliche Haustafel zu erwähnen, die sich in Luthers Kleinem Kate11

Catechesis des Mainzer Weihbischofs Michael Helding, zuerst 1549 erschienen, in der zweiten Auflage von 1557 abgedruckt in: Katholische Katechismen des sechzehnten Jahrhunderts in deutscher Sprache. Hgg. von Christoph Moufang. Mainz 1881, ND Hildesheim 1964, S. 365-414, hier S. 387.

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Glaube und Kultus der christlichen Kirche(n) | 1

chismus findet und inhaltlich eng an das Vierte Gebot anschließt. Die Haustafel ist eine kurzgefaßte christliche Sozialethik; sie besteht fast ausschließlich in einer Zusammenstellung von Versen des Neuen Testaments, die Verhaltensanweisungen für Geistliche, Eheleute, Eltern und Kinder, Witwen, Hausfrau und –herr, Gesinde und Untertanen enthält. Der Ursprung der Haustafeltexte liegt wahrscheinlich u.a. in der antiken Weisheitsliteratur, die im NT christlich umgestaltet wurde. Im Mittelalter waren die Haustafeln in der Katechese und Predigt wenig beachtet und verwendet worden. Luther hielt sie für wertvoll und nahm sie in den Anhang seines Kleinen Katechismus’ auf (im Anschluß an Luther finden sich die entsprechenden Bibelverse auch im Heidelberger Katechismus). Die Überschrift, unter die er die Bibeltexte stellte, macht seine Beweggründe deutlich: „Die Haußtafel etlicher sprüche fur allerley heilige orden und stende, dadurch die selbigen als durch eigen lection yhres ampts und diensts zu ermanen.“ Es geht also um die in der Gesellschaft bestehenden Stände mit ihren jeweiligen Aufgaben, zu deren Wahrnehmung sie durch die Bibelverse ermahnt werden sollen. Wenn Luther sie als „heilige orden und stende“ bezeichnet, liegt darin eine reformatorische Pointe: nicht nur der geistliche Stand ist heilig, auch können etwa die geistlichen Orden keine besondere Heiligkeit beanspruchen; vielmehr war nach Überzeugung des Reformators jeder Stand und jeder Mensch zum Dienst für Gott und den Nächsten berufen und insofern „heilig“. Wie sahen die gesellschaftlichen Normen der Haustafel aus? Als Beispiel sei Eph 6,5-9 genannt, ein Bibelabschnitt, der auch in Luthers Kleinem Katechismus von 1529 für das Verhältnis von Gesinde und Herren als Norm herangezogen wurde. Epheser 6, 5-9 Ihr Sklaven, gehorcht euren irdischen Herren mit Furcht und Zittern und mit aufrichtigem Herzen, als wäre es Christus. Arbeitet nicht nur, um euch bei den Menschen einzuschmeicheln und ihnen zu gefallen, sondern erfüllt als Sklaven Christi von Herzen den Willen Gottes! Dient freudig, als dientet ihr dem Herrn und nicht den Menschen. Denn ihr wißt, daß jeder, der etwas Gutes tut, es vom Herrn zurückerhalten wird, ob er ein Sklave ist oder ein freier Mann. Ihr Herren, handelt in gleicher Weise gegen eure Sklaven! Droht Ihnen nicht! Denn ihr wißt, daß ihr im Himmel einen gemeinsamen Herrn habt. Bei ihm gibt es kein Ansehen der Person. Ausgehend von der sozialen Realität des 16. Jahrhunderts ist die hierarchische Gliederung der ständischen Gesellschaft der Ausgangspunkt der Haustafel: Selbstverständlich gibt es Knechte und Herren. Das Interesse gilt der Gestaltung dieses Verhältnisses. Die Knechte werden auf das Beispiel Christi verwiesen; so wie er sollen sie ihren Dienst tun und ihren Lohn von Gott erhalten. Die Herren

1.3 | Das Vaterunser

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ihrerseits werden daran erinnert, daß ihre Herrschaft durchaus begrenzt ist: vor Gott gibt es weder Herren noch Knechte. Damit die Gesellschaft insgesamt existieren kann, müssen beide Seiten ihre Pflicht tun. So wird die hierarchische ständische Ordnung einerseits fraglos bestätigt und dadurch legitimiert; andererseits sind Befehl und Gehorsam auf eine Ebene gehoben, die beide Seiten verpflichtet: „Tut euren Dienst mit gutem Willen“, wird den Knechten gesagt, „tut ihnen gegenüber das gleiche“, hören die Herren; in lutherischen Predigten über die Haustafel werden sie häufig ermahnt, ihre Herrschaftsstellung nicht zu mißbrauchen, nicht als „Tyrannen / Wütrich / greulicher als löwen / Wölf vnd Beeren“ mit dem Gesinde umzugehen, sondern mit „Freundlichkeit / Sanfftmuth / Glimpf vnd Bescheidenheit.“12 Schließlich wird die Herrschaftsgewalt deutlich relativiert: die Herren sind Gott untergeordnet. Wir wissen nicht, welches der drei auch in den anderen Teilen der Haustafel enthaltenen Grundelemente – Bestätigung der gesellschaftlichen Ordnung; gegenseitige Verpflichtung; Relativierung der sozialen Hierarchie durch Verweis auf die Herrschaft Gottes – wichtiger war. Möglicherweise lag in den Krisenzeiten des 17. Jahrhunderts der Akzent vor allem auf der Legitimation von Herrschaft.13 Sicher ist, daß viele Angehörige der Bildungseliten des 15. bis 17. Jahrhunderts ihre Gegenwart als von Auflösung der ständischen Ordnung und Chaos bedroht erlebten; daher könnte der Hauptakzent auf der Bekräftigung der ständischen Ordnung gelegen haben. Doch blieben die anderen Elemente erhalten: Wir finden alle drei in Predigten, die bis ins 19. Jahrhundert hinein oft über die Haustafel gehalten wurden.

1.3 Das Vaterunser An die Bedeutung des Credo reicht das Vaterunser heran. Es geht zurück auf die Evangelien, in denen Jesus seinen Jüngern ein Mustergebet gab (Mt 6,913).

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13

So der Lutheraner Cyriakus Spangenberg (1528-1604), zit. nach Julius Hoffmann: Die ‚Hausväterliteratur‘ und die ‚Predigten über den christlichen Hausstand‘. Lehre vom Hause und Bildung für das häusliche Leben im 16., 17. und 18. Jhdt. Weinheim a.d.B. – Berlin 1959, S. 172. So Renate Dürr: Herrschaft und Ordnung. Zum Stellenwert normativer Literatur für sozialhistorische Forschungen. In: Geschlechterperspektiven. Forschungen zur Frühen Neuzeit. Hgg. von Heide Wunder. Königstein/Ts. 2009, S. 337-347. hier S. 346.

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Glaube und Kultus der christlichen Kirche(n) | 1

Das Vaterunser (nach Mt 6,9-13) Anrede 1. Bitte 2. Bitte 3. Bitte 4. Bitte 5. Bitte 6. Bitte 7. Bitte Lob

Unser Vater im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

Das Vaterunser gliedert sich in drei Teile: Anrede, sieben Bitten und abschließendes Lob. Von der Bedeutung der Vatermetapher für das Christentum war bereits die Rede (Kap. 1.1.2.). Sie war nicht nur unmittelbar verständlich, weil sich jeder unter einem Vater etwas vorstellen konnte, sondern sollte auch das Vertrauen zu Gott ausdrücken. Zur Anrede Gottes als Vater werden die Jünger durch Jesus im einleitenden Vers 8 ausdrücklich aufgefordert und dem folgten auch die Ausleger des Vaterunsers. Als Nikolaus von Kues († 1464), vielleicht der bedeutendste Theologe des 15. Jh.s, einmal über das Vaterunser predigte, beantwortete er die Frage, warum das Gebet mit „Vater“ anfange, so: „Weil ein Vater nichts abschlägt.“14 Die Anrede wurde namengebend für das Gebet: Pater noster im Lateinischen, Vaterunser im Deutschen und ähnlich in vielen anderen Sprachen. Eine andere Bezeichnung für das Vaterunser ist Gebet des Herrn (lat. oratio dominica), weil es eben von Jesus stammt. Die sieben Bitten machen den zweiten Teil aus. Die ersten drei sind primär bezogen auf Gottes Wirken in der Welt, die vierte auf das tägliche Auskommen – ergänzend wurde das „tägliche Brot“ in der Auslegungsgeschichte des Vaterunsers aber auch auf andere lebensnotwendige Dinge und auf die geistliche Nahrung des Menschen bezogen, dazu auf die Sorge für den Nächsten: „Als [= wenn] du got bittes[t] vmb ‚vnser deglichs broet‘, das dan sulch broet, das got gifft, nit dyn allein sunder vnser is, der die des nae [= außer] dir bedorffen,“ formulierte Nikolaus von Kues in einer anderen Predigt.15 In den letzten drei Bitten geht es um die ethische Gestaltung des Alltags. 14

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Cusanus-Texte I. Predigten. 6. Auslegung des Vaterunsers in vier Predigten. Hgg. von Josef Koch und Hans Teske. Heidelberg 1940 (Sitzungsberr. der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philos.-Hist. Klasse, Jgg. 1938/1939, 4. Abh.), S. 131. Ebd., S. 70.

1.3 | Das Vaterunser

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Das abschließende Lob Gottes ist in den ältesten Evangelienhandschriften nicht enthalten, war aber offenbar schon am Anfang des 2. Jahrhunderts als Abschluß des Vaterunsers üblich. Das Vaterunser gehörte schon sehr früh zum Kern christlicher Frömmigkeit, nach einer Kirchenordnung aus dem syrisch-palästinensischen Raum aus der ersten Hälfte des 2. Jh.s, sollte es dreimal täglich gebetet werden. In der Spätantike wurde es in die Liturgie des Gottesdienstes aufgenommen. Damit verlor es notwendigerweise den ursprünglichen Charakter als Mustergebet, gewann aber dafür die Stellung des christlichen Gebetes schlechthin. Während der karolingischen Kirchenreform in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts wurden das Credo und das Vaterunser ausdrücklich neu in die Volkssprache übersetzt: Jeder Laie sollte diese beiden Grundtexte christlichen Glaubens während der Meßfeier verstehen und hier wie außerhalb der Kirche beten können, jeder Geistliche sollte Credo und Vaterunser auslegen können. Soweit wir etwas über die Gebetspraxis der Laien bis in die Neuzeit hinein wissen, spielte das Vaterunser tatsächlich eine zentrale Rolle. Es diente als Tischgebet ebenso wie als Morgengebet nach dem Erwachen: „Das erst, so du auff staust [= stehst], so mach ain crütz vor dir und bett ain Pater noster [...], stand nit uff als ain ku und als ain vich, di sich nit segnent,“ lehrte der Dominikaner Johannes Nider (1380-1438).16 Auch bei einem wesentlichen Phänomen der Gebetsfrömmigkeit von Geistlichen wie Laien, der wiederholenden, meditativen Aneinanderreihung von Gebeten, war das Vaterunser neben dem Ave Maria wesentlich. Der Name dieses Mariengebetes leitet sich von den ersten beiden Worten her, mit denen der Erzengel Gabriel Maria grüßt, als er ihr ankündigt, sie werde schwanger werden und den Sohn Gottes gebären (Lk 1,28). Der vollständige Text lautet: Gegrüßest seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit [= gesegnet] unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes. Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.“ Als Hilfe beim mehrfachen Beten des Vaterunsers, des Ave Maria und hinzutretender Gebetsteile in einer bestimmten Ordnung dienten seit dem 12. Jahrhundert Gebetsschnüre mit jeweils einer bestimmten Anzahl von Knoten, Perlen oder Ringen; bezeichnenderweise wurden auch diese Schnüre Paternoster genannt. Sie waren um 1500 so verbreitet, daß es in einer süddeutschen Quelle der Reformationszeit heißt: „Jedermann hat patter Nosster Tragen und darahn bettet, Jung und allt, die Khindt ahn Hälsen und Armen Tragen. [...] Wer Khain patter Nosster Tragen hat oder bey Ihm gehabt hat, den hat man nit für ein Christenmenschen

16

Zit. nach: Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. Bd. 2: Hoch- und Spätmittelalter. Hgg. und verfaßt von Peter Dinzelbacher. Paderborn u.a. 2000, S. 283.

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gehabt [= gehalten].17 In der frühen Neuzeit wurde die Bezeichnung Rosenkranzgebet üblicher als Paternoster, weil vor allem das Ave Maria gebetet wurde und die Rose das Symbol Marias ist. Das sich wiederholende Gebet ist in allen Hochreligionen verbreitet. Als Frömmigkeitsform birgt es die Chance der Verinnerlichung des Gebetsinhaltes ebenso wie die bereits den mittelalterlichen Gläubigen nicht unbekannte Gefahr des mechanischen und quantifizierenden Herunterbetens. Als das christliche Gebet überhaupt war das Vaterunser so bekannt, daß es in politischen Zusammenhängen aufgenommen und verfremdet werden konnte. So sind uns aus der frühen Neuzeit mehrere sog. Bauern-Vaterunser überliefert. Solche Bearbeitungen entstanden meist, wenn die Bauern eines Landes unter Krieg und Kriegslasten litten. So auch bei dem nachstehenden bayerischen Bauern-Vaterunser aus dem Österreichischen Erbfolgekrieg (1740-1748). Zu Beginn dieses Erbfolgekrieges war der bayerische Kurfürst Karl Albrecht mit französischer Unterstützung zum Reichsoberhaupt gewählt worden. Fast gleichzeitig mit seiner Krönung als Karl VII. in Frankfurt am Main besetzten die österreichischen Truppen Maria Theresias große Teile Bayerns. Die Notlage in Karl Albrechts Stammland kommt in dem Bauern-Vaterunser zum Ausdruck, dessen Anfang und Ende so lauten:18 Bayerisches Bauernvaterunser aus den 1740er Jahren. Churfürst du warest unser Ehr, wir sagen aber jetzt nicht mehr – Vatter unser. Denn wer die Kinder läßt in Pein, der ist ein Vatter nur zum Schein – der du bist. Du steiffest dich auf Frankreichs Macht, Theresia sucht bessre Kraft – im Himmel. […] Erhör doch unser Angstgeschrey und in die Französische Sclaverey – führ uns nicht. Dann Frankreich hat dich schon so sehr durchs Geld verführet mehr und mehr – in Versuchung. Von der Panduren19 Hand und Wuth und der Hußaren Übermuth – erlös uns. Gott reich dir seine milde Hand daß du kommst wieder in dein Land! – Amen. Unüberhörbar ist in diesem Bauernvaterunser die herrschaftskritische Note. Kurfürst Karl Albrecht ist nicht mehr Vater, Landesvater – er hat durch seine Politik, das Bündnis mit Frankreich, nicht nur sein Land verloren, sondern auch seine Kinder, die Untertanen in Not gebracht: darum „nicht mehr Vatter unser“. 17

18

19

So der Biberacher Chronist Joachim von Pflummern, zit. nach Veronika Thum: Die Zehn Gebote für die ungelehrten Leut‘. Der Dekalog in der Graphik des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. München – Berlin 2006, S. 40. Zit. nach Gebhard Mehring: Das Vaterunser als politisches Kampfmittel. In: ZS des Vereins für Volkskunde 19 (1909), S. 129-142, hier S. 139. Die Panduren waren eine kroatische Einheit im habsburgischen Heer, die im Kleinkrieg eine wichtige und daher auch als Plünderer eine gefürchtete Rolle spielte.

1.4 | Die Zehn Gebote

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Politische Vaterunseradaptionen konnten Wirkung entfalten, weil jeder das Original kannte. Wesentlich war ferner: Während das Vaterunser die vertrauensvolle Beziehung des Gläubigen zu Gott ausdrückte, war in der historischen Situation, genau diese Beziehung gestört: Die Obrigkeit wurde wegen ihres unväterlichen Verhaltens kritisiert. Daß dies mit Hilfe des Vaterunsers geschah, verlieh der Kritik besondere Schärfe.

1.4 Die Zehn Gebote (der Dekalog) Die Zehn Gebote wurden bereits mehrfach gestreift; hier sollen sie nun im Zusammenhang vorgestellt werden. Der aus dem Griechischen stammende Begriff für die Zehn Gebote, Dekalog (deka logoi), bedeutet wörtlich Zehn Worte (Gottes an sein Volk). Die Zehn Gebote waren konstitutiv für das Selbstverständnis des alten Israel. Das ergibt sich aus ihrem Entstehungszusammenhang, wie er in den biblischen Büchern Exodus und Deuteronomium geschildert wird: Israel wird durch Gott aus der Sklaverei in Ägypten befreit. Angeführt von Moses, dem Beauftragten Gottes, zieht das Volk aus Ägypten aus (gr.-lat. exodus = Auszug). Das Ziel dieser Wanderung ist das Gelobte (= versprochene) Land Kanaan. Die erste wichtige Etappe auf diesem Weg ist der Berg Sinai (auch: Berg Horeb) auf der Halbinsel Sinai, die heute zu Ägypten gehört. Auf dem Berg Sinai empfängt Moses die Zehn Gebote, die ihm Gott für das Volk gibt. In der christlichen Ikonographie wird dies üblicherweise so dargestellt, daß er zwei steinerne Tafeln erhält. Die erste Tafel enthält die ersten drei Gebote, angedeutet mit den lateinischen Zahlen I bis III, in denen es primär um das Verhältnis zwischen Gott und Mensch geht. Die restlichen Gebote, welche die menschlichen Beziehungen betreffen, sind auf der zweiten Tafel notiert; sie brauchen hier nicht näher erläutert zu werden. In der christlichen Kirche gewann der Dekalog seine Verbindlichkeit dadurch, daß er seit der Spätantike als Zusammenfassung des von Gott gegebenen Naturgesetzes angesehen und darum als zentrale Norm für das Zusammenleben der Menschen verstanden wurde. Für die Katechese und Beichte spielten die Zehn Gebote daher eine zentrale Rolle. Der Dekalog nach Luthers Kleinem Katechismus. Erste Tafel I Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. II Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen. Denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht III Du sollst den Feiertag heiligen.

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Zweite Tafel IV Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß dir’s wohlgehe und du lange lebest auf Erden. V Du sollst nicht töten. VI Du sollst nicht ehebrechen. VII Du sollst nicht stehlen. VIII Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. IX Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. X Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh, oder alles, was sein ist. In diesem Zusammenhang ist eine Anmerkung zur Zählung der Gebote notwendig. Die hier vorgelegte Fassung ist in der lutherischen und katholischen Kirche üblich. Sie weicht ab von der Zählweise, die bei den Reformierten (und in den Ostkirchen) üblich ist. Diese zählen das Bilderverbot, das im Katholizismus und bei Luther in das erste Gebot integriert ist, als eigenes Gebot, wodurch sich die gesamte Zählung verschiebt. Zum Ausgleich werden in der reformierten Tradition das Neunte und Zehnte Gebot zu einem zusammengefaßt.20 1.4.1 Das Erste Gebot Das Erste Gebot ist das bereits erwähnte Monotheismusgebot: Wie in Kap. 1.1. angedeutet, unterschied sich der israelitische Glaube hierin scharf von den ihn umgebenden Religionen. Auch im alten Israel hat sich der strikte Monotheismus nicht sofort durchgesetzt. Im AT wird immer wieder davon berichtet, daß die Menschen neben Jahwe andere Götter verehrten. Erst mit der Kultreform des Königs Josias im 7. Jh. v. Chr. und dem Babylonischen Exil setzte sich der Glaube an den einen Gott endgültig durch. Um die Tragweite des Ersten Gebotes zu verstehen, ist es hilfreich, nicht nur die in den Katechismen übliche Kurzfassung, sondern die vollständige Version anzusehen, wie sie im Buch Exodus überliefert ist. Das Erste Gebot nach Exodus 20, 2-6: Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgend etwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.

20

Die Zählung ist in Ex 20 und Dtn 5 nicht ganz einheitlich, ferner kam es neben den konfessionell bedingten Abweichungen in der Neuzeit schon im Mittelalter zu partiell unterschiedlichen Zählweisen. Eine Zusammenstellung verschiedener Zählungen bietet Thum , Gebote (wie Anm. 17), S. 20.

1.4 | Die Zehn Gebote

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Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich Tausenden meine Huld. Das Monotheismusgebot wird am Anfang verknüpft mit einer Art Vorstellung Gottes: Der Gott, der hier alleinige Verehrung einfordert, ist der Befreier aus der Knechtschaft. Auf dieser Erfahrung gründet das Gebot, keine anderen Götter zu verehren. Der Sinn des sich anschließenden Bilderverbots geht aus dem Folgesatz hervor: „Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen.“ Bilder oder Skulpturen wurden im alten Orient primär zu kultischen Zwecken hergestellt. Die bildliche Darstellung der Götter als Menschen, Tiere, Himmelskörper war gang und gebe. Genau dagegen wandte sich das Bilderverbot: Der Gott Israels sollte nicht dargestellt werden, weder als Gestirn noch in Tier- oder Menschengestalt – damit man nicht das Bild für Gott selbst hielt. Das Bilderverbot wandte sich also vor allem gegen die Götterdarstellung und -verehrung, wie sie im alten Orient üblich war. Es wurde aber auch so interpretiert, daß jegliche Bilder – also auch nichtreligiöse Abbildungen – verboten seien; dieses strenge Bilderverbot wurde und wird im Judentum teilweise praktiziert. Auch die ersten Christen lehnten bildliche Darstellungen wegen ihrer Nähe zur heidnischen Religion ab, doch seit dem 3. Jh. n. Chr. hat man im Christentum überwiegend auf das Bild nicht verzichten wollen, vor allem aus didaktischen Gründen. (Zur weiteren Entwicklung s. Kap. 1.6.3.). 1.4.2 Das Zweite Gebot Das Zweite Gebot richtete sich gegen den Mißbrauch des Namens Gottes im Fluchen und beim Meineid. Der mit der Findung von Wahrheit und Gerechtigkeit vor Gericht verbundene Eid ist hingegen nach christlicher Überzeugung erlaubt. Einige christliche Gruppen, etwa die Täufer der frühen Neuzeit, verstanden das Zweite Gebot jedoch in dem Sinne, daß dem Christen jegliche Eidesleistung verboten sei; in einer Zeit, in der das gesamte politische Leben auf der durch Eid besiegelten Treuepflicht beruhte, schlossen sie sich mit dieser Auslegung aus der politisch-sozialen Gemeinschaft aus. 1.4.3 Das Dritte Gebot Auch beim Dritten Gebot erleichtert die ausführlichere Fassung in Ex 20 das Verständnis.

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Das Dritte Gebot nach Exodus 20,8-11: Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt. Der Begriff Sabbat (wahrscheinlich von dem hebr. Verb sˇabat = aufhören) bezeichnet den Ruhetag. Die Begründung: So wie Gott in sechs Tagen die Welt schuf und dann am siebten Tag ausruhte, so soll und darf es auch der Mensch halten. Bemerkenswert ist, daß diese, für den Menschen notwendige Pause ausdrücklich nicht nur für den Hausvater – also das nach damaligem Verständnis einzig vollwertige Mitglied der religiösen und politischen Gemeinschaft – gilt, sondern auch für Kinder, Gesinde, Fremde und das Vieh: alle brauchen die schöpferische Pause. Sie wird dadurch gesichert, daß sie als heilig, Gott zugehörig verstanden wird. Der Sabbat entspricht in unserer Wochentagszählung dem Samstag. Im Christentum wird dagegen von Anfang an als Ruhetag der Sonntag gefeiert, der erste Tag der jüdischen Woche, weil an diesem Tag Christus auferstand. Folglich wird das dritte Gebot im Christentum auf den Sonntag bezogen, dazu auf die weiteren christlichen Feiertage. Heiligung heißt dann: Damit am Sonnund Feiertag der Gottesdienst besucht werden kann, sollen nur die unbedingt notwendigen, profanen Arbeiten verrichtet werden; also etwa die Fütterung der Tiere, das Melken der Kühe, notfalls das Einbringen der Ernte, wenn deren Verlust droht. In Spätmittelalter und früher Neuzeit war die Mißachtung des Dritten Gebotes Thema zahlreicher kirchlicher und weltlicher Ordnungen. Abb. 4: Übertretung des Dritten Gebots, Blockbuch Die Zehn Gebote, 1455/1458

1.4 | Die Zehn Gebote

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Abb. 5: Übertretung des Dritten Gebots, Holzschnitt „Wie der tufel hynder der mesz“, Basel 1493

In Abb. 4 aus der Mitte des 15. Jh.s wird die Einhaltung wie die Übertretung des Dritten Gebotes dargestellt. Ganz oben ist das dritte Gebot in lateinischer Sprache notiert. Links darunter findet sich ein Engel über einem Schild, das die deutsche Fassung des Gebotes zeigt: „Du solt feyern den sontag, wenne dirs got wol gelonen mag.“ Darunter sieht man den Prediger, zu seinen Füßen mehrere Zuhörer, einen Mann, vier Frauen. Sie nehmen am Gottesdienst teil, lauschen der Predigt, kommen dem Gebot nach. In der rechten Bildhälfte ist die Mißachtung des Gebotes dargestellt: Zwei Männer an einem Tisch, der eine trinkt, der andere hat seinen Krug vor sich stehen. Ein kleiner Teufel reicht ihnen die Würfel für das auf dem Tisch liegende Spielbrett. Die Männer werden vom Teufel umarmt, der hinter ihnen steht und sagt: „Spelet und trinket vnd gehabet euch wol. Is komett was da komme[n] sal.“ Will heißen: Ihr werde die Folgen eures Tuns erleben – in der Hölle. Das Spielen und Zechen an sich wäre noch nicht so verwerflich. Aber die Komposition der Bilder macht ihre Sünde dem Betrachter klar: Diese Männer spielen und zechen zu einer Zeit, zu der sie den Feiertag heiligen und zur Messe gehen sollten. In Abb. 5 wird erkennbar, daß die Erfüllung des Gebotes mehr ist als die körperliche Anwesenheit im Gotteshaus. Die hier dargestellten Frauen sind alle in die Kirche gekommen. Der Gottesdienst nähert sich seinem Höhepunkt, der Eucharistiefeier. Auf der rechten Seite sieht man, wie der Geistliche mit einer Segensgebärde die Hand hebt, offenbar über dem Kelch. Er spricht die Einsetzungsworte, die Wandlung von Hostie und Wein in Leib und Blut Christi findet statt. Daneben steht ein zweiter Geistlicher, der die geöffnete Weinkanne in der Hand hält; wahrscheinlich hat er gerade den Wein in den Kelch gegossen. Von den vier Frauen auf dem Bild verfolgt aber nur eine einzige aufmerksam das Geschehen am Altar. Es handelt sich übrigens offenbar um die jüngste, jedenfalls eine unverheiratete Frau,

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denn sie trägt keine Haube. Die anderen drei sind unter der Haube, also verheiratet. Ihre Aufmerksamkeit gilt nicht dem Sakrament, sie schwatzen eifrig miteinander. Auf der linken Seite sind zwei Teufelsgestalten zu erkennen. Was sie tun, geht aus der Bildunterschrift hervor: „Wie der tufel hynder der meß die klapperig (das Schwatzen) etlicher frowen vff schreib, vnd jm das berment zu kurtz wart, vnnd ers mit den zenen vß eynander zoch“ – der Teufel schreibt eifrig alles auf, was die Frauen reden, und er hat viel zu schreiben, das Pergament reicht nicht aus, mit den Zähnen zerrt er daran, damit es länger werde. Beide Bilder zusammen gaben, geschlechtsspezifisch differenziert, gängige Kritik an der Mißachtung des Dritten Gebots wieder: Die Frauen kommen zwar in die Kirche, aber ihr Interesse gilt dem Klatsch und Tratsch, die Männer bleiben gleich ganz fern, nutzen den Sonntag zum Saufen und Spielen. Die Kritik an der Übertretung des Dritten Gebotes verschärfte sich nach der Glaubensspaltung, als die Konfessionen sich formierten und die Obrigkeiten verstärkt versuchten, das Leben der Untertanen zu regulieren. In zahlreichen weltlichen und kirchlichen Ordnungen wurde die Heiligung der Sonn- und Feiertage thematisiert: konkret wurde z.B. angeordnet, Wirtshäuser erst zu öffnen, wenn der Gottesdienst vorüber war. Diese Versuche, das Dritte Gebot durchzusetzen, gingen jedoch nicht nur „von oben“ aus, sondern fanden auch Unterstützung unter den Gläubigen. In England etwa gab es zu Beginn des 17. Jh.s heftige Auseinandersetzungen darüber, ob Sportveranstaltungen und öffentliche Vergnügungen am Sonntag stattfinden dürften. In diesem Konflikt vertraten die Puritaner die Auffassung, derartige Dinge stellten eine Übertretung des Dritten Gebotes dar.

1.4.4 Dekalog, Bundesgedanke und Gottesvolk Die Zehn Gebote waren nicht nur die religiösen und sozialen Grundregeln Israels schlechthin (Ex 19,5; 24,8; vgl. Dtn 5,2), sondern konstituierten in ihrer Gesamtheit einen Bund zwischen Gott und den israelitischen Stämmen. Das Volk wurde durch diesen Bund zum Gottesvolk. Diese mit dem Dekalog verknüpften Begriffe Bund und Gottesvolk spielten auch für die frühen Christen eine Rolle. Sie verstanden sich als das Volk eines durch Christus konstituierten neuen Bundes; Israel war aus dieser Sicht das Volk des alten Bundes (2 Kor 3,14). Die Begriffe Bund und Gottesvolk waren in der Christentumsgeschichte nicht immer gleich prominent. Bis heute sind sie aber in der christlichen Theologie und Frömmigkeit zuhause. Besonders im Calvinismus der frühen Neuzeit wurde der Bundesbegriff betont. Die Puritaner verstanden sich in besonderer Weise als neues Volk Gottes, mit dem Gott einen Bund geschlossen habe, erkennbar etwa bei der puritanischen Amerikaauswanderung des 17. Jahrhunderts.

1.4 | Die Zehn Gebote

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1630 überquerten mehrere hundert Puritaner den Atlantik in Richtung Massachusetts. Der Leiter dieser Auswanderergruppe, der Jurist John Winthrop, schrieb während der Überfahrt von England in die neue Welt: „So stehen die Dinge zwischen Gott und uns. Wir sind mit ihm einen Bund eingegangen für dieses Vorhaben (gemeint ist die Auswanderung nach Neu-England). [...] Wenn der Herr uns erhört und uns in Frieden an den Ort bringt, den wir erstreben, dann hat er seine Bundeszusage gehalten [...] und er wird erwarten, daß wir die Bundesartikel streng beachten. Wenn wir aber die Beachtung dieser Artikel vernachlässigen [...], dann wird der Herr gewiß in Zorn ausbrechen über uns [...] und uns zeigen, was es kostet, einen solchen Bund zu brechen.“ Winthrop betonte dann: Der Bund kann von Seiten der Menschen dadurch verwirklicht werden, daß sie einander ehrlich und brüderlich lieben. Denn, so setzte er fort: „Uns ist geboten, den Herrn, unseren Gott zu lieben und einander zu lieben und [...] seine Gebote zu halten [...] und die Artikel des Bundes mit ihm, damit wir leben [...] und damit der Herr unser Gott uns in dem Land segnen möge, das wir besitzen werden.“21 Winthrop zog eine Parallele zwischen den Puritanern, die nach Nordamerika auswanderten, und dem biblischen Gottesvolk Israel, das aus Ägypten auswanderte und in das Gelobte Land einzog. Aber nicht nur das Exodus-Motiv und die Inbesitznahme eines neuen Landes machte die Gemeinsamkeit aus, sondern eben auch der Bund mit Gott, der die Puritaner ihrem eigenen Selbstverständnis nach zu Gottes Volk machte. Dieses Selbstverständnis hat zumindest die Gründergenerationen Neu-Englands im 17. Jahrhundert geprägt und mit Sendungsbewußtsein sowie einem hoch entwickelten ethisch-religiösen Pflichtgefühl ausgestattet.

1.4.5 Zur Bedeutung des Dekalogs Wie bereits angedeutet: Der Dekalog ist unter den Grundtexten des christlichen Glaubens derjenige, in dem das Zusammenleben der Menschen wie das Verhältnis zu Gott normativ formuliert ist; daraus ergab und ergibt sich sein hoher Stellenwert in Theologie, Katechese und Frömmigkeit. Selbst in der Ausgestaltung des Rechtes berief man sich im Mittelalter, seltener in der frühen Neuzeit, auf die Zehn Gebote, zwar nicht im Sinne einer konkreten Übernahme einzelner Gebote oder anderer Details des mosaischen Gesetzes, aber um die Autorität und grundsätzliche Ausrichtung des Dekalogs in Anspruch zu nehmen.

21

John Winthrop: A model of christian charity, 1630. In: The American intellectual tradition. A sourcebook. Vol. I: 1620-1685. Ed. by David A. Hollinger and Charles Capper. New York – Oxford 1989, S. 7-16. hier S. 15.

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1.5 Die ersten drei Sakramente: Taufe, Firmung, Herrenmahl 1.5.1 Sakramente Die Ereignisse, auf die sich der im Credo formulierte Glaube bezieht, namentlich Kreuzigung und Auferstehung, sind einerseits abgeschlossen. Ihre existentielle Bedeutung für die Gläubigen erhalten sie nach christlicher Überzeugung dadurch, daß sie andererseits in die jeweilige Gegenwart hinein fortwirken. Bei der Vermittlung dieser fortwirkenden Bedeutung, der Vergegenwärtigung des Heils, stehen die Sakramente im Mittelpunkt. Was ist unter einem Sakrament zu verstehen? Das lateinische Begriff sacramentum (sacer = heilig) wird seit dem 2. Jh. als Übersetzung für das griechische Wort mystérion (Geheimnis, Glaubensgeheimnis) verwendet. Zunächst bezeichnete er verschiedenste Ereignisse, die für den christlichen Glauben wichtig waren. Seit der Spätantike aber wurden nur noch die wichtigsten heiligen Handlungen als Sakramente bezeichnet. Durch sie wird das von Gott ausgehende Heil wirksam vergegenwärtigt. Die Erklärung in einem katholischen Katechismus des 16. Jh.s enthält weitere wesentliche Kennzeichen: Die Sieben Sakramente nach dem Würzburger Kleinen Katechismus des Petrus Canisius SJ von 158122 Was ist ein sacrament? Es ist ein sich[t]barlichs, kräftigs zaichen, von Gott selber eingesetzt, dardurch wir unsichtbarlicher weiß genad und inwendige heyligung empfahen. Wievil seind sacrament? Es seind siben. Welche? Das erst ist die tauff. Das ander die firmung. Das dritt der fronleichnam unsers hern Jesu Christ. Das viert die buß. Das fünfft die letzte ölung. Das sechst die priesterweyhe. Das sibent die e[h]e. Gott gibt demnach durch die Sakramente dem Menschen Gnade („genad“), wobei die Sakramente nicht die Gnade und das Heil selber sind, sondern, wie Canisius – der wichtigste Verfasser deutschsprachiger katholischer Katechismen des 16./17. Jahrhunderts – präzise formuliert, ein „sich[t]barlichs, kräftigs zaichen“. Die Sa22

S. Petri Canisii Catechismi Latini et Germanici. Tomus I, pavs secunda: Catechismi Germanici. Hgg. von Friedrich Streicher. Rom – München 1936, S. 255.

1.5 | Die ersten drei Sakramente

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kramente wirken „unsichtbarlicher weiß“. Mit der Betonung, daß Gnade und Heil selber unsichtbar bleiben, das Sakrament ein Zeichen ist, nicht das Heil selber, wehrt Canisius ein magisch-volkstümliches Verständnis der Sakramente ab, wie es im Spätmittelalter und darüber hinaus weit verbreitet war. Ein Beispiel für dieses magische Verständnis der Sakramente war die Vorstellung, an dem Tag, an dem man die Hostie gesehen habe, könne man nicht sterben. Bis ins 12. Jh. schwankte die Zahl der Sakramente; seitdem war sie auf die sieben festgelegt, die Canisius aufzählt. Der tiefe Bruch, der die Reformation für die lateinische Christenheit bedeutete, wird gerade an den Sakramenten erkennbar. Denn die Reformatoren lehnten es ab, Firmung, Priesterweihe und Letzte Ölung (Krankensalbung) als Sakramente anzuerkennen. Ihre Begründung war, daß sie nach dem Befund des NT nicht von Christus eingesetzt worden seien. Luther akzeptierte zwar, anders als Zwingli und Calvin, die Buße als Sakrament, doch langfristig blieben in den evangelischen Kirchen nur Taufe und Herrenmahl in der sakramentalen Praxis erhalten. Demgegenüber beharrte das Konzil von Trient (1545-1563) auf der Siebenzahl der Sakramente und ihrer Begründung durch Christus. Aber nicht nur die Reduzierung der Sakramente von sieben auf zwei unterschied und unterscheidet die Konfessionen; auch das Verständnis der Sakramente, besonders von Eucharistie/Abendmahl, wurde strittig (vgl. Kap. 6.2.4.). In diesem Kapitel werden nur die drei ersten Sakramente näher behandelt. (Zum Sakrament der Buße s. Kap. 7.5., zum Ehesakrament Kap. 7.4.3., zur Letzten Ölung Kap. 7.4.4., zur Priesterweihe Kap. 4.5.1.).

1.5.2 Die Taufe Waschungen und taufähnliche Akte gibt es in verschiedenen Religionen: Wasser läßt sich in mehrfacher Hinsicht symbolisch ausdeuten. Es steht für das Leben, denn ohne Wasser ist kein Leben möglich. Zugleich steht es für den Tod, denn Wasser löst auf, zerstört. Schließlich reinigt Wasser und diese alltäglich-handfeste Bedeutung wird in den Religionen im kultischen Sinne verstanden. Bereits die ersten Christen tauften, wahrscheinlich so, daß der Taufende den Täufling mit Wasser übergoß, wobei beide im Wasser standen. Dabei wurde der Name Christi ausgerufen: Damit gehörte der Täufling zur Gemeinschaft der Gläubigen. Offenbar kam sehr früh ein kurzes Glaubensbekenntnis des Täuflings hinzu, ebenso legte der Taufende dem Täufling die Hand segnend auf; diese Handlung drückte aus, daß der Getaufte den Heiligen Geist empfing. Aus diesen Grundelementen entwickelte sich ab dem 2. Jahrhundert rasch ein ausführliches Taufritual, dessen unterschiedliche Bestandteile – Gebete, Lesungen, Glaubensbefragung, Exorzismus u.a.m. – hier nicht alle genannt werden müssen (vgl. Kap. 7.4.1.). Zum Verständnis des Exorzismus’ (lat. exorcismus = Beschwörung mit dem Ziel der Teufelsaustreibung) ist nur zu bemer-

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ken, daß nach jüdischer wie hellenistischer Vorstellung Dämonen als menschenfeindliche, u.a. Krankheit verursachende Mächte als selbstverständliche Realität angenommen wurden und der Exorzismus selber sich nicht auf den Täufling richtete, sondern auf den Satan bzw. die Dämonen in ihm: unter Anrufung des Namens Christi wurde dem „unreinen Geist“ befohlen, den Täufling zu verlassen. Ein wesentlicher Grund dafür, daß die Taufe so reich ausgestaltet wurde, liegt darin, daß sie für den Täufling zur Zeit der Frühen Kirche Konsequenzen barg, die wir uns heute kaum vorstellen können. Denn der christliche Glaube war im römischen Imperium nicht nur eine nicht genehmigte Religion. Darüber hinaus waren mit dem sozialen, wirtschaftlichen und politischen Alltag der antiken Welt religiöse – aus christlicher Sicht: heidnische – Riten engstens verwoben. Z.B. war ein Teil des auf dem städtischen Markt verkauften Fleisches den Göttern geweiht, so daß bereits der Apostel Paulus um 50 n.Chr. in einem Brief an die christliche Gemeinde von Korinth differenziert auf die Frage eingehen mußte, ob ein Christ dieses Fleisch guten Gewissens verzehren könne (1 Kor 8,1-13). Das in der Taufe ausgedrückte Bekenntnis zum christlichen Glauben bedeutete daher de facto oft das Ende der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Existenz des Täuflings. Von daher war nicht nur der mehrjährige Taufunterricht „als Prozeß der Lebensänderung [und] der Einübung christlicher Lebensweise“23 sinnvoll, sondern auch die feierliche Ausgestaltung der Taufe lag nahe, um den radikalen Bruch abzubilden, den Tod des alten und den Anfang des neuen Lebens für den Täufling. Diesen radikalen Bruch zeigte etwa das weiße Gewand an, das Neugetaufte seit dem 4. Jahrhundert vielfach empfingen und eine Woche lang trugen: Das weiße Taufkleid symbolisierte Reinheit und neues Leben. Auch die häufig übliche Wahl des Osterfestes als Tauftermin und die damit verbundene Verknüpfung von Christi Tod und Auferstehung mit der Existenz des Täuflings unterstrich den Bruch mit dem bisherigen Leben. Im Gefolge der seit Konstantin gewährten Förderung des Christentums und der Erhebung des christlichen Glaubens zur offiziellen Reichsreligion am Ende des 4. Jahrhunderts änderte sich die gesellschaftliche Bedeutung der Taufe mittelfristig vollkommen: Nur noch getaufte Menschen konnten Glied der religiösen wie sozialen Gemeinschaft sein. Eng verbunden damit war die allmähliche Ablösung der Erwachsenentaufe durch die Säuglingstaufe in den christianisierten Gemeinwesen. Die Taufe von Kindern christlicher Familien war bereits in der Frühen Kirche praktiziert worden; ab dem 4. Jahrhundert wurde sie zum Regelfall. Während sich die soziale Bedeutung der Taufe seit der Spätantike radikal wandelte, blieb ihre religiöse Bedeutung weitgehend konstant. In den Katechismen von Luther und Canisius aus dem 16. Jahrhundert finden wir die einschlägigen Erklärungen:

23

Reinhard Meßner: Einführung in die Liturgiewissenschaft. Paderborn 2001, S. 93.

1.5 | Die ersten drei Sakramente

45

Die Bedeutung der Taufe nach dem Kleinen Katechismus Martin Luthers (1529) und dem Würzburger Kleinen Katechismus des Petrus Canisius (1581)24 Luther (Auszug):

Canisius:

Was ist die Tauff? Antwort. Die Tauff ist nit alleyn schlecht [= schlicht] wasser, sondern sye ist das wasser in gottes gebot gefasset vnd mit gottes wort verbunden.

Was ist der tauff?

Welches ist denn sollichs wort gottes? Antwort. Do vnser herr Christus spricht Mathei am letsten. Geet hin in alle welt leeret alle heyden vnd teuffet sye im nahmen dess vatters vnd dess sons, vnd dess heyligen geysts. Was gibt oder nutzt die tauff? Antwort. Sie wirckt vergebung der sünden, erlöset vom tod vnd teufel vnd gibt die ewige seligkeit allen die es glauben [...]

Der tauff ist das erst, notwendigste Sacrament, darinnen der mensch durch das wasser und wort Gottes von allen sünden gereiniget und in Christo als ein newe [= neue] creatur zum ewigen leben widergeboren und geha[i]liget wirdt.

Beide Katechismen betonen die sündenaufhebende Kraft der Taufe, und in der Folge für den Getauften das ewige Leben (Canisius), die ewige Seligkeit (Luther), d.h. die vollendete Gemeinschaft mit Gott. Luther stellt ferner die biblische Begründung der Taufe heraus: Gottes Wort begründet das Sakrament der Taufe. Darum wird hier der Taufauftrag Christi in Mt 28,18-20 zitiert (es handelt sich um die letzten Verse des letzte Kapitels dieses Evangeliums, darum „Matthäi am letzten“). Luther betont weiter: Das Wasser allein ist es nicht, sondern das Wasser in Verbindung mit Gottes Wort; ähnlich formuliert es Canisius. Das Wasser nur für sich genommen hätte keine Bedeutung, aber im Vollzug der Taufe und in Verbindung mit der Anrufung Gottes erhält es die sakramentale, das Heil vergegenwärtigende Qualität. Die Taufe ist das Sakrament, in dem die großen christlichen Kirchen – Katholiken, Lutheraner, Reformierte, Anglikaner, Orthodoxe – bis auf geringe Unterschiede übereinstimmen. Eine Ausnahme stellen seit der Reformationszeit die täuferischen Gruppen und die meisten seit dem 19. Jahrhundert entstandenen Freikirchen und Sekten dar. Sie lehnen die Kindertaufe ab und praktizieren die Erwachsenentaufe. Im Unterschied zur Taufe Erwachsener in der Frühen Kirche verstehen sie den Taufakt jedoch eher als Bekenntnis des Täuflings, weniger als Sakrament, in dem Gott handelt.

24

WA 30/1, S. 255f. – Canisius, Catechismi Germanici (wie Anm. 22), S. 255.

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1.5.3 Die Firmung Ursprünglich war das, was wir als Firmung bezeichnen, abschließender Bestandteil der Taufe: Der taufende Bischof legte dem Täufling die Hand auf und salbte ihn mit Chrisam (Chrisma, Krisam), geweihtem Öl, das den Heiligen Geist symbolisierte. Im Frühmittelalter entwickelte sich im Gefolge der veränderten Taufpraxis im lateinischen Westen ein eigenständiges Sakrament als Folgesakrament zur Taufe. In der Frühen Kirche hatte im Regelfall nur der Bischof getauft; das war seit der Spätantike mit der sich durchsetzenden Säuglingstaufe in den Städten nicht mehr praktikabel, erst recht nicht in den großräumigen frühmittelalterlichen Bistümern nördlich der Alpen. Die Taufe vollzog nun der örtliche Pfarrer, die Bekräftigung der Taufe blieb Aufgabe und Recht des Bischofs. Hinzu kam, daß mit der veränderten Taufpraxis auch der früher übliche Taufunterricht entfallen war; es wurde notwendig, die Glaubensunterweisung der Getauften in wenigstens rudimentärer Form nachzuholen und mit einer Bekräftigung der Taufe abzuschließen. So sollte die Firmung der Stärkung des Glaubens dienen, erkennbar in der lateinischen Bezeichnung: confirmatio. Der Kern der sakramentalen Handlung bestand – und besteht bis heute – darin, daß der Bischof nach Gebet und Handauflegung die Daumenspitze in Chrisam taucht und unter Anrufung des Heiligen Geistes ein Kreuz auf die Stirn des Firmlings zeichnet. Damit die Firmlinge ein Verständnis für das Sakrament entwickeln konnten, strebte man seit dem 13. Jahrhundert an, daß sie wenigstens sieben Jahre als sein sollten. Es scheint, daß die Praxis nicht selten anders aussah, noch im 16. Jahrhundert wurden Kleinkinder gefirmt; offenbar ging man auf die – angesichts der hohen Kindersterblichkeit – verbreitete Angst der Eltern ein, ihr Kind könne ungefirmt sterben. Wie verbreitet die Firmung im Mittelalter überhaupt war, ist unklar; es spricht manches dafür, daß dieses Sakrament nur unregelmäßig gespendet wurde. Vielerorts im katholischen Europa wurden Firmunterricht und Firmung erst im 19./20. Jh. zur gängigen Praxis. Wie bereits erwähnt, lehnten die Reformatoren das Firmsakrament als nicht biblisch begründet ab. Stattdessen wurde bald nach der Reformation die Konfirmation eingeführt (s. Kap. 7.4.2.). Die evangelische Konfirmation ist kein Sakrament, aber mit dem Sakrament der Taufe eng verbunden. Denn ihr Sinn ist dem des Firmsakraments sehr ähnlich, wie schon der Name andeutet: Es geht um die Bestätigung der Taufe.

1.5.4. Das Herrenmahl (Eucharistie, Kommunion, Abendmahl) Herrenmahl (von lat. coena Domini) ist ein konfessionsübergreifender, vorwiegend von Theologen benutzter Fachbegriff; er wird in der Folge verwendet, weil Terminologie und Verständnis dieses Sakraments sich in den verschiedenen

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Konfessionen unterscheiden. Im evangelischen Bereich wird meist vom Abendmahl gesprochen, in der katholischen Kirche sind Eucharistie(feier) und Kommunion (lat. communio = Gemeinschaft, gemeint ist die sich im Sakrament vollziehende Gemeinschaft mit Gott sowie unter den Gläubigen) gängige Bezeichnungen, ebenso seit dem 5. Jahrhundert Messe, was jedoch zugleich auch den gesamten Gottesdienst meinen kann. In deutschen spätmittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Quellen wird das Herrenmahl auch als Altarsakrament bezeichnet, manchmal auch einfach nur als Sakrament; dieser letzte Befund deutet an, daß es sich um das wichtigste der christlichen Sakramente handelt. In jeder katholischen Messe findet als Höhepunkt des Gottesdienstes die Eucharistiefeier statt. Der Priester oder ein liturgischer Helfer reicht den Gläubigen die Hostie, den Leib Christi. Der Begriff Hostie kommt von lateinisch hostia = Opfertier. Wenn in evangelischen Gottesdiensten das Abendmahl gefeiert wird, erhalten die Gläubigen die Oblate (von lat. offerre = darbringen). In beiden Begriffen wird das stellvertretende Opfertod Christi ausgedrückt. Hostie wie Oblate werden als kleine, runde Scheiben aus sehr dünn ausgerolltem Sauerteig gebacken. Weiter wird den Gläubigen der Kelch gereicht. Er steht für das Blut Christi. In der evangelischen Abendmahlsfeier empfängt jeder den Kelch, in der katholischen Eucharistiefeier z.T. nur der Geistliche. Das Herrenmahl geht zurück auf die neutestamentlichen Berichte (z. B. Lk 22,7-23) von einem letzten, festlichen Mahl, das Jesus gemeinsam mit seinen Jüngern einnahm, ehe er verhaftet und hingerichtet wurde. Im etwa 20 Jahre nach der Kreuzigung verfaßten ersten Korintherbrief heißt es: „Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und sagte: ‚Das ist mein Leib für euch. Tut dies zu meinem Gedächtnis!‘ Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sprach: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut. Tut dies, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis!‘ Denn sooft ihr von diesem Brot eßt und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.“ (1 Kor 11, 23-26)25 Das Brot und der Kelch mit Wein erhalten hier eine Deutung: Es wird ein Bund zwischen Christus und denen gestiftet, die sie empfangen; zugleich wird der Opfertod Christi („für euch“, d.h. als stellvertretende Sühne von Schuld) vergegenwärtigt. Aus der Bedeutung des Todes Jesu für die Christen ergibt sich, daß die gemeinsame Mahlfeier, das Herrenmahl, von Anfang an eine zentrale Stellung in ihren Gottesdiensten hatte. Brot und Wein wurden herbeigebracht, gesegnet und ausgeteilt. In der Frühen Kirche stand beim Verständnis des Herrenmahls neben dem vergegenwärtigenden und dankenden Gedenken an Christi Opfertod die Selbsthingabe der Gläubigen in Liebe zu Gott und den Menschen im Vordergrund. Der aus dem Griechischen kommene Begriff Eucharistie (Danksagung) drückt den 25

Der Text ist offenbar leicht durch die gottesdienstliche Praxis der ersten Christen überformt; vgl. den etwas knapperen Text im ältesten Evangelium, Mk 14, 22-24.

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Aspekt des Dankes besonders aus. Seit der Spätantike und im gesamten Mittelalter dominierte hingegen der Aspekt des Sühneopfers: In der Konsekration (lat. consecratio = Weihe, Heiligung) durch den Priester wandeln sich Hostie und Wein zu Leib und Blut Christi. Dieser Vorgang wird als Wandlung oder Transsubstantiation (lat., Verwandlung) bezeichnet. In Konsekration und Transsubstantiation vollzieht der Priester das Opfer Christi nach, das insofern vergegenwärtigt wird. Wie ist der Opfergedanke zu verstehen? In den meisten Religionen spielt das Opfer eine zentrale Rolle. Das geht auf eine fundamentale Gegebenheit zurück, die wir täglich in der Nahrungsaufnahme praktizieren: Damit Menschen leben und überleben können, muß fortwährend etwas sterben, gleichsam geopfert werden, seien es nun Pflanzen oder Tiere. Ohne Opfer ist Leben nicht zu haben. Es liegt nahe, diesen Grundgedanken auch auf das Verhältnis des Menschen zur Gottheit zu übertragen, zumal der Zugang zum Heiligen grundsätzlich durch schuldhaftes Verhalten des Menschen gefährdet ist. In den antiken Religionen waren darum Tieropfer, z.T. auch Menschenopfer eine Selbstverständlichkeit. Von diesen Menschenopfern distanzierte sich das alte Israel. Der Grundgedanke, daß ein Opfer notwendig ist, blieb jedoch erhalten und war für die ersten Christen und bis weit in die Neuzeit hinein selbstverständlich: Christi Tod war Hingabe des Lebens, Opfer, das den Gläubigen das Heil ermöglichte. In enger Verbindung mit dem Verständnis des Herrenmahls als Sühneopfer entwickelte sich auch die Frömmigkeitspraxis, daß die Gläubigen ein Opfer darbrachten. Konkreter Ausgangspunkt war der Umstand, daß für die Feier Brot und Wein notwendig waren. Sie wurden in der Frühen Kirche von Gemeindegliedern gespendet; was übrig blieb, erhielten die Armen. Hiervon ausgehend, wurden seit der Spätantike die Gaben an Brot und Wein als materielle Opfergabe des Menschen verstanden. Diese und später auch andere Gaben erhielt der Priester dafür, daß er die Mahlfeier vollzog. Das trug dazu bei, daß sich die Eucharistiefeier z.T. verselbständigte, aus dem Gemeindegottesdienst herauslöste, „zur meistgeschätzten Frömmigkeitshandlung aufstieg und möglichst häufig gefeiert wurde.“26 Die aus dem Gottesdienst herausgelösten Sakramentsfeiern werden als Privatmesse (Lesemesse, Stille Messe) bezeichnet; es waren Einzelpersonen und Gruppen, die sie zum Ausdruck von Dank (etwa für die gesunde Rückkehr von einer Reise), Bitte (Votivmesse) und Buße stifteten, oder auch für das Seelenheil Verstorbener (Seelenmesse, s. Kap. 7.4.4.). Die Geistlichen, die das Stiftungsgut empfingen, feierten die Privatmesse außerhalb des Gemeindegottesdienstes, oft an einem Seitenaltar. An der Privatmesse gab es bereits seit dem Hochmittelalter Kritik, die sich in der Reformation ausweitete und breite Wirkung zeitigte. Führte hier die Hochschätzung der Eucharistie zur geradezu inflationären Vermehrung der Eucharistiefeier im Spätmittelalter, so ist auf der anderen Seite seit der Spätantike zu beobachten, daß immer weniger Gläubige regelmäßig an der Kommunion teilnahmen: Das betraf nicht nur den Empfang des Kelches, der 26

Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997, S. 494.

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ab dem 12./13. Jahrhundert für die Laien unüblich wurde. Scheu vor dem Heiligen ließ insgesamt die Augenkommunion als in der Regel angemessenere Haltung erscheinen, d.h. die Verehrung durch Anschauen der heiligen Handlung und der durch den Priester hoch erhobenen Hostie (Elevation). In Abwehr dieser Tendenz schrieb das Vierte Laterankonzil von 1215 vor, daß wenigstens einmal im Jahr, in der Regel zu Ostern, jeder Christ an der Kommunion teilnehmen müsse. Aus mentalitätsgeschichtlicher Perspektive bemerkenswert ist die Hochschätzung des Sakraments, die im Spätmittelalter wohl ihren Höhepunkt erreichte, erkennbar etwa an den Prozessionen, in deren Zentrum wie beim Ende des 13. Jh.s eingeführten Fronleichnamsfest (mhd. vrôn lichnam = Leib des Herrn) die Hostie stand. Unübersehbar ist auch die Spannung zwischen dem ursprünglichen Verständnis des vergegenwärtigenden, danksagenden Gedenkens als Höhepunkt des Gemeindegottesdienstes einerseits und den nur auf den ersten Blick widersprüchlichen Phänomenen bezahlter Messen und weitgehender Abstinenz der Gläubigen von der Kommunion andererseits.

1.5.5 Die Wirkung der Glaubensspaltung auf das Verständnis des Herrenmahls Mit der Glaubensspaltung entwickelten sich stark unterschiedliche Auffassungen vom Sakrament des Herrenmahls. Die Kernbedeutung, daß Christus sich darin dem Menschen zuwende, blieb den großen christlichen Konfessionen gemeinsam, doch das „wie“ der Heilsgegenwart war und ist umstritten und die gottesdienstliche Praxis entwickelte sich entscheidend auseinander. Die wesentlichen dogmatischen Unterschiede im Herrenmahlsverständnis zwischen den großen Konfessionen sind: – Nach katholischem Verständnis werden Hostie und Wein durch die Konsekration des Priesters während der Einsetzungsworte in Leib und Blut Christi verwandelt. Dies ist als reale, geistige Vergegenwärtigung zu verstehen. Die Eucharistiefeier trägt Opfercharakter, es handelt sich aber nicht um eine Wiederholung, sondern um eine Vergegenwärtigung des einmaligen Opfers Christi. – Nach lutherischem Verständnis ist Christus in Oblate und Kelch real präsent in göttlicher und menschlicher Natur. Wie die Präsenz zustandekommt, wird von Luther ausdrücklich nicht näher bestimmt – hiermit wendet er sich gegen die Transsubstantiationslehre; entscheidend ist, daß Christus gegenwärtig ist („dies ist mein Leib“), nicht das „wie“. Das Verständnis des Herrenmahls als Opfer wird abgelehnt. – Nach reformiertem Verständnis (d.h. Zwingli und Calvin folgend) ist Christus im Abendmahl zwar real gegenwärtig (so jedenfalls Calvin), aber nicht in Brot und Wein; diese haben symbolische Funktion. Die von lutherischer und katholischer Seite vertretene Realpräsenz in Hostie/Oblate und Wein wird verworfen, um der Möglichkeit eines materialisierten oder gar magischen Verständnisses

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der Gnade vorzubeugen. Abgelehnt werden Opfergedanke und Transsubstationslehre. Katholiken und Lutheraner stimmen also im Unterschied zu den Reformierten darin i.W. überein, daß Christus real gegenwärtig ist, nicht aber darin, wie dies geschieht. Beide evangelischen Konfessionen lehnen das Verständnis ab, das Opfer Christi werde vergegenwärtigt, demnach findet nach ihrer Auffassung weder die Transsubstantiation statt noch ist ein konsekrierender Priester notwendig, um das Herrenmahl zu feiern. Für die sakramentale Praxis ist weiter bedeutsam, daß nach katholischem Verständnis eine konsekrierte, aber nicht gespendete Hostie nach beendigter Messe im genannten real-geistigen Sinne Leib Christi bleibt und deshalb in einem besonderen Gefäß aufbewahrt wird. Dies geschah bereits im Hoch- und Spätmittelalter oft in einem kunstvoll geschmückten, schrankähnlichen Gefäß (Sakramentshäuschen) im Altarraum; ab dem 16. Jahrhundert wurde auch das Tabernakel (lat. tabernaculum = Zelt) üblich, ein am oder auf dem Altar befestigtes, mit einem ewigen Licht versehenes Gefäß. Da die reformatorischen Kirchen die Transsubstantiationslehre ablehnen, hat die Oblate in der lutherischen Kirche bzw. das Brot in den calvinistischen Kirchen nach beendigtem Abendmahl keine sakramentale Würde mehr. Zu diesen Unterschieden traten im Gefolge der Reformation weitere offensichtliche Differenzen im gottesdienstlichen Alltag, angefangen mit der Reduzierung der Herrenmahlsliturgie, weniger im Luthertum, drastisch dagegen in den reformierten Kirchen. Vor allem aber wurde die Feier des Herrenmahls im evangelischen Gottesdienst eher zur Ausnahme, die Regel war der predigtzentrierte Gottesdienst. In der katholischen Kirche hingegen ist bis heute die Eucharistiefeier den Höhepunkt des Gottesdienstes, auf den alles zuläuft (vgl. Kap. 1.7.). Ferner wurden den Gläubigen in den reformatorischen Kirchen beide Teile des Sakraments gespendet; im katholischen Europa empfingen die Laien in der Regel die Hostie, nicht jedoch den Kelch. Diese letztgenannte Praxis hatte sich im Hochund Spätmittelalter aus theologischen wie praktischen Gründen (Angst vor der Verbreitung von Seuchen) durchgesetzt und war auf dem Konzil von Konstanz 1415 verbindlich festgelegt worden. In Abgrenzung von dieser Praxis und unter Berufung auf das NT wurde das Abendmahl unter beiderlei Gestalt (lat. communio sub utraque specie) – oder kurz: der Laienkelch – zum Unterscheidungsmerkmal der reformatorischen Bewegung. Für das Jahr 1524 berichtet der Augsburger Chronist Clemens Sender aus seiner Heimatstadt, es seien Lutheranhänger in die Kirchen „hineingelauffen und haben unter beider gestalt das sacrament genomen, sind darnach gangen und haben ir sach ausgericht, darum sie ausgeschickt worden, als hetten sie nun ain schlechtes [= schlichtes] prot ge[g]essen.“ Die Kritik des Chronisten am Laienkelch wird hier noch verstärkt durch das Entsetzen über den respektlosen Umgang mit dem „hochwirdig sacrament“.27 27

Zit. nach Quellen zur Reformation 1517-1555. Hgg. von Ruth Kastner. Darmstadt 1994, S. 181.

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Mit der Herausbildung der Konfessionskirchen wurde ab etwa 1600 das Abendmahl unter beiderlei Gestalt ein handgreifliches, konfessionelles Unterscheidungsmerkmal zwischen Lutheranern und Reformierten einerseits und Katholiken andererseits. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) wird der Laienkelch im katholischen Gottesdienst jedoch zunehmend üblicher, so daß sich die Herrenmahlspraxis einander annähert. In der frühen Neuzeit gab es jedoch genügend Konfliktpotential – nicht nur für die Theologen, sondern auch für die Laien und auf politischer Ebene. Gewiß waren dem durchschnittlichen Gläubigen und selbst vielen Geistlichen die hier skizzierten theologischen Differenzen nicht immer klar; aber sie verstanden doch, spätestens wenn es um den Laienkelch ging: Das wichtigste Sakrament überhaupt und damit das Heil stand auf dem Spiel. Entsprechend heftig und emotional verliefen die Auseinandersetzungen mit zum Teil weitreichenden Folgen. So waren es vor allem die Unterschiede im Abendmahlsverständnis zwischen Luther und Zwingli, die bewirkten, daß um 1530 keine einheitliche politische Position der reformatorischen Reichsstände im römisch-deutschen Reich zustande kam. Ein anderes Beispiel sei abschließend angesprochen. In der Oberpfalz wurden mit dem Wechsel des jeweiligen Landesherrn, des Kurfürsten von der Pfalz, nacheinander in den 1560er Jahren die calvinistische Konfession, dann 1576 das Luthertum und 1583 wiederum der Calvinismus eingeführt. Gegen die seitdem einsetzenden Calvinisierungsmaßnahmen regte sich breiter Widerstand in der Bevölkerung. Ein zentraler Streitpunkt war das Abendmahl: Die Reformierten änderten nicht nur die bei der Austeilung verwendete Formel ab, sondern versuchten ab den 1590er Jahren auch, den Gebrauch der Oblaten abzuschaffen und durch das Brotbrechen, d.h. die Verwendung normalen Brotes, das Stück für Stück gebrochen wurde, zu ersetzen. Der aus Apg 2,42 hergeleitete Name „Brotbrechen“ für das Herrenmahl wie auch die Abschaffung der Oblaten sind charakteristisch für den calvinistischen Versuch, sich bewußt von der Tradition abzusetzen und allein auf die Bibel zu stützen. Als Reaktion auf diese Änderungen nahmen viele Menschen jahrelang gar nicht mehr am Abendmahl teil, andere Gläubige besuchten die Gottesdienste in benachbarten lutherischen Gebieten. Man wolle sich nicht „Brockenfresser“ schimpfen lassen, hieß es und es kam vor, daß eine Pfarrgemeinde offen erklärte, man werde das Abendmahl nur dann nehmen, wenn der Pfarrer es in der alten, sprich: lutherischen Weise austeile. Letztlich waren alle Bemühungen, die neue, reformierte Abendmahlspraxis durchzusetzen, erfolglos, die meisten Gemeinden zeigten sich „grob und halsstarrig“, wie die Vertreter des Landesherrn resignierend feststellten.28 Dann kam der 30jährige Krieg, die Oberpfalz fiel an Bayern und wurde rekatholisiert. 28

Zitate aus Johann Baptist Götz: Die religiösen Wirren in der Oberpfalz von 1576 bis 1620. Münster 1937, S. 340f.

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1.6 Kirchenraum und Kirchenbau 1.6.1. Das Kirchengebäude: Ort der Gottesbegegnung und Symbol für den Weg des Menschen zu Gott. Im Jahr 1130 nahm König Heinrich I. von England an der Weihe der neuen Domkirche von Canterbury teil. Gemäß der dafür vorgesehenen Liturgie stimmten die Anwesenden den Gesang „Terribilis est locus iste“ an. Der offenbar sehr bewegte König schwor laut, diese Kirche sei in der Tat ein locus terribilis. „Terribilis“ wird meist mit „schrecklich“ übersetzt, und vom Element des Schreckens in der Gottesbegegnung wissen alle Religionen; gleichwohl wäre im heutigen Deutsch die Übersetzung „Dies ist ein ehrfurchtgebietender Ort“ oder „heiliger Ort“ wohl treffender, zumal der Chronist auch von der Freude (laetitia) Heinrichs spricht. Offenkundig berührte den König das Zusammenwirken von Architektur, Ausgestaltung der Kirche und Gesang tief: Der Weihegottesdienst wurde zur ehrfurchtgebietenden Begegnung mit dem Heiligen.29 Die christliche Kirche wird zunächst als Gebäude wahrgenommen. Jahrhundertelang ragten die meisten Bischofs- und Pfarrkirchen aus der sie umgebenden Siedlung heraus, oft durch ihre Ausmaße, seit dem Hochmittelalter durch Türme, oft auch durch das verwendete Baumaterial Stein. Nach dem Betreten wirkten die innere Gliederung des Kirchenraumes, seine Ausgestaltung durch Bilder und Schmuck auf die Menschen ein. Das Kirchengebäude, in vielen Fällen ausgestaltet als „Vorahnung und Bild des Himmels“30, war darauf angelegt, als heiliger Ort die Begegnung zwischen Gott und Mensch im Sinne christlichen Glaubens zu ermöglichen – unbeschadet der Tatsache, daß Teile der Kirche auch zu weltlichen Zwecken genutzt werden konnten. Besonders in der Vormoderne, in der die visuelle Wahrnehmung den Alltag und auch die Religion stark bestimmte, prägte das Kirchengebäude das Bild von Gott, der Welt und dem jeweils eigenen Leben vor Gott und in der Welt entscheidend mit. Die christlich-symbolische Dimension läßt sich bereits an der baulichen Grundstruktur der meisten abendländischen Kirchen erkennen. Viele – nicht alle – sind geostet, d.h. sie haben eine längliche Grundform, die von West nach Ost verläuft. Im Osten liegt Jerusalem, der Ort der Passion, Kreuzigung und Auferstehung Christi. Der Eingang der Kirche ist im Westen. Wer die Kirche durch das Portal betritt, geht durch das Langhaus immer weiter Richtung Osten. Immer näher kommt er dem Altar, dem heiligsten Teil der Kirche, um den herum sich der 29

30

Die Episode wird berichtet in der Chronik des Thomas Wykes, abgedruckt in: Annales Monastici. Hgg. von Henry Richards Luard. London 1869, ND Nendeln/Liechtenstein 1965, S. 19. – Der Introitusgesang geht zurück auf den in der Genesis berichteten Traum des Erzvaters Jakob während seiner Flucht nach Haran. Im Traum vollzieht sich eine Gottesbegegnung; Jakob erwacht und „er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels.“ (Gen 28,17) Otto von Simson: Die gotische Kathedrale. Beiträge zu ihrer Entstehung und Bedeutung. Darmstadt 1968, S. 2.

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Abb. 6: Die Kirche als Symbol für den Weg zu Gott.

Chorraum befindet. Er muß also einen Weg zurücklegen, ehe er dort anlangt. Lange Zeit befand sich auch der Taufstein am Eingang, am Westportal. Mit dem Sakrament der Taufe am Anfang des Lebens beginnt der Weg zum Heil; der Lebensweg vollzieht sich in einer stetigen Annäherung an das Heil. Am Ende des Weges und am Ende des Lebens ist der Gläubige am Altar, ganz bei Christus. Die Grundgestalt der Kirche symbolisiert so den Weg des Gläubigen zu Gott. Dieser Weg wird noch in vielfacher Weise ausgestaltet. Wichtige Elemente dabei sind Licht und Dunkel. In romanischen und gotischen Kirchen fällt die Dunkelheit auf, die im Eingangsbereich und weitgehend auch im Langhaus, im Hauptschiff, herrscht. Nach vorne hin wird es heller. Das ist kein Zufall. Diese Kirchen sind so gebaut worden, daß im Osten, im Chorraum wesentlich mehr Licht einfällt. Vom Dunkel zum Licht geht der Lebensweg des Gläubigen, vom irdischen Leben hin zur himmlischen Herrlichkeit. Diese Bewegung wurde unterstützt durch die – heute oft verschwundenen oder nur fragmentarisch rekonstruierten – Wandmalereien der romanischen und gotischen Kirchen. Die verwendeten Motive folgten meist einer bestimmten Ordnung. Im westlichen Eingangsbereich der Kirche wurden die Schöpfungsgeschichte und die Zeit bis zum Dekalog dargestellt. Dann folgten im nördlichen Langhaus Bilder aus der Zeit des Dekalogs, der Könige und Propheten des Alten Testamentes. An den Südwänden des Langhauses waren Szenen des Neuen Testamentes abgebildet, namentlich der Apostel und ersten Märtyrer. Im Osten, also im Chorraum, wurde Christus gezeigt, z. B. auf einem Triumphkreuz, ferner die künftige himmlische Herrlichkeit. Die bauliche Grundstruktur der Kirche, die sich im Altarbereich konzentrierende Helligkeit durch natürliches Licht und verstärkende Elemente – etwa Vergoldung –, und das Bildprogramm sagten etwas aus, noch ehe ein Ton gesungen und ein Wort gesprochen worden war. Weitere Elemente der Kirchenbausprache gehen aus dem folgenden knappen Überblick zu den Epochen des Kirchenbaus hervor.

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1.6.2 Die Epochen des Kirchenbaus – eine Skizze. Die ersten Christen trafen sich zum Gottesdienst in Privathäusern. Es gab Vorbehalte dagegen, eigens sakrale Gebäude zu errichten, da man zunächst meinte, Gottes Haus könne nicht von Menschen errichtet werden. Seit dem 3. Jh. sind jedoch Kirchengebäude bezeugt, ohne daß wir über ihr Aussehen Näheres wüßten. Übliche Namen für diese Kirchen waren domus Dei (lat., Haus Gottes), ecclesia (griech. ekklesia, Volksversammlung, im christlichen Sinne: Gemeinde), oder auch das griech. Wort kyriakon (= dem Herrn zugehörig); davon leitet sich das Wort Kirche ab, das in die germanischen Sprachen einging (engl. church, schwed. kyrka usw.). Die Kirchen und Kapellen, die seit dem 4. Jh. entstanden, wurden nach Möglichkeit bei oder über den Gräbern von Heiligen und Märtyrern errichtet. Baute man Kirchen an anderer Stelle, so wurden, vor allem seit karolingischer Zeit, Teile der Gebeine oder der Kleidung eines Heiligen überführt, oder auch ein Gebrauchsgegenstand dessen er sich bedient hatte; vor dem Altar oder im Altar der neuen Kirche wurden diese Reliquien (lat. reliquiae = Überrest) neu beigesetzt. Der Vorgang der Überführung von Reliquien heißt Translation (lat. translatio = Übertragung). Seit 787 war vorgeschrieben, daß ein Altar eine Reliquie enthielt. Die Reliquie – in den deutschsprachigen Quellen erscheint sie meist unter dem Namen Heiltum – wurde in einen Schrein oder eine Figur eingefaßt. Die meiste Zeit des Jahres war der Schrein verschlossen, am Tag des Heiligen wurde sie jedoch gezeigt. Nicht alle, aber viele der frühen christlichen Kirchen des 3./4. Jh.s wurden als Basilika (griech., Königshalle) gebaut (s. Abb. 7). Der Kern der Basilika ist das rechteckige Langhaus mit einem Mittelschiff und zwei Seitenschiffen. Im Osten schloß sich die Apsis (griech. Bogen, Krümmung) an, ein gewölbter, meistens halbrunder Anbau. Hier befand sich der Altar. Westlich des Langhauses befand sich ein Vorhof (hier mit der Ziffer 3 bezeichnet), der Narthex (Ziffer 2) ist eine weitere kleinere Vorhalle. Hier konnten diejenigen Gemeindeglieder den Gottesdienst verfolgen, die wegen Verfehlungen vom Empfang der Eucharistie ausgeschlossen waren. Die frühchristliche Basilika wurde bis ins hohe Mittelalter als Grundmuster beibehalten. Diese Weiterführung läßt sich am Grundriß einer romanischen Basilika verfolgen – die Romanik als Kirchenbauepoche dauerte von etwa 900 bis 1250 (s. Abb. 8). Betritt man die Kirche von Westen her, kommt man direkt ins Langhaus, das in West-Ost-Richtung gebaut ist. Hier, im Langhaus versammelt sich die Gemeinde zur Messe. Das Langhaus unterteilt sich in das Mittelschiff und zwei Seitenschiffe, miteinander verbunden durch Säulen mit Rundbögen: die Rundbögen sind kennzeichnend für die romanische Bauweise. Über dem Mittelschiff ist das Dach höher gebaut als über den Seitenschiffen. Ganz im Osten, wo in der frühchristlichen Basilika nur eine Apsis gewesen war, liegt der bereits erwähnte Chor(raum, Altarraum). Er ist vom Langhaus durch eine

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Abb. 7: Die frühchristliche Basilika: Grundschema; Basilika mit Glockenturm; Innenraum.

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Abb. 8: Schema einer einchörigen romanischen Basilika

Treppe mit mehreren Stufen getrennt – auch das war bereits in der frühchristlichen Basilika so gewesem; hier befindet sich der Altar, hier versammelt sich die Geistlichkeit. Der Chor erweitert sich nach Osten in die Apsis. In einer solchen romanischen Basilikalkirche predigte wohl der uns im übrigen unbekannte Priester Konrad am Ende des 12. Jahrhunderts anläßlich des Kirchweihfestes. Kirchweihpredigt des Priesters Konrad, Ende 12. Jahrhundert.31 „Das Gotteshaus hat vier Wände, in zwei Theile getheilt. Der äußere Theil heißt ein Langhaus, der innere Theil heißt ein Chor. In dem Langhaus stehen die Laien [...], im Chor steht die Pfaffheit, und der Altar [ist] darin. Auf dem Altare steht zu allen Zeiten das Heiltum [die in einen Schrein gefaßte Reliquie] und das Licht. So hat es [sc. das Gotteshaus] auch Fenster und Wendeltreppen und Glocken darauf. Das ist alles ein Gleichnis des Hauses der hl. Christenheit. Denn das Haus der hl. Christenheit hat auch vier Wände, das sind die hl. vier Evangelien unseres Herren, womit umfangen [...] ist die ganze Gemeinde [...]

31

Zit. nach Anton Linsenmayr: Geschichte der Predigt in Deutschland von Karl dem Großen bis zum Ausgange des vierzehnten Jahrhunderts. München 1886, S. 290.

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Der Altar [...,] das ist unser Herr selbst; denn ihm sollt ihr zu allen Zeiten eure Opfer und Gelöbnisse so leisten, daß ihr auch von ihm getröstet und erfreut werdet. Das Heiltum, das zu allen Zeiten auf dem Altare ist, bezeichnet die Guten und die Rechten; denn mit ihnen will der hl. Christ seine Rast und sein Wesen zu allen Zeiten haben. Das Licht, das auf dem Altare brennt, bezeichnet den Trost und die Gabe des hl. Geistes. […] Die Thürme und die Wendeltreppen bezeichnen den Papst und alle geistlichen Richter. Die Fenster und die Glocken bezeichnen alle geistlichen Lehrer, die mit guten Worten und mit guten Werken der hl. Christenheit die gute Lehre vortragen sollen. Das ist das hehre Gotteshaus, dessen Gedächtnis ihr heute begeht “ Das Kirchengebäude wird hier auf die Dreieinigkeit und die Kirche insgesamt hin ausgelegt. Die allegorische Deutung vermittelt uns einen kleinen Einblick in die damalige Wahrnehmungsweise. Zu den in der Auslegung erwähnten Glocken ist einzufügen, daß sie seit dem Frühmittelalter im lateinischen Westen bezeugt sind. Das Läuten einer Glocke oder mehrerer Glocken vom Kirchturm bzw. von einem freistehenden Glockenturm ruft die Gläubigen zum Gottesdienst und begleitet sie nach dessen Ende hinaus aus der Kirche. Seit dem 13. Jh. wurde außerdem nach und nach das alltägliche Läuten einzelner Glocken am Morgen, Mittag und Abend üblich: Die Gläubigen waren angehalten, sich zu diesen Gelegenheiten durch bestimmte Gebete das Heilsgeschehen zu vergegenwärtigen; ebenso diente das Läuten der Gliederung des Arbeitstages. Zurück zum Kirchenbau i.e.S.: Vielfach befand sich in den romanischen Kirchen zwischen Langhaus und Chor noch ein Querschiff; war dies der Fall, so rückte der Altar ins Querschiff vor; an die östliche Seite des Querschiffs wurden u.U. zwei Nebenapsiden angebaut. Da, wo das Querschiff und die West-Ost-Linie von Langhaus und Chor sich kreuzten, war das Vierungsquadrat; oft baute man einen Turm, den Vierungsturm, darüber. In einem Geschoß unter dem Chor befand sich in vielen romanischen Kirchen eine Krypta (griech. kryptos = geheim, verborgen), ein unterirdischer oder halbunterirdischer Grabraum. Hier wurden die Gräber und Reliquien von Heiligen aufbewahrt und waren für die Gläubigen zugänglich. Handelt es sich um eine besonders große romanische Kirche – wie hier (Abb. 9) St. Michael zu Hildesheim, eine Bischofskirche (Domkirche, Kathedrale) – so konnten noch weitere Bauelemente hinzukommen. In diesem Fall ist auch im Westen der Eingangsbereich ausgebaut worden, sogar mit einem Westchor und einem westlichen Vierungsturm.

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Abb. 9: St. Michael in Hildesheim, Längsschnitt

Die ersten romanischen Kirchen waren sehr schlicht gebaut, doch zunehmend mühte man sich um die Ausgestaltung der Wände. Schließlich kam im 13. Jh. der Übergang zur Gotik, einer neuen Kirchenbauepoche: An die Stelle des romanischen Rundbogens trat der gotische Spitzbogen. Generell sind die architektonischen Formen der Gotik ausgefeilter als die der Romanik. Findet man in der Romanik wuchtige Wände und eher schlichte Bauformen, so daß die Kirchen z.T. fast burgartig wirken, so sind die Wände einer gotischen Kirche wesentlich filigraner mit ihrem System von Verstrebungen und Verzierungen. Die gotischen Kirchen wurden meist höher gebaut, wirken durch die Spitzbögen schlank und sind oft deutlich heller als die romanischen, weil meist mit farbigem Glas ausgelegte und kunstvoll positionierte Fenster die bemalten romanischen Wände ersetzten: Das einfallende Tageslicht taucht den Altar und andere Teile der Kirche in buntes Licht. Der Grundriß der gotischen Kirchen unterscheidet sich kaum von dem der romanischen. Neu war in großen Kirchen die Erweiterung des Langhauses auf fünf Schiffe; der Chor in den großen Bischofskirchen wurde vor allem aus praktischen Gründen vergrößert. Einerseits nahm die Zahl der Geistlichen in diesen Bischofskirchen zu; andererseits gab es seit den Kreuzzügen mehr Reliquien im Abendland. Diese Reliquien waren im Chorraum in und an den Altären zugänglich. Damit Pilger guten Zugang hatten, wurde ein Chorumgang gebaut, von dem mehrere Apsiden abgingen, in denen sich Kapellen befinden konnten. Im Hoch- und Spätmittelalter entstanden kostbare geschnitzte Altäre. Werfen wir einen Blick auf einen solchen Altar – das Zentrum des Kirchenraumes. (Abb. 10) Von unten nach oben sieht man hier die Altarstufen, den Altartisch und die Predella, in der die Reliquien aufbewahrt werden. Darüber erhebt sich ein Dreiflügelaltar (Triptychon). Oft waren hier Szenen der Passion abgebildet, aber auch

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aus dem Leben Marias, der Kirchenväter oder des Heiligen, dem Altar und Kirche geweiht waren. Die Flügel des Altars konnten je nach Kirchenjahreszeit ganz oder teilweise geschlossen werden. In manchen Kirchen gab es mehrere Flügel, die, ebenfalls der Kirchenjahreszeit folgend, ausgewechselt wurden. Über dem Flügelaltar schließlich findet sich das Gesprenge, Schnitzwerk im gotischen Stil, samt dem Kruzifix, einem Kreuz mit der Figur des gekreuzigten Christus.

Abb. 10: Gotischer Flügelaltar, Schema

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Die Weiterentwicklung und Verfeinerung der gotischen Kirchen gegenüber den romanischen beruhte einerseits auf den gestiegenen technischen und künstlerischen Möglichkeiten. Aber auch die wirtschaftliche und politische Entwicklung spielte eine Rolle. Seit dem 11./12. Jh. blühten die Städte auf, deren selbstbewußte Oberschicht oft durch Fernhandel zu Wohlstand gekommen war. Wenn die Bürger einer solchen Stadt im 13. oder 14. Jh. ihre alte romanische Kirche ausbauten und umbauten, dann kamen mehrere Gründe zusammen: Oft faßte die Kirche die Menge der Gläubigen in den wachsenden Städten ganz einfach nicht mehr, so daß eine Erweiterung ohnehin notwendig war. Zu diesem praktischen Bedürfnis trat das Motiv, zur Ehre Gottes zu bauen. Gleichzeitig führte eine prächtige Pfarrkirche den Nachbarn und Rivalen den Wohlstand und die Frömmigkeit der Bürger vor Augen. Ein weiteres Motiv konnte hinzukommen, wenn es sich um eine Bischofsstadt handelte: Hier wurden die städtischen Pfarrkirchen auch in bewußter Konkurrenz zum bischöflichen Dom ausgebaut und verschönert. Je nach europäischer Region unterschiedlich entwickelte sich im 15./16. Jh. eine neue Kirchenbauepoche: die Renaissance, die als Bauepoche etwa bis zum Dreißigjährigen Krieg dauerte. Man griff hier auf Stilelemente der Antike zurück: antikisierende Säulen, klare, klassische Proportionen waren wichtig, ein geometrisches Ideal der Ausgewogenheit. Kirchen, die zu dieser Zeit gebaut entstanden, wurden oft nicht mehr nach dem romanisch-gotischen Schema Langhaus – Querschiff – Chor gebaut, sondern als Zentral-Kuppelbasilika. Bekanntestes und größtes Beispiel ist der Petersdom in Rom, der vom Anfang des 16. Jh.s bis ins 17. Jh. hinein neu erbaut wurde. Das architektonische Gegenteil des Renaissancekirchenbaus sind in der sich anschließenden Zeit die Barockkirchen: Nicht mehr Kreis und Quadrat, dominieren und auch nicht mehr das Rechteck der Romanik und Gotik. Dagegen finden sich Ellipsen, Ovale, geschwungene Linien, verspielte Formen. Während die Renaissance auf Ruhe und Harmonie abgezielt hatte, kam nun Dynamik und Bewegung in die Bauformen. Das geht bis hin zu einer Bauweise, die bewußt auf die Illusion von Unendlichkeit hin ausgerichtet war, unterstützt durch den Einsatz von Lichteinfall und Gemälden. Oft wurde auch der romanische oder gotische Innenraum einer alten Kirche im barocken Stil verändert und ausgeschmückt. Der barocke Kirchenbau herrschte bis in die Mitte des 18. Jh.s. vor, daran schloß sich der Klassizismus (ca. 1770/80 bis 1830/40) an, der hier als letzte Stilepoche ganz kurz erwähnt sei. In dieser Zeit wandte man sich bewußt von den barocken Formen ab, setzte wie die Renaissance in Anlehnung an die Antike auf klare geometrische Formen und Säulen. Der Innenraum klassizistischer Kirchen wurde annähernd quadratisch gebaut und ist eher sparsam geschmückt, meist mit antikisierenden Ornamenten. Die Entwicklung des Kirchenbaus ab der Mitte des 19. Jh.s ist zu vielgestaltig, als daß sie sich in wenigen Sätzen zusammenfassen ließe. Wie man seit der Spätantike Kirchen baute, hing von wirtschaftlich-sozialen Rahmenbedingungen ab, von praktischen Bedürfnissen, ästhetischen Idealen und

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technischen Möglichkeiten. Weniger greifbar sind oft die Frömmigkeit und ihr Wandel, die sich in einer veränderten Art und Weise des Bauens spiegeln können. Romanische Kirchen, die an schützende Burganlagen erinnern, mögen die Schutzfunktion des christlichen Gottes gegen lebensfeindliche Bedrohungen versinnbildlicht haben, während durch die hochstrebenden gotischen Kathedralen das Lob desselben Gottes in den Mittelpunkt rücken konnte. Wie meistens, so gilt wohl auch hier, daß die Deutung kollektiver Frömmigkeit nur in Gestalt vorsichtiger Annäherung möglich ist. Ehe die Folgen der Glaubensspaltung für das Innere der Kirchen betrachtet werden, sei noch erwähnt, daß eine Kirche wie jedes Gebäude unterhalten und gepflegt werden mußte. Diese Aufgaben sowie die Verwaltung des hierfür verfügbaren Vermögens, der Kirchenfabrik (lat. fabrica ecclesiae = Bauwerk der Kirche) nahmen Laien wahr, die in den deutschsprachigen Quellen als Kirchenpfleger (auch Kirchmeister, Heiligenmeister, Zechpfleger) erscheinen.

1.6.3 Die Folgen der Konfessionsspaltung im Kirchenraum. Die Glaubensspaltung hatte unmittelbare Folgen für die Gestaltung des Kirchenraums. Eine erste Veränderung betraf vor allem größere Kirchen, in denen bisher mehrere Geistliche den Gottesdienst gestaltet hatten. Ihr Platz war – wie es auch der o.g. Priester Konrad beschreibt – der Chorraum, während die Laien im Langhaus blieben. Zwischen Langhaus und Chor befanden sich oft Schranken, die im 12./13. Jh. mit einem Lesepult verbunden wurden; aus der Verbindung mit dem Lesepult (lat. lectorium) entstand das deutsche Wort Lettner für diese oft reich geschmückte, begehbare Trennwand zwischen Laien und Geistlichen. Von hier aus erfolgten die liturgischen Lesungen, wurde der Gemeinde der Segen gespendet, wurden Reliquien gezeigt. Entsprechend dem Anliegen der Reformatoren, die Unterscheidung zwischen Laien und Klerus aufzuheben, entfernte man in den meisten evangelisch gewordenen Kirchen den Lettner. Oft war eine Kanzel (lat. cancelli = Schranken) in den Lettner integriert gewesen. Im Spätmittelalter wurde es aber auch üblich, eine Kanzel in der Mitte des Langhauses anzubringen: Hier konnte der Prediger besser von den Gläubigen gesehen und verstanden werden. Diese bereits vorhandene Tendenz zur Betonung der Predigt wurde durch die Reformation verstärkt, zumal dann, wenn der Lettner samt Kanzel entfernt und daher der Bau einer neuen Kanzel notwendig wurde. In manchen lutherischen und calvinistischen Kirchen wurden im 16./17. Jh. auch sog. Kanzelaltäre gebaut, d.h. die Kanzel wurde unmittelbar über dem Altar angebracht. Statt eines Altarbildes sahen die Gläubigen die Kanzel als Symbol der Predigt. Das ließ den Eindruck entstehen, als sei das gepredigte Wort, wichtiger als der Altar und das Sakrament des Abendmahls, denn schließlich war die Kanzel über dem Altar positioniert.

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Noch gravierender wirkte sich die Reformation in einer anderen Hinsicht aus, und zwar hinsichtlich der Bildgestaltung in den Kirchen. Der vorreformatorische Kirchenraum war – gewiß verschieden je nach finanzieller Leistungskraft – reich geschmückt: Nicht nur die bereits erwähnten Wand- und Deckenmalereien mit Motiven der Heilsgeschichte zählten dazu, sondern auch Bilder und figürliche Darstellungen Christi, Marias und der Heiligen, die sich vornehmlich an den verschiedenen Altären der Kirche fanden, ebenso an Fenstern. Wo Reste dieser bildlichen Ausgestaltung der Kirchen des 15. Jahrhunderts erhalten sind, läßt sich die Blüte der spätmittelalterlichen Kunst erahnen, die zuerst religiöse Kunst war. Diese Bilder veranschaulichten den Glauben und schmückten die Kirche. Andere dienten der Verehrung Christi, Marias, der Heiligen, d.h. die Gläubigen betrachteten das in der Kirche fest installierte oder z.B. auf Prozessionen mitgeführte Bild andächtig, knieten nieder, beteten, entzündeten Kerzen davor. Solche Bilder unterschieden sich also von den zuerst genannten, belehrenden und schmückenden Bildern. In theologischer Hinsicht war die Bilderverehrung seit dem Frühmittelalter eindeutig geklärt: Heilige Bilder im Wortsinn gab es nicht, verehrungswürdig waren allein die Dargestellten, welche mittels des Bildes veranschaulicht und den Gläubigen nahegebracht wurden. Allerdings wurde diese wesentliche Unterscheidung, gerade als im Spätmittelalter die Zahl der Bilder in den Kirchen immer mehr zunahm, in der Frömmigkeitspraxis nicht immer beachtet. Die Kritik der Reformatoren an den Bildern und damit an der Gestaltung des Kirchenraumes entzündete sich zum einen daran, daß sie die genannte Unterscheidung nicht hinreichend gewährleistet sahen. Zum anderen attackierten sie die Verehrung Mariens und der Heiligen überhaupt, insofern sie das Vertrauen auf Christus gefährdete. Wenn ein Gläubiger vor einem Marienbild meine, „Maria hülffe in dem Bilde“, dann, so Luther, werde Maria und nicht Gott „angeruffen, das heisset ein Abgöttisch Bilde.“ Entscheidend war für den Reformator, ob man Gott oder dem Bild vertraute. Ein Bild, „darauff man ein vertrawen setzt, das reiß entzwey.“ Bilder an sich aber dürfe man haben: „ein gemalet Bilde an die Wand, das ich schlecht [= schlicht] ansehe on Aberglauben, ist mir nicht verboten.“ 32 Ein richtiger Gebrauch der Bilder war möglich und kam Luthers Überzeugung entgegen, der Mensch könne „nichts on bilde dencken noch verstehen.“33 Verehrung nein – nützliche Hilfe zur Belehrung ja: So läßt sich Luthers Haltung zu den Bildern zusammenfassen. Dem Wittenberger Reformator folgend, hatten Bilder in den lutherischen Kirchen der Folgezeit durchaus ihren Platz. So wurden z. B. in vielen westschwedischen Kirchen des 18. Jahrhunderts zur Unterweisung der Gläubigen Deckengemälde mit Motiven des Jüngsten Gerichtes, der Hölle und der himmlischen Freuden angefertigt. Bis heute gehören Altarbilder und Wandgemälde in ihrer schmückenden und belehrenden Funktion zu lutherischen Kirchen. 32 33

Zit. nach: Kastner, Quellen (wie Anm. 27), S. 357f. So in einer Osterpredigt des Jahres 1533 (WA 37, S. 63).

1.6 | Kirchenraum und Kirchenbau

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Zwingli und Calvin gingen in ihrer Kritik deutlich weiter: Gemäß dem Bilderverbot des Dekalogs waren nicht nur die der Verehrung gewidmeten Bilder, sondern sämtliche Bilder, Figuren und Wandmalerei aus den Kirchen zu entfernen. Ein richtiger Gebrauch der Bilder war ihrer Meinung nach gar nicht möglich und – anders als Luther – sahen sie die Bilderfrage als äußerst wichtig an. In Zürich attackierte 1523 ein radikaler Anhänger Zwinglis die Auffassung, Bilder seien „bücher der leyen“, also der Analphabeten. Dieses Argument war seit seiner Formulierung um 600 durch Gregor den Großen zentral für die Verwendung von Bildern in der Kirche gewesen: Bilder seien zugelassen, damit die des Lesens Unkundigen durch Hinsehen an den Wänden lesen könnten. Darauf die Antwort des Zwinglianers: „Das ist ein menschen tant. Gregorius sagt söliches, aber got nit, ja got sagt vil ein anders. Got verwirffet di bild, und du wilt uß dem buch leren, das got [ver]worffen hat? [...]. Wilt got lernen kennen? So lis die gschrifft, die gibt zügnus von im.“34 Anders als Luther ging Zwingli davon aus, daß der Mensch durch religiöse Bilder allenfalls negativ beeinflußt werden könne, nur das Wort Gottes sei eindeutig. Dieser bildfeindliche Ansatz führte dazu, daß dort, wo man sich der Reformation Zwinglis und Calvins anschloß, alle Bilder aus den Kirchen verschwanden. Teilweise wurden die Bilder und Skulpturen weggeräumt, Wandmalereien übertüncht, nicht selten aber kam es zur gewaltsamen Zerstörung – zum Bildersturm, wobei es nicht nur um die Bilder, sondern auch um Altäre und den übrigen Schmuck in der Kirche ging. Das wohl bekannteste Beispiel ist der Bildersturm in den Niederlanden von 1566. Seit dem Frühling dieses Jahres hatten calvinistische Prediger vor allem in Flandern zahlreiche Heckenpredigten gehalten, also Gottesdienste unter freiem Himmel. In den Städten und in den Kirchen aber fand der gewohnte katholische Gottesdienst statt. Es war absehbar, daß die kalte Jahreszeit kommen würde – an Gottesdienste unter freiem Himmel war dann nicht mehr zu denken. Die calvinistische Bewegung benötigte zu ihrer Verfestigung Kirchengebäude – aber natürlich nicht Kirchen mit Heiligenbildern und Schmuck: erst mußten die Gotteshäuser „gereinigt“ werden. So kam es im August des Jahres zu den ersten Bilderstürmen in Flandern, von dort aus breitete sich die Bewegung im September bis nach Norden aus; die Zentren neben Flandern waren Seeland und die Gegend um Antwerpen. Was hieß Bildersturm konkret? In kleineren Orten traten Gruppen radikaler Calvinisten auf, die von Ort zu Ort zogen und in den Kirchen Bilder, Altäre und Schmuck zerstörten. In den Städten und größeren Orten standen oft calvinistisch gesonnene Angehörige der Oberschicht hinter dem Bildersturm: Sie steckten Tagelöhnern oder anderen Unterschichtangehörigen etwas Geld zu und bedeute34

Ludwig Hätzer, Ein urteil gottes Zürich, 24. Sep. 1523, zit. nach Kastner, Quellen (wie Anm. 27), S. 355. Hetzer, damals ein Anhänger Zwinglis, schloß sich bald darauf den Täufern an.

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ten ihnen, was zu tun sei. Daß man sich dieser Handlanger bediente, lag nicht zuletzt daran, daß Bildersturm wenigstens teilweise körperliche Schwerstarbeit mit Beil und Brecheisen bedeutete. Die städtischen Magistrate schritten im Fall des Bildersturms auf Bestellung nur selten ein, gehörten die Ratsherren doch der gleichen Schicht wie die Anstifter des Bildersturms an. Die Zerstörung mußte also nicht als Tumult stattfinden, sie konnte auch in geplanten, geordneten Bahnen verlaufen. So oder so war das Ergebnis, daß in den calvinistisch gewordenen Kirchen Heiligenbilder und Schmuck fehlten. Die Fresken wurden weiß übertüncht, bunte Fenster und Seitenaltäre entfernt; wenn der Hauptaltar blieb und nicht durch einen Tisch ersetzt wurde, dann entkleidete man ihn seines Schmuckes. Bewußt war alles beseitigt worden, was auch nur entfernt dem Bilderverbot nach reformierter Auslegung widersprach und die Konzentration auf das Wort hätte mindern können. Auf katholischer Seite anerkannte man, daß Mißbräuche bei der Bilderfrömmigkeit nicht auszuschließen seien. Das Konzil von Trient stellte sich aber mit seinem Beschluß von 1563 in die Tradition, nach der die Verehrung der Bilder Christi und der Heiligen zwar nicht heilsnotwendig, wohl aber eine gute Hilfe war. Auf dieser Basis waren die reich geschmückten, katholischen Kirchen des Barock möglich. Die dynamischen Formen, die Ornamente aus Stuck, zahlreiche Engel, prächtige Wandgemälde, viele Bilder und Altäre – all das stand in deutlichem Kontrast zu den kahlen Gotteshäusern der Calvinisten. Wie schon die gotischen Kirchen mit ihren nach oben strebenden Pfeilern und Fenstern sollte das barocke Kirchengebäude die Sinne ansprechen, eine Ahnung von der Größe und Herrlichkeit Gottes und der Ordnung der Welt vermitteln – ganz anders als das Reformiertentum, das auf das Wort und die Nicht-Anschaulichkeit setzte. Der völlig verschiedene Kirchenraum im Katholizismus und Calvinismus spiegelte zwei einander entgegensetzte theologische und didaktische Konzepte wider.

1.7 Gottesdienst und Liturgie 1.7.1 Die gemeinsame Liturgie und Liturgiesprache des lateinischen Westens Kultische Feiern machen den Kern gemeinschaftlichen religiösen Lebens aus. Naturgemäß werden dafür Regeln und Rituale entwickelt, so auch im Christentum. Bereits in der Frühen Kirche bildeten sich – regional unterschiedliche – Liturgien heraus. Liturgie (gr. leiturgía = Dienst, Ordnung) ist der zusammenfassende Begriff für die gottesdienstlichen Handlungen. Der Begriff Liturgie war in den östlichen Kirchen seit dem 5. Jh. gebräuchlich, im lateinischen Westen setzte er sich seit dem 16. Jh. nach und nach durch. Der christliche Gottesdienst selbst wurde im Mittelalter vor allem mit dem Begriff Messe bezeichnet, in lateinischsprachigen Quellen ist auch von officium

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(Dienst, Amt, vgl. die heute gängige Bezeichnung Hochamt), caeremonia oder opus Dei die Rede. Das deutsche Wort Messe und die entsprechenden Wörter in anderen europäischen Sprachen sind als Lehnwort aus dem Lateinischen übernommen worden. Mit dem Ruf „Ite, missa est!“ (etwa: Geht, es ist Verabschiedung, Entlassung) leitete der Priester das Ende des Gottesdienstes und den Segen ein. Missa wurde im 5. Jh. zunächst als Bezeichnung dieses Schlußteils üblich, dann für die Bezeichnung der Eucharistiefeier und schließlich für den gesamten Gottesdienst. Die regional unterschiedlichen Meßliturgien wurden bereits in der Frühen Kirche in verschiedenen liturgischen Büchern festgehalten. Im Zuge der Karolingischen Kirchenreform machte Karl der Große in seinem Reich die römische Liturgie verbindlich. Dahinter stand nicht zuletzt der Wunsch, den richtigen Kultus in seinem gesamten Herrschaftsgebiet sicherzustellen: Es ging um die religiöse Sicherung des Reiches, die nur möglich war, wenn überall die angemessenen kultischen Handlungen und Worte angewendet wurden. Die Liturgiereform Karls war mittel- und langfristig von größter Bedeutung: Der christliche Gottesdienst wurde seitdem im gesamten lateinischen Westen durch eine in ihren wesentlichen Teilen einheitliche Liturgie gestaltet. Ob ein Gläubiger die Messe in Genua, York, Wesel oder Linköping besuchte – überall konnte er dem ihm vertrauten Ablauf folgen. Hier war das christlich-lateinische Europa konkret als grenzüberschreitende religiös-kulturelle Einheit faßbar, obgleich es über lange Zeiträume hinweg auch ein gewisses Maß an regionalen Varianten und Abweichungen gab. Zu dieser Einheit trug wesentlich bei, daß es seit der Spätantike eine i.W. gemeinsame Liturgiesprache gab: das Lateinische. Bis ins 3./4. Jh. war der christliche Gottesdienst meist in griechischer Sprache gefeiert worden. Das koiné-Griechisch war die Verkehrssprache des östlichen Mittelmeerraumes – dort, wo es bis dahin die meisten Christen gab; auch in den großen Städten des Westens war das koiné-Griechisch verbreitet, so auch in Rom. Ab dem 3./4. Jh. aber ging die Entwicklung auseinander: Im Osten wurde der Gottesdienst in der Volkssprache gefeiert. Im vielsprachigen Westen setzte sich das Lateinische als liturgische Sprache durch und blieb es in der katholischen Kirche bis zum II. Vatikanischen Konzil (1962-1965). In den reformatorischen Kirchen wurde das Lateinische teilweise abgeschafft, teilweise wurden zunächst Mischformen eingeführt. Luther legte Wert darauf, daß das Lateinische als liturgische Sprache nicht gänzlich verschwand, damit man nicht nur zuhause, sondern auch in fremden Ländern den Gottesdienst verstehen und mitfeiern könne. Auf Dauer fand dieses Anliegen aber keinen Widerhall mehr. Die Regel im Westen war also seit dem Frühmittelalter die lateinische Liturgie, deren Teile meist gesungen wurden. Die Predigten (vgl. Kap. 3) und Lesungen wurden in der Volkssprache gehalten.

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1.7.2 Die Gliederung des christlichen Gottesdienstes. Der christliche Gottesdienst besteht aus vier Teilen: Eröffnung; Verkündigung mit der Predigt im Kern; Feier des Herrenmahls; Schluß mit Segen. Auf zwei wichtige Abweichungen von dieser Viergliederung sei bereits hier hingewiesen. Die erste Ausnahme sind die predigtlosen Messfeiern. Der zweite Teil entfällt hier, namentlich dann, wenn es sich um eine Privatmesse handelte (vgl. Kap. 1.5.4.), die ein einzelner Geistlicher liest, ohne Gemeinde und folglich ohne Predigt. Die zweite wichtige Ausnahme ist, daß nicht immer das Herrenmahl gefeiert wird. Das war bereits bei den Predigtgottesdiensten des Spätmittelalters der Fall, die an Werktagen stattfanden. Außerhalb dieser Predigtgottesdienste gehörte die Kommunion jedoch dazu. Das heißt nicht, daß die Gläubigen allesamt die Hostie empfingen, teilweise wurde die Kommunion sogar von der eigentlichen Eucharistiefeier getrennt. Tatsächlich gingen die meisten Gläubigen selten zur Kommunion, während sie sich sonst auf die ehrfurchtsvolle Schau des Sakraments beschränkten, die Augenkommunion (s. Kap. 1.5.4.). Aber gerade auch hierin war die Eucharistiefeier der Höhepunkt jeder Messe. Im 16. Jahrhundert knüpften die aus der Reformation hervorgehenden Kirchen an den vorreformatorischen Predigtgottesdienst an. In den meisten evangelischen Gottesdiensten wird kein Abendmahl gefeiert, der dritte Teil des Gottesdienstes entfällt also. Das war ein Bruch mit der gesamten christlichen Tradition des sonntäglichen Gottesdienstes und ist bis heute ein wesentlicher Unterschied zur katholischen Messe. Sofern der lutherische Gottesdienst mit Abendmahl gefeiert wird, finden sich darin dieselben vier Teile wie in der Messe. Bei den Reformierten (also bei den Kirchen, die sich von Calvin und von Zwingli herleiten) ist die Liturgie jedoch so drastisch reduziert, daß sich die vier Teile nur noch rudimentär wiederfinden lassen. Zurück von den Ausnahmen zur Regel: ein vollständiger katholischer oder lutherischer Gottesdienst hat die o. g. vier Bestandteile, unter denen der Verkündigungsteil und die Mahlfeier hervorragen. Wir gehen die vier Teile durch, wobei viele Details wie etwa einleitende kurze Gesänge nicht erwähnt werden. Ebenso finden die je nach Epoche, Region, Kirchenjahreszeit und Konfession auftretenden zahlreichen Varianten keine Erwähnung. Der Eröffnungsteil wird anhand des Missale Romanum von 1570 vorgestellt, eines Meßbuchs, das bis 1970 für die gesamte katholische Kirche weitgehend verbindlich war. Der Gottesdienst wird eröffnet durch den Einzug des Priesters und anderer Geistlicher, während der Chor den Introitus (lat. Eröffnungsgesang) singt. Zwei weitere liturgische Gesänge schließen sich an, zunächst das Kyrie eleison (gr. Herr, erbarme dich). Das Kyrie ist ein frühchristlicher Bitt- und Huldigungsruf – die Anrede Kyrios (Herr), die hier Christus gilt, kam sonst nur dem römischen

1.7 | Gottesdienst und Liturgie

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Kaiser zu. Dem Kyrie folgt das Gloria in excelsis (lat. Ehre sei Gott in der Höhe), ein längerer Lob- und Festgesang, der in den Fastenzeiten entfällt. Der Text des Gloria beginnt mit den Worten, die der Evangelist Lukas in der Geburtsgeschichte Jesu als den Gesang der Engel auf dem Feld von Bethlehem berichtet (Lk 2,14) und mündet in ein ausführliches Lob- und Bittgebet. Während der Gesänge beten der Priester und die anderen teilnehmenden Geistlichen vor dem Altar, nach Osten, nach Jerusalem, gewandt. Nach dem Ende des Gloria wendet sich der Priester um und grüßt die Gemeinde: „Dominus vobiscum“ (lat., Der Herr sei mit euch). Nach der Antwort der Gläubigen „Et cum spiritu tuo“ (lat., Und mit deinem Geist) folgt die Oration (lat. Gebet, Rede), ein je nach Kirchenjahreszeit verändertes, gesungenes Gebet des Geistlichen, das die Gemeinde mit „Amen“ (etwa: So sei es!) bekräftigt. Die Oration schließt den Eröffnungsteil ab und leitet über zum zweiten Teil des Gottesdienstes, dem Verkündigungsteil. Er untergliedert sich im heutigen katholischen und evangelischen Gottesdienst in Deutschland folgendermaßen: Katholische Messe

Lutherischer Gottesdienst

Erste Lesung (aus dem AT)

Lesung (aus dem AT)

Antwortpsalm / Lied

Lied

Zweite Lesung: Epistel (aus einem Brief des NT)

Lesung: Epistel (aus einem Brief des NT)

Hallelujavers

Halleluja Lied

Evangelienlesung

Evangelienlesung Credo [hier oder nach der Predigt] Lied

Predigt

Predigt

Credo Fürbitte

Fürbitte

Das hebräische Lobwort Halleluja bedeutet „Lobt Gott!“. Im diesem zweiten Teil finden zunächst Lesungen aus der Bibel statt, danach folgt die Predigt. Vielfach wird im evangelischen Gottesdienst allerdings die Zahl der Lesungen reduziert. Vor oder nach der Predigt ist der Platz des Credo. Ins Auge fällt die große Übereinstimmung zwischen katholischem und lutherischem Gottesdienst in diesem Verkündigungsteil. Hier wird bis heute am deutlichsten, wie die gemeinsame Liturgie den lateinischen Westen geprägt hat.

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Die Übereinstimmung verdeckt allerdings einen Akzentunterschied. Die evangelische Predigt ist in der Regel länger als die katholische und vor allem wird ihr ein höherer Stellenwert beigemessen, während in der katholischen Messe die Eucharistiefeier der Höhepunkt des Gottesdienstes ist. Der liturgische Ablauf des dritten Gottesdienstteils sieht heute in den meisten lutherischen Kirchen in Deutschland und in der katholischen Kirche folgendermaßen aus: Katholische Eucharistiefeier

Evangelische Abendmahlsfeier

Darbringung der Gaben unter Gebet und Lied der Gemeinde

Bereitstellung von Brot und Wein während eines Lieds oder Gebets

Eucharistisches Hochgebet mit Dank und Fürbitte (Präfation) mit Lobgesang Sanctus und Einsetzungsworten Christi.

Lobgebet Lobgesang Dreimal heilig (Sanctus) Einsetzungsworte Christi

Vaterunser

Vaterunser

Friedensgruß

Friedensgruß

Brechung der Hostie Bittgesang Agnus Dei

Bittgesang Christe du Lamm Gottes (Agnus Dei)

Kommunion

Austeilung des Abendmahls

Danklied oder Musik oder Stille

Lied oder Musik oder Stille

Schlußgebet

Dankgebet

Der lateinische Text des Sanctus lautet: Sanctus, sanctus, sanctus Dominus, Deus Sabaoth. Pleni sunt coeli et terra gloria tua. Hosanna in excelsis. Benedictus qui venit in nomine Domini. Hosanna in excelsis (= Heilig, heilig, heilig Herr Gott, Herr der Heere. Die Himmel und die Erde sind voll deines Ruhms. Hosianna in den Himmeln. Gesegnet sei, der kommt im Namen des Herrn. Hosianna in den Himmeln). Der Ruf Hosianna (hebr., hilf doch) ist ein in den Evangelien bezeugter Heil-Ruf beim Einzug Jesu in Jerusalem (Joh 12,13). Der Text des Agnus Dei lautet: Agnus Dei qui tollis peccata mundi, miserere nobis (3x), dona nobis pacem (= Lamm Gottes, das du trägst die Sünden der Welt, erbarme dich unser, gib uns Frieden). Der Ehrentitel Agnus Dei (Lamm Gottes) für Christus bezieht sich auf Jes 53,7; hier wird der zukünftige Messias als Lamm bezeichnet, das sich opfert. Auffällig ist auch im dritten Teil des Gottesdienstes die weitreichende Übereinstimmung; sie hat ihren Ursprung darin, daß Luther die Meßliturgie weitgehend beibehielt – im Unterschied zu Zwingli und anderen Reformatoren. Nicht zufällig lautete der säuerliche Kommentar eines zwinglianisch gesonnenen Geistlichen aus Augsburg, der 1536 Wittenberg besuchte, die Gottesdienste an Luthers Wir-

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kungsstätte würden „more papistico“ gehalten, also nach „papistischer“ Sitte.35 Allerdings entfallen heute im evangelischen Gottesdienst nicht selten Teile der Abendmahlsliturgie wie Lobgebet, Sanctus und Friedensgruß. Das Sanctus und das Agnus Dei gehören zusammen mit Kyrie, Gloria und Credo (das bis ins 19. Jahrhundert hinein gesungen wurde) zu den fünf sogenannten Ordinariumsgesängen (lat. ordinarius = ordentlich, regulär), während andere liturgische Gesänge je nach Kirchenjahreszeit wechseln oder entfallen. Die z.T. zwischen Gemeinde und Geistlichen im Wechsel gesungenen Ordinariumsgesänge bilden das liturgische Grundgerüst des Gottesdienstes – erkennbar etwa auch in den Messen der Komponisten verschiedener Epochen. In den vierten, kurzen Schlußteil des Gottesdienstes, der von der Herrenmahlsfeier in den Alltag hinüberleitet, gehören Bekanntmachungen und vor allem der Zuspruch des Segens an die Gläubigen. Die üblichste Form ist der aaronitische Segen (Num 6,24-26). Bei diesem Überblick kaum berücksichtigt sind Gesten, Gebetshaltungen sowie der Kirchenraum selber (vgl. Kap. 1.6.). Tatsächlich ist es aber besonders im katholischen Gottesdienst so, daß Gesänge, Gebete und Lesungen mit Gebärden der Ausführenden und der Gemeinde verbunden sind. Gehen, Stehen, Sitzen, Sich-Verneigen, Sich-Bekreuzigen, Falten der Hände, Handauflegung sind einige davon und wesentliche Bestandteile der Liturgie. Ein Beispiel. Nach dem Missale Romanum von 1570 findet die Lesung des Evangeliums durch den Diakon statt. Zuerst spricht er ein Gebet vor dem Altar: ‚Reinige mein Herz und meine Lippen.‘ Dann nimmt er das Evangeliar, das Evangelienbuch, vom Altar. Er bittet den Priester um den Segen. Das geschieht. Darauf trägt der Diakon das Evangeliar zum Lesepult. Er grüßt die Gemeinde: ‚Dominus vobiscum.‘ Dann kündigt er singend die Lesung an; währenddessen zeichnet er das Kreuz zuerst auf das Buch, dann auf seine Stirn, den Mund und die Brust. Die Messdiener (Ministranten) singen eine Antwort auf die Ankündigung: ‚Gloria tibi, Domine‘ (lat., Ehre sei dir, Herr). Dann liest der Diakon den Evangelientext. Nach Ende der Lesung trägt der Subdiakon das Buch zum Priester. Der küßt das Evangeliar und spricht: ‚Durch die Worte des Evangeliums mögen getilgt werden unsere Sünden.‘ Es gibt also eine ganze Serie von Gesten und Bewegungen, mit denen die Verlesung des Evangeliums eingeleitet, ausgestaltet und abgeschlossen wird. Alle diese Gesten und Bewegungen haben die Funktion, das zu verdeutlichen, was geschieht: Lob Gottes, Gebet, Hören auf Gottes heilbringendes Wort. Die Gesten deuten es schon an: Der christliche Gottesdienst läßt sich als ein dramatisches Geschehen begreifen! Das Heilsgeschehen wird annäherungsweise nachvollzogen. Im Mittelalter hat man die Messe sogar vollständig als Allegorie des Lebensweges Christi verstanden: Das beginnt mit dem Introitus – er wird parallelisiert mit der Ankündigung der Geburt Christi durch die Propheten des 35

Wolfgang Musculus, zit. nach Karl-Heinrich Bieritz: Liturgik. Berlin – New York 2004, S. 484.

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AT. Das Ende mit dem Segen wird parallelisiert mit dem Segen, den Christus den Jüngern vor seiner Himmelfahrt erteilte. Diese uns zunächst fremde Allegorisierung mag nicht in allen Details überzeugen; gleichwohl sind wesentliche Teile des Heilsgeschehens im Gottesdienst präsent, namentlich in der Eucharistiefeier: Passion, Tod und Auferstehung Christi. An diesem dramatischen Geschehen des Gottesdienstes waren die Geistlichen, der Chor und die Gläubigen beteiligt, letztere mit Antwortgesängen, volkssprachigen Liedern, Sakramentsempfang oder doch zumindest schauender Teilnahme an der Kommunion. In der heutigen katholischen Messe ist die dramatische Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens immer noch präsent, in den predigtzentrierten evangelischen Gottesdiensten kaum.

2 Die Bibel – das Buch und die Bücher Die Bibel ist das Grundbuch der Christen. Das gilt im engeren, religiösen Sinn, verstehen Gläubige sie doch als Heilige Schrift: Erneuerung und Dynamik in der Christentumsgeschichte war vielfach damit verbunden, daß die Bibel besonders intensiv gelesen, teilweise neu ausgelegt wurde. Die Bibel als Grundbuch der Christenheit – das gilt aber auch in einem weiteren Sinn über Kirche und Frömmigkeit i.e.S. hinaus. Die ersten literarischen Werke vieler europäischer Sprachen waren Bearbeitungen biblischer Stoffe und die Wirkungsgeschichte der Bibel auf die schöne Literatur dauert bis heute an. Das europäische Geschichtsbild wurde lange Zeit von Passagen der alttestamentlichen Prophetenbücher Daniel und Ezechiel geprägt (Kap. 8.5.1.). Man nahm auf die Bibel Bezug, wenn es um die Legitimation sowie um die Begrenzung von Herrschaft ging (Kap. 8.1., 8.4.). Auch wurde die Bibel als Quelle für Weltwissen im allgemeinen Sinne gelesen – allerdings lehnte schon der Kirchenvater Augustinus († 430) diese Art der Lektüre ab und sie blieb umstritten. Im Bereich des Rechts berief man sich auf die Bibel, ohne aber in der Regel detailliert auf sie zurückzugreifen. Auch die Forderung nach kirchlichen wie sozialen Reformen wurde immer wieder ausdrücklich mit der Bibel begründet. In allen diesen Fällen war die Bibel in ihrer Gesamtheit als Heilige Schrift, als Wort Gottes, das autoritative Buch schlechthin.

2.1 Der Aufbau der Bibel Das Wort Bibel kommt von griech. biblos = Buch. Genau genommen ist die Bibel nicht ein Buch, sondern eine kleine Bibliothek, die im Zeitraum etwa eines Jahrtausends entstand. Sie enthält mehr als 60 einzelne Schriften unterschiedlichen Umfangs. Die Bibel besteht aus zwei Teilen, dem Alten Testament und Neuen Testament. Der Begriff Testament (von lat. testamentum) meint hier „Bund“, man kann also übersetzend von Altem Bund und Neuem Bund sprechen. Gemeint ist jeweils ein Bund, den der jüdisch-christliche Gott mit den Menschen schließt – diese Bundesschlüsse stellen den inhaltlichen Kern der beiden Bibelteile dar. Die Bezeichnung Alter Bund ergibt sich aus christlicher Perspektive und meint den Bund Gottes mit dem Volk Israel am Sinai; er geht dem Neuen Bund, verkörpert durch Christus, zeitlich voraus.

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Die Bibel – das Buch und die Bücher | 2

Altes Testament: – 39 Bücher in drei Gruppen a. Geschichtsbücher (Pentateuch = fünf Bücher Mose = Tora; und 12 weitere Bücher); b. Lehrbücher & Psalter; c. Prophetenbücher (vier „große“ Propheten; Zwölfprophetenbuch). – Entstehungszeit: ab 9./8. Jh. v. Chr. – Kanonbildung: 6.-2. Jh. v. Chr. – Zu den 39 Büchern kommen hinzu: Apokryphe Schriften des AT.

2.1.1 Das Alte Testament. Die Schriften des AT entstanden ab dem 9./8. Jh. v. Chr.; seit dem 6. Jh. fand eine Kanonbildung statt, d.h. eine Festlegung auf bestimmte Schriften als allgemeine und verbindliche Glaubensgrundlage (griech. kanon = Richtschnur). Bemerkenswert ist der Zeitpunkt, zu dem die Kanonbildung des jüdischen AT begann. 587/586 v.Chr. eroberten die Babylonier Jerusalem und zerstörten den unter König Salomon im 10. Jh. errichteten Tempel. Juda wurde eine Provinz des neubabylonischen Reiches, die einheimischen Eliten deportierte man ins Exil nach Babylon. Diese politische Katastrophe bedeutete zugleich einen religiösen Zusammenbruch, denn Religion und Politik waren engstens miteinander verknüpft. Es war zu erwarten, daß der jüdische Gottesglaube verschwinden würde, denn „nichts ist natürlicher als [...] in Babylon Jerusalem zu vergessen.“1 In der Tat war dies der Regelfall vorderorientalischer Religion: Der Gott der Besiegten verschwand, die Besiegten schlossen sich in der einen oder anderen Form der Verehrung des Siegergottes an, erst recht, wenn – wie in diesem Fall – der Tempel, das zentrale Heiligtum, zerstört war. Genau das aber geschah nicht, im Gegenteil: Es begann die jüdische Kanonbildung. Sie zeugt vom Willen der Besiegten, trotz der religiös-politischen Katastrophe an ihrem Gott festzuhalten. Die Kanonbildung trug wesentlich zur religiösen und kulturellen Identität des in der Folge entstehenden Judentums bei; mit der religiöskulturellen Bezeichnung Judentum ab der Zeit der Babylonischen Gefangenschaft wird der Unterschied zur Zeit vor 587/586 v. Chr. markiert, in welcher Israel bzw. Juda politisch eigenständige Größen waren. Die Kanonbildung des AT war bis zum 3./2. Jh. v. Chr. weitgehend abgeschlossen, endgültig dann um 100 n. Chr. Das AT unterteilt sich nach christlicher Tradition in drei Gruppen von Schriften. Die erste Gruppe wird meist als die der „Geschichtsbücher“ bezeichnet. Ge1

Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München (2. durchges. Aufl.) 1997, S. 214.

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schichte ist dabei nicht zu verstehen in einem neuzeitlich-wissenschaftlichen Sinne. In der Perspektive der Verfasser geht es stets um die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel, um die Geschichte des Bundes: Die Darstellung ist geprägt von einer religiösen Sicht. Der Theologe CLAUS WESTERMANN hat diese Sicht als „Grundstruktur des berichtenden Gotteslobes“ charakterisiert.2 In der Darstellung wird also immer wieder das Geschehen als Handeln Gottes in der Geschichte gedeutet. In der Gruppe der Geschichtsbücher sind die ersten fünf Bücher der Bibel besonders zu erwähnen, die Fünf Bücher Mose oder Pentateuch (griech. Fünfbändebuch). Im ersten Buch, der Genesis (griech. Entstehung), wird die Erschaffung der Welt durch Gott den Schöpfer geschildert. Die Urgeschichte der ersten Menschen folgt, Adam und Eva, Kain und Abel, Noah und die Sintflut. Die Geschichte der Erzväter, der Ahnherren des Volkes Israel, schließt sich an: Abraham, Isaak und Jakob, dann die Geschichte der Kinder Jakobs, in der die spannungsreiche Beziehung Josephs zu seinen Brüdern hervortritt. Die Genesis endet mit dem Tod Jakobs und Josephs, deren Familie und Nachkommen sich in Ägypten niedergelassen haben. Hier liegt der Ausgangspunkt für die folgenden vier Bücher des Pentateuch, beginnend mit dem Buch Exodus: Namengebend ist hier die Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten, gefolgt vom Auszug aus Ägypten (griech.-lat. exodus = Auszug) und der vierzigjährigen Wüstenwanderung ins Gelobte Land Kanaan (gelobt = versprochen). Die Befreiung aus Ägypten und der bereits erwähnte Bundesschluß am Sinai waren und sind die konstitutiven Ereignisse des jüdischen Gottesglaubens und haben auch für den christlichen Glauben große Bedeutung. Der Pentateuch heißt im Judentum Tora, was etwa mit „Weisung Gottes“ zu übersetzen ist; der Name erklärt sich nicht nur aus dem Dekalog, sondern auch aus den zahlreichen Kultvorschriften und Gesetzen, die sich im dritten und vierten Buch des Pentateuch (Leviticus und Numeri) finden. In einem erweiterten Sinne wird der Begriff Tora aber auch für das gesamte AT verwendet. Der Berichtszeitraum der zwölf Schriften, die neben dem Pentateuch als Geschichtsbücher bezeichnet werden, reicht vom Beginn der Eroberung Kanaans durch die Israeliten (um 1230 v.Chr.) bis in die Zeit nach Ende des babylonischen Exils (6./5. Jh.). Ein Schwerpunkt liegt auf der Darstellung der ersten drei Könige Saul, David und Salomon (11./10. Jh.). Bei der zweiten Gruppe der alttestamentlichen Bücher, meist unter dem Begriff „Lehrbücher“ zusammengefaßt, handelt es sich vor allem um religiöse Weisheitsliteratur; am bekanntesten ist das Buch Hiob. Hinzu kommt der Psalter, das Gebet- und Gesangbuch Israels. Der Psalter enthält 150 einzelne Psalmen (griech. psalmos = Saitenspiel), Lieder für den kultischen Gebrauch im alten Israel, Loblieder, Klagelieder, Weisheitslieder, Bußlieder, Wallfahrtslieder. Fast die 2

Claus Westermann: Abriß der Bibelkunde. Altes Testament. Neues Testament. Stuttgart (13. durchgeseh. Aufl.) 1991, S. 19.

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Hälfte der Psalmen werden dem König David zugeschrieben; sicherlich stimmt diese Zuordnung oft nicht, aber dieser bedeutendste König Israels gilt als der größte Dichter, Sänger und Harfenspieler seines Volkes. Der Psalter wurde zum ersten Gesangbuch der christlichen Kirche und prägt bis heute das christliche Lied mit. Die dritte Gruppe des AT sind die Prophetenbücher, insgesamt 17 Schriften, die noch einmal unterteilt werden in vier große Propheten (Jesaja, Jeremia, Ezechiel, Daniel) und das Zwölfprophetenbuch der zwölf kleinen Propheten. Der griechische Ausdruck profétes ist als „Sprecher für Gott“ zu verstehen: Ein Prophet war nach dem Verständnis des AT eine Person, die den Willen Gottes verkündete – oft wurden Prophetenworte angekündigt mit der Formulierung „So spricht der Herr“. Die landläufige Vorstellung von Prophetie als einer zukunftsgerichteten religiösen Aussage ist daher nicht falsch, aber insofern zu ergänzen, als die prophetische Rede im Sinne des AT beides betraf – Gegenwart und Zukunft. Die Propheten verkündeten Heil und Gericht; sie kritisierten den Zustand des Kultus, soziale Mißstände und das politische Handeln der Könige. Daraus erklären sich die Konflikte, die immer wieder im AT geschildert werden: Die Botschaft der Propheten stieß nicht immer auf Gegenliebe; ebenso ist Konkurrenz zwischen verschiedenen Prophetengruppen erkennbar. Katholische Bibelübersetzungen enthalten noch einige Schriften, die in reformierten Bibelübersetzungen beim AT fehlen und in lutherischen Übersetzungen als Apokryphen in einer Art Anhang gesondert ausgewiesen sind (griech. apokryphos = verborgen). Es handelt sich hier um Schriften, die in der Zeit zwischen 200 v. Chr. und 100 n. Chr. entstanden und daher nicht zum ursprünglichen Kanon des AT gehörten. Diese Spätschriften des AT wurden von der Frühen Kirche als zur Bibel gehörig anerkannt. Unter ihnen finden sich Geschichtsbücher wie auch Weisheitsbücher – gerade letztere waren in Mittelalter und früher Neuzeit recht beliebt, z.B. das Buch Jesus Sirach. Luther akzeptierte die Spätschriften des AT nicht als gleichwertig mit den kanonischen Schriften des AT, obgleich er ihre Lektüre empfahl. In Reaktion auf ihn beriet das Konzil von Trient (1545-1563) noch einmal über diese Frage und stimmte 1546 mit gewissen Bedenken ihrem Verbleib im Kanon zu. Die frühe christliche Kirche hat das AT, die jüdische Heilige Schrift, bewußt übernommen, weil der Gott Israels für die ersten Christen ganz selbstverständlich der Vater Jesu Christi war. Die Bedeutung des AT lag und liegt für die Christen nicht zuletzt darin, daß in ihm zahlreiche prophetische Hinweise auf Christus gesehen werden. Zwar gab es im 2. Jh. Strömungen innerhalb der Kirche, die sich gegen dieses jüdische Erbe richteten. Das reichte bis zu dem Versuch, das AT ganz wegzulassen und die damals existierenden Schriften des NT von jüdischem Einfluß zu „reinigen“. Dagegen hielt die große Mehrheit der Christen daran fest, daß das AT und die Kirche zusammengehörten.

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2.1.2 Das Neue Testament. Neues Testament: 27 Bücher in drei Gruppen a. Geschichtsbücher (vier Evangelien; Apostelgeschichte); b. Briefe (der Apostel an frühe christliche Gemeinden); c. Prophetisches Buch (Johannes-Apokalypse). – Entstehungszeit: 1./2. Jh. n. Chr. – Kanonbildung: 2.(-4.) Jh. Auch die Schriften des NT werden üblicherweise in drei Gruppen eingeteilt. Die erste bilden wiederum die Geschichtsbücher, hier zunächst die vier Evangelien (griech. euangelion = gute Nachricht). Gute Nachricht – damit ist der Bericht von Jesus von Nazaret gemeint, angefangen mit seiner Geburt, über sein Wirken bis zu Leiden, Sterben und Auferstehung. Die Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas bezeichnet man zusammenfassend und in Abgrenzung vom Johannes-Evangelium auch als synoptische Evangelien (griech. synopsis = Zusammenschau), weil sie nach Inhalt und Aufbau eng verwandt sind. Die Evangelisten setzten unterschiedliche Akzente. Lukas z.B. wandte sich in seinem Evangelium explizit an Christen nichtjüdischer Herkunft, Matthäus schrieb für Judenchristen. Zu den Geschichtsbüchern gehört ferner die Apostelgeschichte des Lukas: hier geht es um die Taten der Apostel nach Himmelfahrt und Pfingsten. Eine wichtige Rolle in der Apg spielen die Wandlung des ehemaligen Christenverfolgers Saulus zum Apostel Paulus und seine Missionsreisen in Kleinasien und Griechenland. Mit diesen Missionsreisen eng verknüpft sind die Briefe, die zweite Schriftengruppe des NT. Briefe der Apostel waren die ersten Schriften des späteren NT überhaupt; sie wurden ab ca. 50 n. Chr. geschrieben, während die Evangelien etwas später, um 70 n. Chr., entstanden. In den Briefen des Paulus und anderer Apostel an verschiedene Gemeinden ging es um Ermutigung und Ermahnung in schwierigen Situationen, um ethische Probleme sowie um Lehrfragen der jungen christlichen Kirche. Die dritte Kategorie von Schriften im NT besteht nur aus einem Buch, der Johannes- Apokalypse (s. Kap. 8.5.). Die Kanonisierung der Schriften des NT fand i.W. in der zweiten Hälfte des 2. Jh.s statt; am Ende des 4. Jh.s war sie endgültig abgeschlossen. Es hat alles in allem wenige Auseinandersetzungen um den Kanon des NT gegeben; die meisten Schriften des NT wurden in den christlichen Gemeinden bereits als authentische Glaubensgrundlage angesehen, ehe es in einem letzten Schritt zur offiziellen Festlegung durch Konzile kam. Eine ganze Reihe frühchristlicher Schriften ging nicht in den Kanon des NT ein, weil sie meist deutlich von den kanonischen

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Evangelien und der Lehre der Briefe abweichen, z.T. auch weil sie fiktiven, legendarischen Charakter tragen. Der Kanon des NT, wie er am Ende des 4. Jahrhunderts existierte, wurde in der Folgezeit kaum in Frage gestellt und nicht mehr geändert. Die Bibel ist damit von Gestalt und Inhalt her die i.W. übereinstimmende, gemeinsame Grundlage aller christlichen Konfessionen in Geschichte und Gegenwart.

2.1.3 Die Sprachen der Bibel und Bibelübersetzungen. Das AT ist überwiegend in hebräischer Sprache geschrieben, kleinere Teile wurden auf Aramäisch verfaßt. Aramäisch ist eine semitische Sprache, die ab dem 6./4. Jh. als Umgangssprache im Vorderen Orient diente. Im 3. Jh. v.Chr. wurde das hebräische AT ins Griechische übersetzt: viele Juden lebten zu dieser Zeit bereits außerhalb Palästinas in Städten im östlichen Mittelmeerraum und verstanden Griechisch besser als Hebräisch. Die damals entstandene Übersetzung des AT ins Griechische heißt Septuaginta (lat., 70; üblich ist daher die Abkürzung LXX für diese Übersetzung). Der Legende nach übersetzten 70 (72) Übersetzer in 72 Tagen den Pentateuch ins Griechische, wobei der Name der Übersetzung vom Pentateuch auf das ganze AT ausgedehnt wurde. Die LXX als griechisches AT wurde die Heilige Schrift der ersten Christen. Das NT ist in griechischer Sprache verfaßt worden, genauer: im Koiné-Griechisch, der lingua franca im hellenistisch geprägten östlichen Mittelmeerraum. Jesus selbst und seine Jünger sprachen Aramäisch, einzelne aramäische Redewendungen und Begriffe finden sich im NT. Mit der religiösen wie kulturellen Wirkungsgeschichte der Bibel sind die verschiedenen Bibelübersetzungen engstens verbunden. Übersetzungen wurden nötig, weil ab dem 4. Jh. die griechische Sprache nicht mehr die Muttersprache der meisten Christen war. Auf diesem Hintergrund entstand die lateinische Bibelübersetzung des Kirchenvaters Hieronymus († 420). Sie steht, was das AT angeht, dem hebräischen Urtext deutlich näher als die LXX. Hieronymus’ Übersetzung der gesamten Bibel wurde für mehr als ein Jahrtausend lang die für die Kirche des Westens maßgebliche Bibelübersetzung und daher Vulgata genannt (lat., die allgemeine). Neben der Vulgata gab es frühe Übersetzungen der Bibel in die Volkssprachen – nicht selten gehören (Teil)übersetzungen der Bibel zu den ersten überlieferten Zeugnissen der Schriftsprache eines europäischen Volkes. So gab es seit dem Ende des 9. Jh.s Teilübersetzungen der Bibel in althochdeutscher Sprache. Vor Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern waren der Verbreitung vollständiger Bibeln in der Volkssprache enge Grenzen gesetzt; gleichwohl gab es im Spätmitttelalter bereits viele volkssprachliche Übersetzungen der Bibel oder einzelner Bibelteile. Punktuell hemmten im Hoch- und Spätmittelalter kirchliche Vorbehalte gegen die Nutzung volkssprachlicher Bibeltexte

2.1 | Der Aufbau der Bibel

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durch Laien deren Verbreitung: man befürchtete aufgrund der Erfahrung mit den Ketzerbewegungen seit dem 12. Jh., daß die Laien als ungelehrte Bibelausleger häretische Ansichten entwickeln könnten. Einzelne Kirchenversammlungen, etwa in Frankreich und Spanien, untersagten Laien den Besitz von Bibelübersetzungen. Ein generelles Verbot der Bibellektüre für Laien bestand jedoch weder vor noch nach Gutenbergs bahnbrechender Erfindung. So sind uns aus der Zeit zwischen 1466 und 1517 heute 14 gedruckte Bibeln in hochdeutscher Sprache bekannt, dazu einige niederdeutsch-niederländische Übersetzungen. Martin Luther war also keineswegs der erste, der die Bibel in die deutsche Sprache übersetzte (genauer: in die frühneuhochdeutsche Schriftsprache, die er durch seine Übersetzung stark beeinflußte); doch legte er die für lange Zeit beste, sprachlich eingängigste Übersetzung vor. Ihre Qualität wird auch dadurch belegt, daß mehrere katholische Bibelübersetzer der Reformationszeit sie ausgiebig als Vorlage nutzten. Luthers Übersetzung trug erheblich zum Erfolg der Reformation bei. Besonders seine 1522 erschienene Übersetzung des NT fand große Verbreitung – bis zum Erscheinen der vollständigen Bibelübersetzung Luthers im Jahr 1534 werden 87 Auflagen in hochdeutscher Sprache und 19 in niederdeutscher Sprache gezählt. Buchdruck, Reformation und konfessionelle Rivalität, schließlich die von allen Konfessionen unternommenen Bemühungen um Bildung trugen dazu bei, daß volkssprachliche Bibeln seit der frühen Neuzeit europaweit immer mehr Verbreitung fanden. Charakteristisch ist, daß viele im 16./17. Jh. entstandenen Bibelübersetzungen in ihrer spezifischen konfessionellen und sprachlichen Prägung bis in die Gegenwart innerhalb ihrer Konfession und Sprache maßgeblich waren. Im deutschen Sprachraum war das neben Übersetzung Luthers die Zürcher Bibel (1529), die im Umkreis des Reformators Zwingli entstand. Die im katholischen Deutschland am meisten verbreitete Bibel war die 1630 auf Grundlage einer Übersetzung des 16. Jh.s erstellte sog. Mainzer Bibel. Im englischen Sprachraum wurde die King James Version maßgeblich, die unter der Regierung Jakobs I. von einer Reihe englischer Theologen erarbeitet und 1611 gedruckt wurde; sie hat die literarische Sprache Englands ähnlich stark geprägt wie Luthers Übersetzung die deutsche Sprache. Für den französischsprachigen Calvinismus in der Schweiz, Frankreich und den Niederlanden wurde die Genfer Bibel (ab 1560/1588) maßgeblich, die im Umfeld Calvins entstand; französische Katholiken hingegen nutzten bis Ende des 17. Jh.s vor allem eine Übersetzung, die 1523/30 vom Humanisten Jacques Lefèvre d’Étaples erstellt worden war und 1550 durch Theologen der Universität Löwen herausgegeben wurde. Alle diese Bibelübersetzungen wurden mehr oder weniger häufig revidiert, d.h. in Bezug auf Wortschatz und Syntax neueren Entwicklungen der Sprache angepaßt. Im 19. und vor allem im 20. Jh. entstanden zahlreiche neue Bibelübersetzungen, z.T. in bewußter Hinwendung zur Alltagssprache. Im katholischen deutschen Sprachraum ist die von evangelischen und katholischen Übersetzern erar-

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Die Bibel – das Buch und die Bücher | 2

beitete Einheitsübersetzung (veröffentlicht 1972-1980) zur maßgeblichen Bibelübersetzung geworden, während im evangelischen Raum die Lutherbibel vermutlich die nach wie vor am meisten verbreitete Bibelübersetzung ist.

2.1.4 Zur praktischen Arbeit mit der Bibel Wer Bibeln mit unterschiedlichem konfessionellen Hintergrund zur Hand nimmt, stellt rasch fest, daß nicht nur die Übersetzung, sondern auch die Reihenfolge und die Bezeichnung der biblischen Bücher variieren. In der nachstehenden Tabelle sind darum die biblischen Bücher mit ihren wichtigsten Namen und Abkürzungen zusammengestellt, dazu auch die lateinischen Bezeichnungen, die meist in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen erscheinen. Die Bücher des Alten Testaments: Namen und Abkürzungen * = Spätschriften des AT / Apokryphen kursiv = gängige lateinische Bezeichnung Die beiden Samuelbücher wurden manchmal auch als erstes und zweites Buch der Könige bezeichnet; ist dies der Fall, werden die beiden ersten Königebücher zum dritten und vierten Buch. Name Genesis (Erstes Buch Mose) Exodus (Zweites Buch Mose) Leviticus (Drittes Buch Mose) Numeri (Viertes Buch Mose) Deuteronomium (Fünftes Buch Mose) Josua Richter (Iudices) Rut(h) 1. & 2. Samuel 1. & 2. Könige (Reges) 1. & 2. Chronik Esra Nehemia * Tobit * Judit(h) Est(h)er * 1. & 2. Buch der Makkabäer Ijob (Hiob) Buch der Psalmen (Psalter)

Abk. Gen Ex Lev Num Dtn Jos Ri (Iud) Rut 1 / 2 Sam 1 / 2 Kön (Reg) 1 / 2 Chr Esra Neh Tob Jdt Est 1 / 2 Makk Ijob Ps

2.1 | Der Aufbau der Bibel

Sprichwörter (Proverbia) Kohelet (Prediger Salomo) (Ecclesiastes) Hohelied (Salomos) (Canticum Canticorum) * Weisheit (Salomos) (Liber sapientiae) * Jesus Sirach Jesaja Jeremia Klagelieder Jeremias (Lamentationes Ieremiae) * Baruch Ezechiel (Hesekiel) Daniel Hosea Joel Amos Obadja (Abdias) Jona(s) Micha (Micheas) Nahum Habakuk Zefanja (Sophonias) Haggai Sacharja Maleachi (Malachias)

Spr (Prov) Koh (Eccl) Hld (Cant) Weish (Sap) Sir Jes Jer Klgl Bar Ez Dan Hos Joel Am Obd Jona Mi Nah Hab Zef Hag Sach Mal

Die Bücher des Neuen Testaments: Namen und Abkürzungen Evangelium nach Matthäus

Mt

Evangelium nach Markus

Mk

Evangelium nach Lukas

Lk

Evangelium nach Johannes

Joh

Apostelgeschichte (Acta Apostolorum)

Apg (Act)

Brief an die Römer

Röm

1./2. Brief an die Korinther

1 / 2 Kor

Brief an die Galater

Gal

Brief an die Epheser

Eph

Brief an die Philipper

Phil

Brief an die Kolosser

Kol

1./2. Brief an die Thessalonicher

1 / 2 Thess

1./2. Brief an Timotheus

1 / 2 Tim

Brief an Titus

Tit

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Die Bibel – das Buch und die Bücher | 2

Brief an Philemon

Phlm

Brief an die Hebräer

Hebr

Brief des Jakobus

Jak

1./2. Brief des Petrus

1 / 2 Petr

1./2./3. Brief des Johannes

1 / 2 / 3 Joh

Brief des Judas

Jud

Offenbarung (Apokalypse) des Johannes

Offb (Apk)

Wurde in Mittelalter und früher Neuzeit auf biblische Texte Bezug genommen, so geschah das z.T. stillschweigend, d.h. ohne explizite Erwähnung des biblischen Belegs, z.T. aber auch mit ausdrücklicher Nennung der Bibelstelle. Seit dem 13. Jh. existierte eine allgemein anerkannte Einteilung der biblischen Bücher in Kapitel, so daß meist auf das entsprechende Kapitel verwiesen wurde, etwa so, wie es der radikale Reformator Thomas Müntzer im Jahr 1524 tat: „Also nötlich ist auch das Schwert, die Gotlosen zu vertilgen, Rom. am 13.“3 Die Angabe „Rom.“ meint „Romani“, also den Brief des Apostels Paulus an die Römer, „am 13.“ verweist auf das dreizehnte Kapitel. Im 17. Jh. bürgerte sich ferner eine Verseinteilung innerhalb der Kapitel ein; wer in heutigen Bibeln nachschlägt, wird daher schnell feststellen, daß Müntzer sich auf die Passage des genannten Kapitels bezog, die wir als Vers 4 kennen. Der heute übliche Beleg würde lauten: Röm 13,4 – es wird also zunächst das biblische Buch bzw. dessen deutsches Kürzel, dann das Kapitel, schließlich der Vers genannt. Bei der Überprüfung derartiger Verweise auf biblische Bücher stellt man gelegentlich fest, daß die Zitatangabe nicht stimmt. Das kann an einem Versehen des frühneuzeitlichen Druckers liegen. Häufiger noch dürfte die Ursache sein, daß viele Theologen und Laien der Vormoderne durch ständigen Gebrauch der Heiligen Schrift über eine beeindruckende Bibelkenntnis verfügten. So waren sie in der Lage, mühelos zu zitieren und taten dies gern, gelegentlich allerdings auch auf eine für uns nicht unmittelbar nachvollziehbare Weise; und manchmal irrten sie sich natürlich auch. Sucht man dann die richtige Belegstelle, so ist eine Konkordanz (genauer: Verbalkonkordanz) hilfreich. In ihr finden sich, bezogen auf jeweils eine Übersetzung, sämtliche oder die meisten Wörter, die sich in der Bibel finden, alphabetisch aufgelistet und es werden die Bibelverse genannt, in denen sich das Wort findet, teilweise auch die Textpassage. Es versteht sich, daß eine solche Konkordanz auch in vielen anderen Zusammenhängen nützlich ist. Die erste Verbalkon3

Thomas Müntzer: Auslegung des andern Unterschids Danielis des Propheten In: ders.: Die Fürstenpredigt. Theologisch-politische Schriften. Hgg. von Günther Franz. Stuttgart 1983, S. 4776, hier S. 74.

2.2 | Bibelrezeption – eine Annäherung

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kordanz wurde im 13. Jh. für die Vulgata zusammengestellt; heute liegen Konkordanzen zu den hebräischen und griechischen Teilen der Bibel wie auch zu den gebräuchlichen deutschen Bibelübersetzungen der Gegenwart vor.

2.2 Bibelrezeption – eine Annäherung 2.2.1 Voraussetzungen Wie bereits gesagt: Die Bibel, so sehr sie als Heilige Schrift und insofern als Einheit verstanden wurde und wird, ist eine kleine, in sich vielgestaltige Bibliothek. Das bedeutet nicht nur, daß die in ihr enthaltenen Bücher unterschiedliches theologisches Gewicht besitzen (das sich, je nach Zeit und Konfession, ändern kann), sondern auch, daß die Berufung in der Regel nicht auf die Bibel schlechthin erfolgte, sondern auf konkrete Textpassagen. Es bedeutet ferner, daß nicht alle Teile der Bibel gleichmäßig bekannt waren, zu allen Zeiten gleichermaßen rezipiert wurden. Ein Beispiel: Im Zeitalter der Kreuzzüge interessierte man sich sehr für die Berichte des Buchs Josua und des Richterbuchs im AT, in denen von der Eroberung Kanaans durch die israelitischen Stämme berichtet wird – die Parallele zur Eroberung des Heiligen Landes durch die Kreuzfahrerheere lag einfach nahe! In diesem Teilkapitel soll es – soweit dies möglich ist – darum gehen, Teile, Personen und Geschichten der Bibel zu benennen, die in politik- und sozialgeschichtlichen Zusammenhängen oft erscheinen. Dabei sind drei Umstände zu beachten, welche die Rezeption der Bibel stark prägten. Zum einen wuchs der Anteil lesefähiger Menschen, der von der Spätantike zum Frühmittelalter hin deutlich abgenommen hatte, nur langsam wieder an. Auch wenn verläßliche Zahlen fehlen, so scheint immerhin im 15. Jh. die Lesefähigkeit zumindest in vielen Städten deutlich zugenommen und mit vielleicht einem Drittel oder Viertel der Städter beachtlichen Umfang erreicht zu haben – die Reformation wäre so nicht ohne eine erhebliche Zahl lesekundiger Laien möglich gewesen. Nach der Glaubensspaltung wetteiferten die Konfessionen darum, den Bildungsstand zu heben, wobei in der Regel in evangelisch geprägten Regionen mehr Menschen schreiben und lesen konnten als in katholischen. Trotz steigender Lesefähigkeit spielten aber auch in der frühen Neuzeit nichtschriftliche Medien, vor allem Bilder und Schauspiele eine wesentliche Rolle für die Verbreitung biblischer Inhalte. Zum anderen war der Verbreitung der Bibel vor Gutenberg in technischer Hinsicht eine Grenze gesetzt: Sie mußte von Hand abgeschrieben werden, was viel Zeit in Anspruch nahm und Kosten verursachte. Eine vollständige Bibel besaßen vor der Mitte des 15. Jh.s daher meist nur Geistliche (und auch unter ihnen bei weitem nicht alle) bzw. geistliche Institutionen, dazu wenige gebildete Laien. Der Regelfall war lange Zeit, daß einzelne Schriften der Bibel wie die Evangelien, der Psalter, die Genesis und die Johannes-Apokalypse durch Abschriften verbrei-

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Die Bibel – das Buch und die Bücher | 2

tet wurden. Hinzu kamen Perikopenbücher: eine Perikope (griech.: perikopä = rings umhauenes, also abgegrenztes Stück) ist ein Abschnitt aus der Bibel, der im Gottesdienst als Lesung vorgetragen wird. Zum dritten wurde die Bibel vollständig (oder in Teilen) literarisch bearbeitet bzw. prägte bestimmte literarische Gattungen. Alle drei Umstände zusammen bewirkten, daß die Vermittlung biblischer Inhalte bis weit in die Neuzeit hinein nicht auf die Lektüre der Vollbibel beschränkt blieb, sondern die literarische, bildliche und dramatische Gestaltung biblischer Motive eine wesentliche Rolle spielte – neben der Predigt, die im Anschluß (Kap. 3) behandelt wird. Diese verschiedenen Medien werden im folgenden kurz vorgestellt, wobei die bereits erwähnten (Kap. 1.6.) bildlichen Darstellungen in Kirchen außer Acht bleiben.

2.2.2 Literarische Bearbeitungen der Bibel. Vom Frühmittelalter an gab es eine Fülle literarischer Bearbeitungen der Bibel oder biblischer Schriften, teils in lateinischer Sprache, teils in der Volkssprache, in Versen und in Prosa. Wir beschränken uns hier auf Bearbeitungen, bei denen der Schwerpunkt auf der Vermittlung der Bibelkenntnis, nicht auf der Unterhaltung lag. Die wohl bedeutendste Bibeldichtung war die Aurora (oder: Biblia versificata) des französischen Geistlichen Petrus de Riga am Ende des 12. Jh.s: in rund 111.000 Versen wurden hier die meisten biblischen Bücher nacherzählt. Die lateinische Aurora fand Nachahmungen in den Volkssprachen und beeinflußte u.a. die sog. Reimbibeln, in denen das AT einen Schwerpunkt bildete. Diese Form der Bibelrezeption nahm im 15. Jh. ab, weil zunehmend Historienbibeln sowie volkssprachliche Bibelübersetzungen in Umlauf kamen. Gleichwohl finden sich epische Bearbeitungen der Bibel bzw. biblischer Stoffe bis in das 18. Jh. hinein. Wo einzelne Gestalten der Bibel Gegenstand der Dichtung waren, zeichnet sich seit dem 13. Jh. eine Schwerpunktbildung bei Maria und ihrem legendenhaft ausgeschmückten Leben ab; Legenden sowie die Apokryphen des AT wurden überhaupt gerne behandelt. Das bekannteste und am meisten verbreitete Beispiel für Legendensammlungen ist die um 1270 verfaßte Legenda Aurea des Dominikaners Jacobus de Voragine († 1298) „das Volksbuch des Mittelalters schlechthin.“4 Neben den Heiligen werden hier zahlreiche biblische Gestalten behandelt, wobei der biblische Text um die seit der Antike entstandenen Legenden ergänzt ist. Die Legenda Aurea wurde in die Volkssprachen übersetzt und der Buchdruck verlieh ihr noch größere Bedeutung; da es ihr stets um das Beispielhafte am Leben der biblischen und heiligen Personen ging, wird ihr eine „kaum überschätzbare pädagogische Wirkung“5 zugeschrieben, ferner großer Einfluß auf die spätmittelalterliche Kunst und andere literarische Gattungen. 4 5

Rudolf Mohr: Erbauungsliteratur II. Mittelalter. In: TRE 10 (1982), S. 43-50, hier S. 45. Karl Hausberger: Hagiographie II. Römisch-katholische Kirche. In TRE 14 (1985), S. 365-371, hier S. 367.

2.2 | Bibelrezeption – eine Annäherung

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Bei den oben erwähnten Historienbibeln handelt es sich um weltgeschichtlich angelegte Bücher, für welche die Bibel die wesentliche Grundlage war – ganze Bücher des AT finden sich fast wörtlich darin wieder. Hinzu kamen geistliche und profane Legenden, so daß insgesamt eine eher freie Bearbeitung der biblischen Inhalte vorliegt. Die volkssprachlichen Historienbibeln gehen zurück auf die lateinische Historia scholastica des Petrus Comestor († 1178); bei ihr handelt es sich um einen historisch und geographisch orientierten Kommentar vor allem des AT, der z.T. den Charakter einer zusammenfassenden Nacherzählung der Bibel annimmt. Die Historia scholastica wurde in Volkssprachen übersetzt und in Versform gebracht, diente mit ihrem reichen Fundus an Hintergrundinformation zu den biblischen Büchern teilweise sogar als Grundlage für Schauspiele. In den Weltchroniken lag der Schwerpunkt nicht so sehr auf der biblischen Geschichte wie in den Historienbibeln, doch bildete die Bibel als Materialgrundlage und aufgrund der heilsgeschichtlichen Gesamtperspektive eine entscheidende Basis für diese Art der Geschichtsschreibung.

2.2.3 Bilderbibeln: Die Biblia pauperum. Viele der bisher genannten Werke waren illustriert, ebenso viele Bibelausgaben; gleichwohl spielten die Bilder hier eine Nebenrolle. Anders in den Bilderbibeln – hier waren sie konstitutiv und spielten bis weit in die Neuzeit hinein die Hauptrolle. Luther befürwortete ihren Gebrauch aus didaktischen Gründen. Noch im 19./20. Jh. wurden neue Bilderbibeln entworfen, doch naturgemäß war ihre Bedeutung in Zeiten geringer Alphabetisierung größer. Die wichtigste unter den vormodernen Bilderbibeln war die lateinische Biblia pauperum, eines der im Mittelalter am weitesten verbreiteten Bücher überhaupt. Sie entstand im 13. Jh. und verbreitete sich vor allem im 14. Jh. im deutschen Sprachgebiet; in England und Frankreich ist sie nicht bekannt. Zunächst in Handschriften verbreitet, erschien sie im 15. Jh. als Blockbuch (d.h. durch Holztafeldruck hergestellt) und wurde vielfach auch durch Laien erworben; mit Gutenberg und der Übersetzung in die deutsche Sprache etwa zur gleichen Zeit wurde sie noch mehr verbreitet als zuvor. Anders als der Name vermuten läßt („Armenbibel“), war die Biblia pauperum ursprünglich nicht für arme Leute und Analphabeten gedacht, sondern vor allem für einfache Geistliche, die sich keine Bibel leisten konnten und oft auch nicht die theologische Bildung besaßen, um mit der ganzen Bibel umgehen zu können. Die Biblia pauperum bot ihnen eine Zusammenfassung der wichtigsten Teile des NT in Bildern und kurzen Texten: das diente ihrer eigenen Unterweisung und konnte Grundlage sein für ihre Predigt und Katechese. Den Szenen des NT waren Bilder aus dem AT zugeordnet: z.B. wird der Auferstehung Christi am dritten Tag die Szene zugeordnet, in der der Fisch Jona nach drei Tagen an Land speit (Jona 2,11), dazu die Szene, in welcher der durch Gottes Geist starke Richter Simson die

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Die Bibel – das Buch und die Bücher | 2

Abb. 11: Bildgruppe Grablegung Christi aus der deutschen Biblia pauperum 1471 (Ausschnitt)

2.2 | Bibelrezeption – eine Annäherung

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Stadttore von Gaza aus den Angeln hebt und wegträgt (Ri 16,3). Insgesamt gab es zunächst 34, später 40 Bildergruppen, in denen die wichtigsten Etappen der Heilsgeschichte dargestellt wurden. Rund drei Viertel der Bildergruppen auf Geburt, Leiden, Sterben, Auferweckung und Erhöhung Christi konzentriert. Innerer und äußerer Aufbau der Biblia pauperum werden an einem Beispiel aus der deutschen Biblia pauperum von 1471 erkennbar, wobei anzumerken ist, daß die deutsche Fassung gegenüber der lateinischen Fassung vereinfacht und in den Textteilen reduziert wurde. Die Bildgruppen der Biblia pauperum folgen dem Prinzip der Typologie. Das bedeutet: Ein Ereignis oder eine Person wird auf ein späteres Ereignis oder eine später lebende Person hin gedeutet. Entsprechend heißt in der Biblia pauperum die neutestamentliche Szene in der Mitte, in der die Grablegung Christi dargestellt wird, Antitypus. Die dem AT entnommenen Szenen links und rechts der zentralen neutestamentlichen Szene heißen Typen; eine davon stammt in der Regel aus der Zeit vor dem Dekalog („ante legem“ = vor dem Gesetz) – hier (Abb. 11) die Szene, in der Joseph von seinen Brüdern in eine leere Zisterne geworfen wird, um danach als Sklave nach Ägypten verkauft zu werden (Gen 37,23); rechts die Szene, in der man Jona über Bord wirft, damit sich der Sturm lege (Jona 1,15) – der Fisch wartet bereits mit aufgesperrtem Maul, um ihn zu verschlingen. Joseph, in einen tiefen Brunnen geworfen, und Jona, in die Tiefe des Meeres geschleudert, deuten hin auf Christus, der ins Grab gesenkt wird. Das Erleiden der Abwärtsbewegung ins Grab oder einen grabähnlichen Aufenhaltsort ist der gemeinsame Punkt, der dem Betrachter ins Auge springt: Joseph und Jona weisen auf Christus hin. Für den Lesekundigen unterstreichen die vier Verse, jeweils einem Propheten zugeordnet, dies noch: Die vier Propheten werden porträtiert und mit jeweils einem – z.T. hier wie auch sonst oft ungenau oder verstümmelt wiedergegebenen – Vers zitiert, der einen Aspekt der Grablegung aufgreift.6 Der Begriff Prophet ist hierbei weit gefaßt: Es erscheinen mit David, Salomo und dem Erzvater Jakob hier Personen, die nicht wie der vierte (Ysaias = Jesaja) üblicherweise zu den Propheten gezählt werden. Außerdem wird rechts und links unten auf die Texte („lectiones“) verwiesen, die den Typen zugrunde liegen („Puch der geschopff am xxxvi“ = Gen 36, richtig: 37; „in dem propheten Jona am ii“ = Jona 2) und hier zusammengefaßt werden. Die typologische Auslegung der Bibel, die der Biblia pauperum zugrundeliegt, war keineswegs neu. Sie geht auf die Frühe Kirche und das NT zurück – Jesus selbst vergleicht seine Kreuzigung mit der rettenden Erhöhung der ehernen Schlange (Joh 3,14). Im typologischen Denken wird betont, daß AT und NT einander auslegen und zusammengehören. Joseph und Jona präfigurieren Christus (Präfiguration = Vorausbildung), ihre Geschichte steht nicht nur für sich, sondern weist über sie selber 6

David: Inn frid ist gemacht oder worden sein stat (Ps 76,3); Salomon: Ich schlaff vnd mein hertz wachet (Hhld 5,2); Jesaja: Sein grab wierdt uol werden. (Jes 11,10); Jacob: wierdt ruen als ain lew (Gen 49,9; Prophezeihung Jakobs). Die Vulgatafassung von Ps 76,3 und Jes 11,10, die den deutschsprachigen Versen zugrundeliegt, wird heute abweichend übersetzt.

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hinaus auf Christus hin. Dem illiteraten wie dem lesekundigen Nutzer der Biblia pauperum wurde mit der typologischen Auslegung ein für die christliche Bibelauslegung der Vormoderne zentraler Gedanke vermittelt – ganz abgesehen davon, daß die Zusammenstellung in Bildgruppen das lernende Vertiefen erleichterte. 2.2.4 Geistliche Spiele. Die dramatische Aufführung biblischer Stoffe in Form geistlicher Spiele geht auf das 10./11. Jh. zurück. Aus einem Teil der Osterliturgie, dem Gespräch der Frauen mit dem Engel am leeren Grab (Mk 16,1-8), entstanden die ersten Osterspiele. Die Anschaulichkeit der Evangelienberichte um Geburt, Passion und Auferstehung Christi und die geringe Lesefähigkeit unter den Gläubigen luden dazu ein, gerade an den Hochfesten die Heilsbotschaft szenisch zu vermitteln. Die Aufführungen fanden zunächst nur in der Kirche oder vor der Kirchentür statt, später teilweise auch auf dem Marktplatz. Im Hoch- und Spätmittelalter wurden die Aufführungen in jeder Hinsicht erweitert und es entwickelte sich eine ausgeprägte städtische Kultur des geistlichen Spiels. Inszenierungen zu Festen wie dem Dreikönigstag und Fronleichnam kamen hinzu; nicht selten wurde auf Bühnen und in Prozessionen die gesamte Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht dargestellt. Komische Elemente bereicherten die Aufführung, zu Ostern etwa der Wettlauf der Jünger Petrus und Johannes zum Grab (Joh 20,3f). Die Spiele dehnten sich z.T. über zwei oder mehr Tage aus, Dutzende und Hunderte von Mitspielern nahmen teil; um 1500 war es üblich, daß an einem Osterspiel mindestens 200 Menschen mitwirkten; da zu dieser Zeit rund drei Viertel der etwa 4.000 Städte im Reich weniger als tausend Einwohner hatten, nahmen also beträchtliche Teile der Bürgerschaft daran teil; allerdings fanden die aufwendigeren geistlichen Spiele keineswegs in jeder Stadt und auch nicht in jedem Jahr statt. In deutschen und englischen Städten übernahmen vielfach die einzelnen Zünfte bestimmte Teile der Aufführung, d.h. sie stellten Personal und Dekoration. Die Gesamtverantwortung trug im 15. Jh. der jeweilige Magistrat; hier wird erkennbar, wie die spätmittelalterliche Stadt als eine zugleich religiöse und politische Einheit verstanden wurde. In den von der Reformation erfaßten Gebieten kamen diese geistlichen Spiele bis auf wenige Ausnahmen an ihr Ende, doch gab es in veränderter Form eine Fortsetzung im evangelischen Schultheater. Im katholischen Europa fanden weiterhin geistliche Spiele statt – die heute über den deutschen Sprachraum bekannten Oberammergauer Passionsspiele entstanden während des Dreißigjährigen Krieges; wichtig für die dramatische Aufführung biblischer Stoffe war das Schultheater der Jesuiten, das teilweise in die Öffentlichkeit hineinwirkte. 2.2.5 Die bekanntesten biblischen Personen und Geschichten – ein Versuch. Es ist nicht möglich, präzise zu sagen, wie weit die Kenntnis der Bibel und biblischer Inhalte zu welcher Zeit verbreitet war. Die Unterschiede in Bildung und

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sozialer Stellung waren und blieben selbstverständlich stets von Bedeutung, ebenso der Grad der Frömmigkeit: Christen, die von einer der großen europäischen Frömmigkeitsbewegungen erfaßt wurden – etwa der spätmittelalterlichen Devotio moderna, dem Puritanismus, dem Jansenismus, der Erweckungsbewegung des 19. Jh.s – und regelmäßig in der Bibel oder in Teilbibeln lasen, verfügten natürlich über eine bessere Bibelkenntnis als der durchschnittliche Laie. Festzuhalten ist auch: Alle in den vorigen Abschnitten genannten Medien betrafen vornehmlich die städtische Bevölkerung. Unter ihnen war der Anteil der Lesefähigen am größten. In den Städten standen die Druckerpressen und hier konnten es sich mehr Menschen leisten, Druckerzeugnisse zu kaufen. Auch für Bilder aller Art war hier eher das Geld vorhanden; zwar blieb auch kaum eine Dorfkirche des Mittelalters schmuck- und bildlos, aber die städtischen Kirchen waren doch wesentlich reicher mit Bildern ausgestattet. Auch die geistlichen Spiele waren ein i.W. städtisches Phänomen. Das Gefälle zwischen Stadt und Land in religiös-kultureller Hinsicht war sicherlich nicht überall in Europa gleich stark ausgeprägt, zumal dort nicht, wo – wie etwa im Südwesten des Reiches – die vielen kleinen und mittleren Städte in enger Symbiose mit dem Umland lebten. Gleichwohl waren Bildung und also auch Bibelkenntnis in der Stadt ausgeprägter als auf dem Land. Das dürfte im übrigen noch bis ins 19./20. Jh. hinein gelten, also bis sich der traditionelle Gegensatz Land-Stadt auflöste und durch den neuen Typus der Industriestadt sowie die Übernahme städtischer Lebensformen auf dem Land neue Verhältnisse einkehrten. Bis dahin lag der Anteil der ländlichen Bevölkerung stets weit über dem städtischen; um 1500 lebten gut 5 % der Europäer in Städten mit mehr als 10.000 Einwohnern, um 1800 waren es 10 %.7 Unter Beachtung all dieser Umstände können wir wohl davon ausgehen, daß seit dem Hochmittelalter den allermeisten Europäern zumindest die wichtigsten, in den Evangelien geschilderten Heilsereignisse bekannt waren: Christi Geburt, seine Passion und Kreuzigung vor den Toren Jerusalems, seine Auferstehung. Diese Stationen des Lebens Jesu wurden auf religiösen Bildern aller Art dargestellt, die ihnen zugrundeliegenden Texte kehrten im Lauf jedes Kirchenjahres in den Gottesdiensten der Hochfeste als Lesungen wieder; schließlich waren gerade diese Geschichten auch ein bevorzugter Gegenstand dramatischer Darstellung. Diese Geschichten waren bis ins 20. Jh. hinein selbst in kirchenfernen Milieus bekannt. Auch mit dem Sündenfall Adams und Evas sowie dem Jüngsten Tag als dem Endpunkt der Geschichte werden die meisten Christen etwas verbunden haben. In der folgende Liste sind diese Geschichten sowie weitere bekannte Gestalten und Geschichten zusammengestellt. Biblische Gestalt / Geschichte Erschaffung der Welt Adam und Eva, Sündenfall & Vertreibung aus dem Paradies 7

Text Gen 1-2,4 Gen 2,5-3

Jan de Vries: European Urbanization 1500-1800. London 1984, S. 30. 39.

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Biblische Gestalt / Geschichte Kains Brudermord an Abel Noahs Arche und die Sintflut Turmbau zu Babel Beinahe-Opferung Isaaks durch Abraham Jakobs Traum von der Himmelsleiter Joseph Passahfest beim Auszug Israels aus Ägypten Zug des Volkes Israel durch das Rote Meer Moses empfängt den Dekalog am Sinai Tanz um das Goldene Kalb Moses und die eherne Schlange Josua und die Eroberung Jerichos Gideon besiegt die Midianiter Simson und Delila König Saul Davids Sieg über Goliath David als Psalmdichter / Beter / Sänger Davids Ehebruch mit Bathseba, seine Buße König Salomons Weisheit Ester Die drei Männer im Feuerofen Daniel in der Löwengrube Susanna Hiob als Leidender Judit Tobias Kämpfe der Makkabäer Jona Johannes der Täufer Maria und Joseph Geburtsgeschichte Jesu Drei Weise / Heilige Drei Könige Jesu Weinwunder auf der Hochzeit zu Kanaan Bergpredigt Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter Gleichnis vom verlorenen Sohn Passion, Kreuzigung & Auferweckung Christi Maria Magdalena Christi Himmelfahrt Pfingsten Bekehrung des Paulus Jüngster Tag, Jüngstes Gericht

Text Gen 4,1-16 Gen 6-9 Gen 11,1-9 Gen 22,1-19 Gen 28 Gen 37-50 Ex 12 Ex 14 Ex 19-20 Ex 32 Num 21,4-9 Jos 6 Ri 6-8 Ri 16 1 Sam 8-16 1 Sam 17 1 Sam 16,23; Ps 2 Sam 11-12 1 Kön 3 Est Dan 3 Dan 6 Dan 13 Ijob 1-2. 42 Jdt 7-16 Tob 4-8 1 / 2 Makk Jona Mt 3. 14,1-12; Lk 1. 3. Mt 1-2; Lk 1,26-56 Lk 2,1-20 Mt 2 Joh 2,1-12 Mt 5-7 Lk 10,25-37 Lk 15,11-32 Mt 26-28; Lk 22-24 Lk 8,2; Mt 27,56; 28,1; Joh 20,11-18 Apg 1,1-14 Apg 2 Apg 9 u.a. Mt 24-25

2.2 | Bibelrezeption – eine Annäherung

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Eine Reihe der hier genannten Geschichten des AT bezog ihre Bekanntheit zu einem guten Teil daraus, daß sie – wie geschildert – typologisch auf Christus hin gedeutet wurden (so die Beinahe-Opferung Isaaks; David; Jona). Auch andere Geschichten und Gestalten, die bereits für den jüdischen Glauben zentral gewesen waren, erhielten durch die Deutung auf Christus hin zusätzliches Gewicht, etwa das erste Passahmahl beim Auszug aus Ägypten, das mit dem letzten Abendmahl Christi parallelisiert wurde. Eine Reihe anderer Personen und Geschichten des AT verdankte ihre Popularität ihrer Anschaulichkeit und der Botschaft: Gott schenkt denen, die ihm vertrauen, den Sieg über die ebenso übermächtigen wie gottlosen Feinde (Gideon, David, Judit, Makkabäer). Diese Geschichten wurden sowohl spirituell als auch politisch gedeutet: die Verbindung beider Deutungen lag nahe, da auch in den biblischen Texten die religiöse und die politische Dimension untrennbar miteinander verbunden sind. Verwandt damit sind die Geschichten, in denen auf wunderbare Weise aus höchster Gefahr die Rettung erfolgt und die sich aufgrund der spannenden Handlung dramatisch aufbereiten ließen (Daniel, Susanna, Ester). Das gleiche gilt für die Geschichte des jungen Tobias, die darüber hinaus oft zur Veranschaulichung des christlichen Ehebildes herangezogen wurde. Sie findet sich im Buch Tobit, das wie Kohelet und Jesus Sirach zur Weisheitsliteratur des AT zählt; diese Schriften sind heute so gut wie unbekannt, in der Vormoderne aber gehörten sie – in den gebildeten Schichten – zu den bekannteren Teilen der Bibel und wurden als Fundus christlicher Weisheit geschätzt. „Vanitas vanitatum, dixit Ecclesiastes, vanitas vanitatum et omnia vanitas“ – dieser Anfang des Koheletbuches in der Vulgata (Koh 1,2) wurde z.B. im 17. Jh. literarisch und ikonographisch immer wieder aufgegriffen: Das Leben vergänglich wie ein Windhauch, oder, wie Luther 1534 übersetzte: „Es ist alles gantz eitel Sprach der prediger / Es ist alles gantz eitel.“ Ebenfalls der Weisheitsliteratur wird traditionell das Hohelied zugerechnet, eine Folge von früher Salomon zugeschriebenen Liebesgedichten. Das Hohelied wurde vielfach auf die Liebe Gottes zu seinem Volk hin ausgelegt. Die Form der Dichtung an sich und nicht zuletzt die erotischen Elemente brachten die affektive Seite christlicher Frömmigkeit zum Ausdruck: Mystiker fanden in diesem biblischen Buch die ersehnte Einheit der Seele mit Gott eindringlich beschrieben. Der Psalter schließlich war vielleicht „das am besten bekannte und am häufigsten ausgelegte biblische Buch“ überhaupt.8 Die Bekanntheit einzelner Personen konnte schließlich auch zu einem erheblichen Teil auf der legendenhaften Überformung des biblischen Berichts beruhen; exemplarisch läßt sich das an Maria Magdalena sehen, die nach Joh 20,11-18 als erste den auferstandenen Christus sah und sich durch die legendarische Ausgestaltung u. a. zur Schutzheiligen der schwangeren Frauen entwickelte.9 Um Maria 8 9

John Procopé: Erbauungsliteratur I. Alte Kirche. In: TRE 10 (1982), S. 28-43, hier S. 32. Maria aus Magdala war durch Jesus von bösen Geistern geheilt worden(Lk 8,2) und gehörte fortan zu seinen Begleitern – bis unter das Kreuz (Mt 27,56; 28,1). In der christlichen Tradition werden auch Maria von Bethanien (Lk 10,38-42; Joh 11; 12,1-4) und die große Sünderin (Lk 7,36-50) mit ihr identifiziert. Die Legenden um sie sind zusammengestellt gut in der Legenda Aurea faßbar.

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und Joseph als Eltern Jesu entwickelte sich ebenfalls eine vornehmlich legendenhafte Geschichte der vielfach in Altarbildern dargestellten Heiligen Familie. Ob aber nun durch die christliche Tradition angereichert oder eng am biblischen Text orientiert – alle hier zusammengestellten Geschichten zeichnen sich dadurch aus, das Heil oder die christlichen Tugenden zu veranschaulichen. Welche Evangelientexte neben der in der Liste aufgeführten Bergpredigt und den Gleichnissen vom barmherzigen Samariter und dem verlorenen Sohn bekannt waren, ist schwer zu sagen. Unter Geistlichen und in gebildeten Kreisen war natürlich mehr bekannt. Das zeigen indirekt auch Parodien wie das Evangelium secundum marcas argenti aus dem 13. Jh.. Das Wortspiel im Titel (Evangelium nach Markus – Evangelium nach der Mark Silbers) gibt bereits die Richtung an; folgerichtig heißt es dann u.a. in einer Passage, in der ein Abschnitt aus den Gerichtsreden Jesu (Mt 25,30f) sowie das Doppelgebot der Liebe (Lk 10,25-28) parodiert werden: „In jenen Tagen sprach der Papst zu den Seinen zu Rom: „Wenn des Menschen Sohn kommen wird an den Sitz unserer Herrlichkeit, so soll der Pförtner also zu ihm sprechen: ‚Freund, was bist du hierhergekommen?‘ Hält er aber an mit Klopfen und gibt euch nichts, so werfet ihn hinaus in die äußerste Finsternis, da wird sein Heulen und Zähneklappern. Sprachen die Kardinäle: ‚Was sollen wir tun, daß wir Reichtum erwerben?‘ Und der Papst antwortete und sprach: ‚Wie stehet im Gesetz geschrieben? Wie liesest du? Du sollst Gold und Silber liebhaben von ganzem Herzen und ganzer Seele, und den Reichen als dich selbst. Tue das, so wirst du leben.‘“ Eschatologische Texte sowie Bibelpassagen, in denen es um Legitimation und Grenzen weltlicher Herrschaft geht, kommen in Kap. 8 zur Sprache. Zum Abschluß dieses Kapitels sei noch ein Beispiel für die identitätsstiftende, politisch-religiöse Aneignung der Bibel – genauer: des AT – aus der frühen Neuzeit vorgestellt.

2.2.6 Ein neues Israel – das biblische Bildprogramm des Rathauses von Amsterdam. 1655 wurde das Neue Rathaus in Amsterdam eingeweiht, ein gewaltiger Bau, seinerzeit als achtes Weltwunder gefeiert. Auch wenn es sich um ein städtischbürgerliches Gebäude handelte, nicht um ein fürstliches, war dieses Rathaus doch so dimensioniert, daß es Anfang des 19. Jh.s zum Königspalast umgewidmet werden konnte. Dem architektonischen Aufwand entsprach ein ambitioniertes Bildprogramm: Verschiedenste Bilder mit Motiven aus dem AT, daneben auch antike Geschichten und Allegorien finden sich hier. So ist im Bürgersaal ein Bild des späteren Königs David, hier noch als – abgesehen von seiner Steinschleuder – unbewaffneter Hirtenjunge, zu sehen: Mit Gottes Hilfe besiegt er den riesigen Philister Goliath und haut ihm hernach mit dem eigenen Schwert den Kopf ab. Im gleichen Saal ist der Sieg des Richters Simson über die Philister, die Feinde

2.2 | Bibelrezeption – eine Annäherung

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Israels abgebildet. Neben diesen beiden Szenen aus dem AT hängt im Bürgersaal eine Szene aus dem Bataveraufstand – die Bataver im Gebiet der heutigen Niederlande hatten im 1. Jh. n. Chr, recht erfolgreich gegen die römische Herrschaft rebelliert. Alle diese Bilder zeigen, wie ein Kleiner sich gegen einen übermächtigen Gegner durchsetzt, bei David und Simson ist es die Hilfe Gottes, die den Sieg verschafft. Das entsprach dem Selbstbild der calvinistischen Niederländer in der Mitte des 17. Jh.s: Mit Gottes Hilfe hatten sie, die unterlegenen Anhänger des wahren Glaubens, die übermächtigen katholischen Spanier besiegt. Gehen wir vom Bürgersaal ins Ratsherrenzimmer – dorthin, wo die politischen Entscheidungen für die Stadt Amsterdam getroffen wurden. Hier ist ein Bild zu sehen, auf dem dargestellt wird, wie der junge König Salomon Gott um Weisheit bittet. Nach dem Bericht in 1 Kön 3 bietet Gott Salomon in einem Traum an, ihm eine Bitte zu erfüllen. Salomon bittet angesichts seiner schweren Regierungsaufgabe und seines jugendlichen Alters um Weisheit. Gott erfüllt diese Bitte und schenkt ihm noch Reichtum und Ehre dazu. Die Weisheit des jungen Königs bewährt sich, als ihm ein Streitfall vorgetragen wird. Zwei Huren erscheinen vor ihm. Beide sind Mutter eines Säuglings und wohnen im selben Haus. Eines der Kinder ist nachts im Schlaf von der Mutter erdrückt worden. Die eine beschuldigt nun die andere, das tote Kind gegen ihr lebendiges Kind vertauscht zu haben. Der Streit geht hin und her. Der König läßt ein Schwert holen und befiehlt, das lebendige Kind in zwei Teile zu teilen und jeder Frau die Hälfte zu geben. „Doch nun bat die Mutter des lebenden Kindes den König – es regte sich nämlich in ihr die mütterliche Liebe zu ihrem Kinde: Bitte, Herr, gebt ihr das lebende Kind, und tötet es nicht! Doch die andere rief: Es soll weder mir noch dir gehören. Zerteilt es! Da befahl der König: Gebt jener [sc. der ersten Frau] das lebende Kind, und tötet es nicht; denn sie ist seine Mutter.“ (1 Kön 3,26f) Dieses salomonische Urteil – der Kunstgriff mit der Drohung des Schwertes, durch den sich die wahre und die falsche Mutter herausstellt – begründete den Ruf von Salomos Weisheit bis weit in die europäische Neuzeit hinein. Sie gilt der gesamten christlichen Tradition als vorbildhaft für monarchische Herrschaft, aber – wie das Beispiel Amsterdam zeigt – auch für die Regierung eines städtisch-republikanisch verfaßten Gemeinwesens. Für niederländische Städte des 17. Jahrhunderts galt nach MARLOES HUISKAMP: „Eine Darstellung von ‚Salomos Urteil‘ war fast ein ‚Muß‘ für jedes Rathaus jener Zeit.“10 Und wenn das Geld und der Anspruch nicht für ein ganzes Bildprogramm wie in Amsterdam reichten, dann gab es oft nur ein Bild im Rathaus: Salomos Urteil.11 10

11

Marloes Huiskamp: Öffentlicher Unterricht in Geschichte und Moral. Das Alte Testament in Rathäusern und anderen öffentlichen Gebäuden. In: Im Lichte Rembrandts. Das Alte Testament im Goldenen Zeitalter der niederländischen Kunst. Hgg. von Christian Tümpel. Zwolle 1994, S. 134-155, hier S. 136. Ebd., S. 149f.

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Im Amsterdamer Ratsherrenzimmer ist neben Salomon eine weitere alttestamentliche Szene zu sehen, die sich ebenfalls häufig in niederländischen Ratsbzw. Gerichtssälen findet: Moses und sein Schwiegervater Jethro. Jethro gibt dem überlasteten Moses guten Rat, wie er die Regierung und Gerichtsbarkeit für Israel organisieren könne (Ex 18,21). Zwei weitere Bilder seien noch vorgestellt. Im Schöffenzimmer, dem Gerichtssaal des Neuen Rathauses, hängt ein Bild, auf dem Moses den Israeliten die Gesetzestafeln die zehn Gebote zeigt. Und im Raum der städtischen Finanzverwaltung ist Joseph abgebildet, der in Ägypten Korn verkauft. Von seinen Brüdern einst nach Ägypten verkauft, durch Gottes Hilfe aber vom Sklaven zum Vizekönig aufgestiegen, rettete Joseph durch seine durchdachte Vorratshaltung Ägypten und schließlich auch seinen Vater Jakob und seine Brüder vor dem Hungertod. Beide Darstellungen sind Vor-Bild für die, die in diesen Räumen zum Wohl der Stadt mit Recht und Eigentum der Stadt umgehen. Der ausdrückliche Bezug auf Salomon, auf David und andere Personen des AT zeugt von der identitätsbildenden Aneignung der alttestamentlichen Geschichte Israels, wie sie in den nördlichen Niederlanden des 16./17. Jh.s verbreitet war. Das alte Israel war Leitbild: Mit den vorbildlichen Königen, mit Moses, mit den Richtern und Erzvätern, identifizierte sich die calvinistische Elite der nördlichen Niederlande, verstand sich als neues Israel, als neues auserwähltes Volk. Aus dieser Identifikation wuchs politische Legitimation nach innen und außen – und zugleich die Selbstverpflichtung zum Leben gemäß den Normen christlicher Ethik! Gewiß ist auch der repräsentative Aspekt im Bildprogramm des Neuen Rathauses nicht zu vergessen: Amsterdam stellte mit den prachtvollen Gemälden seinen eigenen Wohlstand, seine wirtschaftliche und politische Bedeutung als wichtigste Stadt der Republik zur Schau – aber die Auswahl gerade dieser Motive zeugt vom vorherrschenden politisch-religiösen Selbstverständnis. Die Beispiele für diese konfessionspolitisch aufgeladene Identifizierung mit dem alten Israel ließen sich fortführen. In England war seit der Zeit Elisabeths I. (reg. 1559-1603) die Vorstellung weit verbreitet, die protestantischen Engländer seien ein auserwähltes Volk; im Bürgerkrieg und während des Commonwealth in der Mitte des 17. Jh.s erlebten diese z.T. eschatologisch aufgeladenen Überzeugungen ihre Blüte und wurden durch die nach Neu-England auswandernden Puritaner und Dissenter auch nach Nordamerika gebracht; für sie lag es nahe, in dieser Neuen Welt das Gelobte Land (engl. Promised Land, vgl. 2.1.1.) zu sehen, wie das Land Kanaan, daß dem Israel des AT von Gott versprochen worden war. Die Identifikation des eigenen Volkes bzw. der eigenen Konfession mit dem biblischen Israel war bei den Calvinisten wohl besonders ausgeprägt; sie findet sich aber etwa auch im lutherischen Schweden des 17. Jahrhunderts.

2.3 | Bibelauslegung

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2.3 Bibelauslegung Bibeltexte bedürfen der Auslegung. Gewiß beeindrucken nicht wenige von ihnen unmittelbar über den Graben vieler Jahrhunderte hinweg; andere mögen, annähernd zeitlos, eine eher betend-meditative Aufnahme erfordern; doch gibt es genügend Texte, vor allem aus dem AT, welche bereits die Leser und Hörer der Frühen Kirche befremdeten, ihnen nicht verständlich waren, zumindest aber näherer Information und Interpretation bedurften. Wie ist es etwa zu verstehen, wenn Gott – ganz gegen seine eigenen Gebote – seinem Volk zu stehlen befiehlt (Ex 11,2; 12,35f)? Welche Bedeutung für Lehre und Leben liegt unter der anstößigen Textoberfläche verborgen? Auslegung der Bibel – der theologische Fachbegriff hierfür lautet Exegese (gr. exegesis = Auslegung) – beruht darauf, daß die Bibel als Wort Gottes in ihren einzelnen Texten und Wörtern verglichen, untereinander abgewogen, nach den Maßstäben der Logik durchdrungen wird. Ein solcher Umgang mit heiligen Schriften ist, religionsgeschichtlich betrachtet, keine Selbstverständlichkeit, eher schon eine Besonderheit der jüdisch-christlichen Kultur, die hier auch von ihrem griechischen Erbe, der hellenistischen Auslegungskultur, zehrt. Bereits die Frühe Kirche entwickelte Leitlinien der Auslegung und regelrechte Auslegungstraditionen. In der lateinischen Kirche spielten dabei die seit dem 8. Jh. als Kirchenlehrer (lat.: doctores ecclesiae) oder Kirchenväter bezeichneten Bibelausleger Ambrosius von Mailand († 397), Hieronymus († 419) – bereits als Schöpfer der Vulgata erwähnt –, Augustinus († 430) und Papst Gregor d. Gr. († 604) eine führende Rolle. Sie dominierten die Bibelauslegung bis ins 12. Jh. hinein, d.h. wer die Bibel interpretierte, bemühte sich, dies auf ihre Weise zu tun. Die typologische Auslegung der Bibel wurde bereits vorgestellt (Kap. 2.2.3.). Sie gehörte zu den wichtigsten Auslegungsmethoden. Ebenfalls sehr verbreitet war die Auslegung nach einem mehrfachen Schriftsinn, d.h. eine Passage der Bibel wurde auf drei oder vier Verständnisebenen ausgelegt. Die Auslegung auf den vierfachen Schriftsinn hin, eine seit dem 5. Jh. oft praktizierte Methode, bedeutet: es wird unterschieden zwischen dem buchstäblichen oder historischen Sinn (sensus litteralis seu historicus) und einem geistlichen Sinn (sensus spiritualis), der seinerseits dreifach entfaltet wird: im allegorischen Sinn (sensus allegoricus), ethischen Sinn (sensus moralis seu sensus tropologicus) und zu den himmlischen Dingen hinaufführenden Sinn (sensus anagogicus). Ein Beispiel für die Auslegung nach dem Schema des vierfachen Schriftsinns ist die Auslegung des Namens Jerusalem durch den Mainzer Erzbischof Hrabanus Maurus († 856). Jerusalem, historisch und wörtlich verstanden, ist die geographisch bestimmbare Stadt in ihrer jeweiligen historischen Bedeutung; sie wird allegorisch als Bild der Kirche verstanden, welche den Glauben bringt; tropologisch gedeutet, ist Jerusalem die Seele des Menschen, welche Liebe übt; anagogisch ausgelegt, steht Jerusalem für die erhoffte himmlische Gottesstadt. Der gängige Merkvers für die Auslegung nach dem vierfachen Schriftsinn lautete: „Littera gesta docet / Quid credas allegoria / Mora-

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lis quid agas / Quo tendas anagogia.“ (Der Buchstabe lehrt die Taten / Was du glauben sollst, die Allegorie / Der moralische Sinn, was du tun sollst / Wohin du streben sollst, die Anagogie). Nicht immer gelang die Auslegung nach dem vierfachen Schriftsinn so schlüssig wie im genannten Beispiel, in dem nebenher auf elegante Weise die Trias von Glaube, Hoffnung und Liebe aufscheint. Das Auslegungsmuster läßt sich nicht durchgehend auf alle Bibeltexte anwenden; gebrauchte man es dennoch rein schematisch, so waren die Ergebnisse zweifelhaft, vor allem im Bereich der Allegorie. Dies wurde bereits im Spätmittelalter kritisiert. Allegorische Auslegung finden wir darüber hinaus in einer Variante, die bereits seit dem Hochmittelalter existierte und im 17./18. Jh. besonders beliebt war, in der emblematischen Auslegung. Emblem läßt sich etwa mit Sinnbild übersetzen; die didaktische Absicht ist die Veranschaulichung. Ein Meister der emblematischen Predigt war der populäre Wiener Hofprediger Abraham a Sancta Clara († 1709). Über die Trinität predigte er einmal so: „Des Menschen sein Namen und Hertz der Allerheyligsten Dreyfaltigkeit scheint gewidmet zu seyn. Dann der Mensch in Lateinischer Sprach genennt wird HOMO, der erste ist kein Buchstab zu nennen / sonder das H. ist nur ein Aspiration; die zwey O. seynd gleichermassen keine Buchstaben / sonder nulla, bleibt dannenhero in dem Wort HOMO das einige M. welches dann ein eigentlicher Entwurff der Allerheiligsten Dreyfaltigkeit. Dann dieser nur ein Buchstab ist / und dannoch hat er drey Buchstaben in sich / als nemlich zwey I. und in der Mitte ein V. durch das erste I. verstanden Initium, das ist / Gott der Vatter / welcher ein Anfang und ein Schöpffer aller Ding / durch das mittlere V. wird angedeut Verbum caro factum, der Sohn Gottes / welcher die Menschheit angenommen; Durch das ander und letzte I. wird verstanden Ignis, der H. Geist / so in Gestalt feuriger Zungen erschienen; Trägt derohalben der Mensch in seinem Nahmen HOMO, wie hierbey verzeichnet / ein immer wehrendes Gedenck Zeichen der Allerheiligsten Dreyfaltigkeit.“ 12 Die Attraktivität der emblematischen Auslegung bestand in der Entfaltung verschiedener Deutungsebenen: Die Welt wird verrätselt und zugleich enthüllt. Die Grenze zur sich selbst genügenden Spitzfindigkeit war allerdings nicht nur nach heutigem Verständnis fließend. Die Allegorie mit ihren verschiedenen Spielarten war bis weit in die Neuzeit hinein eine wesentliche Form der Bibelauslegung. Zu ihren Spielarten gehörte auch eine hochentwickelte Zahlenallegorese, in der nicht nur Zahlen wie die Drei und die Sieben, die in verschiedenen Kulturkreisen als heilig gelten, gedeutet wurden, sondern auch mit Hilfe der Arithmetik Analogien zwischen der konkreten Zahl und einer geistlichen Wirklichkeit hergestellt wurde. Ein Beispiel. Christus beauftragte zwölf Apostel mit der Verbreitung des Evangeliums (Mk 3,14-19; Apg 1). Mit der Zwölfzahl (als das Produkt von 3 x 4) läßt sich die erdumfassende 12

Zit. nach Urs Herzog: Geistliche Wohlredenheit. Die katholische Barockpredigt. München 1991, Tafel 8.

2.4 | Frömmigkeitsliteratur

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Bedeutung dieses Auftrags betonen: Der Glaube an den dreieinigen Gott soll allen vier damals bekannten Erdteilen bekanntgemacht werden. Seit dem 12. Jh. traten im Zuge der beginnenden Scholastik neue Akzente in der Exegese hinzu. Der Literalsinn, die historisch-buchstäbliche Aussage, wurde aufgewertet und systematisch erforscht. Kommentare und Hilfsmittel für Bibelauslegung und Predigt entstanden, von denen noch die Rede sein wird – es ist auch kein Zufall, daß bald darauf, zu Anfang des 13. Jh.s, die Kapiteleinteilung der Bibel entstand, die den praktischen Umgang mit der Heiligen Schrift erleichterte. Thomas von Aquin und andere legten dann im 13. Jh. mit ihren beeindruckenden Systematisierungen der Theologie einerseits wissenschaftliche Grundlagen für die Exegese; andererseits trat die Anschaulichkeit der biblischen Geschichten dadurch tendentiell in den Hintergrund. Ungeachtet der Verwissenschaftlichung und Historisierung der Bibelauslegung blieb für die Predigt die allegorische und natürlich die ethische, auf die Gestaltung des Alltags zielende Auslegung sehr wichtig. Die Reformation brachte insofern eine Veränderung, als Luther und andere die Auslegung nach dem vierfachen Schriftsinn ablehnten, jedenfalls als starr angewandte Methode. Dennoch praktizierten auch die reformatorischen Konfessionen weiterhin – wenn auch wohl in geringerem Umfang als die katholische Kirche – die allegorische Auslegung, die erst im 19./20. Jh. weitgehend ihre Bedeutung verlor.

2.4 Frömmigkeitsliteratur „Und weil er der Lektüre von weltlichen und falschen Büchern sehr ergeben war, die man Ritterromane zu nennen pflegt, bat er, als er sich gut fühlte, man möge ihm einige davon geben, um die Zeit zu verbringen.“ Geduldig hatte der baskische Adlige seine schwere Verwundung und die Tortur der chirurgischen Behandlung ertragen. Aber nun, endlich auf dem Weg der Genesung, langweilte er sich und verlangte nach der ihm vertrauten Lektüre. „Doch in jenem Haus fand sich keines von den[…] [Büchern], die er zu lesen pflegte. Und so gaben sie ihm ein Leben Christi und ein Buch vom Leben der Heiligen auf spanisch. Indem er in ihnen oftmals las, gewann er eine gewisse Zuneigung zu dem, was er dort geschrieben fand. […] Und da er nicht wenig Licht aus dieser Lektüre erlangt hatte, begann er, mehr im Ernst sein vergangenes Leben zu bedenken und wie sehr er es notwendig hatte, dafür Buße zu tun.“13 Der Name des Adligen: Ignatius von Loyola. Lektüre geistlicher Literatur leitete 1521 die Lebenswende für den Begründer der Societas Jesu ein. Die bereits erwähnte Legenda aurea sowie das Leben Christi, eine seinerzeit weit verbreitete, 13

Ignatius von Loyola: Der Bericht des Pilgers. In: Ignatius von Loyola: Gründungstexte der Gesellschaft Jesu. Übersetzt von Peter Knauer. Würzburg 1998, S. 1-84, hier S. 15f. 18.

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meditativ angelegte Erläuterung der Evangelien, Mitte des 14. Jh.s verfaßt vom Kartäusermönch Ludolf von Sachsen. Die Geschichte vom Gründer des Jesuitenordens ist nur ein prominentes Beispiel für die Bedeutung geistlicher Literatur, um die es in diesem Kapitel geht. Ignatius wurde übrigens auch als Verfasser der Ejercicios espirituales (Geistliche Exerzitien), eines Handbuchs geistlicher Übungen berühmt, das weit über seinen Orden hinaus verwendet wurde und wird.

2.4.1 Lektüre für den Alltag des Christen Als Frömmigkeitsliteratur oder Erbauungsliteratur (lat. aedificatio = Erbauung) bezeichnet man religiöse Schriften, die vornehmlich der alltäglich-regelmäßigen, privaten Lektüre dienen. Der einzelne Christ wird durch die meditierende Lektüre zu christlicher Lebensführung ermutigt; es werden ihm Vorbilder vor Augen geführt, er wird ermahnt, getröstet und in seinem Glauben gefestigt, eben aufgebaut. Unterschiedliche Gattungen zählen zu dieser Literatur: Gebetbücher, Sammlungen von Gebeten, oft orientiert am Kirchenjahr, häufig ergänzt um Gebete anläßlich des Sakramentsempfangs und für besondere Lebenssituationen wie Krankheit, Bedrohung der Ernte; Andachtsbücher, meist eine Zusammenstellung kurzer geistlicher Texte unterschiedlicher Herkunft; Predigtsammlungen (Postillen). Es gibt weitere Gattungen, von denen noch die Rede sein wird. Ein wichtiges Kennzeichen der Frömmigkeitsliteratur findet sich im Ratschlag des Wilhelm Nakatenus SJ, dessen Werke im 17./18. Jh. große Verbreitung fanden: „Bemühe dich nicht, auff einmahl viel zu lesen, sondern das wenig, so du lesest, erwege wohl, und sey jederzeit bedacht, wie du nach bestem Vermögen demselben würcklich mögest nachkommen.“14 Die potentielle Bedeutung der Frömmigkeitsliteratur für die Mentalitäts- und Sozialgeschichte kann kaum überschätzt werden. Doch was wurde überhaupt gelesen und welchen Anteil hatte die geistliche Literatur an der Lektüre?

2.4.2 Zur quantitativen Bedeutung der Frömmigkeitsliteratur 1757 starb die Frau des Bäckermeisters Jakob Straub in Wildberg (Württemberg). Anläßlich dieses Ereignisses wurde der gesamte Besitz des wohlhabenden Ehepaares inventarisiert, darunter auch der Buchbesitz; letzterer bestand aus 13 Büchern. Das war doppelt so viel wie der ortsübliche Durchschnitt von sechs bis sieben. Im einzelnen handelte es sich um zwei Gesangbücher; ein Gesang- und 14

Zit. nach Guillaume van Gemert: Zur katholischen Gebetsliteratur der Barockzeit. Stellenwert und Funktion der Verseinlagen in Nakatenus’ Himmlisch Palm-Gärtlein. In: Gebetsliteratur der frühen Neuzeit als Hausfrömmigkeit. Funktionen und Formen in Deutschland und den Niederlanden. Hgg. von Ferdinand van Ingen und Cornelia Niekus Moore. Wiesbaden 2001, S. 77-92, hier S. 92.

2.4 | Frömmigkeitsliteratur

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Gebetbuch; eine Bibel; ein Beichtbuch; ein Buch zur Vorbereitung auf die Konfirmation; ein „Biblische Historien“ betiteltes Werk; vier Andachtsbücher – zwei Ausgaben von Johann Arndts „Wahrem Christentum“ sowie von ungenannten Verfassern eine „Kreutzschule“15 und „Passionshistorien“; schließlich zwei profane Werke: ein Ratgeber für Kaufleute und Gesellen auf Reisen und eine Sammlung von Schwänken.16 Die Buchbestand im Hause Straub war keineswegs unüblich, wie Untersuchungen zur zweiten Hälfte des 18. Jh.s in Speyer, Frankfurt und Tübingen im großen und ganzen zeigen. Die Alphabetisierung war so weit fortgeschritten, daß es in den meisten Haushalten Bücher gab, deren Zahl meist im einstelligen Bereich lag. Unter ihnen überwogen die religiösen Bücher und die Frömmigkeitsliteratur nahm neben Gesangbüchern und Bibeln einen erheblichen Anteil ein.17 Nun ist Buchbesitz nicht gleichbedeutend mit Lektüre. Aber es gibt ernstzunehmende Hinweise darauf, daß die Gebetbücher in der Regel nicht auf dem Bücherbord verstaubten, sondern mehr oder weniger regelmäßig genutzt wurden. Mit anderen Worten: Wenn die Menschen im südwestdeutschen Raum im 18. Jh. lasen, dann lasen sie vor allem religiöse Werke – Gebetsbücher, Andachtsbücher, Predigten, den Katechismus u.a.m.; es muß hier außer Acht bleiben, daß selbstverständlich auch Flugblätter und andere Kleinschriften gelesen wurden, deren Besitz und Lektüre in der Regel nicht mehr nachweisbar ist. Anders gewendet: Soweit Literatur überhaupt den geistigen Horizont, die Mentalität vormoderner Gesellschaft formte, war es vornehmlich religiöse Literatur! Das macht einen wesentlichen Teil ihrer allgemeinhistorischen Bedeutung aus. Diese südwestdeutschen Befunde des 18. Jh.s lassen sich nicht ohne weiteres verallgemeinern, doch trotz der großen Forschungslücken auf diesem Gebiet kann zunächst unterstrichen werden: Wenn Menschen vor 1800 überhaupt Bücher besaßen und lasen, dann waren es vor allem religiöse Werke. Seit dem 18. Jh. wurde die profane Literatur in quantitativer Hinsicht immer wichtiger und überflügelte die geistliche Literatur, wobei es erhebliche zeitliche und regionale Unterschiede innerhalb Europas gab: in Frankreich vollzog sich diese Entwicklung deutlich früher als in Deutschland. Religiöse Literatur machte in den 1780er Jahren in den Inventaren von neun westfranzösischen Städten nur noch 30 % der Werke aus und dies, obwohl sie in absoluten Zahlen im Lauf des 18. Jh.s um mehr 15

16

17

Vermutlich eine Ausgabe der Schola crucis bzw. Christlichen Creutz Schule des lutherischen Pfarrers Valentin Wudrian (1584-1625); dieses Werk wurde noch im 18. Jh. neu aufgelegt. Petra Schad: Buchbesitz im Herzogtum Württemberg im 18. Jahrhundert am Beispiel der Amtsstadt Wildberg und des Dorfes Bissingen/Enz. Stuttgart 2002, S. 155f. 187. Etienne François: Buch, Konfession und städtische Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Das Beispiel Speyers. In: Mentalitäten und Lebensverhältnisse. Beispiele aus der Sozialgeschichte der Neuzeit. Rudolf Vierhaus zum 60. Geburtstag. Göttingen 1982, S. 34-54. Vgl. Hans Medick: Buchkultur auf dem Lande. Laichingen 1748-1820. Ein Beitrag zur Geschichte der protestantischen Volksfrömmigkeit in Altwürttemberg. In: Le livre religieux et ses pratiques : Etudes sur l’histoire du livre religieux en Allemagne et en France à l’époque moderne. Der Umgang mit dem religiösen Buch.. Hgg. von Hans Erich Bödeker, Gérald Chaix, Patrice Veit. Göttingen 1991, S. 156-179.

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als das dreifache zugenommen hatte; doch die profane Literatur wuchs noch schneller.18 Ferner ist wichtig: Neben dem Stadt-Land-Gefälle spielte ab dem 16. Jh. auch der Konfessionsunterschied eine Rolle. „Protestantism was indeed a religion of the book; Counter-Reformation Catholicism was a religion that used books,“ lautet das Fazit einer vergleichenden Untersuchung des Buchbesitzes von Katholiken und Hugenotten in Metz im 17. Jahrhundert.19 Tendentiell trifft dieses Urteil zu: Vor 1800 besaßen Lutheraner und Calvinisten, soweit wir wissen, im Schnitt öfter und mehr Bücher als Katholiken. Aber warum? Der gerade zitierte Hinweis auf die unterschiedliche Bedeutung des Buches für die verschiedenen Konfessionen bietet eine Teilerklärung. Für Calvinisten stand in der Tat das gepredigte und geschriebene Wort im Mittelpunkt, nicht zuletzt in Abgrenzung zur katholischen Kirche; der Kultus i.e.S. trat demgegenüber zurück. Gleichwohl befriedigt diese Antwort nicht vollständig, abgesehen davon, daß die Lutheraner hier nicht berücksichtigt sind.

2.4.3 Wichtige Gattungen und Werke Die ersten wichtigen Gattungen der Erbauungsliteratur waren erzählende Werke: Märtyrerberichte sowie Lebensbeschreibungen von Mönchen und Heiligen. Märtyrer oder Martyrer (griech. martys = Blutzeuge, d.h. Zeuge für Christus und die Wahrheit des christlichen Glaubens) waren Christen, die wegen ihres Bekenntnisses hingerichtet oder ermordet wurden. Die Bedeutung der seit dem Ende des 2. Jh.s verfaßten Märtyrerberichte liegt auf der Hand: Für die Gläubigen war Verfolgung eine Realität; die Märtyrerberichte sollten sie im Hinblick auf das mögliche eigene Martyrium stärken. Mit dem Ende der Christenverfolgung im Römischen Reich veränderten sich auch die in der Erbauungsliteratur dominierenden Vorbilder: Die Lebensbeschreibungen oder Viten (lat. vita = Leben) von Mönchen und Heiligen traten in den Vordergrund. Diese idealisierenden Berichte über das Leben und Wirken von Heiligen werden auch unter dem Begriff Hagiographie zusammengefaßt (gr. hagios = heilig). Das kunstvoll ausgestaltete Modell vieler späterer hagiographischer Werke ist die Vita des Heiligen Antonius, 357 verfaßt von Bischof Athanasius von Alexandria († 373). Der ägyptische Eremit Antonius († 356), Gründervater der in Klöstern zusammenlebenden Mönche, wird von Athanasius ausdrücklich als „treffliches Vorbild der As18

19

Jean Quéniart: Culture et société urbaines dans la France de l’Ouest au XVIIIe siècle. Paris 1978, S. 319. Hans Erich Bödeker, Gérald Chaix, Patrice Veit: Der Umgang mit dem religiösen Buch in der frühen Neuzeit. Anmerkungen zum Forschungsthema. In: Le livre religieux et ses pratiques. Etudes sur l’histoire du livre religieux en Allemagne et en France à l’époque moderne. Der Umgang mit dem religiösen Buch. Hgg. von Hans Erich Bödeker, Gérald Chaix, Patrice Veit. Göttingen 1991, S. 13-24. Philip Benedict: The faith and fortunes of France’s Huguenots, 1600-85. Aldershot u.a. 2001, S. 154-190, Zitat S. 177.

2.4 | Frömmigkeitsliteratur

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kese“ vorgestellt.20 Die griechisch verfaßte Lebensbeschreibung wurde bereits wenige Jahre später ins Lateinische übersetzt und fand schnell weit über Mönchsgemeinschaften hinaus Verbreitung. Viele frühchristliche Berichte von Märtyrern und Heiligen fanden Eingang in spätere Sammlungen – namentlich in die bereits erwähnte Legenda aurea. Anders als die bisher vorgestellten erzählenden Gattungen dienten andere Werke der Frömmigkeitsliteratur der Meditation. Das gilt auch für De imitatione Christi libri quatuor (Vier Bücher von der Nachfolge Christi). Dieses kurz vor 1427 lateinisch verfaßte und 1434 erstmals ins Deutsche übersetzte Werk entstand im Zusammenhang der Devotio moderna, einer Frömmigkeitsbewegung, die in den Niederlanden und Nordwestdeutschland seit dem Ende des 14. Jh.s Laien, Mönche und Geistliche erfaßte; eines ihrer Kennzeichen war das Zusammenleben von Laien und Klerikern in einer geistlichen Lebensgemeinschaft. Das Anliegen von De imitatione Christi hat der Verfasser, Thomas von Kempen, im ersten Kapitel des ersten Buches formuliert: „Unser höchstes Bestreben sei [...] [es], in die Betrachtung des Lebens Jesu Christi uns zu versenken und daraus zu lernen.“21 Dabei geht es nicht um Lernen im Sinne von Gelehrsamkeit, sondern um die Lebenspraxis: „Ein Leben voll Tugend, das macht uns bei Gott angenehm.“22 Im folgenden sind Ratschläge für das geistliche Leben in kurzen Abschnitten zusammengestellt. Ein Schlüsselwort ist dabei „innerlich“ / „Innerlichkeit“: Es wird einem Leben entgegengestellt, das dem äußeren Schein folgt, aber das Wesentliche verpaßt. „Wer so weise ist, daß er alle Dinge für das halten kann, was sie sind, und nicht für das, wofür sie von andern gehalten und ausgegeben werden, der hat die rechte Weisheit und hat seine Weisheit mehr von Gott als von Menschen gelernt. [...] Ein innerlicher Mensch sammelt sich geschwind in sich, weil er sich nie ganz verloren und ausgegossen hat in die Dinge außer sich.“ Diese Innerlichkeit steht zugleich in einer gewissen Spannung zur üblichen Frömmigkeit: „Wer innerlich zu leben weiß [...], der fragt nicht nach besonderen Orten und wartet nicht auf besondere Zeichen, um fromme Übungen zu halten.“ Innerlichkeit schärft den Blick für sich selbst: „Geringe Fehler strafen wir an andern sehr scharf und lassen große Fehler an uns ungestraft. [...] Wer sein eigenes Tun gerecht und genau abwägt, dem wird alle Lust vergehen, über das, was andere tun, hart zu richten.“23

20

21

22 23

Des Heiligen Athanasius Leben des Heiligen Antonius. Aus dem Griechischen übers. von Hans Mertel. Kempten – München 1917 (Bibliothek der Kirchenväter Bd. 31), S. 13. Thomas von Kempen: Nachfolge Christi. Nach der Übersetzung von Johann Michael Sailer. Leipzig 1975, S. 13 (Buch 1, Kap. 1,1). Ebd., S. 13 (Buch 1, Kap. 1,3.) Ebd., S. 82, 88 (Buch 2, Kap. 1,7. 5,1)

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Thomas von Kempens De imitatione Christi zählt mit mehr als 3.000 Auflagen (von 1600 bis 1740: 744)24 und der Übersetzung in nahezu hundert Sprachen – bereits im 17. Jh. ins Arabische, Chinesische und Japanische – zu den am meisten verbreiteten Büchern der Geschichte überhaupt und das über konfessionelle Grenzen hinweg! Ein wesentlicher Grund für den Erfolg dürfte sein, daß zwar Distanz und Unabhängigkeit von Ehrgeiz und Sorgen des Alltags in christlicher Lebensweisheit begründet werden, aber keineswegs der klösterliche Rückzug aus der Welt das Ziel ist. Der hier angesprochene Laie bleibt Laie, doch lebt er konzentriert auf das Wesentliche: die Gottesbeziehung. Es paßt dazu, daß die devotio moderna, aus der heraus De imitatione Christi entstand, nicht zuletzt karitativ wirksam war. Nachdem der Buchdruck bereits eine weitere Verbreitung der Frömmigkeitsliteratur ermöglich hatte, brachte die Glaubensspaltung in allen Konfessionen verstärkte Bemühungen um geeignete Lektüre für den Gebrauch des einzelnen Gläubigen wie der Hausgemeinschaft hervor. Eine Gattung, die zwar bereits zuvor existierte, aber nun vermehrt gedruckt wurde, waren Predigtsammlungen; Luthers „Kirchenpostille“ von 1527 ist hier zu erwähnen (vgl. Kap. 3.3.). Eine neue Blüte erlebte eine andere Gattung der Frömmigkeitsliteratur: die der Märtyrerberichte. In einem einzigen Jahr – 1554 – erschienen in ihrer jeweils ersten Fassung drei der prominentesten Werke dieser Art: Ludwig Rabus publizierte in Straßburg die „Historie der Heyligen Ausserwölten Gottes Zeugen Bekenner und Martyrer“; ebenso wie Rabus’ Werk umfaßte das (1554 zunächst in lateinischer Kurzfassung publizierte) Book of Martyrs des anglikanischen Geistlichen John Foxe die Geschichte der christlichen Märtyrer von der Frühen Kirche bis in die Gegenwart; das in Genf veröffentlichte Livre des Martyrs des Jean Crespin war dagegen auf Calvinisten beschränkt, die ihrer Überzeugung wegen hingerichtet worden waren (in späteren Auflagen erweiterte Crespin sein Werk jedoch erheblich). Die Werke von Crespin und Foxe haben die Identität der neu entstandenen Konfessionen mitgeprägt; in der oben erwähnten Untersuchung zum Buchbesitz in Metz erscheint Crespin bei den Hugenotten an dritter Stelle hinter der Bibel und dem als Psalter bezeichneten calvinistischen Gesangbuch25 und im England des 16./17. Jh.s wurde nur die Bibel häufiger gedruckt als Foxes Märtyrerbuch26; nicht zuletzt dürfte Foxe einer der Autoren sein, die wesentlich zur Verbreitung der Überzeugung beitrugen, die protestantisch gewordenen Engländer seien Gottes auserwähltes Volk. Die Revitalisierung der Märtyrerberichte ist ebenso auf die Glaubenssspaltung zurückzuführen wie die Entstehung der Konversionsschriften, die im 16./17. Jh. Verbreitung fanden: Darin fanden Übertritte von der einen zur anderen Konfession 24

25 26

Hartmut Lehmann: Das Zeitalter des Absolutismus. Gottesgnadentum und Kriegsnot. Stuttgart u.a. 1980, S. 115. Benedict, Faith (wie Anm. 19), S. 166, 188. Lehmann, Zeitalter (wie Anm. 24), S. 74.

2.4 | Frömmigkeitsliteratur

101

ihren literarischen Niederschlag, wobei die Bekehrung des Paulus (Apg 9) und des Kirchenvaters Augustinus nicht selten als Modell dienten. Konversionssschriften tragen oft polemische Züge; doch da die Festigung konfessioneller Identität eines ihrer wesentlichen Anliegen war, können auch sie zur Frömmigkeitsliteratur zählen. Ingesamt herrscht der konfessionelle und z.T. polemische Akzent in der frühneuzeitlichen Erbauungsliteratur nicht vor oder doch nur da, wo konfessionelle Minderheiten bedroht waren und die theologische Kontroverse folglich großes Interesse weckte. Wesentliche Themen waren vielmehr: – die Sündhaftigkeit des Menschen und der Zuspruch von Trost und Vergebung; – Trost angesichts der Mißernten, Seuchen und Kriege, die zwischen ca. 1560 und 1720 Mittel-, West- und Nordeuropa besonders häufig in existentielle Not führten; die oft anzutreffende Erwartung des baldigen Weltendes (s. Kap. 8.5.) korrespondierte mit diesen Erfahrungen; für den konkreten Umgang mit der Angst vor Mißernten stehen etwa Wettergebete in Gebetbüchern; – christliche Weisheit und praktische Lebenshilfe (in Abgrenzung von nur gelehrtem Gotteswissen) bis hin zum Umgang mit Schwermut; – nicht zuletzt Erbauung im Sinne der Mystik, also der spirituellen Vereinigung der Seele mit Gott. Teilweise werden diese Akzente bereits in den Titeln der Werke deutlich; einige von denen, die in Mittel- und Westeuropa von ca. 1400 bis 1800 am weitesten verbreitet waren, sind hier, dem Jahr des ersten Erscheinens folgend, aufgelistet.27 Autor Ludolf von Sachsen (ca. 1300-1378), Kartäusermönch in Straßburg und Mainz. Thomas von Kempen (ca. 1380-1471), Augustinermönch in Zwolle (Overijssel). Johann Arndt (1555-1621), lutherischer Pfarrer, zuletzt Superintendent in Celle.

Lewis Bayly (1565-1631), anglikanischer Pfarrer, zuletzt Bischof von Bangor (Wales), stark von Calvin geprägt.

27

Titel; Erscheinungsjahr; Inhalt Vita Christi quatuor Evangeliis et scriptoribus orthodoxis concinnata; (1348-1368, erster Druck 1470). Zur Meditation leitende Beschreibung des Lebens Christi auf Grundlage der vier Evangelien und mystischer Literatur. De imitatione Christi quattuor libri; (kurz vor 1427). Handbuch des inneren Lebens, orientiert an der meditativen Betrachtung des Lebens Christi. Von wahrem Christentumb / heilsamer Busse / wahrem Glauben / heyligem Leben und Wandel der rechten wahren Christen; (1606-1620). Wahres Christentum besteht nicht aus Worten, sondern aus sich in der Lebenspraxis bewährendem Glauben; großer Einfluß der spätmittelalterlichen Mystik! Practise of piety, directing a Christian, how to walk, that he may please God; (1612). systematische, praxisbezogene Einübung in eine christliche Lebensführung, u.a. Gliederung des Tages; Gebete für alle Lebenslagen.

Lehmann, Zeitalter (wie Anm. 24), S. 114-123; Rudolf Mohr: Erbauungsliteratur III. Reformationsund Neuzeit. In: TRE 10 (1982), S. 57-63. Zur Verarbeitung von Nakatenus und von Cochem u.a. François, Buch (wie Anm. 17), S. 52. Zur Verbreitung von Arndt und Starck u.a. Medick, Buchkultur (wie Anm. 17), S. 168 f. sowie Schad, Buchbesitz (wie Anm. 16), S. 128-131.

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Die Bibel – das Buch und die Bücher | 2

Franz von Sales (François de Sales; 1567-1622), katholischer Bischof von Genf/Annecy. Wilhelm Nakatenus SJ (1617-1682), Jesuit, im Erzbistum Köln tätig.

Introduction à la vie dévote (1608) und Traité de l’Amour de Dieu; (1616). Anleitung zu Gebet und Meditation mit dem Ziel der Gottesliebe. Himmlisch Palm-Gärtlein; (1662). liturgische Gebete, Gebete für die Zeiten des Kirchenjahres und verschiedenste Lebenslagen. John Bunyan (1628-1688), Handwer- The Pilgrim’s Progress from this world to that which is to come; (2 ker und baptistischer Prediger. Bd.e, 1678-1684). Christlich-allegorische Deutung des Lebensweges als Pilgerreise. Martin von Cochem (1634-1712); Ka- Güldener Himmelsschlüssel; (1690). Gebetbuch. puziner in den Bistümern Mainz und Trier. Johann Friedrich Starck (1680-1756), Tägliches Hausbuch in guten und bösen Tagen; (1728). Gebetlutherischer Pfarrer und Dichter in buch, gegliedert in sechs Teile, die jeweils Gebete und Lieder Frankfurt/M. für Gesunde, Betrübte, Kranke, Schwangere, Gebärende und Wöchnerinnen enthalten.

Die Tabelle ist aus zwei Gründen nicht nach Ländern und Konfessionen untergliedert. Erstens war die Erbauungsliteratur des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit zu einem erheblichen Teil international und überkonfessionell, weil viele Autoren durch Übersetzung über Sprach- und Bekenntnisgrenzen hinweg bekannt wurden und darüber hinaus manche Grundgedanken eine indirekte Rezeption erfuhren: so übernahmen prominente puritanische Autoren z.B. weitgehend die Methoden der Gewissenserforschung aus den Ejercicios Espirituales des Ignatius von Loyola – obwohl Puritaner den Katholizismus und insbesondere die Jesuiten verabscheuten! Diese Grenzüberschreitungen waren zweitens möglich, weil das Anliegen im ganzen lateinischen Westen das gleiche war: Eine vom einzelnen Christen verinnerlichte, praxisorientierte Frömmigkeit. Frömmigkeitsliteratur existiert bis heute, möglicherweise vielfältiger denn je. Hier wird nicht über das 18. Jh. hinausgegangen, weil ihr Anteil an der Literatur insgesamt deutlich zurückgegangen ist.

2.4.4 Frömmigkeitsliteratur, Mentalität und Individualisierung Es wurde bereits betont, daß die Wirkung der religiösen Literatur im allgemeinen und der Frömmigkeitsliteratur im besonderen allein schon wegen ihres quantitativen Anteils an Buchbesitz und Lektüre der vormodernen Europäer kaum überschätzt werden kann. Hierzu noch zwei weiterführende Gedanken. Erstens. Es gibt ausgesprochene „Longseller“ im Bereich der Frömmigkeitsliteratur; De imitatione Christi ist das beste Beispiel; Bunyans The Pilgrim’s Progress wird noch heute aufgelegt und selbst ein mittlerweile fast unbekanntes Werk wie Martin von Cochems Güldener Himmelsschlüssel wurde noch zuletzt 1957 gedruckt. Solche Werke sprachen und sprechen offenbar Gläubige über den Wechsel der Zeiten hinweg an. Andere Gattungen, Werke und Elemente der Erbauung hinge-

2.4 | Frömmigkeitsliteratur

103

gen fanden zu bestimmten Zeiten ein Echo und kamen später außer Gebrauch, weil sich die religiösen und sozialen Verhältnisse gewandelt hatten! Beispielhaft hierfür steht die erwähnte Blüte der protestantischen Märtyrerberichte im 16./17. Jahrhundert, die im 18. Jh. endete – offenkundig, weil der konfessionelle Gegensatz zwar keineswegs verschwunden, aber doch entschärft war. Das hier nur am Rande erwähnte Endzeitdenken in vielen Werken der deutschen und englischen Frömmigkeitsliteratur des 17. Jh.s wird verständlich, wenn wir es als Reaktion auf die vielen krisenhaften Erscheinungen der Zeit hinein zu begreifen versuchen: Gebets- und Andachtsbücher spendeten Trost, wiesen den Weg „aus der Angst zur Hoffnung“ (HARTMUT LEHMANN).28 Wiederum ist aber auch hier der Befund, daß die eschatologischen Vorstellungen in der Frömmigkeitsliteratur ab der zweiten Hälfte des 17. Jh.s langsam und dann vor allem im 18. Jh. deutlich zurücktreten: die Zeit der Krisen war vorbei. Mit anderen Worten: Die Entwicklung der Frömmigkeitsliteratur ist ein Indikator für den Mentalitätswandel vormoderner (und moderner?) Gesellschaften. Zweitens. Die Teilnahme am Kultus in der Gemeinschaft der Gläubigen und die individuelle Lektüre geistlicher Literatur ergänzen einander, können aber natürlich auch in Spannung zueinander treten. Viele Bewegungen der Christentumsgeschichte, die in Distanz oder Opposition zur verfaßten Kirche traten, bezogen ihre geistige Grundlage nicht nur aus der Bibel, sondern eben auch aus der Erbauungsliteratur. Bezeichnenderweise wurden lutherische Pietisten in Schweden im 18./19. Jh. läsare (Leser) genannt; ein Kennzeichen dieser Bewegung war die intensive Lektüre von Erbauungsschriften, die ihre soziale und religiöse Außenseiterschaft begründete. Über die einzelnen, auch sozialgeschichtlich bedeutsamen Konflikte hinaus ist festzuhalten: Die Lektüre geistlicher Literatur leitete zu einer eigenständigen Frömmigkeit an, förderte also die religiöse Individualisierung. Diese Tendenz der innerlichen, unmittelbaren Beziehung des einzelnen Gläubigen zu Gott ist im Christentum von vornherein angelegt, doch bedarf sie der Entfaltung; genau diese Entfaltung leistete die Lektüre, indem sie zu Gebet, Gewissenserforschung, Selbsterkenntnis, Reflektion des persönlichen Lebens wie des Weltgeschehens anleitete. Kurz: Frömmigkeitsliteratur förderte die (unterschiedlich ausgeprägte) religiöse Individualisierung! Von der religiösen Individualisierung zur allgemein-kulturellen und sozialen Individualisierung, die als eine Besonderheit der modernen westlichen Welt gilt, mag kein direkter Weg führen: Doch die – zugespitzt formuliert – religiösen Individualisten übten Denk- und Verhaltensmuster ein, die über die herkömmliche Einbindung in vormoderne Gemeinschaften hinauswiesen.

28

Lehmann, Zeitalter (wie Anm. 24), S. 123.

3 Predigt Ein wesentliches Medium bei der Vermittlung der biblischen Botschaft war neben der Lektüre der Bibel, religiöser Literatur, geistlichen Spielen und Bildern die Predigt. Im Mittelpunkt der christlichen Predigt steht die Bibel, obgleich auch andere Texte verwendet wurden und werden. So sind Bibelauslegung (s. Kap. 2.3.) und Predigt engstens miteinander verknüpft. Predigten liegen uns in der Regel in schriftlicher Form vor – etwa als Mitschrift oder als für den Druck überarbeitete Fassung, jedenfalls nicht so, wie sie gehalten und gehört wurden. Das daraus resultierende methodische Problem wird noch dadurch verschärft, daß uns vor allem die Predigten herausragender Geistlicher überliefert sind, die allermeisten je gehaltenen Predigten aber unbekannt bleiben werden. Der folgende Überblick muß demnach mit einem gewissen Vorbehalt gelesen werden, zumal die Bedingungen und gesellschaftlichen Wirkungen christlicher Predigt noch zu wenig erforscht sind.

3.1 Anrede Gottes – zum Selbstverständnis christlicher Predigt Die Predigt wurde bereits als Bestandteil des Gottesdienstes erwähnt. Sie steht im Zentrum des Verkündigungsteils. Durch die Predigt spricht nach christlichem Verständnis Gott den Menschen an – die Gemeinde als Ganze wie auch den einzelnen Gläubigen. Der Prediger selbst ist Sprachrohr, ist derjenige, der den Predigttext mit Blick auf die Hörer und ihre jeweilige Lebenssituation auslegt – aber die Botschaft kommt von Gott. Luther, sicher einer der bedeutendsten Prediger überhaupt, hat das so erklärt: Die Frage Gottes an Kain „Wo ist dein Bruder Abel?“ (Gen 4,9), nachdem Kain Abel umgebracht hatte, habe er nicht selbst an Kain gerichtet, sondern sich dessen Vaters, Adam, bedient. „‚Gott redet nicht wie die menschen, hat kein maul, sed loquitur per homines‘“ ( sondern spricht durch die Menschen).1 Natürlich wendet sich Gott dem Menschen nach christlichem Verständnis keineswegs nur in der Predigt zu – der gesamte Gottesdienst ist gestaltete Gottesbegegnung, die sich in den Sakramenten verdichtet. Trotzdem spielt die Predigt, besonders im evangelischen Raum, eine herausgehobene Rolle: Bei den Reformierten, also den Kirchen, die sich von Zwingli und Calvin herleiten, heißt der Geistliche oft Prediger; ähnlich ist es in einigen evangelischen Freikirchen. Das Predigen erscheint als die kennzeichnende Aufgabe des Geistlichen schlechthin. Die Predigt soll zur Ehrfurcht vor und Liebe gegenüber Gott hinführen, ebenso zur Nächstenliebe und zum sittlichen Verhalten: Sie soll die Gläubigen aufrütteln, trösten, ermutigen. In jedem Fall geht es nicht in erster Linie um die Vermittlung 1

WA 48, S. 688.

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Predigt | 3

theoretischer Glaubenskenntnisse, sondern um den Gläubigen in seiner Beziehung zum Mitmenschen und zu Gott. Weil es um Beziehung geht, will Predigt grundsätzlich beides ansprechen: Herz und Verstand. Die Textgrundlage der Predigt ist die Bibel. Je nach Kirchenjahreszeit kommen bestimmte Texte daraus zur Auslegung. Daneben bringen bestimmte Zeiten (z.B. die Fastenzeit oder Ostern) auch thematische Predigten mit sich, in denen zusätzliche Texte herangezogen werden können. Ein anderes Beispiel thematischer Predigt ist die bereits erwähnte Katechismuspredigt (Kap. 1.2.1.). Auch das Leben eines Heiligen und das Tagesgeschehen können Thema der Predigt werden.

3.2 Die Predigt des Mittelalters Nicht in jedem mittelalterlichen Gottesdienst wurde gepredigt; besonders vor dem 13. Jh. stand dem die oft mangelnde Bildung der Pfarrer im Wege. Viele Geistliche, gerade auf dem Land, waren zwar in der Lage, die lateinische Messe zu lesen und zu singen, doch predigen konnten sie nicht. So setzten um 800 im Karolingerreich Bemühungen der Bischöfe ein, ihre Pfarrer in dieser Hinsicht – modern gesprochen – fortzubilden. Seit dem IV. Laterankonzil im Jahr 1215 wurden diese Bemühungen verstärkt: die städtische Bevölkerung Europas war im 11./12. Jh. deutlich angewachsen und es gab ein Verlangen nach Predigt in diesen Städten, das die wenigen und oft unzureichend gebildeten Pfarrer nicht erfüllen konnten; nicht selten füllten häretische Prediger diese Lücke. Wir können die Bemühungen um vermehrte und bessere Predigt auf zwei Ebenen erkennen: Einerseits wurden Hilfsmittel für die Predigt geschaffen, andererseits entstand mit den Bettelmönchen ein ganzer Stand professioneller Prediger. Unter den Predigthilfen des Hoch- und Spätmittelalters ist zunächst die Glossa ordinaria zu nennen (griech. glossa = Zunge). Hierbei handelt es sich um sprachliche, historische und theologische Erläuterungen zum Bibeltext. Als fortlaufender, die ganze Vulgata kommentierender Text war die Glossa ordinaria hauptsächlich durch Anselm von Laon († 1117) erarbeitet worden und avancierte im theologischen Schulbetrieb schnell zur Standard-Bibelerklärung (daher ordinaria = die übliche, reguläre). Ab der Mitte des 12. Jh.s war jede Bibel, die überhaupt Glossen beinhaltete, mit dieser Glossa ordinaria als begleitendem Text versehen. Wer sich eine Bibel leisten konnte, verfügte also über eine Auslegungshilfe. Ärmere Geistliche – sicherlich die Mehrzahl – griffen eher auf die Biblia pauperum (Kap. 2.2.3.) zurück, die sich ja ursprünglich an Kleriker richtete und für Predigten nützlich war. Wichtige Hilfsmittel waren auch Predigtbücher, in denen sich Predigten fanden, z.B. eine Reihe von Predigten über das Vaterunser. Ferner gab es Sammlungen von Musterpredigten, die man vollständig übernehmen oder aber abwandeln konnte. Predigtbücher und –sammlungen kannte bereits die Karolingerzeit, ihre Zahl nahm aber seit dem 13. Jh. deutlich zu, zunächst in Abschriften, seit Gutenberg auch im Druck. Schließlich gab es theologische Kommentare und

3.2 | Die Predigt des Mittelalters

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Nachschlagewerke verschiedenen Charakters, die aber natürlich auch nicht jeder Pfarrer oder Hilfsgeistliche besaß. Viele Predigtsammlungen stammten von den professionellen Predigern, die im 13. Jh. auftraten – den Bettelmönchen (s. Kap. 5.4.). Besonders die Dominikaner sind hier zu nennen, deren offizielle Bezeichnung deshalb auch Ordo Fratrum Praedicatorum lautet (Orden der Predigerbrüder). Dominikaner und Franziskaner übten das Predigen nach bestimmten Regeln der Rhetorik ein, wie sie ganz ähnlich auch im weltlichen Bereich anzutreffen waren – man spricht von einer ars praedicandi (Predigtkunst).2 Mit ihnen nahm das Predigtwesen im Abendland in quantitativer wie qualitativer Hinsicht einen entscheidenden Aufschwung. Die Predigt der Bettelmönche war ausdrücklich am einfachen Zuhörer, am ungebildeten Laien, orientiert. Sie war anschaulich: Beispiele nahmen einen ebenso breiten Raum ein wie dialogische Elemente, die sich etwa durchgehend in den Predigten des Franziskaners Berthold von Regensburg († 1272) finden. In einer Predigt über die Tugenden nennt er den eifrigen Gottesdienstbesuch als christliche Tugend. „‚Bruder Berthold,‘“ lautet der Einwand, „‚ich habe noch etwas anderes zu tun, Ich kann nicht den ganzen Tag beten und in der Kirche sein.‘“ Die Replik lautet: „Das verlangt Gott nicht von dir, sondern daß du treu bist in dem Laienamt, das du verrichtest. [...] Es sei Pfaffe oder Laie, Richter oder Ritter, Kaufmann oder Bauer, sie sollen alle ihr Amt mit Treue ausüben und mit der Wahrheit.“3 Berthold wird als der wichtigste deutschsprachige Prediger des Mittelalters angesehen; wenn er kam, liefen die Menschen in großen Scharen zusammen. Im 15. Jh. kam noch eine zweite Gruppe professioneller Prediger hinzu, die Prädikanten. Sie waren in der Regel keine Mönche, sondern theologisch gut gebildete Weltgeistliche, die nach dem Universitätsstudium an Kirchen als Prädikanten, ausschließlich für die Predigttätigkeit angestellt wurden. Der weithin bekannte Johann Geiler von Kaysersberg, von 1478 bis zu seinem Tod 1510 Prädikant am Straßburger Münster, wurde dafür bezahlt, an allen Sonntagen, an allen Hochfesten und vor Prozessionen zu predigen, ebenso an jedem Tag der Fastenzeit. Die vorösterliche Fastenzeit, in der man der Passion Christi gedachte, war europaweit eine Zeit intensiver, z.T. täglicher Predigt. Zahlreiche Prädikaturen, also Stiftungen zum Unterhalt der Prädikanten, zeugen von einem großen Bedürfnis nach christlicher Predigt und davon, daß man sich die Stillung dieses Bedürfnisses etwas kosten ließ. 2

3

Gängig war folgendes Schema: Exordium (Prologus): Die Aufmerksamkeit der Zuhörer wird geweckt, der Predigttext ggf. in seinen Kontext eingeordnet. – Propositio: Vorstellung des Predigttextes und des Inhaltes. – Partitio: Vorstellung der Teile der Predigt. – Tractatio: die eigentliche Predigt, u.a. mit der Applicatio, der Schlußfolgerung für das Leben der Hörer. – Exitus: Abschluß. S. Albrecht Beutel: Aphoristische Homiletik. Johann Benedikt Carpzovs ‚Hodegeticum‘ (1652), eine Klassiker der orthodoxen Predigtlehre. In: Klassiker der protestantischen Predigtlehre. Hgg. von Christian Albrecht und Martin Weeber. Tübingen 2002, S. 26-47, hier S. 40-43. Berthold von Regensburg: Vollständige Ausgabe seiner Predigten mit Anmerkungen von Franz Pfeiffer. Bd. 1. Berlin 1965, S. 255 (Übertragung V.S.).

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Predigt | 3

Im ausgehenden 15. Jh. predigten also in den mittleren und größeren Städten nicht nur die Pfarrgeistlichen, sondern auch Bettelmönche und Prädikanten; wer wollte, konnte zumindest in den größeren Städten jener Zeit fast täglich eine Predigt hören, andernorts seltener. Auf dem Land war die Versorgung mit Predigten deutlich schlechter. Gleichwohl: um 1500 wurde so viel gepredigt wie nie zuvor.

3.3 Die Predigt der frühen Neuzeit Die reformatorische Bewegung, die sich ja gerade auch durch Predigten verbreitete, knüpfte an die spätmittelalterliche Wertschätzung der Predigt an und setzte zugleich ihren eigenen Akzent: Gepredigt werden sollte nur das reine Evangelium ohne menschliche Zusätze! Damit grenzte man sich von denjenigen Elementen spätmittelalterlicher Predigt ab, die über die biblische Grundlage hinausgingen, etwa von Heiligenlegenden und als abseitig angesehenen Allegorien; man distanzierte sich sogar von der seit der Frühen Kirche gepflegten Auslegungstradition, rezipierte sie aber in der Praxis weiterhin. Wie alle erfolgreichen Schlagworte war auch das vom reinen Evangelium nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, weil sich anfangs durchaus verschiedene Richtungen darin wiederfanden: Anhänger Luthers und Bibelhumanisten, Täufer und reformorientierte Geistliche, die der Alten Kirche treu blieben. So setzte ein regelrechter Predigtwettstreit ein und die Intensivierung der Predigt prägte nicht nur den Protestantismus – der hugenottische Geistliche hieß ausdrücklich ministre (von lat. minister verbi Dei = Diener des Wortes Gottes) – sondern auch den frühneuzeitlichen Katholizismus: Neue Orden wie die Jesuiten und Kapuziner widmeten sich ausdrücklich der Predigt. Alle Konfessionen sahen in der verstärkten Predigttätigkeit die Chance, den Gläubigen die Merkmale des eigenen Glaubens in Abgrenzung von den anderen Glaubensrichtungen einzuprägen. Dazu trugen die verbesserte Ausbildung der Geistlichen und weitere Hilfsmittel wie Predigtsammlungen bei, die durch den Buchdruck mehr denn je verbreitet wurden. Der Umfang der seit der Reformation noch einmal intensivierten Predigttätigkeit läßt sich für die frühe Neuzeit einigermaßen abschätzen. Durchschnittlich hielt ein evangelischer Geistlicher im deutschsprachigen Raum des 16./17. Jh.s etwa 200 Predigten jährlich, also im Schnitt vier pro Woche: nicht nur an Sonnund Feiertagen, sondern auch an manchen Wochentagen waren Predigten von der jeweiligen Kirchenordnung vorgesehen. Zu diesen 200 kamen noch Hochzeits- und Leichenpredigten dazu.4 Einzelne Prediger der frühen Neuzeit predigten noch weitaus öfter, manche mehrmals täglich. Aber diese begabten Vielprediger waren prominente Ausnahmen. Was die Dauer der Predigt angeht, so gab es selbstverständlich große Unterschiede, je nach Person, Ort und Konfession. Calvin sprach in langsamem Vor4

Albrecht Beutel: Predigt VIII. In TRE 27 (1997), S. 296-311, hier S. 300.

3.3 | Die Predigt der frühen Neuzeit

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trag ohne schriftliche Aufzeichnungen ungefähr eine Stunde lang, August Hermann Francke († 1727), einer der Gründerväter des Pietismus, predigte zwei Stunden oder länger, manchmal vom Schwung seiner Rede mitgerissen. Üblicherweise nahm eine durchschnittliche Sonntagspredigt des 16./17. Jh.s mindestens eine halbe Stunde, oft ein bis zwei Stunden in Anspruch, Leichenpredigten bis zu drei Stunden. Klagen über zu lange Predigten sowie Warnungen davor, die Geduld der Zuhörer zu strapazieren, gab es daher genügend: „Deine Predigt schleuß kurtz / rund und gut / Lang Predigt hört man mit Unmuht. Ists eine Kunst wol predigen können? So ists auch eine das Ende finden. Wer den Schlüssel nicht finden kann / Der macht verdrossen jedermann,“ lautete eine Empfehlung vom Beginn des 17. Jh.s5, wobei die Meinung darüber, was „lang“ oder „kurtz“ war, sicher verschieden ausfiel. Jedenfalls dauerten frühneuzeitliche Predigten deutlich länger als heute. Das förderte den Kirchenschlaf. Liselotte von der Pfalz, Schwägerin Ludwigs XIV., gestand 1693 ein: „Ich kann unmöglich predigen hören ohne zu schlafen “6 – offenbar unabhängig von Länge und Qualität der Predigt. Dem Kirchenschlaf förderlich waren ferner die langen Wege zum Gottesdienst, die viele Landbewohner auf sich nahmen, so daß sie ermattet die Kirche erreichten. Wie verbreitet der Kirchenschlaf war, ist schwer zu sagen; immerhin sahen manche Kirchenordnungen eigens Personen vor, die die Schlafenden weckten. Zum besseren Verständnis der Predigtlänge ist zu berücksichtigen, daß unsere Vorfahren langsamer – und damit oft auch verständlicher! – als wir sprachen. Schon allein deshalb dauerte die Predigt länger als heute. Und zumindest im predigtzentrierten evangelischen Gottesdienst erwartete man eine längere Predigt, zumal bei prominenten Predigern: Die heutzutage übliche evangelische Predigt von 15 bis maximal 20 Minuten hätte manche Gläubigen enttäuscht. Wie bereits im Früh- und Hochmittelalter verfaßte ein Geistlicher auch in der frühen Neuzeit nicht unbedingt selbst die Predigt, sondern griff auf Predigtsammlungen zurück. In der frühen Neuzeit wurde für solche Predigtsammlungen der Begriff Postille (lat. post illa, sc. verba textus = nach jenen Worten des Bibeltextes) üblich. Meist handelt es sich um die Predigten eines renommierten Predigers. Wenig gebildete Geistliche konnten die Postillenpredigten verlesen; als ideal wurde diese Praxis allerdings nicht angesehen, wie die Äußerung eines bekannten Jesuitenpredigers vom Ende des 17. Jh.s zeigt: „Und das geht absonderlich diejenige an, welche nicht lesen, nicht notiren, nicht studiren, nicht arbeiten mögen: sondern erst am Sambstag [...], nach dem jedermann schon Feyerabend gemacht, über [...] ein alte Postill oder Prediger-Buch herzucken und etwas daraus halb auswendig lernen, es reim sich hernach, oder reim sich nit.“ 5

6

Vers von Balthasar Meißner (1587-1626), zit. von Johann Benedikt Carpzov, zit. nach: Beutel, Homiletik (wie Anm. 2), S. 43. Zit. nach Urs Herzog: Geistliche Wohlredenheit. Die katholische Barockpredigt. München 1991, S. 23.

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Predigt | 3

„Reimen“ meint hier passen – und oft paßte es eben nicht, monierte dieser Kritiker. Solche Geistlichen erzählten, so bemängelte er weiter, „denen Bauren von dem Hoff-Pracht; [...] den Krancken und [...] Krippeln vom tantzen und springen; denen Blinden vom Spiegel und Liecht [...] an statt daß sie sollten ein nutzliche Materi aussuchen und dieselbe nach Fähigkeit ihrer Zuhörer beweglich vortragen. Fürwar, diese wissen nicht, was predigen seye.“7 Die Kritik galt dabei nicht der Benutzung der Postille an sich, sondern der Faulheit der Benutzer, die sich allein auf sie verließen und sich keine Gedanken über den Verständnishorizont der Zuhörer machten. Postillen waren jedoch nicht nur Hilfsmittel für Geistliche – auch Laien konnten sie lesen, etwa dann, wenn es ihnen nicht möglich war, am Gottesdienst teilzunehmen (s. Kap. 2.4.1.). Die Postillen enthielten auch Wort- und Sacherklärungen zum Bibeltext. Bis ins 19. Jh. hinein waren sie gerade im evangelischen Raum sehr verbreitet.

3.4 Die Kontroverspredigt des konfessionellen Zeitalters Wie bereits angedeutet, schuf die Glaubensspaltung den Rahmen für verstärkte Unterweisung durch Predigt auch insofern, als nun die Auseinandersetzung mit den konfessionellen Rivalen Bedeutung gewann. In diesem Zusammenhang entstand die Gattung der Kontroverspredigt. Hier wurden die Unterschiede zwischen den Konfessionen aufgegriffen und mehr oder weniger polemisch auf der Kanzel behandelt. In der bikonfessionellen Stadt Augsburg z.B. wurden im 18. Jh. viermal im Jahr Kontroverspredigten gehalten; anschließend ließen sowohl Katholiken als auch Lutheraner ihre Predigten drucken. Augsburg war aufgrund der reichsrechtlich abgesicherten Bikonfessionalität und wegen der Bedeutung dieser Stadt für die Geschichte der Reformation ein besonderer Ort; aber auch in anderen gemischtkonfessionellen Regionen blühte die Kontroverspredigt bis weit ins 18. Jh., etwa im nördlichen Rheinland. 1780 z.B. gab es im Kölner Raum heftigen Streit um die unter dem Titel „Kein Protestant kann selig werden“ gedruckte Predigt eines Augustinermönchs. Sie löste eine ganze Reihe von Schriften aus, schließlich Rechtsgutachten der Kölner Juristenfakultät sowie aus München und Wien.8 In Kontroverspredigten wurde thematisiert, was zwischen den Konfessionen umstritten war. Ein Beispiel: Am Fronleichnamstag 1751 hielt der Kölner Jesuit Pantaleon Eschenbrender, ein seinerzeit anerkannter Prediger, Seelsorger und 7 8

Wolfgang Rauscher SJ, zit. nach ebd., S. 211. Ute Küppers-Braun: „Anmüthiges Gespräch zwischen Thomas und Stephan Buchweiß, welche Catholischer Religion / und Peter Eyer-Käß und Fick Langohr, so Reformirter Religion“ – Jesuitische Kontroverspredigten des 18. Jahrhunderts. In: Hirt und Herde. Religiosität und Frömmigkeit im Rheinland des 18. Jahrhunderts. Hgg. von Frank Günter Zehnder. Köln 2000, S. 227-250, hier S. 232f.

3.4 | Die Kontroverspredigt des konfessionellen Zeitalters

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Latinist, eine Predigt in Mülheim, einem Ort vor den Toren Kölns, in dem Gläubige aller drei großen Konfessionen lebten. Die Predigt war als Gespräch dreier Personen aufgebaut – Andreas, Bernardus und Conrad, also gut zu merken mit den Anfangsbuchstaben A, B, C. Gleich beim ersten Aufeinandertreffen wird der konfessionelle und kulturelle Unterschied deutlich. Andreas, ein ortsfremder Katholik, kommt nach Mülheim zu Besuch und begrüßt die beiden anderen mit dem üblichen katholischen Gruß „Gelobt sey Jesus Christus“ in der Erwartung der Antwort „in Ewigkeit, Amen.“ Bernhard, der Lutheraner, aber antwortet: „Guten Tag mein Herr.“ Erstaunen bei Andreas, der darauf verweist, daß dieser Gruß sich immerhin in der Bibel befindet. Aber Bernhard erklärt, daß „wir mit den Catholischen Gebräuchen nichts zu schaffen haben wollen: und falß ich diesen Gruß gebrauchen wollte, würde ich bey unserem herrn Prediger in Verdacht kommen und übel anlauffen.“ Conrad, der Reformierte, pflichtet bei: „Eben das würde mir auch bey unserem Hrn. Prediger widerfahren, darum halten wir die Gewonheit (wan einer dem anderen begegnet) zu sagen Bon jour, oder guten Tag mein Herr! wie lebt man noch, wie befindet man sich?“ Andreas rät, Bernhard und Conrad sollten sich nicht derartig von ihrem Prediger gängeln lassen. Dann geht das Gespräch zum ersten Hauptpunkt über: „Ob sie – die Protestanten – das reine Wort Gottes haben und recht außlegen“. Sowohl Bernhard als auch Conrad verweisen darauf, daß der Geist Gottes die rechte Auslegung garantiere. Andreas merkt an, daß das Abendmahlsverständnis seit 200 Jahren zwischen Lutheranern und Calvinisten umstritten sei; da müßten die Protestanten doch erst einmal beweisen, daß ihr Geist tatsächlich der heilige Geist und nicht nur ein „Privat-Geist“ sei. Etwas später läßt Eschenbrender die drei darüber sprechen, ob Luther von Gott berufen gewesen sei. Das bejahen Bernhard und Conrad natürlich, letzterer fügt hinzu, auch Calvin sei von Gott berufen gewesen. Andreas verlangt Beweise dafür, also etwa ein Wunder, das sie getan hätten. Bernhard meint, es sei ein Wunder, daß so viele Menschen Luther gefolgt seien. Das läßt Andreas nicht gelten: Auch den frühchristlichen Ketzern Arius und Pelagius seien viele Menschen gefolgt und später Mohammed noch viel mehr. Aber, wenn es schon keine Wunder gebe, wie sehe es denn mit der Lebensführung Luthers und Calvins aus, die ja auch ein Beweis der göttlichen Berufung sein könne? Im weiteren Verlauf des Gesprächs kommen Berichte des 16. Jh.s zur Sprache, nach denen Calvin „in Verzweiffelung gestorben“ sei. Luther sei der Teufel erschienen, darüber habe er sich so erschreckt, daß er sich körperlich gesund zu Bett gelegt habe, aber vier Stunden später gestorben sei.9 Berichte über den Tod der Reformatoren waren ein bekanntes Thema der konfessionellen Polemik. Ebenso gehörte der Hinweis auf die Uneinigkeit der beiden großen evangelischen Konfessionen zum Standardrepertoire katholischer Kontroverspredigt, dazu die Frage nach beglaubigenden Wundern. Der Zweck der 9

Ebd., S. 233-236.

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Predigt | 3

Kontroverspredigten aller Seiten war vielleicht weniger, die jeweils anderen Gläubigen zu überzeugen als die Angehörigen der jeweils eigenen Konfession ihres Standpunktes zu vergewissern.

3.5 Lachen in der Predigt War auf mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kanzeln die Polemik zuhause, so entzündeten sich an den Predigten auch Emotionen, die sich in Lachen und Weinen äußerten, besonders im katholischen Raum. Seit dem Aufblühen der Predigt im 13. Jh. gehörten Scherze, derbe Anekdoten, drastische Beispielgeschichten (Exempla) zur Veranschaulichung menschlicher Laster zum rhetorischen Fundus der Predigt. Es gelte die Müden am Einschlafen zu hindern und überhaupt müsse man den Zuhörern Unterhaltsames bieten, damit sie danach auch den ernsthaften und nützlichen Worten lauschten, begründete Jacques de Vitry († 1240) die Integration der zum Lachen reizenden Elemente10, die sich schließlich gegen eine starke, dem Lachen feindlich gesonnene kirchliche Tradition durchsetzte. Neben der didaktischen Absicht ließ sich das Lachen auch theologisch begründen: Mindestens in einem Gottesdienst des Kirchenjahres war es obligatorisch – in der Osterpredigt: Christus war auferweckt, Tod und Teufel besiegt, es gab mehr als genug Grund zur Freude und zum Lachen! Darum das Osterlachen (lat. risus paschalis), das in der katholischen Kirche bis ins 19. Jh. hinein in die Messe am Ostersonntag gehörte, darum die komischen Szenen in den Osterspielen. Auch für diesen Aspekt der Predigt gab es im übrigen Hilfsmittel wie eine um 1700 erschienene „Sammlung von 100 Osterpredigten mit ebensoviel höchst vergnüglichen 100 Ostermärlein“ mit Legenden, Scherzfragen und Fabeln, Schwänke mit zänkischen Frauen und versoffenen Ehemännern. Zum Lachen reizende Elemente sind nicht wegzudenken aus der Geschichte der katholischen Predigt: Sie machten einen wichtigen Teil der Anschaulichkeit aus, von den Bettelmönchen über die Prädikanten des 15. Jh.s bis zu dem populären katholischen Volksprediger Abraham a Sancta Clara am Ende des 17. Jh.s, der für satirische und parodistische Einlagen bekannt war. Im evangelischen Raum empfand man diese Mittel offenbar als nicht angemessen. Die Aufklärung räumte dann mit der Heiterkeit in katholischen Predigten weitgehend auf, während in den Ostkirchen bis heute das Osterlachen zum liturgischen Ablauf des Ostergottesdienstes gehört. Am Lachen bzw. seinem heute weitgehenden Fehlen in der Predigt wird erkennbar, wie sich im Westen die Anschauung über das gewandelt hat, was im 10

Jeannine Horowitz – Sophia Menache: L’humour en chaire. Le rire dans l’Église médiévale. Genf 1994, S. 67.

3.6 | Predigt und Gottesdienst als gesellschaftliches Ereignis

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Gottesdienst und während der Predigt als angemessenes Verhalten gilt; wir kommen auf diesen Mentalitätswandel zurück (Kap. 3.7.).

3.6 Predigt und Gottesdienst als gesellschaftliches Ereignis Predigten gehörten, zumindest in den Städten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, zum Alltag. Das wurde indirekt schon angedeutet, als von der umfangreichen Predigttätigkeit der Geistlichen die Rede war. Ein Beispiel für die Alltäglichkeit des Predigthörens bieten die Tagebuchaufzeichnungen des Engländers Samuel Pepys (1633-1703) aus den 1660er Jahren. Sie zeugen vom regelmäßigen Kirchgang. Und Pepys verteilte fleißig Noten zu den Predigten: „Eine unausstehliche, impertinente Predigt von einem irischen Doktor“ heißt es einmal. Von einer „langweiligen Predigt“ ist die Rede, ein anderes Mal von einer „kümmerlichen, lahmen Predigt“, die „entsetzlich lange [dauerte], was die Sache noch verschlimmerte.“ Oder: „Hörte an Bord der ‚Schwalbe‘ im Dock die Predigt unseres Flottenkaplans, sehr traurig, voller Unsinn und falschem Latein.“ Aber es gab nicht nur Negativkritik, Lob und Tadel hielten einander ungefähr die Waage: Einmal notierte Pepys, das sei die „beste Predigt, die ich je in meinem Leben gehört habe.“ Bei einer anderen Gelegenheit: „Hörte den berühmten jungen Stillingfleet, den ich noch aus Cambridge kenne und der einer der begnadetsten Prediger seit der Zeit der Apostel sein soll. Eine schlichte, würdige und eindringliche Predigt.“ Pepys wußte demnach die rhetorischen Qualitäten einer Predigt zu schätzen, doch ging er nicht nur ihretwegen fast täglich zur Kirche. „Beobachtete die drei hübschen Schwestern des Pfarrers, die besonders attraktive Nasen haben,“ lautet ein anderer Tagebucheintrag, „sie singen auch sehr artig. Gute Predigt des alten Herrn über Elternliebe.“ Und eine andere Notiz: „Amüsierte mich in der Kirche mit meinem Fernglas, durch das ich das große Vergnügen hatte, eine große Zahl attraktiver Frauen zu beobachten. Mit dieser Beschäftigung und einem kurzen Nickerchen überstand ich den Gottesdienst leidlich.“ 11 Pepys ist nicht repräsentativ – schon allein dadurch, daß er als Angehöriger der Oberschicht die Muße für den häufigen Gottesdienstbesuch hatte; auch die Möglichkeit, täglich an verschiedenen Orten eine Predigt zu hören, war in der Metropole London gegeben, sonst aber ungewöhnlich. Gleichwohl beleuchten Pepys‘ Aufzeichnungen einen über die Jahrhunderte hinweg wichtigen Aspekt von Gottesdienst und Predigt: Sie waren, ähnlich wie der Theaterbesuch, ein gesellschaftliches Ereignis. Wem die Predigt lang wurde, ließ die Blicke und Gedanken schweifen, und nach dem Gottesdienst traf man Bekannte und Freunde: Sehen und gesehen werden! „Viele gehen in die Kirchen,“ kritisierte Abraham a Sancta Clara fast zeitgleich mit Pepys und als hätte er dessen Tagebucheinträ11

Zitate nach Herzog, Wohlredenheit (wie Anm. 2), S. 21 f., 26.

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Predigt | 3

ge gelesen, „nicht [...] [um] zu bethen, sondern neue Zeitung zu hören [...]. Viele besuchen ein Gotteshaus, nicht darin dem allmächtigen Gott die Knie zu biegen, sondern andern stinkenden Larven Complimenten zu schneiden. [...] Viele siehet man in der Kirchen, welche nicht daselbst die heilige Beiner verehren [also die Gebeine der Heiligen, die Reliquien], sondern nach dem muffenden Fleisch trachtend.“12

3.7 Das Verhalten während des Gottesdienstes und der Predigt: Ein Mentalitätswandel Klagen über Unaufmerksamkeit und ungehöriges Verhalten im Gottesdienst reichen bis in die Spätantike zurück. Mit den seit dem Spätmittelalter immer reichlicher vorhandenen Quellen dieser Art ergibt sich ein ebenso farbiges wie einseitiges Bild von den Störungen, die einen Gottesdienst, besonders die Predigt, bis ins 18./19. Jh. hinein beeinträchtigen konnten. Landauf, landab finden sich im frühneuzeitlichen Europa die Klagen über Störungen des Gottesdienstes, weit über die Geräusche hinaus, die mit dem Kirchenschlaf verbunden sein mochten. Der eine kam zu spät zum Gottesdienst, der andere lief lange vor dem Segen wieder aus der Kirche hinaus; dort traf er diejenigen, die gar nicht erst eingetreten waren, sondern, sich lautstark unterhaltend, vor der Kirche standen. In einer schwedischen Landgemeinde versuchte man dieses Verhalten im Jahr 1771 einzudämmen, indem der Küster all denen, die auf dem Friedhof hin- und herliefen, ihre Hüte und Mützen abnahm. Nach Ende des Gottesdienstes erhielten sie ihre Kopfbedeckungen gegen Geld zurück.13 Aber auch wer rechtzeitig kam und bis zum Ende blieb, verhielt sich nicht immer vorbildlich: Manche Gottesdienstbesucher erschienen betrunken in der Kirche, andere schwatzten unaufhörlich. Eine verbreitete Unsitte war es, Hunde mitzubringen, die durch Gebell und andere Geräusche störten. Emporen waren nicht selten Brutstätten der nicht nur akustischen Unruhe; man konnte die unten sitzenden Gläubigen mit kleineren Gegenständen bewerfen; in einem Fall – wiederum in einer schwedische Landgemeinde – wurde gar ein Hund hinuntergeworfen. Klagen über Störungen des Gottesdienstes und der Predigt waren, wie gesagt, ein europaweites Phänomen; und gewiß liefen Gottesdienste der Vormoderne unruhiger ab, als es heute üblich ist. Nehmen wir allerdings nur diese Berichte, so wird das Bild einseitig, denn naturgemäß wird über Störungen, Probleme, spektakuläre Ereignisse eher berichtet als über die weitaus zahlreicheren Fälle, in denen Gottesdienst und Predigt ungestört blieben. 12 13

Vgl. ebd., S. 27f. Göran Malmstedt: Bondetro och kyrkoro. Religiös mentalitet i stormaktstidens Sverige. Lund 2002, S. 180-183.

3.7 | Das Verhalten während des Gottesdienstes und der Predigt

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Gleichwohl: Es gab Klagen, Beschwerden und Verordnungen gegen Störungen. Sie bezeugen die Sichtweise von Geistlichen und Laien, die sich durch schnarchende, lärmende, tabakschnupfende, schwatzende, hin- und herlaufende Kirchgänger gestört fühlten. Offenkundig wurde ein und dieselbe Verhaltensweise unterschiedlich wahrgenommen: Den einen kam der Gottesdienst gerade recht für den Austausch des neuesten Klatsches, die anderen wollten aufmerksam singen, beten, zuhören und das Altarsakrament empfangen. Unterschiedliche Wahrnehmung und unterschiedliches Verhalten lassen sich teilweise so erklären, daß die einen eben ernsthafter bei der Sache waren als die anderen, die Gedanken und Blicke schweifen ließen oder sich kurzweiligeren Beschäftigungen zuwandten. Auch die Qualität des Kultus‘ spielte eine Rolle: König Karl II. von England brach bei einem Gottesdienst in Lachen aus, als der Chor schief sang14 – warum hätten seine Untertanen sich dann zurückhalten sollen? Trotzdem: Die genannten Klagen über Störungen und die indirekt daraus erkennbare Vorstellung, welches Verhalten in der Kirche angemessen sei, zeugen davon, daß sich im Lauf der frühen Neuzeit ein Wandel in der Einstellung zum Kultus vollzog. Um 1500 und noch lange nachher war ein gewisser Lärmpegel im Gotteshaus normal, nicht selten bat der Geistliche vor Beginn der Predigt erst einmal um Ruhe. Im 19. Jh. aber herrschte in der Regel bereits vor der Predigt andächtige Stille – selbst dann noch, wenn sie sich ungebührlich in die Länge zog. Im 19. Jh. wäre es auch niemandem eingefallen, Tiere der Abkürzung halber durch eine größere städtische Kirche zu treiben, doch aus dem späten Mittelalter sind solche Fälle bekannt. Lachen bei Fehlern im liturgischen Ablauf oder nach der drastischen Beschreibung des Lasters von der Kanzel sind im 19./20. Jh. weitgehend unbekannt, ebenso wie das Weinen derer, die durch Liturgie oder Predigt zutiefst berührt sind. Zusammengefaßt: Wer heute am Gottesdienst teilnimmt, bemüht sich in der Regel um ein in jeder Hinsicht gedämpftes Auftreten, das als zum sakralen Raum passend empfunden wird. Wie dieser Wandel zustande kam, ist nicht leicht zu erklären. Die auch in anderen Lebensbereichen zunehmende Affektkontrolle, welche sich in Europa langsam während der Neuzeit vollzog, war gewiß von Bedeutung. Damit verwandt sind die Vorstellungen weltlicher und geistlicher Obrigkeiten von guter Ordnung zu nennen, die bereits die Humanisten und Reformer des 15./16. Jh.s vertraten. Diese Vorstellungen der Eliten blieben sicherlich vielfach zunächst wirkungslos; auf lange Sicht aber zeitigten sie doch eine gewisse Wirkung, vor allem im Protestantismus und vorrangig da, wo Frömmigkeitsbewegungen der Laien wie im Pietismus und Puritanismus diesen Ordnungsvorstellungen entgegenkamen. Gerade sie legten Wert auf die vornehmlich als Lehre begriffene Predigt, der aufmerksam zu folgen war. Die dem eigentlichen Kultus eher verständnislos gegenüberstehende Aufklärung verstärkte diesen Trend auf ihre Weise. So fand 14

Herzog, Wohlredenheit (wie Anm. 2), S. 21.

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Predigt | 3

tendentiell eine Intellektualisierung des Gottesdienstes statt, dessen äußere Formen mit dem konform gingen, was als schicklich und gutbürgerlich galt; nicht zuletzt war demnach Heiliges vom Profanen zu trennen. Wer die Regeln dieses Verhaltens nicht beherrschte oder nicht erlernen wollte, der ging nicht mehr zur Kirche. Das betraf vor allem die im 18. Jh. wachsenden ländlichen und städtischen Unterschichten; da ungefähr gleichzeitig die evangelischen Kirchen zunehmend darauf verzichteten, den regelmäßigen Gottesdienstbesuch einzufordern, läßt sich das Ende der Predigtstörungen nicht zuletzt durch die simple Tatsache zu erklären, daß die potentiellen Störenfriede nicht mehr im Gotteshaus erschienen. Für den Katholizismus gilt all dies wohl nicht in gleichem Maße, obgleich auch hier Störungen vorkamen. Vielleicht spielte eine Rolle, daß die Predigt kürzer war als in evangelischen Kirchen, weil die Eucharistiefeier im Zentrum des Gottesdienstes stand.

3.8 Predigt und Politik Über den Inhalt von Predigten wurde bisher kaum etwas gesagt: Es versteht sich, daß es bei einem als Anrede Gottes an den Menschen verstandenen Medium vor allem um den religiösen Inhalt i. e. S. geht: um das Heil und die christliche Lebensführung der Menschen, um Trost, Ermahnung, Nächstenliebe. Doch lassen sich Religion und Gesellschaft, Religion und Politik nicht voneinander trennen, und so stand auch die Predigt in Wechselwirkung mit den jeweiligen sozialen und politischen Verhältnissen. So werden am Ende dieses Kapitels noch Beispiele für die politische Bedeutung der Predigt vorgestellt. Der christliche Gottesdienst war in der Vormoderne die einzige Versammlungsform, an der die meisten Europäer schichtenübergreifend einigermaßen regelmäßig teilnahmen und die Predigt war folglich ein Massenmedium der Vormoderne – vielleicht das wichtigste.

3.8.1 „Mein Knecht David“ – Legitimation und Begrenzung von Herrschaft in der Krönungspredigt Als der brandenburgische Kurfürst Friedrich III. im Jahr 1701 seine Rangerhöhung zum König in Preußen und die damit verbundene Krönung mit großem Aufwand in Königsberg inszenierte, wurden anläßlich dieses Ereignisses Predigten an verschiedenen Orten seines Herrschaftsbereiches gehalten. Der neue König wurde in diesen Predigten als Gottes Statthalter auf Erden, als neuer Salomon und David bezeichnet.15 David und Salomon als die politisch bedeu15

Joachim Eibach: Preußens Salomon. Herrschaftslegitimation und Herrscherpflichten in Predigten anläßlich der Krönung Friedrichs I. In: Dreihundert Jahre Preußische Königskrönung. Eine Tagungsdokumenation. Hgg. von Johannes Kunisch. Berlin 2002, S. 135-157.

3.8 | Predigt und Politik

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tendsten und zugleich gottesfürchtigen Könige des alten Israel, dienten hier wie auch sonst oft als Modell des christlichen Fürsten. Als Grundlage der 14 erhaltenen Predigten war u. a. Ps 89,21f vorgegeben worden: „Ich [sc. Gott] habe David, meinen Knecht, gefunden und ihn mit meinem heiligen Öl gesalbt. Beständig wird meine Hand ihn halten und mein Arm ihn stärken.“ Wurde hier die göttliche Legitimation des Herrschers betont, so hieß es andererseits in den Krönungspredigten auch, nur Gott sei „absolute“, alle Könige hingen von ihm ab. Beides war engstens miteinander verknüpft, denn wie es in einem der von König Friedrich selbst festgelegten Predigttexte hieß: „Er [sc. Gott] setzt Könige ab und setzt Könige ein.“ (Dan 2,21) Was war die Aufgabe des Monarchen? Jedenfalls nicht sein „Privat Interesse“, sondern die „wahre Wohlfahrt der Unterthanen“, betonte der prominente pietistische Prediger Spener, und das Verhältnis zwischen König und Volk wurde als das eines Landesvaters, der treu für seine Kinder sorgt, beschrieben – oder aber mit dem Bild von Körper und Haupt, wobei das Salböl der Krönung eben auch vom Haupt zu den Gliedern hinabfliesse.16 Die preußischen Krönungspredigten von 1701 enthielten also zwei wesentliche Elemente: Einerseits die Legitimation des von Gottes Gnaden an die Regierung gekommenen Herrschers, dem die Untertanen zu Gehorsam verpflichtet waren; andererseits die Pflichten des neuen Königs gegenüber Gott und den Untertanen. Der politische Charakter einer Krönungspredigt liegt auf der Hand – ebenso der von anläßlich politischer Versammlungen gehaltener Predigten: englische Parlamente, deutsche Landtage und schwedische Reichstage etwa wurden mit Predigtgottesdiensten eröffnet und von ihnen begleitet.

3.8.2 „Die beste Verfassung auf Erden“ – Predigt und das Bild der Gesellschaft Doch die politische Relevanz von Predigt beginnt bereits im gottesdienstlichen Alltag. Bei der Untersuchung von rund 10.000 Predigten dänischer Geistlicher aus dem Zeitraum von 1750 bis 1848 ließ sich ein Wandel des darin enthaltenen Bildes von Gesellschaft und Obrigkeit erkennen: Um 1750 wurde Gesellschaft von der Kanzel aus nach den Prinzipien der Über- bzw. Unterordnung sowie der wechselseitigen Verpflichtung entworfen – ganz ähnlich, wie es in den preußischen Krönungspredigten erkennbar wird. Doch zur Mitte des 19. Jh.s hin verschob sich das Bild von einer hierarchisch-traditionalen zu einer Gesellschaft, die sich aus mit Menschen- und Bürgerrechten ausgestatteten Individuen zusammensetzte. Zugleich veränderte sich in der Predigt der dänischen Pastoren das Bild der Obrigkeit; war sie im 18. Jh. noch überwiegend als notwendiges Übel

16

Zitate nach ebd., S. 146-148.

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Predigt | 3

angesehen worden, so stellte sie im 19. Jh. eher ein wünschenswertes Gut zur Verbesserung der Gesellschaft dar.17 Der Wandel in den Vorstellungen von Herrschaft und Gesellschaft betrifft natürlich zunächst die dänischen Geistlichen selbst, die offenkundig insgesamt dem vorherrschenden Trend politischer Ideen folgten und als Multiplikatoren fungierten. Den dominierenden politischen Vorstellungen waren nach Ausweis ihrer Predigten auch die Geistlichen in Nordengland im mittleren Drittel des 18. Jh.s eng verbunden. „Our Civil Constitution is the best upon earth,“ verkündete damals einer der anglikanischen Pfarrer von der Kanzel18 und formulierte damit das politische Credo der englischen Eliten.

3.8.3 „Ihr habt das Gesetz nicht bewahrt“ – Kritik am Stadtrat Der Inhalt der bisher erwähnten Predigten bleibt i.W. im Rahmen dessen, was seit der Frühen Kirche christlicher Grundkonsens war und mehr oder weniger kontinuierlich gepredigt wurde, etwa bei der Auslegung des Vierten Gebots: Daß die Obrigkeit grundsätzlich von Gott kam und insofern Anspruch auf Gehorsam hatte (Röm 13), daß die Obrigkeit wiederum ihrerseits Gott Rechenschaft schuldig war – all dies war selbstverständlich, ebenso die Verpflichtung der Obrigkeit auf den Schutz der Kirche (s. Kap. 8.1., 8.4.1.). Doch bei der Verwirklichung dieser Grundsätze blieb Streit naturgemäß nicht aus, und auch dieser Streit konnte seinen Niederschlag in Predigten finden. Im Jahr 1620 verpflichtete der Magistrat der Stadt Ulm jeden Ulmer Bürger dazu, einen Tag lang am Umbau der Stadtbefestigung mitzuarbeiten; ersatzweise konnte diese Pflicht auch durch einen Geldbetrag abgegolten werden, der für viele Bürger etwa der Höhe zweier Tagesverdienste entsprach. In der Bürgerschaft gab es heftigen Widerstand gegen diese Belastung, die als unvereinbar mit den bürgerlichen Rechten angesehen wurde. Am 29. März 1620 wurden erstmals zwangsverpflichtete Bürger am Bau eingesetzt, am folgenden Tag predigte der Ulmer Superintendent Conrad Dieterich über den Vers „Ihr – gemeint ist die Obrigkeit – seid Diener seines Reichs, aber ihr habt kein gerechtes Urteil gefällt, das Gesetz nicht bewahrt und die Weisung Gottes nicht befolgt.“ (Weish 6,4) In Auslegung dieses Verses warf Dieterich dem Rat vor, mit der Zwangsverpflichtung würden arme Bürger und Witwen ungebührlich belastet. Im Anschluß daran verlas er von der Kanzel die Klagen der Ulmer Bürger, die er im übrigen auch noch selbst schriftlich einreichte. Der Rat erteilte dem Superintendenten postwendend einen schriftlichen Verweis, wagte es aber nicht, den Geistlichen 17

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Michael Bregnsbo: Gesellschaftsordnung und Staatsgewalt von der Kanzel her gesehen. Die Vermittlung politischer und sozialer Ideen durch dänische Predigten 1750-1848. In: Historisches Jahrbuch 118 (1998), S. 108-130. Françoise Deconinck-Brossard: Vie politique, sociale et religieuse en Grande-Bretagne d’après les sermons préchés ou publiés dans le Nord de l’Angleterre 1738-1760. Paris 1984, S. 285.

3.8 | Predigt und Politik

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öffentlich zu maßregeln. Wenige Tage später gab der Magistrat in der Sache nach. Dieterichs Predigt sah der Rat als so brisant an, daß er die gedruckte Fassung per Zensur entschärfte: Der aktuelle Bezug auf den Mauerbau verschwand, nur allgemeiner gehaltene Ermahnungen an die Adresse des Magistrates blieben erhalten.19 Für den Lutheraner Dieterich war es selbstverständlich, die allgemeine Gehorsamspflicht der Untertanen zu predigen; aber ebenso selbstverständlich trat er für die Rechte der Ulmer Bürger und eine schichtenunabhängige Gerechtigkeit ein – etwa wenn er darauf beharrte, die für sexuelle Vergehen vorgesehene Kirchenbuße sei nicht nur auf Angehörige der Unterschicht, sondern auch auf Patrizier anzuwenden.20

3.8.4 „Lasset euch warnen!“ – Sittenkritik der Hofgeistlichen Eine in politischer Hinsicht exponierte Stellung hatten die Hofgeistlichen inne. Vor der Reformation finden wir an den Höfen einen oder mehrere Hofkapläne (capellanus aulicus). Im evangelischen Raum werden die Hofgeistlichen meist als Hofprediger bezeichnet, während im katholischen Europa weiterhin der Begriff Hofkaplan erscheint. Teilweise entsprach diesem Amt das des fürstlichen Beichtvaters, dessen Hauptaufgabe aber – anders als bei den evangelischen Hofpredigern – nicht die öffentliche Predigt war. Die Berufung zum Hofgeistlichen war ein Vertrauensbeweis des Fürsten, der den Ernannten zugleich in eine gewisse Abhängigkeit brachte und ihm u.U. politischen Einfluß eröffnete. Gleichwohl scheint im Regelfall der Hofgeistliche weder die fürstliche Politik wesentlich beeinflußt noch ihm nach dem Munde geredet zu haben. Es gibt genug Beispiele dafür, daß Hofprediger die Politik ihres Herrn und die Sitten der fürstlichen Familie und des Hofes von der Kanzel aus kritisierten.21 Bei Michael Walther (1593-1662), Prediger am ostfriesischen Hof zu Aurich, klang das in der Leichenpredigt über den jung verstorbenen Grafen Rudolf Christian von Ostfriesland 1628 so: „Ihr Weinhelden und Bierse[u]ffer / die ihr [...] des morgens frue auffstehet auszusauffen / was eingeschencket ist / lasset euch doch warnen für [= vor] euren zeitlichen und ewigen untergang / dann Homo nescit tempus suum [...] trifft euch Gott an in eurer Trunckenheit / weh 19

20 21

Monika Hagenmaier: Predigt und Policey. Der gesellschaftspolitische Diskurs zwischen Kirche und Obrigkeit in Ulm 1614-1639. Baden-Baden 1989, S. 121-129. Ebd., S. 130-137 Rudolf von Thadden: Die brandenburgisch-preußischen Hofprediger im 17. und 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der absolutistischen Staatsgesellschaft in Brandenburg-Preußen. Berlin 1959. Wolfgang Sommer: Die Stellung lutherischer Hofprediger im Herausbildungsprozeß frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft. In: Zeitschrift f. Kirchengeschichte 106 (1995), S. 313-328, hier S. 324-326.

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Predigt | 3

euch / weh euch in ewigkeit / dann keine volle Sau kommet in Himmel.“ Unpassende Worte bei einer Beerdigung? Die wortgewaltige Kritik hatte ihren Grund: Der Graf war bei einem Gelage in einen Streit geraten, und dabei tödlich verwundet worden. „Wie es eigentlich mit solcher verwundung her und zugegangen,“ setzte Walther fort, „wissen fast unsere Leut selber nicht / die doch in so grossem hauffen dabey gewesen sind / das macht das verderbliche Sauffen ist ihnen lieber gewesen / als ihres Herrn wolfahrt / und da sie hetten aufwarten sollen / [...] wie Dienern gebüret / so haben sie zum theil / als die Schweine / füllen und zänckerey und stenckerey anfangen müssen.“ Und, noch schärfer, oder bereits resignierend: „Man will [...] meinen gutmeinenden Predigten / darinnen ich für solchen und dergleichen Lastern immer warne / nicht [...] folgen / Ey so fahre zum Teuffel immer hin / wer zu Gott nicht will.“ Erwähnt sei, daß diese Predigt keineswegs zu einem Karriereknick führte; Walther blieb noch vierzehn Jahre im Amt, ehe er 1642 auf eine noch angesehenere Hofpredigerstelle nach Celle wechselte. Ob allerdings solche Sittenkritik an den für übermäßigen Alkoholkonsum berüchtigten deutschen Höfen etwas ausrichtete, sei dahingestellt. Das Selbstverständnis Walthers geht aus einer anderen Passage der genannten Leichenpredigt hervor: Er habe den verstorbenen Fürsten manchmal wegen dessen Lebenswandels sowohl öffentlich als auch unter vier Augen ermahnt, denn, so Walther, „was meinem Gott und seinem Wort und meinem gewissen schnurstracks zuwider leuffet / das kann und will ich nicht [...] gut heissen / so lang ich lebe.“22 Walther beansprucht hier eine öfters als Wächteramt bezeichnete Stellung. Der Begriff geht zurück auf das Buch Ezechiel im AT (Ez 3,17-21). Dort wird der Prophet Ezechiel von Gott als Wächter Israels eingesetzt und persönlich dafür verantwortlich gemacht, die Warnungen Gottes an das Volk weiterzugeben. Die Hofgeistlichen verstanden sich als Wächter und Warner, besonders dann, wenn politische Fragen eine religiöse Dimension hatten. So predigte in einer Fastenpredigt des Jahres 1579 ein anglikanischer Geistlicher in Gegenwart Elisabeths I. gegen die damals projektierte Ehe der Königin mit einem französischen – katholischen – Prinzen: Ausländer zu heiraten ruiniere das Land hieß es unter Erinnerung an Maria Tudors Ehe mit Philipp von Spanien. Elisabeth verließ wutentbrannt die Kapelle23, aber es ist nicht bekannt, daß der Geistliche seiner Worte halber Nachteile gehabt hätte, außer daß man ihn vielleicht nicht mehr zur Predigt lud: Im Unterschied zu den deutschen Höfen wurde am englischen Hof seit der Reformation abwechselnd angesehenen Geistlichen die Gelegenheit gegeben, als Hofprediger zu fungieren.

22 23

Zit. nach Sommer, Stellung (wie Anm. 21), S. 47. Peter E. McCullough: Sermons at court. Politics and religion in Elizabethan and Jacobean preaching. Cambridge 1998, S. 67.

3.8 | Predigt und Politik

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3.8.5 „Brandstifter der Rebellion“ – Predigt am Vorabend des englischen Bürgerkriegs Allen bisher genannten Konstellationen und Beispielen politischer Predigt ist gemeinsam, daß die politische Ordnung nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Doch auch diese Situation konnte eintreten und durch Predigt zugespitzt werden, so zu Beginn der 1640er Jahre, als sich der Konflikt zwischen König und Parlament in England zuspitzte. Dabei ging es – modern gesprochen – um einen Verfassungskonflikt, der engstens mit einem erbitterten Streit um die Gestalt der Anglikanischen Kirche verbunden war: Hierbei traten die Puritaner besonders hervor, die die Kirche von England nach ihren Vorstellungen reformieren wollten; sie verbanden sich mit den Kräften im Parlament, welche die königliche Macht zu beschränken gedachten. Mit zahlreichen Predigten in London, in der Provinz und nicht zuletzt vor Ober- und Unterhaus trugen puritanische Geistliche dazu bei, die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu bilden, so wie es in dieser Predigt vor dem Parlament zu hören war: „Alle Sünden im Königreich, die durch Eure stillschweigende Duldung oder Erlaubnis begangen werden, sind die Sünden des Parlaments selber und sie bedürfen der Reue des Parlaments. [...] Und wenn es sich zeigt, daß ihr euch mehr um eure eigenen Privilegien gekümmert habt als um die Angelegenheiten der Religion, dann ist das eine himmelschreiende Sünde. Wenn ihr nicht pflichtgemäß eure Arbeit tut und gemäß eurer Macht die Irrtümer und Häresien beseitigt, die im Königreich verbreitet sind, dann sind alle diese Irrtümer eure eigenen Irrtümer, alle Häresien sind euere Häresien, und eure Sünden.“ Mit den Irrtümern und Häresien war der Zustand der Anglikanischen Kirche gemeint, die nach Meinung der Puritaner ja in hohem Maße reformbedürftig war.24 Ein royalistischer Gegner der Puritaner beurteilte die politische Wirkung der puritanischen Predigten so: „Diese Leute [gemeint sind die puritanischen Geistlichen] flößten den Herzen [der Menschen] die Gefühle des Aufruhrs gegen die Regierung ein. Sie hielten sich an keine Grenzen und [...] zogen [...] über die Person des Königs her, um das Volk gegen seinen allergnädigsten Souverän aufzureizen. Wahrlich, kein guter Christenmensch kann ohne Schrecken an diese Geistlichen denken, die durch ihr Amt Boten des Friedens sein sollten, tatsächlich aber wahre Kriegstrompeten und Brandstifter der Rebellion waren.“25 Dieses Urteil ist natürlich gefärbt; aber nach heutiger Kenntnis trug das Massenmedium Predigt in der Tat erheblich dazu bei, daß es zum englischen Bürgerkrieg kam, den viele Beteiligte als Krieg zur Verteidigung des wahren Glaubens ansahen und ausfochten.26 24

25 26

Übers. nach dem Zitat bei Stephen Baskerville: Not peace but a sword. The political theology of the English revolution. London – New York 1993, S. 79. Übers. nach dem Zitat ebd., S. 1. William Sheils: Provincial preaching on the eve of the Civil War. Some West Riding fast sermons. In: Religions, culture and society in early modern Britain. Essays in honour of Patrick Collinson. Ed. by Anthony Fletcher and Peter Roberts. Cambridge 1994, S. 290-312, hier S. 311.

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Predigt | 3

Auf den ersten Blick enthalten die Predigten zur Zeit des englischen Bürgerkrieges nichts anderes als das, was seit jeher christlicher Überzeugung entsprach. So war z.B. der Gedanke, den ein Geistlicher in den 1640er Jahren vor dem Oberhaus äußerte, keineswegs neu: „My Lords, das Grab und die heilige Schrift kennen keinen Unterschied zwischen Roben [also der vornehmen Kleidung der anwesenden Lords] und Lumpen, zwischen Hochadligen und Bauern.“27 Doch gerade dieser Gedanke der Gleichheit der Menschen vor Gott wurde oft durch Prediger der englischen Revolutionszeit thematisiert und ist mit der Radikalisierung der Entwicklung verbunden. Ihre Sprengkraft gewann politische Predigt dadurch, daß christliche Grundüberzeugungen – gewiß oft polemisch verstärkt – in bestimmten Konfliktsituationen hinein verkündet wurden.

3.8.6 Predigt gegen die Euthanasie Im 19. und 20. Jh. traten andere Massenmedien neben die Predigt. In Konflikten und besonders dann, wenn die Medien gleichgeschaltet waren, behielt die Predigt jedoch ihre politische Bedeutung. Eines der bekanntesten Beispiele sind die Predigten Clemens August Graf von Galens (1878-1946), des Bischofs von Münster, im Sommer 1941. Von der Kanzel her protestierte er in mehreren Predigten gegen die sog. Euthanasie, den Massenmord an geistig Behinderten, den Hitler im Herbst 1939 als „Aktion Gnadentod“ befohlen hatte: Noch gelte der einschlägige Paragraph des Reichsgesetzbuches, der die vorsätzliche Tötung verbiete! Von Galen gab bekannt, daß er bei der Staatsanwaltschaft Anzeige wegen des Abtransports und der Tötung von Behinderten aus einer westfälischen Heilanstalt erstattet habe. Seine Predigten verbreiteten sich durch Abschriften weit über das Münsterland hinaus: die Morde an den Behinderten, bisher nur gerüchteweise bekannt, wurden öffentlich. Letztlich trugen von Galens Predigten dazu bei, daß die Mordaktion gestoppt wurde.28

3.8.7 Zur politischen Bedeutung der Predigt Die politische Bedeutung der Predigt in der Geschichte ist noch unzureichend erforscht. So viel läßt sich jedoch sagen: Ihr politisches Potential liegt zum einen in ihrem Charakter als Massenmedium begründet, zum anderen in dem An27 28

Baskerville, Peace (wie Anm. 24), S. 30. Ludwig Volk: Nationalsozialistischer Kirchenkampf und deutscher Episkopat. In: Die Katholiken und das Dritte Reich. Hgg. von Konrad Repgen und Klaus Gotto. Mainz (3. erw. u. überarb. Aufl.) 1990, 49-92, hier S. 82. – Wolfgang Benz: Geschichte des Dritten Reiches. München 2000, S. 173. – Auszug aus von Galens Predigt in: Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945. Hgg. und kommentiert von Walther Hofer. Frankfurt/Main 1983, S. 163f.

3.8 | Predigt und Politik

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spruch der Prediger, im Namen Gottes zu sprechen. Politik war und ist im Regelfall nicht der Hauptgegenstand des Predigtalltags; gleichwohl werden durch Predigt Vorstellungen von Herrschaft und Gesellschaft vermittelt, allein schon durch die Vermittlung christlicher Ethik. In besonderen Fällen sind Predigten von vornherein und explizit politisch, sei es durch die Stellung der Prediger, sei es durch einen offiziellen politischen Anlaß, sei es durch einen aktuellen politischen oder gesellschaftlichen Konflikt. Durch Predigt wird Politik religiös gedeutet und auf diese Weise beeinflußt.

4 Kirche als Institution: Geistlichkeit, Organisation und Recht Keine menschliche Gemeinschaft kommt ohne mehr oder weniger entwickelte Organisationsformen aus. Bereits in den ersten christlichen Gemeinden gab es Menschen, die leitende Verantwortung und Aufgabenbereiche übernahmen. Im NT ist von Ältesten, Propheten und Diakonen die Rede, auch der Begriff Bischof erscheint ein halbes Dutzend Mal in den neutestamentlichen Schriften. Besondere Bedeutung kam in der Urkirche den Aposteln zu (griech. apóstolos = Gesandter, Bevollmächtigter, hier: Beauftragter Gottes). Es handelte sich dabei überwiegend um Menschen aus dem engsten Kreis der Jünger Jesu, die als Augenzeugen seines Wirkens dazu prädestiniert waren, das Evangelium zu verbreiten. Meist erscheinen die Apostel im NT als Zwölfergruppe. Wer diese zwölf waren, ist anhand der Namenslisten nicht ganz eindeutig erkennbar. Neun Namen finden sich immer, die anderen drei variieren. Am stärksten treten in den Berichten der Apg unter den Aposteln Petrus und Paulus hervor. Obwohl Paulus nicht zum ursprünglichen Zwölferkreis zählte, gewann er wegen seiner Bedeutung für die Ausbreitung der christlichen Botschaft einen festen Platz in der Zwölf-Apostel-Tradition der christlichen Kirche. Im Lauf der Jahrhunderte entstand aus den im NT erkennbaren Ansätzen die administrativ und rechtlich verfaßte Kirche – die älteste noch bestehende Institution des westlichen Kulturkreises! Sie wird in diesem Kapitel vorgestellt, wobei nach der grundsätzlichen Unterscheidung von Klerus und Laien zunächst das Bistum und die Pfarrei als Grundeinheiten der Kirche im Vordergrund stehen; ausführlich werden die Pfarrgeistlichkeit und der Unterhalt des Pfarrers behandelt (zu Orden und Stiftsklerus s. Kap. 5); danach geht es um Papsttum, Kurie, Konzilien und das Kirchenrecht.

4.1 Klerus und Laien Im NT bezeichnet das Wort Klerus (griech. kleros) die gesamte christliche Gemeinde. Um 100 hatte sich die Bedeutung dieses Wort verändert: es war zur Bezeichnung für diejenigen geworden, die ein Gemeindeamt übernahmen und sich insofern von der großen Masse der Gläubigen, von den Laien, abhoben. Der Begriff Klerus meinte nun die Geistlichkeit. Ein wichtiger Grund für diese Trennung lag in der notwendigen Verwaltung der Sakramente: Sowohl die Würde der damit verbundenen Handlungen wie auch die Kenntnis der Liturgie legte die Herausbildung einer Priesterschaft nahe, die sich in besonderer Weise dem Kultus widmete. Im 3. Jh. verfestigte sich diese Entwicklung: Zum Klerus gehörten nun, deutlich unterscheidbar von den Laien,

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Kirche als Institution | 4

diejenigen, die sich der üblichen Lebensformen enthielten – im Privatleben (mit der Tendenz zum Verzicht auf die Ehe) und im öffentlichen Leben (mit dem Verzicht auf Erwerbsstreben). Die ganze Aufmerksamkeit galt dem Dienst an Gott und den Mitmenschen. Konstitutiv für den Eintritt in den Stand eines Klerikers war die Weihe, wobei es für die verschiedenen geistlichen Ämter eine Rangordnung von Weihen gab. Die niederen Weihen (lat. ordines minores) umfaßten die zum Ostiar, Lektor, Exorzisten und Akolythen: Wer eine dieser niederen Weihen empfangen hatte, konnte als Helfer an der Meßfeier mitwirken.1 Äußeres Zeichen der Zugehörigkeit zum Klerus war seit dem Frühmittelalter der Haarkranz, die Tonsur (lat. tondere = scheren). Als die höheren Weihen (ordines maiores) gelten die Weihe zum Subdiakon, zum Diakon (s. Kap. 7.7.1.) und als höchste Stufe die zum Priester. Die Priesterweihe als höchste Stufe der kanonischen Weihen zählt außerdem zu den sieben Sakramenten. Die Priester (gr. presbyteros = der Älteste) lebten z.Zt. der Frühen Kirche in der Regel am gleichen Ort wie ihr Bischof, was sich ab dem 4. Jh. änderte (s. Kap. 4.2.). Für den Empfang der höheren Weihen bürgerte sich die Ehelosigkeit als Voraussetzung ein, woraus sich der Zölibat (lat. caelebs = ehelos) entwickelte. Auch ein gewisses Mindestalter wurde üblicherweise verlangt; ein Subdiakon mußte 18, ein Diakon 20, ein Priester 25 Jahre alt sein. Von der Spätantike bis zur Reformation war, aufs Ganze gesehen, die Unterscheidung zwischen Klerus und Laien nicht nur in religiöser Hinsicht konstitutiv für die lateinische Kirche – erkennbar etwa daran, daß während des Gottesdienstes die Kleriker im Chor saßen, die Laien im Langhaus. Auch in vielen gesellschaftlichen Bereichen ist diese Trennung erkennbar: Kleriker unterlagen z.B. einem anderem Recht und anderer Gerichtsbarkeit als Laien (s. Kap. 4.10). Luther hat die Trennung zwischen Klerus und Laien grundsätzlich verworfen: „ßo werden wir allesampt durch die tauff zu priestern geweyhet,“ heißt es 1520 in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation.“2 Gewiß – es sei nötig, für bestimmte Aufgaben in der Kirche Menschen zu berufen, aber diese seien nicht grundsätzlich von allen anderen Gläubigen unterschieden. Demnach gab es auch in den meisten reformatorischen Kirchen Geistliche, die durch Ordination ins Pfarramt oder Diakonenamt eingeführt werden; diese evangelische Ordination hat im Unterschied zur katholischen Priesterweihe jedoch keinen sakramentalen Charakter. Luthers Position, üblicherweise mit dem Schlagwort „Priestertum aller Gläubigen“ zusammengefaßt, ließ sich unter den sozialen und religiösen Verhältnissen der Vormoderne nur im Ausnahmefall verwirklichen. Mit der Aussage, alle 1

2

Näheres zu den niederen Weihen und den damit verbundenen Aufgaben findet sich unter den entsprechenden Einträgen bei Joseph Braun: Liturgisches Handlexikon. Regensburg (2. verb. Aufl.) 1924. Cl 1, S. 367.

4.2 | Bischof und Bistum

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Christen seien „warhafftig geystlichs stands“3, griff der Reformator jedoch einen Grundgedanken der Frühen Kirche auf, der auch in der Kirche des Mittelalters niemals ganz verschwunden war und im 20. Jh. als Laienapostolat auch in der katholischen Kirche durch das II. Vatikanische Konzil wieder belebt wurde,

4.2 Bischof und Bistum Der oberste Geistliche in der frühen Kirche war seit etwa 200 n.Chr. der Bischof. Er hatte, wie der Name sagt (griech. episkopos = Aufseher), die Aufsicht über die Kirche einer Stadt; bis in das 4./5. Jh. hinein war das Christentum vor allem eine städtische Religion, in jedem Fall befanden sich das Zentrum des Kultus’ und der Klerus in der Stadt. Der Bischof wurde vom Klerus und vom Volk gewählt: „Wer allen vorstehen soll, soll auch von allen gewählt werden,“4 erläuterte später Papst Leo I. († 461) dieses Verfahren. Die Quellen geben über die Praxis nicht eindeutig Auskunft, doch handelte es sich nicht um eine geheime Wahl modernen Zuschnitts; üblich war es wohl, daß die mehr oder weniger vollständig versammelte Gemeinde einen informell vorbereiteten Kandidaten akklamierte. Nach der Zustimmung der Gläubigen wurde der Gewählte von den Bischöfen der Nachbarstädte zum Bischof geweiht. Damit war er vollgültiger Oberhirte der Kirche seiner Stadt und verantwortlich für alle geistlichen und organisatorischen Belange. Unterstützt von den anderen Klerikern, oblagen ihm die Eucharistiefeier und Verkündigung im Gottesdienst; er ernannte und weihte die Geistlichen der Stadt. Bischöfe gelten als Nachfolger der Apostel. Bei dieser Hochschätzung lag es nahe, sie schon in äußerer Hinsicht ihrer Würde entsprechend auszustatten. Bei der Bischofsweihe wurde dem neuen Amtsträger seit dem 12. Jh. u.a. die Mitra als Kopfbedeckung aufgesetzt. Ferner erhielt er als Zeichen seiner Würde verschiedene Insignien, u. a. einen Ring als Ehrenzeichen und seit dem 8. Jh. einen Krummstab, einen Hirtenstab als Zeichen seiner Aufgabe als Seelenhirte. Während der Weihehandlung nahm er auf dem Bischofsthron, der Cathedra, Platz. Der bischöfliche Amtsbereich heißt Diözese (griech. dioikesis = Verwaltung); im deutschsprachigen Raum ist die Bezeichnungen Bistum gängiger, seltener auch (Bischofs)sprengel. Mehrere Bistümer bilden zusammen ein Erzbistum (Erzdiözese, Kirchenprovinz). Das Erzbistum steht unter Leitung eines Erzbischofs, der auch als Metropolit bezeichnet wird. Er hat gewisse Befugnisse gegenüber den Bischöfen, seinen Suffraganen (lat. suffragium = Stimmrecht, Hilfe), die ihn wiederum unterstützen, und weiht die neuen Bischöfe seiner Kirchenprovinz. 3 4

Ebd., S. 366. Zit. nach Johannes Neumann: Bischof I. Das katholische Bischofsamt. In: TRE 6 (1980), S. 653683, hier S. 685.

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Kirche als Institution | 4

Zuschnitt und Charakter der Bistümer veränderten sich im Übergang von der Antike zum Mittelalter. Eine spätantike Diözese hatte meist eine Stadt und ihr Umland umfaßt; das gab es auch weiterhin (im Westen war dies vor allem in Mittelitalien der Fall), aber mit der beginnenden Christianisierung ländlicher Räume dies- und jenseits der Grenzen des Imperiums ab dem 4. Jh. wurden Veränderungen nötig. Es entstanden neue Bistümer, in denen der Bischof zwar seinen Sitz in einer Stadt behielt, aber für die Gläubigen großer, oft siedlungsarmer Gebiete zuständig war. Es war unmöglich für den Bischof, dort wie in einer Stadt präsent zu sein. Darum entstand in der Diözese eine Vielzahl von Pfarreien, jeweils von einem Priester geleitet; ab dem 6. Jh. wurde die Landpfarrei zur Regel. Während man also für die Frühe Kirche pointiert formulieren kann, daß der „Bischof der einzige Pfarrer im Bistum war“5, wurden nun die bischöflichen Aufgaben an den Priester in der Pfarrei vor Ort delegiert: Taufe, Predigt, Lossprechung von Sünden, Feier des Herrenmahls, natürlich unter Letztverantwortung des Bischofs. Der Bischof blieb weiterhin zuständig für die Weihe der Geistlichen, die allgemeine Verwaltung des Bistums, die geistliche Gerichtsbarkeit, die Fortbildung, seelsorgerliche Begleitung und Kontrolle des Pfarrklerus’. Da kein Bischof alle diese Aufgaben alleine erfüllen konnte, entwickelte sich früh eine Gruppe hoher Kleriker zu seiner Unterstützung. Zu nennen ist zunächst der Archidiakon (der Begriff erscheint seit dem 11. Jh.), der als bischöflicher Beauftragter für einen Teil der Diözese zuständig war: Ein Bistum war also in mehrere Archidiakonate eingeteilt. Teilweise verselbständigten sich die Archidiakone jedoch ab dem 13. Jh. und wurden – gefördert durch weltliche Herren – zu Rivalen der Bischöfe. Das Konzil von Trient (1545-1563), das die Stellung der Bischöfe stärkte, entmachtete die Archidiakone, woraufhin das Amt teilweise verschwand. Bereits lange vorher waren im 13./14. Jh. wegen der Fülle der bischöflichen Aufgaben neue Ämter eingerichtet worden: Der Generalvikar wurde für die Verwaltung des Bistums eingesetzt – er war zugleich Stellvertreter des Bischofs (lat. vicarius = Vertreter); dem Offizial oblag die geistliche Gerichtsbarkeit. Schließlich kam der Weihbischof (vicarius in pontificalibus = Vertreter in priesterlichen Dingen) hinzu, der in Vertretung des Bischofs Priester weihte und das Sakrament der Firmung spendete. Die Einrichtung dieses Amtes wurde im römisch-deutschen Reich nötig, weil etliche Bischöfe, die zugleich als weltliche Territorialherren fungierten, nicht die Priester- und Bischofsweihe empfingen und folglich auch keine sakramentalen Handlungen vornehmen konnten. Die bisher genannten Geistlichen lassen sich unter dem Begriff des höheren Klerus’ zusammenfassen. Anders verhält es sich mit dem Dekan (bis zum 9. Jh. auch: Archipresbyter = Erzpriester). Er hatte ebenfalls Anteil an der Bistumsverwaltung, doch handelte es sich bei ihm meist um einen Pfarrer, also einen Ange5

Hauck zit. nach Eberhard Winkler: Pfarrei II. Evangelisch. In: TRE 26 (1996), S. 348-350, hier S. 348.

4.2 | Bischof und Bistum

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hörigen des niederen Klerus’. Er war verantwortlich für sein Dekanat (auch: Landkapitel), einen Teil des Archidiakonats; vor allem hatte er die Lebensführung der anderen Kleriker zu beaufsichtigen und trug die Verantwortung für die ordnungsgemäße Pfarrseelsorge. In regelmäßigen Abständen sollte er den Klerus des Dekanats versammeln, mit ihm die anstehenden Probleme beraten und Beschlüsse des Bischofs bekanntgeben. Der Dekan wurde vom Bischof eingesetzt, aber oft wirkte der Klerus des entsprechenden Landkapitels durch Wahl oder Vorschläge mit. Kirchenorganisation im Mittelalter: Amtsbezeichnungen, Zuständigkeitsbereiche Amtsbezeichnung Erzbischof (Metropolit) Bischof Archidiakon Dekan (Dechant) Pfarrer Vikar (Kaplan)

Zuständigkeitsbereich Erzbistum (Erzdiözese, Kirchenprovinz = mehrere Bistümer) Bistum (Diözese, Bischofssprengel) Archidiakonat (= Teil eines Bistums) Dekanat (= Teil eines Archidiakonats) Pfarrei (Parochie, Pfarrsprengel) Filialkirche oder (vertretungsweise) Pfarrei

In der katholischen Kirche gilt die hier skizzierte, hierarchisch gegliederte Bistumsorganisation i.W. bis heute. Ein Teil der protestantischen Kirchen hat sie im Grundsatz übernommen. Das gilt besonders für die Anglikaner und die lutherischen Kirchen Mittel- und Nordeuropas: Jedes Bistum bzw. jede Landeskirche besteht aus regionalen definierten Einheiten. Die Bezeichnung für diese Einheit weicht in den evangelischen Landeskirchen Deutschlands voneinander ab; gängig sind die Bezeichnungen Dekanat und Kirchenkreis; an ihrer Spitze steht meist ein Dekan, Propst oder Superintendent. Einen Bruch mit der traditionellen Bistumsorganisation vollzogen im 16./17. Jh. die meisten reformierten Kirchen. Sie betonten die Autonomie der von den Ältesten geleiteten einzelnen Gemeinde; die hierfür in der Forschung übliche Bezeichnung Presbyterialverfassung leitet sich (ebenso wie das Wort Priester) von griech. presbyteros = Ältester her (vgl. Presbyterianer, Kap. 6.2.5.). Über den Gemeinden stand nur eine als Synode (vgl. Kap. 4.7.) bezeichnete Versammlung, die sich aus ihren Vertretern zusammensetzte. Calvins Theologie begünstigte das presbyterial-synodale Kirchenmodell; wesentlich für seine Verwirklichung wurde aber der Umstand, daß der Aufbau einer flächendeckenden und hierarchischen Kirchenorganisation für die reformierten Minderheiten des 16./17. Jhs. politisch nicht durchsetzbar war. So wurden trotz einiger Ausnahmen die von den Ältesten geleitete Gemeinde und die Synodalverfassung zu einem Kennzeichen des Reformiertentums. Besonders ausgeprägt war die Autonomie der Einzelgemeinde in der frühen Neuzeit bei den Täufern sowie den Dissenter-Gruppen, die sich von

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der Anglikanischen Kirche trennten und namentlich in den britischen Neu-England-Kolonien eine Heimat fanden: wir sprechen hier von Kongregationalisten (engl. congregation = Gemeinde).

4.3 Die Bischofswahl im Schnittpunkt von Religion und Politik In der frühen Kirche wählten die Gläubigen den Bischof ihrer Stadt. Seit der Konstantinischen Wende nahm der Einfluß der weltlichen Herren auf die Besetzung des Bischofsamtes zu. So näherte sich das Christentums dem historischen Regelfall an: Die weltlichen Großen wollten sich des göttlichen Segens versichern und die im europäischen Frühmittelalter einzige flächendeckend existierende Institution nutzen: die Bistumsorganisation. Könige und Fürsten gewannen seit der Merowingerzeit entscheidenden Einfluß auf die Besetzung der Bistümer. Sie setzten Leute ihres Vertrauens als Bischöfe ein, oft Geistliche der Hofkapelle, also aus der unmittelbaren Umgebung des Herrschers. Oft waren diese Männer adliger Herkunft. Ins Bischofsamt gelangten also Angehörige der Eliten, mit denen der König ohnehin in guter Beziehung leben mußte und wollte. Das sog. Ottonisch-Salische Reichskirchensystem, das im 10. Jh. entstand, beruhte auf diesem Prinzip: Der König beeinflußte die Bischofswahl maßgeblich und der gewählte Bischof war nicht nur geistlicher Hirte seines Bistums, sondern sollte auch die königlichen Interessen vertreten. Als Gegenleistung für die Übernahme weltlicher Aufgaben (Heerfolge, Gastungspflicht), erhielt die Bischofskirche in erheblichem Umfang Einkünfte durch Übertragung von Krongut. Im Rahmen der Kirchenreformbewegung des 11. Jh.s wurde die Einflußnahme des Herrschers bei der Bischofswahl heftig angegriffen: libertas ecclesiae lautete das Schlagwort – Freiheit der Kirche von der Einmischung des Königs. Protagonist dieser Befreiungsbewegung wurde das Reformpapsttum. Daraus folgte der große Konflikt, den wir als Investiturstreit kennen – Vergleichbares ereignete sich im übrigen auch in England und Frankreich. Der Investiturstreit endete mit dem Wormser Konkordat von 1122: Seitdem verlieh der deutsche König dem neuen Bischof nicht mehr die geistlichen Insignien Ring und Krummstab, doch wahrte er zunächst erheblichen Einfluß auf die Bischofswahl. Zu Anfang des 13. Jh.s verzichtete Otto IV. förmlich auf alle Einflußnahme bei den Bischofswahlen; gleichwohl behielten der König und andere weltliche Herrscher im Reich indirekten Einfluß, und zwar über ein geistliches Gremium: das Domkapitel – die Gemeinschaft der Geistlichen, die an der Bischofskirche, am Dom lebten (von lat. domus Dei = Gotteshaus; nicht alle landläufig als Dom bezeichneten Kirchen waren tatsächlich Bischofskirchen; in den westeuropäischen Sprachen ist eher die auch im Deutschen gängige Bezeichnung Kathedrale für die Bischofskirche üblich). Die Bezeichnung Kapitel leitet sich von der frühmittelalterlichen Vorschrift für die Gemeinschaft der Domgeistlichen ab, täglich

4.3 | Die Bischofswahl

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gemeinsam ein Kapitel aus der Bibel zu lesen. Die Domherren (Domkapitulare) gestalteten den Gottesdienst im Dom mit und übernahmen Aufgaben in der Verwaltung des Bistums. Die meisten von ihnen gehörten bis um 1800 den führenden Adelsfamilien der jeweiligen Region an. Die Domherren wählten den Bischof. Und da ihre familiäre Bindung nicht mit dem Eintritt in den geistlichen Stand endete, berücksichtigten sie bei der Wahl oft die Interessen der Landesherren, denen ihre Familien verpflichtet waren. Über die Domkapitel blieb also weltlicher Einfluß bei der Besetzung der Bischofssitze erhalten. In manchen Bistümern wurden regelmäßig die Kandidaten gekürt, die der benachbarte mächtige Fürst favorisierte; in anderen Fällen wurden immer wieder Angehörige ein und derselben Dynastie gewählt. Ein Extrembeispiel finden wir im Erzbistum Köln: Von 1583 bis 1761 amtierten stets Oberhirten aus dem Haus der bayerischen Wittelsbacher. Hier spielten nicht nur dynastische Interessen (Versorgung jüngerer Prinzen) eine Rolle,: Die Wahl eines in konfessionspolitischer Hinsicht zuverlässigen Erzbischofs war bis weit ins 17. Jh. hinein besonders wichtig, um einer Protestantisierung dieser in kirchlicher und politischer Hinsicht wichtigen Region vorzubeugen. Die in der Reichskirche des 10./11. Jh.s wurzelnde Verbindung bischöflichgeistlicher Würde und landesherrlich-weltlicher Befugnisse war seit dem Spätmittelalter ein Spezifikum des römisch-deutschen Reiches. Zu beachten ist, daß die Bischöfe nicht in ihrem gesamten Bistum auch die weltliche Herrschaft ausüben; das Gebiet, in dem sie sowohl geistliche als auch landesherrliche Befugnisse hatten, wird Hochstift genannt. Für die Hochstifte und andere geistliche Territorien hat sich in der Forschung der Begriff Germania Sacra eingebürgert. Die Germania Sacra bestand bis zum Reichsdeputationshauptschluß von 1803, als die geistlichen Territorien von den größeren weltlichen Reichsständen okkupiert und aufgeteilt wurden. Die angesehensten geistlichen Fürsten waren die Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier, die als Kurfürsten zu den vornehmsten Reichsständen zählte. An der Bischofswahl waren jedoch nicht nur das Domkapitel und informell die weltlichen Fürsten beteiligt, sondern auch die Kurie: die päpstliche Konfirmation (lat., Bestätigung) des Gewählten innerhalb einer bestimmten Frist war seit dem 13./14. Jh. die formal notwendige Voraussetzung für den Amtsantritt des neuen Bischofs. In der Regel erfolgte diese Bestätigung problemlos. Bedeutsam wurde das päpstliche Konfirmationsrecht allerdings, wenn Probleme auftraten, sich etwa Domherren nicht auf einen Kandidaten einigen konnten. In solchen Situationen fiel dem Papst eine vermittelnde und entscheidende Stellung zu. Im 14./15. Jh. verlor die Kurie vielfach ihren Einfluß auf die Besetzung der Bistümer durch Verträge mit den weltlichen Herrschern, sog. Konkordate (lat. concordare = in Einklang bringen). Warum billigte der Papst in spätmittelalterlichen Konkordaten den Herrschern weitgehenden Einfluß auf die Besetzung der Bistümer zu? Eine wichtige Rolle spielte das Große Abendländische Schisma (s. Kap. 6.1.): um 1400 gab es jahrzehntelang zwei oder drei miteinander konkurrie-

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rende Päpste. Sie brauchten die Unterstützung der weltlichen Herrscher; die erhielten sie, aber oft nur für Gegenleistungen; teilweise wurde in Konkordaten ausdrücklich festgehalten, daß die Fürsten die Bischöfe in ihrem Machtbereich ernennen dürften. Die weltliche Einflußnahme auf die Wahl des Bischofs war keine deutsche Besonderheit. In England wählten seit Mitte des 14. Jh.s die Domkapitel in der Regel den Kandidaten, den der König vorschlug; wehrte sich ein Domkapitel gegen diese Bevormundung, schlug sich die Kurie meist auf die Seite des Herrschers. De facto bestimmte also der König den Bischof, dem Papst blieb die nur formelle Bestätigung: 1345 äußerte Clemens VI., selbst wenn der englische König einen Esel zum Bischof machen wolle, könne er, der Papst, das nicht verhindern.6 Dem französischen König wurde in der Pragmatischen Sanktion von Bourges 1438 ein weitgehendes Recht auf die Besetzung der Diözesen eingeräumt; dieser Zustand wurde im Konkordat von Bologna 1516 bestätigt: Seitdem entschied allein der Monarch über die Besetzung der zehn Erzbistümer, 83 Bistümer und mehr als 500 Abteien im Königreich – ein wichtiges Element königlicher Personalpolitik! Diese monarchischen Kompetenzen waren ein Herzstück des sog. Gallikanismus; mit diesem Begriff werden gewisse Sonderrechte der Kirche in Frankreich wie auch der französischen Könige in der Kirche ihres Herrschaftsbereich zusammengefaßt. In Spanien sah es ähnlich aus: Unter formeller Beibehaltung der päpstlichen Bestätigung sprach die Krone ab 1481 und dann definitiv ab dem 16. Jh. das entscheidende Wort bei der Besetzung der Bischofsstühle. Das Wahlrecht der Domkapitel und die päpstliche Konfirmation waren damit – neben einer Reihe anderer formaler Bedingungen – in Spätmittelalter und früher Neuzeit zwar in der kirchenrechtlichen Theorie ausschlaggebend für den Zugang zum Bischofsamt; tatsächlich entschied oft der Fürst, der auf diese Weise Kontrolle über die Kirche seines Herrschaftsbereiches ausübte. Die Reformation verstärkte den bereits lange vorhandenen Trend zur Herausbildung von Territorialkirchen; ab dem 16. Jh. spricht man für den evangelischen Teil des römisch-deutschen Reiches von Landeskirchen, die seit dem Ende der 1520er Jahre entstanden und im Augsburger Religionsfrieden 1555 reichsrechtlich abgesichert wurden. Gemeint ist damit erstens, daß die kirchlichen Grenzen mit den politischen Grenzen nun weitgehend übereinstimmten (was vorher nur selten der Fall war); zweitens entschied der Landesherr über die Konfession und Organisation der Kirche seines Landes – cuius regio, eius religio lautete die um 1600 dafür geprägte, knappe Formel; drittens, daß der Fürst das zumindest nominelle Oberhaupt „seiner“ Kirche wurde (und in Deutschland bis zum Ende der Monarchien im Jahr 1918 blieb). Der übliche Begriff für die fürstliche Herrschaft in den Landeskirchen ist landesherrliches Kirchenregiment. 6

Leo F. Solt: Church and State in Early modern England, 1509-1640. New York – Oxford 1990, S. 5f.

4.3 | Die Bischofswahl

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Bischöfe gab es in den evangelischen Gebieten des römisch-deutschen Reiches nicht mehr. Der leitende Geistliche der lutherischen Landeskirche Kursachsens hieß Generalsuperintendent; ähnliche Titel gab es in anderen evangelischen Territorien. Aber entscheidend war nicht der Verlust des Bischofsnamens. Wichtiger war, daß die neuen leitenden Geistlichen – unterstützt durch eine landesherrliche Kirchenbehörde, die oft den Titel Konsistorium (lat. Versammlung, Versammlungsort) trug und in der auch Laien mitwirkten – besoldete Amtsträger des Landesherrn und ihm verantwortlich waren. In manchen protestantischen Gebieten, etwa in Schweden und England, gab es weiterhin Bischöfe; hier übte die weltliche Obrigkeit lange Zeit entscheidenden Einfluß auf die Besetzung der Bischofsämter aus. Die englischen Domkapitel hatten, wie schon vor der Reformation, den Kandidaten zu „wählen“, den der König vorschlug, seit dem 18. Jh. unter Hinzuziehung des Premierministers. Das blieb in der Anglikanischen Kirche i.W. bis 1977 so, auch wenn seit ca. 1870 der Erzbischof von Canterbury ein Wort mitzureden hatte. Entgegen der landläufigen Meinung, mit dem Beginn der Neuzeit beginne eine Trennung von „Kirche und Staat“, ist also das Gegenteil richtig! Vor allem für weite Teile des protestantischen Europas gilt: Die Übernahme bischöflicher Funktionen bzw. das so gut wie uneingeschränkte Verfügungsrecht über die Bischofssitze verzahnte politische Macht und Kirchenleitung stärker denn je miteinander – zugunsten der Politik! Im 19./20. Jh. fand eine Entflechtung statt; doch blieb auch in dieser Zeit die Wahl eines Bischofs vielfach ein Politikum: der Machtanspruch des modernen Staates spielte hier eine wesentliche Rolle. Wo freiheitliche Verfassungen beschlossen wurden, setzte sich jedoch die kirchliche Autonomie bei der Besetzung der hohen geistlichen Ämter durch. Katholische Bischöfe werden heute durch die Kurie ernannt. Dabei wirken vielfach die Domkapitel oder die jeweilige Staatsregierung bei der Auswahl geeigneter Personen mit, sofern eine entsprechende vertragliche Regelung existiert. In Deutschland ist aufgrund mehrerer Konkordate folgendes Verfahren gültig: Wenn ein Bischofssitz vakant ist, reicht das Domkapitel eine Liste mit Kandidaten ein. In Rom werden von dieser Liste drei Kandidaten ausgewählt. Das Domkapitel wählt dann unter diesen dreien den Bischof; bevor der Heilige Stuhl aber den Gewählten zum Bischof ernennt, fragt er bei der jeweiligen Landesregierung an, ob gegen den Gewählten Bedenken bestehen. In den evangelischen Kirchen werden die Bischöfe heute meist durch Synoden (s. Kap. 4.7.) gewählt. Insgesamt ist die Besetzung der Bistümer ein Bereich, an dem über anderthalb Jahrtausende hinweg die Verflechtung von Religion, Gesellschaft und Politik gut sichtbar wird. Sie wird besonders daran deutlich, daß die weltliche Macht lange erfolgreich Einfluß auf die Besetzung dieses zentralen kirchlichen Amtes ausübte.

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4.4 Pfarrer und Pfarrei – das Niederkirchenwesen Das Bistum im lateinischen Europa bestand, wie geschildert, seit dem Frühmittelalter in der Regel aus einer Vielzahl vor allem ländlicher Pfarreien (Pfarren). Sie bildeten nach und nach ein europaweites Netz. Auf dem Land war der Standort der Kirche, das Kirchdorf, oft zugleich der wirtschaftliche und soziale Mittelpunkt der Pfarrei. Das Grundprinzip der Pfarrorganisation war überall dasselbe: Für jeden Gläubigen war eine Pfarrkirche mit dem dazugehörigen Pfarrer zuständig, der als geweihter Priester für das Spenden der Sakramente und Amtshandlungen (Taufe, Trauung, Beerdigung, Beichte, Kommunion u.a.m.) sowie für die Seelsorge zur Verfügung stand. Im Regelfall waren die Laien auch verpflichtet, genau diesen zuständigen Pfarrer aufzusuchen – wir sprechen hier von Pfarrbann oder Pfarrzwang –, weil der Pfarrer auf die mit etlichen Amtshandlungen verbundenen Einkünfte angewiesen war (s. Kap. 4.5.3.). Seitdem im 13. Jh. die Bettelorden entstanden und in der städtischen Seelsorge tätig wurden, wurde der Pfarrbann oft unterlaufen, was nicht selten zu Streit zwischen Pfarr- und Ordensklerus führte. Die reformatorischen Kirchen übernahmen den Pfarrzwang, so daß es im Alltag gemischtkonfessioneller Gebiete nicht selten zu Konflikten kam. Relativ früh endete der Pfarrzwang in Preußen; so wurde 1779 die Pflicht der Berliner Katholiken aufgehoben, Gebühren an den zuständigen evangelischen Geistlichen zahlen zu müssen, wenn sie die Sakramente vom katholischen Pfarrer erhalten hatten.7 Im 19. Jh. wurde der Pfarrzwang in allen deutschen Ländern abgeschafft. Neben der deutschen Bezeichnung Pfarrer (von mhdt. pharreherre) finden sich in den Quellen häufig die Bezeichnungen plebanus, pastor, rector ecclesiae, ecclesiasticus. In den frühneuzeitlichen Quellen wird oft vom parochus gesprochen (bis ins 15./16. Jh. kann damit auch ein Bischof gemeint sein, seitdem jedoch der Pfarrer). Parochie (von griech.-lat. parochia; vgl. engl. parish und frz. paroisse) ist ein heute noch üblicher Fachbegriff für die Pfarrei, die auch als Pfarrsprengel bezeichnet wird. In Norddeutschland ist heutzutage die Bezeichnung Pastor (lat., Hirte) für evangelische Geistliche üblich, teilweise auch für katholische; im übrigen deutschen Sprachraum ist die Bezeichnung Pfarrer konfessionsübergreifend gängig; in den evangelischen Freikirchen heißt der Geistliche Pastor oder Prediger. Im Zuge des hochmittelalterlichen Bevölkerungswachstums und Landesausbaus wurde es nötig, neue Pfarrbezirke auf dem Gebiet der bis dahin bestehenden sog. Urpfarreien zu gründen. Neusiedler lebten oft weit von der zuständigen Pfarrkirche entfernt. In einer päpstlichen Dekretale aus dem 12. Jh. wird das Problem folgendermaßen geschildert: Ein englisches Dorf liege so weit von der Pfarrkirche weg, daß dessen Bewohner im Winter „wegen Überschwemmungen nur unter großen Schwierigkeiten zur Pfarrkirche kommen [können]. Deshalb 7

Johannes B. Kißling: Geschichte des Kulturkampfes im Deutschen Reiche. Bd. 1: Die Vorgeschichte. Freiburg 1911, S. 98.

4.4 | Pfarrer und Pfarrei

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ist es ihnen nicht möglich, zur vorgeschriebenen Zeit dem Gottesdienst beizuwohnen.“ Es lag nahe, eine neue Pfarrei einzurichten, doch war darauf zu achten, daß genügend Gläubige für den Unterhalt einer neuen Kirche und des Geistlichen vorhanden waren; ebenso durfte natürlich die bisher bestehende Pfarrei durch die Abtrennung des genannten Dorfes nicht allzu sehr verkleinert werden, damit ihre Einkünfte für Kirche und Pfarrer noch reichten. In diesem Fall war das offenbar kein Problem, denn es heißt weiter in der Dekretale: „Die Pfarrkirche hat, wie man sagt, einen solchen Überfluß an Einkünften, daß der Pfarrer sehr gut auch ohne die Einnahmen aus jenem Dorf auskommen kann.“ Folglich wurde die Errichtung einer Kirche genehmigt.8 Wie groß der „Überfluß“ tatsächlich war, wissen wir nicht – die Formulierung „wie man sagt“ deutet an, daß man in Rom bei solchen Entscheidungen auf Informationen aus zweiter Hand angewiesen war. Weil die an sich sinnvolle Neugründung einer Pfarrei mit Schwierigkeiten finanzieller oder rechtlicher Art verbunden sein konnte, richtete man oft zunächst keine eigenständige neue Pfarrei ein, sondern eine Filialkirche (Tochterkirche), die in einer gewissen Abhängigkeit von der Mutterpfarrei verblieb. Früher oder später wurde diese Filialkirche dann meist eine selbständige Pfarrkirche. Der hochmittelalterliche Ausbau des Pfarreinetzes sei abschließend an einem Zahlenbeispiel illustriert: Im niederrheinischen Archidiakonat Xanten gab es in der Karolingerzeit 43 Pfarrkirchen, um 1100 waren es 88 und um 1300 bereits 141 Kirchen und Kapellen.9 Da die Bevölkerung Europas zwischen 1300 und 1700/1750 nur wenig wuchs, blieb es bis ins 19. Jh. hinein im großen und ganzen bei dem Pfarreinetz, das gegen 1300 bestand. Erst Demographische Revolution und Industrialisierung führten im 19. Jh. zur Neugründung zahlreicher Pfarreien. In den schnell wachsenden Industriestädten konnte ein Seelsorgebezirk binnen weniger Jahrzehnte auf 10.000 und mehr Menschen anwachsen: Die katholische Pfarrei Bochum war im Jahr 1888 für 37.000 Gläubige zuständig10, der lutherische Pfarrbezirk Dresden-Neustadt im Jahr 1890 gar für ca. 60.000.11 Folglich errichtete man neue Kirchen und gründete Pfarreien oder Filialen. Als es nach dem Zweiten Weltkrieg galt, die Flüchtlinge und Vertriebenen zu integrieren, wurde das Netz der Pfarreien noch einmal ausgebaut. Seit Ende der 1990er Jahre geht die Entwicklung vor allem aus finanziellen Gründen in eine andere Richtung: in der katholischen 8

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Zit. nach Hans Paarhammer: Pfarrei I. Römisch-katholisch. In: TRE 26 (1996), S. 337-347, hier S. 338. Wolfgang Herborn: Die Geistlichen im Jülicher Amt Nideggen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. In: Neue Beiträge zur Jülicher Geschichte 4 (1993), S. 1-25, hier S. 2. Antonius Liedhegener: Katholisches Milieu in einer industriellen Umwelt am Beispiel Bochum. Strukturen und Entwicklungslinien 1830-1974. In: Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven. Hgg. von Matthias Frese und Michael Prinz. Paderborn 1996, S. 545-595, hier S. 561. Winkler, Pfarrei II. (wie Anm. 5), S. 349.

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Kirche wie in den evangelischen Landeskirchen werden Pfarreien zusammengelegt und Kirchengebäude profaniert.

4.5 Wie wird man Pfarrer? Vorbildung, Weihe, Präsentation und Versorgung 4.5.1 Weihe und Vorbildung der Geistlichen Wer als Pfarrer tätig sein wollte, mußte drei formale Voraussetzungen erfüllen: erstens die Priesterweihe bzw. die Ordination; zweitens der Nachweis entsprechender Fähigkeiten; drittens die tatsächliche Berufung in das Amt – d.h. die Auswahl aus einer Gruppe mehr oder weniger gleich qualifizierter Personen, die in Kap. 4.5.2. behandelt wird. Für die Priesterweihe durch den Bischof war nicht nur der Nachweis hinreichender Befähigung erforderlich; die eheliche Geburt, ein einwandfreier Lebenswandel, persönliche Freiheit und körperliche Unversehrtheit waren weitere Vorbedingungen. Waren sie nicht gegeben, wurde nicht selten ein Dispens, d. h. eine Sondererlaubnis der päpstlichen Kurie eingeholt (s. Kap. 4.10.); danach stand der Weihe nichts mehr im Weg. Im Frühmittelalter war die wichtigste Fähigkeit eines Geistlichen, daß er die Messe richtig zu lesen bzw. zu singen verstand. Der Kultus stand im Mittelpunkt, der Priester war primär Mittler zwischen den Gläubigen und Gott und diese Mittlerstellung war verankert in der Feier der Eucharistie; deswegen auch die Forderung nach sexueller Enthaltsamkeit und dem Zölibat, also nach kultischer Reinheit, die im Frühmittelalter nicht zuletzt vom Volk erhoben wurde. Der Pfarrer mußte ferner die Absolution erteilen, Bußen auferlegen und taufen, den Sterbenden beistehen und das Sakrament der letzten Ölung spenden können. Er sollte die Glaubensgrundlagen – Credo, Vaterunser, Dekalog – kennen und sie möglichst lehren können. Aber das wichtigste war das Feiern der Messe. Seit dem 13. Jh. stiegen die Anforderungen an die Pfarrer. Das IV. Laterankonzil von 1215 betonte nachdrücklich, daß der Pfarrer Prediger und Lehrer seiner Gemeinde sein sollte – eine Forderung, die sich in den folgenden Jahrzehnten in den Diözesen auswirkte. So ordnete der Bischof von Winchester im Jahr 1260 an, der Priester müsse die Zehn Gebote und das Credo in der Volkssprache lehren können.12 Dasselbe Konzil legte fest, jeder Christ müsse mindestens einmal im Jahr beim zuständigen Pfarrer beichten (Kap. 7.5.2.). Im Regelfall fanden Beichte und anschließender Kommunionempfang zu Ostern statt. Natürlich war es auch bisher die Aufgabe der Priester gewesen, die Absolution zu erteilen und je nachdem eine Buße zu verhängen – nun aber wurde mehr verlangt: Wie ein Arzt einen Kranken pflegte, sollte der Pfarrer Seelsorger sein. Nach 1215 entwickelte sich eine 12

Leonard Boyle: The Fourth Lateran Council and manuals of popular theology. In: The popular literature of medieval England. Ed. by Thomas J. Heffernan. Knoxville 1985, S. 30-43, Zitat S. 35.

4.5 | Wie wird man Pfarrer?

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umfangreiche lateinische und volkssprachliche Seelsorgeliteratur, die den Priestern dabei helfen sollte (s. Kap. 3.2.). Seit dem 13. Jh. stiegen die Anforderungen an den Pfarrer also deutlich an. Er blieb kultischer Mittler, wurde aber mehr als bisher Prediger, Seelsorger, Lehrer. Wo und wie erwarb der Pfarrer seine Fähigkeiten? Viele spätere Geistliche gingen gewissermaßen in die Lehre: Sie lebten als Knaben und Jugendliche im Pfarrhaushalt, assistierten beim Gottesdienst – die dafür notwendigen niederen Weihen konnten ab dem siebten Lebensjahr empfangen werden –, begleiteten den Pfarrer in seinem Alltag. Einige vervollkommneten ihre lateinische Bildung durch den Besuch einer Klosterschule oder Domschule. Im Spätmittelalter mußte man bei der Bewerbung auf eine Pfarrstelle ein Examen ablegen, etwa vor dem Offizial oder dem Archidiakon. Dabei wurde die Kenntnis der Liturgie, die Singund Lesefähigkeit überprüft; ebenso sollte der Prüfling wissen, welche Pflichten er als Pfarrer zu erfüllen hatte. Es kam durchaus vor, daß Kandidaten das Examen nicht bestanden; in diesem Fall konnte man es später erneut versuchen oder wurde unter Auflagen zugelassen. Im Jahr 1408 übertrug man einem Kandidaten im Bistum Konstanz, dessen Gesang mangelhaft war, die Pfarrei nur unter der Bedingung, binnen eines Jahres singen zu lernen.13 Im 15. Jh. nahm der Anteil der Kleriker, die vor oder nach Antritt eines Pfarramts eine Universität besuchten, deutlich zu: die akademische Bildung war gleichwohl keine Voraussetzung für das Pfarramt – umgekehrt ermöglichten die Einkünfte aus der Pfarrei manchem Geistlichen erst das Studium. Die Konkurrenz der Konfessionen seit dem 16. Jh. brachte einen Schub für die Bildung der Pfarrgeistlichkeit. Im evangelischen Raum wurde das Universitätsstudium als Voraussetzung für das Pfarramt bald zur Regel. Im katholischen Europa schrieb das Konzil von Trient die Einrichtung eines Priesterseminars in jedem Bistum vor, eine Regel, die nach und nach realisiert wurde; darüber hinaus wurde auch der Besuch der theologischen Fakultäten wichtiger. Insgesamt war der katholische Pfarrer bis ins 19. Jh. hinein im Schnitt wohl weniger gelehrt als sein lutherischer oder calvinistischer Kollege; im Alltag der ländlichen Pfarrei mochte das ein Vorteil sein.

4.5.2 Wer bestimmt den Pfarrer? Die Schlüsselrolle des Patronatsherrn Zum Nachweis der Vorbildung und zur Weihe war schließlich die tatsächliche Einweisung in eine Pfarrpfründe nötig. Die Übertragung einer Pfarrei war keineswegs selbstverständlich: in Spätmittelalter und früher Neuzeit gab es oft einen deutlichen Überschuß an Kandidaten, so daß viele Geistliche gar nicht oder erst nach langem Warten ins Pfarramt gelangten. 13

Sabine Arend: Zwischen Bischof und Gemeinde. Pfarrbenefizien im Bistum Konstanz vor der Reformation. Leinfelden-Echterdingen 2003, S. 176.

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Über die Vergabe einer Pfarrei samt zugehöriger Pfründe entschied der Kollator (lat. collatus = übertragen), der Inhaber des Kollationsrechts. In vielen Fällen hatte der Bischof das Kollationsrecht inne, man spricht dann von ordentlicher Kollation. Aber oft waren geistliche Institutionen wie Klöster und Stifte Kollatoren, weil die Pfarrei der geistlichen Institution einverleibt oder inkorporiert war, daher Inkorporation: diese Institution verfügte dann über die Pfarrpfründe. Auch Laien hatten dieses Recht vielfach inne. Anfang des 14. Jh.s entschieden beispielsweise im Bistum Konstanz in etwa der Hälfte der Fälle Laien über die Vergabe von Pfarrstellen14 – eine keineswegs ungewöhnliche Quote. Wie kam es zu diesem erstaunlichen Phänomen? Die Übertragung von Pfarreien durch Laien wurzelt im frühmittelalterlichen Eigenkirchenwesen. Oft hatte nicht der Bischof, sondern ein weltlicher Herr, der lokale Grundherr, eine Kirche bauen lassen, sie mit Land und anderen Einkünften für den Unterhalt des Gebäudes und des Geistlichen ausgestattet. Die Kirche war in gewissem Sinne die Kirche des Stifters – seine Eigenkirche. Der Eigenkirchenherr beanspruchte das Recht, den Pfarrer zu ernennen, ferner einen Teil von dessen Einkünften zu behalten – vor allem von den Abgaben, die bei Amtshandlungen fällig waren (s. Kap. 4.5.3.). Ohne das europaweite Eigenkirchenwesen wäre das Netz von Pfarreien im Frühmittelalter viel weitmaschiger geblieben. Aber das Phänomen der Eigenkirche zog offensichtliche Probleme nach sich: erstens die Abhängigkeit des Geistlichen vom Eigenkirchenherrn, zumal dann, wenn der Pfarrer unfrei war, also personenrechtlich vom Eigenkirchenherrn abhing; zweitens die Zweckentfremdung kirchlicher Einkünfte; drittens die Möglichkeit, daß der Herr das einmal gestiftete Kirchengut wieder an sich nahm; viertens die Tatsache, daß mancher Eigenkirchenherr nicht lange nach Fähigkeiten und Weihe fragte, bevor er einen Pfarrer einsetzte – also den Bischof schlicht überging! Im einem Kirchengesetz Kaiser Ludwigs d. Frommen 818/819 wurde deshalb die Macht des Eigenkirchenherrn im Frankenreich eingeschränkt: Künftig durfte er keine Unfreien mehr als Geistliche einsetzen; eine abgabenfreie Hufe mußte unwiderruflich für den Unterhalt des Geistlichen reserviert bleiben. Ferner wurde eingeschärft, daß ein Eigenkirchengeistlicher der Weihe durch den Bischof bedurfte – allerdings durfte der Bischof diese Weihe nur verweigern, wenn die Kirche nicht angemessen ausgestattet war. Damit war wenigstens theoretisch die ökonomische und rechtliche Abhängigkeit des Pfarrers vom Eigenkirchenherrn gemildert. Gleichwohl kam es noch vor, daß der Eigenkirchenherr den Geistlichen als Faktotum in allen möglichen Dingen beanspruchte und genauso grob oder freundlich behandelte wie eben andere Untergebene auch. Mit der Kirchenreformbewegung des 11. Jh.s geriet das Eigenkirchenwesen immer mehr in die Kritik. Ähnlich wie beim Kampf gegen die Investitur der Bi14

Ebd., S. 189.

4.5 | Wie wird man Pfarrer?

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schöfe durch Laien sahen die Kirchenreformer die Abhängigkeit der Pfarrer von Laien als nicht mehr länger tragbar an. Im 12. Jh. wurde das Eigenkirchenrecht daher zum Patronatsrecht umgewandelt. Der bisherige Eigenkirchenherr wurde Patronatsherr. (Der Patronatsherr ist nicht zu verwechseln mit dem Kirchenpatron – dem Heiligen, dem eine Kirche geweiht ist.) Das Patronatsrecht unterscheidet sich in zwei wesentlichen Punkten vom Eigenkirchenrecht: Erstens behielt der Patronatsherr zwar das Besitzrecht an der Kirche, doch durfte er den Besitz nicht mehr veräußern; damit verbunden war die Pflicht zur Unterstützung der Kirche, wenn sie in Not geriet. Zweitens wurde das Besetzungsrecht zum Präsentationsrecht abgemildert: der Patronatsherr präsentierte einen Kandidaten für die Besetzung der Pfarrstelle, manchmal auch drei Kandidaten, unter denen dann einer ausgewählt werden konnte; der Bischof konnte die Weihe verweigern, allerdings nur, wenn der Kandidat ungeeignet war. Im Spätmittelalter gab es also verschiedene Personen bzw. Institutionen, die als Patronatsherren das Präsentationsrecht an einer Pfarrei haben konnten: Der Bischof, eine geistliche Institution oder Laien. Im letzteren Fall konnte dies ein lokaler Adliger sein, ein weltlicher Fürst oder ein städtischer Magistrat: die spätmittelalterlichen Städte legten großen Wert auf das Patronatsrecht der städtischen Pfarrkirchen und ließen sich das u.U. sehr viel Geld kosten. Das Motiv ist klar: die Kirche in der Stadt sollte unter weltlich-städtischer Oberherrschaft stehen. Schließlich wählten manche Pfarrgemeinden ihren Pfarrer selber; man schätzt, daß im Mittelalter etwa 2 % aller Pfarreien auf diese Weise besetzt wurden. Hochburgen des gemeindlichen Pfarrerwahlrechts waren Gebiete mit starker bäuerlicher Autonomie, so die Schweizer Eidgenossenschaft, Friesland und Dithmarschen. Ein letzter Faktor, der im Spätmittelalter bei der Übertragung der Pfarrei, genauer: der zugehörigen Pfründe, eine wichtige Rolle spielen konnte, war die Kurie (s. Kap. 4.8.6.). Die Übertragung der Pfarrei im Mittelalter wurde hier so ausführlich geschildert, weil sie immer wieder zu Konflikten führte. Wiederum wird die enge Verflechtung von Kirche und Gesellschaft deutlich. An dieser Verflechtung änderte sich durch die Glaubensspaltung grundsätzlich nichts. In der Anglikanischen Kirche blieb das Patronatswesen erhalten; erst im 20. Jh. wurde das Kirchenpatronat und das damit verbundene Präsentationsrecht in der Kirche von England weitgehend abgeschafft. In den reformatorischen Landeskirchen des römisch-deutschen Reiches wurde mit der Ausschaltung der Bischöfe und geistlichen Institutionen das weltliche Patronatsrecht flächendeckend durchgesetzt. Der Landesherr übernahm im Zuge der Reformation die Patronate, die bislang in geistlicher Hand gewesen waren – tatsächlich war es gerade das Präsentationsrecht, das die Möglichkeit bot, den neuen Glauben zu verbreiten: Denn die Einsetzung evangelischer Geistlicher war die wesentliche Grundlage dafür, daß auch die Gläubigen früher oder später eine Bindung an das lutherische oder reformierte Bekenntnis entwickelten. An einzelnen Orten bestand das Präsentationssrecht mancher Adliger jedoch fort – ganz vereinzelt bis in die Gegen-

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wart; auch die eine oder andere Gemeinde behielt das Recht, den Pfarrer zu wählen und zu präsentieren, oder aber zumindest ein Einspruchsrecht. Die heutigen Regelungen zur Berufung evangelischer Pfarrer sind in den deutschen Landeskirchen verschieden; insgesamt spielt das Wahlrecht der Gemeinden eine wichtige Rolle, die Kirchenleitung wirkt mit. In der katholischen Regionen des römisch-deutschen Reiches blieben während der frühen Neuzeit die verschiedenen Möglichkeiten geistlicher und weltlicher Patronatsrechte i.W. erhalten. Mit der Säkularisation von 1802/1803 übernahmen aber auch hier überall die – teilweise evangelischen! – Landesherren das Patronat von Bischöfen und geistlichen Institutionen; auf dem linken Rheinufer, das damals zu Frankreich gehörte, verschwand das Kirchenpatronat jedoch vollständig und wurde nach 1815 nur in der Pfalz wieder eingeführt. Im Gefolge der Revolution von 1848 entfiel dann in den meisten deutschen Diözesen das landesherrliche Patronat zugunsten der Bischöfe. Neben den drei offiziellen Bedingungen für den Weg ins Pfarramt – Vorbildung, Weihe (bzw. Ordination), Präsentation durch Patronatsherrn – ist zu ergänzen, daß auch Voraussetzungen inoffizieller Natur eine Rolle spielen konnten. Blanke Bestechung kam vor: „Die schmierenden Narren bekommen die besten Pfarren“ erzürnte sich im 17. Jh. ein Oberhofprediger im lutherischen Kursachsen gegen Bestechungspraktiken.15 Wichtiger dürften aber in der Regel Empfehlung, Bekanntschaft, familiäre und landsmannschaftliche Bande gewesen sein: Sie waren wesentlich bei Ämterbesetzungen aller Art in der durch Klientelstrukturen geprägten vormodernen Gesellschaft. Die Kirche machte dabei keine Ausnahme: Der Theologiestudent, der die Tochter eines evangelischen Pfarrers heiratete, ging damit eine in der Regel karrierefördernde Beziehung ein. Dieses spezifisch protestantische Phänomen war weit verbreitet – 1686 klagte ein höherer lutherischer Geistlicher, es sei „leider aus dem Predig=Ambte“ ein „Weiber Jahr-Marckt unter den Lutheranern geworden / daß viele Priester Wittwen und Töchter [...] sich brüsten [...] / die Pfarr [...] sey ihr Leibgeding / Eigenthumb / und Erb-Guth / man müsse die Witwe [des Pfarrers] heyrathen oder des Ambts quit gehen.“16 Besaß die Gemeinde das Pfarrerwahlrecht, so wurde die Sache nicht unbedingt einfacher, wie ein Fall aus einem Dorf in der Landschaft Angeln (Schleswig) um 1700 zeigt: Ein junger Pastor wird nach der Probepredigt einmütig von der Gemeinde gewählt; trotz massiven Drucks der Pfarrgemeinde weigert er sich aber, die Tochter seines Vorgängers zu heiraten und die Witwe ins Haus zu nehmen, also beide zu versorgen. Der Streit kommt vor das zuständige Konsistorium. Der Pastor 15

16

Zit. nach Manfred Jakubowski-Tiessen: Wege ins Pfarramt. Pfarrerberufungen in der Frühen Neuzeit. In: Geistliche Lebenswelten. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Geistlichen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hgg. von Manfred Jakubowski-Tiessen. Neumünster 2005, S. 97-115, hier S. 109. Zit. nach ebd., S. 99.

4.5 | Wie wird man Pfarrer?

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bleibt im Amt und bekommt Recht: Die ungewünschte Gattin samt Schwiegermutter bleiben ihm erspart. Aber, entscheiden die Konsistorialräte, er muß der Witwe eine jährliche Rente zahlen.17 Damit ist indirekt die Frage nach den Einkünften des Pfarrers angesprochen; um sie geht es im folgenden.

4.5.3 Wovon lebt der Pfarrer? Die Pfarrpfründe Wie auch für andere geistliche Ämter standen für den Unterhalt des Pfarrers grundsätzlich Einkünfte bereit, die zusammenfassend als Pfründe (lat. praebenda = Gabe) oder Beneficium (lat., Verdienst, Wohltat) bezeichnet werden – in diesem Fall also: Pfarrbeneficium. Pfründe und Amt gehörten grundsätzlich zusammen (die Fälle, in denen sie voneinander getrennt wurden, kommen in 4.5.4. zur Sprache). Von der Pfründe hatte der Pfarrer nicht nur sich selbst, sondern auch seine Hilfsgeistlichen, Dienstpersonal sowie den Küster (auch: Mesner) zu unterhalten: letzterer war u.a. für das Glockenläuten, Ordnung und Sauberkeit in der Kirche zuständig. Die zu einer mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Pfarrei gehörige Pfründe setzte sich aus verschiedenen Arten von Einkünften zusammen. Erstens sind die Erträge aus dem Stück Land zu nennen, das für den Pfarrer reserviert war. Dieses Land wird als Dos oder Dotalgut bezeichnet. Der Geistliche konnte es selber bestellen oder verpachten. Zweitens war der Zehnt wichtig. Er geht zurück auf das AT (Lev 27,30). Dort ist im mosaischen Gesetz die Abgabe des Zehnten zum Unterhalt des Priesterdienstes und des Tempels vorgesehen. Bereits im 2. Jh. wurde der Zehnt von vielen Christen freiwillig entrichtet. Beim Übergang zum Frühmittelalter wurde er in vielen Regionen der lateinischen Kirche üblich, unter den Karolingern im Frankenreich verbindlich. Der Große Zehnt wurde von den Feldfrüchten erhoben (daher auch: Feldzehnt), damit in Verbindung auch auf Heu und Stroh; z.T. gehörte ferner der Kleine Zehnt von Obstbäumen und Gärten zum Pfarrbeneficium. Allerdings erhielt der Pfarrer nicht die gesamten Zehnterträge: Nach der Regelung Papst Gelasius’ I. († 496) stand ihm ein Viertel zu, die Zehntquart; ein weiteres Viertel war für die Kirchenfabrik bestimmt, d.h. für die Erhaltung und Innenausstattung des Kirchengebäudes (s. Kap. 1.6.2.) – eine Vorschrift, die allerdings bei weitem nicht immer eingehalten wurde; je ein Viertel ging an den Bischof und die Armen der Pfarrei. Wichtiger war noch, daß durch Eingriffe der weltlichen und geistlichen Eigenkirchenherrn oder Patronatsherrn auch die Zehntquart nicht immer den Pfarrer erreichte; teilweise wurden die Zehnteinkünfte verpachtet oder verkauft. Manche Pfarrer erhielten gar nichts mehr vom Großen Zehnt – so war es z.B. im spätmittelalterlichen 17

Ebd., S. 112.

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Frankreich der Fall; andere bekamen das ihnen zustehende Viertel oder etwas mehr davon. Im Laufe der Zeit wurde der Zehnt immer seltener in Naturalien gezahlt und durch einen Geldbetrag ersetzt. Er blieb über die Reformation hinaus erhalten. Der Zehnt war über Jahrhunderte hinweg eine der wichtigsten bäuerlichen Lasten, die regelmäßig zu bestimmten Tagen fällig wurde; darin liegt ein wesentlicher Teil seiner wirtschaftsgeschichtlichen Bedeutung. Drittens sind die Stolgebühren zu nennen (auch: Kasualien) – Gebühren, die dem Pfarrer für Taufe, Trauung, Beerdigung, Beichte, Letzte Ölung und andere geistliche Handlungen zustanden. Der Begriff leitet sich von der Stola ab, einem schalähnlichen Kleidungsstück, das er als Zeichen seiner Würde bei diesen Amtshandlungen trug. Viele Konzilien hatten es untersagt, Gebühren für das Spenden der Sakramente zu erheben, aber durch die Eigenkirchenherren bürgerten sie sich ein und erhielten sich auch in den evangelischen Kirchen bis weit in die Neuzeit hinein, ehe sie im 19. Jh. abgelöst wurden. Da die Stolgebühren abhängig von der Zahl der Amtshandlungen waren, schwankte ihre Höhe von Jahr zu Jahr – daher auch der Begriff Akzidentien (lat. accidens = Zufälligkeit). Viertens gehörten zu den Pfründen die Reichnisse oder Kirchtrachten; der lateinische Begriff lautet oblatio bzw. offertorium (lat., Gabe). Dabei handelte es sich um Opfergaben, meistens Naturalien, die an bestimmten Sonn- oder Feiertagen (vor allem den Hochfesten) zur Kirche getragen wurden (daher: Kirchtracht). Ursprünglich handelte es sich um freiwillige Abgaben, die sich mit der Zeit gewohnheitsrechtlich verfestigten: Osterlämmer, Ostereier, Bienenzins, Wachszins, Bartholomäusgarben, Kirchweihbrote, Neujahrsbrot, Allerseelenwecken – die Reichnisse waren von Ort zu Ort sehr verschieden. Sie kamen vollständig dem Pfarrer zu, z.T. bekam aber auch der Küster direkt Oblationen, etwa Läutgarben oder Läutbrote. In den Städten wurden die Reichnisse meist nicht mehr in Naturalien gegeben, sondern als Geldbetrag entrichtet (z.B. als Fastspeisgeld). Die Pfründe eines mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Pfarrers setzte sich also aus verschiedenen Einkünften zusammen – je nachdem konnten auch Stiftungen, etwa für Seelenmessen, dazukommen und örtlich besondere Abgaben. Der jeweilige Anteil der einzelnen Einkünfte war nach Ort und Zeit sehr verschieden. In den evangelischen Kirchen der frühen Neuzeit kam vielfach eine weitere Einkunftsquelle hinzu: der Pfarrer erhielt einen Festbetrag aus dem Gemeinen Kasten. Bei der Einführung der Reformation wurden vielerorts alle bestehenden kirchlichen Stiftungen zu einer Kasse zusammengefaßt – dem Gemeinen Kasten: Von ihm sollten Pfarrer, Kirche, Schule und Arme unterhalten werden. Da das meist nicht ausreichte, hatten die Gemeindemitglieder jährlich eine bestimmte Summe in den Gemeinen Kasten zu entrichten. Die alten Einkünfte bestanden daneben weiter, ohne sie hätte in der Regel wohl der Gemeine Kasten nicht ausgereicht. Dabei ist auch zu beachten, daß evangelische Geistliche meist

4.5 | Wie wird man Pfarrer?

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eine Familie hatten und darum mehr Unterhalt benötigten als die katholischen Geistlichen. Es läßt sich nicht pauschal sagen, ob die Pfründe für den Unterhalt des Pfarrers ausreichte oder nicht. Es gab gut dotierte, aber auch schlecht ausgestattete Pfarreien – und nicht zuletzt gelegentlich Pfarrkinder, die sich aus unterschiedlichen Gründen weigerten, ihre Abgaben zu leisten.

4.5.4 Residenzpflicht, Pfründenhäufung und noch einmal: Wie wird man Pfarrer? Nicht selten kam es im Spätmittelalter vor, daß der reguläre Amtsinhaber gar nicht in der Pfarrei lebte. Ein Beispiel: Um die Mitte des 14. Jh.s residierte in der nördlichen Hälfte des Bistums Konstanz die Hälfte aller Pfarrer nicht am Ort. In diesen Fällen mußte die Pfründe nicht nur den abwesenden Pfarrer, sondern auch seinen Stellvertreter, den Kaplan oder Vikar (lat. vicarius = Vertreter; pejorativ auch lat. mercenarius = Mietling) ernähren; mit – wieder das Beispiel Konstanz – etwa einem Drittel bis zu einem Fünftel der Einkünfte dürfte das mehr schlecht als recht gelungen sein.18 Ein Ausweg für den Vikar war die Aufnahme von Nebentätigkeiten, aber darunter litt naturgemäß die Seelsorge. Es gab verschiedene Gründe für die Abwesenheit des Pfarrers: Manche Kleriker nutzten die Pfründe, um zu studieren; andere waren zu alt oder zu krank, um ihren Pfarrpflichten noch nachkommen zu können. Wieder andere standen im Dienst eines geistlichen oder weltlichen Herrn und die Pfründe stellte ihr Gehalt dar. In allen diesen Fällen wurde die Bindung der Pfründe an das Amt und die Residenzpflicht des Geistlichen vernachlässigt. Oft ging die Mißachtung der Residenzpflicht einher mit Pfründenhäufung: eine einzige Person besaß mehrere Pfründen. Eine wesentliche Ursache beider Phänomene, der vernachlässigten Residenzpflicht wie der Pfründenhäufung, war, was Pfarrpfründen angeht, seit dem 13./14. Jh. die Einrichtung der menses papales (lat., Papstmonate): Wurde eine Pfarrei in den ungeraden Monaten des Jahres frei, hatte die Kurie das Besetzungsrecht: Januar, März, Mai usw. waren also päpstliche Monate; wurde die Pfarre aber in einem geraden Monat frei – Februar, April usw. – dann konnte der reguläre Inhaber des Kirchenpatronats einen Kandidaten für das Amt und die daran hängenden Pfründen präsentieren. Das Besetzungsrecht der Kurie in den Papstmonaten bedeutete konkret: In der Datarie, einer kurialen Behörde, wurde die Pfründe gegen eine Gebühr vergeben. Die Bewerber konnten die Pfründe aus verschiedenen Gründen anstreben. Für einen an der päpstlichen Kurie tätigen Geistlichen diente die Pfründe – abzüglich der Entlohnung des Vikars –, der Besoldung; ebenso verhielt es sich etwa beim 18

Arend, Bischof (wie Anm. 13), S. 73 f.

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Kanzler eines weltlichen Landesherrn – solche hohen Amtsträger waren oft Geistliche. Beide sahen die zur Pfründe gehörige Pfarrei oft nicht einmal von fern. Für einen standesgemäßen Unterhalt solcher Personen waren mehrere Pfründen notwendig, daher die Pfründenhäufung. Ebenso kam es aber vor, daß sich ein Priester um die Vergabe der Pfründe bemühte – sei es direkt, sei es durch Mittelsmänner –, der tatsächlich den Platz als Seelsorger einnehmen wollte. U.U. besaß einer dieser Bewerber eine Expektanz (lat. expectare = erwarten), eine Anwartschaft auf eine bestimmte Pfründe für den Fall, daß der Pfründeninhaber verstarb oder die Pfründe aus anderen Gründen aufgab; natürlich galt die Expektanz nur in einem Papstmonat. Weil an der Kurie auch mehrere Expektanzen für dieselbe Pfründe vergeben wurden, konnte es aber zu Prozessen der Anwärter gegeneinander kommen oder die bessere Qualität einer Expektanz wurde durch zusätzliche Zahlungen an der Datarie nachgewiesen. Die Ausgangsfrage „Wie wird man Pfarrer?“ muß also noch um die Antwort ergänzt werden: Man entrichtet für in Papstmonaten freigewordene Pfründen eine Gebühr an der Kurie, um das Pfarrbeneficium zu erhalten. Papstmonate und die – an sich durch das Kirchenrecht verbotene – Pfründenhäufung führten im 14./15. Jh. dazu, daß die Kurie die Funktion eines europäischen Pfründenmarktes erfüllte (s. Kap. 4.8.6.). Das minderte den Einfluß der lokalen Patronatsherren, deren Kritik an den Papstmonaten keineswegs uneigennützig war. Aus einer anderen Perspektive griff Luther 1520 in seiner Schrift „An den Christlichen Adel deutscher Nation“ die Vergabe von Pfründen an der Kurie an. Dort finde „ein kauffen / vorkeuffen, wechßelin / tauschen / rauschen / liegen [=lügen] / triegen [= betrügen] / rauben / stelenn / [...] [statt] das nit muglich ist / dem Endchrist lesterlicher zuregieren.“ Die großen Fernhandelsstädte Venedig, Antwerpen, Kairo seien nichts im Vergleich zum „Jarmarckt vnd kauffs handel zu Rom.“19 Folglich forderte der Reformator die vollständige Abschaffung der menses papales. Dies wurde in den evangelischen Gebieten durchgesetzt; im Gefolge der Reformen des Konzils von Trient verschwanden die Papstmonate auch allmählich im katholischen Europa, nicht zuletzt, weil das Konzil die Residenzpflicht des Pfarrers einschärfte. Damit erledigte sich das finanzielle Problem, das durch die Abwesenheit des Pfarrers entstehen konnte, aber nur teilweise. Nach wie vor waren in allen Konfessionen Hilfsgeistliche für die Betreuung einer sehr großen Pfarrei oder bei Krankheit des parochus notwendig; die Versorgung dieser Vikare war normalerweise nach wie vor aus der Pfarrpfründe zu leisten.

4.6 Zur Finanzierung der Bischöfe und Pfarrer nach 1789 Wie dargestellt, hatte die Glaubensspaltung keine grundlegende Veränderung für die Versorgung der Pfarrer auf Basis der Pfarrpfründe mit sich gebracht. Ein19

Cl 1, S. 382..

4.6 | Finanzierung der Bischöfe und Pfarrer

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schneidende Veränderungen für die Kirchenfinanzen im allgemeinen und auch für den Unterhalt der Pfarrers und der Bischöfe brachten hingegen die Französische Revolution und die ihr folgenden Umwälzungen in West- und Mitteleuropa. In Frankreich wurde schon Ende 1789 das gesamte Kirchengut verstaatlicht; Bischöfe und Pfarrer waren fortan vom Staat besoldete Beamte, von denen entsprechende Loyalität verlangt wurde. Damit waren Konflikte vorprogrammiert, die dann besonders während der Radikalisierung der Revolution im Verbot des christlichen Kultus’ und der Deportation und Hinrichtung zahlreicher Priester und Ordensleute eskalierten. Nach Ende der Revolutionswirren bestätigte Napoléon Bonaparte im Konkordat von 1801 die Geistlichen als eine Gruppe staatlich besoldeter Amtsträger; die katholische Kirche Frankreichs war damit stärker denn je in das System weltlicher Herrschaft eingebunden. Gleichzeitig stufte der französische Staat, um Geld zu sparen, bei der Neuorganisation der Bistümer und Pfarreien mehr als 90 % der französischen Pfarrer als Sukkursalpfarrer (Hilfspfarrer) ein und bezahlte sie folglich deutlich schlechter als die sog. Kantonalpfarrer. Beim Modell des Pfarrers als Staatsbeamter blieb es ein gutes Jahrhundert lang – in Belgien und Luxemburg, die 1801 zur Ersten Französischen Republik gehörten, werden die Geistlichen bis heute vom Staat besoldet. In Frankreich selber erfolgte hingegen 1905 die antikirchlich motivierte strikte Trennung von Staat und Kirche (laïcité). Für die Pfarrer bedeutete dies die Entlassung aus dem Staatsdienst; sie mußten fortan direkt von den Gemeindegliedern unterhalten werden. Die Pfarrgemeinden galten in rechtlicher Hinsicht nurmehr als lokale Kultvereinigungen (associations culturelles), denen die verstaatlichten Kirchengebäude zur dauerhaften Nutzung übertragen wurden. Den gerade in ärmeren Gemeinden spürbaren finanziellen Einbußen stand immerhin ein Zugewinn an Freiheit gegenüber dem Staat und dessen Ansprüchen gegenüber. Ähnliche Systeme der Pfarrer- und Kirchenfinanzierung durch vor allem lokal aufgebrachte Spenden der Gläubigen entwickelten sich in Italien und Spanien. Anders verlief die Entwicklung in Mitteleuropa. Zwar wurde nur auf dem durch die Revolutionsheere eroberten linken Rheinufer das Vermögen der Pfarrkirchen eingezogen. Aber mit der Säkularisation von 1802/1803 enteigneten die mittleren und großen deutschen Staaten das Kirchengut der Bischöfe, Klöster und Stifte. Ungefähr zur selben Zeit wurden die Einkünfte abgeschafft, die bis dahin den Pfarrer ernährten, namentlich der Zehnt. Der Verpflichtung zu einem finanziellen Ausgleich, den die meisten deutschen Staaten grundsätzlich anerkannten, kamen sie nur begrenzt nach. Sie schufen aber nach und nach bis 1914 die gesetzliche Möglichkeit der Kirchensteuer: d.h., die Kirchen erhielten die Erlaubnis, von den Gläubigen Beiträge erheben. In der Regel geschah dies in der Form einer Ortskirchensteuer, d.h. die Pfarrgemeinde unterhielt den Pfarrer und das Kirchengebäude durch ihre Steuern, oft ergänzt um staatliche Zahlungen; ab 1905 bildeten die katholischen Pfarreien in Preußen Gesamtverbände, damit Mittel für Anliegen bereitgestellt werden konnten, die die Finanzkraft einer einzelnen Pfarrei überforderten.

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Als die Monarchen 1918 ihre Leitungsfunktion in den evangelischen Landeskirchen verloren und in der Weimarer Verfassung wie in den Länderverfassungen die Trennung von Kirche und Staat verankert wurde, führte man im Grundsatz die Kirchensteuer in der heute in Deutschland bestehenden Form ein. Die großen Kirchen erhielten den Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts und können seitdem Kirchensteuern auf Grundlage der Steuerlisten einziehen lassen. Dabei handelt es sich um 8-10 % der Lohn- oder Einkommensteuer. Kirchensteuer zahlen also diejenigen, die einer einkommensteuerpflichtigen Arbeit nachgehen, z.Zt. ist das etwa ein Drittel aller Kirchenmitglieder. Die mit dem Steuereinzug verbunden Kosten läßt sich der Staat seinerseits von den Kirchen erstatten. Seit 1945 wird die Kirchensteuer nicht mehr als Ortskirchensteuer, sondern innerhalb der Organisationseinheit katholisches Bistum bzw. evangelische Landeskirche erhoben, die den einzelnen Gemeinden Pfarrer und Geldmittel zuweisen. Eine Variante des deutschen Kirchensteuersystems wurde im Jahr 2000 in Schweden eingeführt, als man das dort bis dahin bestehende Staatskirchensystem abschaffte. Europaweit und weltweit gesehen überwiegt am Anfang des 21. Jh.s die Finanzierung des Geistlichen bzw. der Kirche durch Kollekten oder durch Spenden nach dem Muster von Vereinsbeiträgen.

4.7 Der Bischof und seine Pfarrer: Diözesansynoden und Visitationen Seit der Frühen Kirche war es Pflicht und Recht des Bischofs, die Amts- und Lebensführung seiner Kleriker zu kontrollieren, sie ggf. zu ermahnen, ihnen zu helfen, sie zu bestrafen und notfalls aus dem Amt zu entlassen. Die höheren Geistlichen seiner Umgebung unterstützten ihn dabei seit dem Frühmittelalter. Vor allem zwei Mittel waren für diese Kontrolle und Hilfe wesentlich: die Diözesansynode und die Visitation. Auf Diözesansynoden versammelten sich alle Priester eines Bistums. Laut IV. Laterankonzil sollte diese Synode einmal jährlich stattfinden. Es ging dabei, modern gesprochen, um die Fortbildung der Geistlichen. Außerdem tagte hier das bischöfliche Gericht für Klerus und Laien und der Bischof ließ Verordnungen verkünden. Heute nehmen an katholischen Diözesansynoden auch Laien teil und das Gremium hat eher den Charakter einer den Bischof beratenden Versammlung. In den protestantischen Kirchen gibt es heutzutage ebenfalls Synoden, in denen sowohl Geistliche als auch Laien vertreten sind; wegen ihrer z.T. weitreichenden Entscheidungsbefugnisse lassen sie sich als eine Art Kirchenparlament ansehen. Als Visitation (lat. visitare = besuchen) bezeichnet man die Inspektionsreise des Bischofs oder seines Vertreters durch die Pfarreien des Bistums: Ist das Kirchengebäude intakt oder baufällig, regnet es gar herein? Ist die Pfarrei angemessen dotiert? Tut der Pfarrer seine Pflicht? Ist er imstande, die Glaubensgrundlagen zu vermitteln? Wie ist es um Glaube und Sitten in der Pfarrgemeinde bestellt? Diese

4.7 | Diözesansynoden und Visitationen

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und andere Fragen standen im Mittelpunkt derartiger Besuche. Die uns vor allem seit dem 15./16. Jh. erhaltenen Visitationsprotokollen geben uns Einblicke in den Alltag, die Glaubensvorstellungen und das Verhalten von Pfarrern und Gläubigen – natürlich durch die Brille der Visitatoren. Aus den Protokollen einer um 1400 im Bistum Genf abgehaltenen Visitation wissen wir z.B., daß ein Drittel der Pfarrer als zu wenig gebildet angesehen wurde; anderen Geistlichen hingegen bescheinigten die Visitatoren ein hohes theologisches und musikalisches Niveau.20 Diözesansynode und Visitation waren sinnvolle und nützliche Instrumente, um die Qualität der Seelsorge vor Ort zu sichern. Doch viele Bischöfe – gerade diejenigen, die auch weltliche Herrschaft ausübten – wandten diese Instrumente keineswegs so regelmäßig an, wie es vorgeschrieben war. In manchen Bistümern vergingen Jahrzehnte ohne eine Synode oder Visitation. Das Konzil von Trient (1545-1563) erneuerte mit begrenztem Erfolg die Forderung nach einer jährlichen Diözesansynode. Führten die Bischöfe keine Visitationen durch, so kam das in gewisser Weise den Fürsten entgegen, die danach strebten, die Kirche unter ihre Kontrolle zu bekommen und es darüber hinaus als ihre Pflicht ansahen, für geordnete kirchliche Verhältnisse zu sorgen. Hatten bereits vor der Reformation manche Landesherren Visitationen angestoßen, so kam es im Zuge der Glaubensspaltung erst recht zur Durchführung von Visitationen durch Geistliche und weltliche Amtsträger des Fürsten oder städtischer Magistrate. Katholische Herren taten dies teils mit, teil ohne Rücksprache mit den Bischöfen, denen dieses Recht ja eigentlich zustand. Die Visitationsprotokolle erlauben es uns u.a., den Verlauf der Glaubensspaltung auf lokaler Ebene nachzuvollziehen. Ein Beispiel: 1559/69 fand im niederrheinischen Herzogtum Jülich eine Visitation statt, initiiert von Herzog Wilhelm V., der seinen Visitatoren einen Katalog von 42 Fragen mit auf die Reise gab.21 Frage 15 wurde mit der Feststellung eingeleitet, daß „allerhand neuerung und zerspaltung mit den kirchenceremonien und gottesdienst furgenommen“ würden. Darum sollten „alle pastör, capellän und prediger, dergleichen die vicarien, schulemeister und offermen [Offermänner = Kirchenvorsteher]“ befragt werden, wie es in ihrer Pfarrkirche gehalten würde, namentlich wie die „austheilung des hochwürdigen sacraments des altars“ geschehe. Ausdrücklich wurde die Spendung des „hochwürdig sacrament under beiderlei gestalt“ zugelassen, sofern dies gewünscht werde. Für die Pfarrei Gohr im Amt Grevenbroich verzeichnet das Visitationsprotokoll hier als Antwort: „Omnia observantur more consueto“22 (alle [gottesdienstlichen Gepflogenheiten] werden nach gewohnter Sitte beachtet). Ebenso lakonisch fallen die Antworten in den elf anderen Pfarreien des Amtes aus (oder es fehlt die Antwort), doch für die Pfarrei 20 21

22

Michel Aubrun: La paroisse en France des origines au XVe siècle. Paris 1986, S. 163. Otto R. Redlich: Jülich-bergische Kirchenpolitik am Ausgang des Mittelalters und in der Reformationszeit. Bd. 2: Visitationsprotokolle und Berichte. Teil 1: Jülich (1533-1589). Bonn 1911, S. 11-16, hier S. 12f. Protokolle für das Amt Grevenbroich ebd., S. 268-295, Zitate S. 276. 294 Anm. a. 281.

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Otzenrath ist sie ausführlicher: „Die ceremonien in der kirchen hat der rector [= Pfarrer] allenthalben verendert. Anstat der mess singt er etliche teutsche psalmen“ – die lateinischen Meßgesänge waren also ersetzt worden. „Nach volendter predigt consecrirt er offentlich ufs teuschst mit lauther stimmen die hostien und folgentz beschlust er den dienst mit etlichen psalmen.“ Auch die Eucharistie wurde also hier in deutscher Sprache gefeiert. Die Visitatoren merkten an, daß aus dem benachbarten Amt Wassenberg Leute in „grossen houffen“ kämen, um in Otzenrath am Gottesdienst teilzunehmen und schlossen etwas ratlos: „Ob nu derselbe [Pfarrer] rechter christlicher und reiner lehr sie [= sei], ist uns unbewist“ – obwohl für die Visitatoren einigermaßen feststand, was die reine, christliche Lehre sei: Der Pfarrer von Hochneukirch, ebenfalls im Amt Grevenbroich, besaß Bücher Luthers und Heinrich Bullingers, des Nachfolgers Zwinglis in Zürich, und wurde ermahnt, „irriger und falscher lehr sich zu enthalten.“

4.8 Papsttum und Kurie 4.8.1 Entstehung und Selbstverständnis „Ego Calixtus episcopus servus servorum Dei “ beginnt der zweite Teil des Wormser Konkordats von 1122, ausgestellt durch Papst Kalixt II.; dieser Anfang ist typisch für eine mittelalterliche Papsturkunde: Nach dem Namen ohne Ordnungszahl folgen der Bischofstitel und die Selbstbezeichnung „Diener der Diener Christi“. Diese Titulatur weist, ebenso wie andere päpstliche Ehrentitel, auf die Entstehung und das Selbstverständnis des Papsttums hin. Das deutsche Wort Papst und die entsprechenden Bezeichnungen in anderen europäischen Sprachen leiten sich vom lateinischen Wort papa her, das seinerseits auf griech. páppas = Vater zurückgeht. Entsprechend ist die dem Papst gegenüber verwendete Anrede üblicherweise Heiliger Vater, lateinisch sanctus Pater. Der Titel papa wurde in der Frühen Kirche allgemein für Äbte und Bischöfe verwendet, ab dem 5. Jh. immer häufiger nur noch für den Bischof von Rom. Damit ist eine zweite übliche Bezeichnung des Papstes genannt: episcopus Romanus. Der Papst ist zuerst der Bischof einer Ortskirche, eben der Kirche Roms. Da Rom das politische Zentrum des Mittelmeerraums war, wuchs naturgemäß auch der römischen Kirche von Anfang an besondere Bedeutung zu; seit dem 4./5. Jh. erhoben die römischen Bischöfe den Anspruch auf den Primat (lat. primus = der erste), den Vorrang vor den anderen Bischöfen. Dieser Primat ließ sich im lateinischen Westen realisieren, zwar noch nicht im Frühmittelalter, als der kirchliche Einfluß des Papsttums weitgehend auf Italien beschränkt war, wohl aber ab dem 11. Jh. – ein Verdienst der in religiöser wie politischer Hinsicht bedeutenden Reformpäpste. Ein wichtiger Hinweis auf diese Entwicklung ist die Verwendung der Unterschrift catholicae ecclesiae episcopus (= Bischof der katholischen, d. h. allgemeinen, universellen Kirche), die sich seit dem 12. Jh. in päpstlichen Dokumenten findet.

4.8 | Papsttum und Kurie

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Die besondere Stellung der römischen Bischöfe ist biblisch motiviert und mit der Person des Apostels Petrus verknüpft. Simon Petrus (der Beiname Petrus ist eine latinisierte Form des griechischen petros = Fels, Stein, bei dem es sich wiederum um eine Übersetzung des aramäischen Beinamens Kephas handelt) war nach den Berichten des NT eine Art Sprecher der Jünger und späteren Apostel. Als erster bekannte er Jesus von Nazaret als Messias (Mt 16,13-17) und die unmittelbare Antwort Jesu auf das Christusbekenntnis des Petrus wurde für das Selbstverständnis des Papsttums zentral: „Du bist Petrus und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Ich will dir die Schlüssel des Himmelreiches geben: alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.“ (Mt 16,18f) Die Petrus zugedachte Leitungsfunktion wird zusammenfassend als Schlüsselgewalt bezeichnet und in der christlichen Ikonographie wird Petrus vielfach mit einem Schlüssel in der Hand dargestellt: Petrus schließt den Himmel auf und zu, legitimiert durch die Worte Christi. Des weiteren ist wichtig, daß Petrus sehr wahrscheinlich einige Jahre in Rom lebte und dort 64 oder 67 n. Chr. als Märtyrer starb. Aufenthalt und Martyrium dieses herausgehobenen Apostels, dessen Schwächen im NT nicht verschwiegen werden (Lk 22,31-34. 54-62), begründen die besondere Stellung des römischen Bischofs, der den Titel successor Petri (= Nachfolger des Petrus) trägt und dessen Bischofsstuhl cathedra Petri (= Stuhl des Petrus) heißt; hiervon abgeleitet ist auch die Bezeichnung Heiliger Stuhl für das Papsttum in politischen Zusammenhängen, insbesondere in der diplomatischen Korrespondenz üblich geworden. Nach katholischem Verständnis ist das Papsttum in Petrus’ Nachfolge von Christus selbst eingesetzt. Seine Vorrangstellung schlägt sich auch in den gängigen Titeln summus pontifex (lat., oberster Priester) und supremus ecclesiae pastor (lat., oberster Hirte der Kirche) nieder – nicht zuletzt in Berufung auf den Auftrag, den Petrus vom auferstandenen Christus erhielt: „Weide meine Schafe.“ (Joh 21,17) Beide Bezeichnungen weisen auf die Leitungsfunktion für die gesamte Kirche hin. Wichtiger noch als diese Titel ist der des vicarius Christi – der Papst als von Christus eingesetzter Petrus-Nachfolger ist Stellvertreter Christi. Dieser Titel wurde wesentlich im Reformpapsttum des 11. Jh.s geprägt und dann seit Innozenz III. (1198-1216) üblich, wobei er den bis dahin verwendeten Titel vicarius beati Petri (lat., Stellvertreter des seligen Petrus) ersetzte. Auch die Könige der großen früh- und hochmittelalterlichen Reiche beanspruchten im übrigen mit dem Titel vicarius Christi sakrale Würde. Die eingangs erwähnte Selbstbezeichnung servus servorum Dei folgt in den Papsturkunden dem Bischofstitel und wurde erstmals von Gregor I. um 600 gebraucht. Sie weist darauf hin, wie die päpstliche Leitungsfunktion grundsätzlich gedacht ist: als Dienst. In den Titeln des Papstes sind wesentliche und durchaus verschiedene Wurzeln und Züge der Institution Papsttum erkennbar. Dessen innerkirchliche Bedeutung

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hat, aufs Ganze gesehen, im Lauf der Geschichte zugenommen. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, daß die Kommunikationsmöglichkeiten im Lauf der Jahrhunderte besser wurden; es liegt auf der Hand daß die von einer Zentrale ausgehende Kontrolle wie auch Hilfestellung die Peripherie heutzutage schneller erreicht als im Zeitalter von Maultier und Ochsenkarren. Auf der inhaltlichen Ebene war für die zunehmende Bedeutung des Papsttums die Entwicklung des theologisch-historisch sowie kirchenrechtlich fundierten Primatsanspruches zentral. Der päpstliche Primat, soweit er realisiert wurde, stand und steht selbstverständlich in einer potentiellen Spannung zu den Befugnissen von Bischöfen und Konzilien. Die konkrete Ausgestaltung dieses Nebeneinanders von Rechten war und ist von vielen Faktoren abhängig. Die geschichtliche Bedeutung des päpstlichen Primat(anspruch)s liegt ferner in seiner einheitsstiftenden und insofern wesentlichen Funktion für die weltweite katholische Kirche.

4.8.2 Das patrimonium Petri: Der Papst als italienischer Territorialherr Der herausragende innerkirchliche Rang des Papstes führte das Papsttum unvermeidlich auf die Höhen und in die Niederungen der Politik. Gut ein Jahrtausend lang war das Papsttum als Territorialmacht in Italien präsent. Der Ausgangspunkt war das patrimonium Petri (lat., Erbgut des Petrus), der kirchliche Landbesitz in Mittelitalien. Die Erträge dieser vor allem um Rom gelegenen Ländereien waren die Grundlage des kirchlichen Almosenwesens in Italien. Im 8. Jh. bestätigten und erweiterten die ersten Karolinger diesen Besitz (sog. Pippinische Schenkung) und nahmen das patrimonium Petri unter ihren Schutz. Der sog. Kirchenstaat (der Begriff „Staat“ ist problematisch, weil er an eine modern-bürokratische Herrschaft denken läßt, die vor dem 19. Jh. nirgendwo in Europa existierte) erreichte um 1500 seine größte Ausdehnung, also zur Zeit des Renaissancepapsttums: Die damaligen Päpste waren weniger Seelenhirten als vielmehr italienische Territorialfürsten und Machtmenschen, nicht selten auch Kulturmäzene. Neben Venedig, Mailand, Florenz und Neapel spielte das Papsttum eine führende Rolle in den Kriegen und Intrigen der Apenninnenhalbinsel. Seit dem 16. Jh. verlor das Papsttum jedoch unter dem Druck der Großmächte Frankreich und Habsburg-Spanien beständig an politischem Gewicht in Italien, war schließlich im 18./19. Jh. kein wesentlicher Faktor mehr. Im Zuge der italienischen Nationalbewegung gingen zunächst 1860 große Gebiete verloren. 1870 marschierten italienische Truppen in Rom ein; vom „Kirchenstaat“ blieb nur die Vatikanstadt als selbständiges staatliches Gebilde und äußeres Zeichen der religiösen Würde des Papstes übrig. Die Ereignisse von 1870 belasteten das Verhältnis der katholischen Kirche zum jungen italienischen Staat noch bis zum Konkordat von 1929. Die territoriale Verankerung des Papsttums in Rom und Italien ist eine Grundbedingung seiner politischen Geschichte. Der Papst als geistliches Oberhaupt der

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gesamten Kirche ließ sich vom Papst als weltlichem Landesherrn mit entsprechenden Interessen und Pflichten zwar unterscheiden, aber nicht gänzlich trennen. In einigen Situationen gewann die Doppelrolle des Papstes besondere Bedeutung, z. B. in der ersten Hälfte des 16. Jh.s: Kaiser Karl V. und die damaligen Päpste waren sich darin einig, daß der reformatorischen Bewegung durch die Einberufung eines Konzils, durch Reformen und notfalls auch gewaltsam entgegengetreten werden müsse. Doch zu einem gemeinsamen Handeln kam es kaum, weil der Papst gleichzeitig als italienischer Fürst die Expansion der spanischhabsburgischen Großmacht auf der Apenninnenhalbinsel zu stoppen versuchte und sich dabei an das habsburgfeindliche Frankreich anlehnte. Diese Uneinigkeit zwischen Kaiser und Papst begünstigte die Ausbreitung der Reformation im Reich erheblich. Die örtliche Verwurzelung des Papsttums wirkte sich schließlich auch insofern aus, als die meisten Päpste italienischer Herkunft waren, ebenso die päpstlichen Amtsträger. Von 1378 an bis zur Wahl Johannes Pauls II. im Jahr 1978 waren mit einer Ausnahme alle Oberhäupter der katholischen Kirche Italiener. Die italienische Dominanz nicht nur auf dem Stuhle Petri, sondern auch unter den Kardinälen konnte die Kenntnis und das Verständnis außeritalienischer Verhältnisse erschweren – wie auch umgekehrt Luther einmal die Eindrücke seiner Romreise so zusammenfaßte: „Ich verstehe die Italiener nicht, und sie verstehen mich nicht.“23

4.8.3 Papstwahl und Papsttum unter dem Einfluß der Politik Angesichts der überragenden religiösen Bedeutung des Papsttums, zu der die territorialpolitische Bedeutung in Italien trat, erstaunt es nicht, daß weltliche Herrscher auf die Besetzung der cathedra Petri Einfluß zu nehmen versuchten – oft mit Erfolg. Wie andere Bischöfe wurde auch der römische anfangs durch Klerus und Volk der Stadt Rom gewählt. Am Gedanken der Wahlen hielt man fest, doch nach der Konstantinischen Wende erlangten die Kaiser ein Bestätigungsrecht. Mit nachlassendem Einfluß Konstantinopels gewann der stadtrömische Adel im 8. Jh. entscheidende Bedeutung für die Besetzung des Petrusstuhls und behielt diese bis ins 11. Jh. hinein, phasenweise unterbrochen von der Einflußnahme starker Kaiser, etwa Ottos d. Großen († 973). Um die Wahl klar zu regeln und weltlichen Einfluß auf sie abzuwehren, verabschiedete eine römische Synode 1059 auf Veranlassung des damaligen Papstes ein Papstwahldekret; damit wurden die Kardinäle (s. Kap. 4.8.4.) zur entscheidenden Wahlkörperschaft. Auch wenn das Dekret niemals ganz realisiert wurde, 23

Zit. nach Albrecht Beutel: Martin Luther. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung. Leipzig (2. verb. Aufl.) 2006, S. 56.

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etablierte sich das Kardinalskollegium zügig als Wahlgremium. Seit 1179 war ferner vorgeschrieben, daß eine Zweidrittelmehrheit für eine gültige Wahl nötig sei: seitdem kam es seltener zu Doppelwahlen, d.h. zur gleichzeitigen Wahl eines Papstes und Gegenpapstes, der sich auf einen Teil der Kardinäle stützte. Im 13. Jh. trat als drittes wesentliches Element der Papstwahl hinzu, daß die Wahl in einem verschlossenen Raum stattfand, daher die Bezeichnung Konklave (lat. clavis = Schlüssel). Die Isolierung der Kardinäle sollte sowohl den Druck von außen mindern als auch den Wahlvorgang beschleunigen: Je länger die Wähler für eine Einigung brauchten, desto schlechter wurden sie verpflegt; und bei der im Sommer landesüblichen Hitze wurde manches lange Konklave, bei dem nicht einmal die Fenster geöffnet werden durften, zur gesundheitsgefährdenden Tortur. Damit war der Wahlmodus geklärt – weltliche Einflußnahme auf die Kardinäle allerdings blieb möglich und wurde auch vielfach praktiziert. Die Gegenpäpste des Hoch- und Spätmittelalters hatten oft die Unterstützung weltlicher Herrscher bzw. ihre Wahl kam erst auf deren Initiative zustande. Der Höhepunkt der Mehrfachwahlen war das Schisma von 1378 bis 1417, als es gleichzeitig zwei, zuletzt drei Päpste gab; ein wesentlicher Grund für dieses Schisma war, daß die vorherigen Päpste von 1309 an in Avignon residiert hatten, kontrolliert vom französischen König, der nur ihm genehme Kandidaten wählen ließ. Später, im 16./17. Jh., spielte die Rivalität zwischen den wichtigsten katholischen Mächten Habsburg-Spanien und Frankreich immer wieder eine Rolle bei Papstwahlen. „Der König wünscht Kardinal Sacchetti, und will, daß für seine Wahl das Mögliche und das Unmögliche gemacht werde, und andererseits ist er entschlossen, daß Rapaccioli nicht Papst werde, und wenn nun Sacchetti nicht durchgebracht werden kann, will er Rapaccioli kategorisch ausgeschlossen wissen,“ wurden anläßlich des Konklaves von 1655 die französischen Vorstellungen sehr bestimmt formuliert.24 Erwähnenswert ist aber auch, daß in diesem Fall tatsächlich keiner der beiden genannten Kandidaten gewählt wurde, weil sich die spanische und französische Fraktion gegenseitig blockierten. Über den Einfluß der großen Mächte hinaus konnten natürlich auch theologische Unterschiede und Klientelbeziehungen an der Kurie eine Rolle spielen. Mit der nachlassenden machtpolitischen Bedeutung des Papsttums ging die Einflußnahme der Großmächte auf die Papstwahl zurück und spielte im 19./20. Jh. keine Rolle mehr.

4.8.4 Das Papsttum als politische Kraft Der angedeutete entscheidende Einfluß weltlicher Herren auf die Papstwahl zeigt an, daß bis ins Hochmittelalter hinein das Papsttum insgesamt stark von weltli24

Zit. nach Arne Karsten: Kardinal Bernardino Spada. Eine Karriere im barocken Rom. Göttingen 2001, S. 271.

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chen Mächten abhängig war. Die oft zitierte Zwei-Schwerter-Lehre des Papstes Gelasius I. († 496), nach der die auctoritas sacrata pontificum (lat., heilige Autorität der Päpste) und die regalis potestas (lat., königliche Gewalt) in gegenseitiger Zuordnung bzw. leichter Überordnung der ersten Macht die Welt regierten, verblaßte oft schon angesichts der Gewalttätigkeit stadtrömischer Clans zur grauen Theorie. Für ungefähr zwei Jahrhunderte aber, von der Mitte des 11. Jh.s bis um 1300, übten die Päpste tatsächlich starken Einfluß auf die europäische Politik aus. Nach der Befreiung von der Bevormundung durch die weltliche Macht erhoben die Reformpäpste noch im 11. Jh. ihrerseits den Vormachtsanspruch gegenüber den Herrschern Europas. Nur der Papst dürfe weltliche Herrscher ein- und absetzen, formulierte Gregor VII. im sog. Dictatus Papae von 1075, einem Dokument wohl eher internen Charakters. Die Päpste Alexander III. (1159-1181) und Innozenz III. (1198-1216) haben durch ihre Entscheidungen wesentlich mitbestimmt, wer die großen europäischen Reiche regierte, als sie Herrscher exkommunizierten, für abgesetzt erklärten und Herrschaftsgebiete wegen der Verfehlungen der dort Mächtigen unter das Interdikt stellten (lat. interdictum = Verbot, hier: das Verbot an den Klerus, die Sakramente zu spenden, Gottesdienst zu halten und christliche Begräbnisse durchzuführen). Papst Bonifatius VIII. († 1303) erhob in der Bulle Unam sanctam von 1302 den päpstlichen Anspruch auf die ausnahmslose Vorrangstellung gegenüber der weltlichen Herrschaft. Der jähe Absturz folgte noch zu seinen Lebzeiten, als der französische König Philipp der Schöne einen Anschlag auf ihn verüben ließ. Bonifatius überlebte, starb aber, innerlich zutiefst erschüttert, kurz darauf. Wenige Jahre später begann 1309 mit der Verlegung der Papstresidenz nach Avignon die offensichtliche Unterwerfung des Papsttums unter die Interessen des französischen Königs, die „Babylonische Gefangenschaft der Kirche“, wie diese Zeit unter Anspielung auf das Exil der Juden in Babylon 586-538 v.Chr. genannt wird. Gewiß: Die Exkommunikation von Fürsten und das Interdikt fanden auch nach dieser Zeit noch Anwendung, doch war ihre Wirkung begrenzt. Gestützt auf seine religiöse Autorität, hatte das Wort des Papstes zwar in bestimmten politischen Dingen Gewicht, namentlich als diplomatischer Vermittler. Doch war er nur einer von mehreren politischen Akteuren auf der politischen Bühne Europas, gewiß mit besonderem Ansehen, aber nicht mit dem Einfluß, von dem manche Bestsellerautoren bis heute wissen wollen. Als Beispiel mögen die Verhandlungen dienen, die zum Westfälischen Frieden führten: Papst Urban VIII. war das Ende des Krieges zwischen Habsburgern und Bourbonen ein Herzensanliegen; seine Vermittlung akzeptierten die katholischen Mächte; allerdings bemühte sich der päpstliche Nuntius Fabio Chigi nur mit begrenztem Erfolg um einen Frieden – der Krieg zwischen Spanien und Frankreich dauerte bis 1659 an. Und der Protest des Papstes gegen die religionsrechtlichen Bestimmungen von 1648 verhallte auch beim katholischen Kaiser wirkungslos, wie schon 1555 der Einspruch gegen den Augsburger Religionsfrieden.

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Der politische Einfluß des Papsttums in der Moderne beruhte im 19./20. Jh. allein auf seiner religiösen und daher politische Grenzen überschreitenden Autorität, auch wenn der „Kirchenstaat“ endgültig erst 1870 aufgelöst wurde. Diese päpstliche Autorität nahm nach einem Tiefpunkt um 1800 im Zuge der seit ca. 1830 in vielen Teilen Europas erneuerten katholischen Frömmigkeit zu, weil diese Frömmigkeit mit einer verstärkten spirituellen und administrativen Ausrichtung auf Rom einherging. Der Begriff Ultramontanismus (von lat. ultra montes = jenseits der Berge) gehört in diesen Zusammenhang. Neutral verstanden, bezeichnet er eben diese gefestigte Verbindung der Katholiken mit dem Hl. Stuhl. Als polemischer Begriff wurde er z.B. im preußisch-deutschen Kulturkampf 18711887 jedoch verwendet, um Katholiken als rückständig und in nationaler Hinsicht unzuverlässig zu diffamieren. Die päpstliche Autorität reichte nicht aus, um erfolgreich im Ersten Weltkrieg zu vermitteln; ihre rückenstärkende und insofern politische Bedeutung für die katholische Kirche im Machtbereich der Diktaturen des 20. Jh.s dürfte dagegen erheblich gewesen sein. Mit dem Nuntius Chigi, der sich um ein Ende des Dreißigjährigen Krieges bemühte, sind die päpstlichen Botschafter angesprochen. Der Legat ist ein außerordentlicher Gesandter des Papstes, seit dem 13. Jh. in der Regel ein Kardinal. Er erhält einen zeitlich und sachlich begrenzten Auftrag und kehrt dann an die Kurie zurück. Der Nuntius dagegen ist der ständige Vertreter des Papstes an einem Fürstenhof bzw. in einer größeren Region, heute in einem Staat. Normalerweise hat er den Rang eines Bischofs. Die Einrichtung dauerhafter Nuntiaturen seit dem 16. Jh. war ein wichtiger Schritt für den kontinuierlichen Kontakt zwischen dem Papst und den Herrschern Europas. Die Nuntien haben allgemein-politische wie auch kirchliche Aufgaben; u.a. wurden sie nach 1563 eingesetzt, um die Reformbeschlüsse des Konzils von Trient vor Ort zu realisieren. Ihr Erscheinen stieß nicht immer auf Gegenliebe. Als 1606 der Nuntius für die drei Erzbistümer Köln, Mainz und Trier mit vielen guten Absichten in Köln eintraf, hielt es weder der Kölner noch der Mainzer Erzbischof-Kurfürst für nötig, ihn auch nur zu begrüßen. Diese grobe und bewußte Unhöflichkeit wurde noch dadurch verstärkt, daß man dem Nuntius zutrug, der für seine keineswegs den Konzilsnormen entsprechende Lebensführung bekannte Kölner Erzbischof-Kurfürst habe mehrfach geäußert, er sei „alt genug und habe keinen maestro nötig.“25 Hier wird die strukturelle Rivalität zwischen päpstlicher und bischöflicher Kompetenz erkennbar. Das Erscheinen des Nuntius’ wurde oft als päpstlicher Eingriff in die Rechte des Bischofs verstanden. Heute haben die Nuntien in vielen Hauptstädten eine Art Ehrenvorrang im Diplomatischen Corps. 25

Zit. nach Klaus Wittstadt: Atilio Amalteo (1606-1610). Bemühungen eines Nuntius um Katholische Reform. In: Von Konstanz nach Trient. Beiträge zur Geschichte der Kirche von den Reformkonzilien bis zum Tridentinum. Festgabe für August Franzen. Hgg. von Remigius Bäumer. München – Paderborn – Wien 1972, S. 695-711, hier S. 701.

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4.8.5 Der päpstliche Hof: Die Kurie Das Wort Kurie leitet sich ab von der seit dem 12. Jh. gängigen Bezeichnung curia romana (lat., römischer Hof). Gemeint ist damit nicht nur das, was man landläufig unter einem fürstlichen Hof versteht, sondern zugleich die päpstliche Verwaltung, die für kirchliche Angelegenheiten und die Regierung des patrimonium Petri zuständig war. Die Kurie als Administrationsorgan entstand nach und nach seit dem Ende des 11. Jh.s; die an ihr entwickelten Ansätze institutionell gestalteter Verwaltung dienten später den weltlichen Herren Europas als Vorbild. Es gibt heute ungefähr 20 kuriale Behörden, die sich in drei Gruppen unterteilen lassen: erstens die Ämter (officia), Behörden i.e.S., die mit allgemeiner Politik und auch mit Finanzen befaßt sind; zweitens die Gerichtshöfe (tribunalia); drittens die für die Verwaltung der Weltkirche zuständigen Kardinalskongregationen (lat. congregatio = Versammlung). Bei den officia ist zum einen die bereits im Frühmittelalter entstandene Apostolische Kanzlei als zu Anfang für alle Angelegenheiten zuständige Behörde zu nennen; ferner seit dem 12. Jh. die Apostolische Kammer für die Finanzen; die Datarie entwickelte sich im 15. Jh. aus der Kammer heraus und war zuständig für die Vergabe niederer kirchlicher Ämter, soweit diese an der Kurie vergeben wurden (s. Kap. 4.8.6.); schließlich das im 15./16. Jh. entstandene Staatssekretariat, eine Art kombiniertes Außen- und Innenministerium für den Kirchenstaat. Unter den Gerichtshöfen sind vor allem die für Bußangelegenheiten zuständige Poenitentiarie und die Rota Romana, ein päpstliches Appellationsgericht, zu nennen, entstanden im 13./14. Jh. Die ersten Kongregationen entstanden seit dem 16. Jh. als Reaktion auf die Glaubensspaltung; ihnen gehören jeweils mehrere Kardinäle sowie untergeordnete Amtsträger an. Die bekannteste Kongregation ist die Congregatio Inquisitionis (heute: Congregatio Sancti Officii), also die Römische Inquisition, gegründet 1542, zuständig für Glaubensfragen und Ketzerei. Weitere wichtige Gründungen jener Zeit waren die Congregatio Concilii von 1564, eingesetzt für die Durchführung der Konzilsbeschlüsse von Trient; die Congregatio Indicis (Indexkongregation) von 1571, zuständig für Buchzensur; die Congregatio de propaganda fide (Kongregation zur Verbreitung des Glaubens) von 1622, zuständig für Mission. Anfang des 20. Jh.s gab es 20 Kongregationen, ehe im Jahr 1908 ihre Zahl auf elf reduziert wurde, u.a. um Justiz und Verwaltung klar voneinander zu trennen und Kompetenzüberschneidungen zu vermeiden. So war beispielsweise seit der Mitte des 16. Jh.s sowohl die Indexkongregation als auch die Inquisition für die Buchzensur zuständig; erstere veröffentlichte 1557 den ersten päpstlichen Index, d.h. eine Liste verbotener Bücher. Bereits eine Generation früher hatten in Frankreich und England die Monarchen eine entsprechende religiöse Zensur eingeführt. Von den Kardinälen (lat. cardinalis = wichtig, von cardo = Türangel), genauer müßte man eigentlich von Kurienkardinälen sprechen, war bereits in Zusammen-

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hang mit der Papstwahl die Rede. Kardinäle, Geistliche an einer der römischen Hauptkirchen mit liturgischen und karitativen Aufgaben, gab es als engste Mitarbeiter des römischen Bischofs seit dem 4. Jh.; das heutige Kardinalskollegium (Sacrum Collegium = Heiliges Kollegium) entstand mit dem Papstwahldekret von 1059, als die Kardinäle zu alleinigen Papstwählern wurden. Mit der Entwicklung der Kurie zu einer Behörde übernahmen viele Kardinäle leitende administrative Aufgaben; so finden sich unter ihnen im Lauf der Jahrhunderte oft eher versierte Juristen als brillante Theologen. Äußere Zeichen der Kardinalswürde sind u.a. der rote Talar und der Kardinalshut in gleicher Farbe. 1586 wurde die Zahl der Kardinäle auf 70 festgelegt. Erst Papst Johannes XXIII. (1958-1963) ging, um die außereuropäische katholische Kirche stärker einzubeziehen, durch zahlreiche Ernennungen so weit über diese Grenze hinaus, daß es fast zu einer Verdoppelung kam; jedoch wurde 1971 die Regel eingeführt, daß mit dem Erreichen der Altersgrenze von 80 Jahren das Papstwahlrecht erlischt. Unter den Kardinälen ragt der Kardinalnepot heraus; mit diesem Titel wurde seit der Mitte des 16. Jh.s der leitende Kardinal bezeichnet, oft ein Neffe (lat. nepos = Nachkomme, Neffe) oder anderer Verwandter des jeweiligen Papstes. Er leitete im Regelfall die politischen Angelegenheiten der Kurie, namentlich die Außenpolitik des „Kirchenstaates“. Vom Amt des Kardinalnepoten leitet sich der wenig schmeichelhafte Begriff des Nepotismus ab, die Versorgung der eigenen Familie mit Ämtern und folglich mit Einkünften. Es gehörte zu den üblichen Folgen eines Wechsels auf dem Stuhle Petri, daß der neue Papst einen erheblichen Teil der bisherigen Amtsträger entließ bzw. auf weniger wichtige Posten versetzte und stattdessen Angehörige seiner Familie und Klientel um sich scharte. Derartige Vetternwirtschaft war in der Vormoderne nicht verwerflich, im Gegenteil. In einer Gesellschaft, in der die Familie das einzige soziale Sicherungssystem darstellte, war vielmehr die Versorgung der Angehörigen mit Ämtern, d.h. mit Einkünften, eine Pflicht – erst recht dann, wenn die Beziehungen und das Geld der Familie eine Karriere an der Kurie und den Weg ins Papstamt erst ermöglicht hatten. Die Zeitgenossen wußten zu unterscheiden, was im Rahmen des Statthaften blieb und was nicht. Über Gregor XIII. lautet ein zeitgenössisches Urteil: „Er sorgt für seine Verwandten, aber ohne die Interessen der Kirche zu verletzen.“26

4.8.6 Die Kurie als spätmittelalterlicher Pfründenmarkt In Kap. 4.5.4. war bereits von den Papstmonaten die Rede, die im Spätmittelalter als rechtliche Grundlage für die gebührenpflichtige Vergabe eines Teils der Pfarrpfründen an der Kurie dienten. Dieser Pfründenhandel wird verständlicher, ordnet man ihn in seine Entstehungszusammenhänge ein. 26

So das Urteil des Michel de Montaigne, zit. nach Wolfgang Reinhard: Papstfinanz und Nepotismus unter Paul V. (1605-1621). Teil 1. Stuttgart 1974, S. 160.

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Vormoderne Behörden wurden geschaffen, um Herrschaftsgebiete besser verwalten und finanziell abschöpfen zu können. Ihr Auf- und Ausbau verschlang jedoch große Summen. Das galt auch für die Kurie. Sie erlebte einen wesentlichen Entwicklungsschub, als die Päpste im 14. Jh. in Avignon residierten und die Besoldung der Kardinäle und anderer kurialer Amtsträger von Naturalien auf Geld umstellten: Die dafür benötigten großen Mengen an Geld konnten i.W. nur aus Pfründenerträgen sowie aus der Erhebung von Gebühren bei der Vergabe von Pfründen kommen. Kuriale Würdenträger wurden mit mehreren Pfründen ausgestattet; durch diese bereits erwähnte Pfründenhäufung sicherte man ihre Besoldung und standesgemäße Versorgung. Die Folgeprobleme der Pfründenhäufung – Mißachtung der Residenzpflicht, Vertretung durch einen schlecht bezahlten Hilfsgeistlichen und daher vielfach Vernachlässigung der Seelsorge – sah man durchaus. Schon 1317 wurde in einer päpstlichen Bulle verboten, mehr als eine Sinekure (beneficium sine cura = Pfründe ohne Sorge, hier: ohne Aufgabe) zu besitzen. Doch fand dieses Verbot wenig Beachtung. So wurde die avignonesische Periode zur „Zeit der effektivsten fiskalischen Erfassung [...] der Gesamtkirche durch das Papsttum“ überhaupt.27 Das Gros der kurialen Einnahmen setzte sich im 14. Jh. aus Annaten, Servitien, Spolien und Interkalarfrüchten zusammen. Die Annaten waren bei Antritt eines hohen geistlichen Amtes an die Kurie zu leisten. Beispielsweise mußte ein neuer Bischof die Hälfte der Einkünfte abführen, die er binnen eines Jahres (lat. annus = Jahr) aus der zugehörigen Pfründe bezog. In den Konkordaten des 15. Jh.s wurde vereinbart, daß Annaten nur noch von sehr hoch dotierten Pfründen erhoben wurden.28 Auch die Servitien (lat. servitium = Dienst) hatten mit dem Amtsantritt hoher geistlicher Würdenträger zu tun. Es handelte sich um Konfirmationsgebühren, die für die Bestätigung eines neugewählten Bischofs oder Abtes erhoben wurden. Das servitium hatte sich am Ende des 13. Jh.s als freiwillige Leistung eingebürgert und wurde dann im 14. Jh. zur Pflicht. Aus den Servitienverzeichnissen des Spätmittelalters läßt sich erkennen, daß besonders aus Frankreich, England und den Niederlanden in großem Umfang Servitien an die Kurie flossen: Hier gab es offenbar die reichsten Bistümer und Abteien. Als später Luther an die Öffentlichkeit trat, kamen aus dem Reich etwa 16 % aller Annaten und Servitien. Obwohl das im europäischen Vergleich nicht unverhältnismäßig viel war, herrschte im Reich die Meinung, man werde in besonderer Weise von der Kurie finanziell. Insgesamt war aber die Bedeutung von Annaten und Servitien zu Luthers Zeit im Vergleich zum 14. Jh. bereits zurückgegangen, die große Zeit der Kurie als europäischer Pfründenmarkt war vorbei, auch wenn die Kurie nach wie vor Spo27

28

Bernhard Schimmelpfennig: Das Papsttum. Grundzüge seiner Geschichte von der Antike bis zur Renaissance. Darmstadt 1984, S. 229. Mehr als 24 Goldgulden (Eugen Haberkern – Joseph Friedrich Wallach: Hilfswörterbuch für Historiker. Mittelalter und Neuzeit. Tübingen (7. Aufl.) S. 41).

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lien erhielt, den Nachlaß verstorbener Pfründeninhaber, ferner Interkalarfrüchte, die Einkünfte aus einer Pfründe, während sie vakant war. Nicht an Pfründen gebundene und eher unregelmäßige Einkünfte waren Kreuzzugssteuern und der in einigen europäischen Ländern erhobene Peterspfennig (denarius Sancti Petri). Letzterer verschwand im Reformationszeitalter, und wurde seit Mitte des 19. Jh.s als freiwillige Kollekte am Festtag Peter und Paul, dem 29. Juni, wieder eingeführt. Zur Illustration des kurialen Pfründenmarktes ein Beispiel. Im August 1439 schrieb Nikolaus von Kues (Nicolaus Cusanus, 1401-1464) an Petrus de Mera, der an der Kurie für die Begutachtung von Bittschriften zuständig war. Der Propst an der Stiftskirche St. Martin zu Worms war verstorben. Nikolaus wollte sein Nachfolger werden, genau gesagt: die zugehörige Pfründe erhalten. Voraussetzung dafür war die Wahl durch das Stiftskapitel. Nikolaus wußte jedoch: Er hatte Konkurrenten und als Ortsfremder bei einer Wahl keine Chance. Daher bat er de Mera um eine Spezialreservation des Papstes, d.h.: eine päpstliche Erklärung, die Propstei sei ihm – Nikolaus – bereits zu Lebzeiten des vorigen Propstes zugesichert worden. Er ermächtigte de Mera ferner dazu, einige Kardinäle und andere hochgestellte Kuriale in dieser Angelegenheit einzuschalten, die für ihn intervenieren sollen. Kurz: Seine Freunde an der Kurie sollten seine Pfründeninteressen vertreten. In Worms selbst fehlte ihm jede Unterstützung. Immerhin hielt er noch einige andere Trümpfe in der Hand: Erstens war der verstorbene Propst ein guter Freund von ihm gewesen – das war durchaus ein gewichtiges Argument. Zweitens kamen die wichtigsten Einnahmen der Wormser Pfründe aus Boppard (nahe Koblenz), denn die Pfarrkirche zu Boppard war der Propstei inkorporiert, das Stift St. Martin hatte also das Recht, den Pfarrer zu präsentieren. In Boppard wiederum hatte Nikolaus von Kues gute Freunde, die ihn unterstützten. Drittens war der Erzbischof-Kurfürst von Trier, der für Boppard zuständige Bischof und Landesherr, ebenfalls sein guter Freund. Kurz: Cusanus hatte zwar in Worms keine Unterstützung, aber durch seine guten Beziehungen nach Rom, Trier und Boppard rechnete er sich Chancen auf die Pfründe aus. Nikolaus von Kues war ein hochgebildeter Humanist und der vielleicht tiefgründigste Philosoph und Theologe des 15. Jh.s.; er setzte sich als Konzilsteilnehmer, päpstlicher Legat, Bischof und Kardinal in Wort, Schrift und Tat energisch für Reformen ein. Wir haben es also nicht mit einem klüngelnden Pfründenjäger zu tun! Doch Cusanus brauchte Pfründen, Sinekuren, von denen er als kirchlicher Amtsträger und Wissenschaftler leben konnte. Zurück zu seinen Bemühungen um die Wormser Propstei St. Martin. Nikolaus ging leer aus. Das Stiftskapitel wählte einen Kleriker zum Propst, der in Worms selber Rückhalt hatte. Doch es gab ein Nachspiel: Der Gewählte wurde vom Pfalzgrafen bei Rhein so unter Druck gesetzt, daß er die Pfründe bald darauf an den kurpfälzischen Kanzler abtrat. Worms lag im Machtbereich des Pfalzgrafen! Die Episode zeigt die Wichtigkeit der Kurie für das Bemühen um Pfründen an, macht aber auch die Grenzen dieser Bedeutung klar: Tatsächlich waren im rö-

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misch-deutschen Reich seit der Mitte des 15. Jh.s die Fürsten sowie die lokalen Magistrate und Herren wichtiger für die Vergabe von Pfründen als die Kurie. Sie nutzten die Pfründen, um ihre eigenen Amtsträger zu besolden bzw. deren Altersversorgung zu sichern. Die verbreitete Kritik weltlicher Herren am kurialen Pfründenmarkt war also keineswegs uneigennützig. Bereits vor der Reformation gab es aber auch die Stimmen, die aus theologischen Gründen den Pfründenhandel, die Vergabe geistlicher Ämter gegen Geld als Simonie (nach Apg 8,18-24) angriffen. Ein Forum dieser Kritik waren die Reformkonzilien des 15. Jh.s (s. Kap. 4.9.). Zuvor gilt es, noch kurz auf den Ort einzugehen, an dem Papst und Kurie beheimatet waren.

4.8.7 Rom! „Sei gegrüßt, du heiliges Rom, wahrhaft heilig von den heiligen Märtyrern, von deren Blut es trieft.“ Mit diesen Worten warf sich der Augustinermönch Martin Luther zu Boden, als er die Stadt im November 1510 erreichte.29 Dreieinhalb Jahrzehnte später veröffentlichte derselbe Luther kurz vor seinem Tod eine Schrift unter dem programmatischen Titel: „Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet.“ Zwischen diesen beiden Extremen der Ehrfurcht und Verteufelung schwankte die Wahrnehmung Roms und der Institution des Papsttums im Laufe der Geschichte. Keine Stadt hat seit der Spätantike die lateinische Christenheit so wie Rom geprägt und tut es in gewissen Grenzen in institutioneller, kultureller und religiöser Hinsicht noch immer. Die institutionelle Bedeutung liegt auf der Hand. Seit der Frühen Kirche nahm sie mit der Ausdifferenzierung der Kurie zu – trotz Phasen, in denen der Papst und seine Umgebung außerhalb Roms wohnten. Früh hatten die römischen Bischöfe ihre Residenz im Stadtviertel rund um den Vatikan (einer der Hügel Roms) genommen, wo das Grab des Petrus verehrt wurde. Hauptresidenz des Papstes war zunächst der Lateranpalast, dann seit dem 15. Jh. der Vatikanpalast. Seit dieser Zeit nahm die Bautätigkeit der Kurie immer mehr zu. Ab der Mitte des 16. Jh.s entstanden dort zahlreiche Bildungseinrichtungen. Als Beispiel sei das 1552 gegründete Collegium Germanicum genannt, ein theologisches Seminar für – im weiten Sinne – deutschsprachige Studenten, dessen Absolventen die römischen Reformvorstellungen kennenlernten und in ihre Heimat zurückzutragen versuchten. In Rom fand ein gutes halbes Dutzend Konzilien statt. Hier sind auch die als Generalat bezeichneten Zentralen zahlreicher Ordensgemeinschaften angesiedelt. Rom ist der Ort frühchristlicher Katakomben und des spätmittelalterlichen Pfründenmarktes; der organisatorische Mittelpunkt und geistige Mittelpunkt ei29

Zit. nach Martin Brecht: Martin Luther. Bd. 1: Sein Weg zur Reformation 1483-1521. Stuttgart (2. Aufl.) 1983, 105.

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ner internationalen Kirche; der Ort der Indexkongregation und ein Zentrum geistlicher und profaner Künste von europäischer Geltung; und nicht zuletzt Zielund Brennpunkt der Frömmigkeit durch die Jahrhunderte hindurch und auf diese Weise identitätsstiftend für die ganze katholische Kirche. Rom war und ist eines der wichtigsten Pilgerziele der Christenheit. Ein besonderer Höhepunkt waren und sind die Heiligen Jahre (Jubeljahre). Dabei handelt es sich um „runde“ Jahre, so bei dem ersten Heiligen Jahr 1300, aber auch um Jubiläen der Heilsereignisse, etwa bezogen auf den für das Jahr 33 vermuteten Tod und die Auferstehung Christi. Die Faszination Roms als Pilgerziel spiegelt sich im Konversionsbericht des – uns im übrigen unbekannten – calvinistischen Geistlichen Arnoul Martin. Bereits an der Schwelle des Übertritts zum katholischen Bekenntnis stehend, besuchte er Rom im Heiligen Jahr 1600. Was er dort erlebte, machte ihm die endgültige Entscheidung für die Konversion leicht: „Ich sah die Kirchen [...] zu jeder Stunde des Tages nicht nur von Römern, sondern auch von Fremden, die dem Gebete oblagen, angefüllt. Ich sah die Spitäler [...] eine Menge Pilger aller Nationen [...] zur Herberge und Pflege aufnehmen. [...] Ich sah endlich mehrere Edelleute, Prälaten, Bischöfe, Cardinäle und sogar unsern heiligen Vater dieses Haus besuchen, die Pilger bedienen, ihnen aus Demuth die Füße waschen und küssen. [...] Wer beim Anblick dieser großen und erstaunlichen Dinge keine Rührung fühlte, müßte [...] härter und gefühlloser [sein] als ein Marmorblock.“30

4.9 Konzilien „Johannes, Bischof, Diener der Diener Gottes, zum künftigen Gedächtnis. Bedacht auf die Ausführung dessen, was unser Vorgänger, Papst Alexander V. glücklichen Angedenkens, [...] bezüglich der neuerlichen Einberufung eines Generalkonzils entschieden hat, beriefen wir dieses Konzil [...] ein. [...] Gleich darauf kamen wir mit unseren verehrungswürdigen Brüdern, den Kardinälen der heiligen römischen Kirche, und unserer Kurie zur festgesetzten Zeit in die Stadt Konstanz.“ So lautet der Anfang des päpstlichen Briefes, den man bei der Eröffnungssitzung des Konzils von Konstanz im November 1414 verlas. Im folgenden erinnerte der Papst daran, „daß auf einem Konzil nach der lobenswerten Praxis der alten Konzilien vorzugsweise jene Fragen zu verhandeln sind, die den katholischen Glauben betreffen.“ Darum solle sich die Versammlung „mit einigen Irrtümern befassen, die seit gewisser Zeit in manchen Gegenden aufgekeimt sein sollen.“ Damit waren die Lehren von Wyclif und Hus (Kap. 6.1.) gemeint. Außerdem sollten alle Versammelten „sorgfältig bedenken, darlegen und vor uns und die heilige Synode bringen, wodurch auch die Gemeinschaft aller Katholiken mit Gottes Hilfe zur nötigen 30

Zit. nach der deutschen Übersetzung bei Andreas Räß: Die Convertiten seit der Reformation nach ihrem Leben und aus ihren Schriften dargestellt. Bd. III: Von 1590-1601. Freiburg 1866, S. 488f.

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Reform und ersehnten Ruhe gebracht werden kann.“31 Jeder der Anwesenden wußte beim Stichwort Gemeinschaft (congregatio heißt es in der lateinischen Originalfassung des Briefes), um was es ging: Papst Johannes hatte zwei Gegenpäpste! In der Endphase des Großen Abendländischen Schismas waren Einheit und Kirchenreform – nicht zuletzt angesichts des Auftretens von Wyclif und Hus – dringend notwendig. Und wer konnte besser dafür sorgen als ein Generalkonzil? Der lateinische Begriff concilium bedeutet Versammlung, Zusammenkunft. Ein Konzil ist eine Versammlung vornehmlich der führenden Geistlichen, vor allem der Bischöfe. Solche Versammlungen gab es bereits in der Frühen Kirche. Je nachdem, wie weit der Teilnehmerkreis sich erstreckte, spricht man von einem partikularen oder ökumenischen Konzil. Partikularkonzil heißt: die Bischöfe einer Kirchenprovinz (Provinzialkonzil, -synode) oder mehrerer Kirchenprovinzen (Plenarkonzil) oder einer Region nehmen teil. Der in der Literatur gängige Begriff Nationalkonzil ist also auch ein Partikularkonzil. (Der Begriff Nationalkonzil ist etwas problematisch, weil es Nationen im modernen Sinne erst seit ca. 1800 gibt). Partikularkonzilien haben vor allem in der Frühen Kirche eine wichtige Rolle gespielt. Im Unterschied zu Partikularkonzilien ist in einem Generalkonzil oder Ökumenischem Konzil im Prinzip die ganze Ökumene (gr. oikumene = bewohnte Erde) vertreten, also die römisch-griechische Welt der Spätantike, später die gesamte lateinische Kirche. Das bedeutet nicht, daß wirklich jeder Bischof anwesend sein mußte, aber doch eine große Zahl von Bischöfen aus möglichst allen Kirchenprovinzen. Generalkonzilien wurden vor allem dann einberufen, wenn theologische oder rechtliche Probleme anstanden, die die ganze Kirche betrafen oder deren Lösung doch zumindest eine möglichst breite Meinungsbildung erforderte. So war es bereits bei dem Konzil, das in allen Konfessionen als erstes Ökumenisches Konzil angesehen wird, dem von Nicaea im Jahr 325. Damals ging es um die für das christliche Credo wesentliche Frage, ob Jesus Christus wirklich ganz Gott sei oder eine Art Halbgott, wie die Arianer meinten (Kap. 1.1.3.). Insgesamt gab es bis heute nach katholischer Zählung 21 Ökumenische Konzilien, von denen die ersten sieben auch von den Ostkirchen als Generalkonzilien anerkannt werden. Acht altkirchliche Konzilien (4.-9. Jh.) u.a. Nicaea 325 (Christus wesensgleich mit dem Vater) Chalcedon 451 (Zwei Naturen Christi) Sieben Konzilien des Hochmittelalters (12. – Anf. 14. Jh.) u.a. IV. Laterankonzil 1215 (jährliche Beicht- und Kommunionpflicht)

31

Dekrete der ökumenischen Konzilien. Bd. 2: Konzilien des Mittelalters. Hgg. von Josef Wohlmuth. Paderborn u.a. 2000, S. 404. 406.

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Vier Konzilien des 15./16. Jahrhunderts Konstanz 1414-1418 (Überwindung des Großen Abendländischen Schismas; Hus, Wyclif; Kirchenreform) Basel-Ferrara-Florenz 1431-1449 (Konziliarismus, Kirchenreform, Union mit Ostkirche) V. Laterankonzil 1512-1517 Tridentinum 1545-1563 (Kirchenreform) Zwei Konzilien der Moderne I. Vatikanum 1869-1870 (Unfehlbarkeit und Universalepiskopat des Papstes) II. Vatikanum 1962-1965 (aggiornamento)

Das Konzil von Konstanz war wohl das größte vormoderne ökumenische Konzil. Nach dem Bericht eines Konstanzer Bürgers nahmen daran teil: 33 Kardinäle, 47 Erzbischöfe, 238 Bischöfe, 287 Äbte und Priore, 217 Doktoren der Theologie, 361 Träger des Titels Doktor beider Rechte (lat. doctor utriusque iuris) – also des Kirchenrechts und des weltlichen Rechts, ferner etwa 5.300 einfache Priester und Theologen, dazu natürlich das Gefolge der höheren geistlichen Würdenträger.32 Diese Dimensionen wurden bei weitem nicht immer erreicht und es blieben auch nicht alle Konzilsteilnehmer von Anfang bis Ende am Ort. Dennoch machen die Zahlen deutlich: Konzilien waren – unabhängig von ihren Beschlüssen – schon allein deshalb wichtig, weil hier Vertreter der geistigen Elite ganz Europas zusammenkamen, einander kennenlernten und u. U. weit über die Dauer des Konzils hinaus Kontakt miteinander hielten; diese Kontakte lassen sich punktuell nachweisen und darüber hinaus in vielen weiteren Fällen annehmen. Mit der Herausbildung des Papsttums stellte sich zu bestimmten Zeiten die Frage, ob dem Konzil oder aber dem Papst, der das Konzil einberief, im Zweifelsfall die entscheidende Autorität zukomme. Diese Frage wurde vor allem ab dem Ende des 14. und bis weit in das 15. Jh. hinein diskutiert. Wir sprechen für diese Zeit von der Bewegung des Konziliarismus. Während die Konziliaristen betonten, das Konzil stehe über dem Papst, waren die Papalisten der Ansicht, dieser habe größere Autorität als das Konzil. Nicht zufällig blühte der Konziliarismus am Ende des 14. Jh.s auf: Seit 1378 gab es mit dem Großen Abendländischen Schisma zwei einander bekämpfende Päpste, was naturgemäß das Ansehen des Papstamtes beschädigte. Und vor allem: Wer sollte darüber entscheiden, wer der richtige Papst sei, wenn nicht ein Konzil als Repräsentant der gesamten Kirche? Tatsächlich setzte das Konstanzer Konzil die drei rivalisierenden Päpste ab – auch Papst Johannes, der es einberufen hatte! 32

Francis Oakley: The conciliarist tradition. Constitutionalism in the Catholic church 1300-1870. Oxford 2003, S. 21.

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1417 sorgten die Konzilsväter für die Wahl eines neuen Papstes und hielten ausdrücklich fest, sie hätten „ihre Gewalt unmittelbar von Christus“ und jeder Mensch sei, „unabhängig von Stand und Würde, wäre sie auch päpstlich, in dem, was den Glauben und die Ausrottung des besagten Schismas betrifft, [dem Konzil] zum Gehorsam verpflichtet.“33 Auch das in Basel 1431 beginnende Folgekonzil betonte seine Überordnung gegenüber dem Stuhl Petri sowie die Unfehlbarkeit des Konzils. Es blieb jedoch ergebnislos und in der zweiten Hälfte des 15. Jh.s nahm die Bedeutung des Konziliarismus ab. Zur Bedeutung des Konzils von Trient s. Kap. 6.2.3. Gut drei Jahrhunderte nach dem Tridentinum tagte 1869/1870 das Erste Vatikanum (Erstes Vatikanisches Konzil). Es wurde vor allem dadurch bekannt, daß es die Unfehlbarkeit (Infallibiliät) des Papstes in Lehrfragen als Dogma beschloß. Ebenso wurde betont: Der Papst steht über der gesamten Kirche (man spricht hier vom Universalepiskopat des Papstes). Bei beiden Beschlüsse handelte es sich nicht um grundlegende inhaltliche Neuheiten; eher sind sie so zu verstehen, daß als Dogma und also verbindlich festgehalten wurde, was sich seit langem bereits ausgeprägt hatte. Ein wesentlicher Grund für die Dogmatisierung war die defensive Stellung, in der sich die katholische Kirche um die Mitte des 19. Jh.s vielfach angesichts der vorherrschenden geistigen Strömungen befand. Obwohl die Erneuerung katholischer Frömmigkeit und kirchlichen Lebens etwa in Frankreich und Deutschland schon begonnen hatte, hielt der damalige Papst Pius IX. den Beschluß der beiden Dogmen durch ein Konzil für nötig. Das Unfehlbarkeitsdogma sorgte für großes Aufsehen in der nichtkatholischen Welt, erlangte in der Praxis allerdings wenig Bedeutung. Festzuhalten bleibt, daß das Erste Vatikanum den päpstlichen Primatsanspruch abrundete. Das bisher letzte Ökumenische Konzil, das Zweite Vatikanum (1962-1965) stand unter dem Leitmotiv, das der einberufende Papst, Johannes XXIII. ihm in der Eröffnungsrede gab: aggiornamento (ital., etwa: Aktualisierung, Heranführung an die Gegenwart). Gemeint war damit – auf Basis einer im Unterschied zum Ersten Vatikanum zuversichtlichen Grundausrichtung – u. a., daß zwischen der unveränderlichen „Substanz der tradierten Lehre“ und der „Formulierung, in der sie dargelegt wird“ unterschieden werden müsse.34 Bestimmte kirchliche Formen konnten also überprüft und ggf. verändert werden, um die Menschen besser mit dem Evangelium zu erreichen. Ein Ergebnis des II. Vatikanum war die weitgehende Aufgabe des Lateinischen als Sprache der Meßliturgie zugunsten der Volkssprachen. Wichtig war das Konzil auch, weil es in Ergänzung des Ersten Vatikanums die bischöflichen Rechte bekräftigte, ohne die päpstlichen Rechte 33 34

Wohlmuth, Dekrete Bd. 2 (wie Anm. 31), S. 408. Zit. nach Andrea Riccardi: Die turbulente Eröffnung der Arbeiten. In: Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1959-1965). Bd. II. Hgg. von Giuseppe Alberigo und Klaus Wittstadt. Mainz – Löwen 2000, S. 1-81, hier S. 20f.

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beiseite zu schieben: Der Bischof hat die volle Autorität in seinem Bistum, der Papst hat sie ebenfalls in der Gesamtkirche. In den reformatorischen Kirchen gibt es keine Generalkonzilien, jedoch Versammlungen auf territorialer, nationaler und z.T. übernationaler Ebene, die meistens mit dem Begriff Synode (griech. synodos = gemeinsamer Weg, Zusammenkunft) bezeichnet werden. (Derselbe Begriff ist in der katholischen Kirche auch üblich – man denke an die Diözesansynodem Kap. 4.7.). Wie auf den Konzilien werden hier jeweils wesentliche theologische und rechtliche Fragen beraten und entschieden. Beispielsweise beschloß die schwedische Kirchenversammlung von Uppsala 1593, daß im Lande allein das lutherische Bekenntnis, die Confessio Augustana von 1530, gültig sein solle. Bemerkenswert ist aber auch, daß der erste Unterzeichner dieses Beschlusses der damalige schwedische Regent war.35 Weltliche Interessen und Einflußnahme gab es bis weit in die Neuzeit hinein nicht nur beim Papsttum, sondern eben auch bei den Konzilien und anderen großen Kirchenversammlungen. Das Modell dafür hatte der erste christliche Kaiser Konstantin mit der Einberufung und Leitung des ersten ökumenischen Konzils gegeben.

4.10 Kanonisches Recht und kirchliche Gerichtsbarkeit Mit dem Begriff Kanonisches Recht (lat. ius canonicum; griech. kanon = Richtschnur) wird das Kirchenrecht der katholischen Kirche bezeichnet. Es wurde für alle Geistlichen angewendet, ferner für alle Rechtsangelegenheiten der Laien, soweit es um geistliche Dinge ging, also z. B. in Ehesachen oder beim Zehnt. Kirchliche Gerichtsbarkeit gab und gibt es auf der Ebene des Bistums, des Erzbistums und auf der höchsten Ebene, an der Kurie. Jede menschliche Gemeinschaft braucht Regeln, je größer sie wird, desto mehr Regeln werden benötigt. Das gilt auch für die Kirche, die Grundformen des Kirchenrechts gehen daher bereits auf die Frühe Kirche zurück. Sie betrafen Ehe und Familie, die Gemeindekasse, den Bau von Kirchen, die Armen- und Krankenfürsorge und anderes mehr. Als Grundlage für das entstehende Recht zog man die Bibel heran; das NT ist zwar unergiebig im Hinblick auf Rechtsvorschriften, doch finden sich einige grundsätzliche Verhaltensregeln für christliches Leben in den Briefen der Apostel. Außerdem griff man in erheblichem Umfang auf die Vorschriften des AT zurück und die Frühe Kirche übernahm in gewissen Grenzen weltliches römisches Recht. Wer formulierte kirchenrechtliche Vorschriften? Zunächst die jeweiligen Bischöfe für ihre Diözesen, daneben die Partikularkonzilien. Dabei gab es natürlich regionale Unterschiede, im großen und ganzen aber gingen die Regeln in die gleiche Richtung. Seit dem 4./5. Jh. wurde das Kirchenrecht zunehmend auch 35

Svenska Riksdagsakter jämte andra handlingar som höra till statsförfattningens historia [...]. Teil 3, Bd. I: 1593-1594. Hgg. von Emil Hildebrand. Stockholm 1894, S. 87. 90.

4.10 | Kanonisches Recht und kirchliche Gerichtsbarkeit

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vom Papsttum und den ökumenischen Konzilien beeinflußt, aber noch bis ins 8. Jh. waren partikulare Konzilien die wichtigste Quelle kirchlicher Rechtsvorschriften. Seit dem 5. Jh. wurden diese Regeln und Weisungen gesammelt. Die erste auf Vollständigkeit hin angelegte, systematische Sammlung lag im Westen um 1140 vor, das Decretum Gratiani. Der Bologneser Johannes Gratian hatte nicht nur die bestehenden kirchenrechtlichen Vorschriften gesammelt, sondern auch geordnet, vereinheitlicht und kommentiert. In der Folgezeit entwickelte sich das Kanonische Recht zu einer selbständigen, systematisch gelehrten Wissenschaft. Besonders die Universitäten von Bologna und Paris waren im 13./14. Jh. berühmt für das Studium des Kirchenrechts. Dabei spielte das weltliche römische Recht für die Systematisierung eine wichtige Rolle, etwa bei der Terminologie. Neben dem Decretum Gratiani gibt es noch fünf weitere grundlegende mittelalterliche Kirchenrechtsbücher, die zusammen das Corpus Iuris Canonici (CIC) bilden. 1917 und 1983 wurden revidierte Fassungen des CIC veröffentlicht, die unter dem Namen Codex Iuris Canonici zusammengefaßt werden. Wichtig für die Rechtspraxis waren auch die päpstlichen Dekretalen. Dabei handelt es sich um Papstbriefe, in denen eine einzelne, konkrete Angelegenheit entschieden wird. Diese Dekretalen wurden gesammelt und erhielten seit dem 12. Jh. wachsenden Einfluß auf das Kirchenrecht. Seit dem 12. Jh. wurde das zunehmend systematisierte Kirchenrecht zur Grundlage der geistlichen Gerichtsbarkeit, oft unterstützt durch Gutachten der an den Universitäten lehrenden Experten für Kanonisches Recht. Auch die reformatorischen Kirchen entwickelten in Kirchenordnungen und zusätzlichen Verordnungen und Gesetzen ein Kirchenrecht, das meist in enger Verbindung zur weltlichen Gesetzgebung stand. Das Kanonische Recht wurde mit der institutionellen Trennung von Rom weitgehend verworfen. Hinzu kam die theologisch motivierte Kritik der Reformatoren am Kirchenrecht: Als Luther im Dezember 1520 die päpstliche Bannandrohungsbulle öffentlich verbrannte, warf er ebenso ein Exemplar des CIC ins Feuer und auch danach fand er für das Kanonische Recht immer wieder harsche Worte. Sicher spielte dabei eine Rolle, daß Luther von Juristen ohnehin wenig hielt. Wichtiger war aber wohl, daß Verstöße gegen das Kirchenrecht in der spätmittelalterlichen Praxis heilsrelevant geworden waren, wenn der Kirchenbann ausgesprochen wurde (dazu gleich mehr). Dagegen sprach Luther dem Kanonischen Recht jegliche Bedeutung für den Weg zum Heil ab. Natürlich brauchten auch die neu entstehenden reformatorischen Kirchen Rechtsregeln und Gerichtsbarkeit – das sah er ein, aber es blieb ein tiefes Unbehagen: „Die Juristen,“ äußerte er einmal, „gehören nicht in Ecclesiam mit ihren Prozessen, sonst bringen sie uns den Papst wieder herein.“36 Für die allgemeine Geschichte sind einige kirchenrechtliche Phänomene und Institutionen von besonderer Bedeutung. Sie seien im folgenden kurz vorgestellt. 36

WA Tischreden 6, Nr. 7029, S. 344.

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Keine Regel ohne Ausnahme – das gilt auch für das Kanonische Recht. Die Bewilligung der Ausnahme wird Dispens (lat. dispensatio = Verteilung) genannt: Durch einen Dispens wird die Geltungskraft eines Kirchengesetzes im Einzelfall aufgehoben, der Betroffene wird dispensiert. Je nach Sachverhalt ist der Pfarrer, der Bischof oder die kuriale Gerichtsbarkeit für die Erteilung oder Verweigerung des Dispenses zuständig. Ein Dispens, für den die Kurie zuständig war, stand in Zusammenhang mit der Priesterweihe, für die nach Kanonischem Recht die eheliche Geburt eine Voraussetzung war. Unehelich geborene Kandidaten, nicht selten Söhne von Geistlichen, mußten in Rom den Dispens einholen und erhielten ihn in der Regel auch. Nicht selten wurde auch vor der Eheschließung zweier Menschen um einen Dispens nachgesucht, wenn sie nach Kanonischem Recht zu nah verwandt waren. Dieses Problem stellte sich im eng miteinander versippten Hochadel Europas, aber auch in anderen sozialen Schichten. Für alltäglichere Eheangelegenheiten vor Ort war das Sendgericht (auch Rügegericht) oder kurz: der Send zuständig. Der deutsche Begriff Send leitet sich von der bereits erwähnten Synode ab, genauer: der Diözesansynode. Dabei handelte es sich um ein bischöfliches Gericht, das ursprünglich im Rahmen der vom Bischof abzuhaltenden Synode stattfand, sich dann aber institutionell verselbständigte. In der Praxis lief es oft darauf hinaus, daß der Bischof oder sein Vertreter einmal jährlich in jedem Kirchspiel Sendgericht hielt. Zuständig waren die Sendgerichte vor allem für Sitten- und Kirchenzucht (vgl. Kap. 7.5.6.). Im Frühmittelalter bestanden die Strafen in Bußgebeten, Fasten, Wallfahrten, Almosen; bereits ab dem 10. Jh. wurden diese jedoch durch Geldstrafen abgelöst. Sendgerichte gab es noch in der frühen Neuzeit in den katholischen Territorien, besonders im Westen des Reiches. Hier wurden Delikte wie Fluchen, Gotteslästerung, Glücksspiel, Wahrsagerei, Ehebruch, Inzest, Wucher, Trunksucht verhandelt. Wo es kein Sendgericht gab, existierte seit dem 13./14. Jh. mit dem bereits erwähnten Offizial (Kap. 4.2.) und dem Offizialat eine oberste geistliche Instanz in der Diözese. Bei einer Untersuchung für die Bistümer Basel, Konstanz und Chur vom letzten Drittel des 15. Jh.s bis 1520, zeigt sich: Eheangelegenheiten nahmen einen Anteil von 80 % und mehr der im Offizialat verhandelten Fälle ein. Konkret ging es vor allem um nicht eingehaltene Eheversprechen, d. h. Frauen wandten sich in großer Zahl an den Offizial, um die Einlösung des Eheversprechens einzuklagen. In zweiter Linie ging es um Ehehindernisse durch Verwandtschaft (hier war also ein Dispens nötig), ferner um Ehebruch und Unzucht. Die rege Inanspruchnahme des Offizialates in Basel, Konstanz und Chur für Ehesachen zeigt, daß die Zuständigkeit in diesen Dingen unumstritten war und wohl auch positiv gesehen wurde. Unzufriedenheit trat jedoch bei den Strafen auf, die verhängt wurden, ferner hinsichtlich der Höhe der anfallenden Prozeßkosten. Das Offizialat verhängte meist Geldstrafen. Für die Betroffenen war es oft schwierig, dieses Geld aufzubringen. Zahlten sie nicht, so wurden sie oft in den Kirchenbann getan; zu diesem Mittel mußten die geistlichen Gerichte oft greifen,

4.10 | Kanonisches Recht und kirchliche Gerichtsbarkeit

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weil außer dem Kirchenbann kein anderes Druckmittel gegen die Säumigen existierte. In der Untersuchung zu Basel, Konstanz und Chur erfolgten 80 % der Bannurteile aufgrund von Geldschulden, die wiederum zur Hälfte auf nicht bezahlten Gerichtskosten beruhten. An diesem Einsatz des Kirchenbanns entzündete sich Kritik, die im Bauernkrieg von 1525 zur Forderung führte, die geistliche Gerichtsbarkeit ganz abzuschaffen. Eine andere Folge des häufigen Gebrauchs der Exkommunikation war natürlich auch, daß sich dieses Instrument abnutzte. Der eben erwähnte Begriff Kirchenbann / Exkommunikation bedarf weiterer Erläuterung. Die frühen Christen waren davon ausgegangen, daß ein Getaufter eigentlich keine schwere Sünden wie Mord, Totschlag, Ehebruch, Gotteslästerung begehen könne. Geschah dies doch, so schloß der Bischof den Betreffenden für eine bestimmte Zeit vom Herrenmahl, der Kommunion, aus, daher Ex-Kommunikation. Ziel dieser Maßnahme war, daß der Sünder bereute, beichtete, Buße tat (s. Kap. 7.5.2.) und wieder in die volle Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen wurde, daher auch die Bezeichnung excommunicatio medicinalis: die Intention des Banns war gleichsam medizinischer, heilender Natur. Im Frühmittelalter ließ man nach der Buße zur Prüfung ihrer Ernsthaftigkeit noch einige Zeit vergehen, aber ab dem 9. Jh.s wurde der Bußfertige sogleich wieder zum Herrenmahl zugelassen. Über diese erste Stufe des Kirchenbanns (auch Kleiner Bann / excommunicatio minor genannt), den Ausschluß von der Eucharistiefeier, ging die zweite Stufe hinaus: Der Große Bann / excommunicatio maior bestand im vollständigen Ausschluß aus der kirchlichen Gemeinschaft, d.h. es war den Gläubigen untersagt, mit dem Gebannten Umgang zu haben. Der formale Akt der Bannung sah so aus: Zwölf Priester versammelten sich mit brennenden Kerzen vor dem Bischof, der die Exkommunikation verkündete. Darauf warfen die Priester die Kerzen auf den Boden und traten die Flammen aus. Diese zweite Stufe wurde gewählt, wenn der Sünder keinerlei Reue zeigte. Der Kirchenbann konnte aufgehoben werden, wenn der Exkommunizierte um Versöhnung nachsuchte. Dann war ihm die Aufhebung des Banns auf jeden Fall zu gewähren. Mit der Christianisierung wurde der Kirchenbann auf schwere weltliche Vergehen wie Straßenraub, Hochverrat und Münzfälschung ausgedehnt. Seit dem 4. Jh. war der Kirchenbann ohnehin keine rein innerkirchliche Angelegenheit mehr, sondern betraf die gesamte Existenz des Gebannten. Im Karolingerreich durften Gebannte weder ein öffentliches Amt bekleiden noch Rechtssachen entscheiden. Im römisch-deutschen Reich folgte seit 1220 dem Kirchenbann normalerweise die Reichsacht. Umgekehrt galt auch: Auf die Reichsacht folgte der Kirchenbann: und diese Unterstützung der Acht durch den kirchlichen Bann scheint wichtiger gewesen zu sein als der umgekehrte Automatismus. In beiden Fällen wird die selbstverständliche Verflechtung von kirchlicher und weltlicher Existenz deutlich. Diese Verflechtung steht auch strukturell hinter den in Kap. 4.8.4. angedeuteten Fällen, in denen während der Auseinandersetzungen zwischen Päpsten und europäischen Herrschern im Hochmittelalter der Papst einen Monarchen exkom-

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Kirche als Institution | 4

munizierte. Der Kirchenbann hatte für den Exkommunizierten die u. U. katastrophale Folge, daß seine Lehnsleute ihm nicht mehr zu Treue verpflichtet waren. Im 16. Jh. endete die politische Verwendung und Bedeutung des Kirchenbanns. Als Kirchenstrafe im Bereich der Kirchenzucht blieb er sowohl in der katholischen Kirche wie in veränderter Form in den reformatorischen Kirchen erhalten (s. Kap. 7.5.6.). Die Parallelität von geistlicher und weltlicher Gerichtsbarkeit hatte besonders im Spätmittelalter eine latente Konkurrenzsituation zwischen diesen Jurisdiktionen zur Folge. Sie zeigt sich etwa beim privilegium fori (lat., Privileg des Gerichtshofes). Gemeint ist damit die Exemtion, die Herausnahme der Geistlichkeit und der geistlichen Sachen aus der normalen weltlichen Gerichtsbarkeit. Der Klerus genoß Immunität, eine rechtliche Sonderstellung. Das bedeutete z.B.: das städtische Gericht war nicht für die Geistlichen zuständig, die in der Stadt lebten. An sich war das nicht ungewöhnlich – ein Nebeneinander verschiedener Rechtszuständigkeiten war im vormodernen Europa gängig. Streit entzündete sich aber z. B. regelmäßig an der Frage, ob ein Streitfall eine geistliche Angelegenheit war oder nicht. Wenn ein Rechtsstreit das Kirchengut betraf, das unmittelbar bei der Gründung einer Kirche zu deren Ausstattung gestiftet worden war, dann respektierte die weltliche Seite im allgemeinen, daß diese Sache vor ein geistliches Gericht gehörte. Handelte es sich aber um spätere Schenkungen, pochten die weltlichen Instanzen meist auf ihre Zuständigkeit. Der Streit wurde durch die Tatsache geschürt, daß beide Seiten über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Ziele verfolgten. Die weltlichen Herren – Städte oder Fürsten – akzeptierten je länger je weniger Ausnahmen von ihrer gerichtlichen Zuständigkeit. Die geistlichen Institutionen ihrerseits wollten prinzipiell keine Unterwerfung unter weltliche Gerichte. Beide Seiten neigten zur Prinzipienreiterei: Auf kirchlicher Seite gab es vom Buchstaben des CIC her die Möglichkeit, fast jeden Streitfall zu einer causa ecclesiastica (lat., Kirchensache) zu machen, und manchmal ging man diesen Weg – mit entsprechendem Widerstand von weltlicher Seite. Den Fürsten war es ein Dorn im Auge, daß Laien nicht selten in profanen Angelegenheiten geistliche Gerichte anriefen, offenbar deshalb, weil sie hier eher eine kompetente und unparteiische Rechtsprechung erwarteten. Für die Fürsten waren solche Fälle in dreierlei Hinsicht ärgerlich: das von ihnen angestrebte Justizmonopol wurde durchbrochen; ihrer Gerichtsbarkeit wurde ein schlechtes Zeugnis ausgestellt; den weltlichen Richtern entgingen die fälligen Gerichtsgebühren. Über die prinzipiellen Gegensätze hinaus gab es auch praktische Probleme. Geistliche durften keinen Eid schwören. Bei Schuldgerichtsverfahren aber gehörte die Eidesleistung im weltlichen Prozeß dazu. War nun ein Geistlicher an einem solchen Verfahren als Kläger oder Beklagter beteiligt, mußte schon aus diesem Grund die Schuldsache vor einem geistlichen Gericht verhandelt werden. Insgesamt drängten die weltlichen Herren die geistliche Gerichtsbarkeit bereits im Spätmittelalter und dann in der frühen Neuzeit auf die geistlichen Sachen i.e.S.

4.11 | Kirche als Vorbild von Staatlichkeit

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zurück: Eheangelegenheiten, kirchliche Einkünfte und die bereits im Zusammenhang mit dem Send genannten Sittlichkeitsdelikte. In dem Maße, in dem die Zuständigkeit auch für diese Angelegenheiten von staatlicher Seite im 19./20. Jh. beansprucht wurde, ging die geistliche Gerichtsbarkeit weiter zurück.

4.11 Kirche als Vorbild von Staatlichkeit „Die römische Rechtskirche hat als erste Erbin des Imperium Romanum [...] sehr handfeste institutionelle Errungenschaften an die europäischen Monarchien weitergegeben. Es läßt sich zeigen, daß sie in mehrfacher Hinsicht der erste Staat Europas und damit das Vorbild der übrigen gewesen ist. Neben der päpstlichen Vollgewalt als Modell der absoluten Monarchie wäre der dazu gehörende Zentralismus zu nennen, die Priesterschaft als erste nicht-erbliche, funktional definierte Beamtenschaft, die territoriale Organisation in Bistümer und Pfarreien in einer Zeit, in der weltliche Herrschaft eher als ‚Personenverband‘ organisiert war.“37 Mit diesen Worten deutet der Historiker WOLFGANG REINHARD eine Bedeutung der Institution (katholische) Kirche an, die über die vielen Einzelaspekte dieses Kapitels hinausweist. Sein Urteil steht in Spannung zu den Unzulänglichkeiten von Geistlichkeit und Pfarrorganisation, zu der massiven weltlichen Einflußnahme auf die Kirche, zu der – bei näherem Hinsehen ebenfalls oft erkennbaren – geringen Effizienz der Kurie (die hier nicht näher thematisiert werden konnte, REINHARD als einem ihrer besten Kenner aber durchaus bekannt ist). Trotz dieser Einschränkungen gilt: REINHARDs pointierte Formulierung schlägt eine Schneise zum Verständnis europäischer Geschichte und Entstehung von Staatlichkeit.

37

Wolfgang Reinhard: Was ist europäische politische Kultur? Versuch zur Begründung einer politischen Historischen Anthropologie. In: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 593-616, hier S. 602.

5 Geistliche Gemeinschaften: Orden, Stifte, Klöster Gegenstand dieses Kapitel sind die geistlichen Gemeinschaften, die im Laufe der Christentumsgeschichte entstanden und mit der kommunitären und betont einfachen Lebensweise, die sie wählten, auf innerkirchliche und gesellschaftliche Entwicklungen reagierten. Viele dieser Gemeinschaften lassen sich unter dem Begriff Regularklerus (lat. regula = Regel) zusammenfassen. Dazu zählen Nonnen, Mönche, Schwestern, Stiftsdamen oder –herren, die in festen Gemeinschaften nach einer Regel leben; die meisten dieser Gemeinschaften werden auch als Orden bezeichnet (lat. ordo = Ordnung, Stand). In einem engeren Sinne wird der Begriff des Regularklerus nur auf die Angehörigen einiger in der frühen Neuzeit entstandenen Orden angewandt; im Folgenden soll jedoch die weitere Bedeutung gelten. Zugleich findet damit eine Abgrenzung vom Weltklerus (Säkularklerus, Weltgeistlichkeit) statt, also von Pfarrern und Hilfsgeistlichen, die in der Welt, unter den Laien, leben und für Gottesdienst und Seelsorge verantwortlich sind. Die Tätigkeit von Welt- und Regularklerikern unterscheidet sich keineswegs völlig voneinander; denn obwohl Mönche ursprünglich und ausdrücklich Laien waren, erhielten viele von ihnen die Priesterweihe und übernahmen Pfarreien. Trotzdem ist die Lebensform der Ordensgemeinschaft grundsätzlich eine andere als die der Weltgeistlichen. Die grobe Abgrenzung zwischen Säkular- und Regularklerus ist daher sinnvoll. Die geistlichen Ritterorden (Templer, Johanniter, Deutscher Orden u.a.) stellen einen bekannten Sonderfall dar und werden darum hier nicht behandelt.

5.1 Die Entstehung des christlichen Mönchtums Die Ursprünge des christlichen Mönchtums liegen im 3. Jh., einer Zeit, in der die christlichen Gemeinden wuchsen. Mit dem Wachstum war eine gewisse Anpassung an die heidnische Umwelt verbunden – manchmal zum Leidwesen der Christen. Einige von ihnen zogen die Konsequenz, daß christliches Leben nicht mehr in den Städten zu verwirklichen sei und zogen sich als Eremiten (griech. eremos = einsam) in die Wüste zurück; auch die Begriffe Anachoret (griech. anachorein = entweichen) und – in Mittelalter und Neuzeit – Klausner (lat. claudere = abschließen) sind gängig. Aus diesem frühen christlichen Einsiedlertum heraus enstand auch der Begriff Mönch (griech. monachós = der allein Lebende, latinisiert monachus). Die Mönche verbrachten ihr Leben in Gebet, Kontemplation (lat. contemplatio = Betrachtung, gemeint ist die nachsinnende, betende Betrachtung der Glaubensinhalte) und Askese (griech., Übung, Einübung): Der Verzicht auf jeg-

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Geistliche Gemeinschaften | 5

lichen Luxus und das nur selten unterbrochene Fasten sollten die Konzentration auf das Wesentliche erleichtern: auf Gott. Eremiten finden sich vereinzelt bis in die Gegenwart, doch bilden sie unter den Mönchen der Christentumsgeschichte eine Minderheit. An den Anachoreten wird jedoch ein wesentliches Element des Mönchtums bis heute erkennbar: Der Rückzug aus der Welt, um Gott besser und uneingeschränkt dienen zu können. Zugleich setzten diese spätantiken Aussteiger einen Kontrapunkt zur Gesellschaft: Askese statt Luxus, Reflektion und Kontemplation statt Betriebsamkeit und Hektik, mystische Versenkung statt Verflachung. Manche der christlichen Eremiten in der ägyptischen und syrischen Wüste wurden gegen ihren Willen berühmt; viele Gläubige wandten sich ratsuchend an diese „Wüstenväter“ und kamen zu denen, die – wie die Säulenheiligen – eine außergewöhnliche Form der Askese gewählt hatten, gewiß auch aus Schaulust. Nachahmer wollten es den Eremiten gleichtun. So bildeten sich im 4. Jh. in der Wüste die ersten Mönchsgemeinschaften, in denen man sich durch gegenseitiges Vorbild, Kontrolle und Ermutigung im geistlichen Leben half. Aus den Eremiten waren Koinobiten geworden (griech. koinos bios = gemeinsames Leben). Notwendigerweise ging der Zusammenschluß der Mönche damit einher, der Gemeinschaft einen Leiter zu geben – den von ihnen gewählten Abt (griech.-lat. abbas = Vater). Ihm sollten die Mönche gehorchen – er seinerseits sollte auf den Rat der Mönche hören. Die monastischen Gemeinschaften wahrten einen egalitär-familiären Zug, äußerlich erkennbar etwa daran, daß bis heute in vielen Orden die gegenseitige Anrede „Bruder“ (lat. frater) bzw. „Schwester“ (lat. soror) ist. Als Pater werden diejenigen angeredet, die zugleich Priester sind. Dem deutschen Wort Kloster (wie Klausner und Klause von lat. claudere = abschließen) für die gemeinsame Behausung der Mönche entspricht in den lateinischsprachigen Quellen monasterium, cella (die Zelle des einzelnen Mönchs), abbatia (daher: Abtei). Alle Begriffe fanden ihren Niederschlag in Ortsnamen wie Münster, Moutier (beide von monasterium) oder Zell. Von Laien wie Weltgeistlichen heben sich die Regularkleriker durch eine betont schlichte und jeweils einheitliche Ordenstracht ab. Grundbestandteil ist die bis zu den Füßen reichende, langärmelige Kutte (lat. cotta = Chorrock; auch als Habit bezeichnet, von lat. habitus = Kleidung), ergänzt um eine Kapuze. Je nach Klima, Jahreszeit und Anlaß – Arbeit oder feierlicher Gottesdienst – kommen weitere Kleidungsstücke hinzu. Die einzelnen Orden unterscheiden sich durch die Farbe der Kleidungsstücke: Neben dem festlichen Weiß werden die einfachen Farben der armen Bevölkerungsschichten – Braun, Grau, Schwarz – verwendet; ebenfalls als Zeichen der Armut gingen die Angehörigen einiger Orden barfuß (mit oder ohne Sandalen), weshalb sie landläufig als Barfüßer(mönche) bekannt waren. Weibliche Klostergemeinschaften entstanden in größerer Zahl ab dem 12./13. Jh.; hier lebten die Nonnen (lat. nonna) unter Leitung einer Äbtissin zusammen.

5.2 | Das Benediktinische Mönchtum

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5.2 Das Benediktinische Mönchtum 5.2.1 Geregelter Tagesablauf: Ora… Mit der Gründung von Gemeinschaften wuchs das Bedürfnis nach Regeln des Zusammenlebens. Die ersten schriftlich erhaltenen Mönchsregeln gehen offenbar auf frühere, mündlich überlieferte Ordnungen zurück. Im Westen gab es anfangs regional unterschiedliche Mönchstraditionen. Prägend wurde das benediktinische Mönchtum, d.h. die Klöster, in denen man nach der Regula Benedicti lebte. Sie geht zurück auf Benedikt von Nursia († 547), der sie für das von ihm 529 gegründete Kloster Monte Cassino verfaßte. Die Benediktsregel setzte sich nicht gleich durch, wurde aber im 8./9. Jh. zur Grundlage des abendländischen Mönchtums. 816/817 machte Kaiser Ludwig der Fromme sie verbindlich für alle Klöster des fränkischen Reiches. Seit dieser Zeit spricht man von Benediktinerklöstern i.e.S. „Dem Gottesdienst soll nichts vorgezogen werden,“ heißt es in der Benediktsregel (43,3).1 Bis in die Gegenwart wird der Tagesablauf eines Benediktinerklosters durch Gottesdienst und gemeinschaftliches Gebet gegliedert. Tragende Säule ist das Stundengebet: Sieben Mal am Tag treffen die Mönche in der Klosterkirche zum Gebet zusammen – daher auch die Bezeichnung Sieben Horen (lat. hora = Stunde). Nach einer festgelegten liturgischen Ordnung werden bei den Stundengebeten Bibeltexte gelesen und Gebete gesungen: seit dem 6./7. Jh. geschah dies in Form des Gregorianischen Gesanges, dessen musikalisch-liturgische Grundlinien durch Papst Gregor I. († 604) geprägt wurden. Textgrundlage ist der Psalter, dessen 150 Psalmen innerhalb einer Woche gesungen werden. Zu den Sieben Horen am Tag tritt mit den Vigilien ein Nachtgebet hinzu (lat. vigilia = Wache, Nachtwache). Bei den nach der Regula Benedicti lebenden Zisterziensern (s. Kap. 5.2.4.) sah der Tagesablauf im Sommer folgendermaßen aus: Tagesablauf in einem Zisterzienserkloster (Juni)2 1.45 h 2.00 – 3.00 h 3.00 – 3.10 h 3.10 h (im Morgengrauen) 4.00 h (bei Sonnenaufgang)

1 2

3

Aufstehen Vigilien Zwischenzeit Laudes (auch: Matutin) Prim

Nachtgebet Morgenlob erste Stunde3

http://www.benediktiner.de/regula/RB_deutsch03.htm#Kap_43 Zusammengestellt nach Terryl N. Kinder: Die Welt der Zisterzienser. Darmstadt 1997, S. 57-60; Karl-Heinrich Bieritz: Liturgik 2004, 612-618; Karl Dienst: Stundengebet I. Liturgisch. In RGG (3. Aufl.) 6 (1962), Sp. 431-435. Die Zählung der ersten, dritten Stunde usw. geht zurück auf die jüdische Tageseinteilung, die zwölf Tag- und zwölf Nachtstunden kennt, gerechnet ab sechs Uhr morgens bzw. abends.

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Geistliche Gemeinschaften | 5

4.15 h 4.40 – 7.15 7.45 h 8.00 – 8.50 h 8.50 – 10.40 h 10.40 h 10.50 h 11.30 – 13.45 h 14.00 h 14.30 – 17.30 h 18.00 – 18.45 h 18.45 h 19.30 h 19.50 h 20.00 h

Versammlung im Kapitelsaal Handarbeit Terz dritte Stunde: Gedächtnis der Ausgiessung des Hl. Geistes Messe Lesung Sext sechste Stunde = Mittagsgebet Mittagessen Mittagsruhe Non neunte Stunde: Gedächtnis der Todesstunde Jesu und des eigenen Todes Handarbeit Vesper Abendgebet Abendessen Lesung Komplet Nachtgebet Nachtruhe

Bei der morgendlichen Versammlung im Kapitelsaal wurde ein Kapitel aus der Regula Benedicti vorgelesen; daher der Name des Raumes, der als Gemeinschaftsraum und Versammlungsstätte diente. Hier versammelte sich der Konvent der Mönche (lat. conventus = Zusammenkunft), besprach anstehende Probleme der Gemeinschaft, während sonst der Grundsatz herrschte, so wenig wie möglich zu sprechen. Hier fand auch die Memoria, das fürbittende Totengedenken, statt (s. Kap. 7.4.4.). Die Bezeichnung Konvent wird auch für Kloster ingesamt verwendet. Die im Sommer vorgesehene Mittagspause diente dem Schlaf, weil die Nachtruhe kürzer war als im Winter. Auch sonst verschob sich der Tagesablauf entsprechend der helleren und dunkleren Jahreszeit erheblich. Im Winter gab es nur eine Mahlzeit, weil weniger gearbeitet wurde; die Laudes als erste Hore wurde im Dezember erst um 7.15 Uhr gesungen, die Komplet dagegen bereits um 15.55 Uhr. Die Gebetszeiten verschoben sich also im Lauf des Jahres ständig; hinzu kamen regionale Besonderheiten. Doch das Grundprinzip der benediktinischen Klosterdisziplin war überall und stets gleich. 5.2.2 ... et labora! Aufgaben und Ämter im Kloster Die Arbeit war programmatischer Bestandteil des benediktinischen Mönchtums: „Müßiggang ist der Seele Feind,“ heißt es in der Regula Benedicti (48,1). Sprichwörtlich wurde das monastische Leitmotiv: ora et labora (lat. bete und arbeite). Konkret handelte es sich um Arbeiten, die im Kloster anfielen, um den klösterlichen Alltag aufrechtzuerhalten. Dazu kamen Krankenpflege, Armenspeisung und je nachdem auch Katechese der umwohnenden Bevölkerung. Ferner war ein

5.2 | Das Benediktinische Mönchtum

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Mönch – je nach Größe des Klosters auch mehrere – in der Schreibstube (lat. Scriptorium) damit beschäftigt, liturgische und andere religiöse Texte für den täglichen Gebrauch und die Klosterbibliothek abzuschreiben. Die Erhaltung zahlreicher antiker und mittelalterlicher Texte haben wir den klösterlichen Kopisten zu verdanken. Andere Arbeitsbereiche gehen aus der folgenden Zusammenstellung der Ämter in einem Kloster hervor. Ämter und Aufgaben in einem Kloster. Amt Abt Prior, ggf. auch ein Subprior Zellerar (Schaffner) Sakristan Kantor, oft zugleich Bibliothekar Gastmeister Pförtner Infirmar (Krankenwärter) Novizenmeister

Aufgaben geistliche und organisatorische Leitung. Stellvertretung des Abtes; von diesem ernannt. Wirtschaft, Vorratshaltung, Gebäude; wichtigster Verbindungsmann des Klosters zur Außenwelt. liturgische Aufsicht, Reinigung und ggf. Reparatur der Klosterkirche Vorsänger & Chormeister beim Stundengebet; Aufsicht über Bibliothek und Scriptorium Versorgung der Gäste Begrüßung der Gäste Aufsicht über die Krankenstation Unterrichtung und geistliche Betreuung der Novizen

Die Inhaber dieser Ämter waren teilweise vom Stundengebet befreit, um sich ihren Aufgaben besser widmen zu können.

5.2.3 Wie wird man Mönch? Wer als Erwachsener mit der Absicht ins Kloster kam, Mönch zu werden, durchlief eine ungefähr einjährige Probezeit, das Noviziat (lat. novitius = Neuling). Der Novize wurde mit der Klosterregel und dem Tagesablauf vertraut und prüfte, ob er dem monastischen Leben gerecht wurde. Blieb er bei seinem Entschluß und sah auch der Konvent den Novizen als geeignet an, so legte dieser die Profess ab (lat. professio = Versprechen, Bekenntnis), das Mönchsgelübde. Er versprach ein Leben in Armut, Keuschheit und Gehorsam. Alle drei Gelübde beziehen sich auf das in den Evangelien geschilderte Leben Jesu (daher auch: evangelische Räte). Nicht im Rang eines Gelübdes, aber als Prinzip monastischen Lebens wichtig ist ferner die stabilitas loci (lat., Ortsbeständigkeit): die Nonne, der Mönch bleiben im Normalfall lebenslang in der Klostergemeinschaft, in die sie eingetreten sind. Für manche begann das klösterliche Leben nicht erst als Erwachsener. Wollten Eltern eines ihrer Kinder dem Dienst an Gott weihen, so gaben sie es früh in die Obhut eines Klosters. Diese Kinder nennt man Oblaten (lat. oblatus = dargebracht, geopfert). Das Motiv der Eltern war entweder die Erfüllung eines Gelüb-

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des, also der Dank für die Hilfe Gottes oder eines Heiligen; oder aber die Hoffnung, daß das heilige Leben eines Familiengliedes zum Seelenheil der gesamten Sippe beitrug. An dieser Praxis wird die auf selbstverständliche Weise gemeinschaftliche Dimension von Frömmigkeit erkennbar, ebenso die bis zur Reformation unangefochtene Überzeugung, das Leben als Mönch oder Nonne sei die höchste Form christlichen Lebens. Schließlich war, besonders im Adel, die Bestimmung von Kindern und gerade von Töchtern für das Klosterleben oft eine familienpolitische Maßnahme, wenn es im Verhältnis zum verfügbaren Erbe zu viele Kinder gab: Mit dem Eintritt ins Kloster wurden ihr Auskommen und eine standesgemäße Existenz gesichert. Die Entscheidung über die Lebensform der Nachkommen fügt sich in die übliche vormoderne Praxis ein: Auch Eheverbindungen orientierten sich an den sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Familie und wurden oft von den Eltern entschieden. Dieser elterlichen Verfügungsgewalt konnten sich junge Frauen, konfrontiert mit einer unerwünschten Heirat, wiederum am ehesten durch den Eintritt ins Kloster entziehen. Gleichwohl zog gerade der Brauch, Kinder als Oblaten ins Kloster zu bringen, verständlicherweise öfters Probleme nach sich: manche Orden lehnten diese Praxis daher ab. Das Konzil von Trient legte fest, daß die Profess frühestens mit 16 Jahren abgelegt werden könne.

5.2.4 Verweltlichung und Klosterreformen Nicht immer entsprach die Klosterwirklichkeit den monastischen Idealen. Paradoxerweise war – neben individuellen Verfehlungen und alltäglichen zwischenmenschlichen Reibereien – gerade der Erfolg der Orden eine Hauptursache für das, was als ihr Verfall wahrgenommen wurde. Denn wenn die Frömmigkeit eines Klosters ausstrahlte, waren reiche Zuwendungen durch Laien die Folge – sie vertrauten auf den Nutzen der Gebete für ihr Seelenheil. So gab es neben den vielen armen Konventen, die über eine dürftige Selbstversorgung und Armenspeisung kaum hinauskamen, auch Klöster, die zu agrarischen Großunternehmen wurden, Wohlstand erlangten, in der frühen Neuzeit gerade auf dem Land wichtige Kreditgeber und, u.a. durch Bauaufträge, Arbeitgeber wurden. Auch die Herrscher suchten den Kontakt zu den Orden, förderten und vereinnahmten sie. Anschaulich wird das an Äbten, die als Diplomaten und – modern gesprochen – Minister eingesetzt wurden und sich naturgemäß dem monastischen Alltag entfremdeten. In den vielen Fällen, in denen die Herrscher die Verfügungsgewalt über die Einsetzung des Abtes erlangten, lebten diese Kommendataräbte gar nicht im Kloster selbst, sondern verfügten nur über dessen Einkünfte. Im römischdeutschen Reich erlangte eine ganze Reihe von Klöstern samt geschenktem Landbesitz die Reichsfreiheit. Die meist adligen Äbte übten auch die politische Herrschaft in diesen kleinen Territorien aus und verstanden sich oft eher als weltliche denn als geistliche Herren.

5.2 | Das Benediktinische Mönchtum

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Gerade der erfolgreiche Rückzug aus der Welt löste also oft eine erneute Verflechtung mit Wirtschaft und Politik aus. So liest sich die Geschichte vieler Klöster und Orden als Wechselspiel von Verweltlichung, Rückbesinnung und innerer Erneuerung. Dieses ständige Auf und Ab sei beispielhaft an zwei mittelalterlichen Reformbewegungen innerhalb des Benediktinischen Mönchtums skizziert (s. ergänzend den Abschnitt zur Observanzbewegung in Kap. 5.4.). Eine der wichtigsten Reformbewegungen überhaupt war die Cluniazensische Reform, die im 10. Jh. vom burgundischen Benediktinerkloster Cluny ausging; allein in Frankreich schlossen sich rund 1300 Benediktinerklöster dieser Bewegung an. Worin bestand diese Reform? Zunächst hielt man sich strikt an die Regula Benedicti. Weiter betonte man den Gottesdienst, es wurden zwei Messen täglich gefeiert, nicht nur eine. Neben dem Kultus wurde die Nächstenliebe akzentuiert, etwa durch mehr Armenspeisungen. Nach außen hin betonte man die Distanz nicht nur gegenüber weltlichen Einflüssen, sondern auch gegenüber dem Bischof. Zu diesem Zweck unterstellten sich Cluny und die vielen, ihm folgenden Klöster direkt dem Papst. Das bedeutete Unabhängigkeit von dem Bischof, in dessen Diözese das jeweilige Kloster lag. Die Anlehnung an den Heiligen Stuhl konnte allerdings dazu führen, daß man nolens volens in bestimmte politische Konflikte verwickelt wurde Auch die nächste große Reformbewegung innerhalb des Benediktinerordens ging von Burgund aus, diesmal vom Kloster Cîteaux. Die latinisierte Form des Ortes, Cistercium, gab der Bewegung den Namen: Zisterzienser. Das Kloster Cîteaux wurde 1098 bewußt in einer abgelegenen Wildnis gegründet. Auch die meisten Benediktinerklöster lagen zwar außerhalb der Städte, ihre Umgebung war jedoch – gerade infolge ihrer Präsenz – in der Regel keine Einöde mehr. Die Zisterzienser wollten zur Armut und Askese früherer Zeit zurückkehren und legten deshalb die Benediktregel besonders streng aus. Verbunden mit dem Charisma der Gründer, entwickelte Cîteaux eine große Anziehungskraft, besonders unter Angehörigen des burgundischen Adels; der bekannteste der ersten und zweiten Zisterziensergeneration war Bernhard von Clairvaux (1090-1153). Die Zisterzienser spalteten sich von den Benediktinern ab und wurden 1118 als selbständiger Orden konstituiert; ihr besonderes Kennzeichen war, daß sie sich stärker als die Benediktiner der Feldarbeit widmeten, namentlich der Erschließung unwirtlicher oder neu zu besiedelnder Gebiete, von Skandinavien über Ostmitteleuropa bis hin zur iberischen Halbinsel. Auch im Bereich der Medizin haben sie viel erreicht, da sie systematisch Heilkräuter anbauten. Zisterziensische Eigenart war ferner die programmatische Schlichtheit beim Bau ihrer Klöster und Kirchen; man verzichtete dabei auch weitgehend auf Wandschmuck und Farben. Eine weitere zisterziensische Besonderheit war die Rolle der Laienbrüder (Konversen). Zum Verständnis ist zunächst zu sagen, daß die meisten Benediktiner aus wohlhabenden Schichten stammten, nicht wenige waren sogar adlig. Die Zisterzienser nun boten in größerem Umfang ärmeren Menschen die Möglichkeit, als Laienbrüder ins Kloster einzutreten; sie nahmen nicht an den Stunden-

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gebeten teil, sondern verrichteten den größeren Teil des Tages körperliche Arbeit, die aber ausdrücklich als Gottesdienst verstanden wurde: man kann von einer Heiligung der Arbeit sprechen. Ohne die Laienbrüder wäre der große Beitrag der Zisterzienser zu Landgewinnung und Landesausbau nicht möglich gewesen. Die Laienbrüder erhielten durch ihren Eintritt in die Klostergemeinschaft ein Zuhause und soziale Absicherung.

5.3 Die Stiftsgeistlichkeit Neben den Mönchen in den Klöstern gab es eine zweite Gruppe geistlicher Gemeinschaften, deren Ursprünge bis ins 4. Jh. zurückreichen: Die Stiftsherren (Stiftskanoniker, Kanoniker, Chorherren; entsprechend Stiftsdamen, Kanonissen). Ein Stift ist eine Korporation von Geistlichen, die mit einem durch Stiftung entstandenen Vermögen unterhalten wird. Solche Korporationen gab es an den Bischofskirchen – hier sprechen wir von Domherren (Domkanonikern, Domkapitularen) und dem Domkapitel als ihrer Gemeinschaft. Die Domherren waren für den Gottesdienst im Dom zuständig; ferner wurden sie vom Bischof zur Leitung des Bistums herangezogen. War die Kirche, an der dieses Stift bestand, kein Dom, so sprechen wir von einer Stiftskirche (Kollegiatkirche). Die dort lebenden Stiftsherren i.e.S. waren ebenfalls für den Gottesdienst zuständig, den sie im Chor gestalteten (daher Chorherren). Ebenso waren sie in der Pfarrseelsorge tätig; manche Stifte unterhielten auch Stiftsschulen und wurden Zentren der Gelehrsamkeit. Die Stiftskanoniker, obwohl sie Weltgeistliche waren, erhielten in der frühen Karolingerzeit eine eigene Regel für ihr Zusammenleben. Ebenso wie bei den Mönchen stand nun das Stundengebet im Zentrum ihres Tagesablaufs. Ein grundlegender Unterschied zum Mönchtum war aber, daß die Kanoniker persönlichen Besitz hatten. Ebenso gab es keine klösterliche stabilitas loci. Die Reformbewegungen des 10.-12. Jh.s wirkten sich auch auf den Stiftsklerus aus: viele der Stiftskapitel nahmen eine strengere Version ihrer bisherigen Regel an. Daraus entstanden zwei bedeutende Orden: die Augustiner-Chorherren und die Prämonstratenser (nach dem nordfranzösischen Kloster Prémontré). In der frühen Neuzeit nahmen viele Stifte, besonders die Damenstifte, aber doch den Charakter von Versorgungseinrichtungen des Adels an.

5.4 Die Bettelorden Um 1200 kam es zu einer Welle von Ordensgründungen: Die Bettelorden oder Mendikanten (lat. mendicare = betteln) entstanden im Zusammenhang und teilweise als Folge der seit der zweiten Hälfte des 12. Jh.s einsetzenden Armuts- und

5.4 | Die Bettelorden

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Ketzerbewegungen. Diese reagierten auf die Vermehrung der Städte in Europa im 11./12. Jh. und auf die zunehmenden sozialen Probleme, die mit der Blüte vieler dieser Städte einhergingen. Das schuf Unruhe – auch religiöser Art: Dem Klerus warf man vor, daß es mit der evangelischen Armut nicht weit her sei; aus einem radikalen Verständnis des christlichen Glaubens heraus wurde ferner die Wirksamkeit der Sakramente bezweifelt, wenn ein Geistlicher sie spendete, der nicht über allen Zweifel erhaben war. Die Bettelorden waren Teil dieser allgemeinen Armutsbewegung. Sie verbanden das Ideal christlicher Armut mit der Bindung an die Kirche und es gelang ihnen, durch ihr Vorbild den zur Häresie neigenden Teil der Armutsbewegung zu einem erheblichen Teil der Kirche wieder anzunähern. Die Mendikanten konzentrierten sich auf die Städte, also auf die sozialen und religiösen Brennpunkte. Dort verdienten sie ihren Lebensunterhalt anfangs allein durch Betteln – machten also ernst mit dem neutestamentlichen Armutsideal. Auch die Selbstbezeichnung des wohl bekanntesten Bettelordens, der Franziskaner – nach dem hl. Franz von Assisi († 1226) – macht deutlich, daß evangeliengemäße Demut, d.h. Abhängigkeit von Gott eingeübt werden sollte: Ordo Fratrum Minorum, Orden der geringeren Brüder. Die Titel Abt und Prior wurden ausdrücklich abgelehnt, keiner sollte herausgehoben sein; bis heute heißt der Leiter eines Franziskanerkonventes stattdessen Guardian (Wächter, Aufseher). Die Angehörigen der großen Bettelorden – Franziskaner, Dominikaner, Augustiner-Eremiten und zeitweise die Karmeliter – waren als Seelsorger tätig: hier bestand vor allem in den Städten ein Bedarf, den der Weltklerus nicht decken konnte. Sie waren beliebt, weil sie keine Zehnten oder anderen Abgaben verlangten. Ihre Konvente waren karitativ tätig. Die Dominikaner – der Name rührt von dem Gründer Dominikus von Caleruega († 1221) her – waren ferner bekannt wegen ihrer Predigttätigkeit, in den Quellen werden sie oft einfach als Predigermönche bezeichnet, entsprechend ihrem lateinischen Namen Ordo Fratrum Praedicatorum (Orden der Predigerbrüder). Nicht zufällig brachte der Dominikanerorden zahlreiche bedeutende Theologen hervor, z.B. Albertus Magnus († 1280). Die Predigttätigkeit der Mendikanten richtete sich zum einen an die Teile der Armutsbewegung, die ketzerisch war oder zu werden drohte: sie wollte man durch Predigt und das vorbildliche Leben in Armut zurückgewinnen für die Kirche. Das Motto der Dominikaner bringt dieses Anliegen auf den Punkt: „Lehren wie die Kirche und leben wie die Ketzer.“4 Zum anderen war die Predigt der Bettelmönche vom Aufruf zur Buße an die geschäftstüchtige städtische Oberschicht geprägt, so wie es etwa in einer weit verbreiteten Musterpredigt des prominenten Franziskanertheologen Guibert von Tournai († 1288) heißt: „Unersättlich bleiben sie in ihrer Gier [nach Reichtümern]. [...] Sie arbeiten mit erlaubten wie mit unerlaubten Mitteln daran, Besitz anzuhäufen, nicht aber daran, etwas davon zurückzugeben,

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Zit. nach Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997, S. 61.

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außer am Ende, wenn sie den bitteren Tod nahen fühlen: dann erbrechen sie das Blut, das sie wie Blutsauger in sich hineingestopft haben.“5 Die Armutsbewegung des 12./13. Jh.s war die vielleicht wichtigste gesellschaftliche Bewegung der Zeit überhaupt; und die neuen Orden, unter denen die Bettelorden und die auf Krankenpflege konzentrierten Spitalorden (s. Kap. 7.7.2.) herausragen, gehören in ihr Zentrum. Das charismatisch vorgelebte Armutsideal fand erstaunlichen Anklang – auch und gerade bei den Eliten. Allein der Franziskanerorden hatte am Ende des 13. Jh.s weit mehr als 1.000 Niederlassungen in ganz Europa.6 In so gut wie jeder halbwegs wichtigen Stadt befand sich ein Konvent der Graubrüder – so ein an die graue Kutte anknüpfender, volkstümlicher Name der Franziskaner. Die Mendikanten entwickelten auch weibliche Zweige: So waren die Klariss(inn) en, in Verbindung mit Franziskus begründet durch die hl. Klara von Assisi († 1253), das Pendant zu den Franziskanern. Die Bettelorden waren straffer organisiert als die älteren Orden, von denen sie das Noviziat übernahmen. Sie gliederten sich in Ordensprovinzen, an deren Spitze ein Provinzial stand. Jede Provinz entsandte Vertreter in das regelmäßig tagende Generalkapitel, das u.a. den Generaloberen des Ordens wählte. Die Orden waren im Regelfall nicht der bischöflichen Aufsicht und Gerichtsbarkeit unterworfen, sondern unterstanden direkt der Kurie. Diese, an Rom angelehnte, autonome Stellung hatte Vor- und Nachteile; bei Konflikten aller Art beeinflußte sie die Position der Mendikanten. Ein wichtiges Element der Autonomie war auch das ordenseigene Bildungssystem. Daß es in fast jedem Kloster möglich war, das lateinische Lesen und Schreiben zu erlernen, war dabei weniger wichtig als die Einrichtung zentraler Studienhäuser in jeder Provinz, wo die Begabtesten eine gründliche theologische und Predigtausbildung erhielten. Diese studia der Bettelorden erhielten teilweise sogar das Promotionsrecht von der Kurie. Damit ergänzten sie die ersten Universitäten des 12./13. Jh.s, die meist keine theologische Fakultät hatten. Als später neue Universitäten gegründet wurden, faßte man die Studienzentren der verschiedenen Bettelorden zusammen, die dann meist als Theologische Fakultät einer neuen Hochschule fungierte. Folglich hatten die einzelnen Orden das Recht und die Pflicht, bestimmte Lehrstühle zu besetzen. Die Studienhäuser der Bettelorden 5

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Relinquunt etiam insatiabilitatem in appetitu [...]. Laborant enim per fas et nefas ut habeant, non ut restituant, nisi in fine, adveniente mortis amaritudine, sicut sangui suga repleta evomit sanguinem superposito sale; zit. und übers. nach David L. d’Avray: Sermons to the upper bourgeoisie by a thirteenth century Franciscan. In: The church in town and countryside. Ed. by Derek Baker. Oxford 1979, S. 187-199, hier S. 194f., Anm.en 34 und 35. Georg Schwaiger – Manfred Heim: Orden und Klöster. Das christliche Mönchtum in der Geschichte. München (2. durchges. Aufl.) 2004, S. 49, geben für 1282 bereits 1.583 Niederlassungen an. Jürgen Miethke: Politiktheorie im Mittelalter. Von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham. Tübingen (durchges. u. korr. Studienaufl.) 2008, S. 267, spricht von etwa 1.300 Konventen mit ca. 30.000 Ordensbrüdern am Ende des 13. Jh.s.

5.5 | Orden und Klöster in der Neuzeit

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trugen auch dazu bei, daß sich tendentiell eine einheitliche franziskanische oder dominikanische Theologie entwickelte. Denn schon im 13. Jh. waren die Mendikanten verpflichtet, ihre theologische Ausbildung innerhalb des ordenseigenen Schul- und Studiensystems zu absolvieren. Der Erfolg der Bettelorden enthielt im Keim bereits ihr zukünftiges Problem. Wie früher die Benediktiner erlebten sie, z.T. schon in ihrer Gründerzeit, Zerreißproben zwischen ihren Idealen und der Anpassung an die Gesellschaft – immerhin lebten sie mitten in der Stadt. Ihr religiöses Prestige, das sich in zahlreichen Schenkungen und Stiftungen niederschlug, vertrug sich auf Dauer schlecht mit der vollkommenen Armut. Auch wenn ein Mendikant über keinen persönlichen Besitz verfügte, so gelangten die Klöster doch teilweise zu Wohlstand. Entsprechend trat die Bedeutung des Bettelns zurück. Im 14./15. Jh. kam es folgerichtig zu Erneuerungsbewegungen innerhalb der Bettelorden. Die Reformer waren die Observanten (lat. observare = beachten), die großen Wert auf die Beachtung der Ordensregel legten – wir sprechen von der Observanzbewegung. Oft kam es zu heftigen Konflikten innerhalb der Konvente. Die Franziskaner spalteten sich schließlich 1517 in Observante und Konventuale (Minoriten). Zusätzliche Probleme schuf es, daß sich oft die weltlichen Herren – Fürsten und städtische Magistrate – in den Streit einmischten, meist zugunsten der Observanten. Sie hatten ein Interesse daran, daß Religion regelkonform ausgeübt wurde – andernfalls drohte die Strafe Gottes. Und natürlich strebten sie nach Aufsicht und Kontrolle über die Konvente.

5.5 Orden und Klöster in der Neuzeit Um 1500 war es keineswegs so, daß Dekadenz die Klosterlandschaft kennzeichnete. Dagegen sprechen die Erfolge der Observanzbewegungen ebenso wie die Entstehung zahlreicher neuer Klöster im 15. Jh. Dennoch wurde die Reformation zur bis dahin größten Bewährungsprobe des westlichen Mönchtums: denn die Reformatoren lehnten das monastische Leben, bis dahin gleichsam der Königsweg zum Heil, vehement ab. Luther, der 1505 als Novize in das Erfurter Kloster der observanten Augustiner-Eremiten eingetreten war und zur Zeit seiner Ablaßthesen als Distriktsvikar die Aufsicht über zehn Klöster hatte, sah seine Klosterexistenz rückblickend als grundverkehrt an, weil er gemeint habe, durch Askese die Gnade Gottes verdienen zu können – ein Trugschluß im Lichte des sola gratia (s. Kap. 6.2.1)! So lösten sich im Zuge der reformatorischen Bewegung etliche Klöster auf; viele andere wurden durch die protestantischen Obrigkeiten geschlossen, das Klostergut konfisziert. So wurden Orden und Klöster zu einem Merkmal der katholischen Kirche. Lediglich einzelne Damenstifte blieben in den Ländern der Reformation zur Versorgung adliger Jungfrauen erhalten. Erst im 20. Jh. entstanden im evangelischen Teil Europas neue kommunitär lebende Gemeinschaften.

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Krise und Erneuerung der Orden lagen im 16. Jh. eng beieinander; das zeigt die Entstehung neuer Gemeinschaften. Wegen ihres Einsatzes für die katholische Reform am bekanntesten sind die Kapuziner, die 1528 als selbständiger Orden aus einer observanten Richtung der Franziskaner hervorgingen, und die Gesellschaft Jesu (lat. Societas Jesu). Die Jesuiten wurzeln in einer um den baskischen Adligen Ignatius von Loyola († 1556) in den 1530er Jahren entstandenen geistlichen Gemeinschaft und wurden 1540 vom damaligen Papst approbiert. Die Jesuiten unterschieden sich signifikant von den traditionellen Orden: – Die bei den Mendikanten bereits gelockerte stabilitas loci wird zugunsten der Mobilität der einzelnen Ordensangehörigen aufgegeben; es gibt keine Jesuitenklöster, wohl aber größere und kleinere Niederlassungen. – Das gemeinsame Chorgebet entfällt; hingegen ist eine intensive, tägliche Gewissenserforschung vorgeschrieben, in gewissen Abständen ergänzt um die von Ignatius entworfenen Exerzitien (geistliche Übungen). – Die Askese hat geringe Bedeutung. – Ein viertes Gelübde des Gehorsams gegenüber dem Papst tritt zu den herkömmlichen Mönchsgelübden. – Die straffe, hierarchische Organisation des Ordens geht deutlich über die der Mendikanten hinaus. Die Eigenheiten der Societas Jesu waren ausgerichtet auf ihr Ziel, „sich nicht nur mit der göttlichen Gnade der Rettung und Vervollkommnung der eigenen Seelen zu widmen, sondern sich mit derselben Gnade inständig zu bemühen, zur Rettung und Vervollkommnung der Seelen der Nächsten zu helfen.“7 Durch diese ausdrückliche Absicht, den Glauben zu verbreiten, unterschieden sie sich von den bisherigen Orden; diese waren zwar in unterschiedlichem Maße ebenfalls in Seelsorge und Mission tätig, doch die Wahl der klösterlichen Existenz war zunächst auf das jeweils eigene Seelenheil ausgerichtet. Entsprechend der Ordensstruktur ergibt sich eine besondere Betonung des Individuums bei den Jesuiten. Der einzelne Jesuit war in seiner Spiritualität wie in seinen Aufgaben eher auf sich alleine gestellt als ein Benediktiner oder Dominikaner. Von ihm wurde mehr verlangt – allein schon dadurch, daß er auf Geheiß seines Oberen jederzeit an einen anderen Einsatzort versetzt werden konnte. Konsequenterweise legten die Jesuiten stets strenge Kriterien an Novizen an, ganz abgesehen davon, daß ein ausführliches Philosophie- und Theologiestudium zu absolvieren war. In gewissen Grenzen kann man von einem Eliteorden sprechen. Die wichtigsten Arbeitsfelder der Jesuiten waren Seelsorge und Predigt sowie das höhere Bildungswesen. Die Jesuitenkollegien waren für ihre Qualität um 1600 so bekannt, daß auch zahlreiche Protestanten ihre Söhne dorthin schickten, zumal die Jesuiten weitgehend kein Schulgeld erhoben. Daß der Orden in Deutschland 7

Ignatius von Loyola: Gründungstexte der Gesellschaft Jesu. Übers. von Peter Knauer. Würzburg 1998, S. 592; es handelt sich hier um die zweite Fassung der Constitutiones (Satzung B) vom Beginn der 1550er Jahre.

5.6 | Ordensähnliche Gemeinschaften

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bis heute vor allem mit dem Konfessionskonflikt in Verbindung gebracht wird, liegt daran, daß die Jesuiten als gute Prediger, Seelsorger und Lehrer bevorzugt dort aktiv wurden, wo die Glaubensrichtungen aufeinanderstießen. Bereits in der frühen Neuzeit gab es eine ausgeprägte antijesuitische Propaganda im protestantischen Europa, ferner Rivalitäten mit den anderen Orden. Letztere trugen dazu bei, daß 1773 der damalige Papst auf Druck der katholischen Mächte die Auflösung des Ordens verfügte; nach der Wiederbegründung des Ordens 1814 wurde die genannte Propaganda im 19./20. Jh. neu belebt. Das Leben in Klöstern und Orden fand im 17. Jh. regen Zuspruch; um 1600 gab es allein in Paris ca. 80 Frauenklöster mit etwa 2.000 Nonnen. Im 18. Jh. gingen die Zahlen wohl zurück, aber um 1770/80 lebten gleichwohl etwa 400.000 Frauen und Männer im katholischen Europa nach Ordensregeln; im Mittelmeerraum, wo die Bettelorden dominierten, war es im Schnitt etwa 1 % der Bevölkerung, sonst weniger.8 Etwa ab der Mitte des 18. Jh.s erfaßte die Ordensgemeinschaften eine ernste Krise: dem Nützlichkeitsdenken der Aufklärung war Kontemplation ebenso fremd wie das Armutsideal; die karitativen und teilweise auch wissenschaftlichen Verdienste fielen dagegen nicht ins Gewicht. In den habsburgischen Ländern hob Joseph II. in den 1780er Jahren zahlreiche Klöster auf. Die Französische Revolution mit ihren Folgen, im römisch-deutschen Reich die Säkularisation von 1802/03, führten in weiten Teilen Europas zur großflächigen Schließung und Zerstörung von Klöstern. In den deutschen Territorien blieben mehrheitlich Konvente erhalten, die im Bildungswesen und in der Krankenpflege tätig waren. Im zweiten Drittel des 19. Jh.s kam es im Zuge der allgemeinen Erneuerung katholischer Frömmigkeit zu zahlreichen Neugründungen einzelner Klöster und zur Entstehung neuer Orden, die sich in Europa und in Übersee der Krankenpflege, dem Schulunterricht und der Mission widmeten. Als gleichzeitiges Pendant auf evangelischer Seite sind die Diakonissen zu nennen, Schwesternschaften, die sich vornehmlich der Armen- und Krankenpflege verschrieben (s. Kap. 7.7.4.).

5.6 Ordensähnliche Gemeinschaften Im Laufe der Christentumsgeschichte entstand eine kaum übersehbare Zahl religiöser Gemeinschaften und Vereinigungen von Laien, die sich nicht zu regulierten Orden entwickelten und dies meist auch gar nicht anstrebten. Oft waren diese Gruppen ein Bindeglied zwischen Klerus und Laien, vielfach gewannen sie ferner durch ihre karitative Tätigkeit Bedeutung. Es lassen sich zwei Hauptrichtungen unterscheiden: Gemeinschaften, in denen die Mitglieder klosterähnlich zusammenlebten; von ihnen soll hier die Rede sein. Ferner Bruderschaften, also 8

Zahlenangaben bei Peter Hersche: Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter. Freiburg – Basel – Wien 2006, S. 318-323.

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Geistliche Gemeinschaften | 5

Vereinigungen, deren Angehörige als Laien in ihren üblichen Lebensbeziehungen – Familie, Beruf usw. – verblieben; zu ihnen s. Kap. 7.4.5. Die klosterähnliche Gemeinschaft der Beginen bildete sich am Ende des 12. Jh.s aus der Armutsbewegung im niederländisch-nordwestdeutschen Raum heraus. Die Witwen und Jungfrauen, die in freiwilliger Armut, doch ohne formelles Gelübde in Beginenhöfen zusammenlebten, widmeten sich dem Gebet, der Krankenpflege und dem Schulunterricht. In der zweiten Hälfte des 15. Jh.s gab es allein in Köln 106 Beginenhöfe. Die Begarden, das männliche Pendant der Beginen, waren weniger bedeutsam, gingen teilweise in anderen Gemeinschaften auf, und verschwanden schon im Spätmittelalter, während es bis bis heute einige Beginenhöfe in Belgien und den Niederlanden gibt. Zusammenfassend spricht man von den ordensähnlichen Gemeinschaften als den Dritten Orden (Terziaren, Tertiarier). Der Begriff rührt daher, daß üblicherweise der männliche Zweig eines Ordens als erster, der weibliche als zweiter Orden bezeichnet wird; der dritte Zweig (lat. tertius) benennt eine Gemeinschaft von Laien, die sich dem monastischen Ideal annähern, für die sich aber – etwa wegen einer bestehenden Ehe oder anderer Verpflichtungen – der Schritt ins Kloster verbietet. Viele dieser seit etwa 1200 entstandenen Tertiarier-Gemeinschaften leben dennoch in annähernd klösterlicher Form zusamen; auch sie sind bis in unsere Zeit meist karitativ tätig, wie etwa die unter dem Namen der Barmherzigen Brüder und Barmherzige Schwestern zusammengefaßten Vereinigungen (s. Kap. 7.7.4.). Ähnlich verfaßt waren die Brüder vom Gemeinsamen Leben (Fraterherren), die aus der Bewegung der Devotio moderna hervorgingen (s. Kap. 2.4.3.)

5.7 Askese und Weltveränderung Nach Christi Geburt finden sich Vertreter der verschiedenen Orden im Stall zu Bethlehem ein. Der Benediktiner singt der heiligen Familie zum Lob einen Gregorianischen Choral. Der Dominikaner predigt über den erhabenen Sinn der Menschwerdung. Der Franziskaner macht sich auf, um draußen etwas zum Essen zu erbetteln. Der Jesuit aber geht zu Maria und sagt: „Hohe Frau, überlassen Sie den Kleinen uns – wir werden etwas aus ihm machen!“ Eigenheiten der Orden lassen sich im Witz klischeehaft verdichten. In der Tat bestehen zwischen den geistlichen Gemeinschaften der Christentumsgeschichte erhebliche Unterschiede, je nachdem, wann sie in Reaktion auf welche Zustände in Kirche und Gesellschaft entstanden. Gemeinsam ist ihnen jedoch eines: die Wahl einer Lebensform, die in Widerspruch zu den Maßstäben weltlicher Erfolge und Lebenserfüllung steht und ihren Sinn in der Konzentration auf das ewige Heil findet. Auch wenn dieser in der Ordensgemeinschaft manifeste Widerspruch als bester Weg zum Heil akzeptiert war oder durch vielfältige Verflechtungen zwischen

5.7 | Askese und Weltveränderung

185

Kloster und Welt fast eingeebnet wurde, so prägte er doch die Beziehung der Gesellschaft zu den religiös motivierten Aussteigern. Faszinierend ist die von letzteren ausgehende Wirkung. Es ging ihnen meist zunächst um das eigene Seelenheil; aber der radikale Verzicht auf weltlichen Erfolg, den sie deswegen übten, setzte so viel Energien frei, daß sie nicht nur als Vorbilder eines heiligen Lebens ausstrahlten, sondern Kirche und Gesellschaft veränderten – als Vorkämpfer der Nächstenliebe und Vermittler von Kultur. Die über kurz oder lang fast unausweichliche Verweltlichung und ihre Ursachen wurden bereits angesprochen (Kap. 5.2.4.). Ergänzt sei hier, daß die mittelalterliche Kritik an dem, was man als Verfall ansah, zugleich eine indirekte Würdigung der monastischen Ideale darstellte. Ganz anders die Reformation: ihre Fundamentalkritik an der Askese als Weg zum Heil diskreditierte das herkömmliche Mönchtum im Protestantismus auf lange Zeit hin. Das Potential an Widerspruch zum jeweiligen mainstream in Kirche und Gesellschaft mußte sich nun andere Wege suchen, etwa die Frömmigkeitsbewegungen des Puritanismus’ und Pietismus’ (s. Kap. 6.2.6., 6.2.9.). Nicht zufällig wird mit diesen Bewegungen seit dem Religionssoziologen Max Weber († 1920) der Begriff einer protestantischen „innerweltlichen Askese“ verbunden; gemeint ist damit ein auf das ewige Heil ausgerichteter, gewissenhafter, rationaler, arbeitsam-disziplinierter Lebensstil. „Die Reformation trug die rationale christliche Askese und Lebensmethodik aus den Klöstern hinaus in das weltliche Berufsleben,“ formulierte Weber.9 Allerdings: Kontemplation, Gefühl, z.T. mystische Versenkung gehörten ebenfalls zum monastischen Leben, das sich nicht auf das asketische Ideal reduzieren läßt. Und letztlich war alle Askese nur Mittel und gemeinschaftlicher Weg, nicht Ziel.

9

Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen 1988, S. 1-206, hier S. 117, Anm. 2.

6 Kirche(n), Konfessionen, Frömmigkeitsbewegungen: Das westliche Christentum zwischen Einheit und Spaltung „Also ist [...] wol und löblich herpracht, das die anwesenden Churfürsten und Ständ [...] in der Keys. Majestatt Pallast erscheinen und Ihr Mayestatt in die Kirchen begleiten, daselbst das officium de S[ancto] Spiritu solenniter halten helffen.“ So wird in einer am Ende der 1560er entstandenen Abhandlung über den Reichstag der offizielle Beginn der Reichstagsgeschäfte beschrieben: Vor den Beratungen stand die gemeinsame Feier einer Messe zum heiligen Geist. Doch „seithero die leidige Spaltung der Religion eingeschlichen, haben die weltliche Churfürsten und mehrertheils Fürsten angefangen, nachdem sie die Key. May. in die Kirchen begleitet, alsbald wieder herauszugehen und [...] vor der Kirchen [...] zu warten.“1 Die evangelischen Fürsten und Städtevertreter wollten das politische Band mit dem katholischen Kaiser und den anderen katholischen Reichsständen nicht zerschneiden: Sie begleiteten das Reichsoberhaupt wie herkömmlich zur Feier des Hochamts in die Kirche – und verließen das Gotteshaus sogleich wieder, um nicht an der Messe teilnehmen zu müssen! Was wiegt stärker: Der offenkundige Wille zum mühsamen politischen Kompromiß oder der offensichtliche Riß mitten durch die Christenheit? Die Geschichte des westlichen Christentums ist seit dem 16. Jahrhundert immer auch die Geschichte seiner Spaltung und Getrenntheit. Nicht das erste Mal hatten innere Spannungen zu Konflikt und Abspaltung geführt – frühere derartige Bewegungen werden gleich zur Sprache kommen. Aber die dauerhafte Trennung der lateinischen Christenheit in mehrere Großkirchen und eine im Laufe der Neuzeit immer größer werdende Zahl kleinerer Kirchen und Gruppen entstand erst in Folge der Reformation. Nicht eine Kirche, sondern mehrere Konfessionskirchen, also Kirchen mit unterschiedlichem Bekenntnis (lat. confessio = Bekenntnis); nicht ein Glaube, sondern die Dissonanz der christlichen Konfessionen prägten Alltag und Politik der europäischen Neuzeit. Aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts betrachtet, überwiegen die Gemeinsamkeiten der großen Konfessionen des Westens eindeutig, wenn man sie mit den Ostkirchen, den orientalischen Kirchen, oder gar mit nichtchristlichen Religionen vergleicht. Aber historisch wirkmächtig waren im lateinischen Europa seit der Reformation vor allem die Unterschiede zwischen Katholiken, Lutheranern und Reformierten. Diese konfessionellen Unterschiede sind das Hauptthema dieses Kapitels; sie 1

Traktat über den Reichstag im 16. Jahrhundert. Eine offiziöse Darstellung aus der Kurmainzischen Kanzlei. Hgg. von Karl Rauch. Weimar 1905, S. 51f.

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Kirche(n), Konfessionen, Frömmigkeitsbewegungen | 6

wurden schon mehrfach gestreift und sind hier nun im Zusammenhang dargestellt, ebenso die Kirchenspaltungen des Mittelalters.

6.1 Kirchenspaltung und Ketzerei im Mittelalter Die europäischen Kirchen lassen sich in drei Richtungen einteilen: die römischkatholische Kirche; die reformatorischen Kirchen, die aus der Glaubensspaltung des 16. Jh.s und späteren Abspaltungen hervorgingen; die Ostkirchen, die sich selber als orthodoxe Kirchen bezeichnen (griech. orthodox = rechtgläubig).

6.1.1 Dauerhafte Spaltung: Lateinische Kirche und Ostkirche Die Trennung der lateinischen Kirche von den Ostkirchen wurde im Jahr 1054 vollzogen. Im Wesentlichen sind zwei Ursachen erkennbar: Erstens hatte sich seit langem eine kulturelle Kluft zwischen dem lateinischen Westen und dem griechischen Osten aufgetan; damit waren auch theologische Unterschiede verbunden.2 Zweitens hatte der Osten mit dem Zentrum Byzanz (Konstantinopel; heute: Istanbul) den päpstlichen Primat niemals anerkannt. Das war jahrhundertelang kein größeres Problem gewesen, zumal das Papsttum politisch schwach war und im 6./7. Jh. unter byzantinischer Schutzherrschaft stand. Ab der Mitte des 11. Jh.s änderte sich mit den Reformpäpsten die Lage. Sie betonten mit kirchenrechtlichen und historischen Argumenten den päpstlichen Primat, um Kirchenreformen durchsetzen zu können – z.B. gegen die Laieninvestitur, gegen reformunwillige Bischöfe und eben auch gegenüber der griechischen Kirche. Von diesen beiden strukturellen Ursachen – kulturelle Kluft und Primatsanspruch des Reformpapsttums – sind die Anlässe für das Schisma von 1054 zu unterscheiden; es gab z. B. einen Konflikt zwischen dem byzantinischen Kaisertum und dem Papst in Süditalien. Ferner unterdrückte Michael Kerullarios, der damalige Patriarch von Konstantinopel, zu Beginn der 1050er Jahre die lateinischen Kirchen und Klöster in Byzanz, flankiert von etlichen schriftlichen Beleidigungen. Als 1054 eine päpstliche Gesandtschaft kam, wurde ihr sogar verwehrt, die lateinische Messe zu feiern. Daraufhin vollzog der päpstliche Legat den Bruch: vor der versammelten Gemeinde legte er am 16. Juli 1054 die päpstliche Exkommunikationsbulle gegen den Patriarchen und dessen Anhänger auf den Hochaltar der Hagia Sophia, der Hauptkirche von Konstantinopel. Kerullarios seinerseits exkommunizierte vier Tage später den Legaten und alle, die ihn unterstützten. Streng genommen, bezog sich der gegenseitige Kirchenbann nur auf diese wenigen, exkommunizierten Personen. In der Praxis aber wirkten sich die Ereignisse 2

So etwa der Streit um das „filioque“ im Nizänischen Glaubensbekenntnis, knapp erläutert etwa bei Karl Suso Frank: Lehrbuch der Geschichte der Alten Kirche. Paderborn u.a. 1996, S. 259.

6.1 | Kirchenspaltung und Ketzerei im Mittelalter

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von 1054 mittel- und langfristig kirchentrennend aus, da, wie gesagt, die kulturelle und partiell theologische Entfremdung schon lange eine Realität gewesen war; nun war das Schisma da. Das griechische Wort Schisma bedeutet Spaltung, hier: Kirchenspaltung, verbunden mit wechselseitiger Exkommunikation. Aus katholischer Perspektive liegt ein Schisma vor, wenn die päpstliche Autorität nicht anerkannt und damit die kirchliche Gemeinschaft aufgehoben wird. Ein Schisma ist nicht dasselbe wie Ketzerei, diese betrifft die Abweichung in Glaubensfragen (s. Kap. 6.1.3.) Die Trennung von West- und Ostkirche von 1054 wird aus der Perspektive der lateinischen Christenheit als das Große Morgenländische Schisma bezeichnet (Morgenland = Osten). Im 13. und 15. Jh. gab es Versuche, das Schisma zwischen Rom und den Ostkirchen zu überwinden – gerade angesichts der Bedrohung durch die Osmanen, die 1453 schließlich Konstantinopel eroberten. Da diese und alle weiteren Bemühungen scheiterten, besteht die Trennung der orthodoxen Kirchen von Rom bis heute. In rechtlich-organisatorischer Hinsicht handelt es sich nicht um eine große Ostkirche, sondern die etwa 170 Millionen Gläubigen verteilen sich auf heute insgesamt 14 selbständige Kirchen, die jeweils unter der Leitung eines Patriarchen stehen, wobei der Patriarch von Konstantinopel einen gewissen Vorrang hat und als Ökumenischer Patriarch bezeichnet wird.

6.1.2 Vorübergehende Spaltung: Das Große Abendländische Schisma Während die Trennung der lateinischen Kirche von der Ostkirche bis heute besteht, endete das Große Abendländische Schisma nach vier Jahrzehnten. Wir haben es schon mehrfach gestreift: Ab 1378 gab es zwei Päpste – einen in Rom und einen in Avignon (bzw. Spanien); 1409 scheiterte auf dem Konzil von Pisa der Versuch, das Schisma beizulegen, weil der anstelle der beiden anderen Neugewählte keine allgemeine Anerkennung fand und nun also drei Päpste konkurrierten. Die Existenz von Gegenpäpsten war nichts Neues (vgl. Kap. 4.8.3.); das Papstschisma von 1378 zog sich so lange hin, weil neben Rom in Avignon eine konkurrierende Residenztradition entstanden war, und die weltlichen Mächte kontinuierlicher als zuvor in enger Verbindung mit den jeweiligen Päpsten standen: Frankreich hielt es natürlich mit dem Avignoneser Papst; folglich erkannte England, das gerade den Hundertjährigen Krieg mit den französischen Königen ausfocht, den Papst in Rom an, gehörte also zur römischen Obödienz (lat. oboedientia = Gehorsam). Der nüchtern-abstrakte Begriff der Obödienz kann allerdings das Ausmaß der Verwirrung nicht erfassen, die durch das Schisma ausgelöst wurde. Die Kirchentrennung bedeutete konkret die Verhängung von Exkommunikation und Interdikt über die Gegenseite, zerriss einzelne Diözesen, führte zur Spaltung der großen Orden. Dem Konzil von Konstanz (1414-1418) gelang es, das Große Abendländische Schisma zu beenden; es setzte alle drei amtierenden Päpste ab und sorgte dafür,

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daß 1417 mit Martin V. ein neuer, allseits anerkannter Nachfolger Petri gewählt wurde.

6.1.3 Die Ketzerbewegungen und die Inquisition des Mittelalters Das Große Abendländische Schisma hatte die Einheit der lateinischen Christenheit, nicht aber den gemeinsamen Glauben gefährdet. Einem Albtraum vergleichbar, wirkte es gewiß eine Weile nach, hinterließ aber zumindest äußerlich keine Spuren. Anders verhält es sich mit den Ketzerbewegungen des Mittelalters. Sie entstanden aus Gegensätzen in der Glaubenslehre, wurden teilweise blutig bekämpft und führten zu regional begrenzten, aber dauerhaften Abspaltungen von Rom – noch vor der Reformation. Das Wort Häresie (griech. hairesis = Wahl, Neigung) bezeichnet die willentliche Verfälschung der wahren Lehre. Häresie liegt noch nicht vor, wenn jemand in einem wesentlichen Punkt vom christlichen Glauben abweicht. Zum Häretiker wird er dann, wenn er sich hartnäckig der Belehrung zum Besseren widersetzt, also willentlich die Wahrheit ablehnt; er wird heterodox (griech., irrgläubig), d.h. das Gegenteil von orthodox. Ein anderes Wort für Häresie ist Ketzerei, ein Ketzer ist also ein Häretiker. Weil Ketzerei als willentliche Abweichung vom christlichen Glauben verstanden wird, können nur Christen zu Ketzern werden. Der Vorwurf der Häresie richtet sich niemals gegen Ungläubige oder Angehörige anderer Religionen, sondern nur gegen Getaufte. Im Frühmittelalter hören wir von Ketzerei kaum etwas. Die Kenntnis vom christlichen Glauben war meist noch so gering, daß Häresien praktisch unmöglich waren. Erst Anfang des 11. Jh.s gibt es in den Quellen Hinweise auf kleine Ketzergruppen: das war – so paradox es klingt – wohl ein indirekter Erfolg der christlichen Mission. Zuständig für Häresie waren die Bischöfe. Sie wußten aber überwiegend einfach nicht, wie sie mit Ketzern umgehen sollten; es fehlten die theologischen und rechtlichen Grundlagen. Manche plädierten für Geduld und äußerstenfalls für die Exkommunikation, andere für Zwangsmaßnahmen, also etwa die Verbannung. Häufig versuchte man, mit einem Gottesurteil weiterzukommen. Die tatsächlichen oder vermeintlichen Ketzer legten einen Reinigungseid ab, d.h. sie schworen, niemals etwas gegen den christlichen Glauben gelehrt oder geglaubt zu haben. Danach schritt man zum Gottesurteil, etwa mittels der Wasserprobe: In Frankreich wurden ein gewisser Clementius und einige seiner Anhänger zu Anfang des 12. Jh.s nach Empfang der Kommunion ins Wasser geworfen. Sie schwammen oben. Das hieß: sie waren schuldig. Was nun? Der Bischof und die Geistlichen reisten ab, um ein Provinzialkonzil zu konsultieren. Unterdessen aber nahm das Volk die Sache selber in die Hand: Clementius und seine Anhänger wurden ohne viel Federlesens verbrannt. Ähnliche

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Fälle von Lynchjustiz waren nicht selten; die erregte Menge schlug Ketzer als „ein unberechenbares soziales und [...] metaphysisches Sicherheitsrisiko“3 einfach tot oder verbrannte sie. Im 12. Jh. entstanden Ketzerbewegungen, die an manchen Orten viele Anhänger gewannen. Seit der Mitte des 12. Jh.s gab es die Katharer (griech. katharoi = die Reinen) als eine neue Religionsgemeinschaft, die mit dem christlichen Glauben nicht mehr viel zu tun hatte. Die christlichen Sakramente wurden vollständig abgelehnt. Grundlegend für die Katharer war ein dualistisches Weltbild, d.h. die Welt wurde verstanden als der Kampfplatz zwischen Gott und einem gleich starken, bösen Gegengott. Parallel dazu betonten sie, alles Körperlich-Materielle sei böse, gut sei nur das Geistige. Konsequent lehnten die Katharer Sexualität, Ehe und den Verzehr aller Speisen ab, die in irgendeiner Weise durch Zeugung entstanden waren. Frauen galten als „Personen des Verderbens“. Die Katharer strebten eine rein geistige Existenz an und standen daher in krassem Gegensatz zum jüdisch-christlichen Verständnis von Schöpfung und Erlösung. In der Praxis verwirklichte einstweilen nur der harte Kern der Katharer ihre Reinheitsideale. Ihre Hochburg war um 1200 das heutige Südfrankreich. Die Waldenser entstanden ab den 1170er Jahren im Zuge der Armutsbewegung. Der Name geht zurück auf Petrus Waldes († ca. 1205), einen Kaufmann aus Lyon. Er ließ sich die Bibel in seine Muttersprache, das Provenzalische, übersetzen, und propagierte die vollkommene Armut als Kennzeichen wahrer Christusnachfolge. Als Wanderprediger zog er durch’s Land und seine Anhänger in der Provence und Norditalien taten es ihm gleich; dadurch gerieten sie in Konflikt mit dem Predigtverbot für Laien. Ihre Exkommunikation 1184 beruhte auch nicht auf dem Vorwurf der Häresie i.e.S., sondern darauf, daß sie nicht aufhörten zu predigen. „Man könnte salopp [...] formulieren, die Waldenser wurden nicht wegen einer Irrlehre verurteilt, sondern als notorische Chaoten.“4 Nach 1184 wurden sie allerdings teilweise heterodox, indem sie z.B. die Fürbitte für Verstorbene ablehnten und Kriegsdienst sowie Eidesleistung als unvereinbar mit der Nachfolge Christi ansahen. Die beiden letzten Punkte sind typisch für viele häretische Gruppen: Sie bezogen sich auf Worte Jesu in der Bergpredigt (Mt 5,33-42), die wortwörtlich verstanden wurden; entscheidend für den Vorwurf der Ketzerei seitens der Kirche war dabei, daß die Waldenser diese radikale Auslegung als einzig mögliche ansahen, mithin alle, die sie nicht teilten, nach ihrer Ansicht nicht als wahre Christen galten. Die Waldenser erkannten aber nach wie vor Taufe, Herrenmahl und Buße als Sakramente an. Waldenser und Katharer unterschieden sich also stark voneinander; beide jedoch waren um 1200, besonders in Norditalien und Südfrankreich zu unüberseh3

4

Heinz Finger: Häresie und Endzeiterwartung im mittelalterlichen Rheinland. In: Endzeitvorstellungen. Hgg. von Barbara Haupt. Düsseldorf 2001, S. 251-270, hier S. 260. Ebd., S. 265.

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baren Bewegungen geworden. Wie sollte man sich ihnen gegenüber verhalten, da der bislang übliche, uneinheitliche Umgang mit Ketzern (der von Nichtbeachtung über Nachsicht, die Androhung der Exkommunikation und deren Vollzug bis zu Gottesurteilen und Lynchjustiz reichte) offensichtlich erfolglos blieb? Im Fall der Waldenser trug in der ersten Hälfte des 13. Jh.s das Vorbild und die Predigt der entstehenden Bettelmönche entscheidend dazu bei, daß viele von ihnen sich mit der Kirche aussöhnten. Die übrigen bildeten in einigen Tälern der Westalpen eine eigene Kirche; darüber hinaus gibt es im Spätmittelalter spärliche Nachrichten von der Existenz und Verfolgung kleiner Waldensergruppen in Mitteleuropa. Die Waldenser in den Westalpen schlossen sich im 16. Jh. der Reformation Calvins an. Heutzutage umfaßt die Waldenserkirche Italiens (Chiesa Evangelica Valdese) ca. 45.000 Mitglieder. Anders als die Waldenser waren die Katharer weder für Predigten empfänglich noch hatte die Exkommunikation als einziges reguläres kirchliches Zwangsmittel Erfolg: Da sie die Kirche ohnehin ablehnten, wollten sie auch nicht zu ihr zurückkehren. Nach der Ermordung eines Legaten rief Papst Innozenz III. im Jahr 1208 zum Kreuzzug gegen die Katharer oder Albigenser auf – die Stadt Albi im Languedoc war ein Zentrum der Katharer. Die zwischen 1209 bis 1229 durchgeführten Albigenserkreuzzüge eskalierten schnell zu einem brutalen Eroberungskrieg des nordfranzösischen Adels. Nach dem Ende dieser Kriege wurde für den Kampf gegen die verbleibenden Katharer der Inquisitionsprozess (lat. inquirere = aufspüren, aufsuchen) eingeführt. Ursprünglich für Verfahren gegen Geistliche entwickelt, gab es damit ein formelles Gerichtsverfahren gegen diejenigen, die man der Häresie verdächtigte. In der Mitte des 13. Jh.s entwickelte sich aus der Inquisition als Verfahren die Einrichtung der Inquisition als Institution. Ursprünglich waren die Inquisitoren, oft Dominikaner, lediglich Gehilfen des Bischofs gewesen, nun wurden sie selbständig urteilende Richter und standen Sondergerichten vor. Die Arbeitsweise der Inquisitoren im 13./14. Jh. sah üblicherweise so aus: Sie wurden vom Papst oder dem zuständigen Bischof beauftragt, einen bestimmten Ort aufzusuchen. Kamen sie dort an, so begannen sie mit einer Predigt. Diese zielte einerseits auf Umkehr, andererseits auf die Anzeige Verdächtiger. Es folgte eine Gnadenfrist zwischen zwei Wochen und 40 Tagen, in der man durch Selbstanzeige und Reue zur Kirche zurückzukehren konnte. Kam es zum Prozeß, so waren mindestens zwei glaubwürdige Zeugen nötig, damit auf schuldig erkannt werden konnte. Der Angeklagte durfte sich verteidigen; allerdings wußte er in der Regel nicht, wer ihn beschuldigte! Seit Mitte des 13. Jh.s war auch die Folter als Mittel der Wahrheitsfindung erlaubt, obgleich sie nur im Ausnahmefall Anwendung fand. Die Folter kam deshalb hinzu, weil die weltlichen Obrigkeiten Ketzerei zunehmend als Hochverrat auffaßten und deshalb das entsprechende weltliche römische Recht angewandt sehen wollten. Am Ende des Inquisitionsprozesses stand das Urteil und damit der Freispruch oder eine Strafe, die sich danach richtete, als wie schwerwiegend die Häresie angesehen

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wurde. Üblich waren Bußstrafen wie das Tragen eines auf der Kleidung aufgenähten Kreuzes. Die Quote der Hinrichtungen unter den Strafen läßt sich nicht mehr ermitteln; sie lag jedenfalls im einstelligen Bereich, im Fall der genau untersuchten Tätigkeit des Inquisitors Bernard Gui in Südfrankreich von 1308 bis 1323 machte sie etwa 5 % aus.5 Die Vollstreckung des Urteils wurde der weltlichen Obrigkeit übertragen, weil die Kirche keine Blutgerichtsbarkeit ausübte und Ketzerei, wie gesagt, als Hochverrat galt. Die Inquisition in Südfrankreich trug zum Ende der Katharerbewegung bei. Die meisten Todesfälle unter den Katharern kamen allerdings dadurch zustande, daß sie sich, um rein zu bleiben, buchstäblich zu Tode hungerten.6 Die Inquisition des 13./14. Jh.s war weder vom Vorgehen noch von den Opferzahlen her die Vernichtungsmaschinerie, als die sie in manchen Romanen erscheint. Verglichen mit Gottesurteilen und Lynchjustiz war ein geregeltes Verfahren sogar ein Fortschritt. Gleichwohl widersprach ihre Tätigkeit natürlich den christlichen Maßstäben. Zu erwähnen sind hier die neuzeitlichen Inquisitionsbehörden, unter denen die Spanische Inquisition die bekannteste ist. Sie wurde ab den 1480er Jahren als weltliche Institution aufgebaut und in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens vor allem gegen die conversos, Christen jüdischer Herkunft, eingesetzt, die man verdächtigte, insgeheim weiterhin dem jüdischen Glauben anzuhängen. Es wurden rund 2.000 Todesurteile gefällt. Seit etwa 1560 ging die Spanische Inquisition vornehmlich gegen die Morisken (span. moriscos) vor, Christen moslemischer Herkunft, von denen bis 1609 etwa 200 hingerichtet wurden. Die Spanische Inquisition jener Zeit zeigt die enge Verflechtung politischer und religiöser Interessen: Die spanische Krone betrieb die Verfolgung der mutmaßlichen Häretiker als Hochverräter, um Bevölkerungsgruppen zu disziplinieren, bei denen sie religiös fundierte Illoyalität vermutete. Der schlechte Ruf gerade der Spanischen Inquisition und die phantastischen Opferzahlen gehen auf die antispanische Propaganda des konfessionellen Zeitalters zurück, die im 19. Jh. aufgewärmt wurde. Die letzte große vorreformatorischen Häresiebewegung war die der Hussiten in Böhmen. Sie leiten sich ab von Johannes Hus (ca. 1369-1415), der von waldensischen Lehren beeinflußt war. Vor allem aber bezog Hus sich auf den Engländer John Wyclif (ca. 1320-1383). Dieser hatte Pfründenhandel, Heiligenverehrung, Papsttum und Konzilien als nicht der biblischen Lehre entsprechend kritisiert. Hus, Priester und zugleich Lehrer an der Prager Universität, predigte und setzte sich für Kirchenreformen ein, wobei er seine Kritik am Papsttum im Lauf der Zeit immer mehr verschärfte. Auch forderten er und seine Anhänger den Laienkelch: Die Gläubigen sollten bei der Eucharistiefeier nicht nur die Hostie, sondern auch 5

6

Arnold Angenendt: Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert. Münster (3. durchges. Aufl.) 2007, S. 271f. Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997, S. 199.

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den Kelch gereicht bekommen, also das Herrenmahl sub utraque specie (lat.: unter beiderlei Gestalt). Hus verstand sich selbst als rechtgläubig katholisch und appellierte an das Konzil von Konstanz. Dort wurde er jedoch inhaftiert, ohne hinreichende Verteidigungsmöglichkeit als Ketzer verurteilt und, da er nicht widerrief, im Juli 1415 verbrannt. Bereits zu Hus’ Lebzeiten, aber noch verstärkt in den folgenden Konflikten spielte neben der religiösen Dimension der kulturell-sprachliche Gegensatz zwischen Tschechen und Deutschen in Böhmen eine wichtige Rolle. Hus’ Anhänger teilten sich in zwei Hauptrichtungen: Die gemäßigten Utraquisten, deren Hauptforderung der Laienkelch war, und die radikale Gruppe der Taboriten (benannt nach der südböhmischen Stadt Tabor), welche die bestehende Kirche völlig ablehnte und nur das AT als Richtschnur christlichen Lebens anerkannte. Es kam zu den Hussitenkriegen 1419-1437 – auf der einen Seite ausgelöst durch einen päpstlichen Aufruf zum Kreuzzug gegen die Hussiten, auf der anderen Seite durch die Absicht der Taboriten, ihre Vorstellung vom Gottesreich mit Gewalt durchzusetzen. Am Ende wurde den Utraquisten der Laienkelch und eine gewisse Eigenständigkeit neben der römisch-katholischen Kirche zugestanden. Um 1460 entstanden aus ihnen heraus die Böhmischen Brüder (Brüderunität), die sich im 16. Jh. eng an die Reformation anlehnte. Heute gehören der hussitischen Kirche und den Böhmischen Brüdern zusammen ungefähr eine Viertelmillion Gläubige an. In der tschechischen Nationalbewegung nach 1848 wurde Hus als politische Symbolfigur gegen die deutschen Habsburger verehrt; 1925 erhob man in der Tschechoslowakischen Republik seinen Todestag zum Staatsfeiertag, der bis heute in Tschechien begangen wird.

6.2 Die Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts und die frühneuzeitlichen Konfessionskirchen Weder die kleinen Waldensergruppen in ihrem alpinen Rückzugsgebiet noch die weitgehend auf Teile Böhmens beschränkten Hussiten gefährdeten letztlich die Einheit der lateinischen Kirche. Diese zerbrach erst im 16. Jahrhundert im Gefolge der reformatorischen Bewegung. Lange Zeit wurde die Reformation als etwas ganz Neues und Anderes angesehen, als vollständiger Bruch mit dem Spätmittelalter. Besonders im protestantischnationalen Geschichtsbild des 19. Jahrhunderts hob sie sich ebenso schroff wie strahlend vom katholischen „finsteren Mittelalter“ ab. Doch vollständige Brüche in der Geschichte sind äußerst selten. Bei näherem Hinsehen fügen sich viele Elemente der Reformation in ein Phase kirchlicher und weltlicher Reformanstrengungen vom 15. bis 17. Jh. ein. Reformatio war ein vielgenutztes Schlüsselwort des 15. Jh.s, mit dem Veränderungen in Kirche und Gesellschaft angestrebt wurden: am besten läßt es sich entsprechend der lateinischen Grundbedeutung mit „Wie-

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derherstellung“ übersetzen. Zwar scheiterte die von den Konzilien des 15. Jh.s angestrebte Reform der Kurie. Aber auf lokaler und regionaler Ebene lassen sich kleine Erfolge verzeichnen: So besann man sich die Observanzbewegung in den Orden auf die alten Regeln (s. Kap. 5.4.) – Luther gehörte einem solchen observanten Ordenszweig an. Tatkräftige Bischöfe bemühten sich um eine bessere Bildung und Lebensführung der Pfarrer ihrer Diözesen; dabei ragten die seit Ende der 1470er Jahre betriebenen Reformen in Spanien heraus. Landauf, landab stifteten Laien Prädikaturen, damit mehr und besser gepredigt wurde (s. Kap. 3.2.). Verinnerlichte Frömmigkeit und praktische Nächstenliebe ging u.a. von der nordwestdeutsch-niederländischen Devotio moderna aus (s. Kap. 2.4.3.). Das neue Medium des Buchdrucks erlaubte eine ungeahnte Verbreitung religiöser Literatur. Die Zahl der Gebildeten wuchs mit der Gründung neuer Universitäten im 15. Jh. – im römisch-deutschen Reich waren das so prominente Hochschulen wie Tübingen und Rostock – und der Eifer für eine nach christlichen Maßstäben geordnete und verbesserte Gesellschaft ist unübersehbar. Das gilt gerade für das Europa nördlich der Alpen, wo der Bibelhumanismus um 1500 aufblühte; Erasmus von Rotterdam sei als der bekannteste Vertreter dieser Richtung genannt. Kurz: An Bemühungen um die Reform von Kirche und Gesellschaft fehlte es nicht, auch wenn sie nicht alle erfolgreich waren.

6.2.1 Luthers Reformation In diesen Zusammenhang von Reformbemühungen gehörte anfänglich auch die Kritik des Augustinermönchs Martin Luther (1483-1546) an der Praxis des Ablaßhandels. Als er Ende Oktober 1517 seine 95 Thesen zum Ablaß in lateinischer Sprache veröffentlichte – ob er sie an die Tür der Wittenberger Schloßkirche anschlug, ist nicht gewiß; jedenfalls verschickte er sie an eine Reihe geistlicher Würdenträger – entsprach dies zunächst ganz dem Rahmen gelehrter Streitkultur, den man bei einem engagierten Seelsorger und Professor für Bibelauslegung an der kursächsischen Landesuniversität Wittenberg erwarten konnte. Luther war nicht der erste, der die gängige Ablaßpraxis kritisierte, weil sie seiner Meinung nach der echten Reue entgegenstand, für welche die Buße ein Zeichen sein sollte (s. Kap. 7.5.4.). Doch der Ablaßstreit gewann binnen kurzer Zeit eine erhebliche Eigendynamik und erweiterte sich zum Grundsatzstreit um das Verständnis der Kirche und den Weg zum Heil. Luthers Dreh- und Angelpunkt war die Frage nach dem Weg zum ewigen Heil: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ Gängig war die Auffassung, das Heil sei erreichbar durch ein Zusammenwirken der göttlichen Gnade in Gestalt der Sakramente einerseits, und der menschlichen Bemühungen, sprich: Frömmigkeitsübungen und gute Taten, andererseits. Selbstverständlich kam dabei der Gnade der Hauptanteil zu. Wie viel Eigenleistung des Menschen nötig war, ließ sich nicht genau sagen, doch ging man üblicherweise davon aus, daß dem Menschen, der

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sich ernsthaft bemühe, Gott die Gnade nicht verweigern werde. Für die meisten Gläubigen reichte diese gut begründbare, pragmatische Antwort offenbar aus. Luther, der die eigene Sündhaftigkeit und Gottesferne zutiefst empfand, reichte sie nicht: Hatte er ernsthaft genug das Gute gewollt? Hatte er wirklich getan was er konnte? – das waren die Fragen, die ihn quälten. Zur existentiell erlebten Befreiung wurde für ihn ein neues Verständnis von Gnade, das er vor allem aus der Lektüre des Römerbriefs gewann: Es sei, wie er 1520 in der Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ formulierte, eine vollkommen „vorkerete meynung [...] / das durch die werck / wir frum vnd selig werden wollen“. Nicht durch die „werck“, also die guten Taten, sondern ausschließlich „die gnad gottis / die allein durch den glauben frum vnd seligk macht“7, könne der Mensch zum Heil gelangen. Diese Gnade schenke Gott dem Menschen aus freien Stücken. Verdichtet findet sich dieser Grundgedanke in der lateinischen Formulierung sola gratia (allein durch die Gnade). Der Mensch empfängt diese Gnade nur durch den Glauben – sola fide (lat., allein durch Glaube) – daran, daß Gott sie ihm schenkt und dadurch den Sünder gerecht macht. Der für Luther zentrale Begriff der Gerechtigkeit Gottes ist nicht als eine Charaktereigenschaft Gottes zu verstehen, sondern als Qualität, die Gott dem sündigen Menschen aus Gnade schenkt: Durch sie wird der Zugang zum Heil möglich. Für die reformatorische Rechtfertigungslehre sind also die Prinzipien des sola gratia und des sola fide zentral. Die ewige Seligkeit, der Himmel, das Heil – erreichbar ausschließlich durch das Vertrauen, den Glauben an die Gnade Gottes! Die vielen Formen spätmittelalterlicher Frömmigkeit verloren damit ihre Bedeutung, waren nach Luther gar schädlich, da sie die Illusion nährten, das Seelenheil auf diese Weise erwerben zu können. Selbstverständlich blieben die Taten der Nächstenliebe die Kennzeichen eines christlichen Lebens – sie waren aber die Folge der bereits erhaltenen Gnade und Rechtfertigung, nicht etwa Bedingung für ihren Erwerb. In dieser Zuspitzung und radikalen Vereinfachung des Wegs zum Heil lag offenbar eine erhebliche Anziehungskraft der Botschaft Luthers. Zum Erfolg des Reformators trug eine zweite Zuspitzung bei: Als Grundlage der Erkenntnis über den Weg zum Heil diente dem Reformator nach eigenem Verständnis allein die Bibel – sola scriptura (lat., allein die Schrift). Die Auslegungstradition, also die Schriften der Kirchenväter, sollte ebenso wie die Lehrautorität des Papstes und der Konzilien den Aussagen der Heiligen Schrift – dem Schriftprinzip – untergeordnet werden. zwar läßt sich das Schriftprinzip in der Praxis der Bibelauslegung kaum durchhalten; in den Auseinandersetzungen der Reformationszeit erwies sich die Einführung dieses einfachen und einleuchtenden Kriteriums aber als argumentative Wunderwaffe. Das wird z.B. erkennbar an Luthers Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ von 1520. Anders als die meisten seiner Publikationen war diese Flugschrift nicht primär auf die Frage nach dem Heil ausgerichtet; stattdessen forderte Luther äußere Reformen in 7

Cl 2, S. 23.

6.2 | Die Glaubensspaltung

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Kirche, Gesellschaft und Politik, durchzuführen durch die weltlichen Herren und ein Konzil. Ein erster, kürzerer Teil richtet sich gegen die aktuelle Gestalt des Papsttums, u.a. gegen die päpstliche Lehrautorität: Dagegen „wollen wir die schrifft her bringen“ setzt Luther mit der Kritik an, und beendet sie mit der Feststellung, die kurialen Würdenträger könnten „keinen buchstaben [der Bibel] auffbringen / mit dem sie bewerenn [= beweisen] / das [es] des Bapsts allein sey, die schrifft außtzulegen odder yhr außlegung zubestetigenn.“8 Die vielen im Anschluß daran vorgebrachten Kritikpunkte und Reformforderungen stehen eher unverbunden nebeneinander; zusammengehalten werden sie durch das immer wieder aufgerufene Prinzip des sola scriptura – die Bibel als Beurteilungsmaßstab für den Zustand von Kirche und Welt! „Viele Teilaspekte des Ganzen sind nicht neu,“ urteilt der Erlanger Kirchenhistoriker BERNDT HAMM über die Kernaussagen Luthers und der Reformation. In der Tat lassen sich die meisten bereits vor dem Wittenberger Reformator finden. „Neu aber ist das Ganze in seiner Mischung von Alt und Neu“ – die leidenschaftliche Konzentration auf das sola gratia-Prinzip und auf die Bibel als alleinige Norm in Verbindung mit der Abwertung oder Ablehnung anderer, bislang hochgeschätzter Frömmigkeitsformen. Diese durch Konzentration und Selektion vorgenommene Neugewichtung „verursachte [...] die Spaltung der westlichen Christenheit und war [...] in die erstaunliche Pluralität der alten Kirche nicht mehr integrierbar.“9 So sehr also Luther und die Reformation in den großen Kontext eines Reformzeitalters hineingehören, so sind doch die Veränderungen und Brüche in Glaubenslehre und Frömmigkeit unübersehbar, welche die reformatorische Bewegung mit sich brachte. Anfang Januar 1521 wurde Luther exkommuniziert, im Mai desselben Jahres verfiel er durch Karls V. Wormser Edikt der Reichsacht. Doch seine Gedanken hatten bereits in zahlreichen Schriften Verbreitung gefunden. Im Jahr 1520, dem Höhepunkt seiner publizistischen Wirksamkeit, hatte er 900 Druckseiten veröffentlicht, verteilt auf 27 neue Schriften, von denen 270 Auflagen erschienen: die Gesamtauflage betrug eine halbe Million Exemplare!10 Nicht nur der Inhalt, sondern auch die lebendige, anschauliche Sprache, in der Luther vortrug, was ihn bewegte, sicherte ihm Zustimmung in breiten Schichten und viele Anhänger, die in seinem Sinne predigten und lokal wirkten. Die reformatorische Bewegung gewann in Verbindung mit politischen Interessen der Obrigkeiten und teilweise auch sozialen Bewegungen ein Ausmaß, das in den 1520er und 1530er Jahren in nicht wenigen Regionen des römisch-deutschen Reiches zum Zusammenbruch des bestehenden Kirchenwesens führte. 8 9

10

Cl 1, S. 370f. Berndt Hamm: Wie innovativ war die Reformation? In: Zeitschrift für historische Forschung 27 (2000), S. 481-497, hier S. 496. Johannes Burkhardt: Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517-1617. Stuttgart 2002, S. 44.

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Auch außerhalb des Reiches fand Luther ein Echo, doch blieb es meist auf kleine, gebildete Schichten beschränkt.

6.2.2 Die großen evangelischen Konfessionen Ohne Luther keine Reformation. Dennoch läßt sich die Entfaltung der Reformation keineswegs auf die Wirkung des Wittenbergers beschränken. Die reformatorische Bewegung inner- und außerhalb des Reiches war in sich durchaus heterogen: Schon in der ersten Hälfte der 1520er Jahre traten deutliche Unterschiede zwischen Luther einerseits und kleineren, radikalen Gruppen andererseits hervor, deren Verständnis christlicher Gemeinschaft auf den völligen Bruch mit der existierenden Gesellschaft und die Errichtung einer heiligen Gegenwelt hinauslief (s. Kap. 6.2.7.). Des weiteren wandten sich manche Humanisten, die Luther anfangs unterstützt hatten, von ihm ab, weil sie den Weg zur Spaltung der Kirche (die Luther keineswegs beabsichtigt hatte) nicht mitgehen wollten. Zwischen diesen Extremen finden wir die in Zeiten des Umbruchs übliche Vielfalt. Sieht man erst einmal von den kleineren Kirchen und Gruppen ab, so bildeten sich insgesamt drei große reformatorische Konfessionen in Europa: – Die Lutheraner: Ihre zentrale Bekenntnisschrift ist die Confessio Augustana (lat., Augsburger Bekenntnis, abgekürzt: C.A.) von 1530. Dieses Augsburger Bekenntnis wurde im Wesentlichen durch Philipp Melanchthon, den engsten Mitarbeiter Luthers verfaßt. – Die Reformierten / Calvinisten: Zur reformierten Konfession zählen die Anhänger des Zürcher Reformators Ulrich Zwingli (1484-1531) und des Franzosen Johannes Calvin (1509-1564), der jahrzehntelang in Genf wirkte: daher werden die Reformierten auch Calvinisten genannt, vor allem außerhalb des deutschen Sprachraums. In Frankreich ist auch die Bezeichnung Hugenotten gängig. Zu den wichtigsten Bekenntnisschriften der Reformierten zählt die französische Confession de Foy (Confessio Gallicana) von 1559 und die niederländische Confessio Belgica von 1561, die beide wesentlich von Calvins Theologie geprägt sind. – Die Anglikaner in England (s. Kap. 6.2.6.). Die reformatorischen Konfessionen werden in Abgrenzung von Katholizismus und Ostkirchen unter dem Sammelbegriff Protestantismus zusammengefaßt. Der Begriff leitet sich von einem Ereignis auf dem Reichstag zu Speyer von 1529 her. Nachdem auf einem Reichstag am gleichen Ort im Jahr 1526 das Wormser Edikt gleichsam außer Kraft gesetzt worden war, sollte es nun durch Mehrheitsbeschluß wieder gültig sein. Dagegen legte eine reformatorisch gesonnene Minderheit, fünf Fürsten und 14 Reichsstädte, in Form einer protestatio, einer üblichen Art der Rechtsverwahrung, öffentlichen Widerspruch ein. Ebenfalls gängig ist die Sammelbezeichnung „evangelisch“ für die reformatorischen Konfessionen. Sie geht zurück auf die im Selbstverständnis der Protes-

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tanten betonte Konzentration auf das Evangelium von Jesus Christus. In den Jahren der Reformation war die Forderung nach der Predigt des „reinen Evangeliums“ ein Schlüsselbegriff, zu verstehen in polemischer Abgrenzung von der tatsächlichen oder vermeintlichen Abweichung der katholischen Kirche von der Bibel – auch hier wird wiederum das Schriftprinzip erkennbar!

6.2.3 Die Erneuerung der „alten“ Kirche: Das Konzil von Trient (Tridentinum) Mit der Entstehung der evangelischen Konfessionen wandelte sich auch die Stellung der katholischen Kirche: Ursprünglich eine fast das gesamte lateinische Europa umfassende Kirche, war sie nun eine untere mehreren Konfessionskirchen, wahrte allerdings aufgrund ihrer Struktur und ihres theologischen Selbstverständnisses am ehesten einen universalen Charakter. Wesentlich für ihre Behauptung und Neuformierung wurde das Konzil von Trient (Tridentinum). Seitdem in den 1520er Jahren die Dimensionen der von Luther angestoßenen Bewegung erkennbar wurden, wurde die Forderung nach einem Konzil, das den Streit beilegen und die nötigen Reformen beschließen sollte, laut.Vor allem politische Ursachen führten dazu, daß dieses Konzil erst Ende 1545 in Trient zusammentrat. Es ist bezeichnend für die bereits entstandene Kluft, daß die evangelischen Reichsstände und Theologen es fast ausnahmslos ablehnten, unter Leitung des Papstes bzw. seiner Legaten zu verhandeln. Wahrscheinlich war es zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr möglich, die Einheit der lateinischen Kirche zu retten, so daß das Tridentinum zum ersten allgemeinen Konzil der katholischen Kirche im neuzeitlich-konfessionellen Sinne wurde. Die versammelten Bischöfe und Theologen nahmen sich ausdrücklich vor, sowohl klarzustellen, was der christliche Glaube sei, als auch durch Beseitigung von Mißständen eine wesentliche Ursache des Glaubensstreites beizulegen. Das zeitweise nach Bologna verlegte Konzil tagte in drei Sitzungsperioden (1545-1548, 1551/52, 1562/1563). In der letzten wurden die wichtigsten Reformdekrete verabschiedet. U.a. wurde festgelegt, daß in jedem Bistum ein Priesterseminar zu errichten sei; jeder Bischof sollte künftig zwei Diözesansynoden im Jahr abhalten, u.a. für die Weiterbildung des Weltklerus. Außerdem wurde die Anhäufung von Pfründen beschränkt und man schärfte den Bischöfen ihre Pflichten ein, namentlich die Residenzpflicht. Die Rechte des Bischofs im Hinblick auf die Auswahl und Kontrolle der Pfarrer wurden gestärkt. Beschlüsse zur Verbesserung des Ordenslebens kamen hinzu. Insgesamt zielten die Reformdekrete darauf ab, eine fähige, gut gebildete Geistlichkeit zu schaffen, die ihre Aufgabe in Kultus und Seelsorge besser als bisher erfüllen und den Laien auf vorbildliche Weise dienen konnte. Neben der Klerusreform stand, wie gesagt, die Klärung von Lehrfragen im Mittelpunkt der Konzilsberatungen. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Konzil in dieser Hinsicht den Kurs einer „Beibehaltung der Tradition bei einigen

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Korrekturen“11 verfolgte. Bereits 1547 wurde das Dekret über die Rechtfertigung verabschiedet; die Gnade Gottes, die dem Sünder Rechtfertigung und damit das Heil bringt, wurde betont, ebenso die Bedeutung des Glaubens; zugleich wurde gegen die reformatorische Zuspitzung des sola fide und sola gratia festgehalten, daß der Gläubige sich aufgrund der ihm in den Sakramenten zugeeigneten Gnade Gottes durch gute Werke auf die Rechtfertigung vorbereiten und auf diese Weise in gewissem Umfang an der Erlangung der Gnade mitwirken könne. Ferner hielt man an der Siebenzahl der Sakramente fest. Jeder, der von nun an ein geistliches Amt antrat, mußte die professio fidei Tridentina (lat. Bekenntnis des tridentinischen Glaubens) ablegen. Nach Ende des Konzils führte die Kurie einige Aufgaben zu Ende, die in Trient nicht mehr hatten erledigt werden können: 1570 wurde das neue Meßbuch veröffentlicht, das Missale Romanum, das die Feier des Gottesdienstes einheitlich regelte und bis 1970 in Kraft blieb. Die im Tridentinum vorgenommenen Präzisierungen des kathoischen Glaubens fanden ihren Niederschlag im Catechismus Romanus von 1566. Beide prägten die Gestalt des neuzeitlichen Katholizismus. Die Bedeutung des Konzils von Trient liegt nicht nur in seinen zahlreichen Einzelbeschlüssen, die z.T. mit großer zeitlicher Verzögerung und auch kaum vollständig verwirklicht wurden. Vielleicht wichtiger war die Tatsache, daß das Konzil überhaupt zustande kam und insgesamt zu einem Ergebnis führte, das die bereits existierenden Reformansätze verstärkte. Die Klärung von Lehrfragen diente der Abwehr und Abgrenzung gegenüber den reformatorischen Strömungen ebenso sehr wie der Selbstvergewisserung und Einheit einer in die Defensive geratenen Kirche. Gerade dieser stabilisierende Aspekt nach Jahrzehnten eines beispiellosen Niedergangs ist kaum zu überschätzen. Um 1600 ist tatsächlich vielfach ein neues Selbstbewußtsein der katholischen Kirche erkennbar.

6.2.4 Katholizismus – Luthertum – Calvinismus: die wichtigsten Unterschiede und Streitpunkte Trotz vieler Gemeinsamkeiten waren sich die protestantischen Kirchen in etlichen Punkten doch auch uneinig. Die Anglikanische Kirche spielte aufgrund der englischen Insellage in diesen innerprotestantischen Konflikten keine große Rolle. Doch die Auseinandersetzungen zwischen Lutheranern und Calvinisten auf dem Festland kamen im 16./17. Jh. an Schärfe denen mit dem gemeinsamen katholischen Gegner oft gleich. Einen Überblick über die Streitpunkte zwischen Katholizismus, Luthertum und Calvinismus gibt ein deutsches illustriertes Flugblatt, das 1617 erschien. 11

Gerhard Müller: Tridentinum. In: TRE 34 (2002), S. 62-74, hier S. 71.

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Abb. 12: Bildteil des Flugblatts „Geistlicher Rauffhandel“, 1617 (Ausschnitt)

Das Flugblatt besteht aus einem Textteil – dazu gleich – und einem zweigliedrigen Bildteil. Auf dem linken Bild ist der Innenraum einer Kirche zu sehen. In der Mitte erblickt man den Hochaltar, rechts eine Kanzel, ferner links und rechts Kirchenfenster. Im Vordergrund sind drei Personen vor dem Altarraum im Handgemenge begriffen. Die Bildunterschriften machen klar, wer sie sein sollen, falls der Betrachter sie nicht ohnehin erkennt: Luther, Papst, Calvinus. Luther zieht den Papst am Ohr oder am Haar und Calvin am Kinnbart; der Papst in der Mitte zieht die beiden anderen an den Haaren; Calvin zerrt am Schläfenhaar des Papstes, in der Linken hält er mit einer Drohgebärde die Bibel. Die hier nicht abgedruckte Bildüberschrift bringt das Geschehen auf den Punkt: „Geistlicher Rauffhandel. O schaw doch wunder mein lieber Christ / Wie der Bapst, Luther und Calvinist / Einander in die Haar gefallen / Gott helffe den Verirrten allen.“ Dem Streit der drei wird im hier nicht abgedruckten rechten Bild die „fromme Einfalt“ in Gestalt eines Schafhirten gegenübergestellt; er kniet betend draußen auf dem Feld, die Kirche ist nur im Hintergrund zu sehen. „Der Herr ist mein Hirte, mir

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wird nichts mangeln,“ wird einer der bekanntesten Psalmverse zitiert (Ps 23,1). Dem Betenden wendet sich die Gestalt Christi vom Himmel her zu. Das Bild setzt die einfache Frömmigkeit dem Streit der Konfessionen entgegen, der im Textteil ausführlich zur Sprache kommt, indem die Unterschiede zwischen den drei großen kontinentalen Konfessionen in Versform aufgezählt werden. Es ist etwann bey hundert Jahr / Fiel Luther dem Bapst in die Haar / Der bapst wolt das nicht gut seyn lan / Fiel den Luther auch wider an / Das rauffen wärt ein kurtze Frist / da mengt sich drein der Calvinist / Fiel Bapst und Luther in die Haar / Drauff der Zanck noch viel ärger war / Dann Bapst und Luther widerumb / Sich raufften mit Calvin / all umb Schwer Artickel / ohn Maß vnd end / Das hochwirdige Sacrament / Gab vns der Bapst in einer gstalt / Der Luther wider / brach das bald / Raycht vns den Leib vnd Blut deß Herrn / In beyder gstalt / viel glaubens gern; Calvinus sagt die Meynung sein: Es wer nichts da dann Brot und Wein / […] Deßgleichen von der Gnadenwahl / Habens ein grossen Zanck zumal / Luther spricht: daß jeder Mensch frey / Zur Seligkeit versehen sey. Aber Calvin verwirfft die Lehr / Deß rauffens ist layder noch mehr: Der Bapst rufft die Heiligen an / Luther, Calvin lassens anstahn / [also: lassen das sein] Wollen auch von der Meß nichts hörn / Der Bapst helts heilig, hoch in Ehrn / Auff Maria die Jungfrauwen / Setzt Bapst Hoffnung und Vertrawen / Dagegen Luther und Calvin / Verachten das in ihrem Sinn. Der Bapst will / man soll Wallfahrt gahn / Luther und Calvin fechtens an. Der Bapst verbeut Fleisch in der Fastn / Drumb heissen sie jhn ein Fantastn. Der Bapst die Heiligthumb [= Reliquien] verehrt / Luther und Calvin solchs abwehrt. Bapst und Luther die Bilder leidn / Calvinus sagt: man soll sie meidn. Meßgwend / Kertzen / die Kirch zu ziern / Das läßt Luther dem Bapst passirn. Dargegen will der Calvinist / Daß der Brauch gar vnnötig ist. Bapst und Luther zu feyrn pflegen / ApostelTäg / aber dagegen Widerspricht solchs der Calvinist. Im Calender auch ein Streit ist / […] Der Punct seynd ein grosser Hauffen / Drumb sich die drey Männer rauffen / […] Und ist layder zu vermuten / Es möcht sich noch ein Lehr außbruten.“ Von den unterschiedlichen Auffassungen des „hochwirdige[n] Sacrament[s]“, also des Herrenmahls (ausführlich hierzu Kap. 1.5.5.) wird in der Flugschrift aufgegriffen, was für jeden Laien unmittelbar als konfessioneller Unterschied erkennbar war: In den protestantischen Kirchen erhielten die Gläubigen auch den Kelch gereicht, bei der katholischen Eucharistiefeier wurde das Sakrament im Regelfall hingegen „in einer gstalt“ gespendet, d.h. nur die Hostie. Kurz wird auch die wesentliche Konfliktlinie zwischen Lutheranern und Reformierten angedeutet: Für Calvin ist „nichts da dann Brot und Wein“, für Luther hingegen ist Christus

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in Hostie und Kelch real präsent, womit die Lutheraner den Katholiken deutlich näher stehen als den Calvinisten. Ein weiterer Streitpunkt war die „Gnadenwahl“, wie es im Flugblatt heißt, die Prädestinationslehre, genauer: Calvins Lehre von der doppelten Prädestination. Der Genfer Reformator ging davon aus, daß Gott einen Teil der Menschheit von vornherein zum ewigen Heil bestimmt habe und einen anderen Teil zur ewigen Verdammnis – daher doppelte Vorherbestimmung. Calvin stellte das heraus, um zu betonen: Gott ist völlig frei darin, seine Gnade zu schenken. Insofern ist mit der Lehre von der doppelten Prädestination das reformatorische sola gratia zu Ende gedacht – oder überspitzt. Calvin hat die Prädestinationslehre nicht erfunden. Das Grundproblem – wie lassen sich Gottes Gnade und Freiheit einerseits und die menschliche Freiheit andererseits zusammendenken? – wurde bereits in der Frühen Kirche diskutiert. Eine befriedigende Lösung erscheint nicht möglich, wohl aber eine immer neue, immer differenziertere und insofern weiterführende Formulierung des Problems. Lutheraner und Katholiken lehnten die Lehre von der doppelten Prädestination jedenfalls ab: Natürlich wisse Gott von vornherein, wer zum Heil komme und wer verdammt sei. Aber dieses Vorwissen (Präscienz) sei eben nicht das gleiche wie Vorherbestimmung. Die weiteren im Text genannten Streitpunkte – Heiligen- und Marienverehrung; Wallfahrten; Fasten; Reliquienverehrung; Ausstattung der Kirchen mit Schmuck, Bildern und Kerzen; Beachtung der Aposteltage als Feiertage – wurden z.T. schon behandelt, z.T. geschieht dies noch in Kap. 7. Wichtig ist hier, daß die Lutheraner und Katholiken einander oft näher standen und stehen als Lutheraner und Calvinisten. Denn Calvin und die reformierten Kirchen verfuhren mit den herkömmlichen Frömmigkeitsformen nach dem Prinzip: Alles, was sich nicht ausdrücklich aus der Bibel ableiten läßt, muß weg. Luther dagegen vertrat die Position: Alles, was der Bibel nicht ausdrücklich widerspricht, kann bleiben – z.B. die Feier der Aposteltage und die Bilder in der Kirche, wenn sie denn richtig verwendet werden (s. Kap. 1.6.3.). Das Schriftprinzip teilten Lutheranern und Calvinisten also, wandten es aber verschieden an! Der gegen Ende des Textes angesprochene Kalenderstreit hatte sich an einer Reform des auf Julius Cäsar zurückgehenden Julianischen Kalenders entzündet, der vergleichsweise ungenau war. Ende des 16. Jh.s hinkte die Tageszählung dem astronomischen Kalender bereits um zehn Tage hinterher. Unter der Schirmherrschaft Papst Gregors XIII. wurde 1582 ein neuer, durch den alle vier Jahre als 29. Februar eingeführten Schalttag genauerer Kalender eingeführt – eben der Gregorianische Kalender. Um zudem den genannten Rückstand zu beseitigen, legte Papst Gregor fest, daß auf den 4. Oktober 1582 sogleich der 15. Oktober folgen sollte. Sachliche Einwände gegen diese Lösung gab es nicht. Zweifellos wäre die Reform hundert Jahre früher angesichts der Autorität des Papsttums unspektakulär über die Bühne gegangen. Doch inzwischen war die Einheit der Kirche dahin:

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Während in den katholischen Teilen Europas die Reform zum genannten Termin oder wenig später vollzogen wurde, lehnte das protestantische Europa sie ab – denn sie kam ja aus Rom! In den gemischtkonfessionellen Großstädten Augsburg und Riga eskalierte der Kalenderstreit sogar zu blutigen Unruhen. Nach der Glaubensspaltung nun also auch eine getrennte Zeitrechnung: Als Konsequenz wurden alle Feiertage, die fest an einen Tag geknüpft waren – etwa Weihnachten – nun doppelt begangen, in katholischen Gebieten zehn Tage früher als in evangelischen. Da Markttage und Handelsmessen teilweise mit bestimmten Feiertagen verknüpft waren, kam es in gemischtkonfessionellen Regionen zu Problemen, mußte man sich doch auf einen Termin verständigen. Auch für den Briefverkehr hatte die Kalenderspaltung Folgen: Gelegentlich stellt der Historiker, der Korrespondenzen des 17. Jh.s nutzt, fest, daß ein Brief eintraf, ehe er abgesandt wurde – und zwar in den Fällen, in denen der Tag des Eingangsvermerks eines Schreibens durch den katholischen Empfänger vor dem durch den evangelischen Absender notierten Abgangsdatum liegt. Oft half man sich (und uns) mit Doppeldatierungen wie „14./24. Oktober 1648“ – so im Osnabrücker Teil des Westfälischen Friedensvertrags. Der Kalenderstreit entbehrte jeder theologischen Bedeutung. Bemerkenswert ist, daß er unter konfessionellen Vorzeichen dennoch zu einem erbittert geführten Konflikt wurde – ein Hinweis darauf, wie tief der Riß durch die lateinische Christenheit ging! Erst im Jahr 1700 gingen die meisten protestantischen Gebiete zum Gregorianischen Kalender über, Großbritannien folgte 1752, Schweden 1753.12

6.2.5 Die Anglikanische Kirche und die puritanische Frömmigkeitsbewegung Die Anglikanische Kirche enstand 1534, als König Heinrich VIII. († 1547) sich durch das im englischen Parlament verabschiedete Suprematsgesetz (Act of supremacy) zum Oberhaupt der Kirche von England erklären ließ. Der Anlaß zu diesem Schritt war die Weigerung des Papstes gewesen, Heinrichs Wunsch nach Annullierung seiner Ehe nachzukommen; diese Nichtigkeitserklärung wäre aber notwendig gewesen, damit der König seine schwangere Geliebte Anne Boleyn heiraten konnte, von der er sich den ersehnten männlichen Thronerben erhoffte. Die englische Reformation wurzelte also in einem dynastischen Problem. Genuin reformatorische Veränderungen kamen erst nach dem Tod Heinrichs in Gang, vorübergehend unterbrochen durch die Regierung seiner katholischen Tochter Maria (reg. 1553-1558), die die Protestanten verfolgte. Die endgültige Festlegung der englischen Kirche auf die reformatorische Theologie erfolgte unter Elisabeth I. (reg. 1559-1603), der Tochter Heinrichs aus der Verbindung mit Anne Boleyn; während ihrer Regierung entstanden 1571 die 39 Articles als Bekenntnisschrift 12

Für weitere Details und Ausnahmen s. Hermann Grotefend: Taschenbuch der Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit. Hannover (12. durchges. Aufl.) 1982, S. 24-28.

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und das 1549 erstmals erschienene Book of Common Prayer wurde in überarbeiteter Form zur liturgischen Grundlage des anglikanischen Gottesdienstes. Die Theologie der Anglikanischen Kirche ist seit dieser Zeit vor allem reformiert geprägt; Einflüsse Calvins, Einflüsse Zwinglis und des Straßburger Reformators Martin Bucer († 1551) der seine letzten Lebensjahre in England verbrachte, sind erkennbar. Die Liturgie, die Kleidung der Geistlichen und die bischöfliche Kirchenverfassung der Anglikanischen Kirche blieben stark vom katholischen Erbe geprägt. Durch die Ereignisse des 16. Jh.s war aber klar, daß sie den reformatorischen Kirchen zugehörte: Prägend waren hier die fünf Jahre, in denen Königin Maria versuchte, England zu rekatholisieren, ferner die Exkommunikation Elisabeths I. im Jahr 1570 und die spanische Bedrohung der Folgezeit, die im gescheiterten Flottenunternehmen der Armada von 1588 gipfelte – all das machte den Antikatholizismus in England für 300 Jahre zum festen Bestandteil der politisch-religiösen Kultur. Seit den 1560er Jahren stritt man innerhalb der Anglikanischen Kirche gut hundert Jahre lang um Verfassung, Liturgie und Frömmigkeitsformen. Eine Richtung hielt betont an dem eben geschilderten, im Wortsinne konservativen Gepräge der Kirche fest. Eine treffende Bezeichnung für diesen Flügel zu finden, ist nicht einfach, denn die in der ersten Hälfte des 17. Jh. gängige und nicht selten in Darstellungen verwendete Bezeichnung Arminianer, die auf einen theologischen Streit in der reformierten Kirche der Niederlande zurückgeht, trifft die Sache eigentlich nicht; ein Behelf ist die erst später, ab Ende des 17. Jh.s auftretende Bezeichnung High Church für diese Richtung der Anglikanischen Kirche, welche die Kontinuität zur vorreformatorischen Zeit betonte. Gegenüber ihr unterscheide sich die gegenwärtige englische Kirche „wie ein gejäteter von einem ungejäteten Garten“, so John Bramhall († 1663), anglikanischer Erzbischof im irischen Armagh.13 Der konservativen Richtung standen die Puritaner entgegen. Diese Bezeichnung wurde ursprünglich von ihren Gegnern als Schimpfname aufgebracht und läßt sich frei als „die Pingeligen“ übersetzen (lat. purus = rein, hier: übertrieben rein). Die Puritaner waren überzeugt, daß – um im Bild Bramhalls zu bleiben – der Garten immer noch von Unkraut überwuchert sei und im übrigen völlig umgestaltet werden müsse! Die Vollendung der Reformation in der Anglikanischen Kirche stehe noch aus und ihnen, der Minderheit der wahrhaft Gottesfürchtigen (godly) komme dabei die entscheidende Rolle zu. Sie forderten die Entfernung aller nicht aus der Bibel unmittelbar begründbaren Liturgie- und Frömmigkeitsformen, dazu die Entmachtung oder Abschaffung der Bischöfe zugunsten einer synodalen Verfassung, dazu die Leitung der Gemeinden durch die Ältesten (griech. Presbyteros), daher auch die Bezeichnung Presbyterianer. Sie drangen ferner auf strenge Kirchenzucht und genaue Beachtung der Sonntagsheiligung 13

Zit. nach D. Carter: Caroline Divines. In: RGG (3. Aufl.) 1 (1957) Sp. 1621.

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(Drittes Gebot). Die Puritaner waren also ihrem Charakter nach eine Frömmigkeits- und Erneuerungsbewegung innerhalb der Anglikanischen Kirche. Die Bezeichnung Puritaner wird zum Teil auch auf die Gruppen ausgedehnt, die sich seit Ende des 16. Jh.s von der Anglikanischen Kirche trennten und selbständige Gemeinden bildeten, die Separatisten, Dissenter oder Independente (s. Kap. 6.2.6.). In der Tat gab es Gemeinsamkeiten mit den Puritanern. Doch die z.B. hinsichtlich der Toleranz entscheidende Frage, ob man der Kirche von England angehörte oder nicht, spricht für eine begriffliche Unterscheidung. König Jakob I. (reg. 1603-1625) lud gleich nach seinem Regierungsantritt Vertreter der Puritaner und des konservativen Flügels der Anglikanischen Kirche zum Gespräch. Bei dieser Konferenz von Hampton Court Anfang des Jahres 1604 äußerte er Verständnis für manche puritanischen Reformvorstellungen. Den Wunsch nach Abschaffung der Bischöfe lehnte er jedoch ab. Ebenso wie das Königtum sei das Bischofsamt von Gott gestiftet; gebe man letzteres auf, falle auch ersteres: „No bishop, no king!“ Aber der Richtungsstreit schwelte weiter und entlud sich schließlich in Verbindung mit politischen Problemen im Englischen Bürgerkrieg (1642-1648/49). Nach der politischen und kirchlichen Restauration von 1660 blieben die Puritaner als Richtung in der Anglikanischen Kirche präsent, doch die hochgestimmten, teilweise eschatologisch gefärbten Vorstellungen über die eigene Rolle in der englischen Kirche (vgl. Kap. 8.5.2.) waren einer gewissen Ernüchterung gewichen. Im zweiten Drittel des 18. Jh.s entstand eine dem Puritanismus ähnliche Reform- und Frömmigkeitsbewegung innerhalb der Anglikanischen Kirche, der Methodismus. Der Gründer John Wesley (1703-1791), ein anglikanischer Pfarrer, war seit den 1730er Jahren auf zahlreichen Reisen in Großbritannien und BritischNordamerika als Wanderprediger tätig; sein Aufruf zur Bekehrung auf Grundlage eines systematischen, methodischen Bibelstudiums (daher der ursprünglich spöttisch gemeinte Name „Methodisten“) fand mancherorts ein großes Echo; die von ihm und seinen Mitstreitern – meist Laienpredigern – ausgelöste Bewegung ging daher als First Great Awakening (Erste Große Erweckungsbewegung) in die englische und amerikanische Geschichte ein. Trotz erheblicher Konflikte blieb Wesley der Anglikanischen Kirche bewußt verbunden; erst nach seinem Tod kam es 1795 zur Gründung einer eigenständigen Methodistischen Kirche.

6.2.6 Der „linke Flügel“ der Reformation: Täufer und Dissenter In der reformatorischen Bewegung der 1520/30er Jahre bildeten sich in der Schweiz, in Nordwestdeutschland und andernorts kleine Gruppen, denen die Reformation Luthers und Zwinglis nicht weit genug ging. Das namensgebende Kennzeichen dieser Richtung wurde die Ablehnung der Kindertaufe: Getauft werden sollte nur, wer sich als Erwachsener zum christlichen Glauben bekannt hatte. Der Taufakt selbst wurde in demonstrativer Abkehr vom herkömmlichen Sakrament

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vollzogen: In Privathäusern oder an Gewässern übergoß man den Täufling mit einer Schöpfkelle Wasser. Die Täufer (auch: Wiedertäufer, da es sich ja vielfach um eine zweite Taufe handelte) lehnten unter Berufung auf die Bibel nicht nur die Sakramente, sondern auch die Kirchenorganisation und die bestehenden Gottesdienstformen ab; überhaupt wurden alle äußeren religiösen Formen auf ein Minimum reduziert, ebenso Verpflichtungen wie der Kirchenzehnt – und damit auch die enge Verflechtung von Gesellschaft und christlicher Gemeinde. Der Gegenentwurf der Täufer, die manchmal als der „linke Flügel“ der Reformation bezeichnet werden, sah jedoch keineswegs eine Trennung von Kirche und Gesellschaft vor, sondern im Gegenteil ihre völlige Verschmelzung, eine heilige Gemeinschaft. Es ging ihnen bei der Ablehnung von Sakramenten und Liturgie um ein radikaleres Heiligkeitsideal! Folglich mied man die Gemeinschaft mit den Ungläubigen – d.h. allen, die sich der übrigens durchaus heterogenen Täuferbewegung nicht anschlossen. Nicht nur den Waffendienst, sondern auch den Eid als wichtigstes Band der Zugehörigkeit zu städtischen und ländlichen Gemeinwesen verwarfen die Täufer unter Berufung auf die Bergpredigt (Mt 5,33-37), ähnlich wie im 12./13. Jh. die Waldenser. Damit enstand ein brisantes Problem: Politische Beziehungen aller Art beruhten auf der Eidesleistung! Regelmäßig kam der öffentliche Schwur vor, wenn z.B. ein neuer Stadtrat die Geschäfte übernahm oder ein Herrscher die Regierung antrat. Wer dann den Eid verweigerte, war nicht nur nicht verläßlich, er gehörte einfach nicht mehr zur Stadt- oder Untertanengemeinschaft dazu! Verschärfend wirkte sich aus, daß manche Täufer meinten, die als ungläubig angesehene weltliche Obrigkeit habe in der Tat kein Recht auf den Gehorsam der wahren Gläubigen. Die Verweigerung des Eides machte Täufern außerdem die Übernahme öffentlicher Ämter unmöglich – derartige weltliche Aufgaben waren allerdings ohnehin mit ihrer der Überzeugung vereinbar. Der selbstgewählten Marginalisierung folgte die Reaktion der weltlichen Obrigkeiten, die in den Täufern potentielle Aufrührer sahen: der Reichstag zu Speyer von 1529 verabschiedete ein Mandat, durch welches die Täufer mit dem Tod bedroht wurden; je nach Herrschaftsbereich wurde es unterschiedlich streng angewendet. In den ersten Jahren der Täuferbewegung bestanden pazifistische und militante Strömungen nebeneinander. Einige niederländisch-nordwestdeutsche Täufergruppen wollten das in der Johannes-Offenbarung angekündigte Tausendjährige Reich Christi gewaltsam durchsetzen. Sie ergriffen im westfälischen Münster 1533/34 die Macht und gestalteten die Stadt nach ihren eschatologisch geprägten Vorstellungen um; ihr Regiment eskalierte zur Terrorherrschaft und endete erst, als die benachbarten Fürsten die Stadt 1535 eroberten und blutige Abrechnung hielten. Diese Ereignisse waren eine Katastrophe für die unmittelbar betroffenen Menschen und darüber hinaus: Die politisch-soziale Randstellung der Täufer verfestigte sich unter dem Eindruck der Münsteraner Schreckensherrschaft für lange Zeit: Täufer galten als gemeingefährlich und wurden daher von vielen Obrigkeiten verfolgt.

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Seit dem blutigen Ende des Täuferreichs zu Münster wurde jedoch der von christlicher Überzeugung getragene Pazifismus das Kennzeichen der Täufer. Dazu trug wesentlich der Friese Menno Simons († 1561) bei, der nach 1535 zur Führungsgestalt der Täufer im Nordwesten des Reiches wurde. Bereits in den 1540er Jahren erscheint der Name „Meniten“ für seine Anhänger in den Quellen; die Mennoniten fanden während der frühen Neuzeit nicht selten Existenznischen bei Siedlungsprojekten, wenn Obrigkeiten der Nutzen ihres gewissenhaften Wirtschaftens größer erschien als der Nachteil des religiösen Nonkonformismus’. So lebten Ende des 18. Jh.s Tausende von Mennoniten im westpreußischen Weichseldelta. Wurde von ihnen Waffendienst verlangt, leisteten die Mennoniten stattdessen Geldzahlungen oder wanderten aus. So führte ihr Weg sie ins Rußland Katharinas der Großen († 1796) und im 19./20. Jh. von dort in die USA, nach Kanada, Mexiko und Paraguay. Bereits 1683 hatten Krefelder Mennoniten als erste uns bekannte Gruppe deutscher Auswanderer Nordamerika erreicht. In Europa blieben Druck und Verfolgung und daher Migration lange Zeit ein Kennzeichen fast aller Täufergemeinschaften, von denen hier nur die Mennoniten Erwähnung finden. Der Weg der Täufer ist ein Extrembeispiel für die Folgen der Glaubensspaltung in einer Gesellschaft, die auf die Einheit von religiöser und weltlicher Gemeinschaft angelegt war. Der weitgehende Bruch mit der Mehrheitsgesellschaft, den die Täufer vollzogen, läßt sich – gerade auch im Hinblick auf die Auswanderung als Konsequenz – bei der englischen Parallelbewegung der Täufer beobachten. Ende des 16. Jh.s lösten sich erste kleine Gruppen aus der puritanischen Bewegung und trennten sich durch die Bildung eigener Gemeinden von der Anglikanischen Kirche. Sie werden als Separatisten bezeichnet, auch die Bezeichnungen Independente und Dissenter sind gängig. Die bekannteste frühe Separatistengruppe ist die, die nach der Flucht aus England und einigen Jahren im niederländischen Exil 1620 auf der „Mayflower“ nach Neu-England segelte. Eine der wichtigsten Dissentergruppen waren die Quäker, deren korrekte Selbstbezeichnung Religious Society of Friends lautet. Diese Gruppe entstand in der Mitte des 17. Jh.s während des Englischen Bürgerkrieges. „Quäker“ war ein Spottname, der auf die für Außenstehende schwer nachvollziehbaren ekstatischen Zustände anspielte, die während der Versammlungen vorkamen (engl. to quake = zittern). Die Kennzeichen der Quäker waren: – eine egalitäre Struktur; in der Regel gab es keine Geistlichen; bei Gemeindeversammlungen redete jeder gleichberechtigt mit und eine Entscheidung fiel erst, wenn der Konsens aller Anwesenden gesichert schien; – die Betonung des „inneren Lichts“, d.h. der Erleuchtung der Gläubigen durch den heiligen Geist; Sakramente gab es nicht; – Gottesdienste ohne formelle Ordnung; wenn alle versammelt waren, herrschte zunächst Schweigen; hatte einer der Anwesenden im Warten auf das innere Licht etwas zu sagen, so sprach er ein Gebet oder einen Bibelvers; bemerkens-

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wert ist, daß Frauen in diesen gottesdienstlichen Versammlung das Wort ergriffen; – die Ablehnung von Eidesleistung und bereits im 17. Jh. die Ablehnung von Todesstrafe und Sklaverei; im 18. Jh. trugen die Quäker wesentlich zur Überwindung des englischen Sklavenhandels bei. Die Quäker unterschieden sich also in mehreren Punkte erheblich von den großen Kirchen. Sie setzten sich ferner von ihrer Umgebung ab, indem sie jedermann, auch höhergestellte Personen, duzten – sie selbst stammten meist aus den Mittelschichten – und sich weigerten, den Hut zu ziehen. Außerdem zahlten sie den Zehnten nicht. In England wurden sie verfolgt und viele wanderten deshalb nach Nordamerika aus. Im Zuge dieser Auswanderungsbewegung kam es in den 1680er Jahren zur Gründung von Pennsylvania; der Name leitet sich von einem der einflußreichsten Anführer der Quäker, William Penn (1644-1718), her; bei der Koloniegründung wurde die Religionsfreiheit in der Charta der Kolonie verankert. In Deutschland wurden die Quäker vor allem durch die Hilfslieferungen amerikanischer Quäker nach Ende des Zweiten Weltkriegs bekannt; 1947 erhielt das Organisationskomitee der Quäker in Anerkennung dieser Hilfe den Friedensnobelpreis. In politischer und sozialer Hinsicht folgenreich waren die egalitären Prinzipien, nach denen die Quäker und anderer Dissentergruppen sich organisierten. Dieser demokratische Zug trug dazu bei, daß sich in einigen englischen Kolonien Nordamerikas eine wenig hierarchische religiös-soziale Kultur entwickelte. Der hohe Grad an politischer Partizipation in Britisch-Nordamerika trug später zu den strukturellen Unterschieden gegenüber dem Mutterland bei, die zur Amerikanischen Revolution von 1776 führten.

6.2.7 Die kontinentalen Brüder der Puritaner: Jansenisten und Pietisten „Den Familien, deren Angehörige in Port-Royal beerdigt waren, wurde befohlen, diese exhumieren und umbetten zu lassen, und man begrub die Gebeine aller anderen auf dem Friedhof einer benachbarten Pfarrei, wie es eben ging und in der unwürdigsten Weise, die man sich vorstellen kann. Dann ging man daran, das Kloster, die Kirche und alle anderen Gebäude dem Erdboden gleichzumachen, niederzureißen, wie man es mit den Häusern von Königsmördern tut: und es blieb kein Stein auf dem anderen.“14 So schildert der Herzog von Saint-Simon in seinen Memoiren die von Ludwig XIV. angeordnete Zerstörung des nahe Paris gelegenen Nonnenklosters Port-Royal in den Jahren 1709/10-1713. Die ungewöhnliche Brutalität des Vorgehens war nicht etwa einem Verfall der Klostersitten ge14

Saint-Simon: Erinnerungen. Der Hof Ludwigs XIV. und die Régence. Stuttgart – Hamburg 1969, S. 232f.

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schuldet – im Gegenteil dürfen die Nonnen von Port-Royal als Muster an Frömmigkeit gelten. Doch hatten sie sich dem König beharrlich widersetzt. Der Gewaltakt von 1709 stand am Ende eines seit Jahrzehnten schwelenden Konfliktes und stellt zugleich das wohl spektakulärste Einzelereignis in der Geschichte des Jansenismus dar, einer von der Mitte des 17. bis Ende des 18. Jh.s vor allem in Frankreich und den Niederlanden beheimateten Frömmigkeitsbewegung. Namengebend für den Jansenismus war der Niederländer Cornelius Jansen († 1638), der als Bischof von Ypern am Ende seines Lebens ein umfangreiches, „Augustinus“ betiteltes Werk verfaßte, das posthum 1640 erschien. Darin formulierte Jansen unter Berufung auf den Kirchenvater seine Position zu Gnade und Rechtfertigung. Nach mehreren Jahren des theologischen Streits wurden 1653 erstmals fünf Sätze aus dem Werk von der Kurie als häretisch verurteilt. Die alte, schon für Augustinus aktuelle Frage, inwieweit der Mensch direkt oder indirekt zu seinem Heil beitragen könne, barg schon an sich genug Sprengstoff. Als Jansens Werk erschien, stand zudem das reformatorische sola gratia und die im Konzil von Trient formulierte Gegenposition im Raum. In der katholischen Seelsorge und Frömmigkeit nach dem Konzil von Trient bestanden in dieser Hinsicht zwei verschiedene Grundströmungen. Die eine lief, grob gesagt, darauf hinaus, daß der Gläubige sich im Rahmen seiner Möglichkeiten um eine christliche Lebensführung bemühen und im übrigen der Wirkung der durch die Taufe und die anderen Sakramente vermittelten Gnade vertrauen möge. Jansen und andere, die sich durchaus als treue Katholiken verstanden, kritisierten diese Praxis als zu lax (daher: Laxismus, auch Molinismus nach dem Theologen Luis de Molina SJ) und unterstellten vor allem den Jesuiten eine solche Seelsorgepraxis. Demgegenüber forderten sie eine strenge Gewissensprüfung (etwa vor dem Kommunionempfang), betonten mit Augustinus als Gewährsmann die menschliche Unzulänglichkeit in der Heilsfrage und folglich die ausschließliche Wirksamkeit der Gnade Gottes. In der daraus folgenden, vergleichsweise strengen und tendentiell asketischen Frömmigkeitspraxis liegt eine wesentliche Gemeinsamkeit des katholischen Jansenismus’ mit dem englischen Puritanismus. Welche Verbindung aber führt von der gewissenhaften Frömmigkeit Jansens und seiner Verteidiger, unter denen sich der Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal befand, zur eben geschilderten Zerstörung des Klosters Port-Royal? Der theologische Streit um einige Aussagen im „Augustinus“ war von Anfang an mit der Rivalität zwischen den Jesuiten und anderen Teilen des französischen Klerus’ verknüpft. Hinzu kamen politische Implikationen. Es waren vor allem Angehörige der gebildeten Eliten, die sich der jansenistischen Spiritualität öffneten; als Ludwig XIV. ab 1661 seine Macht immer weiter ausbaute, gerieten ihre von der konventionellen Frömmigkeit distanzierten Zirkel unter den Verdacht der politischen Opposition. Port-Royal, unübersehbar vor den Toren von Paris gelegen, galt mit seinem umfangreichen Schulbetrieb als das wichtigste geistige Zentrum der Jansenisten. Die dort lebenden Nonnen weigerten sich lange Zeit, die Verurteilung der fünf Sätze aus dem „Augustinus“ anzuerkennen. Nach einer

6.2 | Die Glaubensspaltung

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langen Ruhephase am Ende des 17. Jh.s kam es 1705 auf Veranlassung Ludwigs XIV. zu einer nochmals verschärften Verurteilung dieser Sätze durch den Papst; als sich Port-Royal weigerte, diese Verdammung anzuerkennen, beseitigte der König das Kloster, das ihm seit seinem Regierungsantritt ein Dorn im Auge gewesen war. Die politische Dimension des Jansenismus’ hat dazu geführt, daß er dem Begriff und der Sache nach im 18. Jh. eine Bedeutungserweiterung erfuhr; in Frankreich und den Niederlanden, teilweise auch in Italien und den habsburgischen Gebieten wurden kirchenpolitische Strömungen, die die partielle Distanz zu Kurie und Königtum und den traditionellen Gegensatz des Jansenismus zum Jesuitenorden pflegten, oft und etwas vage als jansenistisch bezeichnet. Vergleichbar mit der puritanischen und der jansenistischen Frömmigkeitsbewegung in Westeuropa ist der Pietismus, der vor allem im lutherischen Mittel- und Nordeuropa Fuß faßte. „Es ist jetzt stadtbekannt der Nam’ des Pietisten. Was ist ein Pietist? Der Gottes Wort studiert / Und nach demselben auch ein heilig Leben führt. Das ist ja wohl getan, ja wohl von jedem Christen,“ reimte am Ende des 17. Jh.s ein Leipziger Professor der Poetik15, der sich selber zu dieser Bewegung bekannte. Sie entstand im letzten Drittel des 17. Jh.s und ist mit dem Namen des lutherischen Pfarrers Philipp Jakob Spener (1635-1705) verbunden. Spener nahm frühere Anregungen auf, als er 1670 in Frankfurt/Main damit begann, ein regelmäßiges collegium pietatis (lat., etwa: Schule der Frömmigkeit) abzuhalten. Es versammelten sich außerhalb der Gottesdienste Laien zu Gebet und von Spener geleiteter Bibellektüre. Das Ziel war eine gewissenhafte christliche Lebensführung – ein „heilig Leben“ eben: zum reformatorischen wahren Glauben sollte auch eine wahrhaft christliche Lebenpraxis treten! Solange die Frömmigkeit eine in ihren Augen nur äußerliche Übung ohne Folgen für das tägliche Leben blieb, sahen die Pietisten, ähnlich wie die englischen Puritaner, die Reformation als noch nicht vollendet an. Als Anleitung zur christlichen Lebensführung diente die intensive Lektüre der Bibel – sei es alleine oder in kleinen Gruppen. Wie „Puritaner“ war auch „Pietist“ ursprünglich ein wohl an Speners collegium pietatis anknüpfender Spottname, der in den Anfängen der Bewegung, in den 1670/1680er Jahren entstand. Und ebenfalls gut vergleichbar mit den Puritanern ging es den Pietisten um die Erneuerung der Kirche, in ihrem Fall um die der lutherischen Landeskirchen im Reich. Pfarrer, die dieser Frömmigkeitsbewegung anhingen, gerieten in Konflikt mit Amtsbrüdern, die ihre Einstellung nicht teilten; so kam es im 17./18. Jh. mancherorts zu innerkirchlichen Richtungskämpfen – nicht nur in deutschen Territorien, sondern auch in Skandinavien. Teile der Geistlichkeit und der kirchlichen Administration betrachteten es mit Mißtrauen, daß sich Gruppen von Laien zur Bibellektüre zusammenfanden und theologische Urteile erlaubten. Die da15

Zit. nach Martin Brecht: Einleitung. In: Geschichte des Pietismus, Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hgg. von Martin Brecht. Göttingen 1993, S. 1-10, hier S. 4.

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durch entstehenden Konflikte führten in einzelnen Fällen zur Trennung kleiner Gruppen radikaler Pietisten von der verfaßten Kirche, insgesamt blieb der deutsche und skandinavische Pietismus aber eine Bewegung innerhalb der Landeskirchen. Ein Sonderfall in dieser Hinsicht ist die Herrnhuter Brüdergemeine (Evangelische Brüder-Unität), deren Wurzeln teilweise in der hussitischen Gemeinschaft der Mährischen Brüder liegen. Die Herrnhuter verstanden sich nicht als eine neue Konfession, vielmehr setzte ihr Gründer Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700-1760) gegenüber den konfessionellen Unterschieden bewußt auf praktische Nächstenliebe und Herzensfrömmigkeit; gleichwohl kam es aus verschiedenen Gründen zur Gründung der Brüdergemeine. Die trotz Konflikten bestehende Verbindung mit den großen Konfessionen zeigt sich darin, daß Zinzendorf 1737 vom calvinistischen Berliner Hofprediger Jablonski zum Bischof der neuen Gemeinschaft ordiniert wurde. Ein besonderes Kennzeichen der Herrnhuter war ihre engagierte Missionstätigkeit in Übersee, durch welche sich die Brüder-Unität schnell zu einem weltweit bestehenden Netz ausweitete. Die Geschichtswissenschaft spricht dem Pietismus nicht zuletzt Bedeutung für die Geschichte Brandenburg-Preußens zu. Die calvinistischen Hohenzollern, Herrscher über eine mehrheitlich lutherische Bevölkerung, förderten seit der Berufung Speners als Propst nach Berlin im Jahr 1691 die Bewegung, der es nicht um konfessionelle Lehrunterschiede, sondern um ein christliches Leben ging. Seit den 1690er Jahren baute August Hermann Francke († 1727) in Halle/Saale ein Waisenhaus und eine Reihe bis heute existierender diakonischer Anstalten mit schließlich mehreren tausend Schülern auf – für die damalige Zeit waren dies einzigartige und bahnbrechende Einrichtungen. Zugleich wurde die 1694 gegründete Universität Halle zu einem geistigen Zentrum des Pietismus’. Die enge Kooperation Franckes mit den Hohenzollernherrschern wird in der Forschung betont und sicherlich stimmt es, daß gerade die Absolventen der hallischen Bildungseinrichtungen – von Feldpredigern bis zu Zivilbeamten – der ihnen verbundenen Dynastie treu ergeben waren. Doch ist zu berücksichtigen, daß die religiös grundierte Loyalität gegenüber dem Herrscher in der Vormoderne an sich keinerlei Besonderheit darstellt. Das zeitlich ungefähr parallele Beispiel Württembergs, wo sich die pietistische Bewegung mit der landständischen Opposition gegen die Herzöge verband, erlaubt es jedenfalls nicht, dem Pietismus generell eine besondere Herrschernähe zu attestieren. Weitaus besser trifft das Selbstverständnis der Pietisten die an einen Psalmvers angelehnte, seit etwa 1700 und bis ins 20. Jh. hinein gängige Bezeichnung als „Stille im Lande“ (Ps 35,20), denen es eben zuallererst um ein „heilig Leben“ ging. In sozialgeschichtlicher Hinsicht gilt für die Pietisten, die sich in allen gesellschaftlichen Schichten fanden, daß ihr Fleiß und ihre Gewissenhaftigkeit die Anerkennung der Zeitgenossen fand; die bewußte Abgrenzung, welche sie gegenüber manchen Konventionen und gängigen Vergnügungen pflegten, führte hingegen zu Spott und Reibereien. Auch hierin ähnelt der Pietismus anderen Frömmigkeitsbewegungen.

6.3 | Unterschiede und Gemeinsamkeiten

213

6.3 Zur Deutung der konfessionellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten Was wiegt stärker – die Unterschiede zwischen den christlichen Glaubensrichtungen der Neuzeit oder die konfessionsübergreifenden Gemeinsamkeiten, die etwa in den Frömmigkeitsbewegungen zum Ausdruck kommen? Die Antwort auf diese Frage wird verschieden ausfallen, je nach Untersuchungsgegenstand und konkretem Erkenntnisinteresse. Doch lassen sich zwei Grundrichtungen in der Geschichtswissenschaft erkennen, die hier kurz vorgestellt werden sollen: Die eine betont, oft in Anlehnung an Max Weber, die Unterschiede zwischen einer protestantischen und einer katholischen Mentalität; die andere, oft verknüpft mit dem Forschungsbegriff Konfessionalisierung, hebt die sozial- und politikgeschichtlichen Gemeinsamkeiten der Konfessionen hervor.

6.3.1 Die These Max Webers Der deutsche Soziologe Max Weber (1864-1920) veröffentlichte 1904/05 einen längeren Aufsatz unter dem Titel „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“.16 Weber ging wie andere davon aus, daß der moderne Kapitalismus im protestantischen Europa und Nordamerika entstanden sei, besonders dort, wo der angelsächsische Calvinismus der Puritaner und Dissenter vorherrschte. Aber wie erklärte sich das disziplinierte, ruhelose Erwerbsstreben, das vielen Zeitgenossen zum Lebensinhalt geworden war? Weber maß Calvins Lehre von der doppelten Prädestination als Ausgangspunkt eine wichtige Rolle zu. Niemand kann wissen, ob er nach Gottes Willen zum Heil oder zur Verdammnis vorherbestimmt ist. Im AT ist immerhin folgendes Grundmuster erkennbar: Die Menschen, die die Gebote Gottes befolgen, werden mit seinem Segen belohnt. Es geht ihnen sichtbar gut. Wer die Gebote hingegen übertritt, sündigt und das nicht bereut, wird bestraft. In beiden Fällen wird ein Tun-Ergehens-Zusammenhang angenommen. Zwar wird gerade in den Psalmen auch mehrfach geklagt, daß es dem Frommen schlecht ergeht, dem Gottlosen aber gut. Läßt man dies aber außer Acht, so kann man schließen: Wenn es einem Gläubigen in seinem Leben äußerlich wahrnehmbar gut geht (erkennbar etwa an wirtschaftlichem Erfolg), dann gehört er wohl zu den von Gott Gesegneten und für das ewige Heil Erwählten. Puritaner und Dissenter waren zweifellos im Schnitt strebsame, selbstdisziplinierte und erfolgreiche Leute. Nach Weber rührte das wesentlich daher, daß sie durch das Streben nach wirtschaftlichem Erfolg sich selbst und anderen beweisen wollten, daß sie zu den Erwählten gehörten. Auf dieser Grundlage entwirft er zwei Idealtypen: Einerseits den sinnenfrohen südeuropäischen Katholiken; was er an wirtschaftlichem Gewinn erarbeitet, gibt er gleich wieder aus; er hortet kein Ka16

Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen (9. Aufl.) 1988, S. 17-206.

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pital, sondern konsumiert – idealerweise im Karneval. Andererseits den nordwesteuropäischen Puritaner und Dissenter oder den Protestanten im allgemeinen: Was er erwirtschaftet, legt er auf die hohe Kante bzw. investiert es und hat folglich größeren wirtschaftlichen Erfolg als der Katholik. Weber meinte, der auf die doppelte Prädestinationslehre zurückgehende „asketische Protestantismus“ habe nicht nur für den modernen Kapitalismus Pate gestanden, sondern sich auch als Lebensweise erhalten: nun gehe „als ein Gespenst ehemals religiöser Glaubensinhalte [...] der Gedanke der ‚Berufspflicht‘ in unserm Leben um.“17 Aus heutiger Sicht ist anzumerken, daß die Prädestinationslehre in der Frömmigkeitspraxis des 17. Jh.s keine so wichtige Rolle spielte, wie Weber seinerzeit annahm (und aufgrund des damaligen Forschungsstandes vermuten mußte). Jedoch ist die Prädestinationslehre keine notwendige Voraussetzung für eine auf Gewissenserforschung und disziplinierte Lebensführung ausgerichtete Ethik, wie wir sie von den englischen Puritanern und Dissenters kennen. Schwerer wiegt als Einwand, daß diese Ethik keine puritanische Besonderheit war. Sie fand sich, worauf der Historiker HARTMUT LEHMANN hinweist, keineswegs nur bei ihnen, sondern auch in anderen frühneuzeitlichen Frömmigkeitsbewegungen wie den katholischen Jansenisten und den lutherischen Pietisten – also quer durch die Konfessionen!18 Webers These läßt sich in der Form nicht halten, in der sie formuliert wurde. Aber sie inspiriert bis heute. Das gilt für die Frage nach möglichen Zusammenhängen zwischen religiöser Prägung und wirtschaftlichem Verhalten, aber auch für die Versuche, Mentalitätsunterschiede innerhalb Europas mit verschiedenen konfessionellen Prägungen in Beziehung zu setzen.19

6.3.2 Das Konfessionalisierungsmodell Die tiefen Risse und markanten Unterschiede zwischen den Konfessionen sind offenkundig. Gleichwohl gab es strukturelle Gemeinsamkeiten der großen Kirchen, die gerade durch die Glaubensspaltung bedingt oder verstärkt wurden. Ein konfessionsübergreifendes Phänomen war z.B., daß man präziser als früher festlegte, was Gegenstand des Glaubens war. Vor der Reformation gab es viele ungeklärte Fragen und Punkte, zu denen unter dem Dach der einen Kirche unter17 18

19

Ebd., S. 204. Hartmut Lehmann: Asketischer Protestantismus und ökonomischer Rationalismus. Die WeberThese nach zwei Generationen. In: Max Webers Sicht des okzidentalen Christentums. Interpretation und Kritik. Hgg. von Wolfgang Schluchter. Frankfurt/M. 1988, S. 529-553, hier besonders S. 540f., vgl. ferner Lehmanns Hinweis darauf, daß die Heilssuche auch noch im 17. Jh. eher ein Unternehmen der Gemeinschaft als des Individuums war (ebd. S. 547). Vgl. etwa Peter Hersche: Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter. Zwei Teilbände. Freiburg – Basel – Wien 2006, der immer wieder auf Weber rekurriert.

6.4 | Vervielfachung der Kirchen

215

schiedliche Auffassungen existierten. Nun aber zog die theologische Festlegung einer Konfession bei einem bestimmten Problem fast automatisch die Formulierung von Gegenpositionen der anderen Konfessionen nach sich – und die Verpflichtung der jeweiligen Geistlichkeit darauf. Auch verstärkten alle großen Kirchen die Bemühungen um eine fähige, gebildete und vorbildliche Geistlichkeit und ebenso um Katechese, Bildung und Sittenzucht der Laien; dazu wäre es, betrachtet man die Reformimpulse des 15. Jh.s, wahrscheinlich auch ohne die Glaubensspaltung gekommen – doch zweifellos belebte die Konkurrenz diese Tendenzen, besonders dort, wo die Konfessionen aufeinandertrafen. Aus sozial- und politikgeschichtlicher Perspektive wird eine weitere strukturelle Gemeinsamkeit der großen Konfessionskirchen des 16./17. Jh.s erkennbar. Die Einrichtung von Landeskirchen durch evangelische Fürsten bzw. der wesentliche Anteil katholischer Fürsten an der Reform der Kirche in ihrem jeweiligen Machtbereich fügt sich in die seit dem 15./16. Jh. immer stärkere Tendenz ein, einen – wenn auch nach heutigen Maßstäben sehr bescheidenen – vom Herrscher abhängigen Verwaltungsapparat aufzubauen und das tägliche Leben der Untertanen zu normieren. Das landesherrliche Kirchenregiment und die Bemühungen um die (Wieder)herstellung der Glaubenseinheit aller Untertanen gehören hinein in den Prozess der Entstehung moderner Staatlichkeit! In allen Konfessionen finden sich Beispiele dafür, daß die Obrigkeiten Zwangsmittel gegen Untertanen anwandten, die einem anderen Glauben anhingen. Unter Betonung aller dieser Gemeinsamkeiten, besonders der politikgeschichtlichen Parallelen, haben WOLFGANG REINHARD und HEINZ SCHILLING seit den 1980er Jahren den Forschungsbegriff der Konfessionalisierung in die Geschichtswissenschaft eingeführt, der auf die Zeit von der Mitte des 16. Jh.s bis 1648 und teilweise darüber hinaus bezogen wird. Mit dem Begriff werden die geschilderten Parallelen gebündelt und als langfristiger, epochenprägender Prozess aufgefaßt, in dem Religion, Politik und Gesellschaft auf vielfältige Weise noch enger als zuvor miteinander verknüpft waren; diese Verflechtung wird durch das Konfessionalisierungsmodell verständlicher als es etwa bei dem früher oft verwendeten Begriffspaar Reformation-Gegenreformation der Fall war.20

6.4 Vervielfachung der Kirchen und Bemühungen um die Einheit der Christen im 19./20. Jahrhundert Betrachtet man das europäische 19. und 20. Jahrhundert unter dem Gesichtspunkt der Einheit und Spaltung des lateinischen Christentums, so sind zwei einander entgegengesetzte Entwicklungen erkennbar: Einerseits eine bis heute fort20

Die lebhafte Debatte um den Forschungsbegriff Konfessionalisierung kann hier nicht geschildert werden. S. zusammenfassend Stefan Ehrenpreis – Ute Lotz-Heumann: Reformation und konfessionelles Zeitalter. Darmstadt 2002, S. 62-79.

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schreitende Entstehung neuer Kirchen und christlicher Gruppen – obgleich nach wie vor die große Mehrheit der europäischen Christen einer der traditionellen Konfessionskirchen angehört21; andererseits im 20. Jh. die Bemühungen um Einheit im Sinne einer Zusammenarbeit über Konfessionsgrenzen hinweg.

6.4.1 Religionsfreiheit und die Entstehung neuer christlicher Kirchen im 19./20. Jh. Die Gründung neuer christlicher Gemeinschaften wurde durch veränderte politische und soziale Rahmenbedingungen wesentlich erleichtert. Die traditionelle Einheit von Glaube, Gesellschaft und politischer Gemeinschaft löste sich in der frühen Neuzeit langsam auf. An manchen Orten wurde schon im 16. Jh. Gewissensfreiheit gewährt – d.h. man war nicht verpflichtet, am Kultus der öffentlichen Religion teilzunehmen; später, verbreitet dann um 1770/1780, kam die Kultusfreiheit hinzu, das Recht, den Gottesdienst öffentlich oder halböffentlich ausüben zu können; oft blieben aber rechtliche und politische Benachteiligungen der konfessionellen Minderheiten erhalten. Seit den Revolutionen von 1776 und 1789 wurde die vollständige Religionsfreiheit zügig zum selbstverständlichen Bestandteil der Grundrechte. Die Verfassungen des 19. Jh.s garantierten die vom Bekenntnis unabhängige Gleichberechtigung aller Staatsbürger, also z.B. den gleichen Zugang zur Ausübung öffentlicher Ämter. Vielfach bezog man sich ausdrücklich nur auf die großen Konfessionen, aber nach und nach entfielen solche Beschränkungen. „Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt“, hieß es dann etwa in Art. 136 der Weimarer Verfassung von 1919.22 In der gesellschaftlichen Praxis konnte die Trennung von den etablierten Kirchen zwar im 19. Jh. durchaus mit gesellschaftlichen Nachteilen verbunden sein, und vor allem wurde die Religionsfreiheit von den Diktatoren des 20. Jh.s ebenso wie andere Grundrechte mißachtet. Doch insgesamt setzte sich im lateinischen Europa das Grundrecht der Religionsfreiheit durch. Entscheidend war zudem, daß die Entstehung der modernen Industriegesellschaft mit der Auflösung traditioneller sozialer Beziehungen auch Möglichkeiten religiöser Individualisierung eröffnete. So entstanden fast überall kleine Gemeinschaften, die üblicherweise als Freikirchen bezeichnet werden. Der Begriff erklärt sich aus der rechtlich-organisato21

22

In der Bundesrepublik Deutschland, wo 2006 von 82,3 Mio Menschen knapp zwei Drittel (52,5 Mio = 63,7 %) einer Kirche angehörten, hatte die römisch-katholische Kirche zu dieser Zeit 25,7 Mio. Mitglieder, die evangelischen Kirchen 25,1 Mio.; den evangelischen Freikirchen gehörten 326.000 Menschen an, anderen christlichen Kirchen 43.000; schließlich wurden 1,3 Mio orthodoxe Christen verzeichnet. Die gerundeten Zahlenangaben sind einer Statistik der Evangelischen Kirche in Deutschland entnommen, http://www.ekd.de/statistik/mitglieder.html (Zugriff 14. Aug. 2009). In: Deutsche Verfassungen. Deutschlands Weg zur Demokratie. Bearb. von Werner Liebing. München [o.J.], 100.

6.4 | Vervielfachung der Kirchen

217

rischen Unterscheidung von den großen Konfessionskirchen, die lange Zeit dem Staat in Privilegierung wie auch Abhängigkeit verbunden waren, so etwa die anglikanische Staatskirche oder die evangelischen Landeskirchen in Deutschland bis 1918. Vielfach bestehen auch deutliche theologische Differenzen zu den großen Konfessionen – wie schon bei der Entstehung der Täufer im 16. Jh. und der englischen Dissenter im 17. Jh., welche als Vorläufer der Freikirchen bzw. als ihre ersten Beispiele gelten können. Die Entstehung neuer Kirchen ist ein primär protestantisches Phänomen. Doch spalteten sich in Reaktion auf das Erste Vatikanischen Konzil 1869/70 wie auch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1962-1965 kleine Gruppen von der katholischen Kirche ab. Erstere Bewegung führte zur Entstehung der Altkatholischen Kirche, die das Unfehlbarkeitsdogma und das Dogma von der Päpstlichen Jurisdiktion, d.h. der letzten Entscheidungskompetenz in kirchenrechtlichen Fragen, ablehnt. 1889 schlossen sich die Altkatholiken zur Utrechter Union zusammen. Die Wahl des Versammlungsortes Utrecht war kein Zufall: hier existierte bereits seit 1723 eine kleine, von Rom unabhängige katholische Kirche, bei deren Entstehung auch jansenistische Tendenzen eine Rolle gespielt hatten. In der Lehre besteht bei den Altkatholiken große Übereinstimmung mit der römischkatholischen Kirche, doch geht mit der Ablehnung des Papsttums eine Betonung des synodalen Elementes einher. Trotz wohlwollender Förderung durch die preußische Regierung während des Kulturkampfes fand der Altkatholizismus außer in Teilen des katholischen Bildungsbürgertums wenig Echo. Heute gehören der Altkatholischen Kirche in Deutschland gut 20.000 Mitglieder an, weltweit gehören etwa 300.000 Menschen zu ihr. Die Altlutheraner entstanden aus dem Protest gegen den politisch-theologischen Einfluß der Obrigkeiten, vor allem des preußischen Königs, in den Landeskirchen des 19. Jh.s. Seit 1817 versuchte Friedrich Wilhelm III. eine Union der lutherischen Kirchen in Preußen mit den calvinistischen Gemeinden herbeizuführen. Die Lehrunterschiede zwischen beiden Konfessionen wurden für zweitrangig erklärt – eine Sicht, der sich eine Reihe von Pfarrern und Gemeinden, vor allem in Pommern und Schlesien, nicht fügten. Der Streit eskalierte in den 1830er Jahren. Tausende von Altlutheranern wanderten in die USA und nach Australien aus. In verschiedenen deutschen Staaten entstanden weitere altlutherische Kirchen, z.T. ebenfalls aus Protest gegen eine Union mit den Reformierten, z.T. auch in Abwehr theologischer Strömungen, die man mit der C.A. nicht für vereinbar hielt. Heute gibt es in Deutschland knapp 40.000 in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche zusammengeschlossene Altlutheraner. Bei der Entstehung der meisten im 19./20. Jh. entstandenen Freikirchen stand ein Kirchenverständnis Pate, das sich von dem der großen Konfessionskirchen unterschied. Ihre Gründer trennten sich von den großen Kirchen, weil diese ihrer Meinung nach verweltlicht waren und ein wahrhaft christliches Leben in ihnen nicht mehr möglich war. Darum war es ihr Anliegen, „aus den Trümmern des

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Unglaubens die Gemeinde des Herrn [zu] sammeln.“23 Kirche – das war für sie die fast notwendigerweise kleine Gemeinschaft derer, die sich, meist nach einem Bekehrungserlebnis, ernsthaft um ein christliches Leben in Distanz zur Welt bemühten; als Leitschnur dafür diente die intensive Lektüre der Bibel. Da man die individuelle Glaubensüberzeugung betonte, wurde die Taufe von Kindern in der Regel verworfen: Zur Gemeinde gehören die im Erwachsenenalter Getauften. Wie bei den meisten Reform- und Frömmigkeitsbewegungen der Christentumsgeschichte spielte die Urkirche als Vorbild eine wichtige Rolle. Die einzelne freikirchliche Gemeinde ist autonom, da eine kirchliche Hierarchie nicht existiert, sondern nur lose regionale und nationale Zusammenschlüsse; in manchen Freikirchen wird bewußt auf Geistliche verzichtet. Im Gottesdienst stand und steht die Predigt im Zentrum. In vielem ähneln die Freikirchen des 19./20. Jh.s der Täuferbewegung des 16. Jh.s, den englischen Dissenters und den radikalen Pietisten, die sich von der Kirche trennten. Tatsächlich entstanden einige deutsche Freikirchen in der Mitte des 19. Jh.s unter englischem Einfluß und in Gebieten, in denen pietistische Traditionen bestanden, so in Württemberg und in protestantischen Regionen des Rheinlands, Westfalens und Hessens. Insgesamt kam es in der ersten Hälfte des 19. Jh.s in vielen protestantischen Regionen Europas und Nordamerikas zu einer vielfach auf britische Impulse zurückgehende Erweckungsbewegung (Second Great Awakening im englischsprachigen Raum, Réveil in der Schweiz und im französischen Protestantismus), die sich teilweise innerhalb der großen Kirchen entfaltete, teilweise zur Gründung von Freikirchen führte. Zu den heute wichtigsten deutschen Freikirchen, die im 19. Jh. entstanden sind, zählen die Baptisten (Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden) und der Bund Freier Evangelischer Gemeinden. Die theologische Besonderheit der in zahlreichen Kirchen auftretenden Pfingstbewegung ist die Betonung der sog. Geistestaufe, die sich in der Befähigung zur Glossolalie (Zungenrede), zur Prophetie und zur Heilung von Krankheiten durch Gebet manifestiert. Die Pfingstkirchen entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auch in Deutschland, blieben aber klein; im weltweiten Maßstab betrachtet, sind die Pfingstkirchen jedoch die Gemeinschaften, die am Anfang des 21. Jahrhunderts am schnellsten wachsen, vor allem in Süd- und Mittelamerika.24 In sozialgeschichtlicher Hinsicht sind die Freikirchen von besonderem Interesse, da sie einerseits durch die Trennung von den Großkirchen und die Betonung der individuellen Frömmigkeit dem klassischen Bild gesellschaftlicher Modernisierung entsprechen. Andererseits pflegen sie eine im Vergleich zu den großen Kirchen eher konservative Theologie und Bibelauslegung. Diese wiederum muß 23

24

Programm der Evangelischen Gesellschaft für Deutschland vom August 1848, zit. nach Paulus Scharpff: Geschichte der Evangelisation. Dreihundert Jahre Evangelisation in Deutschland, Großbritannien und USA. Gießen – Basel 1964, S. 233. In den 1990er Jahren gehörten ihnen schon mehr als 100 Mio. Menschen an, während in den Kirchen des Lutherischen Weltbundes knapp 70 Mio. Gläubige zusammengeschlossen sind.

6.4 | Vervielfachung der Kirchen

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nicht notwendigerweise mit politischem Konservatismus einhergehen: In der Entstehungsgeschichte der englischen Arbeiterbewegung spielten Angehörige der Freikirchen, besonders Methodisten, eine wichtige Rolle; nicht wenige Laienprediger waren in der Labour Party bzw. ihren Vorläufern prominent.25 So geriet die englische Arbeiterbewegung – anders als meist auf dem Kontinent – nicht in Distanz oder Feindschaft zum christlichen Glauben.

6.4.2 Einigungstendenzen Die Anhänger der Aufklärung und die von ihr geprägten theologischen Strömungen standen den christlichen Dogmen z.T. verständnislos gegenüber. So wurden die traditionellen Konfessionsunterschiede in Lehre und Frömmigkeitpraxis vielfach als zweit- oder drittrangig angesehen. Dies betraf vor allem die Bildungsschichten, in denen man das religiöse Gefühl oder auch die praktische Nächstenliebe in den Vordergrund stellte. Von substantiellen Einheitsbestrebungen läßt sich hier jedoch nicht sprechen. Auch die eben erwähnte Union der lutherischen und calvinistischen zur Unierten Kirche in Preußen, die Friedrich Wilhelm III. im Jahr 1817 per Kabinettsordre einleitete und dabei erklärte, die Kirchen seien nur noch durch „äußere Unterschiede“ getrennt, war bei allem guten Willen, der den Monarchen beseelte, doch wesentlich ein politischer Akt; die folgenden Konflikte und das teilweise Scheitern zeigten an, daß trennende Traditionen nicht per Gesetz verschwinden. Das weitere 19. Jh. brachte teilweise eine wieder stärkere Betonung der Unterschiede zwischen Katholiken und evangelischen Konfessionen, wobei die nationalen Bewegungen und Nationalismen eine wichtige Rolle spielten. Mehrfach kam es zu einer engen Verknüpfung des Nationalgedankens mit einer bestimmten Konfession. „Der ganze Gegensatz romanischer und germanischer Empfindung“ werde anhand der Gewissensnöte Luthers erkennbar, urteilte der Historiker Heinrich von Treitschke in einer Rede anläßlich des Lutherjubiläums 1883.26 Die Gleichsetzung von nationaler Identität und Protestantismus war seit der Mitte des 19. Jh.s vor allem im deutschen liberalen Bürgertum weit verbreitet und prägte das geistige Klima, das zum Kulturkampf führte. Innerhalb des Protestantismus jedoch kam es im 19. Jh. auch zu Einheitsbestrebungen, etwa durch die Gründung von transnationalen Dachorganisationen wie dem Reformierten Weltbund 1875. Es entstanden Bewegungen wie die Young Men’s Christian Association (YMCA; deutscher Zweig: Christlicher Verein Junger 25

26

Der Labour-Fraktion im Unterhaus von 1929 gehörten 278 Abgeordnete an. Das religiöse Bekenntnis war bei 249 von ihnen feststellbar; von ihnen gehörten 128 Freikirchen an (Franz Linden: Sozialismus und Religion. Konfessionssoziologische Untersuchung der Labour Party 1929-1931. Leipzig 1932, ND 1966, S. 154f.) Heinrich von Treitschke: Luther und die deutsche Nation. Vortrag, gehalten in Darmstadt am 7. Nov. 1883. In: ders.: Historische und politische Aufsätze. Bd. 4: Biographische und historische Abhandlungen, vornehmlich aus der neueren deutschen Geschichte. Leipzig 1897, S. 377-396, hier S. 383.

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Männer, CVJM), gegründet 1844, die bewußt international und überkonfessionell ausgerichtet waren. Wichtige Impulse für eine kirchenübergreifende Zusammenarbeit gingen ferner von den Bemühungen um überseeische Mission aus. Das 20. Jh. wurde dann zum „Jahrhundert der Ökumenischen Bewegung“ – Ökumene hier verstanden als die weltweite Gemeinschaft der Christen. Das wesentliche Kennzeichen ist nicht das Streben nach einer Vereinigung vieler Kirchen zu einer einzigen (trotz etlicher Zusammenschlüsse auf regionaler und nationaler Ebene), sondern die konfessionsübergreifende Zusammenarbeit vor Ort, die von Land zu Land unterschiedlich ausgeprägt ist. Als Dachorganisationen dienen die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) seit 1959 und bereits seit 1948 der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK), der auf Vorgänger zwischen den Weltkriegen zurückgeht. In ihm sind z.Zt. etwa 350 protestantische, orthodoxe, altorientalische und altkatholische Kirchen aus 100 Ländern zusammengeschlossen. Die römischkatholische Kirche steht heute in ständiger Verbindung zu KEK und ÖRK, nachdem sie anfangs der Ökumenischen Bewegung sehr reserviert gegenüberstand. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat sich dies durch ein geweitetes Verständnis von Kirche geändert; im Ökumenismus-Dekret des Konzils heißt es, daß „viele und bedeutende Elemente oder Güter, aus denen insgesamt die Kirche erbaut wird und ihr Leben gewinnt, auch außerhalb der sichtbaren Grenzen der katholischen Kirche existieren können.“27 So wurde 1999 eine gemeinsame Erklärung des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche über die Rechtfertigungslehre möglich. Darin hielt man ausdrücklich fest, daß es „Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre“ gebe und „die weiterhin unterschiedlichen Entfaltungen nicht länger Anlaß für Lehrverurteilungen“ seien.28 Nicht zufällig wurde diese gemeinsame Erklärung in Augsburg unterzeichnet, dem Ort der C.A. und des Religionsfriedens. Die im 20. Jh. zunehmende Zusammenarbeit der verschiedenen Kirchen hat mit der allgemein zunehmenden Intensität weltweiter Verbindungen zu tun, ebenso damit, daß es in Europa kaum noch konfessionell homogene Regionen gibt, hingegen in manchen europäischen Großstädten die Bevölkerungsmehrheit keiner Kirche angehört. Zudem wurde gerade in Europa den lateinischen Kirchen durch die Erfahrung zweier Weltkriege, religionsfeindlicher Ideologien und totalitärer Diktaturen bewußt, daß die Gemeinsamkeiten stärker wiegen als die Unterschiede. 6.5 Dynamik Einheit und Spaltung des westlichen Christentums sind engstens verknüpft mit den vielen Bewegungen, die seit dem 10. Jh. immer wieder eine Erneuerung 27

28

Dekrete der ökumenischen Konzilien. Bd. 3: Konzilien der Neuzeit. Hgg. von Josef Wohlmuth. Paderborn u.a. 2002, S. 910. http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/chrstuni/documents/rc_pc_chrstuni_ doc_31101999_cath-luth-joint-declaration_ge.html (Zugriff 18. Aug. 2009).

6.5 | Dynamik

221

christlichen Lebens anstrebten. Der zeitliche Bogen der Frömmigkeits- und Reformbewegungen spannt sich von der Erneuerung des benediktinischen Mönchtums, die von Cluny und Cîteaux ausging, über die in der Armutsbewegung des 12. Jh.s wurzelnden Waldenser und Bettelorden, die devotio moderna und die verschiedenen Reformströmungen des 15./16. Jh.s einschließlich der vielgestaltigen reformatorischen Bewegung bis hin zu den Puritanern, Jansenisten, Pietisten und Methodisten. Im 19. Jh. berührten sich die protestantischen Erweckungsbewegungen in Nordamerika und Europa mit der Erneuerung der katholischen Frömmigkeit, wie sie etwa in Deutschland zu beobachten ist. Es war nicht möglich, auf alle diese Bewegungen einzugehen. Doch seien hier einige Bemerkungen zu ihrer allgemeingeschichtlichen Bedeutung angefügt. Erstens zeugt die dichte Abfolge von Frömmigkeits- und Reformbewegungen von der inneren Dynamik des lateinischen Christentums. Dynamik heißt: Es bestand eine stete Wechselbeziehung zwischen – der jeweiligen Gestalt christlicher Kirche, die als mit Mängeln behaftet wahrgenommen wurde; meist lautete der Vorwurf, es fehle der Mehrheit der Gläubigen und der Geistlichkeit an ernsthafter Frömmigkeit und tätiger Nächstenliebe. – dem Ideal christlicher Kirche, wie es vor allem im Rückgriff auf das NT entworfen wurde: Was im Rückblick auf den Anfang der Kirche klar und eindeutig erschien, sollte wieder gelten; Reform hieß ausdrücklich Rückbesinnung, die Reformer verstanden sich in der Regel nicht als Neuerer, auch wenn sie de facto Neues schufen, sondern sie blickten zurück! – den aktuellen sozialen und politischen Bewegungen, welche direkt oder indirekt die Wahrnehmung von Mängeln beeinflußten. Diese Dynamik scheint eine Besonderheit des lateinischen Christentums zu sein. Die bestehenden Zustände in Kirche und Gesellschaft wurden (und werden) offenbar eher als in anderen Kulturen kritisiert und verändert. Es ist kein Zufall, daß das ganze Mittelalter hindurch ein Satz des frühchristlichen Theologen Tertullian (um 200 n.Chr.) immer wieder zitiert wurde: „Dominus noster Christus veritatem se, non consuetudinem cognominavit“ (Unser Herr Christus sagte, er sei die Wahrheit, nicht die Gewohnheit).29 Was seinerzeit auf die kulturellen und religiösen Bräuche des heidnischen Imperium Romanum gemünzt war, ließ sich als Grundgedanke auf Kirche und Gesellschaft zu jeder Zeit anwenden: Auf die Wahrheit kommt es im Zweifelsfall an, nicht auf die kulturelle Gewohnheit, die Tradition oder – je nach Sichtweise – den Schlendrian.

29

Zit. nach Peter von Moos: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im „Policraticus“ Johanns von Salisbury. Hildesheim – Zürich – New York 1988, S. 86.

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Kirche(n), Konfessionen, Frömmigkeitsbewegungen | 6

Zweitens. Wahrheit ist nicht ohne Streit zu haben, die eben herausgestellte Dynamik bedeutete selbstverständlich Unruhe, Streit, wie er schon in der Urkirche stattfand (s. z.B. Apg 15; Röm 14; 1 Kor 1,10-13). Mehr noch: Regelmäßig gefährdete diese Dynamik die kirchliche, soziale und politische Ordnung! Reformbemühungen provozieren Konflikte, ob die Erneuerer es darauf anlegen oder nicht. Jeder Erneuerungsimpuls war eine Herausforderung für die Integrationsfähigkeit von Kirche und Gesellschaft. Oft gelang die Integration; nicht selten scheiterte sie aus den unterschiedlichsten Gründen. Die Skala reicht von der vielen Reformern eigenen Dickköpfigkeit bis zu politischen Ursachen und zum Versagen kirchlicher Leitung. Die Geschichte und eben nicht nur die Kirchengeschichte Europas ist geprägt durch die gelingende und mißlingende Integration religiöser Erneuerungsbewegungen – mit verschiedensten sozialen und politischen Folgen, zu denen auch die Kirchenspaltungen gehören, die in diesem Kapitel geschildert wurden. Drittens. Religiöse Dynamik und Spaltung führten dazu, daß die westliche Kultur nicht nur ihre religiöse Einheit verlor, sondern im Gefolge der Konfessionsspaltung des 16. Jh.s nach und nach das Ideal aufgab, ein politisches Gemeinwesen müsse eine religiöse Einheit sein. Mühsam, stufenweise und unter heftigen Konflikten entstand die praktische religiöse Toleranz, die zu einer Wurzel der modernen politischen Kultur Europas wurde.

7 Frömmigkeit und Gesellschaft Das landläufige, westliche Verständnis von Frömmigkeit, Religiosität oder Spiritualität wird heute von der selbstverständlichen Annahme bestimmt, es handele sich dabei um eine Sache des Einzelnen. Dieses Verständnis entspricht dem modernen westlichen, auf das Individuum zugeschnittenen Grundrecht der Religionsfreiheit ebenso wie einer geringen Präsenz von Religion in der Öffentlichkeit. „Die Privatisierung der Religion ist das Kernstück der umfassenden Privatisierung des Lebens in modernen Gesellschaften,“ formuliert der Religionssoziologe Thomas Luckmann.1 Anders gesagt: So wie der gesamte Alltag, erst recht herausragende Begebenheiten wie Niederkunft, Geburt, Heirat, Tod lange Zeit öffentlich oder halböffentlich stattfanden, so war auch die christliche Frömmigkeit vor der „Privatisierung“ des 19./20. Jh.s hinein erstens wesentlich dadurch gekennzeichnet, daß sie für alle sichtbar im öffentlichen Raum stattfand – etwa in Gottesdiensten und Prozessionen. Zweitens war Frömmigkeit ausdrücklich in größere oder kleinere Gemeinschaften eingebunden: Jede Form von Frömmigkeit war letztlich Glaubensakt der im dritten Artikel des Credo als „Gemeinschaft der Heiligen“ angesprochenen Kirche! – unbeschadet der im Christentum angelegten Hochschätzung und Verantwortlichkeit des einzelnen Menschen. Das konkretisierte sich etwa in der Gemeinschaft der lebenden mit den verstorbenen Christen durch die in Seelenmessen ausgesprochene Fürbitte, oder in der erbetenen Fürsprache eines Heiligen. Auch die im vorigen Kapitel vorgestellten Frömmigkeitsbewegungen, bei deren Anhängern wir meist individuellere Züge vermuten, entfalteten sich zumeist in kleinen, überschaubaren Gruppen, in denen die gemeinsam gestaltete Frömmigkeit vielleicht noch wichtiger für den Alltag war als in den verfaßten Kirchen. So prägte Frömmigkeit durch ihren öffentlich-gemeinschaftlichen Charakter den Alltag der Gesellschaft – hier liegt der Schwerpunkt dieses Kapitels – und umgekehrt spiegelt ihr Wandel nicht selten soziale Veränderungen wider.

7.1 Heilige – eine Voraussetzung Die Heiligen sind in der Geschichte der christlichen Frömmigkeit bis zur Glaubensspaltung omnipräsent, nicht nur in den Kirchen, als deren Patrone sie in Anspruch genommen wurden, sondern auch in Orts- und Flurnamen. Ungezählte Abbildungen, Predigten und mehr als 10.000 hagiographische Texte des Mittelalters gaben den Gläubigen Nachricht von Leben und Wirken der Heiligen. Die meisten Tage des Jahres waren nach ihnen benannt und erhielten damit religiöse 1

Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion. Frankfurt/M. (3. Aufl.) 1996, S. 179.

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Frömmigkeit und Gesellschaft | 7

Bedeutung. Millionen Europäer wurden und werden nach Heiligen genannt und dadurch bewußt oder unbewußt mit ihnen verbunden. Fromme Gemeinschaften und einzelne Gläubige verehrten die Heiligen und riefen sie als Vorbilder, Schutzhelfer und Vermittler der göttlichen Gnade an; darum pilgerten große Scharen zu ihren Altären. Was ist ein Heiliger? Als heilig gilt, wie anfangs gesagt, was in besonderer Weise als Gott zugehörig angesehen wird. So wie es heilige Orte und heilige Zeiten gibt, gibt es in allen Religionen auch heilige Menschen. Ihre Heiligkeit zeigt sich durch ihre Lebensführung und Taten, u.U. auch durch ihr Martyrium. Die christliche Heiligenverehrung begann am Ende des 2. Jh.s mit der Verehrung der Märtyrer (Martyrer) – also der Christen, die wegen ihres Glaubens umgebracht worden waren (s. Kap. 2.4.3.). Verehrung bedeutet: An den Todestagen fand an den Gräbern der Märtyrer ein feierliches Totengedenken statt, verbunden mit einem Totenmahl. Auch an den Apostelgräbern gab es diese Form des Gedenkens, der Memoria. Das verehrende Gedenken ergibt sich aus dem Glauben an eine besondere, gottgewirkte Präsenz des verstorbenen Heiligen am Ort seines Grabes. Dadurch wird eine außergewöhnliche Verbindung zwischen göttlichem und irdischem Bereich, zwischen Himmel und Erde hergestellt. So ist es nicht erstaunlich, daß seit der Spätantike Berichte über Wunder an den Gräbern der Heiligen überliefert werden. Denn wenn Gott auf besondere Weise in den Weltlauf eingreift, dann sicherlich vor allem dort, wo heilige Menschen bestattet sind und als Fürsprecher der Lebenden Gläubigen vor Gott eintreten. Zu den Aposteln und Märtyrern der frühen Kirche kam im Frühmittelalter eine große Zahl lokal verehrter Einsiedler, Mönche und Bischöfe hinzu, die bereits zu Lebzeiten im Ruf der Heiligkeit oder Wundertätigkeit gestanden hatten. Viele der lokalen Heiligenkulte und der damit verbundenen Wundertaten hätten wohl einer Überprüfung nicht standgehalten. Schon Ende des 12. Jh.s verbot der damalige Papst die Verehrung nicht überprüfter Heiliger und 1215 wurde im IV. Laterankonzil festgelegt, daß die Verehrung der Reliquien eines Heiligen erst von der Kurie approbiert werden müsse. Ebenfalls im 13. Jh. wurde festgelegt, daß eine Kanonisierung (Heiligsprechung) nur in Rom stattfinden könne; in der Neuzeit wurden die formalen Bedingungen dafür weiterentwickelt. Die möglichen Differenzen zwischen Volksfrömmigkeit und Institution sind bemerkenswert; sie zeigen sich auch an den meisten Heiligenlegenden, die nicht als Tatsachenberichte gelesen werden können; ihre Bedeutung liegt vielmehr darin, uns über das Bild zu informieren, das jene Zeit von den Heiligen hatte. Wichtig für unseren Zusammenhang ist ferner ein Wandel in der Heiligenverehrung, der sich im 11./12. Jh. vollzog. Bis dahin sprechen wir von Reliquienheiligen – die Wirksamkeit der Heiligen war mehr oder weniger auf den Ort ihres Grabes bzw. ihrer Reliquien beschränkt. Selbstverständlich blieben diese Orte von besonderer Bedeutung. Darüber hinaus verbreitete sich aber immer

7.1 | Heilige – eine Voraussetzung

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mehr die überlokale Verehrung bestimmter prominenter Heiliger, auch fernab ihrer Gräber. Der bis dahin anschaulich–archaische christliche Heiligenkult wurde spiritueller. Die Heiligen wurden tendentiell zu überörtlich–ständigen Begleitern der Menschen, gewährten überall ihren Schutz, ihre Vermittlung und Fürsprache vor Gott; wir sprechen von der interzessorischen Funktion der Heiligen (lat. intercessio = Vermittlung). Oft wurden sie seit dem Hochmittelalter aber nicht nur als Fürsprecher, sondern auch als eigenständig Helfende aufgefaßt. Faßbar wird das im deutschsprachigen Bereich etwa in den populären Vierzehn Nothelfern, an die man sich besonders im Spätmittelalter wandte. Es handelte sich dabei überwiegend um Märtyrer und Wundertäter des 3./4. Jh.s und des Frühmittelalters; die genaue Zusammensetzung der Gruppe variierte regional. Entscheidend war die Gesamtzahl der 14, d.h. die Verdoppelung der heiligen Zahl Sieben. Nach den meist legendarischen Berichten trat eine Eigenschaft des Nothelfers besonders hervor oder er hatte im Zuge des Martyriums etwas erlitten, was sich mit den alltäglichen Nöten der Gläubigen verbinden ließ. Der hl. Apollonia beispielsweise hatte der Pöbel die Zähne ausgeschlagen; an sie wandte man sich bei Zahnweh. Die Bitte um Fürsprache bei Gott und die direkte Bitte an den Nothelfer waren dabei kaum voneinander zu unterscheiden. Darüber hinaus wählten einzelne Berufsgruppen und soziale Stände sich Heilige als Schutzpatrone (lat. patronus = Schutzherr); z. B. war die hl. Barbara die Schutzpatronin der Bergleute. Schließlich dienten die Heiligen nach wie vor als ethisches Vorbild. Die Heiligen waren Vermittler zwischen Gott und der Gemeinschaft der Gläubigen, denn sie standen zwischen Himmel und Erde: Menschen waren sie gewesen, aber durch ihre Lebensführung oder ihren Märtyrertod hatten sie sich Gott angenähert; verstorben waren sie, aber gerade dadurch die ideale Brücke zur Gemeinschaft der bereits verstorbenen Gläubigen und zu Gott. Offenkundig empfanden viele Gläubige die Heiligen als ihnen auf einzigartige Weise nahestehend, wobei Maria als Mutter Jesu (Mutter Gottes, Gottesmutter) eine hervorragende Stellung einnahm. So prägten Heilige die christliche Frömmigkeit von der Spätantike an. Die Reformatoren brachen mit der Heiligenverehrung. Ihre Bedenken betrafen nicht nur die in der frommen Praxis verschwimmende Grenze zwischen (erlaubter) Verehrung und (unerlaubter) Anbetung der Heiligen. Vor allem verstellten die Heiligen und ihre Reliquien ihrer Auffassung nach den Blick auf Christus, wie z.B. Calvin herausstellte: „‚Der erste Fehler und gleichsam die Wurzel des Übels war, daß sich die Welt, statt Jesus Christus in seinem Wort, in seinen Sakramenten und geistlichen Gnaden zu suchen, ihrer Gewohnheit gemäß mit seinen Gewändern, Hemden und Tüchern amüsiert hat; auf diese Weise hat sie die Hauptsache unterlassen, um der Nebensache zu folgen.‘“2 2

So in seinem „Avertissement sur les reliques“ von 1543, hier übersetzt nach: Calvin: Œuvres. Hgg. von Francis Higman und Bernhard Roussel. Paris 2009, S. 389.

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Frömmigkeit und Gesellschaft | 7

In den Dekreten des Tridentinums wurden Auswüchse der Heiligenverehrung verurteilt, deren Legitimität an sich aber bekräftigt. So wurde die deutliche Ablehnung wie die ebenso betonte Weiterführung des Heiligenfrömmigkeit ein Unterscheidungsmerkmal der neuzeitlichen Konfessionen. Im 19. Jh. standen dann protestantisch oder laizistisch geprägtes Fortschrittsbewußtsein einerseits und die erneuerte Marienverehrung sowie andere Züge der katholischer Heiligenverehrung andererseits quer zueinander.

7.2 Das Kirchenjahr: Zeiten und Feste Leben ist nur in Zeit erfahrbar, im Gegensatz und Ineinander von Anfang und Ende. Astronomische und biologische Rhythmen sowie vegetative Zyklen konstituieren und prägen die verschiedenen Zeitabschnitte: den Tag im Unterschied zur Nacht als Grunderfahrung; den am Mondumlauf orientierten Monat; das Jahr, mit dem wir das Lebensalter angeben. An diese Rhythmen und Zeitabschnitte knüpfen die Religionen in den verschiedenen Kulturen an. Indem sie bestimmte Zeiten und Tage heiligen, führen sie die Unterscheidung zum profanen Alltag ein; die aufeinander bezogene Unterscheidung von Festtag und Alltag prägt das Leben der Gemeinschaft. Ein elementarer Grundbaustein der christlich-europäischen Zeiteinteilung ist die Siebentagewoche mit dem Sonntag als erstem Tag. Sie leitet sich her von der jüdischen Siebentagewoche, die im Sabbat (Samstag) als Ruhe- und Feiertag gipfelte: am Sabbat wird der Vollendung der Schöpfung gedacht (Gen 2,1-3). Die frühen Christen haben die jüdische Siebentagewoche übernommen, aber nicht deren letzten, sondern den ersten Tag gefeiert – den Sonntag als den Tag, an dem Christus auferstand. Daran erinnert dieser Tag als dies dominicus (daher z.B. frz. dimanche und ital. domenica): Tag des Herrn. Die spätere Übernahme der jüdischchristlichen Siebentagewoche im Imperium Romanum wurde dadurch erleichtert, daß die römische Planetenwoche ebenfalls sieben Tage umfaßte. Bis ins 20. Jh. hinein prägte der Unterschied von Sonntag und Alltagswoche die Zeitwahrnehmung wesentlich. In den letzten beiden Generationen fand eine Veränderung statt, ablesbar am Begriff des Wochenendes, das meist auf Samstag und Sonntag bezogen wird. In den meisten europäischen Ländern gilt zudem seit den 1970er Jahren der Montag als erster Tag der Woche. Neben dem Sonntag als erstem Tag der Woche gab es eine Reihe weiterer christlicher Feiertage. Grundsätzlich lassen sich dabei zwei Typen von Festen unterscheiden, die Christusfeste und die Heiligenfeste (einschließlich der Engelfeste). Von den Christusfesten liegen Weihnachten (25. Dez.), das Fest der Beschneidung Christi (1. Jan.) und Epiphanias (6. Jan.) stets auf demselben Kalendertag; die anderen Christusfeste – Karfreitag, Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten, Fronleichnam – sind beweglich. Das Orientierungsdatum für sie ist das Osterfest.

7.2 | Das Kirchenjahr

227

Ostern wird im lateinischen Westen am ersten Sonntag nach Vollmond ab dem 21. März – also dem Frühlingsanfang – gefeiert. Nach dem Ostertermin richten sich die anderen Christusfeste: Himmelfahrt ist der 40., Pfingsten der 50. Tag nach Ostern, das Frohenleichnamsfest wird am Donnerstag nach Trinitatis begangen. Dagegen werden die Heiligenfeste, unter die wir hier auch die Marienfeste und Aposteltage fassen können, an einem feststehenden Tag gefeiert. Um 1500 wurden je nach Region etwa 50 bis 60 solcher Feiertage im Jahr begangen – mit steigender Tendenz. Die Zahl schwankt, weil es neben den Festtagen Mariens, der Apostel und mancher herausragender Heiliger zahlreiche lediglich lokal oder regional verehrte Heilige gab. Die meisten Heiligenfeste werden an dem mehr oder weniger gesicherten Todestag begangen. Mit dem Sonntag und den Feiertagen wurde das Jahr der Christen von ihrem Glauben gegliedert und gedeutet. Wir sprechen vom Kirchenjahr – der deutsche Begriff selber ist erstmals am Ende des 16. Jh.s belegt, in England spricht man vom Christian Year. Das Kirchenjahr ist an den Ereignissen der Heilsgeschichte orientiert, so daß die Christusfeste die entscheidende Rolle spielen. Die wichtigsten Stationen im Leben Christi werden im Lauf des Jahres vergegenwärtigt und zugleich mehrfach mit dem Wechsel der Jahreszeiten sowie den agrarischen Zyklen von Aussaat und Ernte verknüpft. Auf die gleiche Weise verfuhr man mit manchen Heiligentagen. In der folgenden Übersicht der wichtigsten Stationen des Kirchenjahrs sind die überregional wichtigsten Feier- und Heiligentage aufgeführt.

Das Kirchenjahr im Überblick – Christusfeste und überregional wichtigste Heiligenfeste. Adventszeit (vorweihnachtliche Fastenzeit) 4.12. Barbara 6.12. Nikolaus 21.12. Thomas (Ap) Weihnachtszeit 25.12. Geburt Christi 26.12. Stephanus (M) 27.12. Johannes (Ap & Ev) 28.12. Tag der Unschuldigen Kinder 1.1. Beschneidung Christi 6.1. Epiphanias / Heilige Drei Könige 2.2. Lichtmeß / Mariae Reinigung (Darstellung des Herrn) 24.2. Matthias (Ap)

228

Frömmigkeit und Gesellschaft | 7

Passionszeit (vorösterliche Fastenzeit) Aschermittwoch (erster Tag der Passionszeit) 25.3. Mariae Verkündigung / Empfängnis (Ankündigung der Geburt Christi) Palmsonntag (letzter Sonntag der Fastenzeit; Einzug Jesu in Jerusalem) Gründonnerstag Karfreitag Osterzeit Ostern 23.4. Georg 25.4. Markus (Ev) 1.5. Philippus & Jakobus d.J. (Ap) Rogate (fünfter Sonntag nach Ostern), gefolgt von den Bitt-Tagen der Kreuzwoche Christi Himmelfahrt Pfingsten Trinitatis Fronleichnam (am ersten Donnerstag nach Trinitatis) 24.6. Johannes d. Täufer / Johannistag 29.6. Petrus & Paulus (Ap) 20.7. Jakobus d.Ä. (Ap) 15.8. Mariae Himmelfahrt 24.8. Bartholomäus (Ap) 8.9. Mariae Geburt 21.9. Matthäus (Ev) 29.9. Michaelistag 28.10. Simon & Judas Thaddäus (Ap) 1.11. Allerheiligen 2.11. Allerseelen 11.11. Martinstag 19.11. Elisabeth 25.11. Katharina (M) 30.11. Andreas (Ap) Ap = Apostel, Ev = Evangelist, M = Märtyrer Das Kirchenjahr beginnt mit der Adventszeit, die seit dem 4./5. Jh. als Fastenzeit zur Vorbereitung auf die Geburt Christi begangen wird (lat. adventus = Ankunft). Das Geburtsfest wurde seit dem Ende des 3. Jh.s am 25. Dezember gefeiert – dem Tag, an dem auch die Feier des damals populären Sol invictus (lat.: die unbesiegte Sonne) stattfand, also die Wintersonnenwende als Fest der Wiedergeburt und Machtentfaltung der Sonne. Indem die Kirche an diesem Tag die Geburt des Herrn feierte, wurde der Tag mit seiner großen Bedeutung im Jahreslauf bean-

7.2 | Das Kirchenjahr

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sprucht und Christus als das Licht der Welt (Joh 8,12) proklamiert; zugleich schlug man eine Brücke zur römischen Religiosität. Die Feier des 24. Dezembers als Heiliger Abend wurzelt u.a. im seit dem Hochmittelalter entwickelten Brauch, wichtige Feste bereits am Vorabend bzw. in der vorhergehenden Nacht durch einen festlichen Gottesdienst zu eröffnen, der als Vigil bezeichnet wird (vgl. die klösterliche Gebetszeit der Vigilien, Kap. 5.2.1.). Im deutschsprachigen Raum und in Skandinavien rückte der Heilige Abend im Lauf des 19./20. Jh.s immer mehr in den Mittelpunkt des Weihnachtsfestes. Im christlichen Osten wurde und wird am 6. Januar die Geburt Christi als Erscheinung des Herrn, Epiphanias (griech. epipháneia = Erscheinung) gefeiert. Dieses Fest wurde auch im Westen Teil des Weihnachtsfestkreises, jedoch hier als Tag der Heiligen Drei Könige. Die Weihnachtszeit endet am 2. Februar mit dem Fest Mariae Lichtmeß oder Mariae Reinigung. Nach jüdischem Verständnis galt eine Mutter für die Zeit von 40 Tagen nach der Geburt als kultisch unrein; nach Ablauf dieser Frist brachte sie ein Reinigungsopfer dar. Der volkstümliche deutsche Name Lichtmeß rührt ebenso wie der englische Name candlemas daher, daß an diesem Festtag die für den Gottesdienst nötigen Kerzen geweiht wurden. Darüber hinaus brachten viele Gläubige ihre für den Hausgebrauch nötigen Kerzen ebenfalls zur Kerzenweihe an diesem Tag. Lichtmeß war ferner ein wichtiger Termin für das Wirtschaftsleben: Das Sprichwort „An Lichtmeß fängt der Bauersmann neu mit des Jahres Arbeit an“ 3 bezog sich u.a. darauf, daß an diesem Tag Abmachungen für das neue Dienstjahr zwischen Dienstherren einerseits und Dienern, Knechten, Mägden andererseits getroffen wurden. Nach einer Zwischenzeit von etwa ein bis vier Wochen beginnt die Passionszeit (lat. passio = Leiden) oder vorösterliche Fastenzeit von 40 Tagen (daher auch die lateinische Bezeichnung Quadragesima für diese Wochen), in der das Leiden Christi im Mittelpunkt steht. Der Übergang zur Fastenzeit wurde seit dem Spätmittelalter vielfach mit Festen teils vorchristlichen Ursprungs begangen – Karneval, Fastnacht, Fasching. Fastnacht als Tagesbezeichnung (Nacht im Sinne von Vorabend vor der Fastenzeit) für den Dienstag vor Beginn der Fastenzeit weist ebenso auf eben diese Zeit hin wie der anschließende Aschermittwoch, an dem den Gläubigen als Zeichen der Buße ein Aschenkreuz auf die Stirn gezeichnet wird. Auf das Fasten als Frömmigkeitsübung, die sich in allen Hochreligionen findet, ist hier kurz einzugehen. Es handelt sich um den bewußten, zeitweiligen Verzicht auf bestimmte Speisen oder auf Nahrung überhaupt. Das Fasten soll, wie alle Askese, der inneren Sammlung und Konzentration auf das Wesentliche dienen; die bereits erwähnte Adventszeit ist Vorbereitung auf die Geburt Christi. In der vorösterlichen Fastenzeit wird das Leiden und Sterben Christi vergegenwärtigt und damit zugleich das damit engstens verbundene Fest der Auferstehung vor3

Christian Gottlob Haltaus: Jahrzeitbuch der Deutschen des Mittelalters, in welchem die dunklen Namen der Monate, Wochentage, Heiligen- und anderer Feste, aus gedruckten und geschriebenen Urkunden und Schriften gesammelt und erklärt werden. Überarb. von G. A. Scheffer. Erlangen 1797, ND Hildesheim – Zürich – New York 1990, S. 89.

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Frömmigkeit und Gesellschaft | 7

bereitet; an den Sonntagen der Passionszeit wird das Fasten jeweils unterbrochen, gleichsam im Vorgriff auf die Auferstehung. Fastenübungen wurden auch als Buße auferlegt (s. Kap. 7.5.2.). Insgesamt gab es im mittelalterlichen lateinischen Europa etwa 150 Fastentage im Jahr, wobei die vorösterliche Fastenzeit als die wichtigste Fastenzeit galt; ferner war neben der Adventszeit jeder Freitag Fastentag (zur Vergegenwärtigung des Karfreitags) und z.T. der Mittwoch. Die konkreten Fastenregeln unterschieden sich je nach Zeit und Ort und den regional überhaupt verfügbaren Nahrungsmitteln stark voneinander und wurden vielfach diskutiert; auch ist der Unterschied zwischen Laien, Weltgeistlichen und Mönchen zu beachten. Für die Regularkleriker hatte das Fasten als Form der Askese eine zentrale Bedeutung und wurde strenger gehandhabt als bei Laien. Letzteren war im lateinischen Europa (von gesundheitlich begründeten Ausnahmen abgesehen) in den Fastenwochen sowie am Freitag der Genuß von Fleischgerichten, Wein, Eier und Milchprodukten untersagt; eine wichtige Fastenspeise war daher der Fisch. Der Höhepunkt der Passionszeit ist die Karwoche (ahdt. kara = Sorge, Wehklagen), die mit dem Palmsonntag beginnt: an diesem Tag wird an den Einzug Jesu in Jerusalem erinnert. In Spanien werden bis heute große Prozessionen in der dort Semana Santa (Heilige Woche, vgl. die engl. Bezeichnung Holy Week) genannten Karwoche durchgeführt. Am Donnerstag der Karwoche, dem Gründonnerstag (grün von greinen), wird an das letzte Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern erinnert, ebenso daran, wie Jesus den Jüngern vor dem Mahl die Füße wusch (Lk 22, 14-27). In Anlehnung an die Fußwaschung gehört es zur Gründonnerstagsliturgie, daß Bischöfe bis hin zum Papst als Bischof von Rom an diesem Tag zwölf Armen die Füße waschen. Auch vom Wormser Reichstag 1521 und vom Augsburger Reichstag 1530 wird berichtet, daß Karl V. zwölf Armen die Füße wusch. Danach bediente der Kaiser sie bei Tisch.4 Christusförmige Demut und sakrale Überhöhung des kaiserlichen Amtes verbanden sich, wenn der oberste weltliche Herrscher das Handeln Christi rituell nachvollzog. Am Gründonnerstag fand auch oft die nach schweren Sünden verhängte öffentliche Kirchenbuße statt, nach welcher der Büßer wieder Glied der Gemeinschaft war (Kap. 7.5.2.). Ostern als christliches Hochfest der Auferstehung Christi fällt in die Zeit, in der nach dem Winter die Vegetation wieder beginnt: das neue Leben in der Natur entspricht dem Sieg über den Tod. Explizit stehen einige weitere Feiertage im Frühling in Verbindung mit der Aussaat und der Bitte um Fruchtbarkeit. Hier ist neben den Bittprozessionen des Markustages (25. April) vor allem der Sonntag Rogate (5. So. nach Ostern) und die mit ihm beginnende Bittwoche zu nennen. An den drei folgenden Tagen Montag bis Mittwoch wurde Gott in Prozessionen um eine gute Ernte gebeten. 4

Rosemarie Aulinger: Das Bild des Reichstages im 16. Jahrhundert. Beiträge zu einer typologischen Analyse schriftlicher und bildlicher Quellen. Göttingen 1980, S. 300.

7.2 | Das Kirchenjahr

231

Das am 50. Tag nach Ostern gefeierte Pfingstfest (griech. pentecoste = 50) erinnert an die Ausgießung des Heiligen Geistes auf die Jünger (Apg 2). Es fällt in den Mai oder Juni und ist daher vielfach mit Frühlingsbräuchen verbunden. Pfingsten ist nach Weihnachten und Ostern das letzte in der Reihe der Hochfeste. Nach dem folgenden Sonntag, dem Trinitatisfest, folgt die etwas kürzere Hälfte des Kirchenjahres. Der Johannistag erinnert an Johannes den Täufer und wird am 24. Juni gefeiert. Nach dem Lukasevangelium (Lk 1) wurde Johannes ungefähr ein halbes Jahr vor Jesus geboren; daraus ergibt sich der Abstand von sechs Monaten zur Geburt Christi. Der Johannistag fällt mit der Sommersonnenwende und den damit verbundenen Festlichkeiten zusammen, die auf vorchristliche Bräuche zurückgehen. Fünf Tage später folgt der Tag Peter und Paul, der wegen der Bedeutung der Apostel Petrus und Paulus als höchster der Aposteltage gilt. Das Fest des Erzengels Michael am Michaelistag (29. Sep.) hatte vor allem den Charakter eines Erntedankfestes. In England verzehrte man an diesem Tag eine Gans, in deutschen Landschaften ist das an Martini, dem Tag des hl. Martin von Tours (11. Nov.) üblich. Michaelis und Martini waren in vielen Teilen Europas wichtige Termine für die nach der Ernte fälligen Abgaben, Termin auch für das Ende von Dienstverträgen – daher ihre Bedeutung und festliche Gestaltung. Die Festtage Allerheiligen (1. Nov.) und Allerseelen (2. Nov.) spielen eine wichtige Rolle in der christlichen Memoria (s. Kap. 7.4.4.). Das Kirchenjahr war so eng verbunden mit dem agrarischen Jahr, daß man auch vom agro-liturgischen Jahr spricht. In der Tat zeigt die Untersuchung des (hier ja nur ausschnittweise wiedergegebenen) Festkalenders, daß überdurchschnittlich viele Festtage in die Zeiten fallen, in denen wenig bäuerliche Arbeit anfällt: die Häufung von Festen im November und Dezember nach Abschluß der Ernte fügt sich ebenso in dieses Bild wie die vergleichsweise vielen Feste im Mai – nach der Aussaat konnte man nur auf eine gute Ernte hoffen und dafür beten. Für Südeuropa mit seinen abweichenden Vegetationszyklen gilt eine entsprechend verschobene Konzentration der Festtage.5 Auch außerhalb des im engeren Sinne agrarischen Bereichs war der Heiligenkalender eng mit mit dem Wirtschaftsleben der vorindustriellen Gesellschaft verknüpft. Viele Heiligentage waren mit Jahrmärkten und Messen verbunden, z.T. über das Kirchweihfest. Jede Kirche war einem Heiligen oder Apostel geweiht (s. Kap. 1.6.2.), an dessen Gedenktag der Kirchweihtag gefeiert wurde. Diesen Tag gestaltete man ohnehin festlich und es lag nahe, ihn mit einem größeren oder kleineren Markt zu verbinden. In Westfalen etwa lagen noch Ende des 18. Jh.s rund 80 % der Markttage auf Heiligentagen.6 Ein anderer Begriff für Kirchweih, in dem die aus diesem Anlaß zelebrierte Messe erkennbar ist, ist Kirmes. Manche dieser Kirmessen hatten 5

6

Peter Hersche: Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter. Freiburg – Basel – Wien 2006, S. 636f. Ebd., S. 626.

232

Frömmigkeit und Gesellschaft | 7

überlokale Bedeutung: z.B. fand regelmäßig am Bartholomäustag (24. Aug.) in London nahe der nach dem Apostel benannten Kirche ein großer Jahrmarkt statt.7 Auch ohne die Verbindung zur Kirchweihe wurden aber Heiligentage für Märkte genutzt: in Teilen Schwedens waren im Spätwinter viele Märkte auf den Tag des Apostels Matthias terminiert (Matsmässa, 24. Feb., Mats = Matthias). Der Begriff Messe in seiner wirtschaftlichen Bedeutung geht auf die Messe zurück, die dem jeweiligen Heiligen zu Ehren an solchen Tagen gefeiert wurde. Nicht zuletzt schufen die christlichen Sonn- und Feiertage grundsätzlich schichtenübergreifende Zeiten der Muße. Auch wenn das Dienstvolk daran nur begrenzt teilhaben konnte und in einer Agrargesellschaft kein einziger Tag völlig arbeitsfrei war, so kann doch die Bedeutung dieser gemeinsamen Zeiten für die Pflege freundschaftlicher und verwandtschaftlicher Beziehungen kaum hoch genug veranschlagt werden. 7.3 Das Verschwinden der christlichen Feiertage in der Neuzeit Wie erwähnt, wurden um 1500 bei erheblichen lokalen und regionalen Unterschieden rund 50 bis 60 Heiligentage im Jahr begangen. Manche Tage waren allerdings nicht vollständig frei, sondern wurden als halbe Feiertage gerechnet, d.h. nur der Morgen oder Vormittag war frei, um den Besuch der Messe zu ermöglichen. Außerdem wurden die Hochfeste Weihnachten, Pfingsten, Ostern anders als heute drei oder vier Tage lang gefeiert. Zu Weihnachten überlappten sich der Stephanstag (26. Dez.) und der Tag des Evangelisten Johannes (27. Dez.) sowie am 28. das Fest der Unschuldigen Kinder (Mt 2,16), so daß vom 25. bis 28. Dez. vier Feiertage aufeinander folgten. Zahl der christlichen Festtage im 16./17. Jh. im konfessionellen Vergleich8 Gebiet, Zeit

7 8

Konfession

Zahl der Festtage

Kgr. Dänemark gemäß Kirchenordnung 1537

luth.

16

Kurbrandenburg gemäß Kirchenordnung 1540

luth.

30

Kaspar von Greyerz: England im Jahrhundert der Revolutionen, 1603-1714. Stuttgart 1994, S. 111f. Wolfgang Herborn: Fast-, Fest- und Feiertage im Köln des ausgehenden 16. Jahrhunderts. In: Rheinisches Jahrbuch f. Volkskunde 25 (1983/1984), S. 27-61; Robert Lansemann: Die Heiligentage, besonders die Marien-, Apostel- und Engeltage in der Reformationszeit, betrachtet im Zusammenhang der reformatorischen Anschauungen von den Zeremonien, von den Festen, von den Heiligen und von den Engeln. Göttingen 1939, S. 136; Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts. Hgg. von Emil Sehling. Bd. 14: Kurpfalz. Tübingen 1969, S. 397f.; Göran Malmstedt: Helgdagsreduktionen. Övergången från ett medeltida till ett modernt år i Sverige 1500-1800. Göteborg 1994, S. 261. – Als bewegliche Festtage wurden zu den Angaben in der Literatur ergänzt für Köln zusammen 6 (Ostern 2; Christi Himmelfahrt 1, Pfingsten 2, Fronleichnam 1); für Brandenburg und Württemberg je zusammen 6 (Karfreitag 1, Ostern 2, Christi Himmelfahrt 1, Pfingsten 2); für die Kurpfalz zusammen 4 (Karfreitag 1, Ostern 1, Christi Himmelfahrt 1, Pfingsten 1).

7.3 | Das Verschwinden der christlichen Feiertage Hzt. Württemberg gemäß Kirchenordnung 1553

luth.

233

21

Kurpfalz gemäß Kirchenordnung 1563

calv.

7

Kgr. Schweden gemäß Kirchenordnung 1571

luth.

32

Erzstift Köln, 17. Jh.

kath.

54

Im 16. Jh. kam es zu konfessionsspezifischen Veränderung des Kirchenjahres. Auffällig ist zunächst der Unterschied in quantitativer Hinsicht. Vor allem die enorme Differenz zwischen der Zahl der Feiertage im katholischen Erzbistum Köln einerseits und der calvinistischen Kurpfalz andererseits zeigt die Veränderung an. In der Pfalz wie in anderen reformierten Territorien wurde ein radikaler Bruch mit den herkömmlichen Feiertagen vollzogen. Außer den Sonntagen blieben nur übrig: zwei Weihnachtstage, Karfreitag, Ostermontag, Pfingstmontag, Christi Himmelfahrt, Neujahr bzw. Beschneidung Christi. Diese Tage sind allesamt Christusfeste und hatten darum Bestand; die Heiligentage wurden verworfen, weil sie sich nicht unmittelbar aus der Bibel begründen ließen. In den lutherischen Gebieten war man – wie auch in anderen Dingen – nicht so radikal wie im Calvinismus. Die Hochfeste Weihnachten, Ostern, Pfingsten blieben in der Regel als dreitägige Feste erhalten; ferner hatten diejenigen Heiligenfeste Bestand, die sich biblisch begründen und mit der reformatorischen Theologie vereinbaren ließen, also die Aposteltage, zwei der Marienfeste (Lichtmeß sowie Mariä Verkündigung), Johannis und Michaelis. Teilweise wurden diese Feste zwar nur als halbe Feiertage begangen, aber immerhin – sie blieben erhalten. Dabei gab es innerhalb der lutherischen Gebiete eine große Spannbreite: sie reichte von den 32 schwedischen Feiertagen bis zu den 16 dänischen. Das Erzbistum Köln wiederum mit seiner deutlich größeren Zahl an Feiertagen entspricht in etwa dem, was auch sonst im katholischen Europa gängig war. Hier waren nach dem Reformkonzil von Trient ebenfalls Heiligenfeste entfallen, vor allem wurden die Feste lokaler Heiliger abgeschafft. 1642 legte Papst Urban VIII. für die gesamte Kirche 34 Feiertage als verbindlich fest, darunter auch einige neue. Die Zahl war eigentlich als Maximum gedacht, zu ergänzen nur um die Patrone der einzelnen Länder, Städte und Landschaften. In der Praxis wurde die römische Grundlage allerdings als Minimum aufgefaßt und man hielt an nicht wenigen Feiertagen fest bzw. führte neue ein. So kam man in katholischen Städten meist auf insgesamt 40 bis 50 Feiertage – Karneval und Kirchweih noch nicht eingerechnet –, auf dem Land waren es mehr, wohl 60 bis 70, im Mittelmeerraum, wo die Heiligenverehrung intensiver gepflegt wurde als nördlich der Alpen, 80 bis 90. In der Anglikanischen Kirche hingegen gab es, ähnlich wie im lutherischen Europa, etwa 30 Feiertage.9

9

Hersche, Muße (wie Anm. 5), S. 623.

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Eine Folge der Glaubensspaltung war also die Entwicklung einer konfessionell unterschiedlichen Feiertagskultur und damit auch ein teilweise verschiedener Rhythmus von Arbeit und Muße. Die radikale Abschaffung der Heiligentage im europäischen Calvinismus nahm weitgehend die Sechs-Tage-Arbeitswoche des 19./20. Jh.s vorweg; zugleich mag hier eine Teilursache der betonten Sonntagsheiligung der Reformierten liegen. Die Lutheraner behielten hingegen die Grundstruktur des herkömmlichen Kirchenjahres bei und standen den Katholiken damit recht nahe; bei letzteren war die Kontinuität am größten. Die Einführung von mehr Feiertagen, die für die gesamte Kirche galten, wirkte zusätzlich vereinheitlichend innerhalb des Katholizismus. Die von den Reformatoren initiierte Abschaffung von Feiertagen ließ sich nicht immer ohne weiteres durchsetzen, weil sich die Bevölkerung dagegen wehrte; dazu zwei Beispiele. In der englischen Stadt Norwich fanden im Spätmittelalter am Tag des hl. Georg (23. April) Prozessionen statt. Dabei wurde dargestellt, wie Georg – als Schutzpatron Englands einer der wichtigsten Heiligen auf der Insel – den Drachen tötet. 1552 schaffte man viele Heiligentage ab, darunter auch den Georgstag als Feiertag. Diese Tage „schmeckten nach Papismus“, lautete die Begründung. Die Umzüge aber blieben, denn von dem Fest wollten sich die Menschen in Norwich nicht trennen; der Drache, genannt „Old Snap“, blieb samt Festumzug erhalten, doch ohne den hl. Georg.10 Eine andere Ursache lag dem Beharren auf einem Feiertag im zweiten Beispiel zugrunde; hier ging es um die Hagelfeier. Vor der Reformation waren Hagelfeiern weit verbreitet gewesen – Tage, an denen im Frühling in feierlichen Prozessionen um gute Ernte und eben Verschonung vor Hagel gebeten wurde. Von einer solchen Hagelfeier war in der lutherischen Kirchenordnung des norddeutschen Herzogtums Lauenburg von 1585 keine Rede mehr. Knapp zwei Jahrhunderte später notierte jedoch ein Angehöriger des lauenburgischen Konsistoriums: „Nach alter hergebrachter Gewohnheit wird die so genannte Hagelfeier allemahl auf den Freitag nach Cantate in unserm Hertzogtum gefeiert.“11 Cantate ist der vierte Sonntag nach Ostern, der Freitag nach Cantate lag also unmittelbar vor der in anderen Regionen üblichen Kreuzwoche (Bittwoche), den drei Tagen zwischen dem Sonntag Rogate und Christi Himmelfahrt. Die Bitte um Bewahrung der Ernte war der ländlichen Bevölkerung verständlicherweise ein Herzensanliegen. Auf einer Linie damit liegt, daß in der Anglikanischen Kirche 1549 alle Prozessionen abgeschafft worden waren – außer den Bittprozessionen an den drei Tagen der Bittwoche. Ergänzt sei hier noch, daß in den evangelischen Gebieten regelmäßige Bußund Bettage neu hinzukamen – gleichsam eine Gegenbewegung zur Streichung 10

11

Peter Burke: Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit. München 1985, S. 230. Zit. nach Volker Seresse: Zur Entwicklung der Feiertage im Herzogtum Lauenburg in der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 122 (1997), S. 348-389, hier S. 357.

7.3 | Das Verschwinden der christlichen Feiertage

235

von Feiertagen. Solche Bußtage, die bereits im Spätmittelalter von städtischen Obrigkeiten etwa bei Pestzügen angeordnet worden waren, fanden in vielen Gebieten viermal jährlich statt. Die Hauptursache dieser neuen Feiertage ist in den vielen Kriegen, Seuchen und Hungersnöten zu sehen, die von etwa der Mitte des 16. Jh.s bis zum Anfang des 18. Jh.s Mittel- und Nordeuropa heimsuchten. Der 1995 in Deutschland als gesetzlich geschützter Feiertag abgeschaffte Buß- und Bettag war der letzte dieser Feiertage. Eine weitere Neuerung auf evangelischer Seite waren seit dem 17. Jh. die Gedenktage der Reformation. Vor allem die Feier des 31. Oktober als Tag des Thesenanschlags sowie des 25. Juni, an dem 1530 die C.A. überreicht worden war, dienten der konfessionellen Selbstvergewisserung. Abgesehen von Frankreich, wo bereits unter Ludwig XIV. die Zahl der Feiertage auf etwa 30 reduziert wurde, hatte der Festkalender in Europa bis in die zweite Hälfte des 18. Jh.s hinein Bestand. Seit etwa 1740 und vor allem in den 1770/80er Jahren fanden hingegen bei Lutheranern wie Katholiken Feiertagsreduktionen statt. 1770 etwa verlegte der Kölner Kurfürst-Erzbischof gleich 18 Heiligenfeste auf den jeweils nachfolgenden Sonntag und hob sie damit faktisch auf.12 Diese Feiertagsreduktionen kamen unter dem Einfluß der Aufklärung zustande. Man führte z. B. die Begründung an, es sei gerade für die Armen besser, wenn sie arbeiteten. Dieses Argument ging jedoch jedenfalls im ländlichen Raum an der Realität vorbei: ganz gleich, wieviel Zeit zur Verfügung stand, Arbeit und Verdienstmöglichkeiten vermehrten sich nicht. Eher schon mochte ein anderes Argument zutreffen: wer feierte, gab Geld aus, das an anderer Stelle fehlte. Das dritte gängige Argument war theologischer Natur: Man habe beobachtet, daß die Feiertage nicht angemessen begangen, sondern mißbraucht würden: statt in die Kirche zu gehen, nutzten die Menschen die Tage zu teilweise bedenklichen Vergnügungen. Viertens erhoffte man sich einen würdevolleren Umgang mit den verbleibenden Feiertagen.13 Auf katholischer Seite wurde schließlich immer wieder auf die tatsächliche oder vermeintliche Rückständigkeit gegenüber evangelischen Territorien verwiesen – ihr wollte man mit der Reduzierung der Feiertage beikommen. Davon abgesehen, wurden die genannten Argumente konfessionsübergreifend verwendet. So wenig diese Argumente insgesamt überzeugen – sie zeigen, daß in den Bildungseliten ein neuartiges Verständnis von Frömmigkeit und Arbeit entstanden war, das sich vom Feiertagsverständnis der meisten Gläubigen abhob, in 12

13

Jonathan Sperber: Der Kampf um die Feiertage in Rheinland-Westfalen 1770-1870. In: Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte. Hgg. von Wolfgang Schieder. Göttingen 1986, S. 123136, hier S. 123. Peter Hersche: Wider ‚Müßiggang‘ und ,Ausschweifung‘. Feiertage und ihre Reduktion im katholischen Europa, namentlich im deutschsprachigen Raum zwischen 1750 und 1800. In: Innsbrucker Historische Studien 12/13 (1990), S. 97-122, hier S. 108-111; Seresse, Feiertage (wie Anm. 11), S. 361 f.

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Frömmigkeit und Gesellschaft | 7

deren Augen sich Frömmigkeit und weltliche Vergnügungen durchaus miteinander verbinden ließen. Das Festhalten an den Feiertagen zeigte sich vielerorts in passivem Widerstand gegen die Abschaffung von Feiertagen. Zumindest bis zu den Umwälzungen im Gefolge der Französischen Revolution war die Reduktion in vielen katholischen Gebieten ein Fehlschlag. Im Erzstift Köln beispielsweise feierten die Leute einfach weiter, und wollte man sie ernsthaft daran hindern, kam es zu Unruhen. Ein Argument, das dabei zugunsten der Festtage zu hören war, lautete: Mit der Abschaffung der Feiertage mache man sich den Evangelischen gleich.14 Der Vergleich mit der anderen Konfession wurde auch in der lutherischen Markgrafschaft Bayreuth in Franken ins Feld geführt, wo die Bauern ebenfalls gegen die Abschaffung der Feiertage opponierten. Sie drohten, „katholisch zu werden, wenn man ihnen ihre Feyertage nicht wieder gäbe; in dem ja ohnedieß nach den abgeschafften Feyertagen in unserer protestantischen Kirche kein Christentum mehr sey.“15 Widerstand gab es aber auch dort, wo man nicht die andere Konfession vor Augen hatte. 1741 beseitigte der schwedische Reichstag per Gesetz ein gutes Dutzend Feiertage, vor allem Aposteltage. Daraufhin erhob sich verbreitetes Murren im Volk. Gleichzeitig führte das schwedische Reich 1741-1743 einen Krieg gegen Rußland, der in einem Desaster endete. Mißernten kamen hinzu. Für viele Schweden war klar: Die Niederlage gegen Rußland und die schlechten Ernten waren Gottes Strafe für die Abschaffung der Feiertage. So trug die Feiertagsreduktion zum letzten großen Bauernaufstand in Schweden bei, der 1743 stattfand; im gleichen Jahr wurden die gerade abgeschafften Festtage wieder eingeführt. Erst drei Jahrzehnte später, 1772, beseitigte man rund 20 Feiertage, diesmal ohne nennenswerten Widerstand.16 Besondere politische Brisanz hatte die Abschaffung von Feiertagen, wenn sie mit konfessionellen Gegensätzen und politischen Problemen verknüpft war, etwa im Rheinland und in Westfalen.17 Diese Regionen waren überwiegend katholisch, aber es gab beträchtliche lutherische und calvinistische Minderheiten, insgesamt also eine konfessionelle Gemengelage. Mit der französischen Revolution und der nachfolgenden Einrichtung französischer Satellitenstaaten in diesem Raum waren die Feiertage fast völlig abgeschafft worden – allerdings auch dies nur mit eingeschränktem Erfolg, vor allem in den Grenzregionen. Warum sollte man an einem Heiligenfest arbeiten, wenn man auf dem anderen Rheinufer die Leute feiern sah? 1815 sprach der Wiener Kongress das Rheinland und Westfalen Preußen zu. Die preußische Verwaltung – dem Selbstverständnis nach ausdrücklich protestantisch-aufklärerisch – setzte in der Feiertagsfrage den Kurs der Franzo14 15 16 17

Paul Münch: Lebensformen in der frühen Neuzeit. Frankfurt/M. – Berlin 1992, S. 427f. Zit. nach ebd., S. 427. Malmstedt, Helgdagsreduktionen (wie Anm. 8), S. 127-134. 263. Zum folgenden Sperber, Kampf (wie Anm. 12), S. 123-136,

7.4 | Christlicher Lebenslauf

237

senzeit im Grundsatz fort und machte sich auch sonst eher unbeliebt. Unterstützung bei dem Versuch, möglichst viele Festtage abzuschaffen, fanden die preussischen Behörden bei den Vorreitern der Industrialisierung. Die ersten Industrieunternehmer in Rheinland-Westfalen waren fast ausschließlich evangelisch und ließen ihre katholischen Arbeiter am liebsten auch sonntags arbeiten. Das führte zu Spannungen. Bemerkenswert ist, daß alle offiziellen Regelungen bis etwa 1850 weitgehend wirkungslos blieben – sogar ein zwischen Preußen und dem Vatikan ausgehandelter Kompromiß von 1829 hatte keinen Erfolg. Erst in den 1850er Jahren wurden Übereinkünfte möglich, etwa in der Art, daß katholische Arbeiter an Feiertagen nach dem Besuch der Frühmesse in die Fabriken gingen. Am letzten Beispiel wird deutlich, daß die Industrialisierung als tiefgreifende Veränderung der Wirtschaftsgesellschaft eine Eigendynamik entwickelte, die sich auf die Gesellschaft und ihre Frömmigkeit auswirkte. Reformation, Aufklärung und schließlich die Entstehung der Industriegesellschaft haben in mehreren Schüben dazu geführt, daß der Zeitrhythmus des agro-liturgischen Jahres an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung gerückt ist.

7.4 Christlicher Lebenslauf Ein wesentlicher Aspekt alltäglicher Frömmigkeit ist die Gestaltung der Übergangsriten (ARNOLD VAN GENNEP) beim Übertritt in eine neue Lebensphase. Durch diese Riten wird der Einzelne in die Gemeinschaft eingeführt und immer neu eingefügt. Hier können nicht alle Übergänge und Lebensstationen gleich ausführlich behandelt werden, erst recht können nicht die ungezählten Formen der teilweise von vorchristlich-magischen Vorstellungen beeinflußten Volksfrömmigkeit berücksichtigt werden. Der Schwerpunkt des Kapitels liegt auf der Frömmigkeit in Zusammenhang mit Geburt und Sterben.

7.4.1 Taufe, Patenschaft, Namensgebung „Wie soll das Kindlein heißen?“ fragt der Pastor die Paten gemäß einer altlutherischen Taufagende von 1886. Nach Taufexorzismus und Gebet ist darin weiter vorgesehen: „Die Paten legen mit dem Pastor dem Kinde die Hände auf und beten mit (wo es üblich ist, knie[e]nd): Vater unser, der Du bist im Himmel “. Nach dem Vaterunser bringen die Paten den Täufling zum Taufstein, wo der Geistliche zunächst an den Taufbefehl Jesu erinnert (Mt 28,18-20) und fortfährt: „Weil ihr Paten aus christlicher Liebe willens seid, dieses Kindlein in dieser öffentlichen christlichen Handlung zu vertreten, so wollet ihr mir nun auf meine folgenden nötigen Fragen, die ich des Taufbundes halber an das Kind zu richten habe, anstatt desselben Rede und Antwort geben.“ „Entsagest du dem Teufel?“

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fragt der Pastor weiter und die Paten antworten: „Ja.“ „Und allen seinen Werken.“ – „Ja.“ „Und alle seinem Wesen?“ „Ja.“ „Glaubest du an Gott den Vater, Allmächtigen, Schöpfer Himmels und der Erden? „Ja.“ Nachdem die Paten auch den Glauben an Christus und den Heiligen Geist bezeugt haben, lautet die abschließende Frage: „Willst du getauft sein?“ „Ja.“ Darauf vollzieht der Pastor die Taufe, spricht: „Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen“, und wendet sich nach einem Dankgebet noch einmal an die Paten: „Ihr Gevattern und Freunde, nehmt euch mit Ernst dieses Kindleins an, daß es ein lebendiges Glied unseres Herrn Jesu Christi bleibe und viel Frucht bringe.“ 18 Am Anfang des christlichen Lebenslaufs steht die Taufe (vgl. Kap. 1.5.3.). Die Elemente des zitierten Beispiels finden sich in der Taufhandlung, wie sie seit der Frühen Kirche bis heute vollzogen wird. Untypisch für eine evangelische Taufe am Ende des 19. Jh.s sind nur Taufexorzismus und Absage an den Teufel: Sie waren in den meisten lutherischen Kirchen im Laufe des 18. Jh.s abgeschafft worden. Die Altlutheraner hielten jedoch in Abgrenzung zur von oben verordneten preußischen Union der lutherischen und calvinistischen Kirchen bewußt daran fest. Im katholischen Taufritus erhielt sich der Exorzismus bis zum Zweiten Vatikanum. Taufe als christlicher Initiationsakt führt in eine Gemeinschaft ein. Das wird daran sichtbar, daß das neugeborene Kind zusätzlich zu seinen leiblichen Eltern Paten erhält. Das Amt des Paten ist seit dem 3. Jh. bezeugt. Der Begriff leitet sich vom lateinischen pater (= Vater) her – gemeint ist eine geistliche Elternschaft des stellvertretenden Glaubens. Eine andere Bezeichnung für den Paten in deutschen Quellen ist Gevatter. In der frühen Kirche hatten Paten eine Art Bürgschaft für erwachsene Taufbewerber übernommen. Als die Taufe von Säuglingen zum Regelfall wurde, erhielten die Paten die Aufgabe, neben den Eltern für die religiöse Erziehung des Täuflings zu sorgen, nachdem sie für ihn das Bekenntnis zum christlichen Glauben abgelegt und ihn aus der Taufe gehoben hatten – bis ins 15. Jh. hinein war es üblich, das Kind vollständig in das Taufbecken einzutauchen. Aus sozialgeschichtlicher Perspektive sind die Angaben in den neuzeitlichen Kirchenbüchern über Paten interessant, weil hierdurch gesellschaftliche Netzwerke erkennbar werden: Welche Familien gingen mit welchen anderen Familien Patenverbindungen ein? Nicht selten übernahmen Angehörige der Oberschicht die Patenschaft von Kindern ihrer Untergebenen und bekräftigten dadurch die bestehende Beziehung, nicht zuletzt sichtbar durch ein Taufgeschenk. Die Übernahme der Patenschaft bedeutete zugleich die Übernahme einer gewissen Verpflichtung für das irdische Vorankommen des Täuflings, bei Mädchen etwa einen erheblichen Zuschuß zur Mitgift. Ebenso waren, sofern die Eltern früh verstarben, 18

Agende für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen. Zweiter Teil. Die kirchlichen Handlungen. Cottbus 1886, S. 4-6.

7.4 | Christlicher Lebenslauf

239

die Paten als geistliche Eltern dazu verpflichtet, sich um das Waisenkind zu kümmern. Mit der christlichen Taufe war also die Begründung bzw. Pflege sozialer Beziehungen engstens verknüpft. Bis in das 19./20. Jh. hinein wurde die Taufe, sofern ein Geistlicher verfügbar war, so bald wie möglich vollzogen, d.h. am Tag nach der Geburt oder wenige Tage später. Eine wesentliche Ursache hierfür war die bis ins 19. Jh. hinein hohe Säuglingssterblichkeit. In manchen Regionen starb jedes dritte Neugeborene im ersten Lebensjahr. Darum war es den Eltern wichtig, dem neugeborenen Kind durch die Taufe das ewige Heil zu sichern. Starb ein getauftes Kind, so konnte es in geweihter Erde bestattet werden und der Weg in die ewige Herrlichkeit stand ihm offen. Groß war die Not und Verzweiflung folglich, wenn ein Kind tot zur Welt kam, etwa bei einer Frühgeburt, oder wenn es verstarb, noch ehe etwa die Hebamme die Nottaufe hatte vollziehen können. Nur ein lebender Mensch konnte getauft werden, und die Bestattung in geweihter Erde war nur Getauften möglich. Wer ungetauft starb, mußte irgendwo verscharrt werden; nach vorchristlichen Vorstellungen, die im Volksglauben vielfach überlebt hatten, irrte die Seele unerlöst umher. Was war zu tun, wenn, wie so häufig, ein Kind tot zur Welt kam oder gleich nach der Geburt verstarb? Seit der Spätantike bekannt und im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit als schichtenübergreifendes Massenphänomen vor allem in Frankreich, im deutschen Südwesten und im deutschsprachigen Alpenraum bezeugt ist für diese Situation das Kinderzeichnen.19 Es fand beispielsweise in der Kirche des Klosters Ursberg, rund 35 km von Augsburg entfernt, statt. Dorthin brachten um 1700 jährlich Hunderte von Eltern (teils erschienen nur die Väter, vermutlich weil eine strapaziöse Reise für viele Wöchnerinnen nicht in Frage kam), ihre verstorbenen Säuglinge. Sie kamen aus der Region, aber selbst aus Österreich und Böhmen. Vor dem Ursberger Gnadenbild, einer Darstellung Mariens, legten sie das kleine Bündel nieder und baten, nicht selten unterstützt von Freunden und Verwandten, die hl. Jungfrau um ihre Hilfe, oft unter Ablegen eines Gelübdes. Darauf, so wird es – keineswegs immer, doch in vielen Fällen – beschrieben, erwachte das Kind kurz zum Leben, erkennbar an einer Rötung der Wangen und einigen Schweißperlen; es „zeichnete“, gab Lebenszeichen von sich, daher „Kinderzeichnen“. Ein Mönch des Klosters vollzog die Nottaufe, das Kind verstarb wiederum; aber nun konnte es – und das war entscheidend – in geweihter Erde bestattet werden.

19

Zum folgenden Arthur E. Imhof: Die verlorenen Welten. Alltagsbewältigung durch unsere Vorfahren – und weshalb wir uns heute so schwer damit tun. München (2. Aufl.) 1985, S. 159-174; Alois Döring: Bestattet am anonymen Ort? Zum Begräbnisschicksal von (ungetauften) totgeborenen Kindern. In: Rheinisches Jahrbuch f. Volkskunde 34 (2001/2002), S. 29-48; Hersche, Muße (wie Anm. 5), S. 886-890; Eva Labouvie: Geburt und Tod in der Frühen Neuzeit. Letzter Dienst und der Umgang mit besonderen Verstorbenen. In: Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte. Hgg. von Jürgen Schlumbohm et al. München 1998, S. 289-306.

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Was man als Rötung der Wangen wahrnahm, mögen die Schatten gewesen sein, welche die Kerzenflammen auf dem Altar warfen; sicherlich waren die aufgewühlten Eltern und die anderen Beter bereit, auch das kleinste Zeichen einer Veränderung als Erweckung zum Leben zu deuten. Wichtiger als die naturwissenschaftliche Durchleuchtung der Reanimation ist in unserem Zusammenhang das Vertrauen, das in die Fürsprache und Kraft Mariens und der Heiligen gesetzt wurde, zudem der Umstand, daß der Vater oder die Eltern nicht alleine um Hilfe flehten und Gelübde ablegten, sondern dies oft gemeinsam mit Freunden und Angehörigen taten. Aber auch die nicht seltenen Differenzen zwischen Volksfrömmigkeit und kirchlich gewünschter Praxis treten am Fall Ursberg hervor. 1729 befahl die Kongregation des Heiligen Offiziums, also die römische Inquisitionsbehörde, dem Bischof von Augsburg, die Taufen in Ursberg zu unterbinden. Das Kloster weigerte sich jedoch, dem bischöflichen Gebot zu folgen. Erst als 1737 das Verbot erneuert wurde, stellten die Mönche die Taufen ein. Die Folge: Nun führten Laien die Nottaufe durch. Noch mehrfach verbot die Kurie allgemein die Wallfahrt zu Wiedererweckungsorten: Das deutet auf den geringen Erfolg dieser Verbote hin. In Ursberg endete das Kinderzeichnen um 1780. Aber auch aus dem 19. Jh. sind Berichte davon aus anderen Orten überliefert. Am Anfang des Lebens stand neben der Taufe die Namensgebung. Namen sind mehr als eine beliebige äußere Bezeichnung; sie drücken Erwartungen und Wünsche der Namensgeber aus, sind „Bestandteil der Person“20 und integrieren diese Person in eine Gemeinschaft. Es lag nahe, daß oft die Paten den Namen oder einen von mehreren Namen beisteuerten. Aber die Namensgebung war auch auf andere Weise mit christlichen Frömmigkeit verknüpft. Das zeigt die Schilderung einer Bergbäuerin aus dem Salzburgischen über die Praxis der Vornamensvergabe in ihrer Familie zu Beginn des 20. Jahrhunderts: „‚Ich hatte sieben [...] Geschwister: Georg bekam den Namen nach dem Großvater, Johann nach dem Vater, Stefan nach dem Taufpaten, Franz Josef nach dem Kaiser, Anna nach der Mutter, Florian nach dem Feuerpatron (Mein Vater sagte, wo ein Florian im Haus ist, brennt es nie). Aloisias Name wurde vom Pfarrer gewollt. Ich selbst habe den Namen Barbara von der Taufpatin. [...] Ich fragte einmal meine Ziehmutter, woher die unbekannteren Namen kamen. Da sagte sie: Wenn viele Kinder in der Familie sind, dann kommen zuerst die vererbten Namen dran und dann sagt der Pfarrer, wie’s heißen sollen.‘“21 Interessant an dieser Praxis ist nicht zuletzt, wie sich die Namensvergabe aus verschiedenen Quellen speiste, die allesamt Gemeinschaft herstellten, die familiäre ebenso wie die politische und religiöse. Schaut man auf die Herkunft der hier vergebenen Namen ist ferner bemerkenswert, daß sie sich ausnahmslos von Heiligen herleiteten. Tatsächlich spielten seit dem Hochmittelalter im lateinischen Europa einerseits die Namen von Fürsten und andererseits die Namen von Heili20

21

Otto G. Oexle: Die Gegenwart der Lebenden und der Toten. Gedanken über Memoria. In: Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet. Hgg. von Karl Schmid. München – Zürich 1985, S. 74-107, hier S. 81. Zit. nach Michael Mitterauer: Ahnen und Heilige. Namengebung in der europäischen Geschichte. München 1993, S. 13.

7.4 | Christlicher Lebenslauf

241

gen die wesentliche Rolle, wobei einige heiliggesprochene Könige wie der norwegische König Olaf der Heilige († 1030) herausragen. Ältere Namen verschwanden oder traten an den Rand. Die große Zeit der Heiligennamen begann im 12./13. Jh.; ihre gesteigerte Bedeutung beruhte offensichtlich auf der sich ausbreitenden Vorstellung, den Heiligennamen wohne besondere Kraft inne; diese Entwicklung stand wohl in Zusammenhang mit der oben (Kap. 7.1.) angesprochenen, partiellen Ablösung der Heiligenverehrung von bestimmten Orten. Die Verbindung mit dem Heiligen konnte nun auch durch den Namen hergestellt werden. Die z.T. bis ins 20. Jh. andauernde Popularität der Heiligennamen wird an dem zitierten Bericht der Salzburger Bäuerin erkennbar: Sämtliche Geschwister erhielten Heiligennamen bzw. Namen, die direkt oder indirekt auf Heilige zurückgehen – offenkundig bei Stephanus, dem ersten Märtyrer und Anna, der Mutter Mariens. Aber auch der Kaisername Franz Joseph ist zusammengesetzt aus den Namen des hl. Franziskus von Assisi und dem des hl. Joseph, des irdischen Vaters Jesu, der in der frühen Neuzeit popularisiert wurde. Der Drachentöter Georg, Märtyrer um 300, war in ganz Europa volkstümlich; auch die hl. Barbara gehört zu den ältesten christlichen Heiligen; sie soll im 3. Jh. das Martyrium erlitten haben, ebenso wie St. Florian zu Anfang des 4. Jh.s. Aloisia schließlich ist die weibliche Variante des Namens Alois; dabei handelt es sich um den eingedeutschten Namen des hl. Luigi Gonzaga SJ (15681591), der sich aufopfernd der Krankenpflege widmete und jung starb; noch vor seiner Heiligsprechung 1726 wurde er ein populärer Heiliger. Die Beliebtheit der Heiligennamen läßt sich manchmal statistisch nachvollziehen, wie ein französisches Beispiel zeigt. Die drei häufigsten Männernamen in Saint Léonard-de-Noblat (Limousin) vom 14. bis 19. Jh. 22 Zeitraum

Platz 1

Platz 2

Platz 3

1371-1381

Pierre 24,8 % Jean 23,4 % Jean 25,4 % Léonard 28,2 % Léonard 32,1 % Jean 24 %

Jean 22,9 % Pierre 22,3 % Léonard 19 % Jean 18,8 % Pierre 13,8 % Léonard 18 %

Léonard 7,3 % Léonard 7,7 % Pierre 11,7 % Pierre 13,9 % Jean 9,9 % Pierre 12,7 %

1400-1408 1490-1496 1680 1740 19. Jh.

22

%-Anteil insgesamt 55,0 % 53,4 % 56,1 % 60,9 % 55,8 % 54,7 %

Ebd., S. 267. Für die Angaben zum 19. Jh. wurde das gesamte Département Haute-Vienne zugrundegelegt.

242

Frömmigkeit und Gesellschaft | 7

Bemerkenswert ist hier die Tatsache, daß drei Namen ein halbes Jahrtausend lang stets die beliebtesten Namen in Saint Léonard-de-Noblat waren. Jean (Johannes, Hans, Jan, John, Juan, Giovanni usw.) und Pierre (Peter, Pieter usw.) waren überall in Europa sehr verbreitet. Der Name Johannes – im NT prominent vertreten durch den Evangelisten Johannes sowie den Täufer – war u.a. wegen eines Verses im Mt-Evangelium so beliebt. „Unter allen Menschen hat es keinen Größeren gegeben als Johannes den Täufer“, sagt Jesus dort (Mt 11,11). Seine Fürsprache hielt man folglich für besonders wirksam und es ist nicht erstaunlich, wenn in deutschsprachigen Bürgerlisten oder anderen Namensverzeichnissen des Spätmittelalters jeder dritte Mann Hans heißt. Petrus wiederum galt neben Paulus als vornehmster Apostel und hatte die Schlüssel zum Himmelreich inne (Mt 16,19). Die Beliebtheit des Namens Léonard in Saint Léonard-deNoblat geht auf einen Heiligen dieses Namens zurück, der im 6. Jh. im Bistum Limoges gelebt und ein Kloster gegründet hatte, von dem der hier untersuchte Ort seinen Namen erhielt. Dieser ursprünglich nur lokal verehrte Heilige wurde weit über das Limousin hinaus populär als Patron der Bauern; wir finden den Vornamen nicht selten z.B. auch in Süddeutschland (Leonhard, Lienhart) und Skandinavien (Lennart). Als Schutzpatron der Gefangenen wurde er manchmal auch zu den Vierzehn Nothelfern gezählt. Mit Barbara, Georg, Florian und Katharina waren übrigens die Hälfte der Kinder der Bergbauernfamilie nach einem der Nothelfer benannt – Florian zählt allerdings ebenso wie Leonhard nicht immer zu ihnen. Die drei Namen Jean, Pierre und Léonard machten in Saint Léonard über ein halbes Jahrtausend hinweg kontinuierlich 50 bis 60 % aller Namen aus. Ganz ungewöhnlich war auch das nicht. In England trugen im 14. Jh. in ländlichen Gebieten bis zu 80 % aller Männer die fünf häufigsten Männernamen. Und in einer belgischen Pfarrei hießen, auf das gesamte 19. Jh. bezogen, nicht weniger als 81 % der Jungen Joseph und 88 % der Mädchen Maria; allerdings war das nicht immer der Rufname, sondern oft der zweite oder dritte Name.23 Vergab man nicht einen der populärsten Apostel- oder Heiligennamen, so wählte man oft den Heiligennamen des Tauftages. Ein bekanntes Beispiel ist Martin Luther: geboren am 10. November, getauft einen Tag später, erhielt er den Namen des Tagesheiligen Martin von Tours. Für Tirol haben Untersuchungen ergeben, daß vom Ende des 16. bis zum Ende des 18. Jh.s zwischen 1/3 und 2/3 aller Namen nach diesem Prinzip vergeben wurden, wobei auffällt: die älteren Kinder bekamen die weit verbreiteten Heiligennamen – eben Maria, Anna, Johann, Joseph – die jüngeren dann die Namen der Tagesheiligen.24 Bis heute wird in manchen katholischen Regionen Europas eher der Namenstag als der Geburtstag gefeiert.

23 24

Ebd., S. 291 f. Ebd., S. 351.

7.4 | Christlicher Lebenslauf

243

Bei der bis ins 19./20. Jahrhundert weit verbreiteten Vergabe von Heiligennamen spielte nicht nur Frömmigkeit eine Rolle. Örtliche und familiäre Traditionen hatten ihr eigenes Gewicht, ohne daß sie deswegen zur religiösen Motivation im Gegensatz stehen mußten. In jedem Fall diente die Namensgebung nicht wie heute vielfach als Ausdruck von Individualität, sondern dazu, das neugeborene Kind in eine religiöse und soziale Gemeinschaft hineinzustellen. Das blieb auch nach der Glaubensspaltung so. Calvinisten gaben ihren Kindern oft alttestamentliche Vornamen wie Abraham oder Isaak; darin drückte sich die Abkehr von den traditionellen Heiligennamen samt der Heiligenverehrung aus: Der Vorsatz, das Kind in die – neu verstandene – christliche Gemeinschaft aufzunehmen, aber bleibt deutlich erkennbar. Neben den Heiligennamen gibt es weitere Gruppen spezifisch christlicher Namen, unter denen einzelne sehr beliebt waren und sind. Es handelt sich um theophore Namen wie z.B. Gottlieb / Amadeus, christianophore Namen wie z.B. Christian oder Pascal (von lat. paschalis = österlich) sowie angelophore oder Engelnamen (Gabriel, Michael, Raphael).

7.4.2 Erster Kommunionempfang, Konfirmation und Erwachsenwerden In enger inhaltlicher Verknüpfung mit der Taufe (vgl. Kap. 1.5.3.) steht die erste Teilnahme am Herrenmahl (sowie die über weite Strecken der Geschichte nicht konsequent praktizierte und deshalb hier nicht weiter berücksichtigte Firmung). Das Alter der ersten Teilnahme am Herrenmahl schwankte im Laufe der Zeit.25 Bis um 1200 gab es die Praxis der Kinderkommunion. Davon rückte das IV. Laterankonzil (1215) ab, bedingt durch die von ihm formulierte Regel, jeder Christ solle wenigstens einmal jährlich zur Beichte gehen und kommunizieren. Ab welchem Alter sollte diese Vorschrift gelten? Das Konzil setzte bewußt keine genaue Altersangabe fest. Entscheidend sollte sein, daß die Kommunikanten imstande waren, zwischen profaner Speise und dem Herrenmahl zu unterscheiden. Im Anschluß an Thomas von Aquin († 1274) setzte sich wohl meist die Praxis durch, daß Kinder erstmals im Alter von zehn bis zwölf oder 14 Jahren kommunizierten. Wenn die Kinder „zum Zwölfften jahre kommen seindt, so soll er [sc. der Kaplan] sie beichte hören und zum hochwirdigen sacrament des abentmals führen“, heißt es etwa in einer Vorschrift aus Lothringen von 1471.26

25

26

Zum folgenden Johann Baumgärtler: Die Erstkommunion der Kinder. Ein Ausschnitt aus der Geschichte der katholischen Kommunionspraxis von der urkirchlichen Zeit bis zum Ausgang des Mittelalters. München 1929 und Klaus Peter Dannecker: Taufe, Firmung und Erstkommunion in der ehemaligen Diözese Konstanz. Eine liturgiegeschichtliche Untersuchung der Initiationssakramente. Münster 2005, S. 430-433. Zit. nach Baumgärtler, Erstkommunion (wie Anm. 25), S. 173.

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Der erstmalige Empfang des Herrenmahls wurde meist nicht festlich herausgehoben: die Kinder gingen mit ihren Eltern und Paten zu Ostern zur Kommunion, wie eben alle Gläubigen. Eine Vorbereitung durch die Eltern wurde wohl vorausgesetzt, in manchen Regionen wurden die Kinder im Spätmittelalter vor der Erstkommunion nach entsprechender Vorbereitung examiniert. Im Gefolge des Konzils von Trient wurden die Bemühungen um Katechismusunterricht verstärkt; die Unterweisung fand teilweise in den Schulen statt, teilweise am Sonntag außerhalb der Messe, wobei sich vielerorts die Jesuiten engagierten; die Erstkommunion fand wohl meist noch vor dem Eintritt in die Pubertät statt. Seit 1910 liegt das übliche Alter bei der Erstkommunion bei acht bis neun Jahren und wird festlich begangen. Die evangelische Konfirmation nach entsprechendem Schulunterricht oder Katechese wurde im Lauf des 16. bis 18. Jh.s nach und nach eingeführt; sie setzte bei einem höheren Alter an, so daß sie sich tendentiell zu einem Übergangsritus beim Eintritt ins Erwachsenendasein entwickelte, wie ihn alle Kulturen in der einen oder anderen Weise festlich begehen. Indirekt als Übergangsfest erkennbar wird die Konfirmation etwa an der im Dänemark des 18. Jh.s geltenden Vorschrift, daß niemand ohne die vorherige, 1736 eingeführte, Konfirmation heiraten oder einen Bauernhof übernehmen durfte.27 Das Konfirmationsalter schwankte von Region zu Region, lag aber oft höher als heute, meist wohl bei 16 Jahren; vielfach gingen die Konfirmierten im Anschluß an das Fest als Knechte und Mägde in Dienst. Im evangelischen Deutschland des 19./20. Jh.s wurde die Konfirmation oft am Palmsonntag oder am Weißen Sonntag (erster Sonntag nach Ostern) gefeiert. So fiel sie oft mit dem Ende der Volksschulzeit (das Schuljahr endete mit den Osterferien), dem Beginn der Lehre und damit des Arbeitslebens zusammen; die meisten Konfirmanden waren zu diesem Zeitpunkt 14 bis 15 Jahre alt und für nicht wenige „angehende Jünglinge“ um 1900 bestand die Gewißheit: „die Konfirmation wird die ersten langen Hosen bringen“28 – ein sichtbares Zeichen des Erwachsenwerdens.

7.4.3 Eheschließung In Abgrenzung zu älteren Bräuchen setzte sich seit dem Hochmittelalter auf der normativen Ebene allmählich das christliche Eheverständnis durch. Erstens mußte eine Ehe öffentlich geschlossen werden, um gültig zu sein; das stützte die Einehe (Monogamie) und richtete sich gegen heimliche Ehen (klan27

28

Karsten Hermansen: Kirken, kongen og enevælden. En undersøgelse af det danske bispeembede 1660-1746. Odense 2005, S. 28. 345. So formuliert in den Kindheitserinnerungen des späteren Historikers Hermann Heimpel (geb. 1901, konfirmiert 1916) aus gutbürgerlichem, protestantischen Münchner Milieu (Hermann Heimpel: Die halbe Violine. Eine Jugend in der Haupt- und Residenzstadt München. Wiesbaden 1959, S. 225.)

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destine Ehen, Winkelehen, d.h. ohne Zeugen verabredete Verbindungen) und Konkubinate aller Art, samt ihren sozialen und rechtlichen Folgeproblemen. Öffentlichkeit bedeutete meist, daß die Ehe vor der Kirchentür geschlossen wurde, bevor aus diesem Anlaß in der Kirche eine Messe gefeiert wurde. Zweitens mußten dabei beide, Frau und Mann, ihr Einverständnis erklären. Vor allem der öffentlich erklärte Konsens der Eheleute (daher Konsensehe) trug wesentlich zu einem neuen, individuelleren Eheverständnis bei, abgegrenzt von der älteren Auffassung, die unter der Ehe primär eine Verbindung zweier Sippen verstand. Gleichwohl spielten familiäre und wirtschaftliche Interessen bis ins 18./19. Jh. hinein oft eine wichtige Rolle für das Zustandekommen einer Ehe. Drittens gilt die liturgisch vollzogene Eheschließung nach katholischen Verständnis als Sakrament, wobei das gegenseitige Eheversprechen sakramentalen Charakter trägt. Der durch den Priester ausgesprochene Segen über die Brautleute während der Meßfeier tritt hinzu, ist aber nicht konstitutiv für das Sakrament. Der sakramentale Charakter bedingt die Unauflösbarkeit der Ehe; eine Annullierung oder Scheidung ist nur unter bestimmten, im Kirchenrecht festgelegten Bedingungen möglich. Luther lehnte es ab, die Ehe als Sakrament aufzufassen. Im übrigen folgte sein 1529 publiziertes „Traubüchlin für die einfältigen Pfarrherrn“ aber weitgehend den bis dahin üblichen Formen, angefangen von der Verkündung des Aufgebots von der Kanzel, also der Vorankündigung der Eheschließung, die mit der Aufforderung verbunden war: „Vnd hette yemands etwas darein zu sprechen / der thu es bey zeit / odder schweige hernach.“ Grund für einen Einspruch konnte etwa ein anderweitiges Eheversprechen sein. Am Hochzeitstag selber sollte der Geistliche vor der Kirche den Konsens erfragen: „Hans wiltu Greten zum ehelichen gemalh haben? Dicat / Ja. Greta wiltu Hansen zum ehelichen gemalh haben? Dicat / Ja.“ Danach sollten die beiden einander die Trauringe geben, woraufhin der Pfarrer ihre rechten Hände zusammenfügen und sprechen sollte: „Was Gott zu samen fügt / sol kein mensch scheiden.“ Dann sollte er sich an die Gemeinde richten: „Weil denn Hans N. vnd Greta N. einander zur ehe begeren / vnd solchs hie offentlich für Gott vnd der wellt bekennen / darauff sie die hende vnd trawringe einander gegeben haben / So spreche ich sie ehelich zu samen / ym namen des Vaters / vnd des Sons / vnd des heiligen geists / Amen.“ Der damit vollzogenen Eheschließung folgte der Einzug in die Kirche, wo der Geistliche Bibelworte zur Ehe verlas und das Paar segnete.29 Von der großen Vielfalt lokaler Hochzeitsbräuche ist hier nicht zu sprechen; erwähnt sei, daß in den Fastenzeiten des Kirchenjahres üblicherweise keine Eheschließung stattfand. Aus sozialgeschichtlicher Sicht interessant ist, daß seit dem 16. Jh. in allen Konfessionen die Anstrengungen verstärkt wurden, den christlichen Normen für die Eheschließung Geltung zu verschaffen. Das galt namentlich im Gegensatz zur 29

Cl 4, S. 101f.

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durchaus noch üblichen Auffassung, „die Ehe werde durch gegenseitiges Versprechen, Übergabe eines Geschenkes durch den Mann und nachfolgenden Geschlechtsverkehr begründet.“30 Am erfolgreichsten waren diese Bemühungen wahrscheinlich im calvinistischen Europa; auf lange Sicht, gelang auch in den anderen Konfessionen bis etwa 1750 eine weitgehende Verkirchlichung der Eheschließung. Im 19./20. Jh. trat die Zivilehe neben die kirchliche Trauung.

7.4.4 Tod als Übergang „Es ist nichts gewisers wann [= als] der tod / Aber nichts vngewiser wann die zeit des todes.“31 Was in einer Südtiroler Predigthandschrift aus dem 15. Jh. formuliert ist und sich in vielen Variationen andernorts findet, gilt für die Menschen aller Zeiten. Aber es galt besonders für die Vormoderne: Tod und Sterben waren alltäglich, nicht nur wegen der hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit, sondern auch, weil heute harmlose Erkrankungen und Verletzungen auch einen Erwachsenen binnen weniger Stunden oder Tage das Leben kosten konnten. Die Mortalitätsrate lag dementsprechend in „normalen“ Jahren etwa drei Mal so hoch wie heute. Hinzu kamen die Zeiten, in denen schwere Mißernten und Seuchen wie die großen Pestwellen massenhaftes Sterben auslösten. Zur faktischen Unsicherheit des Lebens kam im Unterschied zu heute hinzu, daß Sterben und Tod damals im Alltag präsent waren. Hier sei zunächst nur auf die simple Tatsache verwiesen, daß die meisten Friedhöfe bis ins 18./19. Jh. hinein als Kirchhöfe rings um die Kirchen angelegt waren: Besonders in den Dörfern, aber auch oft in der Stadt, bedeutete dies, daß man die Gräber fast täglich passierte. Auch erscheint der Kirchhof in den Quellen oft als ein Platz bunten Treibens – auch dies weist auf eine Mentalität hin, in welcher der Tod alltäglicher war als heute. Gleichwohl darf vom alltäglichen Umgang mit dem Tod und der Unsicherheit des Lebens wohl in der Regel nicht auf eine Abstumpfung gegenüber dem Tod geschlossen werden. Dies gilt um so mehr, als es auf dem Sterbebett um mehr als das Ende des irdischen Lebens ging. An der Schwelle des Todes befand sich der Sterbende zugleich im Übergang zum ewigen Heil oder zur ewigen Verdammnis. Die vielfältigen Frömmigkeitsformen rund um Sterben und Tod zeigen das Bemühen, dem Gläubigen als Glied der Gemeinschaft diesen Übergang zu erleichtern. Es ging darum, richtig zu sterben, einen „guten Tod“ zu sterben. Das hieß zunächst: vorbereitet zu sterben, nicht plötzlich. Die Angst vor dem jähen Tod 30 31

Hersche, Muße (wie Anm. 5), S. 733. Predigthandschrift aus dem Klarissenkloster zu Brixen, zit. nach Ute Monika Schwob: Sorge um den ‚guten Tod‘ – Angst vor dem ‚jähen Tod‘. Religiös-moralische Mahnungen und Reaktionen von seiten der Gläubigen. In: du guoter tôt. Sterben im Mittelalter – Ideal und Realität. Hgg. von Markus J. Wenninger. Klagenfurt 1998, S. 11-30, hier S. 22.

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war groß, weil dann keine Gelegenheit mehr bestand, sich auf den letzten Gang vorzubereiten. Vorbereitung bedeutete im Idealfall: Der Sterbende beichtete bei klarem Bewußtsein, ein Geistlicher sprach ihm die Vergebung zu und spendete die Sterbesakramente, die letzte Ölung und das Abendmahl. Das Sakrament der Letzten Ölung (lat. extrema unctio) war einerseits aus der frühchristlichen Praxis der Krankensalbung entstanden: das geweihte Öl (Chrisam) war das Zeichen des Segens Christi für den Kranken. Zur Krankensalbung trat andererseits die Praxis der Bußsalbung hinzu: weil die mit der Buße verbundene letzte Beichte im 4./5. Jh. oft bis zum Sterbebett aufgeschoben wurde, erhielt sie die Bezeichnung der Letzten Ölung. Das Element der Krankensalbung trat in der Folgezeit zurück und seit dem 11./12. Jh. wurde die letzte Ölung als Sakrament verstanden, die nur Sterbenskranken gespendet werden durfte. Als Sterbesakrament wird auch die auf dem Totenbett empfangene Kommunion bezeichnet; man sprach auch vom viaticum (lat. = Reisegeld). Gemeint war: Für die letzte Reise wird eine geistliche Wegzehrung mitgegeben. Die Sterbesakramente sollten dem Sterbenden die tröstliche Gewißheit geben, durch den Tod hindurch ins ewige Leben einzugehen. Wurde der Pfarrer zu einem Schwerkranken gerufen, dessen nahen Tod man befürchtete, so machte er sich auf den Versehgang, so die in deutschsprachigen Quellen übliche Bezeichnung. Dabei führte er die notwendigsten liturgischen Geräte mit, das Gefäß für das Salböl, ggf. auch das Ciborium, ein kelchförmiges Gefäß, in dem sich konsekrierte Hostien befanden. Je nachdem begleiteten ihn ein Hilfsgeistlicher oder Küster, ferner Messdiener mit Kerzen und einer kleinen Glocke, u.U. wurde das Ciborium auch unter einem Baldachin getragen. Das Läuten der Glocke erregte Aufmerksamkeit, erst recht dann, wenn noch Sänger und Laternenträger hinzukamen. Die Umstehenden bezeigten durch Kniefall und Bekreuzigung ihre Ehrfurcht vor der Hostie oder schlossen sich dem Zug sogar an – aus der frühen Neuzeit sind solche „Spontanprozession[en]“32 im katholischen Europa bezeugt. Der Vorbereitung auf den guten Tod diente auch die ars moriendi (lat., Kunst des Sterbens) ein wichtiger Teil der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Frömmigkeitsliteratur. Sie war dem richtigen, christlichen Sterben gewidmet. Die artes moriendi enthielten Sterbegebete, ferner Ratschläge für diejenigen, die am Sterbebett versammelt waren, wie sie mit dem Sterbenden sprechen und ihn mit dem Hinweis auf Gottes Gnade und die Heilskraft der Sakramente ermutigen und ermahnen konnten, wenn er – vielleicht auch durch Schmerzen geplagt – mit dem Tode rang und um sein Seelenheil fürchtete. Oft waren die artes moriendi auch bebildert: Teufelsgestalten und Engel umgeben das Bett des Sterbenden; in comicartigen Sprechblasen äußern sie ihre Botschaften. Ursprünglich waren die ars moriendi-Bücher als Hilfe für die Geistlichen gedacht, die man ans Sterbebett rief. Die vielen volkssprachigen artes moriendi zeigen 32

Hersche, Muße (wie Anm. 5), S. 576.

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aber, daß auch Laien das Bedürfnis hatten, sich auf die Sterbestunde vorzubereiten. Diese Vorbereitung auf ein christliches Sterben begann mitten im Leben, im Todeskampf konnte es zu spät dafür sein: „That which foolish menne are willing to do in the end, wise men do in the beginning,“ hieß es mahnend in dem englischen Werk „Disce mori: Learne to Die“ aus dem Jahr 1600.33 Die Bedeutung der Ars moriendi–Literatur wird daran erkennbar, daß – wie dieses Beispiel zeigt – nach der Glaubensspaltung auch protestantische artes moriendi entstanden. Gebete, Bibellektüre und der Empfang des Abendmahls nach vorheriger Sündenvergebung standen hier im Zentrum. Die Vorbereitung auf den Tod wird erkennbar am Bericht des Kölner Bürgers Hermann Weinsberg (1518-1597), der das Sterben seines Vaters Christian miterlebte. Dieser war wie seine Ehefrau im September 1549 an einem Fieber erkrankt; während letztere genas, starb Christian Weinsberg wenige Wochen später im Alter von 60 Jahren. „Am 18. September ließen meine Eltern in der Stube eine Messe lesen; sie beichteten beide und wurden mit dem heiligen Sakrament versehen. Danach begab sich mein Vater auf das Krankenlager und kam danach nicht wieder auf die Beine.“ Christian Weinsberg wurde während seiner Krankheit von einem Langbruder betreut, einem Angehörigen einer Kölner Bruderschaft, die Kranke und Sterbende begleitete. „Mein Vater konnte ihn anfangs schwer ertragen und sagte: ‚Wie stinkt der Mönch in seiner Kapuze.‘ Aber [...] bald gewann er ihn lieb, weil er ihn tröstete und sich stets um ihn kümmerte.“ „Mein Vater hielt sich erbärmlich während seiner Krankheit und gebrauchte diese Worte: ,Mich graut es, ich muß sterben, ich habe große Bangigkeit und Pein ums Herz, ich bin doch eine elende Kreatur, ein armer Wurm bin ich, nun möge Gott mich trösten, er möge mir helfen und mir barmherzig sein [...].‘ Als er die Nacht zum 3. Oktober an Fieber und Hitze sehr krank gewesen war, ließ er am Morgen meine Mutter und seine Söhne und Töchter [...] zu sich kommen [...]. Er sagte zu meiner Mutter, sie möge sich trösten, er wolle auch Gott für sie alle bitten; und er befahl seinen Kindern, daß sie ihrer Mutter gehorsam sein und sie ehren sollten, und daß sie Frieden untereinander halten sollten. Er befahl mir im besonderen, daß ich meine Hand über dem Haupt meiner Mutter halten solle. Er ließ auch [...] seinen Diener zu sich kommen und machte da mit aller Wissen und Willen sein Testament und seinen letzten Willen vor den Zeugen Bruder Franz [dem Langbruder] und Derich von Ratingen.“ „Am Sonntag dem 6. Oktober wurde mein Vater mit dem heiligen Öl vom Kaplan zu St. Birgitten versorgt [...] Er bat auch die Nachbarn und alle, die zu ihm kamen, um Vergebung, wenn er sie erzürnt habe. Als er danach immer schwächer wurde, sagte er oft: ‚Ich muß sterben, ich bin ein toter Mann [...].‘“ Am Abend des 14. Oktober konnte er „nicht mehr verständlich sprechen, außer ja oder amen, doch war er bei klarem Verstand bis ein Uhr vor seinem Tod, und 33

In: The English ars moriendi. Ed. by David William Atkinson. New York u.a. 1992, S. 185.

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der [Lang]Bruder las ihm die Passionsgeschichte und viel aus der heiligen Schrift und gute Gebete vor, ermahnte ihn zum festen Glauben und sprach ihm das Credo wohl fünf Mal vor. Als die Uhr 10 geschlagen hatte, sprach ich ihn an und sagte: ‚Vater, erkennt ihr mich?‘ Er sagte: ‚Ja.‘ Das tat ich, weil er mich gebeten hatte, ich solle bei ihm bleiben, bis er verscheide und ihn ansprechen. Darum sagte ich: ‚Was ich Euch versprochen habe, das soll geschehen, wie ihr wollt. Wir alle wollen uns mit der Hilfe Gottes recht verhalten; und, lieber Vater, vertraut auf Gott den Herrn, er wird euch trösten und beistehen, und wenn wir uns hier nicht mehr sehen, so will ich euch segnen und Gott anempfehlen, bis wir uns im Himmel sehen.‘ Da hob er die Hand auf und schlug sie nieder auf die Decke. Da verstanden wir, daß er uns gute Nacht sagte und wir ließen ihn danach ruhig liegen.“ Die Kinder des Sterbenden waren anwesend, z.T. mit ihren Ehepartnern, sowie weitere Freunde der Familie. Alle beteten. „Als es nun nach Mitternacht war und sein Atem schwächer wurde, und die zweite Stunde näher kam, gab er seinen Geist und letzten Atem auf. [...] Gott schenke ihm das ewige Leben, Freude, Trost und Barmherzigkeit.“ Abschließend schildert Weinsberg den Weg des Trauerzuges am folgenden Tag unter Glockengeläut, erwähnt die Lateinschüler, die die liturgischen Gesänge als Chor sangen ebenso wie die Augustiner- und Karmelitermönche, die im Leichenzug mitgingen, gibt endlich genau den Platz in der Kapelle an, in der sein Vater wunschgemäß bestattet wurde. Ganz am Ende seines Berichtes heißt es dann: „Über dieses Sterben und Begräbnis konnte ich mich nicht trösten; ich habe nie ganz die Fassung verloren, war aber niemals so nah davor wie diesmal. So lieb hatte mein seliger Vater mich und ich wiederum ihn [...]. Gott möge seiner Seele gnädig sein und mich und uns alle trösten.“34 Ein guter Tod im christlichen Sinne – damit war nicht stoische Gelassenheit gemeint. Hermann Weinsberg verschweigt weder die Angst des sterbenden Vaters noch die eigene Trauer. Doch die Todesangst wird eingehegt durch die Vorbereitung auf den Tod, durch den bewußten Abschied von Familie und Nachbarschaft samt Regelung des Erbes; durch geistlichen Beistand, Beichte, Empfang der Kommunion, letzte Ölung und Gebete der Kinder am Sterbebett – allesamt Zeichen der christlichen Hoffnung auf das ewige Heil und damit der über den Tod hinausreichenden Gemeinschaft, die auch den Umgang mit der Trauer erleichtert. War schon das Sterben durch den Versehgang und den Abschied von Nachbarn ein halböffentliches Ereignis, so wird die gemeinschaftlich-öffentliche Dimension des Todes noch deutlicher durch das Begräbnis, wie es im Bericht Weinsbergs angedeutet wird. Als Beispiel für die ländlich-katholische Welt, wo sich diese öffentliche Dimension wesentlich länger erhielt als in Städten und im Protestantis34

In: http://www.weinsberg.uni-bonn.de/Edition/Liber_Iuventutis/Liber_Iuventutis.htm (neuhochdt. Übertragung V.S.).

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mus, seien kurz die Verhältnisse im Eifeldorf Nettersheim geschildert, wie sie bis etwa 1960/70 bestanden.35 Das Läuten der Totenglocke verbreitete die Todesnachricht – in der Regel war im Dorf bekannt, wer im Sterben lag – und rief zum Gebet für den Verstorbenen. Familienangehörige und Nachbarn wuschen die Leiche, kleideten sie festlich an und bahrten sie auf. Abends versammelten sich Familienangehörige und Nachbarn am Totenbett zu Totengebet und nächtlicher Totenwache, ursprünglich drei Tage hintereinander, seit ca. 1940 nur noch am Vorabend der Beerdigung. Am Tag des Begräbnisses trugen sechs Nachbarn den Sarg vom Sterbehaus zum Grab auf den Kirchhof. Nach der Totenmesse in der Kirche nahmen die Trauernden am Grab Abschied von dem Verstorbenen und begaben sich danach zur gemeinsamen Mahlzeit, dem Leichenbegängnis, entweder ins Trauerhaus oder ins Gasthaus. Sofern an den Tagen nach der Beisetzung weitere Messen gelesen wurden, dehnte sich das festliche Beisammensein auch noch länger aus. Auf jeden Fall feierte man etwa sechs Wochen später, nachdem die erste Trauerphase beendet sein mochte, das Sechswochenamt und ein Jahr nach dem Tod das Jahrgedächtnis; diese Jahrtagsmesse für das Seelenheil des Verstorbenen war nicht selten gut besucht, auch von auswärtigen Verwandten und Freunden. Von der Totenglocke bis zu Leichenschmaus und Jahrtagsmesse war der Tote eingefügt in eine zugleich religiöse und soziale Gemeinschaft, die weit über den letzten Atemzug hinausreichte. Die eingeübten Frömmigkeitsformen gaben den Gefühlen Gestalt und Raum, die von tiefer Trauer über nachbarliche Anteilnahme bis zu herzlicher Abneigung gegen den Verstorbenen reichen mochten; nicht zuletzt aber wußte, wer in Nettersheim am Totenbett kniete und den Sarg trug, daß eines Tages für ihn dasselbe getan werden würde. Allerdings – bei weitem nicht alle waren so integriert in die religiös-soziale Gemeinschaft; nicht alle starben wie Christian von Weinsberg als angesehenes Haupt einer Familie der oberen Mittelschicht. So sehr die Frömmigkeitsformen rund um Sterben und Tod immer wieder neu Gemeinschaft stifteten, so sehr spiegelten namentlich die Beerdigungsriten die bestehenden sozialen Unterschiede wider und akzentuierten sie teilweise auch. Deutlich wird dies etwa an der Lage des Grabes: im allgemeinen zeigt die Nähe bzw. Entfernung vom Altar den Status des Verstorbenen an. Daß Christian von Weinsberg in einer Kirche bestattet wurde, wo es nur wenig Platz gab, zeugt von seinem Ansehen. Üblich war die Beisetzung auf dem Kirchhof. Für viele Arme und auf jeden Fall für Angehörige nicht ehrbarer Berufe gab es dort jedoch keinen Raum, ebensowenig für Selbstmörder und Ketzer. Am Ende des 16. Jh.s richtete man z.B. für die evangelische Minderheit Kölns einen besonderen Friedhof ein – außerhalb der Stadtmauern. In den großen Städten war es schon aus praktischen Gründen unmöglich, alle Verstorbenen auf den Kirchhöfen zu bestatten. In Paris, wo in den 1670er Jahren gut eine halbe Million Menschen lebte, gab es in normalen 35

Wolfgang Stöcker: Die letzten Räume. Sterbe- und Bestattungskultur im Rheinland seit dem späten 18. Jahrhundert. Köln 2006, S. 170-178.

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Jahren an die 20.000 Tote. Die Armen unter ihnen, etwa ein Viertel, wurden in Massengräbern beigesetzt.36 Auch der Aufwand für eine Beerdigung richtete sich nach dem sozialen Status des Verstorbenen. Das machte in einem armen Eifeldorf wie Nettersheim wenig Unterschied, in wohlhabenderen Orten aber sehr wohl, erst recht in Städten mit ihren ausgeprägteren sozialen Unterschieden. Natürlich war auch der Aufwand bei der Beerdigung von Kindern geringer als bei Erwachsenen; zudem gab es Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Wie in anderen Bereichen auch, versuchten die frühneuzeitlichen Obrigkeiten, den Aufwand von Beerdigungen nach sozialen Ständen zu regulieren. Am wenigsten gelang dies offenbar in den katholischen Ländern des Mittelmeerraums, wo der Funeralpomp zwischen 1650 und 1750 besonders ausgeprägt war. U.a. wurden hier im Chorraum der Kirche Trauergerüste oder castra doloris (lat. = Burgen der Trauer) errichtet, große turmartige Aufbauten, versehen mit zahlreichen Ornamenten, die auf Tod und Vergänglichkeit hinwiesen. Unterschiedlich aufwendig wurde auch das Totengedenken gepflegt, das sich nach frühkirchlichen Ursprüngen im Mittelalter ausdifferenzierte und bis weit in die Neuzeit hinein erhielt. Durch die christliche Memoria (lat. = Erinnerung), welche über die in jeder Messe vorgesehene Fürbitte für die Verstorbenen im allgemeinen Kirchengebet hinausgeht, konnte u.U. über Generationen hinweg die Erinnerung an den Verstorbenen lebendig erhalten werden. Vornehmlich sind hier die Seelenmessen (Seelenamt, Totenmesse) zu nennen (s. Kap. 1.5.4.). Die ebenfalls übliche Bezeichnung Requiem leitet sich her von der ersten Worten des Introitus’ der Seelenmesse: Requiem aeternam dona eis, Domine (lat. = Herr, gib ihnen die ewige Ruhe). Seelenmessen fanden nicht nur am Tag der Beerdigung sondern, regional unterschiedlich, mehrfach auch nach dem Tod statt, z.B. am dritten, siebten und (wie in Nettersheim) als Sechswochenamt am vierzigsten Tag; vor allem aber fanden sie am Todestag regelmäßig als – wie bereits erwähnt – Jahrtagsmesse statt (lat. anniversarium; von anniversarius = jährlich). Für die Seelenmessen sorgten entweder die Hinterbliebenen oder aber der Verstorbene kümmerte sich bereits zu Lebzeiten darum. So vermachte im Jahr 1497 der Rektor der Universität Freiburg i. Br. seiner Hochschule ein Haus, das für Studenten als Wohngebäude bestimmt war. In der Stiftungsurkunde heißt es, daß an seinem Todestag „zum ewigen Gedächtnis unseres Namens [...] alljährlich für unser und unserer Eltern, Vorfahren, Brüder, Schwestern [...] Seelenheil in der Kapelle unseres Hauses ein Jahresgedächtnis gefeiert werden [...] [soll]. [...] Dabei soll [...] ein jeder der Scholaren unseres Hauses die Vigilien für die Toten [d.h. die Totengebete] oder in gleicher Art die sieben Bußpsalmen mit Andacht lesen, als Heilmittel für unsere Sünden.“37 36

37

Vanessa Harding: The dead and the living in Paris and London, 1500-1670. Cambridge 2002, S. 17-20. Zit. nach Karl Schmid: Stiftungen für das Seelenheil. In: Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet. Hgg. von Karl Schmid. München – Zürich 1985, S. 51-73, hier S. 54f.

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Derartige Stiftungen, in denen Gebete oder Meßfeiern für einen Verstorbenen festgelegt wurden, waren seit dem Frühmittelalter alltäglich. Meist wurden Kirchen, Klöster, Hospitäler bedacht. Als Gegenleistung für die Stiftung von Geld und Gut leisteten die Nutznießer dieser Stiftung – hier die Freiburger Studenten – Fürbitte; verständlicherweise wandte man sich an die Kleriker als gleichsam professionelle Beter, doch als besonders wirksam wurde entsprechend den Seligpreisungen Jesu (Mt 5,3) gerade das Gebet der Armen und der Kinder angesehen, die in Hospitälern und Waisenhäusern lebten. Auch den Betern kamen die Fürbittgebete zugute, galten diese doch als gutes Werk. Damit die Gebete oder Meßfeiern tatsächlich stattfanden, gab es Memorialbücher (lat. libri memoriales; auch: Seelbücher). Darin waren die Stifter verzeichnet, die Jahrestage des Totengedenkens und die Höhe der Stiftung. In Klöstern nahm man die Stifter an ihren Jahrtagen in das Stundengebet auf. In normalen Pfarrkirchen mit ihrem geringen geistlichen Personal konnte es im Spätmittelalter zum Problem werden, das anfallende Pensum an Seelenmessen zu bewältigen. Memorialbücher sind eine wichtige politik- und sozialgeschichtliche Quelle. Mit ihrer Hilfe läßt sich in gewissen Grenzen rekonstruieren, welche Beziehungen die Verstorbenen zu bestimmten Kirchen oder geistlichen Institutionen unterhalten hatten und durch Stiftung und Totengedenken weiterführen wollten. Das gilt besonders für hochgestellte Persönlichkeiten. Auch läßt sich, wenn etwa ein Kloster besonders reich mit Stiftungen bedacht wurde, auf die Wertschätzung der dort gepflegten Spiritualität schließen. Die christliche Memorialfrömmigkeit konstituierte die Gemeinschaft der fürbittenden Lebenden mit den Verstorbenen. Die Verbindung von Spiritualität und materiellen Gaben war möglich, weil der Tod nicht als Ende der Existenz angesehen, sondern als Grenze – also auch als Übergang – verstanden wurde und Gebete selbstverständlich auch im Jenseits wirkten. Die Kehrseite der Memorialfrömmigkeit war die Gefahr, das Heil als berechen- und verdienbar anzusehen. Hier setzte die reformatorische Kritik an. Wie in kaum einem anderen Bereich bedeutete die Reformation einen Einschnitt für die Frömmigkeitsformen rund um Tod und Sterben. Das betraf gerade die Memoria: Nach reformatorischer Überzeugung gab es kein Fegefeuer und eine heilswirksame Fürbitte war angesichts der Betonung des sola gratia nicht möglich. Fürbitte am Totenbett und Seelenmessen entfielen folglich, ebenso die als nicht bibelgemäß aufgefaßte Letzte Ölung, während das Abendmahl den Sterbenden selbstverständlich gereicht wurde. Was die Beerdigung angeht, so wurde in Genf, dem Wirkungsort Calvins, eine äußerst einfache Art der Beisetzung eingeführt, um sich von der Tradition abzusetzen: Ohne Gesänge und ohne Geistliche trugen Leichenträger den Toten aus dem Trauerhaus zum Grab und legten ihn, z.T. wohl sogar ohne ein Gebet, hinein; der Leichenschmaus entfiel und Grabsteine gab es bis ins 19. Jh. hinein auch nicht. Einen derartig radikalen Bruch vollzogen weder Lutheraner noch Anglikaner. Zwar glaubten auch letztere nicht mehr an die Wirksamkeit der Fürbitte, die vor

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der Reformation Mönche, Arme und Waisenkinder verrichteten, wenn sie im Leichenzug Kerzen trugen und beteten. Aber die Londoner Trauerzüge etwa wurden keineswegs kürzer. In zahlreichen Testamenten des 16./17. Jh.s war ausdrücklich festgelegt, wie viele Arme – oft so viele, wie der Verstorbene an Lebensjahren erreicht hatte – den Weg zur letzten Ruhestätte mitgehen und danach ein Almosen erhalten sollten. Ihre Anwesenheit zeugte von der Frömmigkeit und Mildtätigkeit des Verstorbenen und trug zu dem bei, was man unter einem ehrenhaften Begräbnis verstand. Bemerkenswert ist auch, daß eine Abschaffung des Glockenläutens bei Todesfällen und Beerdigungen nicht möglich war, obwohl die Puritaner es als katholisch (d.h. als Aufruf zur Fürbitte für den Verstorbenen), wenn nicht sogar als heidnisch ansahen (weil es nach abergläubischen Vorstellungen Schaden abwendete). Betont wurde hingegen bei anglikanischen Beerdigungen die Predigt, ähnlich wie im Luthertum. Nicht zufällig wurde die gedruckte Leichenpredigt zu einem eigenen Genre der protestantischen Frömmigkeitsliteratur, inhaltlich verwandt mit der ars moriendi, ging es darin doch um christliches Leben und Sterben. Ab etwa 1750 wandelte sich der Umgang mit Tod und Sterben im lateinischen Europa deutlich – wenn auch nach Region und Konfession unterschiedlich schnell. Die aufklärerische Kritik an den herkömmlichen Frömmigkeitsformen traf gerade die Sterbefrömmigkeit und wurde in den Oberschichten aufgenommen. Wohl noch wichtiger war die langsame Säkularisierung im Sinne eines Nachlassens öffentlich-verbindlicher Frömmigkeit, gefördert durch die entstehende Industriegesellschaft. Nicht zuletzt änderten sich die demographischen Rahmenbedingungen durch die steigende Lebenserwartung seit dem letzten Viertel des 19. Jh.s. Die Allgegenwart des Todes und damit die Unsicherheit des physischen Lebens traten zurück.

7.4.5 Laienbruderschaften Der christliche Lebenslauf war geprägt und gestaltet durch die Gemeinschaft: Das wird nicht zuletzt an den Laienbruderschaften deutlich (es gab auch Klerikerbruderschaften, die hier nicht berücksichtigt werden). Eine Bruderschaft (fraternitas, confraternitas, sodalitas, congregatio) war, etwas vereinfacht gesagt, ein auf Dauer angelegter religiöser Verein. Die Bruderschaften entstanden seit dem Hochmittelalter und waren an Pfarr-, Stifts- oder Klosterkirchen angebunden, wo die von ihnen gestifteten Messen stattfanden. Ihr Hauptanliegen war die Memoria (s. Kap. 7.4.4.) sowie die Ausrichtung eines würdigen Begräbnisses. Hinzu kamen die gegenseitige karitative Hilfe, teilweise auch Armenfürsorge (s. Kap. 7.7.2.), und regelmäßige gesellige Zusammenkünfte. Besonders das Fest des für die Bruderschaft namengebenden Schutzheiligen wurde begangen. Die Bruderschaft verwaltete ihre Angelegenheiten selbst und wählte regelmäßig einen oder mehrere Brudermeister. Auch Frauen gehörten ihnen vielfach an, meist Ehefrauen, Töchter oder andere Verwandte männlicher Mitglieder. In der Öffentlichkeit traten

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Bruderschaften z.B. bei Prozessionen in Erscheinung. Die Grenzen zu anderen genossenschaftlichen Vereinigungen wie Zünften waren fließend; viele der Bruderschaften erhoben ansehnliche Gebühren und stellten dadurch eine gewisse Exklusivität her – andere wiederum verzichteten bewußt darauf und bei ihnen scheinen die i.e.S. religiösen Anliegen mehr im Vordergrund gestanden zu haben. In den protestantischen Gebieten wurden die Bruderschaften weitgehend aufgelöst. Im katholischen Europa hingegen erlebten sie im 17. Jahrhundert einen neuen Aufschwung. Neben Bruderschaften des geschilderten Typs entstand eine neuartige Form, in der die tridentinische Frömmigkeit eingeübt wurde; oft traten hier Regularkleriker als Gründer auf. Vor allem die von Jesuitenpatres geleiteten Marianischen Kongregationen sind zu nennen. Die Mitglieder verpflichteten sich zu monatlicher Beichte und Kommunion, trafen sich außerhalb der Messe unter Leitung eines Geistlichen zu Gebet, Gesang und geistlichen Gesprächen. Private Gewissenserforschung und gemeinschaftliche Frömmigkeit sollten einander stützen. Beiden Arten von Bruderschaften – die sich im übrigen nicht immer ohne weiteres voneinander unterscheiden lassen – kam wegen ihrer weiten Verbreitung eine wichtige Rolle im sozialen Leben der Städte zu, in der frühen Neuzeit teilweise auch auf dem Land. Im Rahmen der Bruderschaften wurden Kontakte geknüpft oder gefestigt, die über das religiöse Anliegen hinaus gesellschaftliche Bedeutung gewannen.

7.5 Sünde, Beichte, Vergebung, Buße 7.5.1 Sünden und Erbsünde (Ursünde) Als Sünde wird in allen Religionen ein Verstoß gegen die kultische oder ethische Ordnung bezeichnet. Dieser Verstoß muß wiedergutgemacht, gesühnt werden. Andernfalls bleibt das Verhältnis des Menschen zu den göttlichen Mächten nachhaltig gestört; letztlich ist damit die Weltordnung an sich beeinträchtigt und es droht die Vergeltung der Gottheit, was für den Missetäter und oft auch seine Umgebung fatale Folgen haben muß. Die angemessene Wiedergutmachung (Sühne), etwa durch von Priestern vollzogene Opfer, nimmt darum in den Religionen einen wesentlichen Platz ein. Im christlichen Sinne sind Sünden Verfehlungen gegen die Ordnung für das Verhalten gegenüber Gott wie auch gegenüber den Menschen als den Mitgeschöpfen. Die Beachtung kultischer Ge- und Verbote spielte in der Christentumsgeschichte durchaus eine Rolle, besonders im Frühmittelalter. Aufs Ganze gesehen dominiert aber ein ethisch geprägtes Sündenverständnis, d.h. die Sünde bezieht sich meist auf konkrete Verfehlungen gegenüber den Mitmenschen. Mit der Schädigung des Nächsten wird der Mensch nach jüdisch-christlichem Verständnis aber zugleich Gott zutiefst entfremdet, denn es sind Gottes Ordnungen, die

7.5 | Sünde, Beichte, Vergebung, Buße

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sich im Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe (Mt 22,35-40) zusammenfassen lassen. Nach der im Credo formulierten Überzeugung (Kap. 1.1.1.) geschieht die Erlösung von der Sünde, die Befreiung aus dem Unheilszustand der Entfremdung des Menschen von Gott und vom Nächsten durch Jesus Christus. Durch seinen stellvertretenden Tod und seine Auferstehung wurden die Sünde und der Tod als Folge der Sünde besiegt. So wird durch Christus das Heil des Menschen, d.h. die irdische und ewige Gemeinschaft mit Gott, neu möglich. Die Sakramente und die meisten Formen christlicher Frömmigkeit führen zur Befreiung von der Sünde und bahnen den Weg zum Heil. Von den einzelnen sündhaften Handlungen kultischer oder ethischer Art unterscheidet die christliche Theologie mit dem Begriff der Erbsünde eine grundsätzliche, existentielle Disposition des Menschen zur Auflehnung gegen Gott bzw. ein grundsätzliches Mißtrauen gegenüber dem Schöpfer. Beides, Auflehnung und Mißtrauen, kommen in der Sündenfallgeschichte (Gen 3) zum Ausdruck, die mit der Vertreibung des ersten Menschenpaares, Adam und Eva, aus dem Garten Eden, dem Paradies, endet. Fortan gehören „jenseits von Eden“ (Gen 3,24, eigentlich: östlich von Eden) zwischenmenschliche Konflikte und der Tod als letzte Konsequenz der Sünde zur menschlichen Existenz. Der deutsche Begriff Erbsünde, geprägt durch den populären elsässischen Prediger Johann Geiler von Kaysersberg († 1510), weckt die Assoziation einer Weitervererbung von Generation zu Generation. Ein biologisch bestimmtes Verständnis – etwa: weil Eva von der verbotenen Frucht aß, sind alle Menschen von der Erbsünde belastet – findet sich durchaus in der Kirchengeschichte und unterfütterte misogyne Vorstellungen. Es greift aber zu kurz, geht es bei der Sündenfallgeschichte wie beim Erbsündenbegriff doch um eine Beschreibung der conditio humana, nicht aber um ihre kausale Herleitung. Der Begriff der Erbsünde bezeichnet die existentielle Gottesentfremdung jedes Menschen; die einzelnen, konkreten Tatsünden sind Ausdruck dieser Entfremdung. Treffender ist es darum, von Ursünde zu sprechen, in engem Anschluß an den lateinischen Begriff peccatum originale.

7.5.2 Wiedergutmachung: Das Sakrament der Buße im Mittelalter Durch die Taufe empfängt der Mensch das Heil und wird von der Ursünde befreit. Teilweise waren die frühen Christen der Meinung, ein Getaufter könne gar nicht mehr sündigen, zumindest keine schwere Sünde wie Mord, Ehebruch oder Gotteslästerung begehen. Randgruppen der Christentumsgeschichte haben dies ähnlich gesehen. Doch angesichts der Realität alltäglicher Verfehlungen wie auch schwerer Sünden in den christlichen Gemeinden entwickelte schon die Frühe Kirche Mittel zur Wiederherstellung des Heilszustandes. Es ging um Wiedergutmachung, Trost und Vergebung für den einzelnen, aber auch um seine Stellung innerhalb der christlichen Gemeinschaft. Bei kleineren Verfehlungen erlegte der

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Bischof den Sündern meist eine Buße (lat. poenitentia) in Form von Fasten, Gebeten oder Almosen auf. Bei schweren Sünden schloß der Bischof den Sünder öffentlich aus der Abendmahlsgemeinschaft aus (Exkommunikation, s. Kap. 4.10.). Die Wiederzulassung konnte nach einer gewissen Zeit und entsprechender Buße erfolgen, spätestens auf dem Sterbebett. Das Ziel jeder Form von Buße war und ist die Besserung des Sünders und die Wiederaufnahme in die Kirche. Die Buße nach schweren Sünden war ursprünglich nicht wiederholbar. Die Praxis von Buße, Beichte und Sündenvergebung, die in der katholischen Kirche i.W. auch heute gilt, entwickelte sich langsam seit dem Frühmittelalter, war im 12. Jh. ausgebildet – seit dieser Zeit gilt die Buße als Sakrament – und wurde im IV. Laterankonzil 1215 fixiert. Seitdem galt es als Pflicht jedes Gläubigen, wenigstens einmal im Jahr zu beichten. In der Regel fand diese Pflichtbeichte in der Passionszeit, oft in der Karwoche statt, bevor man in der Ostermesse kommunizierte. Auch vor jeder Teilnahme am Herrenmahl war die Beichte vorgeschrieben. Die Beichte fand als Privatbeichte (Ohrenbeichte) statt. Der Gläubige suchte in der Regel seinen Pfarrer auf; dieser befragte ihn anhand der durch das Konzil vorgeschriebenen Beichtfragen; auch der Dekalog diente als Beichtspiegel. Der Beichtende bekannte seine Sünden und äußerte Reue (lat. contritio). Daraufhin erteilte der Geistliche im Namen Jesu die Absolution (lat. Lösung, Lossprechung), die Vergebung der Sünden. Die nun nicht mehr vor, sondern nach der Vergebung stattfindende Buße galt als Bekräftigung der Reue; je nach Art der Sünde konnte sie z.B. in Gebeten, Bußfasten oder einer Wallfahrt mit Gebet am Zielort bestehen. Wie bei jeder sakramentalen Handlung war eine Gebühr zu entrichten, hier der Beichtpfennig. Je nach Bedürfnis des Gläubigen, seelsorgerlicher Kompetenz des Geistlichen und verfügbarer Zeit kann sich (über Sündenbekenntnis, Vergebung und Zuspruch der Vergebung hinaus) ein Beichtgespräch entwickeln, in dem der Beichtvater auf die Lebenssituation des Beichtenden eingeht. Der Geistliche ist durch das Beichtgeheimnis zum Stillschweigen über den Inhalt der Beichte verpflichtet. Nach dem IV. Lateranum wurden die Bemühungen verstärkt, die Pfarrer zu guten Beichtvätern auszubilden: Als einfühlsame Seelenärzte sollten sie Trost spenden und als strafende Richter die Ordnung in der Gemeinde erhalten. Dazu dienten Beichthandbücher (Bußsummen), meist durch Bettelmönche verfaßt, in denen nach Ständen und Lebenssituationen differenziert und nach dementsprechend möglichen Verfehlungen gefragt. Nicht zuletzt rückte die innere Einstellung als Voraussetzung des Verhaltens in den Mittelpunkt des Beichtgesprächs. Diese Praxis hob sich deutlich von der frühmittelalterlichen Art der Beichte ab, bei der wohl in der Regel nur mit „ja“ oder „nein“ zu beantwortende Fragen gestellt worden waren. Das war möglich, weil Katechese und Predigten seit dem IV. Lateranum zunahmen und u.a. ein besseres Verständnis von Sünde und Buße vermittelten. Besonders Predigten zur Fastenzeit spielten eine wichtige Rolle, ab dem 15. Jh. auch vermehrt volkssprachliche Literatur für die Bildungsschicht. Durchreisende Bußprediger, etwa der populäre Franziskaner Johannes von Capestrano (1386-1456), zogen Tausende von Zuhörern an.

7.5 | Sünde, Beichte, Vergebung, Buße

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Zweifellos bestanden mit Privatbeichte und Bußsakrament seit dem 13. Jh. gute Möglichkeiten, um das Bedürfnis nach Vergebung, Seelenführung und Ethisierung des Verhaltens zu erfüllen. Einschränkend ist zu bemerken, daß wir sehr wenig über die alltägliche Praxis wissen und daß das Stadt-Land-Gefälle in jeder Hinsicht meist beträchtlich gewesen sein dürfte. Auf dem Land war die Zahl der Geistlichen geringer und daß bei weitem nicht alle kompetente Seelsorger waren, geht aus den spätmittelalterlichen Visitationsberichten zur Genüge hervor. In den Städten boten neben den Pfarrern die Bettelorden ihre Seelsorge an, so daß es mancherorts zu regelrechter Konkurrenz zwischen Weltklerikern und Mendikanten kam. Das änderte sich auch nicht, nachdem 1516 der Pfarrzwang in dieser Hinsicht aufgehoben und die Wahl des Beichtvaters freigestellt worden war. Vielfach trat schließlich ein praktisches Problem auf, wenn sich kurz vor der Osterkommunion Scharen von Beichtwilligen einstellten: Auch einem einfühlsamen Beichtvater war es nicht möglich, dem Einzelnen mehr als wenige Minuten zu widmen. Von schweren Sünden konnte nicht der normale Beichtvater, sondern nur der Bischof oder dessen Beauftragter, z.B. der Generalvikar, absolvieren. Dabei handelte es sich um Verfehlungen, die bereits in der Frühen Kirche zum Ausschluß aus der christlichen Gemeinschaft geführt hatten, z.B. Totschlag, Ehebruch, Inzest, Gotteslästerung, Wucher, Meineid. Die Schwere der Sünde hing nicht zuletzt an ihrem öffentlichen und daher skandalösen Charakter, der die öffentliche Buße bedingte. Allerdings scheint im 15. Jh. diese Öffentlichkeit in manchen Regionen dadurch gemildert worden zu sein, daß vielfach Bußgelegenheiten an auswärtigen Orten ermöglicht wurden oder am Gründonnerstag Gruppen von Büßern sich einem Bußritual unterwarfen, wodurch eine gewisse Anonymität hergestellt wurde. Der Ablauf war nicht überall derselbe. Oft fand eine Prozession der Büßer zur Kirche statt. Dabei trugen sie als Zeichen der Buße schlechte Kleidung, die sie nur notdürftig bedeckte, ferner oft einen Gegenstand, der ihre Schuld bezeichnete – etwa die Waffe, mit der ein Totschlag vollführt worden war. Vor der Kirche warfen sie sich nieder und erlangten im Zuge der Bußliturgie den Zuspruch der Vergebung, ehe der Bischof sie wieder in die Kirche hineinführte.

7.5.3 Die Sieben Todsünden Neben der Unterscheidung von öffentlichen Sünden und solchen, die in der Privatbeichte bereinigt werden konnten, spielte in der Frömmigkeitspraxis die Unterscheidung zwischen leichteren, läßlichen Sünden und Todsünden (Hauptsünden) eine wichtige Rolle. Als Todsünden wurden ab dem 12. Jh. angesehen:

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Die Sieben Todsünden Superbia Invidia Ira

Stolz, Hochmut Neid Zorn

Acedia

Trägheit, Faulheit

Avaritia

Habsucht, Geiz

Gula Luxuria

Völlerei Üppigkeit, Wollust, Unkeuschheit

Der Unterschied zwischen Todsünden und läßlichen Sünden ist, daß nach kirchlicher Lehre die Hauptsünden zur Verdammnis führten, sofern nicht Buße für sie getan wurde. Darum fragte man in der Beichte nach ihnen. Unter den Todsünden kommt der Superbia eine besondere Rolle zu – sie gilt als Wurzel aller übrigen Hauptsünden! Oft wurden im Spätmittelalter den Sieben Todsünden die Sieben Tugenden gegenübergehalten (Glaube, Liebe, Hoffnung sowie Weisheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Maß). Die Sieben Todsünden wurden zur Warnung sehr oft dargestellt, etwa in Kirchen und in Erbauungsbüchern. Hier eine Einblattdarstellung aus der Mitte des 15. Jh.s.:

Abb. 13: Der Teufel und die Sieben Todsünden, Einblatt-Holschnitt, Mitte 15. Jh.

7.5 | Sünde, Beichte, Vergebung, Buße

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Zu sehen sind acht Bilder: Auf dem ersten sitzt der Teufel im offenen Rachen der Hölle und hält Pauke und Flöte in den Händen. Er verkündet: „Ick pauck und pfeyff euch allen ehr ein. Mitten in die helle [= Hölle] meyn.“ Die folgenden sieben Bilder stehen dann für die Todsünden. Es sind jeweils ein oder zwei Personen abgebildet, dazu stets ein Tier, das die Todsünde verkörpert, der Zorn etwa durch den Löwen. Auf dem zweiten Bild geht es um die Superbia, den Hochmut: Zu sehen ist ein Geistlicher zu Pferde. Für den Geistlichen wäre es angemessen, demütig zu Fuß zu gehen, oder vielleicht auf einem Maultier oder Esel zu reiten, jedenfalls nicht auf einem Pferd – dem angesehensten Reittier. Der Reiter hält einen Spiegel in der Hand, um sich zu bewundern – ein typisches Accessoire der Superbia – und spricht: „Hochfart ich will mich perwaren. In dem hell vil ich nicht faren.“ Dieser Tenor dominiert auch in den anderen Äußerungen: Die Menschen wollen von den Todsünden nicht ablassen, aber gleichwohl der Hölle entgehen. Solche Einblattdarstellungen wandten sich an den Laien, der nicht oder kaum lesen konnte: Die Bilder sprachen für sich.

7.5.4 Ablaß Der Ablaß (lat. indulgentia) war eine Ersatzleistung für diejenigen Bußstrafen, die nach der Absolution verhängt, aber nicht erbracht worden waren. Dabei spielte eine Rolle, daß seit dem 12. Jh. auch bei schweren Sünden meist geringe Bußstrafen verhängt wurden, etwa einige Gebete oder Fastentage. Angesichts des Mißverhältnisses zwischen Verfehlung und Buße wurde angenommen, daß eine spätere Buße noch folgen müßte. Manche Bußleistung mochte hingegen sehr beschwerlich sein und schließlich konnte der Tod daran hindern, sie zu erbringen. Für die spätmittelalterliche Blüte des Ablasses wurde ferner wichtig, daß seit dem 13. Jh. das Bewußtsein menschlicher Sündhaftigkeit zunahm. Ein Grund hierfür dürfte die bereits erwähnte verbesserte Seelsorge und ethische Belehrung der Gläubigen seit dem IV. Lateranum sein; ab der Mitte des 14. Jh.s bewirkten wohl auch die großen Pestwellen ein vertieftes individuelles wie kollektives Sündenund Bußverständnis. Als Ort, an dem die ausstehende Buße (auch: zeitliche Sündenstrafe; „zeitlich“ im Unterschied zu „ewig“) nachgeholt werden müsse, wurde seit dem 11. Jh. das Feg(e)feuer angenommen, das man als eine Art Übergangswelt zwischen Tod und ewigem Heil ansah. Es handelte sich, wohlgemerkt, dabei nicht um die Hölle, sondern um einen Ort, an dem die bereits gerettete Seele noch geläutert werden mußte – der lateinische Begriff purgatorium (Ort der Reinigung) verweist darauf. Der u.a. mit Bezug auf 1 Kor 3,12-15 erklärliche deutsche Begriff Fegefeuer zeigt aber deutlich an, daß dieser Reinigungsort als ein Ort der Qualen gedacht wurde. Der Wunsch, dem Aufenthalt im Fegefeuer zu entgehen oder ihn zu verkürzen machte den Ablaß populär. Echte Reue vorausgesetzt, konnte ein Erlass für

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die Sündenstrafen erworben werden; stellvertretend für die erlassene Zeit galt ein Anteil an den guten Werken der Heiligen und dem Leiden Christi, die den Gnadenschatz der Kirche (lat. thesaurus ecclesiae) bildeten. Als Gegenleistung für den Erwerb dieses Anteils waren Gebete, die Teilnahme an Prozessionen und Wallfahrten, der Besuch von Kirchen, die Stiftung von Messen und andere fromme Übungen vorgesehen, oder ein oft nach sozialer Schicht gestaffelter Geldbetrag. Es gab verschiedene Ablässe. Einen Plenarablaß, d.h. einen vollkommenen Erlaß aller bisherigen Sündenstrafen einschließlich der noch im Fegefeuer zu verbüßenden, konnte nur der Papst vergeben; ihn erhielten ursprünglich nur Teilnehmer an einem Kreuzzug. Ab 1300 wurde er alle 50 Jahre, z.T. auch öfter, in Jubeljahren (Heiligen Jahren) den Pilgern zuteil, die nach Rom zogen, und ab Ende des 14. Jh.s wurden Plenarablässe auch außerhalb Italiens an bestimmten Kirchen vergeben und als Ablaßbrief handfest gemacht. Weitaus alltäglicher waren die ungezählten partiellen Ablässe, die von Bischöfen erteilt und im 15. Jh. an den meisten Kirchen der lateinischen Christenheit zu bestimmten Festen zu erwerben waren. Sie waren begrenzt auf 40 Tage der irdischen Buße bzw. der Zeit im Fegefeuer, ließen sich aber kumulieren. Das durch den Ablaßverkauf eingenommene Geld wurde vornehmlich für den Bau und Unterhalt von Hospitälern und Kirchen verwendet. Ab Mitte des 15. Jh.s sammelte man in mehreren von Rom initiierten Ablaßkampagnen auch Geld für einen Abwehrkreuzzug gegen die Osmanen, die 1453 Konstantinopel erobert hatten und nun Süd- und Ostmitteleuropa bedrohten. In dieser zweiten Hälfte des 15. Jh.s erreichte der Ablaß in quantitativer Hinsicht neue Dimensionen. Seit der Erfindung des Buchdrucks ließen sich Ablaßbriefe fast mühelos in weitaus größerem Umfang verbreiten als bisher. In manchen Kirchen hingen Tafeln, die über den Verwendungszweck der Ablaßgelder ebenso informierten wie über die Zahl der jeweils zu erwerbenden Tage oder Jahre nachgelassener Zeit im Fegefeuer. Seit 1476 konnten auch nachträglich Ablässe für die Seelen bereits Verstorbener erworben werden, womit eine wichtige inhaltliche Erweiterung des Ablasses stattfand: Es bestand nun die Möglichkeit, verstorbenen Familienangehörigen Gutes zu tun! Am Ablaß wird das gemeinschaftsstiftende Element von Frömmigkeit sehr gut sichtbar: Er verband die Gebete und die materiellen Gaben des Gläubigen über die Heiligen und ihre guten Werke mit den Lebenden oder Verstorbenen, denen der Ablaß zugute kam. Diese Verbindung wird noch bedeutsamer, wenn wir berücksichtigen, daß landläufig dem Ablaß noch viel mehr Wirkung zugesprochen wurde als ihm die katholische Lehre beimaß: Vielfach glaubte man offenbar, er befreie von Sünde – also nicht nur von der Buße als Sündenstrafe – und sichere damit das Heil! Manche Ablaßpredigten haben diese irrige Auffassung wohl gefördert – ganz abgesehen davon, daß sicherlich nicht jeder Gläubige zwischen Fegefeuer und Hölle unterschied und im übrigen manche theologischen Fragen in Zusammenhang mit dem Ablaß ungeklärt waren.

7.5 | Sünde, Beichte, Vergebung, Buße

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Im Ablaßwesen des 14./15. Jh.s waren Heilssehnsucht und ernsthafte Bußgesinnung ebenso anzutreffen wie Geschäftstüchtigkeit und eine quantifizierende Frömmigkeit, wenn Ablässe zu Tausenden von Jahren zusammengerechnet wurden. Die „Faszination [...] der ungeheuren Zahl ließ die volkstümliche Ablaßfrömmigkeit schlichtweg aus dem Ruder laufen.“38 Doch trotz der Kritik einiger Theologen blieb der Ablaß in weiten Teilen Europas populär. Die weltlichen Obrigkeiten förderten ihn, weil und soweit er den karitativen Einrichtungen in ihrem Machtbereich zugute kam; sie entzogen ihren Machtbereich nach Möglichkeit den großen Ablaßkampagnen, wenn deren Erlöse aus dem Land flossen.

7.5.5 Der Einschnitt der Reformation Luther machte als Seelsorger die Erfahrung, daß der Ablaß ehrliche Reue und Besserung eher behinderte. Seine 95 Thesen vom Herbst 1517 richteten sich deshalb zunächst gegen Auswüchse der gängigen Ablaßpraxis’. Binnen kurzer Zeit aber verwarfen er und die anderen Reformatoren die Lehren von Ablaß und Fegefeuer vollständig und unter Betonung des sola gratia-Prinzips; die Unterscheidung zwischen Todsünden und läßlichen Sünden entfiel. Das Netzwerk zwischen Heiligen, lebenden und verstorbenen Gläubigen zerriß dort, wo sich die neue Lehre durchsetzte. Zugleich lehnten die entstehenden evangelischen Kirchen die herkömmliche sakramentale Praxis der Buße ab. Die Bedeutung des Bruchs läßt sich kaum überschätzen, denn es waren ja nicht nur Bußverständnis und Ablaß an sich betroffen, sondern auch die damit eng verbundenen Frömmigkeitsformen von Seelenmessen bis zu Almosen. Fortan bestand hier ein wichtiges konfessionelles Unterscheidungsmerkmal.

7.5.6 Beichte, Buße und Kirchenzucht in den frühneuzeitlichen Konfessionen Das Tridentinum beschnitt als Antwort auf die Reformation manche Auswüchse des Ablasses, der nach einem vorübergehenden starken Rückgang im katholischen Europa erneut populär wurde. Andere Maßnahmen sollten zugleich direkt oder indirekt die ernsthafte Reue sowie Beichte und Buße als disziplinierende und vor allem tröstliche Übung stärken. Die alljährliche Pflichtbeichte wurde bestätigt; künftig sollten die Pfarrer darüber Buch führen. Die Gläubigen wiederum hatten, wie schon bisher, die Möglichkeit, andere Beichtväter aufzusuchen; dafür kamen vor allem die zahlreichen Ordensgeistlichen vor Ort oder in Wallfahrtsorten in Frage. Manche wurden als besonders hilfreich erlebt; besonders 38

Wilhelm Janssen: Bemerkungen zu Ablaßpolitik und Ablaßfrömmigkeit in der spätmittelalterliche Kölner Erzdiözese. In: Ein Eifler für Rheinland-Pfalz. Festschrift für Franz-Josef Heyen zum 75. Geburtstag am 2. Mai 2003. Hgg. von Johannes Mötsch. Teil 2. Mainz 2003, S. 951-977, hier S. 973.

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die Jesuiten gewannen hier Bedeutung. Der Vorwurf moralischer Laxheit, den die Jansenisten gegen diesen Orden erhoben, läßt sich – anders gewendet – so verstehen, daß gerade die Jesuiten versuchten, im Beichtgespräch die Lebensumstände einzubeziehen, die zu Sünden führten, und darum zu größerer Milde neigten. Hatte der Gläubige außerhalb der Pfarrei gebeichtet, so mußte er seinem Ortspfarrer einen Beichtzettel vorweisen. Diese Regelung blieb allerdings wohl meist graue Theorie, vor allem im Mittelmeerraum. Wichtiger als die im Zweifelsfall kaum mögliche Überprüfung durch den Geistlichen könnte innerhalb überschaubarer Gemeinschaften die familiäre oder nachbarschaftliche soziale Kontrolle gewesen sein, vorausgesetzt, die Pflichtbeichte war als Norm grundsätzlich akzeptiert. Dies scheint im 18. Jh. weitgehend der Fall gewesen zu sein, wobei nicht wenige Gläubige durchaus öfter zur Beichte gingen. Genaue Zahlen lassen sich nicht feststellen. Schließlich ist ein Aspekt zu beachten, auf den PETER HERSCHE hinweist: „Die Rolle der Beichte für den Seelenhaushalt des frühneuzeitlichen Katholiken kann schwerlich überschätzt werden; für ihn stellte das schuldentlastende Sakrament ein wesentliches Mittel zu einer positiven Lebensbewältigung dar.“39 Dies galt sowohl für die Gläubigen, welche die Beichte öfter in Anspruch nahmen, als auch für diejenigen, denen die jährliche Pflichtbeichte genügte. Im Zuge der von Trient ausgehenden Erneuerungsimpulse wurde auch der Ort der Beichte neu gestaltet. Sie fand ursprünglich oft hinter dem Altar im Chorraum oder in einer Seitenkapelle statt, wobei der Beichtende neben dem Geistlichen saß oder niederkniete. Ab ca. 1600 bürgerte sich auf Initiative des Mailänder Reformerzbischofs Karl Borromäus († 1584) allmählich der Beichtstuhl ein, der an den Seitenwänden der Kirche aufgestellt wurde. Der Beichtvater war durch Wände vom Beichtenden getrennt; nur durch ein Gitter war das Gespräch möglich. Der Beichtstuhl gewährleistete in gewissen Grenzen die Anonymität des Sünders. Heutzutage werden die Beichtstühle meist nicht mehr genutzt, Beichtgespräche finden eher in einem ruhigen Raum statt. In den reformatorischen Kirchen war nach der Ablehnung von Ablaß, Fegefeuer und sakramentalem Charakter der Buße einiges neu zu regeln. Für den Umgang mit öffentlichen Sünden ist der Begriff der Kirchenzucht (Kirchendisziplin) zentral: damit sind die Maßnahmen gemeint, die bei offenkundigen sittlichen Verfehlungen (sexuelle Vergehen aller Art, notorischer Ehestreit, Fluchen, Singen unanständiger Lieder, betrügerische Geschäfte, Totschlag, Prügeleien, Mißachtung der Sonntagsruhe, Gotteslästerung, magische Praktiken u.a.m.) zur Ermahnung, Bestrafung, Besserung und Wiedereingliederung in die Gemeinschaft der Gläubigen ergriffen wurden. Lutherische und reformierte Kirchen entwickelten sich hier unterschiedlich.

39

Hersche, Muße (wie Anm. 5), S. 692.

7.5 | Sünde, Beichte, Vergebung, Buße

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Luther schätzte die Beichte wegen des Trostes, den der Zuspruch der Vergebung bot. Bis ins 17. Jh. fand die Privatbeichte in lutherischen Kirchen statt, vor allem als Vorbereitung auf das Abendmahl. Im 18. Jh. geriet sie aus der Übung. Bestimmungen zur Kirchenzucht finden sich mehr oder weniger ausführlich in den lutherischen Kirchenordnungen. In den Landeskirchen war meist das Konsistorium dafür zuständig, also ein übergeordnetes, obrigkeitliches Verwaltungsgremium des Landesherrn, das sich aus Theologen und Juristen zusammensetzte, aber vor Ort nicht präsent war. Die Pfarrer als Kenner der örtlichen Verhältnisse waren meist nicht dazu berechtigt, selbständig vorzugehen, so daß Zuchtmaßnahmen nicht ohne weiteres ins Werk zu setzen waren. In den Reichsstädten, wo städtisches und kirchliches Territorium zusammenfielen, waren die Wege kürzer; doch dominierte der städtischen Magistrat im entsprechenden Gremium, das oft ebenfalls Konsistorium hieß und sich aus Geistlichen und Ratsherren zusammensetzte. Die genannten Strukturen trugen dazu bei, daß den Pfarrern oft Widerstand entgegenschlug, wenn sie von der Kanzel aus ermahnten oder Gemeindeglieder vom Abendmahl oder Patenamt ausschlossen. Öffentliche Sünde müsse öffentlich bestraft werden, „es betrieffe großen Hanß oder kleinen Hanß, Obrigkeit oder Untertanen,“ argumentierte der Braunschweiger Pfarrer Martin Chemnitz († 1586)40, aber genau hier lag oft das Problem: Gerade die städtischen Oberschichten zeigten wenig Neigung, sich der öffentlichen Strafpredigt und Kirchenbuße zu unterwerfen. Die Pfarrer waren – je nach Sichtweise – unbequeme Mahner oder Störenfriede, in jedem Fall aber Einzelkämpfer und zogen folglich meist den Kürzeren. Insgesamt hatten die Bemühungen um Kirchenzucht im lutherischen Bereich wohl nur in den Fällen eine Chance, in denen die Obrigkeiten sie vor Ort unterstützten. Anders als Luther verwarfen Zwingli und Calvin die Privatbeichte. Die alltäglicheren Sünden wurden gleichsam an das Forum der individuellen Gewissenserforschung verwiesen. Man mag hierin einen spezfisch individualisierenden Zug des Calvinismus’ sehen. Zugleich aber haben die Reformierten weitaus mehr als Katholiken, Lutheraner und Anglikaner die öffentlichen Sünden einer systematischen Kirchenzucht unterworfen. Auch hier gab es Konsistorien oder Kirchenräte; aber diese Gremien existierten – ganz anders als im Luthertum – in jeder Gemeinde und sie setzten sich aus den Geistlichen und den Ältesten, also engagierten Laien zusammen. Die vergleichsweise große Effektivität der calvinistischen Konsistorien im 16./17. Jh. dürfte auf diese Beteiligung der Laien zurückgehen. Das letzte Mittel bei öffentlichen Sünden war und blieb der Ausschluß vom Abendmahl – und damit aus der Gemeinschaft der Gläubigen und der Gesellschaft. 40

Zit. nach Martin Brecht: Lutherische Kirchenzucht bis in die Anfänge des 17. Jahrhunderts im Spannungsfeld von Pfarramt und Gesellschaft. In: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Hgg. von Hans-Christoph Rublack. Gütersloh 1992, S. 400-423, hier S. 411.

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Um 1560 schloß der Genfer Kirchenrat jährlich mehr als 200 Gemeindeglieder vom Abendmahl aus.41 Um die Wende zum 17. Jh. fanden in Genf, bei den französischen Hugenotten und in Schottland Exkommunikationen häufiger als in der calvinistischen Kirche der Niederlande statt. Im Gegenzug wurde in den niederländischen reformierten Gemeinden ein mehrstufiges Kirchenzuchtverfahren praktiziert: Der Kirchenrat ermahnte die Betroffenen durch ein oder zwei seiner Mitglieder oder lud sie zur Anhörung, so daß Gelegenheit bestand, Abbitte zu leisten. Halfen auch mehrfache Ermahnungen nicht, so wurde der Sünder ohne namentliche Nennung ins Kirchengebet aufgenommen oder aber unter Nennung des Namens während des Gottesdienstes ermahnt; die Versöhnung fand statt durch ein vor dem Abendmahlsempfang öffentlich abgelegtes Bekenntnis der Sünde und Reue. Dieses öffentliche Bekenntnis wurde durchaus als ehrmindernd angesehen. Die strenge Kirchenzucht war ein Grund dafür, daß der reformierten Kirche in den Niederlanden lange Zeit nur eine Minderheit angehörte. Viele Menschen besuchten zwar die Gottesdienste, gehörten aber der Gemeinde nicht formell an. Dafür nahmen sie in Kauf, im Regelfall kein öffentliches Amt ausüben zu können, weil sie eben nicht der Publieke Kerk (Öffentlichkeitskirche) angehörten.

7.5.7 „Gottes straff und zorn“ – Sünde und Buße der Gemeinschaft Im Zuge des Dreißigjährigen Krieges besetzten Truppen der katholischen Liga im Jahr 1628 die überwiegend lutherische Stadt Osnabrück. Die bisherige städtische Autonomie wurde beseitigt und der Stadtrat katholisiert. Die lutherischen Pastoren wurden der Stadt verwiesen, der lutherische Gottesdienst wurde verboten und der Fürstbischof von Osnabrück befahl den Bürgern die Konversion. Schwer lastete die für den Unterhalt der Besatzungstruppen erhobene Kontribution auf der Stadt. In dieser Lage schrieb zwei Jahre nach Beginn der Besatzung Rudolf von Bellinckhausen, ein lutherischer Handwerker, in sein Tagebuch: „Lasts uns bekennen, es sey unser sunde schuld, wir habens wol mit unser boßheit, lastern und schaden verdienet. Laßt nicht murren wider Gott dem Herrn, sondern viel mehr uber unse laster und boßheit, so kein zahl. Nach dem greulichen brande42 ist keiner beßer und frommer wordenn, nach der schrecklichen pestilenz, blutgang [= Ruhr] und andern seuchen hat sich noch keiner bekehrt, nach der theurung und andern plagenn hat keiner wahre buße gethan. Ach, ach, lasts uns unse sunde recht von hertzen grunde bekennen, fleißig bitten und betten tag und nacht, das uns Gott der Herr unse sund und boßheit aus gnadn wolt vergebenn, auf das wir inn seinem reiche ewig lebenn mogenn. Wir haben Gott 41 42

Willem van’t Spijker: Calvin, Biographie und Theologie. Göttingen 2001, S. 164. Gemeint ist ein verheerender Stadtbrand im Jahr 1613.

7.5 | Sünde, Beichte, Vergebung, Buße

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im himel, den aller hochsten, großmechtigsten und durchleuchtigsten fursten erzurnet und sein heiliges wort verachtet.“43 Bellinckhausen deutete das Unglück als Strafe Gottes für die Sünden der Menschen in der Stadt. Seine Auffassung war keineswegs unüblich; wir finden sie bereits im AT, z. B. in den Bußpredigten des Propheten Amos (8. Jh. v. Chr.), der Hunger, Krieg und Seuchen, endlich den Untergang des Reiches Israel als Gottes Strafe dafür ankündigte, daß die Oberschichten die Armen unterdrückten und keine Buße taten (Am 3-6). Auch in Mittelalter und früher Neuzeit herrschte die Überzeugung vor, daß die Sünden des Menschen nicht nur für ihn selbst verderblich seien, sondern auch für die Gesellschaft fatal. Der einzige Ausweg war, wie Bellinckhausen schrieb, die „wahre buße“. Im Fall der Osnabrücker Lutheraner um 1630 war diese Buße aufgrund der politischen Lage nur individuell möglich. Doch üblicherweise wurde diese Buße kollektiv begangen, wobei die Initiative dazu oft bei der weltlichen Herrschaft lag. Bereits im Spätmittelalter gibt es genügend Beispiele dafür, daß städtische Obrigkeiten etwa anläßlich von Seuchen Bußprozessionen anordneten – sei es, um die Krankheit abzuwenden, sei es, um von Gott ein schnelles Ende des Sterbens zu erbitten oder aber als Dank nach dem Ende der Seuche. Im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges ordneten gerade die evangelischen Landesherren Bußtage an, die oft über Jahre hinweg in wöchentlichem Rhythmus stattfanden. Solche Tage mit Bußgottesdiensten wurden in den 1630/40er Jahren auch regelmäßig im Dorf des schwäbischen Schuhmachers Hans Heberle begangen, der in seinem Tagebuch von den „drey landtstraffen“, sprich: Strafen Gottes, schrieb: „krieg, theürung und pestelentz“. 1650, also kurz nach dem Westfälischen Frieden, schrieb er dankbar, daß „nun Gott der allmechtig die kriegsstraff von unß gnediglich abgewendet“ habe.44 Die Deutung kollektiven Unglücks als gottgesandte Strafe und die daraus folgenden Konsequenzen sind bisher kaum erforscht. Wüßten wir mehr über sie, dürfte das nicht zuletzt zum Verständnis der Bemühungen um Buße und Kirchenzucht beitragen. Als mit der Aufklärung der Glaube an Gott als den Lenker der Geschichte zu verblassen begann, wurde die Idee der Strafe Gottes seltener ins Feld geführt, ohne gänzlich zu verschwinden.

7.5.8 Schluß Sünde als ethische Verfehlung war die meiste Zeit der Christentumsgeschichte ein zugleich individuelles und gemeinschaftliches Problem; folglich waren auch 43

44

„ der osnabrugischenn handlung und geschicht“. Die Chronik des Rudolf von Bellinckhausen 1628-1637. Bearb. von Margret Tegeder † und Axel Kreienbrink. Osnabrück 2002, S. 39f. Gerd Zillhardt: Der Dreißigjährige Krieg in zeitgenössischer Darstellung. Hans Heberles „Zeytregister“ (1618-1672). Aufzeichnungen aus dem Ulmer Territorium. Ein Beitrag zu Geschichtsschreibung und Geschichtsverständnis der Unterschichten. Ulm 1975, S. 237.

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Vergebung und Buße Anliegen der Gläubigen als Heilsgemeinschaft. Die unlösbare Verbindung des einzelnen Gläubigen mit der Gemeinschaft äußerte sich im Begriff der Ursünde ebenso wie in verschiedenen Frömmigkeitsformen und den Möglichkeiten von Strafe und Versöhnung bei Verfehlungen, schließlich in der Überzeugung, daß kollektives Unglück mit der Sünde der einzelnen in Beziehung stehe. Die Reformation bedeutete hier einen partiellen Einschnitt. Die Individualisierung des 18.-20. Jh.s brachte dann ein fast vollständig privatisiertes Verständnis von Sünde mit sich, sofern sich der Begriff überhaupt erhielt. Die vor- und überindividuelle Dimension schuldhaften Verhaltens in der Vormoderne, wie sie besonders im Begriff der Ursünde ausgedrückt wird, erscheint fremdartig. Sie wird vielleicht verständlicher vor dem Hintergrund unserer heutigen Erfahrungen des Mitläufertums in Diktaturen und der ökologischen Krisen: Die Verantwortung der vielen Einzelnen für die Stabilität verbrecherischer Systeme wie für die Umweltzerstörung läßt sich nicht bestreiten und ist doch zugleich das Produkt vorindividueller Strukturen.

7.6 Wallfahrten und Prozessionen 7.6.1 Unterwegs zum Heiligen – Wallfahrten „Die Hauptstadt der Norweger ist die Stadt Trondheim, die nun von zahlreichen Kirchen geschmückt ist und von vielen Menschen häufig besucht wird. Dort ruht der sterbliche Körper des heiligen Königs und Märtyrers Olaf. An seinem Grab wirkt der Herr bis auf den heutigen Tag große Wunder, so daß hier Menschen aus weit entfernten Gegenden zusammenkommen; sie setzen große Hoffnung darauf, daß ihnen durch die guten Werke des Heiligen geholfen werde.“45 So beschrieb Adam von Bremen um 1075 die damals seit ca. 40 Jahren bestehende Pilgerfahrt zum Grab des hl. Olaf, bis zur Reformation die wichtigste Wallfahrtsstätte Skandinaviens. Viele Religionen kennen die Wallfahrt, d.h. die meist zu Fuß bewältigte Reise an einen heiligen Ort, um dort zu beten. Üblich ist auch der Begriff der Pilgerfahrt (lat. peregrinatio) und folglich für den Wallfahrer der des Pilgers (von lat. peregrinus = der Fremde). Die christliche Wallfahrt ist seit ihren Anfängen in der Frühen Kirche eng verbunden mit der Heiligen- und Reliquienverehrung. Man suchte nicht nur Jerusalem und andere Orte des Lebens und Leidens Christi auf, sondern auch die Gräber der Apostel und Märtyrer. Im Hoch- und Spätmittelalter kamen als Wall45

Übersetzt nach Adam von Bremen: Bischofsgeschichte der Hamburger Kirche. In: Quellen des 9. und 11. Jahrhunderts zur Geschichte der hamburgischen Kirche und des Reiches. Neu übertragen von Werner Trillmich. Darmstadt 1961, S. 137-499, hier S. 480.

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fahrtsziele Kirchen hinzu, in denen sich Reliquien wichtiger Heiliger und als wundertätig angesehene Gnadenbilder befanden – Darstellungen Christi, Mariens oder der Heiligen. In der frühen Neuzeit waren in der Regel nicht mehr Reliquien, sondern Gnadenbilder das Ziel der Pilgerfahrt; im 19. Jh. entstand eine Reihe neuer Wallfahrtsziele an Orten, an denen Gläubige Marienerscheinungen erlebt hatten. Je weiter entfernt sich die heilige Stätte befand, desto strapaziöser und gefährlicher war die Wallfahrt: Schlechte und unsichere Straßen gehörten ebenso zum Reisealltag wie Erkrankungen. Der Grund, warum Gläubige die Mühen und Gefahren auf sich nahmen, klang schon in der oben zitierten Schilderung Adams von Bremen an: Sie wollten dort ihre Bitten aussprechen, wo besondere Aussicht auf Erhörung bestand, am Grab eines Heiligen oder vor einem Gnadenbild. Bei letzteren dominierten die Marienbilder. Ihre Stellung als Mutter Jesu und ihre Trauer um den gekreuzigten Sohn machten Maria zur denkbar besten Fürbitterin. Entsprechend häufig finden sich in der christlichen Kunst Darstellungen Mariens als mater dolorosa (lat. Schmerzensreiche Mutter) mit einem Schwert in der Brust (vgl. Lk 2,35) oder mit dem toten Jesus in ihren Armen (die übliche Bezeichnung dafür ist der italienische Begriff Pietà, von lat. pietas = Frömmigkeit). Ebenfalls verbreitet war die Darstellung Mariens als Himmelskönigin. An dem Marienbild der Wallfahrtskirche im westfälischen Warendorf aus der Mitte des 18. Jh.s wird deutlich, warum sich die Menschen auf den Weg machten. Der Kupferstecher legt den Gläubigen hilfesuchende Anreden in den Mund: „Du Zuflucht der Sünder“ betet der Pilger ganz links. „Du Trösterin der Betrübten,“ redet die knieende Frau Maria an. „Du Heyl der Krancken“, fleht eine Frau, die möglicherweise gelähmt ist, unter ihrem Körper ist das Rad einer Karre erkennbar. Dasselbe Motiv dürfen wir bei der zweiten Gestalt von rechts annehmen – der Mann stützt sich auf eine Krücke. Und ganz rechts: „Du Helferin der Christen.“

Abb. 14: Marienbild Wallfahrtskirche Warendorf, 1750er Jahre

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Die Hoffnung auf und Bitte um Genesung war ein wichtiges Motiv für Wallfahrten. Zur Verbreitung dieser Hoffnung trugen in der Frühen Neuzeit zahlreiche handschriftliche und gedruckte Mirakelbücher (lat. miraculum = Wunder) mit ihren Berichten von Heilungen an Wallfahrtsorten bei – heute dienen sie uns als frömmigkeits- und sozialgeschichtliche Quelle. Ein zweites Motiv für Wallfahrten war der Dank: man pilgerte, weil eine Bitte erhört worden war. Nicht selten geschah dies nach einem vorherigen Gelübde oder Gelöbnis, also dem feierlichen Versprechen, eine fromme Handlung auszuführen, sofern die Bitte erhört werde. An vielen Wallfahrtsorten fanden und finden sich Votivtafeln (lat. vovere = weihen, geloben), kleine Schilder mit Darstellungen einer Heilung oder eines geheilten Körperteils – wobei die Heilung sowohl vor der Pilgerfahrt als auch am Wallfahrtsort geschehen sein kann. Nach der Bitt- und Dankwallfahrt ist die Bußwallfahrt zu nennen – Pilgerfahrten wurden bei schweren Sünden als Bußstrafen auferlegt. So werden z.B. in einer Urkunde des dänischen Königs von 1310 zwei Pilger genannt, die zur Strafe für einen Totschlag je eine weite Wallfahrt unternehmen mußten, der eine nach Rom, der andere nach Santiago de Compostela. Dort sollten sie für die Erschlagenen und für ihr eigenes Heil beten. Erwähnenswert ist noch die in der Urkunde enthaltene Mahnung, die Pilgerfahrt ausschließlich im Gedenken an die Seele des Getöteten zu verbringen, nicht aber nebenher noch Handel zu treiben.46 Durch eine Wallfahrt konnten auch Ablässe erworben werden, wie u.a. an einem Sonderfall der Bußwallfahrt erkennbar ist: der Teilnahme an einem Kreuzzug, welche als bewaffnete Wallfahrt galt, sofern die innere Haltung von Reue geprägt war. Nicht zufällig wird in den Quellen oft der Begriff peregrinatio für die Teilnahme am Kreuzzug verwendet. Die Teilnahme galt als Buße, bzw. es wurde Ablaß für sie gewährt. Im Früh- und Hochmittelalter dominierte die individuelle Pilgerfahrt oder die Wallfahrt kleiner Gruppen. Meist handelt es sich außerdem um eine Fernwallfahrt. Die berühmtesten Fernwallfahrtsziele waren bis in die Neuzeit Jerusalem, Rom, Santiago de Compostela. Jerusalem war die Heilige Stadt schlechthin – der Ort der Kreuzigung und Auferstehung Christi. In Rom, dem Zentrum der lateinischen Christenheit, hatten die Apostel Petrus und Paulus den Märtyrertod erlitten und ihr Grab gefunden. Santiago de Compostela ist ein ursprünglich unbedeutender Ort in Galicien. Der Legende nach wurde dort um 830 das Grab des Apostels Jakobus d. Ä. gefunden. Sant-Iago, also Sankt Jakobus, wurde schnell zum Patron der christlichen Reiche und Ritter, die auf der iberischen Halbinsel unter dem Druck der Mauren standen. Aber bereits im 12. Jh. war die Wallfahrt auf dem Jakobsweg nach Santiago europaweit verbreitet. In Skandinavien hieß Spanien sogar das Jakobsland. 46

Hedwig Röckelein: Die Verehrung des Apostels Jakobus d.Ä. in den norddeutschen Hansestädten. Eine Einführung. In: Der Kult des Apostels Jakobus d.Ä. in norddeutschen Hansestädten. Hgg. von Hedwig Röckelein. Tübingen 2005, S. 3-25, hier S. 17.

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Das übliche Pilgerkleid war schlicht, aus grobem Stoff; zur Reiseausstattung gehörten ferner ein Schlapphut, ein Pilgerstab und ein Beutel; als Pilgerflasche diente ein ausgehöhlter Kürbis. Am Hut trugen ursprünglich nur die Santiagopilger, später auch andere Wallfahrer eine oder mehrere Muscheln. Seit dem 14./15. Jh. wurden auch die Nahwallfahrt wichtig, also die Pilgerreise zu einem nahe gelegenen Ziel, das man in einem oder zwei Tagen erreichte; u.U. ließen sich Hin- und Rückweg sogar am gleichen Tag bewältigen. Es waren große Gruppen, die Nahwallfahrten unternahmen. Man wanderte gemeinschaftlich unter Gebeten und Liedern mit Fahnen, Heiligenbildern, Kreuzen, Kerzen; zum Pilgerzug gehörten gelegentlich Musiker und Sänger. Die ganze Gemeinde bat um eine gute Ernte oder etwa um Gottes Beistand gegen eine Viehseuche. Die Grenzen zwischen Wallfahrt und Prozession, von der noch die Rede sein wird, sind hier fließend. Die grundlegende Kritik der Reformatoren an der Heiligenverehrung bezog sich folgerichtig auch auf die Wallfahrt. 1520 schrieb Luther in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“: „Ich wolt man ließ die lieben heyligenn mit fridenn / vnnd das arm volck vnuorfuret. [...] [Ein] yeglicher bleybe in seyner pfarr / da er mehr findt / dan in allenn wal[fahrts]kirchen [...]. Hie findt man tauff / sacrament / predigt / vnd deinen nehsten / wilchs grosser ding sein den alle heyligen ym hymel.“47 Und zwei Jahre später äußerte er in einer Predigt, Gott habe „kain gefallen“ an den als „narrenwercken“ bezeichneten Wallfahrten.48 Manche Gläubige in evangelischen Gebieten waren anderer Meinung; Wallfahrten blieben noch eine gewisse Zeit in der Volksfrömmigkeit auch lutherischer Territorien lebendig. So war im Spätmittelalter ein Marienbild in der Kirche zu Büchen im Herzogtum Lauenburg ein regional wichtiges Wallfahrtsziel gewesen. Die lutherische Reformation wirkte im 16. Jh. nur oberflächlich. 1581 stellte man bei einer Visitation fest, daß nach wie vor Gläubige nach Büchen pilgerten. Der Pastor duldete das Gebet vor dem Altar, die Kirchgeschworenen (Kirchenvorsteher) förderten diese fromme Übung, indem sie das Marienbild an bestimmten Feiertagen auf den Altar stellten. Die Visitatoren untersagten genau diese Schaustellung des Marienbild, um nicht der „Abgötterei [...] die Kirche zu öffnen.“49 Neun Jahre später erfolgte die nächste Visitation und eine erneute Ermahnung der Kirchgeschworenen: Sie sollten sich „nicht gelüsten lassen, das abgöttisch Marienbild den Wallfahrern zu präsentieren, oder deren Opfer anzunehmen“ – meist brachten die Pilger Wachs als Opfergabe dar. Stattdessen sollten die Kirchenvorsteher, wenn Wallfahrer kämen, deren Namen erfragen und sie an den Pastor weitergeben. Den Vorstehern wurde bei Zuwiderhandlung eine Geldstrafe angedroht.50 Noch 1622 findet sich eine Notiz in den Akten einer weiteren Visita47 48 49 50

Cl 1, S. 403f. WA 10/3, S. 236. Landesarchiv Schleswig Abt. 218 Nr. 653 Visitation 1581, fol. 191f. 195f. (Zitat fol. 195.) Landesarchiv Schleswig Abt. 218 Nr. 654 Visitation 1590, fol. 308.

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tion, das „wandern[...]“ zur Büchener Marienkirche müsse untersucht und „ein ernstliches decret“ dagegen erlassen werden.51 Gleichwohl – im protestantischen Europa waren dies Ausnahmen. Die Fernwallfahrt nahm an Bedeutung zwar sehr ab, aber in vielen katholischen Regionen erlebte die Nahwallfahrt eine neue Blüte, vor allem vom Ende des 17. Jh.s bis etwa 1760/70. Im Südwesten des Reiches, einer Hochburg des Wallfahrtswesens, gab es ca. 800 – 1.000 Wallfahrtsziele. Dem entsprach die eifrige Pilgerfahrt: Bei Erhebungen um 1700 stellte man in einigen süddeutschen Bistümern überrascht fest, daß in den Pfarreien im Durchschnitt 15 Wallfahrten pro Jahr stattfanden, überwiegend natürlich in der schönen Jahreszeit. Im deutschsprachigen Raum des 18. Jh.s führten die Gläubigen die Nahwallfahrten vor allem an den Samstagen und Sonntagen im Mai und August/September statt, oft als Kirchfahrt, d.h. aus jedem Haus im Kirchspiel zog wenigstens eine Person mit, insgesamt also vielleicht jeder Vierte, vielleicht jeder Zweite der Eingepfarrten – nicht alle waren abkömmlich und in der Lage, den Weg zu bewältigen. So war die Wallfahrt des 17./18. Jh.s „ein alle Volksschichten erfassendes Massenereignis.“ Ihre Popularität wird durch ihren zugleich geistlichen und weltlichen Charakter verständlich. Die etwas bedeutenderen Wallfahrtsorte ragten ja nicht nur in religiöser Hinsicht heraus mit einer großen, oft prächtig ausgestatteten Kirche, feierlichen Gottesdiensten, wundersamen Heilungen und einem besonderen Seelsorgeangebot. Die Pilgerreise und die Wallfahrtsstätte mit ihren Gasthäusern und Verkaufsständen selbst boten darüber hinaus Geselligkeit und Abwechslung vom oft monotonen und anstrengenden Arbeitsalltag. Zugespitzt läßt sich, besonders mit Blick auf das Dienstvolk, von der Wallfahrt als dem „Vorläufer des modernen ‚Urlaubs’“ sprechen.52 Klöster förderten Wallfahrten aus religiösen und z.T. wirtschaftlichen Gründen, initiierten teils auch neue Pilgerfahrten. Dagegen sahen viele Bischöfe und manche Pfarrer die Wallfahrt weniger gern und suchten sie durch Prozessionen am Ort zu ersetzen. Das lag nicht nur an einer gewissen Konkurrenz. Die Grenze zwischen einem singenden und betenden Wallfahrtszug und einem lärmenden Umzug wurde offenbar nicht selten überschritten. Hinzu kam der Mangel an geeigneten Quartieren unterwegs und am Zielort, so daß an eine nach Geschlechtern getrennte Übernachtung nicht zu denken war. Die ab ca. 1760 einsetzende Kritik der Aufklärer an den Wallfahrten betraf nicht nur Verstöße gegen die guten Sitten; Wallfahrten galten auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht als schädlich, theologische Einwände an einer als nur äußerlich empfundenen Frömmigkeitsform traten hinzu. Die Argumente waren mehr oder weniger dieselben wie jenen, die für die Abschaffung von Feiertagen vorgebracht wurden (s. Kap. 7.3.). Zahlreiche katholische Regierungen verboten Wallfahrten oder schränkten sie erheblich ein, oft gegen den Widerstand der Bevölkerung. 51 52

Landesarchiv Schleswig Abt. 218 Nr. 657 Gravamina 1622 und später unter Büchen als „3 NB“ notiert. Hersche, Muße (wie Anm. 5), S. 794-838, Zitate S. 800. 818.

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Nach einem deutlichen Rückgang der Wallfahrten um 1800 kam es zu einer Neubelebung ab etwa dem zweiten Drittel des 19. Jh.s. Im Zuge der allgemeinen Revitalisierung katholischer Frömmigkeit knüpfte man bewußt an die traditionellen Formen an. Über die im engeren Sinne religiöse Dimension hinaus wurden Wallfahrten darüber hinaus ein öffentlicher Akt kollektiver Selbstbehauptung, gerade in der Epoche der antikatholischen Kulturkämpfe in verschiedenen europäischen Ländern. Die neuen Transportmöglichkeiten, besonders die Eisenbahn, ermöglichten großen Gruppen von Menschen neben der Nahwallfahrt auch das Erreichen ferner Ziele. Hier ist die Wallfahrt nach Lourdes am Fuße der französischen Pyrenäen zu nennen, die einsetzte, als 1858 ein Mädchen mehrere Marienerscheinungen erlebte. Nach der Bestätigung durch eine bischöfliche Untersuchungskommission kamen immer mehr Pilger an den Ort, im Jahr 1870 waren es bereits 30.000 im Jahr. Heute ist Lourdes mit ca. fünf Millionen Pilgern pro Jahr einer der weltweit prominentesten Wallfahrtsorte. Nahwallfahrten sind auch heutzutage in den katholisch geprägten Gebieten Europas lebendig, jedoch kein Massenphänomen mehr wie noch in der ersten Hälfte des 20. Jh.s.

7.6.2 Unterwegs mit dem Heiligen – Prozessionen Neben der Fußreise an den heiligen Ort kennen viele Religionen auch Prozessionen, d.h. feierliche religiöse Umgänge. Im lateinischen Westen sind seit dem Frühmittelalter Bitt- und Bußprozessionen bezeugt. Wichtig war die bereits bei der Vorstellung des Kirchenjahres erwähnte Bittwoche (s. Kap. 7.2.), also die drei Tage zwischen dem Sonntag Rogate und dem Himmelfahrtstag: Bei den Umgängen an diesen Tagen baten die Teilnehmer um eine gute Ernte. Die Prozessionen fanden als Flurprozession statt, d.h. sie führten durch die Felder oder entlang den Gemarkungsgrenzen eines Dorfes. Wie bei Wallfahrten trugen die Gläubigen Kreuze, Reliquien von Heiligen oder die Hostie. Geistliche segneten die Flur mit Weihwasser, Glocken gegen Hagel und Unwetter wurden geläutet (was bei aufziehenden Gewittern als Wetterläuten wiederholt wurde) – im Kern der Flurprozessionen stand also der Wettersegen. Im Bistum Passau wurden Flurprozessionen 1470 verboten. Zur Begründung hieß es: „Zuweilen werden diese Prozessionen, bei denen der Dienst und die Ehre Gottes herrschen sollten, durch Unehrerbietigkeiten, müßiges Geschwätz und Lachen entweiht. An vielen Orten liest man die vier Evangelien in die vier Windrichtungen hinaus mit den Zeremonien gegen Blitz und Donner. Da kann der gefährliche Zweifel aufkommen, ob Gott etwa nicht überall gegenwärtig sei, sondern nur da, wo er auf diese Weise angerufen und angefleht

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wird.“53 Diese Kritik hätten auch die Reformatoren äußern können. Sie traf das Problem auf den Punkt: Grundlage der Volksfrömmigkeit war eben die Überzeugung, daß Gott in besonderer Weise am heiligen, hier: an dem durch die Prozession geheiligten Ort gegenwärtig geglaubt wurde. Seit dem Spätmittelalter weit verbreitet war die Fronleichnamsprozession. Der Name bedeutet „Leib des Herrn“ (mhdt. fron = Herr, leichnam = Leib), es handelt sich also um eine Prozession, bei welcher der Leib Christi in Form der Hostie im Zentrum steht. Das Fronleichnamsfest entstand im 13. Jh. und war um die Mitte des 14. Jh.s bereits in weiten Teilen Europas etabliert. Es wird jeweils am Donnerstag nach Trinitatis gefeiert, also meist im Juni. Wesentlicher Bestandteil ist, daß das Allerheiligste, der Leib Christi, in einem feierlichen Umgang getragen wird – etwa durch eine große Kirche, ein Dorf oder eine Stadt. Die Hostie wird dabei aufbewahrt in einer Monstranz; dabei handelt es sich um ein mit Edelsteinen und Edelmetall reich geschmücktes Schaugefäß (lat. monstrare = zeigen) mit einem Glas in der Mitte, unter dem die Hostie zu sehen ist. Prozessionen fanden entweder regelmäßig an bestimmten Tagen oder aus besonderem Anlaß statt. In einer Augsburger Chronik wird von einer großen Seuche berichtet, die 1358 herrschte. Daraufhin sei „das gantz statvolck zusamen komen und haben mit wasser und brot gefastet und sind barfüß mit dem hochwirdigen sacrament mit ainer process um die stat gangen.“54 Die Stadtgemeinde war zugleich christliche Gemeinschaft und als solche wandte sie sich fastend und büßend an Gott. Manche aus Notlagen entstandenen Prozessionen wurden Jahr für Jahr wiederholt. In Frankfurt war 1342 der Main über die Ufer getreten, aber die Stadt blieb dennoch vor der Katastrophe verschont. Daraufhin gelobten Magistrat und Geistlichkeit, jedes Jahr barfuß eine Prozession abzuhalten, die Hostie dabei zu tragen und 100 große sowie 600 kleine Kerzen brennen zu lassen. Fast 200 Jahre lang, bis 1527, wurde dieses Gelübde erfüllt.55 Der Braunschweiger Magistrat stiftete 1388 eine jährliche Fronleichnamsprozession als Dank für den Sieg der Stadt in einer Fehde.56 Die Beispiele und besonders die federführende Rolle der weltlichen Obrigkeit machen deutlich: in Prozessionen stellte sich die lokale Gesellschaft als zugleich christliche und weltliche Gemeinschaft dar. Das wird auch an der Ordnung erkennbar, in der sie stattfanden. Am Anfang spätmittelalterlicher Fronleichnamszüge gingen oft blumenstreuende Kinder sowie Meßdiener. Danach kamen Gruppen von Geistlichen und Bettelmönchen in hierarchischer Ordnung, dann die Zünfte und Bruderschaften mit Fahnen, Kreuzen und Kerzen. Es folgte in der Regel die Monstranz, meist getragen durch einen Priester, entweder unter einem 53

54 55 56

Zit. nach der hochdt. Übersetzung bei Peter Browe: Die eucharistischen Flurprozessionen und Wettersegen. In: Theologie und Glaube 21 (1929), S. 742-755, hier S. 748f. Zit. nach ebd., S. 743. Ebd. Michael Borgolte: Die Mittelalterliche Kirche. München (2. Aufl.) 2004, S. 32.

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Baldachin oder unter freiem Himmel. Nach dem Leib Christi – Höhe- und Mittelpunkt des Zuges – folgten in hierarchisch absteigender Ordnung wiederum höhere Amtsträger und Geistliche, dann Nichtbürger, Frauen und Fremde.57 Wurde ein Baldachin über der Monstranz getragen, so waren die Träger meist Vertreter der weltlichen Obrigkeit, z.B. Ratsherren. In der Prozessionsordnung wurde, gruppiert um die Hostie, die hierarchische Ordnung der Stadt abgebildet. So spiegelten Prozessionen stets auch soziale und politische Verhältnisse. Wie die Wallfahrt wurden Prozessionen in den reformatorischen Gebieten in der Regel beseitigt. Beide erhielten damit konfessionsunterscheidende Bedeutung, was in gemischtkonfessionellen Gebieten zu entsprechenden Reibereien führen konnte. So kam es z.B. in der mehrheitlich lutherischen Reichsstadt Donauwörth 1606 zu schweren Übergriffen auf die Teilnehmer einer Prozession. Der Kaiser verhängte die Reichsacht über die Stadt, die von bayerischen Truppen besetzt wurde. Diese Ereignisse fanden ein großes publizistisches Echo und sind im nachhinein als eine Etappe auf dem Weg in den Dreißigjährigen Krieg erkennbar. Politische Relevanz haben Prozessionen und Wallfahrten wegen ihrer öffentlichgemeinschaftlichen Dimension bis heute behalten. Deutlich wird dies besonders bei Diktaturen, die ihrem Wesen gemäß nach einem Monopol auf Öffentlichkeit streben. Das Protestpotential zeigte sich etwa in der NS-Zeit. Trotz des Konkordats zwischen dem Vatikan und der NS-Regierung vom Juli 1933 mehrten sich schnell die Übergriffe auf katholische Vereine und besonders katholische Jugendgruppen; hinzu kam die antikatholische Propaganda der Nationalsozialisten. Daraufhin nahm im Jahr 1934 die Teilnahme an Prozessionen und Wallfahrten sprunghaft zu. Besonders die Fronleichnamsprozessionen dieses Jahres wiesen Rekordbeteiligungen auf. In einem regionalen Lagebericht der Gestapo wurde das wohl zutreffend so interpretiert: „Der Grund wird darin zu suchen sein, daß man die gegen die katholischen Verbände usw. getroffenen Maßnahmen nicht billigt und nun in aller Öffentlichkeit zeigen will, daß man nach wie vor treu zur katholischen Kirche steht.“58 Die religiöse Prozession gewann hier in einer Situation, in der die Straße allein der Partei gehörte, den Charakter einer Demonstration gegen die Politik des Regimes. Auch in den weiteren Jahren der NS-Diktatur bis zum Kriegsbeginn waren besonders die Fronleichnamsprozessionen gut besucht, obwohl die Teilnahme an ihnen auch berufliche Nachteile nach sich ziehen konnte. 57

58

Miri Rubin: Symbolwert und Bedeutung von Fronleichnamsprozessionen. In: Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politische Zusammenhänge. Hgg. von Klaus Schreiner. München 1992, S. 309-318, hier S. 312f. Zit. nach Ulrich von Hehl: Das Kirchenvolk im Dritten Reich. In: Die Katholiken und das Dritte Reiche. Hgg. von Klaus Gotto und Konrad Repgen. Mainz 1990, S. 93-118, hier S. 102.

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7.7 Formen der Nächstenliebe 7.7.1 Grundlagen der Caritas „Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz […]. Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.“ (Mt 25,3436) Mit diesen Worten entwirft Jesus im Matthäusevangelium die Szene des Weltgerichts: Der König – er selbst – teilt sein ewiges Reich mit den Gerechten, die ihm in der Not halfen. Auf deren verblüffte Frage, wann sie das denn getan hätten, lautet die Antwort: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40) Die Aufforderung zur Nächstenliebe findet sich oft in den Evangelien, sei es in der Geschichte vom armen Lazarus, in welcher die Dimension der Vergeltung im Jenseits betont wird (Lk 16,19-31), sei es im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, der trotz der Feindschaft zwischen Juden und Samaritern einem Juden hilft (Lk 10,25-37). Die zitierte Passage aus Mt aber spitzt unüberbietbar zu: Hilfe für die Bedürftigen ist Wohltat am Sohn Gottes, der Arme in seiner Not und Unansehnlichkeit ist Christus selber! Diese Identifikation der Gottheit mit den Menschen am Rand der Gesellschaft war eine Provokation für die griechisch-römische Welt und entfaltete bereits in der Frühen Kirche eine gesellschaftsverändernde Dynamik, die bis in die Gegenwart andauert. Denn aus der Forderung nach Nächstenliebe ergab sich, daß alle Christen in der einen oder anderen Form Almosen (griech. eleemosyne = die für Arme bestimmte Gabe) geben sollten. Die Bedeutung dieser Verpflichtung in einer Welt ohne Sozialversicherung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Gerade die caritas, die tätige Nächstenliebe, machte die christliche Lehre anschaulich und ließ die Kirche wachsen. Nicht zufällig wurde Martin von Tours († 397) einer der populärsten Heiligen überhaupt. Als junger römischer Soldat teilte er der Legende nach seinen Mantel mit einem frierenden Bettler; das geschah, noch ehe er durch seine Taufe Christ wurde, was der Pointe in der Weltgerichtsszene entspricht: Die Gerechten hatten Christus bei ihrer Wohltätigkeit nicht erkannt. Gegenstand dieses Abschnitts sind jedoch nicht spontane Taten der Nächstenliebe wie in der Martinslegende, sondern die institutionellen Formen, die sie annahm. Anfänge sind bereits im NT bezeugt. In der anwachsenden Jerusalemer Gemeinde wurden sieben Diakone eingesetzt, welche die Versorgung der Armen, Witwen und Waisen organisierten (Apg 6,1-7). Das griechische Wort diakonein (= dienen, bei Tisch aufwarten, Speisen und Getränke auftragen), zeigt, daß es hier zunächst um die tägliche Lebensmittelversorgung der Bedürftigen ging. In der Frühen Kirche war es die Hauptaufgabe der Diakone, kranke, arme, arbeits-

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unfähige und andere bedürftige Mitglieder der Gemeinde zu besuchen; zugleich übten sie als enge Mitarbeiter des jeweiligen Bischofs Leitungsfunktionen in der Gemeinde aus, wie auch ihre Beteiligung am Gottesdienst erkennen läßt. Die Verbindung kultischer und caritativer Aufgaben zeigt die Bedeutung an, die letzteren beigemessen wurde. Im Frühmittelalter reduzierte sich das Amt des Diakons jedoch aus verschiedenen Gründen auf eine Weihestufe im Durchgang zum Priesteramt (vgl. Kap. 4.1.); das Zweite Vatikanum belebte das Diakonenamt in der katholischen Kirche neu als geistliches Amt. An der Seite der Diakone waren in der frühen Kirche vielfach auch Frauen tätig, Diakonissen. Im Unterschied zum Diakonenamt gab es für sie jedoch keine Weihe und folglich keine kultischen Aufgaben; sie waren aber als Katechetinnen tätig. Die in der Gemeindekasse gesammelten Almosen ermöglichten die Versorgung der Gemeindearmen, teilweise auch Außenstehender.

7.7.2 Mittelalterliche Armenversorgung: Kloster und Hospital Mit dem Zusammenbruch der römischen Administration und Urbanität übernahm die Kirche in den verbliebenen bzw. geschrumpften Städten, soweit es ging, die Armenversorgung. In den großflächigen Landpfarreien des Frühmittelalters dürfte man mit dem den Armen zugedachten Teil des Kirchenzehnts, wenn er nicht ohnehin durch den Eigenkirchenherrn entfremdet wurde, nur wenig bewirkt haben. Umso wichtiger waren in einer ständig vom Hunger bedrohten Agrargesellschaft die Armenspeisungen der an Zahl allerdings noch geringen Klöster. Die wichtigste caritative Institution der entstehenden mittelalterlichen Stadt wurde das Hospital (Spital). Die lateinischen Wörter (hospes = Fremder, Gast, hospitalitas = Gastfreundschaft), von denen sich auch der französische Name des Hospitals herleitet (Hôtel-Dieu = Herberge Gottes), weisen bereits auf eine wichtige Funktion hin: Das Hospital war Herberge für arme, kranke und schutzbedürftige Reisende, nicht zuletzt Pilger. Die ersten Hospitäler knüpften insofern an die Xenodochien der Frühen Kirche an, als sie als Herbergen für durchreisende Christen dienten. Die Hilfsbedürftigen blieben anfangs nur im Ausnahmefall auf Dauer im Hospital. Mit der Zeit fanden aber auch längerfristig Alte, Krüppel und Kranke Aufnahme und in Städten mit mehreren Hospitälern kam es zu einer Spezialisierung auf bestimmte Bedürftige: So finden sich neben Armenhäusern vor allem im Spätmittelalter Hospitäler, die als Altersheime für wohlhabende Stadtbürger fungierten, ferner Heilanstalten für bestimmte Kranke bis hin zu den Sondersiechenhäusern: Leprosorien / Leproserien für Leprakranke (im Rheinland auch Melatenhäuser genannt, von frz. malade = krank) und Pestspitäler. Daneben entstanden Einrichtungen für Waisen- und Findelkinder. Die ersten Hospitäler waren im 6.-8. Jh. von Bischöfen und Klöstern eingerichtet worden. Ab dem 9. Jh. unterhielten auch Stifte Hospitäler und ab dem 11./12.

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Jh. traten städtische Bruderschaften als Gründer hervor: Sie richteten Spitäler für die örtlichen Armen ein, sorgten für Personal. Darüber hinaus erhielten die Mitglieder der Bruderschaften in Notfällen Hilfe aus der gemeinsamen Kasse und nicht zuletzt ein würdiges Begräbnis. In der Armenpflege waren schließlich kommunitär lebende Frauen- und Männergemeinschaften tätig, die geistliches Leben mit der Armenfürsorge verbanden; unter den Frauen sind die Beginen besonders bekannt, von denen sich viele der Krankenpflege widmeten. Für die Entstehung der hochmittelalterlichen Spitäler waren die Bevölkerungszunahme, das Entstehen vieler neuer Städte und damit auch neuartiger sozialer Probleme wichtig. Die damalige Armutsbewegung rückte sowohl das Ideal christlicher Armut als auch die barmherzige Zuwendung zu den Armen neu ins Zentrum. Folgerichtig brachte sie Impulse für die Caritas hervor. Modellhaft wird das erkennbar an einer der populärsten Heiligen des Spätmittelalters, der Landgräfin Elisabeth von Thüringen († 1231), Gründerin der Hospitäler von Eisenach und Marburg. Ungewöhnlich schnell, bereits vier Jahre nach ihrem Tod im Alter von 24 Jahren, erfolgte die Heiligsprechung – so sehr entsprach ihr außergewöhnlicher, persönlicher Einsatz in der Pflege Kranker und Versorgung Armer dem aktuellen Ideal von Heiligkeit. Die auf Kranken- und Armenpflege ausgerichteten Gemeinschaften gaben sich oft ordensähnliche Regeln – ab dem IV. Lateranum galt dies als Pflicht – und entwickelten sich teilweise zu Spitalorden, die auch unter der Sammelbezeichnung Hospitaliter zusammengefaßt werden. Unter ihnen sind die ritterlichen Spitalorden der Johanniter / Malteser, Templer und der Deutsche Orden am bekanntesten; doch war ihre Bedeutung in politischer Hinsicht größer als für die Caritas. Die wichtigste der Hospitaliter-Gemeinschaften war die der Brüder vom Orden des Heiligen Geistes, kurz: Heiliggeistbrüder. Sie nannten sich nach der dritten Person der Trinität, weil als wesentliches Kennzeichen des Heiligen Geistes gilt, daß er Trost spendet, Beistand gibt (Joh 14,16f.), also den physisch und psychisch Bedrängten besonders nahe ist. Als ab dem 13. Jh. die städtischen Magistrate viele bestehende Spitäler unter ihre Regie brachten und noch mehr neue gründeten, knüpften sie hier an: Die meisten neuen Einrichtungen wurden dem Heiligen Geist geweiht und führten ihn als Heilig-Geist-Spital im Namen. Ein Hinweis auf das theologische Denken, das hinter den Hospitalsgründungen steht, ist auch die Einrichtung von meist zunächst zwölf Plätzen: die Zwölfzahl der Apostel und die Bedeutung der Zwölf in anderen biblischen Zusammenhängen standen hier Pate. Auch an den Hospitalsgebäuden ist der christliche Rückbezug z.T. bis heute erkennbar, wenn sich die im Eingangszitat aus dem Matthäusevangelium genannten Sieben Werke der Barmherzigkeit (lat. opera misericordiae) an oder in ihnen dargestellt finden. Den bei Mt aufgezählten sechs Werken rechnete man die Bestattung der Toten als siebtes hinzu. Im Spätmittelalter waren die Sieben Werke im übrigen Gegenstand der Katechese. So verschieden die Hospitäler nach Größe, Zielgruppe und Ausstattung waren, so gehörte eine Kirche, zumindest eine Kapelle zur Grundausstattung. Nicht nur

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diejenigen, die hier Dienst taten, verstanden sich als geistliche Gemeinschaft und feierten z.B. das Stundengebet; auch die Hospitalsbewohner nahmen – je nach Gesundheitszustand, Bildungsgrad und anderen Voraussetzungen – an diesem halbklösterlichen Leben teil. Zum Unterhalt der Hospitäler trugen diejenigen bei, die dauerhaft in ihnen wohnten und, sofern Vermögen vorhanden war, etwas einbringen mußten. Wesentliche Grundlagen waren aber die vielen einzelnen Almosen, durch die z.T. Ablässe erworben werden konnten, und vor allem die Stiftungen, die in Testamenten oder auch zu Lebzeiten erfolgten. Solche Stiftungen brachten nicht nur den Stiftern Prestige, sondern die Gabe für die Armen als pauperes Christi (lat. Arme Christi) diente dem Heil – und gerade Wohlhabende werden die entsprechenden Ratschläge und Warnungen der Evangelien in dieser Hinsicht aufmerksam gehört haben (Mk 10,17-27) Die Hospitalsinsassen ihrerseits beteten für das Seelenheil der Stifter, teils täglich, auf jeden Fall bei den Jahrtagsmessen – auch hier wird die Verbindung der lebenden und verstorbenen Gläubigen im gemeinsamen Streben nach dem Heil erkennbar. Die Hospitäler des Spätmittelalters waren und blieben geistliche oder halbgeistliche Einrichtungen, auch wenn die meisten von ihnen nicht mehr in der Eigenregie von Orden oder geistlichen Gemeinschaften standen, sondern unter der Leitung und Kontrolle des jeweiligen Magistrats. Als dessen Beauftragte erscheinen oft die Provisoren (lat. = Fürsorger) in den Quellen, die besonders die Wirtschaftsführung kontrollierten. Im Spätmittelalter gab es mehrere Tausend Hospitäler im lateinischen Europa. Für Westfalen allein sind um 1500 etwa 80 davon nachgewiesen, Leprosorien und Pesthäuser nicht eingerechnet. Neun fanden sich in der mit wohl gut 10.000 Einwohnern größten westfälischen Stadt Münster.59 Je kleiner die Stadt, desto kleiner auch das Hospital; oft gab es nur eine Pilgerherberge, über die ein Geistlicher oder angesehener Laie die Aufsicht führte. Anders in den Metropolen: In der Großstadt Florenz gab es im 14./15. Jh. etwa 30 bis 35 Hospitäler, wobei die Bandbreite von Krankenspitälern über Pilger- und Armenherbergen bis zu Waisenhäusern reichte. In den vier großen, auf Krankenpflege konzentrierten Hospitälern gab es etwa 240 Betten; rechnet man ein, daß üblicherweise jedes Bett mit zwei Personen belegt wurde, reichte das immerhin für ca. 2 % der damaligen Florentiner Bevölkerung.60 59

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Beate Sophie Fleck: Quellen zu Insassen westfälischer Hospitäler im 15. und 16. Jahrhundert. In: Hospitäler in Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankreich, Deutschland und Italien. Eine vergleichende Geschichte. Hgg. von Gisela Drossbach. München 2007, S. 25-39, hier S. 25; Franz-Josef Jakobi: Bevölkerungsentwiclung und Bevölkerungsstruktur im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. In: Geschichte der Stadt Münster. Bd. 1. Hgg. von Franz-Josef Jakobi. Münster (3. Aufl.) 1994, S. 484-534, hier S. 493-496. John Henderson: Caring for the poor. Commessi and commesse in the hospitals of Renaissance Florence. In: Hospitäler in Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankreich, Deutschland und Italien. Eine vergleichende Geschichte. Hgg. von Gisela Drossbach. München 2007, S. 163-173, hier S. 164.

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7.7.3 Die veränderte Sicht der Armut in der frühen Neuzeit Im 15./16. Jh. begann sich die Stellung der Armen in der Gesellschaft langsam zu wandeln. Das wird besonders am Umgang mit Bettlern erkennbar. Zugespitzt formuliert, war Betteln bis dahin ein christlicher Beruf gewesen, modellhaft und konsequent verwirklicht durch die Bettelmönche. In den Bettlern begegnete man Christus selbst; und auch wenn ihre nicht selten abstoßende Erscheinung kein Mitleid, sondern Abscheu hervorrief, so galt in jedem Fall die Heilswirksamkeit des Almosens und ihres Gebets. Mit anderen Worten: Bettler hatten ihren festen Platz in der gemeinschaftsstiftenden christlichen Heilsökonomie. Der Blick auf die Bettler veränderte sich zuerst in den Städten, in deren engen Quartieren die nicht zuletzt durch das Bevölkerungswachstum zunehmenden sozialen Probleme hautnah erfahrbar waren. Die Zahl bettelarmer Stadtbewohner und fremder Vagabunden nahm vielerorts zu. So begann man damit, das Betteln zu ordnen, zeitlich und räumlich zu begrenzen, fremde Bettler möglichst fernzuhalten, etwa durch die Vergabe von Bettelzeichen an die örtlichen Armen. Die Unterscheidung zwischen Hausarmen, unverschuldet in Not geratenen, frommen Armen mit Anspruch auf Versorgung einerseits, und „starken Bettlern“, arbeitsfähigen Müßiggängern womöglich fremder Herkunft andererseits, wurde üblich. Was diesen allmählichen Wandel bewirkte, läßt sich nicht ohne weiteres sagen; sicherlich spielte eine Rolle, daß man mit den herkömmlichen Mitteln der Caritas der zunehmenden Not oft nicht mehr Herr wurde. Die Reformation sprach Betteln und Almosengeben grundsätzlich die Bedeutung für das Heil ab und begriff die Existenz von Bettlern ausdrücklich als gesellschaftlichen Mißstand: „Es solt yhe niemand vnter den Christen betteln gahn,“ formulierte Luther 1520 den Anspruch an eine christliche Gesellschaft, „es were auch ein leychte ordnung drob zu machen […]. Nemlich das ein yglich stad yhr arm leut vorsorgt / vnd keynen frembden betler zuliesse / sie hiessen wie sie wollten / es weren wal[fahrts]bruder odder bettel orden.“61 Damit erhielten die Abkehr vom traditionellen Bild des Bettlers und des Bettelns und die neuen Ordnungsvorstellungen eine religiöse Begründung, in der das Gebot der Nächstenliebe auf neuartige Weise gedeutet wurde. Der Weg zur Realisierung dieses neuen Ziels war jedoch mühsam. Vielfach wurde in den deutschen Städten und Territorien, die sich der Reformation zuwandten, ein Gemeiner Kasten eingerichtet, in dem alle bisherigen Stiftungen und kirchlichen Einkünfte für die Armen zusammenflossen und unter Aufsicht der weltlichen Obrigkeit verwaltet wurden. Es zeigte sich aber schnell, daß dies nicht ausreichte; dazu trug nicht nur das Ausmaß der Not bei, sondern auch der Umstand, daß die weltlichen Herrscher im Zuge der Reformation Kirchen- und Stiftungsgut in großem Ausmaß konfisziert hatten. Jedenfalls waren zusätzliche Einkünfte nötig. Sammlungen im Gottesdienst und von Haus zu Haus kamen 61

Cl 1, S. 405.

7.7 | Formen der Nächstenliebe

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hinzu, doch ihr Ertrag blieb hinter den Erwartungen zurück. Der Übergang vom Almosen, bei dem Geber und Bedürftiger einander gegenüberstanden, zur deutlich unpersönlicheren Sozialabgabe war mühsam. Die Klöster und Bruderschaften wurden im Zuge der Reformation fast ausnahmslos aufgelöst; etliche Hospitäler schloß man ebenfalls; die verbleibenden wurden, soweit dies nicht bereits geschehen war, unter weltliche Aufsicht gestellt. Die Reformation brachte also die endgültige Kommunalisierung der Armenfürsorge in dem Sinne, daß die weltliche Obrigkeit die Aufsicht und vermehrt die Durchführung der Armenfürsorge übernahm. Fast zeitgleich wurde im römisch-deutschen Reich durch die Reichpolizeiordnungen des 16. Jh.s festgelegt, daß jede Stadt oder dörfliche Gemeinde ihre Armen zu versorgen habe; das war im Grundsatz hilfreich, konnte in der Praxis aber nur eingeschränkt funktionieren. Auf diesen Grundlagen wurden die Versuche verstärkt, disziplinierend auf die Armen einzuwirken, sowohl durch Bettelverbote als auch die Gründung von Arbeitshäusern. Kommunalisierung meint keineswegs Entchristlichung: Kirchliche und weltliche Gemeinschaft waren und blieben identisch (zumindest idealiter), und die Obrigkeiten verstanden sich bis mindestens ins 18. Jh. hinein als christliche Obrigkeiten. Insgesamt forcierte der reformatorische Umbruch eine neue Sicht von Armut und Bettelei; eine reale Verbesserung der Armenfürsorge war nur langfristig möglich, am erfolgreichsten waren damit wohl die wohlhabenden nördlichen Niederlande, wo jede Konfession ihre Armen aus der jeweiligen Gemeindekasse versorgte. In den katholischen Regionen wurde die Bedeutung des Almosens für das Heil durch das Tridentinum bekräftigt. Klöster und Hospitäler wirkten auf die herkömmliche Weise, teils unter Aufsicht der weltlichen Obrigkeit; neue und alte Orden widmeten sich der Caritas, nicht nur bei der alltäglichen Armenspeisung, sondern etwa auch bei Epidemien, wenn es Kranke und Sterbende zu versorgen galt. Wichtig waren dabei u.a. die Kapuziner und in den romanischen Ländern die Gemeinschaften, die sich von Vinzenz von Paul (1581-1660) herleiten, vor allem die Filles de la charité (frz. Töchter der Barmherzigkeit; kurz: Vinzentinerinnen). Möglicherweise funktionierte die Armenversorgung im katholischen Europa dank der Orden und der größeren Kontinuität von Stiftungen zeitweise besser als in manchen protestantischen Gebieten. Gewiß sah man auch hier Bettelei teilweise als Problem an, aber die in den evangelischen Ländern übliche Unterscheidung zwischen ehrlichen Armen und Müßiggängern hielt man vielfach für nicht praktikabel; entsprechend gab es auch weniger Zwangsmaßnahmen.

7.7.4 Bewegungen der Nächstenliebe im Zeitalter der Industrialisierung Wo die Industrialisierung das gesellschaftlich-wirtschaftliche Gefüge revolutionierte, reichte die traditionelle kommunale und kirchliche Armenversorgung in keiner Weise mehr aus. Im katholischen Europa kam hinzu, daß am Ende des

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18. Jh.s und dann im Gefolge der Französischen Revolution sowohl die meisten Klöster geschlossen als auch sonstiges Kirchenvermögen im großen Umfang verstaatlicht worden war; der herkömmlichen Caritas waren damit weitgehend die finanziellen Grundlagen entzogen worden. An dieser Stelle geht es nicht darum, die Reaktion der Kirchen auf die Soziale Frage des 19. Jh.s umfassend darzustellen. Ihr Beitrag war von Land zu Land verschieden stark; oft prägten die christlichen Prinzipien die entstehende staatliche Sozialfürsorge und -gesetzgebung bis weit ins 20. Jh. hinein mit, so etwa der deutsche Sozialkatholizismus, dessen Begründer, der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler 1849 predigte: „Um die sozialen Übel zu heilen, genügt es nicht, daß wir einige Arme mehr speisen und kleiden, [...] das ist nur der allerkleinste Teil unserer Aufgabe, sondern wir müssen eine ungeheuere Kluft in der Gesellschaft, einen tief eingewurzelten Haß zwischen Reichen und Armen ausgleichen.“62 Das Augenmerk gilt hier den Frömmigkeitsbewegungen, die ihren Ausdruck in institutionalisierter, tätiger Nächstenliebe fanden. In allen Konfessionen gab es zahlreiche Initiativen von Geistlichen und Laien, die Skala reicht von Waisenhäusern mit Ausbildungsmöglichkeiten für Jugendliche über Gefängnisseelsorge bis zur Krankenpflege. In den evangelischen Kirchen des deutschsprachigen Raums wird zusammenfassend von der Diakonie gesprochen, ein Begriff den der Hamburger Pfarrer Johann Hinrich Wichern 1847/48 prägte. Er gründete 1833 das „Rauhe Haus“ für verwahrloste Kinder und Jugendliche und schuf zugleich eine Ausbildungsstätte für Erzieher, ein wesentlicher Anfang für die protestantische Wiederbelebung des Diakonats. Dazu trug in derselben Stadt auch Amalie Sieveking bei, die während einer Choleraepidemie 1832 eine Schwesternschaft zur Krankenpflege gründete. Wichtiger wurden in dieser Hinsicht jedoch der rheinische Pfarrer Theodor Fliedner und seine Frau Friederike: Sie gründeten 1836 ein Lehrkrankenhaus für Diakonissen in Kaiserswerth bei Düsseldorf. Es wurde zum Modell für zahlreiche weitere Diakonissenmutterhäuser inner- und außerhalb Deutschlands; 50 Jahre nach der Gründung von Kaiserswerth arbeiteten 6.400 Diakonissen des Kaiserswerther Verbandes in 600 Krankenhäusern und 500 Gemeindepflegestationen; 1926 waren es fast 29.000.63 Im Beruf der Diakonisse verband sich die in der Frömmigkeit wurzelnde Zuwendung zum Nächsten mit der Wahl einer für das 19. Jh. alternativen weiblichen Lebensform: Unter den damaligen gesellschaftlichen Bedingungen lag hier eine der wenigen Möglichkeiten für ledige Frauen, eine qualifizierte Berufsausbildung zu erwerben und in gewissen Grenzen selbständig zu arbeiten. Hier bestehen Parallelen zu den Beginen und anderen Frauengemeinschaften, die sich im Mittelalter der Krankenpflege widmeten – aber auch zu den neuen katholischen Frauenkongre62

63

Predigt in Mainz am 3. Dez. 1848, in: Wilhelm Emmanuel von Ketteler: Schriften, Aufsätze und Reden 1848-1866. Bearb. von Erwin Iserloh u.a. Mainz 1977, S. 34-47, hier S. 44. Paul Philippi: Diakonie I. Geschichte der Diakonie. In: TRE 8 (1981), S. 621-644, hier S. 638.

7.7 | Formen der Nächstenliebe

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gationen des 19. Jahrhunderts. „Wie nie zuvor gaben seit der Jahrhundertmitte Ordensschwestern in sozial-caritativem Dienst der katholischen Kirche ihr Gepräge.“64 Es gab und gibt zahlreiche weibliche Armen- und Krankenpflegekongregationen, die vielfach unter der Sammelbezeichnung Barmherzige Schwestern zusammengefaßt werden. Sie gehen z.T. auf die Vinzentinerinnen zurück und entwickelten sich im 19./20. Jh. zur weltweit größten religiös-karitativen Frauengenossenschaft überhaupt. Oft spielten Vinzenz-Vereine und Elisabeth-Vereine und die von ihnen gesammelten Spenden eine wichtige Rolle bei der Gründung und dem Unterhalt lokaler Einrichtungen und Kongregationen. Der erste Vinzenz-Verein war die 1833 von Laien in Paris gegründete Société de Saint Vincent de Paul, die bereits in den 1840er Jahren außerhalb Frankreichs und bis in die USA Verbreitung fand; 1848 bestanden bereits 108 Vereine außerhalb Frankreichs. Die karitativen Bewegungen des 19. Jh.s entstanden vielfach durch Anregungen und Einflüsse über die Grenzen hinweg; das war kein völlig neuer Zug, aber durch die modernen Kommunikationsmöglichkeiten verbreiteten sich neue Ideen und Initiativen schneller denn je. Auch die neuartige, konfessionsübergreifend genutzte Organisationsform des Vereins gehört zu den Besonderheiten dieser Bewegungen der Nächstenliebe, in denen Laien die tragende Rolle spielten. In diesen Zusammenhang gehören auch die Kolping-Vereine zur Unterstützung katholischer Gesellen und Handwerker; 1846 durch den Priester Adolf Kolping gegründet, hatten sie 1858 schon 20.000 Mitglieder. Sie bemühten sich darum, in materieller, sozialer und geistlicher Hinsicht ein Zuhause für die zu schaffen, die in der Frühindustrialisierung keine auskömmlichen Lebensverhältnisse erwirtschaften konnten. Schließlich knüpfte man im 19. Jh. auch direkt an die Tradition des christlichen Hospitals an: Es entstanden zahlreiche Krankenhäuser. 1996 waren 20 % der Krankenhäuser in der Bundesrepublik in katholischer Trägerschaft, 12 % in evangelischer.65

64

65

Martin Friedrich: Kirche im gesellschaftlichen Umbruch. Das 19. Jahrhundert. Göttingen 2006, S. 235. Werner Lauer: Krankenhäuser V. Organisationen. In: LThK 6 (1997), S. 415.

8 Kirche und Politik Die politische und gesellschaftliche Bedeutung der Institution Kirche, der Predigt, der dogmatischen Unterschiede zwischen Konfessionen u.a.m. wurde bereits in verschiedensten Zusammenhängen erkennbar. In diesem Kapitel werden abschließend einige grundlegende Einflüsse von Religion, Kirche und Theologie angesprochen, welche die politische Geschichte des lateinischen Europa prägten. Es geht nicht um einzelne Auseinandersetzungen wie z.B. den Investiturstreit, sondern um Voraussetzungen und Grundlagen. Lediglich die Kulturkämpfe des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts werden wegen ihrer Bedeutung für die modernen Beziehungen zwischen Staat und Kirche eigens behandelt (Kap. 8.5.). 8.1 Voraussetzungen: Aussagen des Neuen Testaments zu Herrschaft und Gesellschaft Das NT enthält keine systematische Gesellschafts- und Herrschaftslehre; das liegt u.a. daran, daß die ersten Christen mit einem baldigen Ende der bestehenden Welt rechneten. Gleichwohl entfalteten vereinzelte Äußerungen Jesu und der Apostel zur Herrschafts- und Gesellschaftsordnung erhebliche Wirkung in der Christentumsgeschichte. Diese Äußerungen müssen auf dem Hintergrund der direkten bzw. indirekten Herrschaft Roms im gesamten Mittelmeerraum verstanden werden. Die Stabilität dieser Herrschaft hatte ihren Preis, erkennbar u.a. in der rücksichtslosen Besteuerung der Provinzbevölkerung. In der römischen Provinz Judäa kam als Problem hinzu, daß die Vertreter Roms oft keinerlei Respekt für den jüdischen Glauben zeigten. Entsprechend verhaßt waren die fremden Herren bei frommen Juden, z.B. der Frömmigkeitsbewegung der Pharisäer; auch gab es Gruppen wie die Zeloten (griech. zelos = Eifer), die zeitweise einen Guerillakrieg gegen die römische Besatzungsherrschaft führten. Jesus von Nazaret, der das beginnende Reich Gottes (griech. basileia tou theou, wörtlich: Königsherrschaft Gottes) verkündete, rief nicht zum Aufstand gegen die Römer auf, obwohl er weltliche Herrschaft äußerst kritisch beurteilte und seine Jünger aufforderte, nicht nach Macht zu streben (Mk 10,42f). Seine vielleicht bekannteste Äußerung zur römischen Herrschaft fiel in einem Streitgespräch mit seinen Feinden, die ihm die Fangfrage stellten: „Ist es erlaubt, dem Kaiser Steuer zu zahlen oder nicht?“ (Mk 12,14) Sagte Jesus ja, so verlor er als Römerfreund die Unterstützung des Volkes und diskreditierte sich darüber hinaus in religiöser Hinsicht zumindest bei den Pharisäern, die um der kultischen Reinheit willen jeglichen Kontakt mit den heidnischen Römern mieden. Sagte Jesus aber nein, so konnte man ihn als Aufrührer denunzieren. „Er aber durchschaute ihre Heuchelei und sagte zu ihnen: ‚Warum stellt ihr mir eine Falle? Bringt mir einen Denar, ich will ihn sehen.‘ Man brachte ihm einen. Da fragte er sie: ‚Wessen Bild

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und Aufschrift ist das?’ Sie antworteten ihm: ‚Des Kaisers.’ Da sagte Jesus zu ihnen: ‚So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!’ Und sie waren sehr erstaunt über ihn.“ (Mk 12,15-17) Das war keine simple Handlungsanweisung, aber Stoff zum Nachdenken. Die für uns naheliegende, „moderne“ Interpretation im Sinne einer Trennung der religiösen von der staatlichen Sphäre dürfte im übrigen falsch sein. Im Gesamtzusammenhang der überlieferten Predigten Jesu kann gar kein Zweifel darüber bestehen, daß für ihn alles unter Gottes Herrschaft gehörte, wohlgemerkt nicht im Sinne einer Theokratie, aber so, daß wirklich alles zweitrangig wurde gegenüber dem Reich Gottes; selbst die Steuern waren da von geringer Bedeutung. In Jesu Äußerungen zu Armut und Reichtum fehlt im übrigen jede Polemik, doch eines wird klar: „Ihr könnt nicht beiden dienen, Gott und dem Mammon [sc. dem Geld].“ (Lk 16,13) Die für die Christentumsgeschichte vielleicht wichtigste Passage des NT findet sich im Brief des Apostels Paulus an die christliche Gemeinde in Rom, geschrieben zwischen 55 und 60 n.Chr. Römer 13,1-7. Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt. Wer sich daher der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes, und wer sich ihm entgegenstellt, wird dem Gericht verfallen. Vor den Trägern der Macht hat sich nicht die gute, sondern die böse Tat zu fürchten; willst du also ohne Furcht vor der staatlichen Gewalt leben, dann tue das Gute, so daß du ihre Anerkennung findest. Sie steht im Dienst Gottes und verlangt, daß du das Gute tust. Wenn du aber Böses tust, fürchte dich! Denn nicht ohne Grund trägt sie das Schwert. Sie steht im Dienst Gottes und vollstreckt das Urteil an dem, der Böses tut. Deshalb ist es notwendig, Gehorsam zu leisten, nicht allein aus Furcht vor der Strafe, sondern vor allem um des Gewissens willen. Das ist auch der Grund, weshalb ihr Steuern zahlt; denn in Gottes Auftrag handeln jene, die Steuern einzuziehen haben. Gebt allen, was ihr ihnen schuldig seid, sei es Steuer oder Zoll, sei es Furcht oder Ehre. Röm 13,1-7 wurde im Lauf der Christentumsgeschichte vielfach zur Legitimation weltlicher Macht herangezogen. Die entscheidend wichtige Einschränkung, die in diesen Versen ebenfalls enthalten ist, wurde im christlichen Westen so selbstverständlich, daß sie kaum noch auffällt: Der römische princeps, mächtigster Mann der bekannten Welt, göttliche Ehren beanspruchend, wird hier zum Diener des christlichen Gottes und seiner Ordnung degradiert! Spätere christliche Herrscher verstanden diese Dienerschaft eher als Würde und Ehre. Gleichwohl: Sie

8.2 | Verhältnis von Kirche und weltlicher Herrschaftsordnung

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blieben eindeutig Gott untergeordnet. Das war, weltgeschichtlich gesehen, keineswegs selbstverständlich, weil die Herrscher in vielen Kulturen göttliche Verehrung genossen. Die weltliche Macht konnte Gehorsam beanspruchen – was eben konkret vor allem die Erhebung von Steuern bedeutete. Aber diesem Gehorsam war eine Grenze gezogen: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen,“ lautet der entscheidende Vorbehalt, formuliert von Petrus und den Aposteln (Apg 5,29) in einer Auseinandersetzung mit dem jüdischen Hohen Rat, der ihnen die Predigt von Jesus verbieten wollte. Dieser Vers, bekannt als clausula Petri (Vorbehalt des Petrus), diente in einschlägigen Konflikten der Christentumsgeschichte immer wieder als Orientierung.

8.2 Zwei Gewalten: Das Verhältnis von Kirche und weltlicher Herrschaftsordnung nach Konstantin Bis zum Beginn des 4. Jh.s kam es periodisch zu Christenverfolgungen im römischen Reich. Konstantin I. († 337) jedoch beendete die Verfolgung und setzte auf die Förderung der christlichen Kirche. Was mit dieser sog. Konstantinischen Wende begann, gipfelte 380/391 in der Erhebung des christlichen Glaubens zur einzigen offiziellen Religion des Imperiums. So änderten sich im 4. Jh. die Voraussetzungen im Verhältnis der Kirche zu Gesellschaft und Herrschaftsordnung: Der Kaiser wurde Christ, das Imperium zum wenigstens offiziell christlichen Gemeinwesen. Religiöse und politische Gemeinschaft wurden weitgehend identisch, wie es dem Ideal vormoderner Gesellschaften entsprach. Der Religion kam dabei nach dem Verständnis der Zeit eine tragende Rolle für den Erhalt der Herrschaft und Gesellschaft zu: Der wahre Glaube und der richtig geübte Kultus wurden als Voraussetzung dafür verstanden, daß das Gemeinwesen in innerer Einheit und Frieden aufblühte und sich gegen äußere Feinde behauptete. Bereits kurz darauf aber wurde gerade diese Vorstellung von der segensreichen Wirkung der christlichen Religion für das Imperium massiv erschüttert: 410 eroberten und plünderten die Ostgoten Rom. Nach heidnischer Interpretation war das die Rache der alten Götter. In diesen Zusammenhang gehört das ca. 412-425 verfaßte Werk „De civitate Dei“ des Kirchenvaters Augustinus († 430). Darin unterschied er die unsichtbare civitas Dei (Stadt oder Bürgerschaft Gottes, d.h. die Gemeinschaft der Gläubigen) von der civitas terrena (irdische Stadt), d.h. von sämtlichen menschlichen Gemeinwesen; auch das Imperium Romanum mit seiner heidnisch-sakralen Tradition war demnach nicht mehr als ein ganz normales, menschliches Reich ohne jede Heiligkeit. Damit nahm Augustinus die Entsakralisierung des weltlichen Gemeinwesens vorweg – und erteilte der im 4. Jh. virulenten Versuchung eine Absage, die heidnische Sakralität des römischen Reiches durch eine christliche zu ersetzen.

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Augustinus’ Warnung vor einer Vergötterung des irdischen Gemeinwesens ging im lateinischen Westen nie mehr ganz verloren. Gewiß: Bis weit in die Neuzeit hinein verstanden sich die europäischen Städte und Monarchien ausdrücklich als christlich; das neu errichtete römische Reich, das ab dem 12. Jh. den Rang eines Sacrum Imperium beanspruchte, ist ein Beispiel dafür; die Erhebung von Heiligen zum Stadtpatron (z.B. der Evangelist Markus in Venedig) oder Landespatron (z.B. St. Olav in Norwegen, Maria in Bayern) ist ein weiteres. Auch die sakrale Legitimierung der meisten europäischen Monarchien seit dem Frühmittelalter, offenkundig z.B. in der aus der Bischofsweihe übernommenen Salbung des Herrschers vor seiner Krönung, deutet an, wie wirksam die uralte Vorstellung des rex et sacerdos in einer Person, also eines Priesterkönigs, war. Doch trotz der Sakralisierung des Herrschers: Geistliche und weltliche Macht verschmolzen im lateinischen Westen nicht, sondern blieben institutionell und personell unterscheidbare Größen. „Der Kaiser ist in der Kirche, er ist nicht über der Kirche,“ hatte Bischof Ambrosius von Mailand († 397) schon vor Augustinus formuliert.1 Ein Jahrhundert später faßte Papst Gelasius I. († 496) das Miteinander von Kirche und weltlicher Macht in die Form der Zwei-GewaltenLehre (Zwei-Schwerter-Lehre): Danach hatten Kirche und Herrschertum ihre jeweils unterschiedlichen Aufgaben von Gott erhalten und sollten einander ergänzen. Zusammenarbeit und Verknüpfung ja, Verschmelzung nein: So läßt sich der Grundgedanke der Zwei-Gewalten-Lehre zusammenfassen, die im lateinischen Europa in verschiedenen Varianten wirksam wurde (etwa in Luthers Zwei-Regimenten-Lehre, oft etwas ungenau als Zwei-Reiche-Lehre bezeichnet). Auch wenn in der Theorie die geistliche Seite tendentiell übergeordnet wurde und in der Praxis vielfach Monarchen massiv Einfluß auf die Kirche nahmen und dies sogar institutionell absicherten (etwa in Konkordaten und im landesherrlichen Kirchenregiment), so läßt sich die Zwei-Gewalten-Lehre doch als „abendländische Schicksalsidee“2 (ARNOLD ANGENENDT) bezeichnen. Denn die Entwicklung des Westens verlief in dieser Hinsicht anders als in Byzanz; dort gewannen die Kaiser eine stabile, papstähnliche Stellung in der orthodoxen Kirche; die Verschmelzung beider Mächte wird manchmal als Cäsaropapismus bezeichnet.

8.3 Das Bild der Gesellschaft: Christliche Ständelehren Auch die Gesellschaftsordnung wurde von christlichen Theologen reflektiert. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Vorstellung, daß die Gesellschaft aus mehreren ungleichen Schichten bestehe, die einander zu einem harmonischen Ganzen ergänzen. Ungleichheit in Harmonie – diese Vorstellung ist nicht spezifisch 1 2

Zit. nach Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997, S. 309. Ebd., S. 313.

8.4 | Gehorsam und Widerstand

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christlich, sondern in allen vormodernen Gesellschaften verbreitet. Seit etwa 1000 wurde häufig eine Dreiteilung der Gesellschaft gedacht, wie sie etwa Bischof Adalbero von Laon († nach 1030) formulierte. Die Aufgaben der oratores (Beter = Kleriker), bellatores (Kämpfer = Ritter) und laboratores (Bauern) beschrieb er so: „Dreigeteilt ist Gottes Haus, das als eines geglaubt wird: Die einen beten, die anderen kämpfen, wieder andere arbeiten.“3 Weltkleriker und Mönche beteten für die Gemeinschaft, die Ritter schützten Geistliche und Bauern, letztere ernährten die beiden anderen Gruppen: Das war der auf Gegenseitigkeit beruhende Grundgedanke dieses Gesellschaftsbildes. In zahlreichen Varianten finden wir diese Drei-Stände-Lehre bis in die frühe Neuzeit hinein, etwa in der Unterscheidung von ecclesia (geistlicher Stand bzw. gesamte Kirche), politia (Stand der weltlichen Obrigkeit), oeconomia (Hausgemeinschaft als Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft, also einschließlich des Gesindes, der abhängig Arbeitenden). Eng verwandt hiermit ist die christliche Haustafel (Kap. 1.2.3.). Die Bedeutung solcher Vorstellungen läßt sich kaum messen; doch spricht viel dafür, sie nicht gering zu schätzen. Zwar wuchsen die europäische Gesellschaften schon im 11. Jh. über das simple Schema Priester – Krieger – Bauer hinaus. Die Pointe der Drei-Stände-Lehre wie aller Gesellschaftlehren liegt aber nicht darin, daß sie soziale Realität maßstabsgetreu abgebildet hätte, sondern darin, daß sie ein plausibles Ideal darstellte und so die Wirklichkeit mitprägte.

8.4 Gehorsam und Widerstand 8.4.1 Princeps christianus – das Leitbild des christlichen Herrschers Was zeichnete die Regierungsweise des christlichen Fürsten, des princeps christianus, aus? Das NT gab darauf keine Antwort; so griff man im Lauf der Christentumsgeschichte einerseits auf das zurück, was im AT über die Könige Israels und Judas erkennbar war, andererseits auf die griechisch-römische Tradition von Herrschertugenden. Nach dem Bericht in 1 Sam widersprach es dem Willen Gottes, als die Stämme Israels einen König verlangten, wie ihre Nachbarn ihn hatten – der eigentliche König war doch Gott! In seinem Auftrag schilderte der Prophet Samuel dem Volk die Ansprüche, die ein Monarch erheben würde; die Aufzählung gipfelt in dem Satz: „Ihr selber werdet seine Sklaven sein.“ (1 Sam 8,17) In der späteren christlichen Auslegung stritt man darüber, ob diese Beschreibung eines Königs, der Ernteerträge, militärische Gefolgschaft und Dienste aller Art verlangt, als Legiti3

„Tripartita Dei domus est, quae creditur una: Nunc orant, alii pugnant, aliique laborant“, zit. nach Otto Gerhard Oexle: Die funktionale Dreiteilung der ‚Gesellschaft‘ bei Adalbero von Laon. Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im früheren Mittelalter. In: Frühmittelalterliche Studien 12 (1978), S. 1-54, hier S. 24.

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mation fürstlicher Ansprüche oder als Kennzeichen einer Tyrannis zu lesen sei. Einig war man sich aber darin, daß die bald darauf (10. Jh. v. Chr.) regierenden Könige David und Salomon als Vorbild für christliche Herrschaft galten – wegen ihres Gottvertrauens, der politisch-militärischen Erfolge Davids und der sprichwörtlichen Weisheit seines Sohnes Salomon. Von Konstantin bis ins 19./20. Jh. hinein wurde in aller Regel die christliche Monarchie als beste Regierungsform angesehen. Seit dem Frühmittelalter nannten sich Könige und Kaiser, später auch die rangniedrigeren Fürsten, Herrscher von Gottes Gnaden (Dei gratia). Im Gottesgnadentum drückte sich sowohl die herausgehobene Würde des Herrschers aus – er war von Gott eingesetzt und insofern legitimiert – als auch die Begrenzung seiner Macht: eben diesem Gott war er für sein Tun und Lassen verantwortlich. Im einzelnen sah das christliche Herrscherideal etwa so aus, wie es Maximilian I. von Bayern 1639 in einer „Vätterlichen Ermahnung“ an seinen Sohn und Nachfolger formulierte. Im ersten Teil dieses Politischen Testaments wird der Kurprinz zum Glauben und einer christlichen Lebensführung aufgerufen, denn „Gottesforcht ist ein Grundt Regl aller Tugenten“. Es folgen knappe Anweisungen zu einem gesunden und nüchternen Lebenswandel, danach der ausführlichste Teil unter der Überschrift: „Wie sich ein Fürst gegen seinen Underthonnen verhalten solle“. Hier zählt Maximilian auf: die Gerechtigkeit, was u.a. unparteiische Gerichtsbarkeit bedeutet; Milde; Schutz der Untertanen wie ein Vater und Hirte; Einhaltung von Versprechen; Freigebigkeit, besonders gegen Arme, doch keine Verschwendung des fürstlichen Vermögens; Weisheit und Heranziehung guter Ratgeber; mäßige Belastung der Untertanen durch Steuern u.ä.; Vermeidung von Kriegen; Freundlichkeit, wie sie ein „Vatter gegen seinen Kindern“ zeigt.4 In bemerkenswerter Kontinuität findet sich dieses Bild eines christlichen Herrschers in Mittelalter und früher Neuzeit. Der christliche Humanismus und die Reformimpulse aller Konfessionen verstärkten noch den ethischen Anspruch an die Regierungsführung des princeps christianus. Natürlich wurden die in Fürstenspiegeln und Krönungspredigten formulierten Ideale keineswegs immer verwirklicht. Aber die Norm war bekannt und anerkannt – offenbar z.T. auch bei einfachen Untertanen, die recht klare Vorstellungen von einem guten Herrscher hatten. Zum Bild des princeps christianus gehörte schließlich der Schutz der Kirche und in diesem Rahmen, wenn nötig, der Kampf gegen die Häresie. So versprach der französische König, der seit dem 14. Jh. exklusiv den Titel Allerchristlichster König (roi très-chrétien; rex christianissimus) beanspruchte, beim Sacre, der feierlichen Herrscherweihe, sich um Ausrottung aller Ketzer in seinem Herrschaftsbereich zu bemühen. 4

In: Politische Testamente und andere Quellen zum Fürstenethos der frühen Neuzeit. Hgg. von Heinz Duchhardt. Darmstadt 1987, S. 120-135.

8.4 | Gehorsam und Widerstand

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8.4.2 Die Pflichten christlicher Untertanen Die Pflichten christlicher Untertanen lassen sich knapp zusammenfassen: Gehorsam und Gebet für die Obrigkeit. Die Fürbitte für die jeweilige Herrschaft im Gottesdienst war völlig üblich; noch Napoleon legte Wert auf diese herkömmliche Einbindung des Volkes und ließ z.B. im „Königreich Westphalen“, das er seinem Bruder Jérôme eingerichtet hatte, für dessen Wohl beten. Ebenso wurden bei französischen Siegen und anläßlich der Geburtstage Napoleons und Jérômes Dankgottesdienste angeordnet.5 Die grundsätzliche Verpflichtung der Untertanen zum Gehorsam war unstrittig. Paulus’ Anweisung, der Obrigkeit zu gehorchen, galt um so mehr, als man es seit Konstantin mit einer christlichen Obrigkeit zu tun hatte, auch wenn sie sich manchmal wenig christlich gebärdete. Luther etwa bescheinigte den Fürsten in seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ (1523), sie seien „gemeyniglich die grösten narren / odder die ergisten buben auff erden“, man habe „wenig guts“ von ihnen zu erwarten.6 Gleichzeitig betonte der Reformator aber die Ordnungsfunktion des Fürsten: Er sollte die Guten schützen und die Bösen strafen, und auf diese Weise einigermaßen geregelte, friedliche Verhältnisse erhalten. So war man ihm zum Gehorsam verpflichtet – allerdings nicht vorbehaltlos.

8.4.3 Tyrannen und der Umgang mit ihnen nach Thomas von Aquin Gehorsam gegenüber dem rechtmäßigen Herrscher, der legitim handelte, war eine selbstverständliche Pflicht. Darüber bestand in der christlichen Herrschaftsauffassung kein Zweifel. Die entscheidende Frage war, wann ein Fürst durch sein Verhalten diese Legitimität verlor; trat dieser Fall ein, war weiterhin zu klären, wie man sich gegenüber diesem illegitimen Fürsten verhielt. Diese Fragen wurde von Herrschaftstheoretikern des lateinischen Westens intensiv reflektiert, wobei theologische Grundlagen neben verschiedenen Rechtstraditionen eine unterschiedlich große Rolle spielten. Eine Grundlage, auf die in der Folgezeit direkt und indirekt immer wieder zurückgegriffen wurde, legte der Dominikaner Thomas von Aquin († 1274) in seinem Werk „De regimine principum“ (um 1265). Thomas, wegen seiner systematischen Zusammenfassung der christlichen Theologie in der „Summa Theologiae“ einer der wichtigsten Theologen des Mittelalters, bezeichnet ungerechte Herrschaft im Anschluß an die antiken Herrschaftslehren als Tyrannis und defi5

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Alexander Dylong: Das Verhältnis der napoleonischen Modellstaaten in Westfalen zur katholischen Kirche. In: Modell und Wirklichkeit. Politik, Kultur und Gesellschaft im Großherzogtum Berg und im Königreich Westphalen. Hgg. von Gerd Dethlefs, Armin Owzar, Gisela Weiß. Paderborn u.a. 2008, S. 261-282, hier S. 264. Cl 2, S. 382.

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niert den Tyrannen so: „Der Tyrann verachtet das Gemeinwohl und sucht seinen persönlichen Vorteil“, was sich konkret darin äußert, daß er den Untertanen ihren Besitz wegnimmt, sie willkürlich tötet, unter ihnen Mißtrauen sät und Schrecken erzeugt.7 Ein tyrannischer Herrscher verliert seine Legitimität. Wie soll man sich gegenüber dem Tyrannen verhalten? „Wenn die Gewaltherrschaft nicht zu einem besonderen Übermaß ausartet, ist es wohl besser, eine Tyrannis, die sich in gewissen Grenzen hält, eine Zeitlang zu ertragen, als sich durch Unternehmungen gegen den Tyrannen in Gefahren zu verwickeln, die noch weit schwerer sind als die Tyrannis selbst. Es kann zum Beispiel der Fall eintreten, daß diejenigen, die sich gegen die Gewaltherrschaft erhoben haben, nicht die Oberhand gewinnen können und der so gereizte Tyrann nun um so mehr wütet. […] Es ereignet sich auch, daß gerade der, mit dessen Hilfe das Volk den Tyrannen vertreibt, nun, da er die Macht erlangt hat, die Gewaltherrschaft selbst an sich reißt und aus Furcht, von einem andern das gleiche zu erleiden, was er selbst getan hat, die Untertanen in noch drückenderer Knechtschaft hält.“ Vereinzelte Bibelstellen, die Thomas diskutiert, führen zu keinem eindeutigen Befund. Er verweist auch auf das Beispiel der christlichen Märtyrer, die sich nicht gegen tyrannische Kaiser auflehnten und „ohne Widerstand, geduldig und beherzt den Tod erlitten.“ „Es ist also wohl besser,“ meint Thomas, „gegen die grausame Bedrückung der Tyrannen nicht nach dem persönlichen Dafürhalten einiger weniger, sondern nach allgemeinem Beschluß vorzugehen. Denn wenn es erstens zum Rechte eines Volkes gehört, sich selbst einen König zu bestimmen, so kann mit vollem Rechte der eingesetzte König von ebendemselben Volke von seinem Platze entfernt oder seine Macht eingeschränkt werden, wenn er die königliche Gewalt in tyrannischer Weise mißbraucht. […] Denn er [sc. der Tyrann] hat selbst das Schicksal, daß ihm der Vertrag von seinen Untertanen nicht gehalten wird, dadurch verdient, daß er bei der Regierung des Volkes nicht die Treue hielt, wie es die Pflicht eines Königs verlangt.“ Falls eine Absetzung durch das Volk nicht möglich ist, bleibt doch die Hoffnung auf Gott, der Tyrannen zuläßt, „um die Sünden der Untertanen zu bestrafen“, sie aber nach kurzer Zeit stürzen läßt. Auch verweist Thomas auf die Erfahrung, daß despotische Herrschaften instabil sind, denn „die Furcht […] ist eine hinfällige Grundlage.“8 Thomas von Aquin betont ausdrücklich das Recht zwar nicht des Einzelnen, wohl aber der Gesamtheit des Volkes, einen Tyrannen abzusetzen: Dieser friedliche Widerstand ist legitim durch den wie auch immer hergestellten Konsens breiter Schichten! Damit ist auch das große Problem berücksichtigt, daß im konkreten Fall die Meinungen darüber, ob wirklich eine Tyrannis vorliegt, meist auseinandergehen – eben je nach Standpunkt. Der bewaffneten Erhebung steht 7

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Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten [De regimine principum]. Übers. von Friedrich Schreyvogl. Stuttgart 1994, S. 14-17 (Buch I, Kap. 3). Ebd., S. 22-25. 43f. (Buch I, Kap. 6.10).

8.4 | Gehorsam und Widerstand

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Thomas skeptisch bis ablehnend gegenüber; so legitim sie sein mag, bringt sie doch unabsehbare Gefahren mit sich, so daß es klüger sein mag, eine ihrem Wesen nach vorübergehende Tyrannis zu ertragen. Viele Gedanken, die Thomas formulierte, wurden in den folgenden Jahrhunderten aufgenommen, wenn es um die Frage ging, wann Widerstand legitim sei.

8.4.4 „Gott mehr gehorchen als den Menschen“ – Widerstand in Konfessionskonflikten Durch die Glaubensspaltung spitzte sich die Frage nach der Legitimität eines Herrschers, nach Widerstand und dessen möglichen Formen zu. Denn nun kam es landauf, landab zu der Situation, daß der Fürst einer anderen Konfession anhing als ein größerer oder kleinerer Teil seiner Untertanen; erst recht entstanden Probleme, wenn politische Konflikte, wie sie zwischen Herrschern und ständischen Eliten oder auch zwischen Fürsten und Städten an der Tagesordnung waren, eine konfessionelle Note erhielten. Aus Sicht der Untertanen war der Herrscher dann nicht nur ein politischer Gegner, sondern auch ein Feind des wahren Glaubens. Konnte er noch Gehorsam beanspruchen? Auf fürstlicher Seite wiederum identifizierte man religiöse Abweichung schnell als politische Rebellion, die entsprechend zu ahnden war. Von den vielen Varianten des passiven und aktiven Widerstands unter Berufung auf den wahren Glauben können hier nur zwei stellvertretend vorgestellt werden. Konfessionsübergreifend wurde als Pflicht des christlichen Fürsten die cura religionis angesehen, d.h. die Sorge für das Seelenheil der Untertanen, die er wahrnahm, indem er den wahren Glauben verteidigte und tatkräftig förderte, die Ketzerei bekämpfte. Was das konkret hieß, hing von vielen Faktoren ab – u.a. von der Machtstellung des Herrschers. Das Wormser Edikt von 1521, in dem u.a. die Sammlung und Vernichtung aller Lutherschriften angeordnet wurde, schickte Kaiser Karl V., über dessen Ablehnung der Lehren Luthers kein Zweifel besteht, Kurfürst Friedrich dem Weisen, dem Landesherrn des Reformators, gar nicht erst zu. Andere Fürsten des Reiches erhielten es sehr wohl. Als diese ihren Untertanen die Auslieferung der Druckwerke befahlen, schrieb Luther die bereits erwähnte Flugschrift „Von christlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“. Gewiß habe Paulus zum Gehorsam gegen die weltliche Obrigkeit aufgerufen, argumentierte er darin, aber es sei klar, daß es hier nur um die weltlichen Angelegenheiten gehe; auch habe Christus gesagt, man solle dem Kaiser geben, was ihm gehöre. Aber „die seele ist nicht vnter Keyßers gewalt“, in Glaubenssachen habe die weltliche Macht nichts zu befehlen. „Man muß Gott mehr gehorchen denn den menschen“ zitierte Luther die clausula Petri und folgerte: „Wenn nu deyn furst oder welltlicher herr dyr gepeut / mit dem Bapst zu hallten / sonst oder so zu glewben / oder gepeutt dyr buecher von dyr zu thun / solltu also sagen […]:

292

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Lieber herr, / ich bynn euch schuldig zu gehorchen mit leyb vnnd gutt / gepietet myr nach ewr gewalt maß / auff erden / so will ich folgen. Heysst yhr aber mich glewben vnnd buecher von myr thun / so will ich nicht gehorchen / Denn da seytt yhr eyn tyrann / vnnd greyfft zu hoch.“9 Realistisch rechnete Luther mit nachfolgenden Sanktionen; diese Folge des Ungehorsams müsse man leidend ertragen. Auch für seine eigene Person war er dazu bereit, die Konsequenzen christlich begründeter, gewaltloser Gehorsamsverweigerung auszuhalten. Das Recht auf bewaffneten Widerstand gegen etwaige kaiserliche Gewaltmaßnahmen gestand er den evangelischen Territorialfürsten in ihrer Rolle als Schutzherren ihrer Untertanen wenige Jahre später zögernd zu. Im letztgenannten Punkt kam man in der Folgezeit auch andernorts zu einer ähnlichen Haltung: Das Recht des Widerstands mit Waffengewalt stand keinem Privatmann zu, wohl aber als letzte Möglichkeit denjenigen, die in einem Gemeinwesen Ämter ausübten und insofern für den Schutz des Volkes Verantwortung trugen. Dieser Widerstand gegen eine „Tyrannis, die die wahre Religion angreift und sie, soweit möglich unterdrückt“, war berechtigt, wie Theodor Beza (Théodore de Bèze, 1519-1605), Theologe und enger Mitarbeiter Calvins, 1575 in einer Schrift über die wechselseitigen Pflichten der Obrigkeiten und Untertanen formulierte.10 Den Hintergrund bildeten die Hugenottenkriege und ganz aktuell die Bartholomäusnacht: War es erlaubt, sich gegen den französischen König zur Wehr zu setzen? Beza bejahte diese Frage, weil es Abmachungen gegeben hatte, in denen der reformierte Kultus erlaubt worden war; diese Abmachungen seien durch den König verletzt worden, so daß „offensichtlich eine Tyrannis“ vorliege. Beza schloß: „Es ist nicht immer notwendig, die durch allgemeine Edikte zugelassene Religion mit Waffen gegen eine offenbare Tyrannis zu beschützen und zu bewahren. Aber diese Verteidigung ist für jene Männer besonders geboten und erlaubt, denen diese Aufgabe obliegt und denen Gott die Möglichkeit dazu gibt.“11 Beza wird den Monarchomachen zugerechnet. Der aus dem Griechischen hergeleitete Begriff bedeutet „Monarchenbekämpfer“, obwohl „Tyrannenbekämpfer“ das Selbstverständnis der unter diesem Etikett zusammengefaßten Autoren wohl besser träfe. Denn sie favorisierten die Monarchie durchaus als beste Regierungsform. Ihre Betonung der ständischen Rechte und Freiheiten führte aber dazu, daß sie der monarchischen Macht klare Grenzen setzten – bis hin zur Legitimierung des bewaffneten Widerstands. Neben den calvinistischen Monarchomachen gab es um 1600 Herrschaftstheoretiker, die als katholische Monarchomachen bezeichnet werden. 9

10

11

Cl 2, S. 381. Die clausula Petri (Apg 5,29) ordnet Luther versehentlich dem vierten Kapitel der Apg zu. „Du droit des magistrats sur leurs subiets. Traitté […] pour advertir de leur devoir, tant les magistrats que les Subiets […]“. Theodor Beza: Das Recht der Obrigkeiten gegenüber den Untertanen und die Pflicht der Untertanen gegenüber den Obrigkeiten. In: Beza, Brutus, Hotman. Calvinistische Monarchomachen. Hgg. von Jürgen Dennert. Köln - Opladen 1968, S. 1-60, Zitate auf S. 55. 58f.

8.5 | Kulturkämpfe

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8.5 Kulturkämpfe – der Streit um die Religion im „modernen“ Staat „,Gieb dem Kaiser, was des Kaisers ist!‘ Das heißt nicht: Du sollst dieses oder jenes Gesetz des Kaisers oder des Staats befolgen, sondern es heißt das: Du sollst das Gesetz des Staates befolgen – ausnahmslos!“ In der erregten Debatte des Preußischen Abgeordnetenhauses am 17. Januar 1873 ging es um ein Gesetz, mit welchem die Regierung sich das Recht sichern wollte, über die Anstellung von Geistlichen zu entscheiden. Eine Vorbedingung sollte sein, daß jeder künftige Pfarrer ein Kulturexamen in deutscher Geschichte und Literatur nachwies. So wollte man die politische Zuverlässigkeit katholischer Geistlicher in Kirche und Schule sichern. Der eben zitierte konservative Abgeordnete Graf Bethusy-Huc unterstützte diese Gesetzesvorlage, weil er die Befähigung der Priester zu einer Erziehung im nationalen Sinne bezweifelte. Ebenso äußerte sich der preußische Kultusminister Falk in derselben Sitzung: „Die römische Kirche kann das nicht, sie ist universell, kosmopolitisch, aber nicht national.“ Am gleichen Tag prägte der liberale Abgeordnete Rudolf Virchow den Begriff, mit dem dieser Konflikt bis heute bezeichnet wird: Es handle sich „um einen großen Kulturkampf“ zwischen einer hierarchischen Kirche und dem Staat, der sich von kirchlichem Einfluß emanzipieren und „die Freiheit der individuellen, religiösen Ueberzeugung“ erkämpfen müsse.12 Religion, Nation, religiöse Freiheit, Rechte des Staates und Grenzen staatlicher Macht – das waren die Schlagworte, die den preußisch-deutschen Kulturkampf von 1871 bis 1886/87 bestimmten, doch nicht nur ihn: Eine ganze Reihe europäischer Staaten wurde von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg von Konflikten dieser Art erschüttert, vor allem katholisch geprägte Länder wie Italien und Belgien, aber auch Länder mit einer starken katholischen Minderheit wie Preußen und das Deutsche Reich. Bei diesen europäischen Kulturkämpfen ging es um die Rolle der Kirche in Politik und Gesellschaft, um das Verhältnis von Politik und Religion. Welche Prägekraft in der Gesellschaft sollte, durfte, mußte die Religion bzw. Mehrheitskonfession haben, etwa im Schulwesen, im Eherecht und in der Gestaltung des öffentlich wahrnehmbaren Alltags? Wie weit durfte der Staat überhaupt in die kirchliche Autonomie, konkret: die Ausbildung der Geistlichen und deren Amtseinsetzung eingreifen? „Nein, meine Herren, der Staat ist nicht omnipotent,“ hatte Ludwig Windthorst, einer der wichtigsten Politiker der katholischen Zentrumspartei eine Woche zuvor im Abgeordnetenhaus gewarnt.13 Doch an welcher Stelle begannen die internen Belange der Kirche, wie und wo ließ sich die Grenze ziehen? Die Kulturkämpfe wurzelten in den großen Umbrüchen in Europa seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Zu nennen sind: 12

13

Zitate in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 1. November 1872 einberufenen beiden Häuser des [Preußischen] Landtages. Haus der Abgeordneten. Bd. 1. Berlin 1873, S. 620. 828. 631. 633. Ebd. S. 475.

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– der ausdrückliche Abschied vom Ideal des religiös einheitlichen Gemeinwesens. – das Anwachsen staatlicher Macht und Machtansprüche, oft verstärkt durch – die nationalen Bewegungen und Nationalismen, die teilweise religiöse Formen annahmen. – der Liberalismus als dem Fortschrittsglauben verhaftete, weltanschauliche Strömung; seine Anhänger betonten gegen die Bindungen religiöser Gemeinschaft die individuelle Freiheit und sittliche Kraft und nahmen dabei teilweise eine antiklerikale oder sogar religionsfeindliche Haltung an, wie sie sich oft auch im Sozialismus fanden. – der Ultramontanismus (lat. ultra montes = jenseits der Berge), der ab ca. 1820/30 als Richtung innerhalb der katholischen Kirche u.a. als Reaktion gegen den verstärkten Zugriff des Staates auf die Kirchen entstand; man suchte in administrativ-politischer Hinsicht Anlehnung beim Papsttum; zugleich wurde bei der Erneuerung der katholischen Frömmigkeit die Verbindung zu Rom und der übernationalen Kirche betont. Wegen dieser ausdrücklichen Treue zu Rom und der supranationalen Kirche und wegen der schroff abwehrenden Haltung des lange amtierenden Papstes Pius IX. (1846-1878) gegenüber den zeitgenössischen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen verwendeten die Liberalen „ultramontan“ als Schimpfwort. Der Syllabus von 1864, in dem Papst Pius viele gesellschaftliche Entwicklungen als Irrtümer verurteilt hatte, sowie das Unfehlbarkeitsdogma von 1870 waren keine Ursache der Kulturkämpfe, aber sie trugen zur Verhärtung der Fronten bei. – der Beginn der industriellen Wirtschaftsgesellschaft, die insgesamt eine Individualisierung des Lebens begünstigt. Diese Strömungen waren von Land zu Land unterschiedlich stark; auch die jeweils verschiedenen politischen Voraussetzungen (etwa in der verfassungsrechtlichen Stellung der Kirche) und Gegebenheiten spielten für den Verlauf und die Intensität der Konflikte eine Rolle. Die Ziele der Regierungen und der antikatholischen Strömungen in den Bildungseliten, waren auch nicht überall dieselben. Im preußisch-deutschen Kulturkampf ging es der Regierung primär darum, die katholische Kirche einer administrativen Kontrolle zu unterwerfen, sie zu einer gefügigen Staatskirche zu machen; sie sollte dabei nach Auffassung Bismarcks und der meisten konservativen und liberalen Parlamentarier durchaus eine stabilisierende Rolle in der Gesellschaft behalten, aber eben im Sinne der Regierung und des vorherrschenden nationalen Weltbilds. Einige liberale Abgeordnete hätten allerdings eine Entflechtung oder Trennung von Kirche und Staat vorgezogen, wie sie in Frankreich am Ende der Konflikte vollzogen wurde: Dort hatte seit dem Konkordat von 1801 eine katholische Staatskirche mit staatlich besoldeten Geistlichen bestanden. Die Konflikte seit 1879 waren auf Regierungsseite getragen durch den Geist des Laizismus (frz. laïcité), d.h. von der Überzeugung, der als ausdrücklich areligiös verstandene Staat müsse die Kirche aus der Öffentlichkeit zurückdrän-

8.6 | Letzte Dinge

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gen. Zur Verschärfung des Konfliktes trug bei, daß große Teile der Geistlichkeit und der praktizierenden Gläubigen der 1870 gegründeten französischen Dritten Republik feindlich oder reserviert gegenüberstanden. Am Ende siegte 1905/06 der Laizismus: im Zuge einer nicht ohne Schikanen durchgeführten Trennung reduzierte der Staat die Kirchengemeinden auf den Status lokaler Vereine. Die Kulturkämpfe wurden vor allem in Parlamenten, in der Presse, durch polizeiliche Maßnahmen und vor Gerichten ausgetragen – und nicht zuletzt waren sie durch die Solidarisierung der Gläubigen mit ihren Geistlichen gekennzeichnet. Trotz aller Härten – wie der Inhaftierung und Ausweisung von mindestens katholischen 1.800 Geistlichen im Zuge des preußischen Kulturkampfes14 – unterschieden sich diese Konflikte doch in ihren Formen deutlich vom brutalen Vorgehen kirchenfeindlicher Diktaturen des 20. Jahrhunderts. In den Kulturkämpfen wurden Weichen für das Verhältnis von Religion und Politik gestellt. Die damals erzielten rechtlichen Regelungen gelten zu einem erheblichen Teil bis heute. Der Staat machte sich dem eigenen Selbstverständnis nach zum Anwalt individueller Freiheitsrechte und trieb damit die Säkularisierung, d.h. die Entflechtung von Religion und Politik bzw. Gesellschaft voran. Die öffentliche Verbindlichkeit des christlichen Glaubens wurde beschränkt oder aufgehoben, etwa mit der Einführung der Zivilehe. Auf der anderen Seite versuchte der Staat auch, die Kirche der vorherrschenden Ideologie zu unterwerfen, beschränkte die Freiheitsrechte der Kirche und der Gläubigen, wenn er z.B. die Tätigkeit von Orden verbot und sich die Entscheidung über die Anstellung von Geistlichen sichern wollte. Vor einem solchen, übermächtigen Staat warnten katholische Politiker und Bischöfe. Die Kurie blieb lange in einer eher unproduktiven Abwehrhaltung gegenüber dem Trend zur Säkularisierung stecken. Jedoch blühte – nicht zuletzt in Abwehr der staatlichen Angriffe – ein vielfältiges katholisches Vereinswesen auf, ein Paradebeispiel schichtenübergreifender moderner gesellschaftlicher Partizipation.

8.6 Letzte Dinge 8.6.1 Das heilsgeschichtliche Weltbild Geschichte wurde bis ins 18./19. Jh. hinein vor allem als Heilsgeschichte verstanden: – Am Anfang steht die Erschaffung der Welt; nach dem Sündenfall sind der Bund Gottes mit Noah (Gen 9,8-17), dann die Erwählung Abrahams (Gen 12,1-3) und des Volkes Israel wesentliche Etappen des Heils, das Gott den Menschen schenken will.

14

Ronald J. Ross: The failure of Bismarck’s Kulturkampf. Catholicism and state power in Imperial Germany, 1871-1887. Washington 1998, S. 72.

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– Dreh- und Angelpunkt der Weltgeschichte ist Jesus Christus. Seine Geburt, Kreuzigung und Auferweckung sind die wesentlichen Ereignisse der Geschichte. Der Sieg des Gottesreiches steht mit Ostern fest, auch wenn er noch nicht offenkundig und vollendet ist. Weil das Heil der Welt in Christus begründet ist, beginnt mit ihm eine neue Ära: Im Lauf des Frühmittelalters setzte sich allmählich die an Christi Geburt orientierte christliche Zeitrechnung durch, die der Mönch Dionysius Exiguus im 6. Jh. entworfen hatte. Man datierte auf das Jahr des Herrn (A.D. = Anno Domini = im Jahr des Herrn) oder nach Jahren des Heils. – Am Ende der Geschichte steht die Vollendung des Gottesreiches, wenn Christus als Weltenrichter wiederkommt. Mit diesem Jüngsten (= Letzten) Gericht am Jüngsten Tag beginnt nach christlicher Überzeugung das ewige Friedensreich Gottes, zu dem die Gläubigen geladen sind. Diese Überzeugung bildet den Kern der christlichen Eschatologie (griech. eschata = letzte Dinge), der Lehre von den letzten Dingen. Sie beruht auf Passagen der Evangelien (Mt 2425) und der alttestamentlichen Prophetenbücher Daniel und Ezechiel, schließlich auf dem letzten Buch der Bibel, der Offenbarung des Johannes (JohannesApokalypse; griech. apokalypsis = Offenbarung, Enthüllung). Geschichte als christliche Heilsgeschichte hat ein Ziel, auf das alles zuläuft. Alle Einzelgeschehnisse sind gegenüber dem künftigen Gottesreich zweitrangig bzw. gewinnen ihre Bedeutung erst im Licht des heilsgeschichtlichen Entwurfs: Gott wirkt in der Geschichte, durch das Handeln der Menschen hindurch, d.h. die göttliche Vorsehung (lat. providentia) ist wirksam, auch wenn das meist nicht erkennbar ist und die handelnden Menschen nicht wissen, daß sie direkt oder indirekt zum Fortschritt der Heilsgeschichte beitragen (vgl. das figurative Denken in der Bibelauslegung, Kap. 2.2.3.). Der Verlauf der Geschichte wurde in eine Abfolge irdischer Reiche bzw. Weltalter gegliedert. Prominent war die Vier-Monarchien-Lehre. Sie beruht auf einem in Dan 2 geschilderten Traum des Babylonierkönigs Nebukadnezar († 562 v.Chr.). Ihm folgend, wurden vier Monarchien oder Weltreiche bis zum Ende der Welt angenommen: das assyrische (oder neubabylonische) Reich; das Perserreich; die Reiche Alexanders des Großen und der Diadochen; schließlich das Imperium Romanum. Dieses vierte Reich bestand nach verbreiteter Anschauung immer noch, da es von den Römern in einer translatio imperii (lat. Übertragung des Reiches) auf die Franken und von ihnen auf die Deutschen als Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation gekommen sei. Die Lehre von den vier Weltreichen blieb nicht unangefochten: So bestritten französische Gelehrte des 15./16. Jh.s dem römisch-deutschen Reich diese besondere Würde. Dort aber blieb die Vier-Monarchien-Lehre bis ins 18. Jh. als Grobgliederung der Geschichte anerkannt. Der Umstand, daß Ziel und Ende der als Heilsgeschichte verstandenen Geschichte feststanden, wirkte sich auf die Geschichtsschreibung aus. Ganz selbstverständlich schilderte z.B. Bischof Otto von Freising († 1158) im letzten Buch

8.6 | Letzte Dinge

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seiner achtteiligen Weltchronik das Ende der Geschichte, u.a. die Auferstehung der Toten und das Ende der beiden civitates, von denen schon Augustin geschrieben hatte.15 Otto rechnete, als er sein Werk 1143-1146 verfaßte, mit dem baldigen Weltende; so war es nur folgerichtig, nach den Ereignissen der 1140er Jahre die letzten Dinge in Anlehnung an die christliche Tradition darzulegen. Von der heilsgeschichtlichen Perspektive und ihrem Ziel, dem ewigen Gottesreich, her werden im Geschichtsverständnis der christlichen Kultur uneindeutige und zusammenhanglose Einzelereignisse in ein großes, sinnvolles Ganzes eingebunden. In den Geschichts- und Gesellschaftsentwürfen des 19./20. Jh.s, nicht zuletzt im Marxismus, wurden die Inhalte des heilsgeschichtlichen Entwurfs zugunsten eines wie auch immer verstandenen innerweltlichen Fortschritts verworfen. Das Konzept der Geschichte als eines zielorientierten Ablaufs wurde jedoch beibehalten; man kann dies als eine säkularisierte Form christlich-heilsgeschichtlichen Denkens verstehen, so wie der Philosoph KARL LÖWITH († 1973) es formulierte: „Es gäbe keine Idee des weltlichen Fortschreitens zu einer Erfüllung ohne den ursprünglichen Glauben an ein Reich Gottes.“16

8.6.2 Antichrist und Tausendjähriges Reich: Politik im Horizont des Weltendes So sicher am Ende das Jüngste Gericht und das ewige Reich Gottes stehen würde, so unsicher war der genaue Zeitpunkt: Wann würden diese Ereignisse eintreten? Waren Katastrophen und Himmelserscheinungen als gottgesandte Vorzeichen zu verstehen? Die einschlägigen eschatologischen Bibeltexte (z.B. Mt 24 – 25) enthalten den Hinweis auf künftige schwere Zeiten ohne zeitliche Präzisierung (sieht man von symbolisch zu verstehenden Zahlen ab). Im übrigen hieß es in einer der Endzeitreden Jesu nur lapidar: „Seid also wachsam! Denn ihr wißt weder den Tag noch die Stunde.“ (Mt 25,13) Die christliche Theologie vermied es daher meist, Berechnungen des Weltendes anzustellen. In Krisen der Kirche und der Gesellschaft kamen Laien wie Geistliche jedoch zu der Überzeugung, der Jüngste Tag stehe nahe bevor, und stellten genau solche Spekulationen an. Wichtiger als die Berechnungen waren aber die eschatologischen Ängste und Hoffnungen an sich, die manchen sozialen und politischen Konflikt aufluden. Die jeweiligen Positionen gewannen im Horizont von Heilserwartung und Weltende eine alles überragende Bedeutung – denn je nach Standort waren Christus oder eben der Antichrist am Werk! Die Gestalt des Antichrists, des Gegenspielers Christi in der Endzeit, in der letzten Phase irdischer Geschichte, spielt in der Johannes-Apokalypse eine wich15

16

Ottonis episcopi Frisingensis: Chronica sive historia de duabus civitatibus. Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte der zwei Staaten. Übersetzt von Adolf Schmidt. Hgg. von Walther Lammers. Darmstadt 1961. Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart – Berlin – Köln (8. Aufl.) 1990, S. 194.

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tige Rolle. Die Apokalypse besteht zwar nicht aus der Ansammlung von Katastrophenszenarien, wie es landläufig angenommen wird; wie ein roter Faden zieht sich vielmehr das Lob Gottes durch diese Schrift, die als Trostbuch für verfolgte Christen am Ende des 1. Jh.s verfaßt wurde. Gleichwohl wurden ihre eindrücklichen Bilder besonders in krisenhaften Zeiten aufgenommen und als Hinweise auf das unmittelbar bevorstehende Jüngste Gericht verstanden, in dem die Feinde Gottes vernichtet und die Gläubigen erlöst werden würden. Zur eschatologischen Bildsprache gehört u.a. der Begriff Himmlisches Jerusalem (Zion), der für das ewige Gottesreich stand und dem Babylon als Ort des Antichristen gegenübergestellt wird. Die Wirkung eschatologischer Vorstellungen läßt sich nicht messen; auf jeden Fall erlebten sie von ca. 1520 bis weit in das 17. Jh. hinein aufgrund von Konfessionsspaltung und -konflikten eine Hochkonjunktur. Die Schärfe der Konfessionskonflikte erklärt sich nicht zuletzt durch ihre eschatologische Deutung. Auf protestantischer Seite sah man verbreitete das Papsttum als den Antichristen an. Luther war mit Schaudern zu diesem Schluß gekommen, doch wurden eschatologische Vorstellungen für ihn und seine Theologie nicht zentral. Anders verhielt es sich meist mit den radikalen Strömungen der Reformation, wie der in Münster 1534/35 herrschenden Täufergruppe, die die westfälische Stadt als Neues Jerusalem ansah. Die Identifikation des Papsttums mit dem Antichristen war vielleicht in England am geläufigsten und wirkmächtigsten. Im Rahmen des englischen Antikatholizismus’ war diese Vorstellung jedenfalls so verbreitet, daß ein Puritaner 1581 schrieb, es sei völlig nutzlos, zu beweisen, daß der Papst der Antichrist sei; das werde sowieso in jedem Buch dargelegt. Konsequent hielt er auch die anglikanischen Bischöfe für antichristlich, denn sie verkörperten ja die „papistischen“ Relikte in der Kirche, die es zu bekämpfen galt.17 So wurde der Antichrist-Begriff von den verschiedenen Richtungen innerhalb und außerhalb der Anglikanischen Kirche polemisch verwendet, wobei man versuchte, die Ereignisse der englischen und europäischen Gegenwart im Licht der einschlägigen biblischen Passagen zu deuten. Den Höhepunkt erlebten die eschatologischen Hoffnungen (auf den Tag des Heils) und Ängste (vor dem Wüten des Antichrists) in England während des Bürgerkriegs 1642-1649 und der Einrichtung des republikanischen Gemeinwesens, das bis 1660 bestand. Besonders verbreitet war auch die Erwartung eines Tausendjährigen Reiches, das in Anlehnung an Apk 20,4 als Vorstufe des ewigen Gottesreiches galt; im Unterschied zu letzterem wurde es aber als ein himmlisches Reich auf Erden gedacht, das Menschen mit Gottes Hilfe errichten. Solche Vorstellungen werden unter dem Begriff Millenarismus oder Chiliasmus (lat. mille, griech. chilioi = 1.000) zusammengefaßt. Eine wichtige millenaristische Bewegung war die Grup17

Christopher Hill: Antichrist in Seventeenth-century England. London – New York (2nd ed.) 1990, S. 18. 49.

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pe der Fifth Monarchy Men (Quintomonarchisten): Nach dem Ende des Vierten irdischen Großreiches wollten sie mit göttlicher Hilfe das Tausendjährige Reich als Fünfte Monarchie errichten. Die insgesamt unklaren Lehren dieser und anderer chiliastischer Gruppen lassen Enttäuschung darüber erkennen, daß unter Cromwell noch nicht das Gottesreich angebrochen war; zugleich wird der Traum einer von drückender Not befreiten Existenz erkennbar.

9 Literaturhinweise Die Leitlinie bei der folgenden Zusammenstellung war es nicht, möglichst viele Titel aufzuführen, sondern solche Nachschlage- und Überblickswerke zu nennen, die für die Praxis des Geschichtsstudiums besonders nützlich sind. Neben Werken, die ganz Europa in den Blick nehmen, finden sich Werke zur deutschen Geschichte. Z.T. sind kurze erläuternde Kommentare angefügt. A. Allgemeine Nachschlagewerke zur Kirchen- und Christentumsgeschichte. The Encyclopedia of Religion. 15 Bde. Hgg. von Lindsay Jones. Detroit (2. Aufl.) 2005. The Encyclopedia of protestantism. 4 Bde. Hgg. von Hans Joachim Hillerbrand. New York u.a. 2004. Friedrich Hauck – Gerhard Schwinge: Theologisches Fach- und Fremdwörterbuch. Göttingen (9. aktualis. Aufl.) 2002. knappe, informative Erklärungen theologischer Fachbegriffe, dazu ein Verzeichnis von Abkürzungen zu Theologie und Kirche Manfred Heim: Von Ablass bis Zölibat. Kleines Lexikon der Kirchengeschichte. München 2008. ausgezeichnetes Nachschlagewerk im Taschenbuchformat mit knappen, verständlichen Einträgen Lexikon der Ökumene und Konfessionskunde. Hgg. von Wolfgang Thönissen. Freiburg i. Br. 2007. konzentriert auf die heutigen Kirchen; aus katholischer Sicht Lexikon für Theologie und Kirche. 11 Bde. Hgg. von Walter Kasper. Freiburg i. Br. u.a. (3. völlig neu bearb. Aufl.) 1993-2001. in der Regel kurz gehaltene Einträge zu Personen, Institutionen, Orten, Sachverhalten; katholische Herausgeberschaft; gängiges Kürzel: LThK Mönchtum, Orden, Klöster. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ein Lexikon. Hgg. von Georg Schwaiger. München 1993. Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Hgg. von Hans Dieter Betz u.a. 8 Bde. Tübingen (4. völlig neu bearb. Aufl.) 1998-2007. in der Regel kurz gehaltene Einträge zu Personen, Institutionen, Orten, Sachverhalten; ein Registerband; evangelische Herausgeberschaft; gängiges Kürzel: RGG Theologische Realenzyklopädie. Hgg. von Gerhard Müller. 36 Bde. Berlin – New York 1977-2007. weniger Einträge als in RGG und LThK, stattdessen längere Artikel, ausführliche Literaturhinweise; zwei Registerbände und ein Band mit den benutzten Abkürzungen sind hilfreich; evangelische Herausgeberschaft; gängiges Kürzel: TRE Ilona Riedel-Spangenberger: Grundbegriffe des Kirchenrechts. Paderborn u.a. 1992.

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Literaturhinweise | 9

Andreas Rössler: Kleine Kirchenkunde. Ein Wegweiser durch die christlichen Konfessionen und Sondergemeinschaften. Stuttgart (2. Aufl.) 1999. konzentriert auf das Christentum der Gegenwart; aus evangelischer Sicht B. Atlanten zur Kirchengeschichte. Atlas zur Kirche in Geschichte und Gegenwart. Heiliges Römisches Reich – Deutschsprachige Länder. Hgg. von Erwin Gatz. Regensburg 2009. Atlas zur Kirchengeschichte. Die christlichen Kirchen in Geschichte und Gegenwart. Hgg. von Hubert Jedin, Kenneth Scott Latourette, Jochen Martin. Freiburg – Basel – Wien 1970. C. Daten. Roland Fröhlich: Kleine Geschichte der Kirche in Daten. Freiburg 2004. Manfred Heim: Kirchengeschichte in Daten. München 2006. D. Biographische Nachschlagewerke. Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon. Begründet und hgg. von Friedrich Wilhelm Bautz. 31 Bde. Hamm 1975-2010. am besten nutzbar in online-Fassung, die unter http://www.bautz.de/ abrufbar ist; die Einträge werden immer wieder um neuere Literatur ergänzt; gängiges Kürzel: BBKL Leben und Wirken der deutschen Bischöfe seit dem Hochmittelalter sind in insgesamt fünf Bänden gut zugänglich: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1198-1448. Ein biographisches Lexikon. Hgg. von Erwin Gatz. Berlin 2001. Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1448-1648. Ein biographisches Lexikon. Hgg. von Erwin Gatz. Berlin 1996. Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1648-1803. Ein biographisches Lexikon. Hgg. von Erwin Gatz. Berlin 1990. Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803-1945. Ein biographisches Lexikon. Hgg. von Erwin Gatz. Berlin 1983. Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1945-2001. Ein biographisches Lexikon. Hgg. von Erwin Gatz. Berlin 2002. Gestalten der Kirchengeschichte. 12 Bde. Hgg. von Martin Greschat. Stuttgart u.a. 1981-1986. die Bände folgen der Chronologie außer den beiden letzten, die dem Papsttum gewidmet sind; ausgewählte wichtige Personen werden hier ausführlicher vorgestellt als es in den anderen biographischen Nachschlagewerken möglich ist John N. D. Kelly: Reclams Lexikon der Päpste. Stuttgart (2. aktualis. Aufl.) 2005. Ludwig Koch: Jesuiten-Lexikon. Die Gesellschaft Jesu einst und jetzt. Paderborn 1934, ND Löwen-Heverlee 1962.

9 | Literaturhinweise

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enthält außer biographischen Artikeln auch zahlreiche andere Einträge zur Wirksamkeit des Ordens E. Kirchenbau, christliche Ikonographie und Kunst. Margarete Luise Goecke-Seischab – Jörg Ohlemacher: Kirchen erkunden – Kirchen erschließen. Ein Handbuch mit über 300 Sachzeichnungen und Übersichtstafeln sowie einer Einführung in die Kirchenpädagogik. Lahr – Kevelaer (2. Aufl.) 2002. gut verständliche Einführung in die Kirche als gestalteter Raum unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung Gerd Heinz-Mohr: Lexikon der Symbole. Bilder und Zeichen der christlichen Kunst. München (11. Aufl.) 1992. Lexikon der christlichen Ikonographie. Hgg. von Engelbert Kirschbaum SJ. 8 Bde. Rom u.a. 1968-1976, Sonderausgabe 1994. materialreiches Standardwerk, gängiges Kürzel: LCI Sabine Poeschel: Handbuch der Ikonographie. Sakrale und profane Themen der bildenden Kunst. Darmstadt (3. überarb. Aufl.) 2009. Jutta Seibert: Lexikon christlicher Kunst. Themen, Gestalten, Symbole. Freiburg i. Br. 2002. handlich, erarbeitet auf der Basis des LCI F. Gottesdienst und Liturgie. Joseph Braun: Liturgisches Handlexikon. Regensburg (2. verb. Aufl.) 1924. Karl-Heinrich Bieritz: Liturgik. Berlin – New York 2004. Reinhard Meßner: Einführung in die Liturgiewissenschaft. Paderborn u.a. 2001. G. Das Kirchenjahr. Karl-Heinrich Bieritz: Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart. München (3. Aufl.) 1991. Jakob Torsy †: Der große Namenstagskalender. 3720 Namen und 1596 Lebensbeschreibungen der Heiligen und Namenspatrone. Hgg. von Hans-Joachim Kracht. Freiburg (aktualis. u. erw. Neuausg.) 1997. H. Bibel, Bibelkunde, Konkordanzen. Biblia / das ist / die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Mart. Luth. Wittemberg. [...] Gedruckt durch Hans Lufft. 1534. ND Köln u.a. 2002. Nachdruck der ersten vollständigen Bibelübersetzung Luthers von 1534 Calwer Bibellexikon. 2 Bde. Hgg. von Otto Betz, Beate Ego, Werner Grimm. Stuttgart 2003. zum Nachschlagen biblischer Personen, Orte, Begriffe

304

Literaturhinweise | 9

Peter Calvocoressi: Who’s who in der Bibel. München (12. Aufl.) 2003. Nachschlagewerk zu den in der Bibel vorkommenden Personen The Oxford Companion to the Bible. Ed. by Bruce M. Metzger and Michael D. Coogan. New York – Oxford 1993. Heinz Meyer – Rudolf Suntrup: Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen. München 1987. informiert ausführlich über die in der Bibel vorkommenden Zahlen und ihre Deutung Claus Westermann – Ferdinand Ahuis: Calwer Bibelkunde. Altes Testament. Apokryphen. Neues Testament. Stuttgart 2001. informiert gut lesbar über den Aufbau der Bibel und die Binnengliederung und wichtigsten Inhalte der einzelnen biblischen Bücher Die für die Suche nach bzw. Identifikation von Bibelstellen notwendigen Konkordanzen gibt es zu den wichtigsten heute üblichen Bibelübersetzungen, z.B. Franz Joseph Schierse: Neue Konkordanz zur Einheitsübersetzung der Bibel. Darmstadt 1996. Große Konkordanz zur Lutherbibel. Stuttgart (2. neu bearb. Aufl.) 1989. aber auch zur Vulgata, auf die in den mittelalterlichen und vielen frühneuzeitlichen Quellen Bezug genommen wird, so Peultier – Etienne – Gantois: Concordantiarum universae scripturae sacrae thesaurus. Paris (2. Aufl.) 1939. I. Gesamtdarstellungen der Christentums-, Kirchen- und Dogmengeschichte. Hier wurden auch einige Titel aufgenommen, die einen wichtigen Aspekt über die gesamte Christentumsgeschichte hinweg als Leitlinie haben. Arnold Angenendt: Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert. Münster (3. durchges. Aufl.) 2007. The Cambridge History of Christianity. 9 Bde. 2006 – 2009. Die Geschichte des Christentums. Hgg. von Norbert Brox u.a. 13 Bde. Freiburg i. Br. – Basel – Wien 1991-2004. bearbeitete deutsche Fassung eines entsprechenden französischen Werkes; ausführliche und lesbare Darstellung; im zusätzlichen Registerband werden u.a. bibliographische Hilfsmittel genannt Wolf-Dieter Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte. Bd. 1: Alte Kirche und Mittelalter. Bd. 2: Reformation und Neuzeit. Gütersloh 1995-1999. Hubert Jedin: Kleine Konziliengeschichte. Die zwanzig ökumenischen Konzilien im Rahmen der Kirchengeschichte. Freiburg i. Br. (3. Aufl.) 1961. Bernhard Lohse: Epochen der Dogmengeschichte. Münster – Hamburg (8. Aufl.) 1994. knapp gehalten, aber die Denkhintergründe für die Ausformulierung der Dogmen in der Frühen Kirche werden in dieser älteren Darstellung gut verständlich

9 | Literaturhinweise

305

Bernd Moeller: Geschichte des Christentums in Grundzügen. Göttingen (9. überarb. Aufl.) 2008. handliche, gut lesbare Gesamtdarstellung Bernhard Schimmelpfennig: Das Papsttum. Von der Antike bis zur Gegenwart. Darmstadt (6. bibliogr. aktualis. Aufl.) 2009. Ein Hinweis zur Terminologie: Auf katholischer Seite wird das theologische Teilfach, das sich mit den Dogmen und ihrer Geschichte befaßt, meist als Dogmatik bezeichnet, auf evangelischer Seite meist als Systematische Theologie. Dieser terminologische Unterschied schlägt sich z.T. auch in den entsprechenden Überblickswerken nieder. J. Darstellungen einzelner Epochen. Die theologischen und institutionellen Aspekte der Christentumsgeschichte werden in kirchengeschichtlichen und allgemeingeschichtlichen Handbüchern relativ ausführlich berücksichtigt. Auch zu klassischen Themen auf der Schnittstelle von Religion und Politik, wie z.B. zum Verhältnis von Kaisertum und Papsttum im Mittelalter, gibt es genügend Literatur. Weniger erforscht und folglich weniger berücksichtigt ist bislang die Geschichte der christlichen Frömmigkeit in ihrer sozialen, kulturellen und politischen Dimension; auf diesem Aspekt liegt das Augenmerk bei der folgenden Auswahl. Frühe Kirche. Karl Suso Frank: Lehrbuch der Geschichte der Alten Kirche. Paderborn u.a. (3. Aufl.) 2002. gut gegliedert, ermöglicht gezielte Lektüre zu einzelnen Themen bis ca. 600 n. Chr.; Kirchenorganisation, christliche Kunst, politik- und sozialgeschichtliche Aspekte werden ebenso angesprochen wie i.e.S. theologische Fragen Mittelalter. Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997. sehr kenntnis- und umfangreiche Darstellung, gut lesbar Arnold Angenendt: Grundformen der Frömmigkeit im Mittelalter. München 2003. knapp gehaltene Darstellung Arnold Angenendt: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart. Hamburg (Lizenzausg. 2. überarb. Aufl.) 2007. Lutz E. von Padberg: Die Christianisierung Europas im Mittelalter. Stuttgart 1998. mit ausgewählten Quellenauszügen Frühe Neuzeit. Robert Bireley: The refashioning of Catholicism, 1450-1700. A reassessment of the counter reformation. Houndsmill – Basingstoke – London 1999.

306

Literaturhinweise | 9

Kaspar von Greyerz: Religion und Kultur. Europa 1500-1800. Darmstadt 2000. Peter Hersche: Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter. Zwei Teilbände. Freiburg – Basel – Wien 2006. umfassende, äußerst kenntnisreiche und gut lesbare, kultur- und sozialgeschichtliche Darstellung des katholischen Europas der frühen Neuzeit Hartmut Lehmann: Das Zeitalter des Absolutismus. Gottesgnadentum und Kriegsnot. Stuttgart u.a. 1980. Michael Maurer: Kirche, Staat und Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert. München 1999. Gottfried Seebaß: Geschichte des Christentums III. Spätmittelalter – Reformation – Konfessionalisierung. Stuttgart 2006. Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500-1650. Hgg. von Anton Schindling und Walter Ziegler. 7 Bde. Münster 1989-1997. die konfessionspolitische Entwicklung aller größeren und mittelgroßen Territorien des Reiches im fraglichen Zeitraum wird hier vorgestellt Moderne (ca. 1750-1914). Die Bistümer der deutschsprachigen Länder von der Säkularisation bis zur Gegenwart. Hgg. von Erwin Gatz. Freiburg – Basel – Wien 2005. jedes katholische Bistum wird hier systematisch auf Aktivitäten, institutionelle Gestalt und den Wandel der Verhältnisse hin dargestellt; viele Zahlenangaben Martin Friedrich: Kirche im gesellschaftlichen Umbruch. Das 19. Jahrhundert. Göttingen 2006. Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Die katholische Kirche. 8 Bde. Hgg. von Erwin Gatz. Freiburg i. Br. 1991-2008. in den einzelnen Bänden wird jeweils ein Bereich in einer Reihe von Artikeln vorgestellt, z.B. „Caritas und soziale Dienste“ in Bd. 5; dabei kommen die einzelnen Regionen sowie der Wandel in den letzten beiden Jahrhunderten ausdrücklich in den Blick Leif Grane: Die Kirche im 19. Jahrhundert. Europäische Perspektiven. Göttingen 1987. Lucian Hölscher: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland. München 2005. basiert u.a. auf dem Datenatlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg. Hgg. von Lucian Hölscher. 4 Bde. Berlin 2001, einer Sammlung systematisch erhobener Daten zur religiösen Praxis Heinz Hürten: Kurze Geschichte des deutschen Katholizismus, 1800-1960. Mainz 1986.

Verzeichnis der Abkürzungen Die Abkürzungen der biblischen Bücher sind in Kap. 2.1.4. (S. 78-80) aufgeführt. AT C.A. CIC Cl

= = = =

Hl., hl. = NT = SJ = WA

=

Altes Testament. Confessio Augustana. Corpus Iuris Canonici bzw. Codex Iuris Canonici Luthers Werke in Auswahl. 8 Bde. Hgg. von Otto Clemen. (6. durchges. Aufl.) Berlin 1966 (Clemen’sche Ausgabe). Heilige(r), heilig. Neues Testament. Societas Jesu; als Namenszusatz die Zugehörigkeit der Person zum Jesuitenorden bezeichnend. Martin Luther. Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar 1883ff. (Weimarer Ausgabe).

Abbildungsnachweis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6:

Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13:

Abb. 14:

Lexikon der christlichen Ikonographie. Hgg. von Engelbert Kirschbaum SJ. Bd. 1. Rom u.a. 1968, Sonderausgabe 1994, S. 380, Abb. 12.. Hartmann Schedel: Weltchronik. Kolorierte Gesamtausgabe von 1493. Eingel. u. kommentiert von Stephan Füssel. Augsburg 2001, Blatt 262. Gerd Heinz-Mohr: Lexikon der Symbole. Bilder und Zeichen der christlichen Kunst. München (11. Aufl.) 1992, S. 280. Gabriela Signori: Räume, Gesten, Andachtsformen. Geschlecht, Konflikt und religiöse Kultur im europäischen Mittelalter. Ostfildern 2005, S. 43. ebd., S. 69. Margarete Luise Goecke-Seischab – Jörg Ohlemacher: Kirchen erkunden – Kirchen erschließen. Ein Handbuch mit über 300 Sachzeichnungen und Übersichtstafeln sowie einer Einführung in die Kirchenpädagogik. Lahr – Kevelaer (2. Aufl.) 2002, S. 19. ebd., S. 74 ebd., S. 82. ebd., S. 31. ebd., S. 39. Die Biblia pauperum. Deutsche Ausgabe von 1471. [Hgg. von Rudolf Ehwald.] Weimar 1906 [nicht paginiert]. Harry Oelke: Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter. Berlin u.a. 1992, Abb. 51. Susanne Blöcker: Studien zur Ikonographie der Sieben Todsünden in der niederländischen und deutschen Malerei und Graphik von 1450 – 1560. Münster – Hamburg 1993, Abb. 13 (vgl. S. 306f.). Werner Freitag: Fromme Deutungen der Heilsgeschichte. Wallfahrtsbilder in Mittelalter und Früher Neuzeit. In: Pilger- und Wallfahrtsstätten in Mittelalter und Neuzeit. Hgg. von Michael Matheus. Stuttgart 1999, S. 53-76, hier S. 73.

Register Das Register dient dazu, gezielt Begriffe und Sachverhalte nachzuschlagen, die in diesem Studienbuch eingeführt und erläutert werden. Aus diesem Grund sind nicht zu jedem Begriff sämtliche Erwähnungen im Text notiert; es werden meist nur diejenigen Seiten angegeben, auf denen sich die jeweils wichtigste Erläuterung findet (diese Seiten sind fett gedruckt) sowie weitere Seiten, auf denen ergänzende Informationen nachgelesen werden können. Verweise auf andere Einträge sind notiert. Orte und Personen, die dem Grundwissen über Kirche in der Geschichte zugerechnet werden können (z.B. Jerusalem; Ignatius von Loyola), wurden in das Register aufgenommen. Nicht aufgenommen wurden solche Orte und Personen, die nur im Zusammenhang mit Beispielen erscheinen oder solche, die im hier behandelten Kontext zwar eine Rolle spielen (z.B. Heinrich VIII. von England), über die man sich aber an anderer Stelle gut informieren kann.

Abba 19. abbatia 172. Abel 73. 88. 105. Abendmahl s. Herrenmahl Abendmahl unter beiderlei Gestalt 50. 147. 202f. (s. auch Laienkelch) Ablaß 195. 259-261. 268. Abraham 73. 88. 295. Abraham a Sancta Clara 94. 112-114. Absolution (Vergebung der Sünden) 45. 136. 247. 256. Abt 172. 175f. 179. Abtei 172. Adalbero von Laon 287. Adam 73. 87. 105. 255. Advent, Adventszeit 227f. Äbtissin 172. Ältester 125. 129. aggiornamento 162f. Agnus Dei 68f. agro-liturgisches Jahr 231. 237. Akolyth 126. Akzidentien 142. Albigenser, Albigenserkreuzzug 192. (s. auch Katharer) Allerchristlichster König (roi très-chrétien) 288. Allerheiligen 228. 231. Allerseelen 228. 231. Allerseelenwecken 142. Almosen 166. 253. 256. 260. 274f. 277-279. Alois (Hl.) 241. Altar 52-54. 56-59. 61. 64. 67. 250. Altarsakrament s. Herrenmahl

Altkatholische Kirche, Altkatholiken 217. Altlutherische Kirche, Altlutheraner 217. 238. Alter Bund s. Bund Altes Testament 20. 71-74. Ambrosius von Mailand 93. 286. Amen 67. Amos (Gestalt und Buch des AT) 79. 263. Anachoret 171. 172. Andachtsbuch, -literatur 26. 96. 97. 103. Andreas (Apostel, Feiertag) 228. angelophore Namen (Engelnamen) 243. Anglikaner, Anglikanische Kirche 133. 139. 198. 204-206. 233f. 252f. 298. Anna (Hl.) 241. Annaten 157. Anno Domini 296. Anselm von Laon 106. Antichrist (Endchrist) 144. 297f. Antitypus 85. Antonius (Hl.) 98f. Apokalypse des Johannes 75. 80f. 296-298. Apokryphen, apokryphe Schriften (Spätschriften) des AT 72. 74. 78. 82. Apostel 14. 16. 22. 53. 75. 125. 266. Apostelgeschichte 75. 79. Aposteltage 202. 227f. 231. 233. 236. Apostolicum 14f. 19f. 23. Apostolische Kammer 155. Apostolische Kanzlei 155. Apostolisches Glaubensbekenntnis s. Apostolicum Apsis 54-58. Aramäisch 76.

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Register

Arbeit 177f. Arche 88. Archidiakon, Archidiakonat 128f. 137. Archipresbyter 128. Arianer, Arius 18. 21. 111. Arme, Armenfürsorge, Armenspeisung, Armenversorgung 141. 174. 177. 274f. 278f. (s. auch Gemeiner Kasten) Arminianer 205. Armut 175. 177. 179-181. 183f. 191. 284. Armutsbewegung (des 12./13. Jh.s.) 178180. 276. Arndt, Johann 97. 101. ars moriendi 247f. 253. ars praedicandi 107. Aschermittwoch 228f. Askese 171f. 177. 181f. 185. 230. Asketischer Protestantismus s. Weber, Max associations culturelles 145. Athanasius von Alexandria 98. Auferstehung, Auferweckung Christi 13-17. 44. 70. 83. 87f. 296. Aufgebot 245. Augenkommunion 49. 66. Augsburger Bekenntnis s. Confessio Augustana Augsburger Religionsfriede 132. Augustiner-Chorherren 178. Augustinus (Hl.) 15. 70. 93. 101. 210. 285. Aurora 82. Auserwähltes Volk 92. (s. auch Bund; Israel) Auszug aus Ägypten s. Exodus Ave Maria 24. 33f. Avignon (als Papstresidenz) 153. 157. 189. Babel, Babylon 88. 298. Babylonische Gefangenschaft der Kirche 153. Babylonisches Exil (Gefangenschaft) 36. 72. 153. Baptisten 218. (s. auch Täufer) Barbara (Hl.) 227. 241. Barfüßer(mönche) 172. Barmherzige Brüder 184. Barmherzige Schwestern 184. 281. Barock (als Kirchenbauepoche) 60. 64. Bartholomäus (Apostel, Feiertag) 228. 232. Bartholomäusgarben 142. Baruch (Buch der Apokryphen des AT) 79. Basilika 54-56. Bathseba 88. Bauern-Vaterunser 34.

Bayly, Lewis 101. Beerdigung 134. 142. 249-252. Begarden 184. Beginen 184. 276. Beichte 35. 134. 136. 142. 167. 247. 256-258. Beichtgeheimnis 256. Beichthandbuch (Bußsumme) 256. Beichtpfennig 256. Beichtspiegel 256. Beichtstuhl 262. Beichtvater 119. 257. Beichtzettel 262. Bekreuzigung 69. 247. Benedikt von Nursia 173. Benediktiner, benediktinisches Mönchtum 173-178. 184. Benediktsregel s. regula Benedicti Beneficium 141. Bergpredigt 88. 191. 207. Bernhard von Clairvaux 177. Berthold von Regensburg 107. Beschneidung Christi (Feiertag) 226. Bethlehem 67. Bettelmönche, Bettelorden (Mendikanten) 107f. 134. 178-181. 192. 256f. 278. Beza, Theodor (Théodore de Bèze) 292. Bibel 71-81. 96f. 164. Bibelauslegung 83-86. 93-95. Bibeldichtung 82. Bibelübersetzung 76-78. Biblia pauperum 83-86. Biblia versificata s. Aurora Bienenzins 142. Bilderbibel 83-86. Bildersturm 63f. Bilderverbot 37. 63. Bilderverehrung 62f. 202. Bischof 46. 125. 127-129. 133. 138. 146-148. 161. 167. 177. 190. 199. 205f. 257. Bischofswahl 127. 130-133. Bischofsweihe 127f. Bistum 127-129. 137. Bittwoche (Kreuzwoche) 228. 230. 234. 271. Böhmische Brüder (Brüderunität) 194. Book of Common Prayer 205. Brotbrechen 51. Bruder (Angehöriger einer Geistlichen Gemeinschaft) 172. Bruderschaft s. Laienbruderschaft Brüder vom Gemeinsamen Leben (Fraterherren) 184. Bucer, Martin 205.

Register

Buch des Lebens 17. Bund (Gottes mit den Menschen), Bundesgedanke 40f. 47. 71. 73. 295. Bund Freier Evangelischer Gemeinden 218. Bunyan, John 102. Buße, Bußstrafe 43. 136. 166f. 179. 193. 230. 255-257. 264f. (s. auch Ablaß) Bußsumme s. Beichthandbuch Bußtag, Buß- und Bettag 234f. 265. Bußprozession 272. Bußwallfahrt 268. Cäsaropapismus 286. Calvin, Johannes 43. 49. 63. 101. 111. 198. 203. 205. 225. 263. Calvinisten, Calvinismus (Reformierte) 40. 51. 198. 200-204. 233f. Campanile (Glockenturm) 55. Canisius, Petrus 42f. Canisius’ Kleiner Katechismus 24. 42. 44f. Caritas 274. (s. auch Nächstenliebe) castra doloris s. Trauergerüste Catechismus Romanus 200. Cathedra 127. Cathedra Petri (Hl. Stuhl) 149. catholicae ecclesiae episcopus 148. causa ecclesiastica 168. cella 172. Chiliasmus (Millenarismus) 298. Chor, Chorraum 53-56. 58. 61. 126. Chorgebet s. Stundengebet Chorherr s. Stiftsherr Chrisam 46. 247. Christenlehre 25. Christi Himmelfahrt 15. 21. 88. 226-228. christianophore Namen 243. Christliche Haustafel 29-31. (s. auch DreiStände-Lehre) Christliche Zeitrechnung 296. Christlicher Verein Junger Männer (CVJM) 219f. Christus 13. (s. auch Jesus Christus) Christusfest 226f. Chronik(-Bücher des AT) 78. Ciborium 247. Cîteaux 177. civitas Dei 285. 297. civitas terrena 285. 297. clausula Petri 285. 291. Cluniazensische Reform, Cluny 177. Codex Iuris Canonici 165. Collegium Germanicum 159.

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Collegium pietatis 211. Confessio Augustana (Augsburger Bekenntnis) 164. 198. 235. Confessio Belgica 198. Confession de Foy (Confessio Gallicana) 198. Congregatio Concilii 155. Congregatio Indicis 155. Congregatio Inquisitionis 155. 240. Congregatio de propaganda fide 155. conversos 193. Corpus Iuris Canonici 165. 168. Credo 14-16. 18. 20. 23-26. 33. 43. 67. 69. 136. 238. 249. Crespin, Jean 100. cuius regio, eius religio 132. cura religionis 291. Dämon 16. 44. Damenstift 181. (s. auch Stiftsdame) Daniel (Gestalt und Buch des AT) 71. 79. 88f. 296. Darstellung des Herrn s. Lichtmeß Datarie 143f. 155. David 73f. 85. 88-92. 116f. 288. Dechant s. Dekan Decretum Gratiani 165. De imitatione Christi 99f. Dekalog s. Zehn Gebote Dekan (Dechant) 128f. Dekanat 129. Dekretale 134f. 165. Delila 88. Deuteronomium 35. 78. Deutscher Orden 171. 276. devotio moderna 99f. 184. 195. Diakon 69. 125f. 274f. Diakonie 280. Diakonisse (Frühe Kirche) 275. Diakonisse (Neuzeit) 280. Dictatus Papae 153. Diözesansynode 146f. 199. (s. auch Send, Synode) Diözese s. Bistum Dispens 136. 166. Dissenter 206. 208f. 213f. 217f. Dogma 20f. Dogma der zwei Naturen Christi 21. Dogma der Wesenseinheit Christi mit dem Vater 21. Doktor beider Rechte 162. Dominikaner 107. 179. 184. 192.

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Register

Dominikus von Caleruega 179. Dominus vobiscum 67. 69. Dom, Domkirche 52. 57. 130. (s. auch Kathedrale) Domherr (Domkapitular, Domkanoniker) 131. 178. Domkapitel 130f. 132f. 178. Domkapitular s. Domherr Domschule 137. domus Dei 54. 130. Doppelgebot der Liebe 90. Dos, Dotalgut 141. Dreieck (als Symbol der Trinität) 23. Dreieinigkeit, Dreifaltigkeit s. Trinität Dreiflügelaltar 58f. Dreikönigsfest, -tag (Epiphaniasfest) 86. 226f. 229. Drei-Stände-Lehre 287. Dritte Orden (Tertiarier, Terziaren) 184. Drittes Gebot 37-40. (s. auch Sonntagsheiligung) Dualismus 20. 191. ecclesia 54. 287. ecclesiasticus 134. Eden, Garten Eden s. Paradies Ehe, Eherecht, Eheschließung 26. 164. 166. 176. 244-246. 293. (s. auch Zivilehe) Ehebruch 166f. Eid 37. 168. 191. 207. 209. Eigenkirche(nwesen) 138f. 141f. Einheitsübersetzung (der Bibel) 78. Einsetzungsworte 39. 49. Elevation 49. Elisabeth von Thüringen (Hl., Feiertag) 228. 276. Elisabeth-Verein 281. Emblematische Auslegung 94. Endchrist s. Antichrist Endzeit 101. 103. 297. (s. auch Eschatologie) Engelnamen s. angelophore Namen Epheser(brief des NT) 79. Epiphanias(fest) s. Dreikönigsfest episcopus Romanus 148. Erbauungsliteratur 96. 258. Erbsünde s. Ursünde Eremit 171. 172. Erlöser 15. Erntedankfest 231. Erschaffung der Welt s. Schöpfung Erstes Gebot 36f.

Erstes Vatikanisches Konzil (Erstes Vatikanum) 162f. 217. Erstkommunion (Erster Kommunionempfang) 243f. Erwachsenentaufe 44f. (s. auch Täufer) Erweckungsbewegung 218. (s. auch First Great Awakening, Second Great Awakening) Erzbischof 127. 129. Erzbistum, Erzdiözese 127. Erzväter 73. 92. Eschatologie 103. 207. 296-298. Esra (Buch und Gestalt des AT) 78. Ester (Buch und Gestalt des AT) 88f. Eucharistie(feier) s. Herrenmahl Eva 73. 87. 255. Evangeliar 69. evangelisch (im konfessionellen Sinne) 198f. Evangelische Räte 175. Evangelium 75. 198f. Ewiges Leben 45. excommunicatio maior 167. excommunicatio minor 167. Exegese 93. 95. Exemplum (Beispielgeschichte) 24. 28f. 112. Exerzitien 96. 102. 182. Exkommunikation s. Kirchenbann Exodus (Auszug aus Ägypten) 35. 41. 73. 78. 88f. Exorzismus 43f. 237f. Exorzist 126. Expektanz 144. Ezechiel (Gestalt und Buch des AT) 71. 79. 120. 296. fabrica ecclesiae s. Kirchenfabrik Fasten, Fastentage, Fastenzeit 67. 107. 166. 172. 202. 228-230. 245. 256. Fastenpredigten 256. Fastspeisgeld 142. fatum 19. Feg(e)feuer 259-261. Feiertag 38f. 203f. 226-237. Feiertagsreduktion (-verminderung) 232237. Fest der Unschuldigen Kinder 227. 232. Fifth Monarchy Men (Quintomonarchisten) 299. Filialkirche 129. 135. Firmung 43. 46. 128.

Register

First Great Awakening 206. Flamme (als Symbol des hl. Geistes) 22. Fliedner, Friederike und Theodor 280. Flurprozession 271. Foxe, John 100. Francke, August Hermann 109. 212. Franz(iskus) von Assisi 179. Franz von Sales 102. Franziskaner 107. 179f. 184. Frater 172. Fraterherren s. Brüder vom Gemeinsamen Leben fraternitas s. Laienbruderschaft Freikirche 45. 105. 216-219. Friedhof s. Kirchhof Frömmigkeitsliteratur 96-103. Fronleichnam(sfest) 49. 86. 226. 228. 272. Fronleichnamsprozession 272f. Frühe Kirche 16. 44. Fünftes Gebot 25. Fünftes Laterankonzil 162. Fünfundneunzig Thesen 261. Fürbitte 67. 191. 223. Fürbitte für den Herrscher 289. Fürsprache (der Heiligen), Fürsprecher s. interzessorische Funktion Fußwaschung 230. Gabriel 33. Galater(brief des NT) 79. von Galen, Clemens August 122. Gallikanismus 132. Gastmeister 175. Gebet des Herrn s. Vaterunser Gebetbuch 96. 97. 101-103. Gebot s. Erstes Gebot, Fünftes Gebot, Viertes Gebot, Zehn Gebote, Zweites Gebot. Geburt Christi 87f. 227f. 296. Gedenktage der Reformation 235. Gegenpapst 152. 189. Gehorsam 175. 182. 284f. 289. 291. (s. auch Widerstand) Geiler von Kaysersberg, Johann 107. 255. Geistliche Gerichtsbarkeit s. Kirchenrecht Geistliche Ritterorden 171. Geistliche Spiele 86. Gelasius I. (Papst) 153. 286. Gelobtes (= versprochenes) Land 35. 73. Gelöbnis, Gelübde 268. 272. (s. auch Votivmesse, Votivtafel) Gemeiner Kasten 142. 278.

313

Generalat 159. Generalkapitel 180. Generalkonzil s. Konzil Generaloberer 180. Generalsuperintendent 133. Generalvikar 128. 257. Genesis 20. 73. 78. 81. Genfer Bibel 77. Georg (Hl., Feiertag) 228. 234. 241. Germania Sacra 131. Gesangbuch 96f. Geschicht(sbild) s. Heilsgeschichte Gesellschaft Jesu (Societas Jesu, Jesuiten) 86. 95f. 108. 182f. 184. 210f. 261f. Gesinde 25. 30f. 38. Gesprenge 59. Gewissensfreiheit 216. Gideon 88f. Glaubensbekenntnis s. Credo, s. auch Apostolicum Glaubensspaltung s. Konfessionsspaltung Glocke, Glockenläuten 56f. 247. 249f. 253. (s. auch Wetterläuten) Gloria in excelsis 67. 69. Glossa ordinaria 106. Gnade, Gnadenlehre 42f. 195f. 200. 203. 210. (s. auch sola gratia) Gnadenbild 267. Gnadenschatz der Kirche 260. Gnadenwahl s. Prädestination Goldenes Kalb 88. Goliath 88. 90. Gotik, gotisch 53. 58. 60f. Gott als Vater 13. 17. 19. 22. 32. Gottesdienst 33. 39. 47. 54. 57. 64-70. 173. (s. auch Messe) Gottesgnadentum 288. Gotteslästerung 166f. Gottesmutter s. Mutter Gottes Gottessohn s. Sohn Gottes Gottesurteil 190. 193. Gottesvolk 40. Graubrüder (Franziskaner) 180. Great Awakening s. First Great Awakening Gregor d. Gr. 63. 93. 149. 173. Gregorianischer Gesang 173. 184. Gregorianischer Kalender 203f. Großer Zehnt (Feldzehnt) 141. Großes Abendländisches Schisma 131f. 160-162. 189f. Großes Morgenländisches Schisma 188f. Gründonnerstag 228. 230. 257.

314

Register

Grünewald, Matthias 18 Guardian 179. Guter Hirte 16f. 19. Habakuk (Gestalt und Buch des AT) 79. Habit 172. Habsucht 258. Häresie (Ketzerei) 155. 179. 190-194. 288. 291. Hagelfeier 234. Haggai (Gestalt und Buch des AT) 79. Hagiographie 98. 223. Halleluja 67. Hausarme 278f. Haustafel s. Christliche Haustafel Hebräer(brief des NT) 80. Hebräisch 76. Heidelberger Katechismus 24. 30. Heil (Seelenheil, Seligkeit) 16. 43. 45. 48. 51. 184f. 195f. 200. 213. 247. 277-279. Heilige, Heiliger 62. 82. 98f. 223-226. (s. auch Heiligenverehrung) Heilige Drei Könige 88. 226f. 229. Heilige Familie 90. Heilige Stadt (Jerusalem) 268. Heiligenfest (Heiligentag) 227. (s. auch Feiertag) Heiligenmeister 61. Heiligentag s. Heiligenfest Heiliger Abend (Heiligabend) 229. Heiliger Geist 15. 20-23. 43. 46. 57. 174. 187. 208. 231. Heilige Schrift 71. 76. Heiligenverehrung 202. 224-226. 240-243. 266f. Heiliger Stuhl (cathedra Petri) 133. 149. 154. (s. auch Kurie) Heiliger Vater 148. Heiliges Jahr (Jubeljahr) 160. 260. Heiliges Land 81. Heiliggeistbrüder 276. Heilig-Geist-Spital 276. Heiligsprechung s. Kanonisierung Heiligung der Sonn- und Feiertage s. Sonntagsheiligung Heilsgeschichte 295-297. Heiltum s. Reliquie Herrenmahl 26. 39f. 43. 46-51. 54. 61. 66. 136. 202f. 230. 243f. 247. 256. 263f. Herrnhuter Brüdergemeine (Evangelische Brüderunität) 212. Herrscherpflichten, -tugenden 288. 291.

Hesekiel s. Ezechiel heterodox 190. Hieronymus (Hl.) 76. 93. High Church 205. Hilfsgeistlicher 141. 144. 171. 247. Himmelfahrt s. Christi Himmelfahrt Himmelskönigin 267. Himmelsleiter 88. Himmlisches Jerusalem 298. Hiob s. Ijob Historia scholastica 83. Historienbibel 81f. Hochamt 65. Hochfest 86f. 142. 231-233. Hochmut 258f. Hochstift 131. Höhere Weihen s. Weihen Hölle (ewige Gottesferne, Verdammnis) 62. 213. 259f. Hofkapelle 130. Hofkaplan 119. Hofprediger 119f. Hoheslied (Salomos) (Buch des AT) 79. 89. Hosea (Gestalt und Buch des AT) 79. Hosianna 68. Hospital 252. 260. 275-277. 279. Hospitaliter 276. Hostie 39. 43. 47-49. 66. 148. 202f. 271. (s. auch Monstranz) Hôtel-Dieu 275. Hrabanus Maurus 93. Hugenotten 98. 100. 198. 264. 292. Hus, Johannes 193f. Hussiten 193f. 212. Ignatius von Loyola 95f. 102. 182. Ijob (Gestalt und Buch des AT) 78. 88. Immunität 168. Independente s. Dissenter Index 155. Infallibilität s. Unfehlbarkeit Infirmar 175. Inkorporation 138. Innerweltliche Askese 185. Inquisition(sprozess) 192f. (s. auch Römische Inquisition, Spanische Inquisition) Interdikt 153. 189. Interkalarfrüchte 158. Interzessorische Funktion (der Heiligen) 224f. Introitus 66. 69. Investiturstreit 130.

Register

Isaak 73. 88. Isenheimer Altar 18. Israel 13. 19. 35f. 41. 48. 90-92. 117. 295. (s. auch Gottesvolk, Judentum) Jacobus de Voragine 82. Jahr des Heils 296. Jahrtagsmesse 250f. 277. (s. auch Seelenmesse) Jahwe 13. 36. Jakob 73. 85. 88. 92. Jakobsweg 268. Jakobus d. Ä. (Apostel, Feiertag) 228. (s. auch Santiago de Compostela) Jakobus d. J. (Apostel, Feiertag) 228. Jakobus(brief des NT) 80. Jansen, Cornelius 210. Jansenismus, Jansenisten 209-211. 217. Jeremia(s) (Gestalt und Buch des AT) 79. Jericho 88. Jerusalem 52. 67. 72. 93. 268. (s. auch Himmlisches Jerusalem) Jesaja (Gestalt und Buch des AT) 79. 85. Jesuiten s. Gesellschaft Jesu Jesus Christus / Jesus von Nazaret 13. 19. 75. 85. 283f. 296. Jesus Sirach (Buch des AT) 74. 79. 89. Jethro 92. Joel (Gestalt und Buch des AT) 79. Johannes (Apostel, Evangelist, Feiertag) 86. 227. 232. Johannes-Apokalyse s. Apokalypse des Johannes Johannes(briefe des NT) 80. Johannes-Evangelium 79. Johannes d. Täufer (Gestalt des NT) 22. 88. Johannes von Capestrano 256. Johannistag (Festtag Johannes d. Täufers) 228. 231. 233. Johanniter 171. 276. Jona(s) (Gestalt und Buch des AT) 79. 8385. 88. Joseph (Gestalt des AT) 73. 85. 88. 92. Joseph (Vater Jesu) 88. 90. 241f. Josias 36. Josua (Gestalt und Buch des AT) 78. 81. 88. Jubeljahr s. Heiliges Jahr Judas Thaddäus (Apostel, Feiertag) 228. Judas(brief des NT) 80. Judentum 72. Judit(h) (Gestalt und Buch der Apokryphen des AT) 78. 88f.

315

Jüngstes Gericht (Weltgericht), Jüngster Tag 62. 87f. 274. 296-298. Kain 73. 88. 105. Kalenderstreit 202-204. Kanaan 35. 73. 88. 92. Kanon(bildung) 72. 74-76. Kanoniker s. Stiftsherr Kanonische Weihen s. Weihen Kanonisches Recht (Kirchenrecht) 162. 164169. Kanonisierung (Heiligsprechung) 224. 276. Kanonisse s. Stiftsdame Kantonalpfarrer 145. Kantor 175. Kanzel 61. Kapitelsaal 174. Kaplan 129. 143. Kapuziner 108. 182. 279. Kardinal, Kardinalskollegium 151f. 155f. Kardinalnepot 156. Kardinalskongregation 155. Karfreitag 15. 226. 228. Karneval (Fasching, Fastnacht) 229. Karolingische Kirchenreform 24. 33. Karwoche 230. 256. Kasualien s. Stolgebühren Katechese (Katechismusunterricht) 23f. 27. 30. 35. 83. 174. 215. 244. Katechismus 23-27. 28f. 42. 97. 200. Katechismuslieder 23. Katechismuspredigt 25. Katechumenat, Katechumene 23. Katharer 20. 191-193. Katharina von Alexandria (Hl., Feiertag) 228. 242. Kathedrale 57. 61. 130. (s. auch Dom) Katholiken, katholisch 148. 199-204. 213f. Kelch 39. 47-50. 202f. von Ketteler, Wilhelm Emmanuel 280. Ketzer, Ketzerei s. Häresie Keuschheit 175. Kindertaufe s. Säuglingstaufe Kinderzeichnen 239f. King James Version 77. Kirche 54. Kirche von England s. Anglikanische Kirche Kirchenbann (Exkommunikation) 165f. 167f. 188-192. 197. (s. auch Kirchenzucht) Kirchenbau / Kirchengebäude / Kirchenraum 52-64. 141. 146. 177. 202. Kirchenfabrik (fabrica ecclesiae) 61. 141.

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Register

Kirchenjahr(eszeit) 67. 69. 227-231. Kirchenkreis 129. Kirchenlehrer 93. Kirchenordnung 25f. 108f. 165. 232f. Kirchenpatron 139. 231. (s. auch Kirchweih) Kirchenpfleger 61. Kirchenprovinz s. Erzbistum Kirchenrecht s. Kanonisches Recht Kirchenreformbewegung des 11. Jahrhunderts 130. 138. Kirchenreformen des 15. Jahrhunderts 194f. Kirchenstaat s. patrimonium Petri Kirchensteuer 145f. Kirchenväter 93. 196. Kirchenzehnt s. Zehnt Kirchenzucht 166. 205. 215. 262-264. 266. Kirchfahrt 270. Kirchgeschworener 269. Kirchhof 246. 250f. Kirchmeister 61. Kirchtracht 142. Kirchweih(fest), Kirmes 231f. Kirchweihbrote 142. Kirmes s. Kirchweih Klagelieder Jeremias (Buch des AT) 79. Klandestine Ehe 244f. Klara von Assisi, Klariss(inn)en 180. Klassizismus 60. Klausner 171. Kleiner Zehnt 141. Kleriker, Klerus 125f. 127-129. Kloster (Konvent) 172. 176. Klosterschule 137. Könige(-Bücher des AT) 78. Kohelet (Buch des AT) 79. 89. Koinobit 172. Kollationsrecht, Kollator 138. Kolosser(brief des NT) 79. Kolping, Adolf 281. Kolping-Verein 281. Kommendatarabt 176. Kommunion(feier, Kommunionempfang) s. Herrenmahl Komplet 174. Konferenz Europäischer Kirchen 220. Konfessionalisierung 214f. Konfessionskirche 187. Konfessionsspaltung (Glaubensspaltung) 187. 194-204. 213-215. 222. 273. 298. Konfirmation 46. 97. 244. Konfirmation (päpstliche Bestätigung der Bischofswahl) 131f. 157.

Kongregationalisten 130. Konklave 152. Konkordanz 80. Konkordat 131-133. 157. Konkordat von Bologna 132. Konkordat 1801 (Frankreich) 145. Konkordat von Worms s. Wormser Konkordat Konsekration 48-50. 148. Konsensehe 245. Konsistorium 133. 140f. 263 Kontemplation 171f. 183. 185. Kontroverspredigt 110-112. Konvent 174. (s. auch Kloster) Konversionsschriften 100f. Konzil (Generalkonzil) 160-164. 165. 196f. Konzil von Basel-Ferrara-Florenz 161f. Konzil von Chalcedon 21. 161. Konzil von Konstantinopel 22. Konzil von Konstanz 50. 162. 189f. 194. Konzil von Nicaea 17. 21. 161. Konzil von Trient (Tridentinum) 43. 64. 74. 128. 137. 144. 147. 154f. 162. 176. 199f. 226. 233. 244. 261. 279. Konziliarismus, Konziliaristen 162f. Konstantin d. Gr., Konstantinische Wende 18. 44. 164. 285. Konventuale (Minoriten) 181. Konverse s. Laienbruder Korinther(briefe des NT) 79. Krankenpflege 174. 183f. (s. auch Hospital) Krankensalbung s. Letzte Ölung Kreuzigung Christi 15. 87f. 296. Kreuzwoche s. Bittwoche. Kreuzzug 268. Kreuzzugssteuern 158. Kriegsdienst, Waffendienst 191. 207f. Krummstab 127. Kruzifix 59. Krypta 57. Küster 25. 114. 141. 142. 247. Kulturkampf 154. 219. 271. 293-295. Kultusfreiheit 216. Kurie 133. 136. 155-159. 169. 180. 200. Kutte 172. Kyrie 66. 69. Läßliche Sünde 257f. 261. Läutbrot 142. Läutgarben 142. laïcité (Laizismus) 145. 294f. Laie 50f. 125. 211.

Register

Laienapostolat 127. Laienbruder (Konverse) 177f. Laienbruderschaft 183f. 248. 253f. 272. 276. Laienkelch 50f. 193f. Laizismus s. laïcité Lamm Gottes 68. Landesherrliches Kirchenregiment 132. 215. Landeskirche (Territorialkirche) 129. 132. 139. Landespatron 286. (s. auch Schutzpatron) Landesvater 34. 117. 288. Landkapitel 129. Langhaus 52-54. 56. 58. 61. 126. Lateinisch (als Kirchensprache, liturgische Sprache) 65. 82. 148. 163. Lateranpalast 159. Laudes 173f. Laxismus (Molinismus) 210. 262. Lazarus 274. Legat 154. Legenda Aurea 82. 89. 95. 99. Leib Christi s. Hostie Leichenpredigt 108f. 119f. 253. Lektor 126. Leprosorium (Leproserie) 275. 277. Lesemesse s. Privatmesse Lesung (im Gottesdienst) 65. 67. 82. Lettner 61. Letzte Ölung (Krankensalbung) 43. 136. 142. 247. 252. Leviticus 73. 78. libertas ecclesiae 130. Lichtmeß (Mariae Reinigung) 227. 229. 233. Literalsinn 95. Liturgie 64f. 66f. 125. 137. 205. 207. Lourdes 271. Ludolf von Sachsen 96. 101. Lukas-Evangelium 75. 79. Luther, Martin 43. 49. 51. 62. 68. 74. 77f. 95. 105. 111. 126. 144. 151. 159. 181. 195-198. 242. 269. 289. 291. 298. Lutheraner, lutherische Kirchen 198. 200204. Luthers Kleiner Katechismus 24. 25f. 29f. 44f. Manichäismus 20. Märtyrer (Martyrer) 53f. 98. 149. 159. 224. 266. Märtyrerberichte 98-100. 103. Mainzer Bibel 77.

317

Makkabäer (jüdische Dynastie; Bücher des AT) 78. 88f. Maleachi (Buch des AT) 79. Malteser 276. Maria, Marienfest, Marienverehrung 33f. 62. 82. 88f. 202f. 225-227. 239f. 242. 267. 269f. 286. (s. auch Mutter Gottes) Maria Magdalena 88f. Mariae Empfängnis s. Mariae Verkündigung Mariae Geburt 228. Mariae Himmelfahrt 228. Mariae Reinigung s. Lichtmeß Mariae Verkündigung 228. 233. Marianische Kongregationen 254. Markus (Evangelist, Feiertag) 228. 230. 286. Markus-Evangelium 75. 79. Martin von Cochem 102. Martin von Tours (Hl.) 242. 274. Martini, Martinstag (Feiertag) 228. 231. 242. mater dolorosa 267. Matthäus (Evangelist, Feiertag) 228. Matthäus-Evangelium 75. 79. Matthias (Apostel, Feiertag) 227. 232. Matutin 173. Meineid 37. Melanchthon, Philipp 198. Melatenhaus 275. Memoria (fürbittendes Totengedenken) 174. 224. 251-253. (s. auch Seelenmesse) Memorialbücher (Seelbücher) 252. Mendikanten s. Bettelmönche Mennoniten 208. menses papales 143f. mercenarius 143. Mesner s. Küster Messdiener (Ministranten) 69. 247. 272. Messe 64-70. 136. (s. auch Gottesdienst, Herrenmahl) Messias 13. 68. 149. Methodismus, Methodisten 206. 219. Metropolit s. Erzbischof Micha (Gestalt und Buch des AT) 79. Michaelistag (Feiertag) 228. 231. 233. Midianiter 88. Millenarismus (Chiliasmus) 298. ministre 108. Mirakelbücher 268. (s. auch Wunder) Missale Romanum 66. 69. 200. Mission 155. 182. 212. Mitra 127.

318

Register

Mönch, Mönchtum 171f. 176. 181. 184f. 287. (s. auch Benediktinisches Mönchtum) Molinismus s. Laxismus Monarchomachen 292. Monasterium 172. Monotheismus 19. 20. 36f. Monstranz 272f. Morgengebet 33. Morisken 193. Moses 35. 88. 92. Müntzer, Thomas 80. Mutter Gottes 225. (s. auch Maria) Mystik 101. 172. 185. Nächstenliebe 19. 23. 105. 177. 185. 196. 255. 274-281. Nahum (Gestalt und Buch des AT) 79. Nakatenus, Wilhelm 96. 101f. Namenstag 242. Narthex 54f. Nationalkonzil 161. Nebukadnezar 296. Nehemia (Gestalt und Buch des AT) 78. Neid 258. Neuer Bund s. Bund Neues Testament 71. 75f. Neujahrsbrot 142. Neunundreißig Artikel s. Thirty-nine articles Nikolaus (Hl.) 227. Nikolaus von Kues (Nicolaus Cusanus) 32. 158. Niederer Klerus 129. Niedere Weihen s. Weihen Nizäno-Konstantinopolitanum 23. Noah 73. 88. 295. Non 174. Nonne 171f. 176. Nottaufe 239. Novize, Noviziat 175. 180. 182. Novizenmeister 175. Numeri 73. 78. Nuntius 153. 154. Obadja (Gestalt und Buch des AT) 79. Oblate 47. 49-51. (s. auch Hostie) Oblate (für das Kloster bestimmtes Kind) 175f. Oblatio 142. Obödienz 189. Obrigkeit 118. 207. 289. Observante, Observanz(bewegung) 181. 182. 195.

Öffentliche Buße 257. (s. auch Buße) Ökumene 161. 220. Ökumenischer Rat der Kirchen 220. Ökumenisches Konzil s. Konzil Offenbarung des Johannes s. Apokalypse Offermann 147. Offertorium 142. Offizial, Offizialat 128. 137. 166. Ohrenbeichte s. Privatbeichte Opfer 47-49. 254. ora et labora 174. oratio dominica s. Gebet des Herrn, Vaterunser Oration 67. Orden 30. 171. 183-185. 189. 199. Ordensprovinz 180. Ordenstracht 172. Ordinariumsgesang 69. Ordination 126. 136. Orthodoxe Kirchen (Ostkirchen) 161f. 187. 188. Osten, Ostung 52f. 58. 67. Ostereier 142. Osterkommunion 256f. Osterlachen 112. Osterlämmer 142. Ostern 15. 44. 136. 226f. 228. 230. 232. Osterspiel 86. 112. Ostiar 126. Ostkirchen s. Orthodoxe Kirchen Ottonisch-Salisches Reichskirchensystem 130. Palmsonntag 228. 230. 244. Pantokrator 16-18. Papa 148. Papalismus, Papalisten 162. Papst, Papsttum 148-154. 159. 162f. 196f. (s. auch Kurie) Papstmonate s. menses papales Papstwahl 151f. 156. Paradies 87. 255. Parochie 134. (s. auch Pfarrei) Parochus 134. Partieller Ablaß 260. Partikularkonzil 161. 164f. Passah(fest, -mahl) 88f. Passion Christi 70. 87f. 107. Passionszeit 228-230. Pastor 134. Pate, Patenschaft 237-240. Pater 172.

Register

Pater noster 32f. Paternoster (Gebetsschnüre) 33f. Patriarch, Ökumenischer Patriarch 189. Patrimonium Petri („Kirchenstaat“) 150f. 154. Patron s. Kirchenpatron, Schutzpatron Patronatsherr, Patronatsrecht 139f. 141. 143. Paulus 15. 75. 88. 101. 125. pauperes Christi 277. Pazifismus 208. peccatum originale 255. Penn, William 209. Pentateuch 72f. 76. Perikope 82. Peter und Paul (Petrus und Paulus, Feiertag) 158. 228. Petersdom 60. Peterspfennig 158. Petrus 86. 125. 149. 159. 242. 285. Petrus(briefe des NT) 80. Petrus Comestor 83. Petrus de Riga 82. Pfarrbann (Pfarrzwang) 134. 257. Pfarrei (Pfarre, Pfarrsprengel) 128f. 134136. 137f. 143f. 171. Pfarrer, Pfarrgeistlichkeit (Pfarrklerus) 46. 129. 134-136. 137-148. 171. Pfarrerwahl 139f. Pfarrzwang s. Pfarrbann Pfingstbewegung, Pfingstkirchen 218. Pfingsten 21. 88. 226-228. 231f. Pfarrpfründe 137f. (s. auch Pfründe) Pflichtbeichte 256. 261f. (s. auch Beichte) Pfründe 141-143. Pfründenhäufung (-akkumulation) 143f. 156-159. 199. Pfründenhandel 156-159. Pharisäer 283. Philemon(brief des NT) 80. Philipper(brief des NT) 79. Philippus (Apostel, Feiertag) 228. Philister 90. Pietà 267. Pietismus, Pietisten 103. 115. 185. 211f. 214. 218. Pilger s. Wallfahrer, Wallfahrt Pippinische Schenkung 150. plebanus 134. Plenarablaß 260. Plenarkonzil 161. Poenitentiarie 155.

319

Portal 52. Port-Royal 209-211. Postille 96. 100. 109f. (s. auch Predigtsammlung) praebenda 141. Prädestination(slehre, doppelte Prädestination, Gnadenwahl) 202f. 213f. Prädikant, Prädikatur 107f. 112. 195. Präfation 68. Präfiguration 85. (s. auch Vorsehung) Prämonstratenser 178. Präscienz 203. Präsentationsrecht 139f. Pragmatische Sanktion von Bourges 132. Predella 58f. Prediger 134. Prediger Salomo s. Kohelet Predigermönche s. Dominikaner Predigt 67f. 83. 105f. 107-123. 179. 191. 193. Predigtbücher, Predigtsammlung 96. 100. 106-108. (s. auch Postille) Presbyterialverfassung 129. 205. Presbyterianer 205. Priester 126. Priesterkönig 286. Priesterseminar 137. 199. Priesterweihe 43. 126. 136-139. 166. 171. Prim 173. Primat (des Papstes) 148. 150. 163. 188. princeps Christianus 287f. Prior 175. 179. Privatbeichte (Ohrenbeichte) 256. 263. Privatmesse 48. 66. privilegium fori 168. Profess 175f. professio fidei Tridentina 200. Promised Land s. Gelobtes Land Prophet 53. 69. 74. 85. 125. Prophetenbücher 72. 74. Propst 129. Protestantismus 198. 213f. Providentia 296. Provinzial 180. Provinzialkonzil, Provinzialsynode 161. Provisor 277. Prozession 62. 230. 234. 247. 254. 257. 269f. 271-273. Psalter 72-74. 78. 81. 89. 173. Publieke Kerk 264. Puritaner, Puritanismus 40f. 92. 102. 115. 121. 185. 205f. 213f. 253.

320

Register

Quadragesima 229. Quäker (Religious Society of Friends) 208f. Querschiff 57. Quintomonarchisten 299. Rabus, Ludwig 100. Realpräsenz 49. Rechtfertigungslehre 196. 200. 210. 220. (s. auch Gnade) rector ecclesiae 134. 148. Reformation 195-199. Reformierte s. Calvinisten Regula Benedicti (Benediktsregel) 173. 174. 177. Regularklerus 171. Reichsdeputationshauptschluß 131. Reichskirche s. Germania Sacra Reichnis 142. Reimbibel 82. Religionsfreiheit 216. (s. auch Gewissensfreiheit, Kultusfreiheit) Reliquie (Heiltum) 54. 56f. 58. 61. 202. 224. 271. Reliquienheilige 224. 266f. Renaissance (als Kirchenbauepoche) 60. Requiem 251. Residenzpflicht 143f. 157. 199. Reue 167. 195. 256. 259-261. Réveil 218. rex et sacerdos 286. Richter (Buch des AT) 78. 81. Römer(brief des NT) 79. 196. Römische Inquisition 155. Rogate 228. 230. roi très-chrétien s. Allerchristlichster König Rom 159f. 268. Romanik, romanisch 53f. 56-58. 60f. Romanum 14f. 19. Rosenkranz, Rosenkranzgebet 34. Rota Romana 155. Rügegericht 166. Rundbogen 54. Rut(h) (Gestalt und Buch des AT) 78. Sabbat 38. 226. Sacharja (Gestalt und Buch des AT) 79. sacre (Herrscherweihe) 288. Sacrum Imperium 286. Säkularisation 140. 145. 183. Sükularisierung 295. Säkularklerus s. Weltgeistlichkeit Säuglingstaufe (Kindertaufe) 44. 45f. 206. 218.

Säulenheilige 172. Sakralität des Herrschers 285f. 288. Sakrament 23. 40. 42f. 45-47. 125. 195. 200. 207f. Sakramentshäuschen 50. Sakristan 175. Salbung 286. Salomo(n) 72f. 85. 88. 91f. 116. 288. Salomos Urteil, Salomos Weisheit 91. Samariter 88. 274. Samuel (Gestalt und Bücher des AT) 78. 287. Sanctus 68f. Sanctus Pater 148. Santiago de Compostela 268f. Saul 73. 88. Schaffner s. Zellerar Schisma 189. Schlange 85. 88. Schlüssel, Schlüsselgewalt 149. Schmerzensmann 18. Schöpfer 19-21. 73. Schöpfung 53. 87. 226. Schriftprinzip s. sola scriptura Schutzpatron(in), Schutzheiliger 89. 225. 233. 242. 253. 268. (s. auch Landespatron, Stadtpatron) Schwester (Angehörige einer Geistlichen Gemeinschaft) 171f. Scriptorium 175. Second Great Awakening 218. Sechswochenamt 250f. Seelbücher s. Memorialbücher Seelenheil s. Heil Seelenmesse 48. 142. 223. 251f. s. auch Ablaß, Jahrtagsmesse, Memoria, Sechswochenamt Seelsorge 134. 136f. 143. 147. 171. 179. 182. 199. 210. Segen 69f. Sekte 45. Seligkeit s. Heil Seligpreisungen 252. Semana Santa 230. Send(gericht) 166. 169. Separatisten s. Dissenter Septuaginta 76. Servitien 157. servus servorum Dei 148f. Sext 174. Sieben Horen 173. Sieben Todsünden 24. 257-259. 261.

Register

Sieben Tugenden 24. 258. Sieben Werke der Barmherzigkeit 24. 274. 276. Siebentagewoche 226. Sieveking, Amalie 280. Simon (Apostel, Feiertag) 228. Simonie 159. Simons, Menno 208. Simson 83. 88. 90f. Sinai 35. 71. 73. 88. Sinekure 157. Sintflut 73. 88. Sittenzucht s. Kirchenzucht Societas Jesu s. Gesellschaft Jesu sodalitas s. Laienbruderschaft Sohn Gottes, Gottessohn 13. 16. sola fide 196. 200. sola gratia 181. 196f. 200. 203. 210. 261. sola scriptura (Schriftprinzip) 196f. 199. 203. Sonntag 38. 226. Sonntagsheiligung 38-40. 205f. 234. 262. (s. auch Drittes Gebot) Soror 172. sotér s. Erlöser Sozialkatholizismus 280. Spätschriften s. Apokryphen Spanische Inquisition 193. Spener, Philipp Jakob 117. 211f. Spezialreservation 158. Spital s. Hospital Spitalorden 276. Spitzbogen 58. Spolien 157f. Sprengel (eines Bischofs) s. Bistum Sprichwörter (Buch des AT) 79. Staatssekretariat (als kuriale Behörde) 155. stabilitas loci 175. 178. 182. Stadtpatron 286. (s. auch Schutzpatron) Starck, Johann Friedrich 102. Stephanus (Märtyrer, Feiertag) 227. 232. 241. Sterben s. Tod Sterbesakramente 247. 248. Stift 178. Stiftsdame (Kanonisse) 171. 178. Stiftsgeistlichkeit (Stiftsklerus) 178. Stiftsherr, Stiftskanoniker (Chorherr, Kanoniker) 171. 178. Stiftskirche (Kollegiatkirche) 178. Stiftsschule 178. Stiftung 277. 279.

321

Stille Messe s. Privatmesse Stola 142. Stolgebühren 142. Strafe Gottes 181. 264f. 290. (s. auch Zorn Gottes) studium (Studienhaus) 180f. Stundengebet (Chorgebet, Sieben Horen) 173f. 175. 177f. 252. Subdiakon 69. 126. Subprior 175. sub utraque specie 50. 194. successor Petri 149. Sühne 254. Sünde 15. 39. 254-266. Sündenfall 87. Suffragan 127. Sukkursalpfarrer 145. summus pontifex 149. superbia 258f. Superintendent 129. Suprematsgesetz (Act of supemacy) 204. supremus ecclesiae pastor 149. Susanna 88f. Syllabus errorum 294. Synode 129. 133. 146. 164. (s. auch Diözesansynode) Synodalverfassung 129. 205. Synoptiker, synoptische Evangelien 75. Tabernakel 50. Taboriten 194. Täufer (Wiedertäufer) 37. 45. 108. 129. 206208. 217. Täuferreich zu Münster 207f. 298. Tag der Unschuldigen Kinder s. Fest der Unschuldigen Kinder Tag des Herrn s. Sonntag Taube (als Symbol des hl. Geistes) 22. Taufe 23. 43-45. 46. 53. 134. 142. 206-208. 237-240. Tausendjähriges Reich 207. 298f. Templer 171. 276. Territorialkirche s. Landeskirche Tertiarier, Terziaren s. Dritte Orden Terz 174. Teufel 38-40. 43. 45. 238. 247. 259. Theologische Fakultät 137. 180. theophore Namen 243. Thessalonicher(briefe des NT) 79. thesaurus ecclesiae 260. Timotheus(briefe des NT) 79. Tischgebet 33.

322

Register

Titus(brief des NT) 79. Thirty-nine Articles 204f. Thomas (Apostel) 227. Thomas von Aquin (Hl.) 95. 289-291. Thomas von Kempen 99-101. Tobias 88f. Tobit (Buch der Apokryphen des AT) 78. 89. Tod 45. 174. 246-253. Todesstunde Jesu 174. Todsünde, Hauptsünde s. Sieben Todsünden. Toleranz 206. 222. (s. auch Religionsfreiheit) Tonsur 126. Tora 72f. Totengedenken s. Memoria Totenwache 250. Trägheit 258. translatio Imperii 296. Translation 54. Transsubstantiation 48-50. Trauergerüste (castra doloris) 251. Trauung 134. 142. Tridentinum s. Konzil von Trient Trinität 22f. Trinitatis(fest) 228. 231. Triptychon s. Dreiflügelaltar Trunksucht 166. Tun-Ergehens-Zusammenhang 213. Typen, Typologie 85f. 89. Tyrann, Tyrannis 289-292. Ultramontanismus 154. 294. Unfehlbarkeit (Infallibilität) 163. 217. 294. Unierte Kirche 219. Universalepiskopat 163. 217. Untertanen 30. 34. 117f. 288f. Urpfarrei 134f. Ursünde (Erbsünde) 255. 266. Utraquisten 194. Utrechter Union s. Altkatholische Kirche Vaterunser 13. 23. 24. 31-35. 68. 136. Vatikan 159. Vatikanstadt 150. Verdammnis s. Hölle Vergebung der Sünden s. Absolution Versehgang 247. 249. Vertreibung aus dem Paradies 87. Vesper 174. viaticum 247. vicarius beati Petri 149.

vicarius Christi 149. Vierfacher Schriftsinn 93. Vier-Monarchien-Lehre 296. Viertes Gebot 25. 28-30. 118. Viertes Laterankonzil (Lateranum) 49. 106. 136. 146. 161. 224. 243. 256. 259. 276. Vierung, Vierungsturm 57. Vierzehn Nothelfer 225. 242. Vigil(ien) 173. 229. Vikar 129. 143f. Vinzentinerinnen, Vinzenz von Paul, Vinzenz-Vereine 279. 281. Visitation, Visitationsprotokolle, Visitatoren 146-148. 269. Vita 98. Völlerei 258. Volksfrömmigkeit 224. 240. 269. 272. Vorösterliche Fastenzeit s. Passionszeit Vorsehung 296. Votivmesse 48. Votivtafel 268. Vulgata 76. 81. 85. 106. Wachs 269. Wachszins 142. Wächteramt 120. Wahrsagerei 166. Waldenser 191-193. Petrus Waldes 191. Wallfahrer (Pilger), Wallfahrt (Pilgerfahrt) 58. 160. 166. 202. 239f. 266-271. 273. 275. Wandlung 48. Weber, Max, Weber-These 185. 213f. Weihbischof 128. Weihen, höhere Weihen, niedere Weihen 126. 128. 137-139. Weihnachten, Weihnachtszeit 15. 227-229. 232. (s. auch Geburt Christi) Wein 39. 47-49. Weise aus dem Morgenland s. Heilige Drei Könige Weisheit Salomos (Buch des AT) 79. Weltchronik 83. Weltende s. Endzeit, Eschatologie, Jüngstes Gericht Weltenrichter 18. Weltgeistlichkeit (Säkularklerus, Weltklerus) 171. 178. Wesley, John 206. Wettergebet 101. Wetterläuten, Wettersegen 271. Wichern, Johann Hinrich 280.

Register

Widerstand 289-292. (s. auch Gehorsam) Wiedertäufer s. Täufer Winkelehe 245. Winthrop, John 41. Wollust 258. Wormser Edikt 197f. 291. Wormser Konkordat 130. Wort Gottes 71. Wunder 224. 266. (s. auch Mirakelbücher) Wüstenväter 172. Wyclif, John 193. Xenodochium 275. Young Men’s Christian Association 219. Zahlenallegorese 94. Zechpfleger 61. Zefanja (Gestalt und Buch des AT) 79. Zehn Gebote (Dekalog) 13. 19. 23f. 35f. 40f. 53. 63. 73. 85. 136. 256. Zehnt 141f. 145. 164. 179. 207. 209. 275. Zehntquart 141. zeitliche Sündenstrafe 259.

323

Zeitrechnung s. christliche Zeitrechnung Zelle 172. Zellerar 175. Zeloten 283. Zensur 155. Zentral-Kuppelbasilika 60. von Zinzendorf, Nikolaus Ludwig 212. Zion s. Himmlisches Jerusalem, Jerusalem Zisterzienser 173. 177f. Zivilehe 295. Zölibat 126. 136. Zorn (Gottes) 41. (s. auch Strafe Gottes) Zürcher Bibel 77. Zwei-Gewalten-Lehre (Zwei-Schwerter-Lehre) 153. 286. Zwei-Regimenten-Lehre (Zwei-Reiche-Lehre) 286. Zweites Gebot 37. Zweites Vatikanisches Konzil (Zweites Vatikanum) 51. 65. 162-164. 220. 238. Zwingli, Ulrich 43. 49. 51. 63. 68. 198. 205. 263. Zwölf 276.

Danksagung Mein Dank gilt den Kieler Geschichtsstudentinnen und –studenten, welche die Vorlesung „Kleine Kirchenkunde für Historiker“ im Sommersemester 2006 mit wachem Interesse aufgenommen haben. Herrn Dr. Diethard Sawicki und Frau Katrin Tenge-Borkowski (Verlag F. Schöningh) danke ich für die unkomplizierte Zusammenarbeit. Dr. Béatrice Jakobs und Dr. Gabriel Zeilinger danke ich herzlich für ihre Sorgfalt und hilfreichen Anregungen bei der Lektüre des Textes; verbliebene Fehler sind mir zuzurechnen. Schließlich gilt meiner Mutter Dank und dankbare Erinnerung meinem Vater: durch ihr Vorbild haben sie mir einen Weg in die Kirche der Gegenwart geebnet und damit auch zur Kirche in der Geschichte. Volker Seresse